Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebeKolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.Am 13. Februar feierten die beiden Kollegen KonradGilges und Walter Hirche ihren 60. Geburtstag. Ich gra-tuliere beiden im Namen des ganzen Hauses.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnenvorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD:Bundes-politische Auswirkungen neu bekannt gewordenerVerstößegegen das Parteiengesetz
Werner Lensing, Ilse Aigner, Dr. Maria Böhmer, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Zukunftsorien-tierte Weiterbildung durch Eigenverantwortung undSelbstorganisation – Ein Paradigmenwechsel – Drucksache14/5312 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Kultur und Medien3. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderungder Europäischen Sozialcharta – Drucksache 14/4671 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses fürArbeit und Sozialordnung – Drucksache14/5327 –Berichterstattung:Abgeordneter Johannes Singhammerb) Beratung des Antrags der Bundesregierung: Zulassungeiner Ausnahme vom Verbot der Zugehörigkeit zu ei-nem Aufsichtsrat für Mitglieder der Bundesregierung– Drucksache 14/5271 –4. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:Haltung der Bundesregierung zu den von grünen Kern-kraftgegnern angekündigten Protesten bei Wiederauf-nahme der Castortransporte5. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Haltungder Bundesregierung zu aktuellen Berichte über dieGründe zum Eintritt in den Kosovo-KriegVon der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweiterforderlich, abgewichen werden.Außerdem ist vereinbart worden, den Tagesordnungs-punkt 13 – Nutzung von Geoinformationen in der Bun-desrepublik Deutschland – nach Tagesordnungspunkt 9 –Dritter Bericht zur Lage der älteren Generation in derBundesrepublik Deutschland: Alter und Gesellschaft undStellungnahme der Bundesregierung – und Tagesord-nungspunkt 19 – Kinderrechteverbesserungsgesetz – stattam Freitag bereits heute als letzten Tagesordnungspunktzu beraten.Des Weiteren sollen Tagesordnungspunkt 10 – Bekämp-fung von Gewalt gegen Frauen – sowie Tagesordnungs-punkt 21 f – das ist die Sammelübersicht 217 – abgesetztwerden.Darüber hinaus mache ich auf eine nachträgliche Über-weisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:Der in der 149. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich demAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung zur Mitberatung überwiesen werden.Antrag der Abgeordneten Waltraud Wolff, HeinoWiese, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der SPD sowie der AbgeordnetenUlrike Höfken, Steffi Lemke, Kerstin Müller
, Rezzo Schlauch und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Neuausrich-tung der Agrarpolitik: Offensive für den Ver-braucherschutz – Perspektive für die Land-wirtschaft – Drucksache 14/5228 –überwiesen:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Angelegenheiten der neuen Länder14809
152. SitzungBerlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001Beginn: 9.00 UhrAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussSind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:3. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten HubertusHeil, Dr. Ditmar Staffelt, Hermann Bachmaier,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNENDeutschlands Wirtschaft in der Informations-gesellschaft– Drucksache 14/5246 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussb) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzesüber Rahmenbedingungen für elektronischeSignaturen und zur Änderung weiterer Vor-schriften– Drucksache 14/4662 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 14/5324 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Martin Mayer
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-logie zu dem Antrag der Abgeord-neten Ursula Lötzer, Rolf Kutzmutz, AngelaMarquardt, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der PDSE-Europe: die europäische Informationsgesell-schaft sozial und demokratisch gestalten– Drucksachen 14/3623, 14/4486 –Berichterstattung:Abgeordneter Hubertus HeilNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demBundesminister für Wirtschaft und Technologie, WernerMüller.Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie: Guten Morgen, Herr Präsident, meineDamen und Herren! Die Weichen für den AufbruchDeutschlands in die Informationsgesellschaft des21. Jahrhunderts richtig und vorausschauend zu stellenwar für diese Bundesregierung von Anfang an eines derwichtigen politischen Ziele.
Ich begrüße daher ausdrücklich den Koalitionsantrag„Deutschlands Wirtschaft in der Informationsgesell-schaft“, der wichtige Handlungsfelder für die Politik auf-zeigt und die Internetpolitik der Bundesregierung unter-stützt.Trotz fallender Aktienkurse hat die Internetwirtschaftim letzten Jahr eine eindrucksvolle Dynamik entwickelt.Der gesamte Markt für Informations- und Kommunikati-onstechnologien in Deutschland wuchs im Jahr 2000 umüber 10 Prozent auf 238 Milliarden DM und hat sich da-mit zu einem der größten Wirtschaftszweige in Deutsch-land entwickelt. Die Zahl der Erwerbstätigen in diesemSektor nahm im gleichen Zeitraum um 4 Prozent zu undliegt nun bei knapp 800 000 Beschäftigten. Nach einer Stu-die des RWI können wir bis zum Jahre 2010 750 000 neueArbeitsplätze netto hinzugewinnen, wenn wir die Wei-chen richtig stellen.Die Zahl der an das Internet angeschlossenen Haus-halte hat sich verdoppelt. Sie liegt jetzt bei über 30 Pro-zent. Das Internet nutzen bereits fast 40 Prozent der Be-völkerung zwischen 14 und 69 Jahren. Anfang des Jahres2000 waren es nur 25 Prozent. Die Preise für den Zugangzum Internet sind in Deutschland um bis zu 60 Prozent ge-sunken. Bei den Preisen für Breitband-Flatrates istDeutschland weltweit am wettbewerbsfähigsten.In der Zukunftstechnologie des mobilen Geschäftsver-kehrs hat sich Deutschland mit einem Umsatz von483 Millionen DM im letzten Jahr europaweit an dieSpitze gesetzt. Das ist besonders wichtig, da hier in dennächsten Jahren Wachstumsraten von etwa 200 Prozent zuerwarten sind.Die positive Einschätzung der Situation wird von denSpitzen der deutschen Wirtschaft bestätigt. Vor einer Wo-che hat der Präsident des Branchenverbandes Bitkom,Volker Jung, festgestellt, dass sich unsere Volkswirtschaftin diesem wichtigen Zukunftsbereich derzeit mit einernicht gekannten Dynamik entwickelt. Deutschland istdank der Politik dieser Bundesregierung inzwischen vominternationalen Mittelfeld in die Spitzengruppe vorge-stoßen.
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Unsere besondere Stärke, die gut ausgebaute Netzin-frastruktur, bietet beste Voraussetzungen, um den Rück-stand zu den USAnoch weiter zu verringern. Der Trend indie Netzwerkökonomie kann auch durch fallende Kurseam Neuen Markt nicht aufgehalten werden. Der Einsatzder modernen Informations- und Kommunikationstech-nologien war ein entscheidender Faktor für den lang an-haltenden Wirtschaftsaufschwung in den USA.Auch unsere Wirtschaft hat die Zeichen der Zeit er-kannt und setzt in beträchtlichem Umfang auf die neuenelektronischen Technologien, wie zum Beispiel die starkwachsende Zahl von Internethandelsplattformen inDeutschland zeigt. Die Bundesregierung wird diesen Pro-zess weiterhin durch eine konsequente Politik begleiten,die im Wesentlichen auf drei strategischen Politikpro-grammen beruht: erstens auf dem nationalen „Aktions-programm für Innovation und Arbeitsplätze in der Infor-mationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ vom Herbst1999 und dem 10-Punkte-Programm des Bundeskanzlers,zweitens auf der D-21-Initiative von Wirtschaft und Bun-desregierung – damit haben wir eine erfolgreiche Innova-tionspartnerschaft zwischen Wirtschaft und öffentlicherHand eingeleitet –
und drittens international auf dem europäischen Aktions-plan „E-Europe 2002: Eine Informationsgesellschaft füralle“ vom Sommer 2000.Es ist das Ziel dieser Programme, Deutschland und Eu-ropa weltweit einen Spitzenplatz in der Informationsge-sellschaft zu sichern. Die neuen Zahlen zeigen, dass wirhier durchschlagende Erfolge haben. Ich will dreiSchwerpunkte unserer Politik herausstellen, die mir füreine Anpassung unseres Landes an die wissensbasierteGesellschaft und Wirtschaft besonders wichtig erschei-nen:Erstens. Wir schaffen einen modernen Ordnungsrah-men durch Selbstregulierung und – wo nötig – durch Ge-setze. Gerade in dieser Woche stellen wir wichtige Wei-chen. Gestern hat das Bundeskabinett den Gesetzentwurfüber rechtliche Rahmenbedingungen für den elektroni-schen Geschäftsverkehr beschlossen. Wir gehören damitzu den ersten, die die E-Commerce-Richtlinie vom Som-mer 2000 auf den parlamentarischen Weg bringen.In der Zukunft gelten EU-weit einheitliche Regelungenzur uneingeschränkten Zugangsfreiheit, zur Verantwort-lichkeit und zur Werbung von Dienstanbietern. Hervorhe-ben möchte ich noch das Herkunftslandprinzip. Es schafftmehr Rechtsklarheit für Anbieter. Sie unterliegen in Zu-kunft grundsätzlich den Anforderungen des Landes, indem sie niedergelassen sind, auch wenn sie Dienste an-derswo in Europa anbieten.Zum Gesetzgebungsvorhaben zum elektronischen Ge-schäftsverkehr gehört auch die Modernisierung des On-linedatenschutzes durch Anpassung des Teledienstdaten-schutzgesetzes. Hierdurch soll das notwendige Vertrauendes Verbrauchers in die neuen Dienste gestärkt werden.E-Commerce erzeugt im Markt Anpassungsdruck. Umdeutschen Unternehmen die gleichen Bedingungen amMarkt zu ermöglichen, haben wir die Abschaffung desRabattgesetzes und der Zugabeverordnung beschlossen.
Heute geht es hier auch um die Verabschiedung desneuen Gesetzes über elektronische Signaturen. DiesesGesetz schafft die Grundlagen für einen sicheren europa-weiten elektronischen Geschäftsverkehr. Wir setzen da-mit die EU-Signaturrichtlinie vom Dezember 1999 als ei-ner der ersten Staaten um. Damit sichern wir unsereVorreiterrolle in Europa auf diesem Gebiet. Die EU-Si-gnaturrichtlinie ist aber erst dann vollständig umgesetzt,wenn das Gesetz über die Anpassung der Formvorschrif-ten des Privatrechtes verabschiedet worden ist. Es liegtdem Bundestag zur Beratung vor. Ich bitte Sie, auch die-ses Gesetz zügig zu beraten, damit wir die notwendigenAnwendungen für die elektronischen Signaturen raschbekommen.Um die Anwendung von elektronischen Signaturenauch für die Praxis zu erproben, fördert das Bundeswirt-schaftsministerium diese auch im Rahmen des weltweiteinmaligen Projektes Media@Komm. Virtuelle Rathäu-ser und virtuelle Marktplätze werden aufgebaut, um aufdiese Weise die Beziehungen zwischen Verwaltung undBürgern sowie der lokalen Geschäftswelt transparenter,effizienter und kostengünstiger zu gestalten.Zweitens. Die Bundesregierung unterstützt besonderskleine und mittlere Unternehmen auf ihrem Weg in die In-formationsgesellschaft. Wir haben dafür eine Reihe vonInitiativen eingeleitet. In den bundesweit 24 Kompetenz-zentren „Elektronischer Geschäftsverkehr“, die noch indiesem Jahr durch branchenspezifische Zentren ergänztwerden, beispielsweise durch ein besonderes Zentrum fürdie Tourismuswirtschaft, können sich kleine und mittlereUnternehmen fachkundigen Rat zu allen Fragen desE-Commerce holen.Innovative Unternehmen werden mit dem Internetpreisder Bundesregierung ausgezeichnet. Er wird im März aufder CeBIT zum zweiten Mal verliehen. In diesem Jahrwerden die Unternehmen mit der größten Logistikkom-petenz für den Onlinehandel ausgezeichnet. Der Vor-schlag des Koalitionsantrages, die netzbasierte Weiterbil-dung in den Betrieben zu fördern, findet sich in dem vomBundeswirtschaftsministerium durchgeführten Wettbe-werb „LERNET“ wieder. Die besten Teilnehmer diesesWettbewerbs wurden letzte Woche prämiert.Drittens. Ein wesentliches Instrument bei der Umset-zung unserer Ziele auf dem Weg in die Informationsge-sellschaft ist die Innovationspartnerschaft mit der Wirt-schaft im Rahmen der Initiative D 21. Dadurch haben wirwichtige Initiativen wie die Aktion „Schulen ans Netz“oder „Gütesiegel für den Online-Verbraucherschutz“ aufden Weg gebracht. Diese Initiative und das Bündnis fürArbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit sind we-sentliche Säulen dieser Partnerschaft.Zusammen mit unseren Partnern wird es der Bundes-regierung auch in Zukunft gelingen, die positive Ent-wicklung der Informationsgesellschaft in Deutschland
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Bundesminister Dr. Werner Müller14811
aktiv und effektiv zu begleiten. Ich setze weiter auf dieparlamentarische Unterstützung dieser Politik. Ich binüberzeugt, dass wir damit Deutschland und auch Europaeinen Spitzenplatz in der globalen Informationsgesell-schaft sichern werden.Vielen Dank.
Ich erteile dem Kolle-
gen Heinz Riesenhuber, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir hatten wie-der die große Freude, eine von Leidenschaft und Präge-kraft getragene Rede unseres Wirtschaftsministers hörenzu dürfen.
Dies geschah mit der gleichen vitalen Präpotenz – wir ha-ben sie immer bewundert –, mit der er gestern die Wirt-schaft vor der Übermacht der Gewerkschaften gerettethat. Nur, der Applaus vonseiten der Wirtschaft ist weitge-hend ausgeblieben. Die Freude des Mittelstands, dass derWirtschaftsminister für ihn eingetreten ist, war reichlichgedämpft.
– Das ist jetzt eine besonders komische Bemerkung.Die Ziele der Bundesregierung hat der Herr Wirt-schaftsminister zutreffend dargestellt. Die große Leistungder Bundesregierung besteht darin, eine Politik ungebro-chen fortgeführt zu haben, die die alte Bundesregierungüberzeugend, langfristig und kraftvoll angelegt hat.
Dahinter stand eine Strategie von einer gewissen Kom-plexität. Das fing bei der Einführung der Informations-technik in mittelständischen Unternehmen an. Ich erin-nere an die Programme des Forschungsministers zurMikroelektronik – der damalige Forschungsminister warvorzüglich –,
zur Mikroperipherik, zu CAD und CAM. Es handelte sichum Programme zur Einführung von neuen Techniken inmittelständischen Unternehmen. Wir hatten die DeutscheForschungsgemeinschaft mit 100 Millionen DM geför-dert, wobei die einzige Auflage war, Informationstechnikan den Hochschulen heimisch zu machen. Ziel dieserStrategie war es, die Neugründung von Unternehmen ineiner langfristig und schrittweise aufgebauten Sequenz zuermöglichen. Es waren die Programme zu technikorien-tierten Unternehmensgründungen, zu BTU und BJTU,der Deutschen Ausgleichsbank und der Kreditanstalt fürWiederaufbau, die insgesamt dazu geführt haben, dasseine Landschaft starker junger Unternehmen entstandenist, die im Neuen Markt ihre Heimat und ihre Möglich-keiten zur Kapitalisierung gefunden haben. Wir habenzwölf Multimediaberufe neu definiert. Das hat früher sie-ben Jahre gedauert, Jürgen Rüttgers hat es in zwei Jahrenhinbekommen.
Wir haben also die große Vielfalt aufgebaut, die wir heutevorfinden.Die Begeisterung von Herrn Eichel über die UMTS-Milliarden bewegt uns immer wieder neu. Auf dem Wegzur Liberalisierung der Märkte im Bereich der Telekom-munikation
haben Sie, meine Damen und Herren zur Linken, uns mitHerzlichkeit begleitet. Sie haben uns ständig und beharr-lich Schwierigkeiten gemacht und sind jetzt glücklich undstolz auf das, was wir durchgesetzt haben. Jetzt begreifenSie, dass es richtig gewesen ist. Eine solche Einstellungmacht uns glücklich.
Entstanden sind freie Märkte, auf denen sich auch dieTelekom als Unternehmen zu bewähren hat. Auf diesenMärkten herrscht Konkurrenz, deshalb entstehen neueDienste und neue Infrastrukturen wie zum Beispiel Glas-fasernetze. Von daher rühren die Dynamik des Mobil-funkmarktes und die wachsende Zahl der Internetan-schlüsse.
Eine alte Infrastruktur hatten wir schon immer: Die Zahlvon 40 Millionen Fernsehern ist ganz beachtlich; dabeizähle ich dazu nur die angemeldeten.
Wenn man aber dazunimmt, dass 26 Länder in Europa diegleichen ISDN-Standards haben und welche Infrastruktu-ren wir jetzt haben, muss man zu der Feststellung kom-men: Hier blüht eine lebendige dynamische Informations-gesellschaft auf.
Diese Informationsgesellschaft beruht nicht nur aufdem Zusammenwachsen von Telekommunikation, Com-puter und Fernsehen; diese Informationsgesellschaft isteine Gesellschaft, in der Wissen wächst, eine Gesell-schaft, die aus Wissen wächst, eine Gesellschaft, in derWissen für jeden und zu allen Zeiten und immer wiederverfügbar ist, eine Gesellschaft, die ihren Wohlstand ausWissen entwickelt, eine Gesellschaft, die nicht Ressour-
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Bundesminister Dr. Werner Müller14812
cen verbraucht, sondern aus Wissen ein nachhaltiges unddauerhaftes Wachstum schafft.Der Kernbestandteil der Informationstechnologie istder Chip. Der Chip besteht aus Silizium – Sand – und et-was Intelligenz. Darin liegt der Grund für unbegrenzteMöglichkeiten des Wachstums. Wir haben nämlich genü-gend Sand. Intelligenz ist angeblich unbegrenzt vorhan-den, in der Praxis wird sie manchmal knapp; das mussman respektieren.
Zum Glück wächst sie nach. Insofern kann man dem po-sitiv und voller Hoffnung entgegensehen.Bei diesem Bereich handelt es sich um eine offeneWelt; Deutschland steht im weltweiten Wettbewerb.Globalisierung und Informationsgesellschaft sind näm-lich das Gleiche: Globalisierung wird erst durch dieInformationsgesellschaft ermöglicht, die Informationsge-sellschaft ist nicht anders denkbar als global. In dieserWelt bewegt sich Deutschland; ein Deutschland, wo dieArbeitskosten am höchsten liegen, 30 Prozent über denenvon Japan und 60 Prozent über denen der USA, doppelt sohoch wie in Großbritannien.
Wir können in dieser Welt nur überleben, wenn wirschneller und besser sind als andere. Dagegen können Sieeigentlich nicht sein, denn das ist das Zitat eines For-schungsministers aus alten Zeiten, der der SPD angehörte.
Wir haben hier eine Dynamik erreicht, die sich in im-mer mehr Bereiche ausdehnt. Wir haben die Telekommu-nikation liberalisiert und den Neuen Markt aufgebaut. DerNeue Markt als Quelle für Eigenkapital ist das wesentli-che Element für den dynamischsten Bereich dieser neuenInformationsgesellschaft, für die Start-ups und die jungenUnternehmen. Diese können nur durch Eigenkapital fi-nanziert werden; es entsteht eine neue Kultur des Eigen-kapitals, nicht der Fremdfinanzierung. Sie brauchen Ei-genkapital, weil sie Verluste machen müssen, bis sieKnow-how aufgebaut, Märkte erschlossen und Marktan-teile errungen haben. Diesen Neuen Markt hat nicht derStaat geschaffen, sondern er hat nur die Voraussetzungengeschaffen: Wir haben die Börsenumsatzsteuer und dieGesellschaftsteuer abgeschafft. Dadurch wurde der NeueMarkt möglich. Heute ist er der größte Markt in Europa:Auf ihn entfallen 60 Prozent der gesamten Marktkapitali-sierung aller Neuen Märkte, 80 Prozent allen Handelsvo-lumens. Hier entsteht die Quelle für einen dynamischenneuen Mittelstand,
getragen von Venture-Capital-Firmen – zu Deutsch: Wag-niskapitalfirmen –, getragen von Business Angels – wasdas auf Deutsch heißt, wissen wir noch nicht; das kommtnoch –,
getragen von einer Vielzahl von Investoren, die sich umdas Neue, das entsteht, kümmern.Da stehen wir heute mit einer starken Infrastruktur, miteiner neuen Gruppe von Unternehmen mit jungen Leuten,auch älteren Leuten und ganz alten Leuten – manche sindauch in der Regierung –,
mit einer lebendigen Mannschaft von Investmentbankern,von Anwälten, von Beratern, vernetzt über alle Bereicheder Wirtschaft.Die Frage ist: Was erwarten sie von uns, die wir den po-litischen Rahmen zu setzen haben? Zuerst und vor allemverrichten die Männer und Frauen dort ihre Arbeit mitVergnügen. Der alte Adorno würde sich freuen. Er sprachvon der Unmenschlichkeit des Wortes „Work, while youwork, and play, while you play“.
Es sei die einzig menschliche Verhaltensweise, dass manArbeit mit Freude verrichte. Aufgabe des Staates ist vorallem, den Leuten den Spaß an der Arbeit durch eine Viel-zahl von Gesetzen nicht zu verderben.
Die Leute erwarten gar nicht, dass wir für sie die Ar-beit tun. Sie erwarten, dass man sie nicht stört. Es warnicht hilfreich, was wir hier zu dem wunderbaren 630-Mark-Gesetz debattiert haben. Die unsägliche Debatte zurScheinselbstständigkeit löst keine Leidenschaft bei denMenschen aus.
Der Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit ist nichts, wasdie Dynamik befördert. Die Freude der Menschen an ei-nem neuen Betriebsverfassungsgesetz quillt noch nichtüber. Ich höre noch nicht die Begeisterungsschreie.
Was hier entsteht, ist eine Gesellschaft aus ganz eige-nem Recht. Sie erwartet nicht Fürsorge, sondern Freiheit.Sie freut sich darüber, dass sie tun darf, was sie tunmöchte. Dass die Politik nicht dazwischen steht, ist schoneine großartige Leistung.
Sie erwarten von uns ganz einfache Dinge. Sie erwar-ten Wettbewerb und Offenheit der Märkte. Da habenwir die Regulierungsbehörde und das Kartellamt. Wir
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Dr. Heinz Riesenhuber14813
haben die Übernahmeregeln. Wir brauchen jetzt dringenddas Vierte Finanzmarktförderungsgesetz, durch das einigeder Schwierigkeiten, die in den letzten Jahren erkennbargeworden sind, ausgeräumt werden.Sie erwarten die Sicherheit und Integrität von Verträ-gen. Über das Signaturgesetz spricht nachher MartinMayer. Schon in der alten Regierung ist die Regelung derstarken Kryptographie vom Innenminister – im Gegen-satz zu anderen Innenministern – akzeptiert worden. Sieerwarten den Schutz des geistigen Eigentums. Da habenwir noch einige intellektuelle Aufgaben zu erfüllen. Manstellt oft fest: Die eigentlichen Probleme sind nicht politi-sche, sondern intellektuelle Probleme.
Sie wünschen sich, dass Deutschland in der Besteue-rung wettbewerbsfähig ist. Dass Aktienoptionen keinnormales Einkommen sind, ist offenkundig. Es ist mit Ri-siko behaftet. Dass Aktienoptionen die Teilhabe von Ar-beitnehmern am Unternehmensvermögen ermöglichen,ist die andere Seite. Es ist notwendig, sie so zu besteuern,dass die Menschen in Deutschland nicht schlechter ge-stellt sind als beispielsweise in Belgien. Unser Standortdarf für dynamische und junge Unternehmen nichtschlechter sein als irgendein anderer. Dazu gehören natür-lich auch die Steuergesetze.
Sie wollen, dass wir in Bezug auf die Business-Angelseine Besteuerung einführen, die sie ermutigt. Die Rück-führung der Wesentlichkeitsgrenze von 10 Prozent auf1 Prozent in § 17 Einkommensteuergesetz war keine be-sonders intelligente Angelegenheit.
– Da ich das Beispiel Bayern höre, möchte ich feststellen,dass das Münchner Finanzamt in einer Reihe von Punk-ten mit hoher Intelligenz elegante Modelle entwickelt hat,die sich innerhalb der Gesetze bewegen, die es aber er-möglichen, dass dort dynamischer gearbeitet wird als ananderen Orten der Republik.Was sie also erreichen wollen, sind Dynamik und glei-che Verhältnisse. Sie wollen einen tüchtigen Nachwuchs.Tüchtige Experten aus dem Ausland zu holen ist eineaußerordentlich interessante Idee. Von den 20 000 vorge-sehenen Green Cards sind bis jetzt noch keine 5 000 ver-geben.Die Leute wollen vor allem gut ausgebildete jungeMenschen, die unsere Wirtschaft voranbringen können.Das ist nicht nur eine Frage der Kulturtechniken, die manin den Schulen lernen kann. Das ist auch eine Frage, mitwelcher Einstellung die jungen Menschen die Schule ver-lassen. Sie müssen nicht nur erfüllt von Wissen, sondernauch erfüllt von der Lust am Lernen und von der Freudean der neuen Technik die Schule verlassen. Man darf ih-nen diese Freude nicht durch eine fortwährende Regle-mentierung in den Schulen austreiben.
Die Leute wollen junge Akademiker und junge Ingeni-eure, die im Durchschnitt nicht fünf Jahre älter sein sollenals ihre Konkurrenten aus anderen Ländern. Dies bedeutetnicht nur einen Unterschied von fünf Jahren in der Le-bensarbeitszeit, sondern darin drückt sich auch eine an-dere Einstellung aus. Viele wollen mit 30 Jahren in denöffentlichen Dienst, weil sie Verpflichtungen haben. Mit25 Jahren hat man den Leuten dagegen noch nicht bewie-sen, was sie nicht können. Sie probieren es einfach. Je-mand, der mit 30 etwas gründen will, weiß, dass er eseigentlich nicht kann. Der Unternehmungsgeist der jun-gen Menschen muss genutzt werden. Die Frage der Ver-kürzung der Studienzeit und der Studiengänge ist ein Teilder Idee vom lebenslangen Lernen,
aber auch ein Teil der Dynamik der Gesellschaft, die vonden jungen Menschen geprägt wird.
Wir glauben nicht, dass wir in einer heilen Welt leben.Es gibt keine Welt ohne Probleme. Diese Probleme kön-nen unterschiedlichster Art sein. Die eigentliche Aufgabeist, sie rechtzeitig zu erkennen. Jürgen Rüttgers hat ver-sucht, das Problem von Rechtsextremismus und Kinder-pornographie im Internet aufzugreifen. Wir konnten er-fahren, wie unendlich schwierig dies ist. Wir wissen, dasseine grundsätzliche Frage sein wird, wie wir das Entste-hen einer so genannten Zweidrittelgesellschaft, zu dereine Teil der Menschen gehört und von der andere ausge-schlossen sind, verhindern können. Diese Frage zu beant-worten ist die Aufgabe des Staates.Aber ich vertraue darauf, dass die Wirtschaft begreift,dass es auch ihre Angelegenheit ist, weil die Märkte vondieser Entwicklung betroffen sind. Wenn 70 Prozent derDeutschen nicht imstande sind, ihren Videorekorder zuprogrammieren, dann ist es kein Argument gegen dieDeutschen, sondern gegen die Videorekorder. Wir wollennicht, dass alle Deutschen Softwareingenieure werden,sondern wir wollen intelligente Geräte.
Wir freuen uns – bei allem Streit, den wir um einzelnePunkte führen werden – über diesen positiven Antrag derSPD, der heute zur Debatte steht. Ich glaube – ich bin miraber nicht sicher –, es war Hubertus Schmoldt, der erkannthat: Die letzte Technik, die von der SPD voll akzeptiertworden ist, war der Farbfernseher.
Diese Haltung wollen Sie jetzt überwinden, wozu ichIhnen gratuliere.
Ich finde es großartig, wenn wir in der Bewertung der mo-dernen Technologie Einstimmigkeit erzielen. Sie zu ak-zeptieren ist eine Voraussetzung für rationales Handeln.
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Dr. Heinz Riesenhuber14814
Ich würde mich freuen, wenn sich dieser zukunftsfähigeGeist vom Transrapid bis zur grünen Gentechnologie aus-breitet. Man sollte endlich die Chance ergreifen, die Weltso zu gestalten, wie es unseren Möglichkeiten entspricht.Wir sollten tun, was notwendig ist, anstatt Moratorien zuschaffen und uns in Zurückhaltung zu üben.
Wir gratulieren der SPD zu diesem Antrag, den sie mitungeheurem Fleiß erarbeitet hat und an dem wir uns heuteerfreuen. Er lobt die Bundesregierung in einer Weise,
wie es für eine loyale Koalitionspartei angemessen ist.Wir sind zuversichtlich, dass die SPD und natürlichauch die Grünen, die bis jetzt brüderlich an der Seite derSPD stehen, über die Informationstechnologie hinaus dieKraft haben, eine Politik zu betreiben, die die Menschennicht irritiert. Die Politik muss vielmehr den Menschendienen. Nicht der Politiker, sondern die ganz normalenMenschen müssen im Mittelpunkt stehen. Sie müssenFreude daran haben, diese Welt durch ihren Unterneh-mungsgeist in Freiheit selbst zu gestalten.
Ich erteile das Wortdem Kollegen Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen.Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kol-lege Riesenhuber, wenn Ihre frühere Politik genauso le-bendig gewesen wäre wie Ihre virtuos vorgetragene Rede,hätten wir heute einige Probleme weniger.
Aber Sie scheinen da wie hier am Redepult etwas dane-ben zu stehen und in einer virtuellen Rüttgers-Vergangen-heit zu leben, um das einmal gelinde auszudrücken.Die Internetbranche befindet sich derzeit in einerscheinbaren Krise. Die Aktienkurse von so gefeierten Un-ternehmen wie Intershop sind abgestürzt, die VolksaktieTelekom geht auf Tiefstwerte, die Euphorie ist verflogenund mit der Börsenblase scheint auch die Illusion zu plat-zen, dass Cybercash wie Manna vom Himmel fällt. Einer-seits holt die Marktlogik eine hyperaktive Welt dieser NewEconomy auf den Boden der Tatsachen zurück. Anderer-seits sagen uns Prognosen wie die des RWI, dass wir indiesem Bereich in den nächsten Jahren zusätzlicheArbeitsplätze in der Größenordnung von 750000 zu er-warten haben.Was also sind die Hintergründe dieser aktuellen Ent-wicklung? Ist der Hightechboom zu Ende, bevor er über-haupt richtig begonnen hat? Wie reagiert die Politik darauf?Bei aller Ernüchterung: Was wir momentan erleben,ist nicht der Anfang vom Ende, sondern eher das Endevom Anfang. Es beginnt eine neue Phase einer überauschancenreichen und interessanten Entwicklung: das Ver-schmelzen zweier Welten, der Old und der New Economy.Was wir erleben, ist der Strukturwandel zur Netzwerk-ökonomie, eine digitale Revolution, die praktisch den ge-samten Alltag durchdringt. Der Nutzen des Internets steigtmit seiner Ausbreitung. Die Kosten der Information sindsowohl für Unternehmen als auch für Konsumenten ex-trem gefallen. Der Erfolg ist: Käufer können jetzt einfa-cher denn je alle möglichen Güter zu attraktiven Preisenfinden.Durch die neuen Technologien ist die Produktivitätgestiegen. Genauer gesagt: Mit der schnellen Ausbreitungdes Internets ist es selbst zum Katalysator für diese dyna-mische Entwicklung der Wirtschaft geworden. Nach wievor wird die neue Branche der Medien-, Telekommunika-tions-, Software- und Hardwarefirmen deutlich stärkerwachsen als alle übrigen Wirtschaftszweige, auch wennetliche Erwartungen übertrieben, manche Sprüche über-zogen waren, es nicht mehr danach aussieht, dass dieSchnellen die Langsamen fressen, sondern jetzt dieGroßen die Schnellen schlucken.Dennoch: Pro Firma, die vom Markt verschwindet, gibtes gleichzeitig zwei Neugründungen. Der globale Marktwird durch das Internet greifbar. Die Unternehmen kon-zentrieren sich auf ihre Kernkompetenzen und bearbeitenden Weltmarkt. Das Internet ermöglicht die schnelle, pro-jektbezogene Kooperation von Unternehmen. Darum ent-stehen mit der Ausbreitung des Netzes neue Chancen fürkleine Unternehmen und Selbstständige.Zwar hat E-Commercemit einem geschätzten Umsatzvon etwa 3 bis 5 Milliarden DM pro Jahr noch eine rela-tiv geringe Bedeutung. Doch werden auch dieser Anwen-dung hohe Wachstumsraten vorausgesagt, vor allem imGeschäftsbereich Business to Business. Die Unternehmenrechnen damit, ihre Kosten massiv zu senken. ZahlreicheLäden werden in Zukunft durch Onlineshops ersetzt.Dieser Strukturwandel stellt hohe Anforderungen andie Unternehmen und an die Beschäftigten. Die Koalitionhat deswegen die Mittel für Fortbildung und Umschulungder Bundesanstalt für Arbeit in diesem Bereich erhöht.Deutschland hat sich in der Informations- und Kom-munikationstechnik zu einem der weltweit führendenStandorte entwickelt. Wir verfügen über die weltweitbesten Telekommunikationsnetze und sind auf dem Wegins mobile Internet zum Schrittmacher geworden. Geradein den neuen Ländern zeigen sich diese Vorzüge und zie-hen Hightechunternehmen in den Osten. Sie siedeln sichnicht auf der Kippe an, um das deutlich zu sagen.Nach Einschätzung des Branchenverbandes Bitkomliegt im Zusammenhang mit der Entwicklung und An-wendung mobiler Technologien – Stichwort: UMTS – dasneue Internet im alten Kontinent, oder anders gesagt: DieZukunft des Internet kommt aus Europa. In Deutschlandhat sich in den letzten Jahren ein wahrer Aufbruch im In-ternet ereignet. Mit innovativen Produkten und Dienst-leistungen schaffen die vielen Start-ups neue, zukunfts-fähige Arbeitsplätze. Für viele, vor allen Dingen jungeMenschen ist die Gründung eines Unternehmens wieder
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Dr. Heinz Riesenhuber14815
zu einem lohnenswerten Ziel geworden. Mit diesen Un-ternehmen hat sich auch eine neue, beteiligungsorientierteUnternehmenskultur herausgebildet. Vieles spricht dafür,dass hier der Gegensatz von Kapital und Arbeit an Be-deutung verliert, Arbeitnehmer sich als Wirtschaftsbürgeremanzipieren.Ich sage das vor dem Hintergrund des neuen Betriebs-verfassungsgesetzes und der Tatsache, dass der Börsen-crash ein Zähneklappern in manchen arbeitsintensivenStart-up-Unternehmen ausgelöst hat und sich die Fragenach einem ausgewogenen Verhältnis von Mitarbeit undMitbestimmung neu stellt. Denn bei allen Problemen:Wir müssen aufpassen, dass die Übertragung von Erfah-rungen aus den Industriegewerkschaften nicht die Zu-kunft und die neuen Organisationsformen der Informa-tions- und Wissensgesellschaft einengt.Gründer, welche die Chancen des Internets nutzen,werden über Beteiligungskapital finanziert. Der Zugangzu Risiko- oder – besser gesagt – Chancenkapital ist des-wegen zu einem zentralen Erfolgsfaktor geworden. Dierot-grüne Bundesregierung hat diesbezüglich große An-strengungen unternommen. In Deutschland haben die öf-fentlichen Banken einen sehr großen Anteil an der Ent-wicklung dieses Marktes übernommen.Ein akutes Problem unserer Wirtschaft sind die fehlen-den IT-Fachkräfte – und dies bei hoher Arbeitslosigkeit.Das Problem verweist auf zwei Notwendigkeiten: die Ver-stärkung der Aus- und Weiterbildung und die Öffnung un-seres Landes für ausländische Fachkräfte.
Bei der Ausbildung wurde ein erster wichtiger Schritt ge-tan: Im Rahmen der Initiative D-21 wurde vereinbart, biszum Jahr 2001, also bis Ende dieses Jahres, 60000Arbeits-plätze in den neuen Multimediaberufen zusätzlich zu schaf-fen. 40000 sind bereits realisiert, in Berufen, die es 1997überwiegend noch nicht gab.Die Green-Card-Initiative hat mittlerweile 2 000 Spe-zialisten nach Deutschland gebracht. Sie sichern rund8 000 Arbeitsplätze im entsprechenden Umland; um ein-mal darauf hinzuweisen, welche Auswirkungen diese Ini-tiative im Einzelnen hat.
Dieser erste Schritt reicht allerdings nicht aus. Eine be-friedigende Antwort kann nur ein weltoffenes Einwande-rungsgesetz geben. Gerade im IT-Bereich zeigen sich dieimmensen Chancen einer offenen multikulturellen Ge-sellschaft. Die Unternehmen der Netzwerkökonomieagieren auf dem globalen Markt und sind deshalb auf Mit-arbeiter aus verschiedenen Kulturen angewiesen. Ihrekreative Kooperation wird zur Voraussetzung derWettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Zum Beispiel imInstitut für Halbleiterphysik, das es erreicht hat, dass inFrankfurt/Oder in großem Ausmaß in eine neue Chip-produktion investiert wird, arbeiten 200 Experten aus16 Ländern. Intershop – in der DDR nur ein Name, derden Duft der großen weiten Welt ahnen ließ, heute ein Un-ternehmen, das Softwarelösungen für den E-Commerceentwickelt – holt ganz bewusst ausländische Spezialistennach Jena.Schaffen wir also überall in Deutschland attraktiveStandortbedingungen für solche Unternehmen und ihreMitarbeiter! In diesem Sinne haben die Fraktionen derRegierungskoalition einen Antrag vorgelegt, der in18 Punkten benennt, wie wir dieses Ziel erreichen wollen.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Rainer Brüderle, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Der Titel Ihrer Jubelarie „DeutschlandsWirtschaft in der Informationsgesellschaft“ zeigt nur ei-nes: Die Koalition lebt im virtuellen Traumland ihrer An-träge.
New Economy hat zwar viel mit Virtualität zu tun. DieRahmenbedingungen aber, die darüber entscheiden, obdie deutsche Wirtschaft im Zeitalter der New Economy inguter Verfassung ist, sind stark verbesserungsfähig. Hierwird allzu deutlich: Das Denken in Ordnungen, das Set-zen von Rahmenbedingungen ist nun wirklich nicht IhreStärke.
Im Gegenteil: Grün-Rot versagt bei der Schaffung ver-nünftiger gesamtwirtschaftlicher Rahmenbedingungenund verhindert somit die Entwicklung der New Economyin Deutschland.
Erst gestern haben Sie der gesamten Wirtschaft mit einerverheerenden Kabinettsentscheidung zur Verschärfungder Mitbestimmung weitere Fesseln angelegt.
Ihre Mitbestimmungspläne atmen den Geist von vorges-tern. Das ist der krasse Gegensatz zu dem, was die Wirt-schaft im Informationszeitalter braucht. Darauf, dass Siedie Mitbestimmung verschärfen, hat gerade die New Eco-nomy gewartet, Herr Müller. Das ist das Gegenteil vomSetzen vernünftiger Rahmenbedingungen.
Eines ist sicher: Das Geld, das jetzt in den Unterneh-men für die Erfüllung Ihrer Funktionärsträume draufgeht,fehlt für Innovationen und Investitionen, für E-Commerceund neue Produkte – und damit letztlich für Arbeitsplätze.Versagt hat hier wieder einmal BundeswirtschaftsministerMüller: Mit der Leichtigkeit eines Mausklicks hat er die
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Werner Schulz
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deutsche Wirtschaft einer verstärkten Fremdbestimmungdurch die Gewerkschaften ausgeliefert.
Der Letzte macht das Licht aus. Bei dieser Bundesregie-rung dürfte das der Betriebsrat sein.
Die F.D.P. fordert mehr Mitarbeiterbeteiligung statt ge-werkschaftlicher Fremdbestimmung.
Würden die Rahmenbedingungen in diesem Landstimmen, dann müsste sich in Deutschland ein deutlichbesserer Wachstumspfad ergeben. Davon sehe ich wenig.Im Gegenteil. Die Wachstumsprognosen verdüsternsich. Erst vorgestern hat das Ifo-Institut seine Wachstums-prognose für dieses Jahr auf nur 2,4 Prozent herunterge-schraubt.
So viel Wachstum wird es in den USA selbst im begin-nenden Abschwung noch geben. In den letzten Jahren wa-ren es jeweils zwischen 4 und 5 Prozent.
Das Entscheidende: Die technologischen Innovationen derNew Economy haben dort das jährliche Potenzialwachs-tum um 0,5 bis 1 Prozent vergrößert. In Deutschland hin-gegen tut Grün-Rot nichts, um das Potenzialwachstum zuerhöhen. Dabei hat der Sachverständigenrat der Bundes-regierung ins Stammbuch geschrieben – ich zitiere –:Damit die neue Ökonomie und der damit einherge-hende Strukturwandel in Deutschland nicht behin-dert werden, muss die Wirtschaftspolitik ein innova-tionsfreundliches Umfeld schaffen, das der Dynamikdieses Bereichs genügend Raum zur flexiblen Ent-lastung gibt.
Flexible Faktormärkte, freier Wettbewerb, klareLeistungsanreize bleiben unverzichtbar.
Im Klartext: Die beste Politik für die Wirtschaft im In-formationszeitalter ist eine klare liberale Ordnungspolitik.
Denn die New Economy ist das Lösungsmittel für denKlebstoff unserer verkrusteten Strukturen.
Die Bundesregierung will dies nicht begreifen – im Ge-genteil, diese Regierung rührt ständig neuen Kleister an.Auch für flexible Faktormärkte tut die Bundesregie-rung nichts. Statt Flexibilität erleben wir überall – wie beider Betriebsverfassung – Stillstand und rückwärts ge-wandtes Denken. Selbst bei einem so kleinen Thema wiedem Ladenschluss kommen Sie nicht voran, und das imZeitalter des zeitlich unbegrenzten Onlinehandels.
Rabattgesetz und Zugabeverordnung wurden erst in letz-ter Minute abgeschafft.
Doch das ist alles Kleinkram gegen die wirklich wich-tigen Defizite in unserem Land. In großen, blumigen Sät-zen beschreiben Sie in Ihrem Antrag die Veränderungenauf dem Arbeitsmarkt und Ihre Perspektiven für mehr Be-schäftigung durch die New Economy. Doch: Für die NewEconomy braucht Deutschland mehr Flexibilität auf demArbeitsmarkt; Grün-Rot dagegen „verriestert“ und „ver-regelt“ den Arbeitsmarkt.
Kündigungsschutz, Verschärfung bei der Lohnfortzah-lung im Krankheitsfall, Scheinselbstständigkeit, Ein-schränkung der 630-DM-Jobs, Recht auf Teilzeitarbeitmachen den Arbeitsmarkt noch starrer, als er ohnehinschon ist.
Glauben Sie denn wirklich, dass Sie mit diesem Horror-katalog den Start-ups, der mittelständischen Wirtschaft inunserem Land einen Gefallen tun? Glauben Sie dennwirklich, dass der Wirtschaft im Zeitalter der New Eco-nomy mit Ihrem Gewerkschaftsdenken des 19. Jahrhun-derts noch gedient ist?
Dann kommt einmal ein halbwegs vernünftiger Vor-schlag, und zwar ausnahmsweise von Frau Wolf. Sie wol-len über Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen betrieb-liche Bündnisse für Arbeit schließen.
– Herr Tauss, Sie können es einmal nachlesen: Ich zitiereaus dem Papier von Frau Wolf mit dem Titel „Chancen desIT-Gründerbooms nutzen“. Sie schreibt darin:Unser Vorschlag ist, dass der Arbeitsplatzerhalt beider Günstigkeitsabwägung berücksichtigt wird.
Genau das wollen wir im Tarifvertragsrecht. Aber daseinzige, was Sie schließlich zustande bekommen, ist einEntschuldigungsbrief an die Gewerkschaften. Frau Wolfals Staatssekretärin ist neben dem Feigenblatt Müller
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noch so ein Feigenblättchen. Das ist die grün-rote Inno-vation: ein Pärchen mit Feigenblatt, quasi eine politischeRomanze im Feigenblatt, die Sie damit schaffen.
Auf dem Gebiet der modernen Lohn- und Gehaltspoli-tik bieten Sie jedenfalls ein Jammerbild. Wir alle wissen:Für die Firmen der Netzwerkwirtschaft, für die jungenStart-ups, ist das Thema der Besteuerung von Aktienop-tionen von existenzieller Bedeutung. Aktienoptionen wer-den, allen aktuellen Börsenkursen zum Trotz, ein wichti-ger Bestandteil eines modernen Lohnmixes bleiben. Dennder beste Anreiz für Arbeitnehmer ist die Beteiligung amProduktivvermögen. Herr Mosdorf hat dazu sehr diskussi-onswürdige Vorschläge unterbreitet, doch Herr Müllerwollte ihm diesen Erfolg offensichtlich nicht gönnen. Stattdiese für die Start-ups und die gesamte Netzwirtschaft sowichtige Frage endlich zu klären, herrscht grün-roteSelbstblockade.Meine Damen und Herren, für die New Economybraucht Deutschland Flexibilität bei der Zuwanderung,
sonst werden wir den globalen Wettbewerb um die bestenKöpfe nicht gewinnen. Die Green Card ist nur eine Heft-pflasterstrategie ohne Zukunftsperspektive.
Das wissen auch Sie! Wir müssen die Zuwanderung um-fassend und liberal regeln. Die F.D.P. hat dazu längst ei-nen Gesetzentwurf vorgelegt,
einen Gesetzentwurf, den übrigens Ihre rheinland-pfälzi-schen Genossen voll mittragen. Reden Sie einmal mitRheinland-Pfälzern, vielleicht werden Sie dann schlauer!Stimmen Sie zu, statt weiter zu vertagen.
– Sie haben die Grünen! Da haben Sie halt Pech gehabt.Klare Ordnungspolitik für die Wirtschaft im Zeitalterder New Economy bedeutet ein eindeutiges Bekenntniszum funktionsfähigen Wettbewerb – ein Fremdwort fürdiese Bundesregierung, die das Wirtschaftsministeriumzu einem Monopolministerium hat verkommen lassen.
Gerade der wirksame Wettbewerb auf den Zukunftsmärk-ten Telekommunikation und Logistik ist Grundvorausset-zung für die Wirtschaft in der Informationsgesellschaft.In Ihrem Antrag loben Sie die weltweit vorbildlicheLiberalisierung derTelekommunikationsmärkte.Abernatürlich verschweigen Sie zweierlei: Erstens. Diese Er-folge können Sie nur feiern, weil wir die Liberalisierungseinerzeit gegen Ihren erbitterten Widerstand durchge-setzt haben.
Zweitens. Ihre Fraktion wird, nachdem Herr Scheuerle er-folgreich weggemobbt wurde, einen Kurswechsel in derRegulierungspolitik einleiten wollen. Das Papier vonHerrn Kollegen Barthel, einem Ihrer vielen Gewerk-schaftssekretäre, spricht Bände, entlarvt Ihren Antrag alsrosarote Politlyrik.
Gleiches gilt für den Zukunftsmarkt Logistik. NewEconomy ist auch Logistik, weil die Warenströme indivi-dueller und schneller fließen müssen. Diese Zukunfts-branche wird durch ein Teilmonopol der Post und unzu-reichenden Wettbewerb auf der Schiene behindert. Zu alldem schweigt Ihr Antrag. Wenn Sie denn doch gerade diemittelständischen Firmen fit machen wollen für die He-rausforderungen der New Economy, dann ist ihnen mitDeregulierung, mit Liberalisierung, mit staatlicherEntlastung mehr gedient als mit den in Ihrem Antrag sogepriesenen Kompetenzzentren. Das ist Schwafellyrik,aber keine konkrete Hilfe.
Solche Industriepolitik passt nicht mehr in das 21. Jahr-hundert. Aber sie ist kennzeichnend für die politische Fan-tasielosigkeit, wie sie die New Economy von Grün-Rotzum Leidwesen der Wirtschaft schon längst gewohnt ist.Bestes Beispiel ist Ihr Schlingerkurs in der Frage derUrheberrechtsabgabe. So langsam dämmert es auchFrau Däubler-Gmelin, dass ihre ursprünglichen Plänekontraproduktiv sind. Den Herausforderungen der NewEconomy werden wir mit einem „Weiter so!“ nicht ge-recht.
Bei allen Schlüsselfragen erleben wir einen grün-rotenSchlingerkurs.Die deutsche Wirtschaft braucht im Informationszeit-alter eine mutige Politik und entschlossenes Handeln,aber kein grün-rotes Denkmikado. Sie braucht dringenderdenn je eine Renaissance der Ordnungspolitik, klare Prin-zipien und Berechenbarkeit – damit diejenigen, die denMut zu Selbstständigkeit haben, dies auch tun können. Siebehindern doch die, die diesen Schritt gehen wollen. Stattihnen tausend Handschellen anzulegen, sollten Sie end-lich einen Weg einschlagen, um in diesem Land die tau-send Handschellen abzulegen, damit wir vorankommenbei der Schaffung von Arbeitsplätzen.
Stattdessen tragen Sie die Fahnen von vorgestern alsMonstranz vor sich her. Mit diesen Regeln des Klassen-kampfes, mit denen Sie einmal Ihre Geschichte begonnenhaben, werden Sie heute nichts erreichen.
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– Ich verstehe ja, dass die geschulten Gewerkschaftsse-kretäre wie Frau Lotz schreien. Das haben Sie ja im Schu-lungskurs I gelernt: Wenn jemand die Wahrheit sagt,schreien, damit man ihn nicht hört. – Aber noch kann manin diesem Land frei reden.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Ulla Lötzer, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Kolleginnenund Kollegen! Die Faszination der Arbeit in der IuK-Branche liegt darin, komplexe Abläufe organisatorischund technisch neu zu gestalten und zu beherrschen. DieFaszination, die soziale Dimension dieser Entwicklungzu beherrschen, könnte auch für Politiker und Politikerin-nen gelten. Ihrem Lob des Antrags, Kollege Riesenhuber,kann ich mich in diesem Sinne leider nicht anschließen.Würde man diese Maßnahmen in eine IuK-Anwendungfür den sozialen Umbau umsetzen, käme das Programmleider auch in vielen Nächten nicht zum Laufen. DieSteuerung, immer entscheidend für den funktionierendenAblauf, stimmt in vielen Fällen nicht.Sie setzen im Wesentlichen auf die Selbstregulierungs-kräfte, Sie sehen nur die Chancen und verschließen dieAugen vor den Risiken. Dies gilt insbesondere für die Be-schäftigungswirksamkeit. Immer wieder – wie auchheute – beschwören Sie die Aussicht auf mögliche zu-sätzliche 750 000 Arbeitsplätze, errechnet vom RWI. DasGutachten geht dabei allerdings von der Voraussetzungaus, dass zum Beispiel die Börsenkurse den zukünftigenStrukturwandel zutreffend widerspiegeln. Wohlgemerkt:Das Gutachten stammt aus der Zeit vor dem jetzigenCrash. Das sagen Sie nicht, geschweige denn, dass Siejetzt Konsequenzen daraus ziehen.Auch eine zweite Modellrechnung in diesem Gutach-ten nennen Sie nicht. Danach kommt das RWI zu dem Er-gebnis, dass die Entwicklung zu keinem spürbaren Abbauder Arbeitslosigkeit beiträgt, denn Beschäftigungszu-wächse würden durch Beschäftigungsrückgänge in ande-ren Bereichen neutralisiert. Auch diese Prognose scheintheute fast zu optimistisch, und zwar nicht, weil der Crashden Niedergang des elektronischen Handels bedeutet, imGegenteil: Hier beginnt einerseits eine Konsolidierung,andererseits haben die etablierten Industrie- und Handels-konzerne inzwischen die Initiative an sich gezogen.Bei der Konsolidierung werden nicht die Schwerge-wichte der Old Economy, sondern Start-ups auf derStrecke bleiben. Die Bedeutung des E-Commerce wächst,doch die Beschäftigungswirksamkeit bleibt unter den Er-wartungen. Dies gilt insbesondere für die kleinen undmittleren Unternehmen.Natürlich haben Sie Recht, den Mittelstand aufzufor-dern, die Möglichkeiten des E-Commerce zu nutzen. Vorallem im Bereich der Zulieferer kann man sagen: Wer esnicht tut, wird in Zukunft nicht mehr dabei sein. DieRealität – auch dies ist in einem Gutachten wiedergege-ben – erschreckt: Deutsche Klein- und Mittelbetriebe ran-gieren allenfalls am unteren europäischen Level.Insbesondere gilt das für Betriebe in ländlichen Gegendenund in den neuen Ländern. Die Bundesregierung will demmit Kompetenzzentren entgegenwirken. Das begrüßenwir, im Gegensatz zur F.D.P.
Das Gutachten stellt aber auch fest: Der Wettbewerbauf bisher geschützten Märkten wird zunehmend an Härtegewinnen. Der davon ausgelöste Wettbewerbs- und Kos-tendruck wird sich zum Nachteil der dortigen Arbeits-plätze und Arbeitsbedingungen auswirken. Es droht einerneuter Wettlauf im Niederkonkurrieren der sozialenStandards. Die Stellung der Global Players gegenüber denKMU wird gestärkt. Dies gilt insbesondere beim Einsatzder elektronischen Marktplätze für die Beschaffung.Wann es sich dabei um Einkaufskartelle handelt undwie der Schutz des fairen Wettbewerbs gestaltet werdensoll, ist völlig ungeklärt. Sie erfassen nicht einmal dasProblem, wie ein Kartellrecht, das ein Jahrhundert alt ist,auf die Welt des Internets überprüft und zeitgemäß fort-geschrieben werden kann.Neben den schon genannten Problemen ergeben sichweitere gravierende Änderungen der Arbeitsverhält-nisse: Der Betrieb als räumliche und soziale Einheit ver-liert zunehmend seine Bedeutung, der Anteil der Tele- undProjektarbeitsverhältnisse nimmt zu. Es wird vermehrtunstete Lebensläufe, verbunden mit dem Wechsel von ab-hängiger und selbstständiger Beschäftigung, geben. DieBedingungen für die betrieblichen und gewerkschaftli-chen Mitbestimmungsrechte verschlechtern sich.Sie sagen in Ihrem Antrag, dies dürfe nicht zurSchwächung des sozialen und rechtlichen Status führen;doch wo bleiben Ihre Maßnahmen? Sie reformieren diesozialen Sicherungssysteme, aber eine Sozialversiche-rungspflicht für alle gibt es nicht. Sie reformieren das Be-triebsverfassungsgesetz, doch dringend notwendige Ant-worten auf diese Entwicklungen fehlen im Entwurfweitgehend.
Die vom DGB geforderte Erweiterung des Arbeitnehmer-begriffs, der alle abhängig Beschäftigten einbezieht, fehltebenso wie eine Ausweitung der Mitbestimmungsrechtein wesentlichen Bereichen, zum Beispiel in den Fragender Arbeitsabläufe und -verfahren oder bei der Ein-führung von Telearbeit. Ich fordere Sie auf, den Entwurfin diesem Sinne nachzubessern.Auch die digitale Signatur ist ein Schlüsselelementfür die Entwicklung. Mit dem heute vorliegenden Antragwerden in Anpassung an die europäische Richtlinie alleArten von Signaturen zugelassen, auch solche ohneSicherheitsüberprüfung.Auch wenn die Forderung der Verbraucherverbändeaufgenommen wurde, den Sicherheitsstandard von ge-prüften Signaturen mit Qualitätssiegeln zu kennzeichnen,bedeutet das Gesetz eine Verschlechterung gegenüber derbisherigen Regelung, nur sicherheitsgeprüfte Siegel zu-zulassen. Die Bundesregierung versucht über verschie-dene Projekte, die gesellschaftliche Akzeptanz zu er-höhen. Im Kommunikationsportal „Media@Komm“ wird
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unter anderem untersucht, in welchen Formen sich dieAnwendung durchsetzt. In einem Begleitbericht wird da-von ausgegangen, dass große Anbieter mit Signaturenohne Qualitätssiegel auf den Markt kommen werden.Im Preiswettbewerb und über mögliche Anwendungenmit Zusatznutzen oder sogar Zwangsnutzen werde sichder Standard entscheiden. Die Sicherheits- und Qualitäts-interessen der Verbraucher werden damit dem Marktüberlassen. In Bezug auf die Möglichkeiten des Zwangs-nutzens fordern die Verbraucherverbände zu Recht, dassauch künftig allen Verbrauchern die Möglichkeit offenstehen müsse, rechtlich relevante Geschäfte auf her-kömmliche Art zu tätigen.Auch in der so wichtigen Frage hinsichtlich der Über-windung der sozialen und digitalen Spaltung setzt dieBundesregierung auf die Eigeninitiative der Unterneh-men. „Die PC-Ausstattung der Schulen kommt nichtvoran“, wiederholte der Vorsitzende der D-21-Initiative,Herr Staudt, erst kürzlich. Jetzt fordert er von der Bun-desregierung, dass sie sich um die Ausstattung der Haupt-und Sonderschulen kümmern müsse; die Unternehmenübernähmen die Ausstattung der Gymnasien.
Damit wird die soziale und digitale Spaltung zementiert.
Auch dazu kein Wort von Ihnen!Wir fordern Sie auf – das können Sie ja dann gleich tun –,ein Konzept vorzulegen,
das die Ausstattung aller Schulen gewährleistet.Kolleginnen und Kollegen, wir fordern Sie dringendauf, in wesentlichen Fragen der sozialen Gestaltung um-zusteuern, damit Ihr Programm zum Laufen kommt. Inunserem Antrag, der heute auch zur Debatte steht, habenSie dazu vielfach Hinweise genannt bekommen. Wir wol-len, dass die Chancen realisiert werden, sind aber der Mei-nung, dass dazu Antworten auf die Risiken dringend er-forderlich sind.Vielen Dank.
Ich erteile dem Kolle-
gen Hubertus Heil, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr ge-ehrten Damen und Herren! Vor kurzem war zu lesen, dassder heilige Isidor von Sevilla vom Papst zum Schutzpa-tron der Internetbenutzer und Programmierer ernanntwerden soll. Man kann also offenbar feststellen, dass auchim Vatikan der Weg in die Informations- und Kommuni-kationsgesellschaft mittlerweile Chefsache ist. Ich mussnur sehr deutlich sagen, Herr Riesenhuber: Von Deutsch-land konnte man das bis zum Regierungswechsel 1998nicht gerade behaupten.
Ich freue mich ja ganz besonders, dass der KollegeDr. Helmut Kohl heute endlich wieder einmal im Parla-ment ist. In dem Zusammenhang fällt mir ein, wie das1994 war, Herr Dr. Kohl: Da wollten Sie als Bundeskanz-ler, wie in den Archiven nachzulesen ist, die Datenauto-bahn noch dem Verkehrsministerium zuordnen.
Die Modernisierung unserer Volkswirtschaft hat den da-maligen Regierungschef – um es ganz vorsichtig zu sagen –nur am Rande interessiert. – Dieses vernichtende Urteilstammt übrigens nicht von einem Sozialdemokraten, son-dern vom früheren BDI-Chef Hans-Olaf Henkel. Auch derKollege Rüttgers räumt das ja inzwischen ein: Sie habenjahrelang die Modernisierung unserer Volkswirtschaft ebennicht vorangetrieben, meine Damen und Herren von derCDU.
Es war die SPD-geführte Bundesregierung, die seitdem Regierungswechsel durch mutige Reformen die Vo-raussetzungen dafür geschaffen hat, dass Deutschlandheute wirtschaftlich auf der Überholspur ist.
Die Zahlen, Herr Brüderle, sprechen für uns: mit über3 Prozent Wirtschaftswachstum im vergangenen Jahr, mitüber 500 000 neuen Arbeitsplätzen und hervorragendenWachstums- und Beschäftigungsprognosen auch für die-ses Jahr.Ein wesentlicher Grund ist, dass Deutschland mitGerhard Schröder nach 16 Jahren wirtschaftspolitischerBräsigkeit wieder einen Bundeskanzler hat, der sich fürzentrale ökonomische Fragen unserer Zeit interessiert undauch handelt.
Das betrifft insbesondere auch die Informations- undKommunikationstechnologie und hat dazu beigetragen,dass unser Land – nun hören Sie genau zu – mittlerweileauf dem Weg zur führenden Internetnation in Europa istund damit auch zur Weltspitze aufschließt.Die neuen Medien sind für uns der Turbomotor zurModernisierung der gesamten deutschen Volkswirtschaft.Uns ist bewusst: Sie sind die zentralen Basistechnologien.Viele andere Technologien und Innovationen bauen aufihnen auf. Deshalb hat diese Bundesregierung von Beginnan wichtige Akzente für die beschleunigte Verbreitung
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und Nutzung der modernen Informations- und Kommuni-kationstechnologien in Deutschland gesetzt.Der deutsche Markt für diese Technologien undDienstleistungen ist allein in den letzten beiden Jahren umrund 20 Prozent gewachsen. Da kann man nicht sagen,dass das nichts ist. 1,7 Millionen Menschen haben ihrenArbeitsplatz in der deutschen IT-Branche gefunden. Auchunser Anteil am Weltmarkt hat sich deutlich verbessert.Bereits in wenigen Jahren werden in der deutschen IT-Branche mehr als 300 Milliarden DM Umsatz gemachtwerden. Sie wird damit – das muss uns allen, auch unsWirtschaftspolitikern, bewusst sein – zum größten Wirt-schaftszweig in unserem Land überhaupt.Eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung der Informati-onswirtschaft spielen mittelständische Unternehmen undjunge Existenzgründer. Zahlreiche neue Firmen konntenin den letzten beiden Jahren durch die Bereitstellung vonWagniskapital aufgebaut werden. Unsere Koalition hatmit der Steuerfreistellung der BeteiligungsveräußerungenImpulse für die weitere Belebung des Risikokapitalmark-tes gegeben. Damit schaffen wir ein wichtiges Sprung-brett in eine unternehmerische Zukunft. Insofern, HerrBrüderle: So viele Sprechblasen wie bei Ihnen eben habeich lange nicht mehr gehört. Das muss man deutlich sa-gen.
Wir können konkret nachweisen, was wir getan haben.Was Sie getan haben, hat sich mir noch nicht erschlossen,obwohl die freien Demokraten 30 Jahre lang den Wirt-schaftsminister gestellt haben.Inzwischen haben mehr als 40 Prozent der Deutschenzwischen 14 und 70 Jahren einen Internetzugang.Deutschland befindet sich hier also auf dem richtigenWeg, auch wenn uns dies noch nicht ausreicht. Bundes-kanzler Gerhard Schröder hat im letzten Jahr ein Zehn-Punkte-Programm unter dem Titel „Internet für alle“vorgelegt. Frau Lötzer, das sollten Sie zur Kenntnis neh-men.
Dieses Programm bündelt zentrale Maßnahmen des Ak-tionsprogramms der Bundesregierung. Es dient auch derUmsetzung des E-Europe-Aktionsplans der EuropäischenUnion und anderer internationaler Vereinbarungen. Damitmachen wir deutlich: Es ist unsere Aufgabe, beim Über-gang unseres Landes von der Industrie- zur Wissensge-sellschaft neue soziale Spaltungen zu verhindern. Wir So-zialdemokraten setzen alles daran, eine digitale Kluft indieser Gesellschaft zu vermeiden.
Es ist unsere Aufgabe, allen Bürgerinnen und Bürger denZugang zum Internet zu ermöglichen. Es darf eben keineTeilung geben.
– Das ist kein Klassenkampf. Das ist Unsinn, Herr vonKlaeden. Sie kennen die Realitäten in diesem Bereich of-fenbar nicht.
Angesichts der vorherrschenden Dynamik besteht imMoment die Gefahr, dass es zu einer Kluft zwischen An-geschlossenen und Ausgeschlossenen, zwischen Losernund Usern kommt. Dies hat nichts Klassenkämpferisches.So etwas zu behaupten ist Unsinn. Schauen Sie sich dieDebatte in den USAan. Sie läuft genau in diese Richtung.
Die gleichberechtigte Teilhabe in diesem Bereich istnicht nur aus Gründen des sozialen Zusammenhalts not-wendig, sondern auch aus Gründen, die etwas damit zutun haben, diese Wirtschaft zu entwickeln und die Infor-mations- und Kommunikationstechnologien stärker in un-serer Gesellschaft zu verankern.
Dazu müssen die gleichberechtigte Teilhabe der Men-schen an den Möglichkeiten der I-und-K-Techniken undder freie Zugang – das gehört auch dazu – zu qualitativhochwertigen Informationen gesichert werden. Wenn esuns gelingt, den Einstieg ins Internet für alle zu schaffen,können Produktivitätsfortschritte im besten Sinne unserersozialen Marktwirtschaft genutzt werden. Ich kann nur sa-gen: Unser Ziel in diesem Bereich – ich weiß nicht, wo esbei Ihnen liegt – ist, Ludwig Erhard mit seinem Postulat„Wohlstand für alle“ zu folgen. Dies hat in diesem Be-reich zentral mit dem Internetzugang zu tun. Dies ist derGrund für die Aktivitäten des Bundeskanzlers im Ak-tionsprogramm der Bundesregierung.Damit sich der elektronische Handel, der E-Commerce,voll entfalten kann, brauchen wir einen angemessenen undmodernen gesetzlichen Rahmen. Mit dem neuen Gesetzüber elektronische Signatur, das wir heute abschließendberaten und verabschieden werden, kommen wir hier ei-nen bedeutenden Schritt voran.Die Bundesregierung hat schon im Zuge der Steuerre-form die rechtlichen Rahmenbedingungen in Sachen di-gitaler Unterschrift deutlich verbessert. Ich möchte daraufhinweisen, dass wir durch eine juristische Grundlage fürRechnungsstellungen in diesem Bereich schon einenSchritt vorangekommen sind.Mit dem Gesetz, das wir heute beschließen, schaffenwir aber noch mehr: Wir stellen das deutsche Signatur-recht auf eine europäische Basis und schaffen für denRechts- und Geschäftsverkehr ganz neue Möglichkeiten.Die qualifizierte elektronische Signatur machen wir damitzum vollwertigen Ersatz für die handschriftliche Unter-schrift.Durch dieses Gesetz sowie durch die Anpassung derFormvorschriften schaffen wir Rechtssicherheit undbauen eine starke Sicherheitsinfrastruktur auf, damit Ge-schäftsabschlüsse und rechtliche Übereinkommen künftignicht nur mit dem Füllfederhalter oder dem Kugelschrei-
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ber, sondern auch per Mausklick möglich sind. Ab Julidieses Jahres kann bei allen Geschäften, für die bisher dieSchriftform vorgeschrieben war, eine elektronische Si-gnatur verwendet werden. Damit werden für papierloseVerträge, Bankgeschäfte oder Bestellungen über das In-ternet bestehende Rechtsunsicherheiten beseitigt.Durch die Regelungen unseres Gesetzentwurfes habenwir einen fairen Interessenausgleich – das sage ich an dieAdresse von Frau Lötzer und auch an den BDI, der sichgestern noch einmal zu Wort gemeldet hat – zwischen denBedürfnissen der Verbraucherinnen und Verbraucher nachSchutz und dem Wunsch der Wirtschaft nach Flexibilitätund Rechtssicherheit geschaffen.Eines möchte ich aber deutlich sagen, bevor etwasFalsches behauptet wird: Auch hier ist Deutschland in Eu-ropa in Bezug auf die rechtliche Umsetzung an der Spitze.Anderweitige Behauptungen seitens der Opposition undeine entsprechende Meldung der „Financial TimesDeutschland“ sind schlicht und ergreifend falsch. DasGegenteil ist der Fall. Weil wir so schnell und so weit sind,haben wir eine wichtige Vorreiterrolle und Vorbildfunk-tion für andere europäische Länder und damit die Mög-lichkeit, die Umsetzung dieser elektronischen Signatur inanderen Ländern anzumahnen.Wir betreiben die Förderung des elektronischen Han-dels im europäischen Geleitzug. Die EG-Richtlinie überelektronischen Geschäftsverkehr, die bewährte Grundsätzedes deutschen Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetzes aufnimmt, schafft europaweit die wesentlichenwirtschafts- und zivilrechtlichen Rahmenbedingungen fürden elektronischen Geschäftsverkehr. Wir sind hier auf ei-nem guten Weg. Die Richtlinie wird im deutschen Rechtzügig verankert.Gleichzeitig haben wir Benachteiligungen deutscherAnbieter gegenüber den europäischen Wettbewerberndurch die Abschaffung des Rabattgesetzes und der Zuga-beverordnung beseitigt. Auch das bitte ich zur Kenntniszu nehmen, Herr Brüderle, weil Sie immer so tun, alsseien wir untätig oder strangulierten alle mit Vorschriften.Im Gegenteil: Wir haben im Gegensatz zu dem, was Siein den letzten Jahren gemacht haben, viel erreicht.
– Wenn Sie mir „Zu wenig“ zurufen, Herr Ex-Weinbau-minister, dann frage ich mich wirklich, was die F.D.P. bis1998 geschaffen hat.
Sie reden immer von Ladenschluss und weiß derKuckuck was. Sie hatten doch genügend Zeit, dies allesumzusetzen.
Unser Land – darin gebe ich Ihnen Recht, Herr KollegeRiesenhuber – hat eine vorbildliche technische Vorausset-zung für Telekommunikation.Auf einen Nenner gebracht:Im Interesse von Wachstum und Beschäftigung ist einestärkere Verbreitung moderner Informations- und Kommu-nikationstechniken geboten.
– Regen Sie sich ab.Diese ist heute nicht so sehr durch das mangelnde tech-nische Angebot, sondern eher durch die Höhe der An-schaffungs- und laufenden Kommunikationskosten ge-bremst. Auch hier haben wir, glaube ich, eine ähnlicheEinschätzung der Lage. Wir wollen und werden das ge-meinsam ändern.
Mit der Liberalisierung des Telekommunikations-marktes – das erkennen wir durchaus an – wurden dieVoraussetzungen dafür geschaffen, dass sich die Tele-kommunikationsinfrastruktur durch Wettbewerb weiter-entwickeln kann.
– Ich war damals nicht im Parlament. Ich kann gar nichtdagegen gestimmt haben.
Alle Anbieter stehen unter einem permanenten Moderni-sierungsdruck. Sie sind einem produktiven Kosten- undKreativitätswettbewerb ausgesetzt. In den Bereichen, indenen nach wie vor Monopole bestehen, schafft dieRegulierungsbehörde für Post und Telekommunikationdie notwendigen Voraussetzungen.Unser Ziel ist es, möglichst auf allen Märkten faireWettbewerbsbedingungen sicherzustellen. Ich möchte imNamen der gesamten SPD-Fraktion – lassen Sie sich dassagen – Folgendes feststellen: Wir bejahen und fördernden Wettbewerb. Aber jetzt kommt der Unterschied. ImGegensatz zur F.D.P. und zu Teilen der CDU/CSU-Frak-tion – das muss ich so sagen – wollen wir diesen nicht ausideologischen Gründen und mit der Brechstange durch-setzen, weil Wettbewerb für uns kein Selbstzweck ist. Wirsind für den Wettbewerb, weil er in diesem Bereich dervernünftigste Mechanismus ist, um die wirtschaftlichenPotenziale im Bereich der Telekommunikation im Inte-resse aller zu entfalten. Wettbewerb ist hier nicht Selbst-zweck, sondern ein vernünftiger wirtschaftspolitischerMechanismus.
Es gäbe an dieser Stelle noch eine Fülle von Initiativenund rechtlichen Voraussetzungen zu nennen, die wir be-reits geschaffen haben oder die kurz vor der Umsetzungstehen. Sie alle zu nennen würde meine Redezeit spren-gen und die anderer Kollegen verkürzen.Lassen Sie mich aber deutlich sagen, was das Ziel alldieser Initiativen ist, weil wir kein „Muddling through“wollen, also uns nicht durchwursteln wollen, wie wir es inden letzten Jahren erlebt haben, sondern weil wir ein kla-res Leitbild haben, das wir erreichen wollen. Alle Schritte,die wir auf dem Weg der Modernisierung unserer
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Volkswirtschaft gehen, und alles, was wir im Bereich derInformations- und Kommunikationstechnologien unter-nehmen, dienen einer Modernisierung der Wirtschaftzum Wohle der Menschen in Deutschland.
Das bedeutet in diesem Zusammenhang, dass wir Be-schäftigungspotenziale erschließen wollen, und zwar Po-tenziale einer anständigen Beschäftigung.Um es ganz deutlich zu sagen: Nicht alles ist von der Po-litik zu schultern und nicht in jedem Bereich besteht staat-licher Regulierungsbedarf. Im Gegenteil: Ein zunehmendwichtiges Kennzeichen der Internetwirtschaft sind Selbst-regulierungsmechanismen der Marktteilnehmer. WichtigeMeilensteine in dem Bereich der Selbstregulierung wurdenin der von der Bundesregierung unterstützten branchen-übergreifenden Unternehmensinitiative D 21 realisiert.Gemeinsam mit den Unternehmen der Initiative D 21 undVerbraucherschutzorganisationen wurde beispielsweiseein Katalog von Qualitätskriterien für Onlineangebote anprivate Verbraucher entwickelt. Die Kooperation vonBundesregierung und der Initiative D 21 ist eine modernePolitik, weil sie vernetzt denkt und operiert. Hier ergän-zen sich private Initiative und praktischer unternehmeri-scher Sachverstand sowie praktische Politik und aktivesstaatliches Handeln. Die Initiative D 21 unter der Schirm-herrschaft des Bundeskanzlers zeigt, dass die genanntenBegriffe keine Gegensatzpaare sein müssen.
Unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft befindensich – darin stimmt mir jeder hier im Haus zu – in einemrasanten Modernisierungsprozess. Technische Innovati-onen lösen Veränderungen nicht nur in der Wertschöpfungund der Arbeitswelt, sondern in vielen anderen Bereichendes öffentlichen und privaten Lebens aus. Wir Sozialde-mokraten sagen deutlich, dass Politik keine Sicherheit vordiesem Wandel geben kann und auch nicht geben sollte.Aber sie kann und muss den Menschen Sicherheit vorexistenzieller Not im Wandel geben und sie kann undmuss dafür sorgen, dass die bestehenden Chancen genutztund die Teilhabemöglichkeiten für alle gestärkt werden.Wir wollen die neuen Technologien so nutzbar ma-chen, dass es nicht weniger, sondern mehr Freiheit, mehrGerechtigkeit und einen größeren gesellschaftlichen Zu-sammenhalt gibt. Nicht der Mensch soll sich nach derTechnik richten, sondern die Technik nach den mensch-lichen Bedürfnissen.
Juan Somavia, der Direktor der ILO – der InternationalLabour Organisation – hat in der „FAZ“ vom 4. Januardieses Jahres einen wichtigen Maßstab dafür genannt. Erschrieb in der „FAZ“:Trotz all dieser erstaunlichen bisherigen Leistungender Wissensökonomie müssen ihre Versprechungenaber doch letztlich daran gemessen werden, obmenschliche Bedürfnisse wirklich befriedigt werden.Er sieht eine strategische Möglichkeit darin, die globaleWirtschaft auch sozial zu legitimieren, indem die Entste-hung anständiger Arbeitsplätze beschleunigt wird.Genau nach diesem Maßstab handeln wir und bringendie wirtschaftliche Modernisierung unseres Landesvoran. Egal, wie viel Reden von Herrn Brüderle wir überuns ergehen lassen müssen: Wir gehen auf diesem Wegweiter.Herzlichen Dank.
Ich erteile der Kolle-
gin Martina Krogmann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Dr. Martina Krogmann (von Abgeord-
neten der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Sehr verehrter Kollege
Riesenhuber,
ich wünschte, wir hätten jemanden in der Bundesregie-
rung, der so engagiert und dynamisch wie Sie an die Sa-
che herangeht.
Stattdessen geht die Bundesregierung weiter im
Schneckentempo voran und bremst durch immer neue
und weitere Regulierungen die Wirtschaft aus. Dabei ist
es gerade ein bestimmendes Kennzeichen der Wirtschaft
in der Informationsgesellschaft, dass ein ungeheures,
atemberaubendes Tempo vorgelegt wird. Die Innova-
tionszyklen werden immer kürzer und die Entwicklungen
gehen immer schneller voran.
Wenn Sie heute mit den Jungunternehmern der Dot-
coms sprechen, sagen die Ihnen, dass Schnelligkeit,Time
to Market , immer wichtiger wird, um auf dem Weltmarkt
bestehen zu können.
Deshalb muss die Politik schneller handeln und des-
halb müssen Sie, Herr Kollege, Ihr Tempo erhöhen. Ent-
scheidungen müssen schneller fallen, damit die Lücke
zwischen Wirtschaft und Politik nicht weiter auseinander
geht.
Frau Kollegin, gestat-ten Sie bitte eine kurze Unterbrechung.Liebe Gäste auf der Zuschauertribüne, Sie sollen auf-merksam zuhören, aber klatschen ist nicht erlaubt. Ichmuss Sie leider darauf hinweisen.
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Hubertus Heil14823
Ich freue michallerdings sehr über die Zustimmung von der Tribüne.
Tatsache ist aber, Herr Kollege Staffelt: Die Bundesre-gierung kriecht wie eine Schnecke in das digitale Zeital-ter. Ich möchte Ihnen dafür einige Beispiele nennen. InIhrem Antrag verweisen Sie auf das Projekt „E-Govern-ment – Bund-Online 2005“. Bis zum Jahr 2005 wollen Siedieses Programm umsetzen. Das ist in der Internetwirt-schaft ein viel zu langer Zeitraum. Im Internet gilt dieFaustregel: Internetjahre sind wie Hundejahre, also malsieben.
Im Internet geht die Entwicklung siebenmal so schnellwie die in anderen Branchen in einem Jahr voran. WennSie also heute sagen, Sie wollen 2005 online gehen, dannist das so, als ob Sie in der Wirtschaft heute Ihren Urlaubfür das Jahr 2030 einreichen würden.
Eines muss ich Ihnen allerdings zugestehen: Bei derAnzahl der geschassten Minister, nämlich sieben in zweiJahren, erreicht die Bundesregierung absolut Internetge-schwindigkeit.
Ich möchte noch ein anderes Beispiel ansprechen. Eineganz wichtige Frage vor allem auf der europäischenEbene ist die Steuerpolitik. Sie haben auf dem EU-Gipfelin Nizza die große Chance gehabt, im Bereich der Steuernendlich das Mehrheitsprinzip durchzusetzen. Sie habendiese Chance nicht genutzt. In sämtlichen Bereichen derSteuerpolitik gilt auch nach Nizza noch immer das Ein-stimmigkeitsprinzip. Was das heißt, ist, glaube ich, jedemklar: Bei Steuerfragen müssen auch in Zukunft immer alle15 bzw. alle 20 oder noch mehr EU-Mitgliedstaaten zu-stimmen. Es wird also nach wie vor ewig lange Eini-gungs- und Verhandlungsprozesse geben, bis man Ent-scheidungen treffen kann. In Zeiten, in denen sich dieWirtschaft immer schneller bewegt und bewegen muss,um im Wettbewerb zu bestehen, leisten Sie sich in der Po-litik Verhandlungsmethoden wie zu Zeiten des WienerKongresses. Dies sind Entscheidungsstrukturen, in denendas notwendige Tempo einfach nicht zustande kommenkann. Sie haben in Nizza versagt, weil Sie sich nicht fürStrukturen, die ein schnelleres Tempo ermöglichen, ein-gesetzt haben.
Ein anderes Kennzeichen der modernen Informations-technologien ist, dass sie einen enormen Wandel – man-che sprechen von einer Revolution – auslösen, der nichtnur die Wirtschaft, sondern auch die Gesellschaft, unserArbeitsleben und unser Zusammenleben betrifft. Wissenund Bildung werden zur entscheidenden Ressource. DasInternet ist gewissermaßen die Dampfmaschine des In-formationszeitalters.
Für die Politik heißt das, dass wir eine Gesamtstrategieund ein Gesamtkonzept brauchen, auf dessen Grundlagewir entscheiden können, wie mit diesen Prozessen umge-gangen und wie sie positiv gestaltet werden sollen.Natürlich enthält Ihr Antrag auch positive Punkte, de-nen wir zustimmen können. Natürlich ist die Daten-sicherheit wichtig. Wichtig ist auch ein stärkerer Wettbe-werb auf dem Softwaremarkt. Wichtig sind die Förderungvon Open-Source-Produkten und natürlich auch der ge-samte Bereich der Bildungspolitik.
Aber mir fehlt bei Ihnen, Herr Kollege, ein Gesamtkon-zept. In den entscheidenden Fragen sehe ich gerade bei Ih-nen, Herr Kollege, nur punktuellen Aktionismus.
Dieser Aktionismus spiegelt sich in Ihrem Antrag wider.Es gibt eine Fülle von kleinen, mittelmäßig ausgestattetenProjekten anstatt eines wirklich großen Wurfs. Die Bil-dungsministerin fordert einen Laptop für jeden Schüler,streicht aber gleichzeitig die Mittel für die Forschung.
– Das ist die Wahrheit, Herr Kollege. – Der Wirtschafts-minister redet davon, die PC-Dichte zu erhöhen, abergleichzeitig fordert die Justizministerin eine neue Abgabeauf Computer. Der Finanzminister denkt über eine zu-sätzliche Surfsteuer für das Internet nach. Die Belastun-gen für die Wirtschaft werden immer größer.
Auch in einem anderen Bereich gibt es noch Hand-lungsbedarf. Sie müssen – das muss ich Ihnen leider sa-gen – noch einmal an das Ladenschlussgesetz herange-hen. Es darf doch wirklich nicht wahr sein – das istsymptomatisch für Ihre Politik –, dass Sie im Zeitalter vonE-Commerce, in dem jeder von uns 24 Stunden, rund umdie Uhr, auf der ganzen Welt einkaufen kann, beim La-denschluss nichts ändern wollen.
Ich könnte wetten: Wenn die Bundesregierung das Inter-net erfunden hätte, dann gäbe es sicher ein Gesetz, dasE-Commerce nach 20 Uhr verbieten würde.
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Deshalb fordere ich Sie auf: Betreiben Sie endlich einemoderne Wirtschaftspolitik, die die Dynamik der Wirt-schaft befördert! Betreiben Sie eine moderne und dyna-mische Politik für mehr Beschäftigung auch im Informa-tionszeitalter in Deutschland!Vielen Dank.
Ich erteile der Kolle-
gin Grietje Bettin, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag,der heute Gegenstand der Debatte ist, unterstreicht diezentrale Bedeutung, die die Informations- und Kommuni-kationstechnologie als Wirtschaftsfaktor in Deutschlandinzwischen einnimmt.
Wir treten darin für die beschleunigte Einführung moder-ner Kommunikations- und Informationstechnologien ein.Die Politik muss die notwendigen Voraussetzungen füreine freie und gerechte Entwicklung der Informationsge-sellschaft schaffen.Für Tätigkeiten, bei denen der Arbeitsort eine nur nochgeringe Rolle spielt, verlieren nationale Grenzen, Re-gelungen und Institutionen an Einfluss. Ausschlaggebendfür die Qualität eines Wirtschaftsstandortes sind nicht län-ger die natürlichen Ressourcen oder die Verkehrsanbindun-gen, sondern die Informationsinfrastruktur, die Qualifika-tion der Arbeitskräfte sowie das Niveau der Forschungs-und Bildungslandschaft. Die Standortqualität wird alsodurch die Beschaffenheit und die Leistungen der Gesell-schaft bestimmt. In diesem Zusammenhang ist die Me-dienkompetenz der Gesellschaft eine ganz entscheidendeSchlüsselqualifikation.Die Bundesregierung hat die Zeichen der Zeit erkanntund hat die entscheidenden Weichen gestellt, um denWirtschaftsstandort Deutschland in der globalen Öko-nomie zu sichern und auszubauen. Durch Bereitstellungvon Risikokapital und die Schaffung von Kompetenzzen-tren zur Unterstützung von kleinen und mittleren Unter-nehmen wird der Mittelstand, der ein entscheidendesStandbein in der Internetwirtschaft ist, massiv gefördert.Die Unternehmen der Informations- und Kommunika-tionstechnologie sehen sich in schwierige Märkte einge-bettet. Sich immer schneller entwickelnde Innovationenlassen das Arbeitsumfeld ständig fluktuieren. Der so ge-nannte Neue Markt erlebt einen harten Konkurrenz-kampf, in dessen Unternehmen das traditionelle Tarif-system nur schwer aufrechtzuerhalten sein wird. Geradedeshalb ist es wichtig, auch hier Mitbestimmungsinstru-mente und neue Formen der Mitarbeiterbeteiligung – ichnenne nur das Stichwort „Aktienoptionen“ – zu etablie-ren. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang auch, dassdurch die sich schnell wandelnden Märkte von den Ar-beitnehmern eine hohe Bereitschaft zur Flexibilität vo-rausgesetzt wird. Lebenslanges Lernen wird untrennbarmit der Beschäftigung im Bereich der Neuen Märkte ver-bunden sein.
Vor diesem Hintergrund weist unser Antrag darauf hin,dass die Aktivitäten der Bundesregierung im Rahmen derUnternehmensinitiative D 21 und im Forum Informati-onsgesellschaft weiter intensiviert werden müssen.Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich die Aktivitä-ten der Bundesregierung in Bezug auf den elektronischenGeschäftsverkehr begrüßen. Die Einführung der digita-len Signatur wird weiter forciert. Sie wird zukünftig einwichtiger Baustein für die Modernisierung der Verwal-tung sein.Ebenso wichtig aber ist, dass die Bundesregierung dieEntwicklung kryptographischer Programme fördertund sich strikt gegen einschränkende Maßnahmen aus-spricht; denn es war noch nie so einfach wie heute, an per-sönliche Daten zu kommen. Das Internet ist eine riesigeglobale Datenbank, in der eine Vielzahl personenbezoge-ner Daten zur Verfügung steht. Informationen, die im In-ternet übertragen werden, sind alles andere als vertrau-lich. Unverschlüsselte Datenpakete, die über das Netzgeschickt werden, können theoretisch an jeder Übertra-gungsstelle gelesen, gespeichert, manipuliert oder unter-drückt werden.
Eine Verbreitung von Verschlüsselungsprogrammen auchund gerade im privaten Bereich leistet einen wichtigenBeitrag zum Schutz der Privatsphäre.Das Post- und Fernmeldegeheimnis wird durchArt. 10 GG geschützt. Dieser Artikel muss nach Meinungvon Bündnis 90/Die Grünen dringend zu einem allgemei-nen Kommunikations- und Mediennutzungsgeheimnisweiterentwickelt werden. Das Recht der Bürger auf in-formationelle Selbstbestimmung muss ebenso wie dasGrundrecht auf unbeobachtete Kommunikation auch imCyberspace gelten.
Rechtssicherheit und Anonymität im Netz dürfen sichnicht widersprechen.
Erfreulich ist aus unserer Sicht besonders, dass aufInitiative von Bündnis 90/Die Grünen in diesem Antragdas Thema „Open Source“ ausführlich behandelt wird.Insbesondere für den Wettbewerb auf dem Softwaremarktund bei der Etablierung verschiedener Betriebssystemehaben Open-Source-Produkte eine ganz besondere Be-deutung. Der Quellcode – quasi die Sprache, in der dasProgramm geschrieben wird – ist hierbei frei zugänglich.Somit können Betriebssystem und Software den jeweili-gen Bedürfnissen der Nutzerinnen und Nutzer besser
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Dr. Martina Krogmann14825
angepasst werden, auch und gerade in sicherheitsrelevan-ten Bereichen. Wir fordern die Bundesregierung daherauf, Open-Source-Programme in der Bundesverwaltungverstärkt einzusetzen.Mit diesem Antrag leisten wir einen wichtigen Beitragzur Durchsetzung von Open Source insgesamt. Nun giltes, den bisherigen Pilotprojekten weitere hinzuzufügenund eine breitere Öffentlichkeit mit dem Thema „OpenSource“ vertraut zu machen.
Nach dem „I love you“-Schreck hat nun viele der un-schöne Wurm mit dem schönen Namen einer Tennisspie-lerin erwischt. Wieder einmal wird uns vor Augen geführt,wie anfällig unsere Computer sind. Die fast ausschließli-che Verwendung eines Betriebssystems verstärkt dieseAnfälligkeit. Aus dem Bereich der Ökologie wissen wir:Monokulturen können große Schäden anrichten.
Das gilt leider auch für den Computersektor. Auf diesemGebiet sind Konkurrenz und Vielfalt gefragt, um Wettbe-werb und Sicherheit zu gewährleisten.Abschließend möchte ich noch auf die gesellschaftli-chen Auswirkungen des digitalen Strukturwandels einge-hen. Die rasante Entwicklung des Internets und die zu-nehmende Anzahl von Userinnen und Usern beeinflusstdie Ausrichtung unserer Gesellschaft nachhaltig. DieserStrukturwandel birgt aber nicht nur Chancen, sondernauch Risiken. Die Bundesregierung schafft mit dem Ak-tionsprogramm „Internet für alle“ und mit dem Projekt„Schulen ans Netz“ den Rahmen für mehr Informations-gerechtigkeit und Medienkompetenz.
Die Regierung darf sich jedoch nicht auf diesen Program-men ausruhen. Sie muss vorhandene Defizite, insbesonderein der technischen Betreuung und in den notwendigen Aus-bildungsmaßnahmen, schnellstmöglich beseitigen. Die In-formationsgesellschaft muss für alle da sein, nicht nur fürComputerfreaks, Besserverdienende und Akademiker.
Lesen, Rechnen und Schreiben werden im globalenDorf des 21. Jahrhunderts nicht mehr ausreichen, um sichin dieser Welt zu orientieren. Wer die Sprache des Com-puters nicht versteht und beherrscht, wird künftig zu dendigitalen Analphabeten gehören. Die Politik hat die Auf-gabe, die Basis zu schaffen, die einen Internetzugang füralle und die damit verbundene Vermittlung von Medien-kompetenz ermöglicht.Wir haben viele Versäumnisse der Vorgängerregierungbeseitigen können und den Anschluss an die digitale Weltwieder hergestellt.
Nun gilt es, diese Welt so zu gestalten, dass alle, egal obJung oder Alt, in ihr einen gemeinsamen Platz finden.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile dem Kolle-
gen Jörg Tauss, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen! Liebe Kollegen! Ich habe so eine schöne Rede vor-bereitet; aber jetzt muss ich auf die Opposition eingehen.
Herr Brüderle, zu Ihnen möchte ich nur wenige Sätzesagen: Wer wie Sie den Ausdruck „virtuell“ in unsereRichtung als Schimpfwort gebraucht, der zeigt, wie fernihm das Virtuelle und das Internet eigentlich sind.
Vielleicht hilft ein Blick in das Lexikon. Herr KollegeBrüderle, man bezeichnet es als „virtuelle Realität“, wennmittels Computern in eine simulierte Wirklichkeit, also ineine künstliche Welt, interaktiv eingedrungen wird. DassSie das alles nicht wissen, werfe ich Ihnen nicht vor. Al-lerdings: Nur wenn man Bescheid weiß, kann man sich inder virtuellen Welt situationsbezogen bewegen. Dass Siesich nicht bewegen können, haben Sie heute bewiesen.
Entlarvend war auch der Zwischenruf „Klassenkampf“von Herrn von Klaeden.Dabei geht es um ein ernstes Thema – das hat HerrRiesenhuber ja berechtigterweise angesprochen –, näm-lich um die Frage, wie in dieser Wissens- und Informati-onsgesellschaft, in der, wie wir annehmen, der Zugang zuWissen und Information, die Generierung von Wissen undletztlich deren Anwendung ein entscheidendes Zukunfts-feld ist, viele Menschen, die – aus welchen Gründen auchimmer – heute noch keinen Zugang haben,
einen solchen Zugang bekommen können. Wenn Sie die-ses zentrale Thema, das weltweit unter dem Begriff „Di-gital Divide“ diskutiert wird – die Diskussion nahm ihrenAusgang in den USA –, als Klassenkampf abtun, zeigtdas, wie weit Sie von den eigentlichen Kernfragen ent-fernt sind.
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Grietje Bettin14826
Herr von Klaeden, wenn der Zugang zu Informationenden Reichen, Schönen und Adligen vorbehalten werdensoll, dann werden wir die Zukunft eben nicht gewinnen,sondern verlieren. Unsere Aufgabe ist es, allen Zukunfts-chancen zu ermöglichen.
– Ihr Zuruf „Also doch wieder Klassenkampf!“ belegt:Sie begreifen es nicht. Aber das ist egal, machen Sie wei-ter so.Frau Kollegin Krogmann, ich habe mir Ihre Homepageangeschaut. Ich dachte, von der neuen Internetbeauf-tragten – ich gratuliere zu Ihrem Amt – würde ich we-nigstens einen einzigen Beitrag zum Internet finden. AufIhrer Homepage ist nichts dazu zu lesen. Ich empfehle Ih-nen an dieser Stelle: etwas weniger kesse Sprüche, etwasweniger beifallsheischende Sprüche in Richtung Ihrer ei-genen Fraktion, stattdessen konstruktive Beiträge. Disku-tieren Sie in zentralen Fragen, die das Internet angehen,mit, dann nehmen wir Sie ernst. Aber wenn Sie hier nurauswendig gelernte Textbausteine bringen, nehmen wirSie nicht ernst. Das tut mir Leid.
Im Übrigen sollten Sie bitte bei der Wahrheit bleiben: DieUnterstellung, die Bundesregierung wolle eine Surf-steuer erheben, ist schlicht unwahr. Dieser Unfug wurdevon Finanzbeamten erdacht, Finanzminister Eichel hatdiesen Unfug gestoppt. Das ist der eigentliche Sachver-halt, über den hier geredet werden müsste. Bringen Siebitte nichts Falsches unter die Leute.
Lieber Kollege Riesenhuber, ich schätze Sie sehr; IhreRede war interessant, auch wenn Sie vor Begeisterungimmer wieder nach rechts und links entwichen sind. IhreRede kam aber zehn Jahre zu spät. Es ist doch die jetzigeForschungsministerin, die in die USA geht und sichbemüht, die besten Köpfe, die während Ihrer Regierungs-zeit in die USA gegangen sind, zurückzuholen.
Es ist doch nicht so, dass wir sie jetzt vertreiben würden,nein, wir bemühen uns, diejenigen, die während Ihrer Re-gierungszeit in die USA gegangen sind, zurückzuholen.Auch Ihre Aussagen zu Stock Options – jetzt ist dergroße Steuerexperte Merz nicht da, er hat vorhin so be-geistert geklatscht – und Business Angels fallen unter dieRubrik Textbausteine; wenigstens gehen Ihnen diese Be-griffe heute flüssig über die Lippen. Ich hätte mir ge-wünscht, dass Ihre zuständigen Finanzpolitiker, die vomThema etwas verstehen, vielleicht auch einmal das ThemaGestaltungsspielräume – hier sind wir ja nicht weiter ge-kommen – mit den Ländern etwas anders diskutiert hät-ten. Ich hätte mir gewünscht, dass Herr Merz nicht nurüber das Halbeinkünfteverfahren gesprochen hätte. Aberoffensichtlich ist das das Einzige, wovon er etwas ver-standen hat.
Vielleicht meinte er auch nur, etwas davon zu verstehen,weil das Wort „halb“ in diesem Begriff vorkommt und ereinen Bezug zu Halbleiter herstellt. Nein, nicht ein einzi-ger Beitrag ist von Ihnen bei der Steuerreformdebatte zudiesem Thema gekommen. Aus diesem Grunde bitte ichSie aufzuhören, uns hier irgendetwas zu erzählen.Man könnte fragen, wie es mit Ihren Entwürfen zurDienstrechtsreform usw. aussah, aber ich will die verblei-bende Zeit jetzt nutzen, um ein wenig zu dem überzuge-hen, was wir tatsächlich tun. Kollege Heil hat vieles ange-sprochen – Rabatte und Zugaben sind nur ein ganz kleinesBeispiel. Wir hatten kürzlich auf einer Tagung, die unterder Regie von Herrn Wissmann organisiert wurde, eineRiesendebatte zu diesem Thema. Die jungen Unterneh-men haben dort tatsächlich gesagt, man müsse etwas tun.Was ist passiert? Heute Abend findet das zweite Treffendieses Kreises statt und tatsächlich, es ist etwas getan wor-den. Ich werde dort mit großer Begeisterung hingehen; ichdenke, Herr Wissmann wird uns sehr loben.
Nein, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir tunetwas, Sie haben nur geredet. Beispielhaft nenne ich denBereich Bildung. Ganz aktuell haben wir ein Berufs-schulprogramm auf den Weg gebracht, um endlich IT-Fachklassen einrichten zu können. Natürlich haben Siedurch die Einführung neuer Berufsbilder etwas auf derEbene der Sozialpartner getan, das bestreiten wir dochüberhaupt nicht. Aber das hat sich in den Berufsschulennicht widergespiegelt. Wir investieren jetzt eine viertelMilliarde DM, um die Berufsschulen mit IT-Technik aus-zustatten, damit die Auszubildenden in der Berufsschuleüberhaupt die entsprechenden Kenntnisse vermittelt be-kommen können.
Sie stehen da staunend daneben, genauso wie gegenüberder Tatsache, dass 60 000 neue Arbeitsplätze in diesemBereich geschaffen worden sind.Mit der heute zu beschließenden Novellierung des Ge-setzes zur digitalen Signatur, das wir gemeinsam mit Ih-nen auf den Weg gebracht haben und das jetzt verbessertwerden muss, weil es – das werfe ich Ihnen nicht vor; da-mals waren wir alle Suchende – noch nicht den Durch-bruch gebracht hat, den wir eigentlich damit ermöglichenwollten, schaffen wir weitere Voraussetzungen. Ichglaube, es wäre sinnvoll, wenn Sie sich bei der Umset-zung dieser Bausteine wenigstens ein wenig als Bauhelferbetätigen. Stimmen Sie diesem Gesetz heute zu und ste-hen Sie nicht abseits. Das gilt auch für die Umsetzung derEU-Richtlinien zum Datenschutz, zum E-Commerce
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Jörg Tauss14827
und zu all den anderen Punkten, die wir hier in den nächs-ten Wochen diskutieren werden.Lieber Kollege Riesenhuber, wenn ein 66-Jähriger –das soll kein Vorwurf sein; ich hoffe auch, dieses ver-diente Alter zu erreichen – im Zusammenhang mit unsvon alten Männern redet, ist das schon ein wenig merk-würdig.
Wenn Sie uns jetzt als neuer Nachwuchspolitiker zeigenwollen, wo es langgeht, dann erinnere ich jetzt doch ein-mal ein bisschen an den Altkanzler, der vorhin hier saß.Wissen Sie, was war, als wir nach dem Regierungswech-sel in das Kanzleramt gekommen sind? Da waren nichtnur die Akten geklaut. Wir haben keine Computer vorge-funden. Wir haben gedacht, auch die hätte Kohl mitge-nommen. Aber nein: Es gab überhaupt keine. Im Kanz-leramt gab es Rohrpost statt Computer. Das war Ihr Wegin die Informationsgesellschaft.
Angesichts Ihrer Rohrpostmentalität sage ich Ihnen:
Lassen Sie uns in Ruhe arbeiten. Stimmen Sie zu. LernenSie etwas zum Thema Internet. Mit der Arroganz, mit derSie heute aufgetreten sind, und zwar ohne jeden neuen Be-zug, werden Sie nicht die Zukunft gewinnen. Wir jedochwerden es tun. Das wird das Richtige für dieses Land sein.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Martin Mayer, CDU/CSU-Fraktion.
HerrPräsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Tausshat vorhin vom Digital Divide gesprochen. Ich muss fra-gen: Wo ist denn eigentlich der Einsatz der SPD für mehrWettbewerb im Internet, damit die Preise sinken undwir eine günstige Flat Rate bekommen, sodass auch die-jenigen Bürger in diesem Land, die weniger Geld haben,am Internet teilhaben können?
Ich will zunächst einige Sätze zum Signaturgesetz sa-gen, dem wir zustimmen werden,
weil es auf dem Signaturgesetz von 1997 aufbaut, das vonder vorigen Regierung vorgelegt und von der Koalitionverabschiedet worden ist
– vom Bundestag verabschiedet worden ist – und damalsweltweit Beachtung gefunden hat. Durch die Neufassungbleibt das alte Gesetz in seinen wesentlichen Grundlagenerhalten.Beim Vergleich mit dem alten Gesetz fällt allerdingszweierlei auf. Erstens. Seit der Verabschiedung des erstenGesetzes sind fast vier Jahre vergangen. Das heißt, vierJahre Unsicherheit für Betroffene; wertvolle Zeit gingverloren. Das hat natürlich auch mit Europa zu tun. Aberdie Informations- und Kommunikationsbranche ist eineBranche, bei der Zeit eine große Rolle spielt und bei derein vollständiger internationaler Wettbewerb herrscht.Angesichts dessen halte ich es schon für eine große Säu-migkeit, dass das nicht schneller ging. Wertvolle Zeitging verloren.
Diese schädliche Säumigkeit der Bundesregierung darfsich nicht wiederholen. Vor allem die Verordnung mussjetzt rasch vorgelegt werden.Ein Zweites fällt auf. Das Gesetz ist gegenüber der ur-sprünglichen Fassung deutlich komplizierter geworden.Es gibt jetzt vier Qualitätsstufen für Signaturen. Dasneue Gesetz enthält eine zusätzliche Regelung für dieHaftung. Das Bürgerliche Gesetzbuch hätte auch in die-sem Fall gereicht.
Ich sage an die Adresse der Koalition und der Regie-rungsbank: Die jungen Unternehmen der Netzwirtschaftwünschen sich einfache Regeln und nicht dicke neue Ge-setzbücher.
Dann noch etwas Wichtiges. Was nutzt das Signatur-gesetz, wenn es kaum passende Anwendungen gibt?
Im Zivilrecht hat die Bundesregierung jetzt einen Gesetz-entwurf vorgelegt. Aber warum hat sie ihn nicht ein vier-tel oder ein halbes Jahr früher vorgelegt, sodass wir ihnjetzt gleichzeitig mit dem Signaturgesetz verabschiedenkönnen?
In den USA ist bereits im Oktober des vergangenenJahres ein entsprechendes Gesetz in Kraft getreten.
Davon könnte sich die Bundesregierung eine Scheibe ab-schneiden.Noch schlimmer aber ist, dass Signaturen im öffentli-chen Bereich noch nicht angewendet werden können, weildie Bundesregierung den Gesetzentwurf mit den entspre-chenden Formvorschriften erst im Frühjahr dieses Jah-res vorlegen wird. Wie wir die Bundesregierung kennen,
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Jörg Tauss14828
heißt Frühjahr Ende des Frühjahrs. Das heißt, erst nachder Sommerpause wird der Gesetzentwurf vorgelegt wer-den.
Ich finde, es ist eine ganz schlimme Sache, dass die Bun-desregierung hier nicht handelt.
In einem Land, in dem die Steuererklärungen seitJahren millionenfach als Computerausdruck ohne Unter-schrift versandt werden, müsste es doch möglich sein, inder Kommunikation von Staat und Kommunen mitUnternehmen und Bürgern ein paar Massenanwendungenfür elektronische Signaturen zu finden.
Wenn das der Fall wäre, könnte man zwei Fliegen mit ei-ner Klappe schlagen: Man würde erstens für den Bürgerund für den Staat eine wesentliche Erleichterung schaffen.Zweitens würden diese Anwendungen der elektronischenSignatur zum Durchbruch verhelfen. Die Amerikaner sa-gen dazu – ich gebe zu, ich mag diesen Ausdruck nicht –„killer application“. Die Bundesregierung muss endlichhandeln, damit die Signatur in der Kommunikation vonBürgern und staatlichen Einrichtungen angewendet wer-den kann.
Herr Kollege Tauss, Sie haben sich in Ihrer Rede mitüberheblicher Kritik hervorgetan.
Ich will Ihnen zum Antrag der Koalition einiges insStammbuch schreiben.
Der Antrag enthält im Wesentlichen bekannte Papiereder Regierung, die aufgewärmt und beweihräuchert wer-den. Der Antrag rühmt die Wirkungen der vorbildlichenLiberalisierung des Telekommunikationsmarktes inDeutschland. Er verschweigt allerdings, dass diese Libe-ralisierung von der früheren Regierung durchgesetztwurde und dass im Bundesrat zwei Ministerpräsidentengegen die Liberalisierung gestimmt haben. Der eine heißtSchröder und der andere Eichel.
Diese Tatsache muss auch erwähnt werden.
Bemerkenswert ist eigentlich nicht, was in dem Antragenthalten ist, sondern was in ihm nicht enthalten ist. Wofindet sich denn in Ihrem Antrag die Forderung nach An-passung des öffentlichen Rechts an die Erfordernisseder elektronischen Kommunikation? Sie haben hinsicht-lich Open Source zwar gesagt, dass der Staat die Open-Source-Software fördern solle – in diesem Punkt stim-men wir Ihnen zu –,
aber trotzdem muss ich fragen: Was haben Sie denn hin-sichtlich des Schutzes der Open-Source-Bewegung vorPatenten aus den USA gesagt? Es gibt große Befürchtun-gen, dass durch eine extensive Erweiterung des Patent-schutzes die Open-Source-Bewegung sozusagen abge-würgt wird.
Kollege Mayer, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?
Ja.
Kollege Mayer,
ist Ihnen bekannt, dass die vom Europäischen Patentamt
vorgelegten Regelungen hinsichtlich der Patentierung
von Software, die bereits von der Konferenz in München
hätten verabschiedet werden sollen, von der Bundesregie-
rung in Person der Bundesjustizministerin gestoppt wur-
den und dass wir uns jetzt in einem umfangreichen
Beratungsprozess mit der Softwarebranche befinden, um
dieses Problem angemessen lösen zu können?
Die-ser Vorgang ist mir bekannt. Aber ich weiß, dass die Strei-chungen, die im europäischen Patentübereinkommen vor-gesehen waren, im Grunde keine rechtlichen Wirkungen,sondern allenfalls symbolische politische Wirkungen ge-habt hätten. Ich weiß auch, dass die Bundesregierung imDeutschen Bundestag zu diesem Thema noch nie Stellunggenommen hat.
Über dieses wichtige Thema sollte man schon reden.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch diefolgende Frage stellen: Wo ist denn eigentlich die Strate-gie der Bundesregierung, um das Ungleichgewicht inDeutschland – Amerikaner und Japaner können in Deutsch-land softwarebezogene Patente anmelden, aber Deutschegeraten ins Hintertreffen – zu überwinden?
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Dr. Martin Mayer
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– Nein, das dürfen Sie nicht. Sie dürfen nur eine Zwi-schenfrage stellen.Wo ist ein Konzept der Bundesregierung bezüglich desUrheberrechts? Das Urheberrecht gehört doch zu dentragenden Säulen der Informationsgesellschaft. Zu die-sem Recht haben Sie in Ihrem Antrag überhaupt nichts ge-sagt. Es gibt ein Professorengutachten, das aber keinenHinweis darauf gibt, dass Sie die Informationsgesell-schaft fördern wollen.Wo sind denn eigentlich die Ansätze für eine Strategie,um Unternehmen zu veranlassen, die Fernsehkabel aufdigitale Übertragung und den Internetzugang umzurü-sten?
Seit diese Bundesregierung an der Macht ist, ist hier fastStagnation eingetreten.
Es bewegt sich nichts. Da Sie die Länder ansprechen:Natürlich sind die Länder in gewisser Weise dafür zu-ständig. Aber wie die Rahmenbedingungen geschaffenwerden können, dass es für Unternehmen Anreize gibt, zuinvestieren, ist wohl eine Frage, die die Bundesregierungangeht.Ich habe jedenfalls von der Regierungsbank zu diesemThema nichts gehört. Ich meine, es ist eine Frage von na-tionaler Bedeutung, ob wir die Kabel auch für den Inter-netzugang öffnen.
Wo ist die Forderung nach einer vernünftigen steuerli-chen Regelung für Stock Options, also für die Mitarbei-terbeteiligung in diesen jungen Unternehmen? Auch dasist eine ganz zentrale Frage.Ich meine, mit diesen Themen sollten Sie sich ausei-nander setzen.
Dann können wir in der Internetwirtschaft in Deutschlandwirklich eine Spitzenstellung einnehmen, die notwendigist, damit in Deutschland alle am Internet teilnehmen kön-nen.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Christian Lange, SPD-Fraktion.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Siemich zunächst ein Wort des Dankes an Sie, Herr KollegeRiesenhuber, dafür loswerden, dass Sie unseren Antrag sowunderbar gelobt haben. Ich will Ihnen allerdings sagen:Sie verdanken diesen Innovationsschub nicht HubertusSchmoldt, sondern den Kollegen Hubertus Heil und JörgTauss, die selber das Internet anwenden; der KollegeTauss gehört sogar zu den Motoren und den Pionieren inder Politik, was das Internet anbelangt. Auch das gehörtzur Wahrheit.
Gestatten Sie mir auch noch eine Bemerkung an dieF.D.P. Herr Brüderle, ich war schon erschrocken darüber,wie Sie Deutschland und eine wachsende Ökonomie inDeutschland heruntergeredet haben. Ihre Rede hat dieNew Economy in Deutschland wirklich nicht verdient.
Die Tatsachen sehen auch völlig anders aus. Wachs-tum: plus rund 3 Prozent, Anteil am Bruttoinlandspro-dukt: 5,5 Prozent. Das sind die Fakten, Herr Brüderle.
Nehmen Sie sie zur Kenntnis. Das ist Real Economy. Daszeigt deutlich, wie weit Sie nicht nur von der New Eco-nomy, sondern auch von der tatsächlichen Wirtschaft inDeutschland entfernt sind.
Mit der D-21-Initiative wurde ein einmaliges Forumder Zusammenarbeit ins Leben gerufen, an dem Unter-nehmer, Institutionen und Politiker teilnehmen, um ge-meinsam den Wandel von der Industrie- zur Informati-onsgesellschaft zu moderieren und zu beschleunigen. DieBundesrepublik Deutschland verfügt über eine gute, inTeilbereichen sogar vorbildliche technische Telekommu-nikationsinfrastruktur. Der deutsche Markt für Infor-mations- und Telekommunikationstechnik ist 1999 von195 Milliarden DM um 9,6 Prozent auf 214 Milliar-den DM gewachsen. Das sind die genannten 5,5 Prozentdes Bruttoinlandsprodukts. In den nächsten Jahren wirdsogar mit einem zusätzlichen Wachstum gerechnet.Bereits in fünf Jahren soll die IT-Branche die 300-Mil-liarden-DM-Schwelle überspringen. Sie wird damit zumgrößten deutschen Wirtschaftszweig überhaupt. Das istein Grund zur Freude und nicht zum Herunterreden undKaputtreden.
Deshalb wollen wir allen Bürgerinnen und Bürgerngleichermaßen die Chance geben, an diesem Wirtschafts-aufschwung teilzuhaben. Der Aufbruch in dieses digitaleZeitalter bringt nämlich Veränderungen mit sich.Qualifikationsanforderungen, Arbeitsinhalte und die Ar-beitsorganisation müssen modifiziert und angepasst wer-den. Deshalb wollen wir die digitale Spaltung in unsererGesellschaft in „user“ und „loser“ vermeiden. Das istnicht nur eine soziale Frage, sondern auch eine Frage derZukunftsfähigkeit unserer traditionellen Wirtschaft, derso genannten Old Economy.
Alle Menschen sollen einen gleichberechtigten undfreien Zugang zu qualitativ hochwertigen Informationen
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Dr. Martin Mayer
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haben. Deshalb begrüßen wir auch ausdrücklich das10-Punkte-Programm der Bundesregierung „Internet füralle“, das bereits am 18. September 2000 vorgelegt wurde.Die Fortentwicklung der Rahmenbedingungen für elek-tronische Signaturen ist dabei nur eine von vielen na-tionalen und internationalen Maßnahmen der Bundesre-gierung zur Verbesserung der Sicherheit im Internet.Dies ist auch besonders wichtig, wenn man bedenkt, dassdie Internetnutzung in Deutschland in allen Bevölke-rungsgruppen und Bevölkerungsschichten in den letztenzwei Jahren drastisch zugenommen hat.Wie stark sie zugenommen hat, können Sie auch daranerkennen, dass in unserem Antrag noch die alte Zahl von34 Prozent enthalten ist, es heute aber bereits 40 Prozentder Deutschen sind, die das Internet nutzen. Auch das istein Grund zur Freude und macht deutlich, wie dynamischdieser Bereich ist. Deshalb verdient er es nicht, hier ka-puttgeredet zu werden.
Die Internetwirtschaft kann bis zum Jahre 2010 einenNettoeffekt von 750 000 Arbeitsplätzen auf dem deut-schen Arbeitsmarkt bewirken. Diese Chance unterstütztdie Bundesregierung mit ihren Maßnahmen.Ganz im Mittelpunkt stehen dabei die kleinen und mitt-leren Unternehmen. Das zeigt das Beispiel der GreenCard. Daran lässt sich deutlich machen, wie groß derIT-Fachkräfte-Mangel im Bereich der kleinen und mittle-ren Unternehmen geworden ist. 64 Prozent beträgt derAnteil der ausländischen Fachkräfte an den IT-Spezia-listen in den kleinen und mittleren Unternehmen Deutsch-lands. Dass dieser Mangel durch ausländische Fachkräfteausgeglichen werden kann, wird durch die Green Cardermöglicht. Das macht deutlich, wie überfällig die Initia-tive der Bundesregierung war und wie groß Ihre Ver-säumnisse in den letzten Jahren gewesen sind.
Bemerkenswert finde ich an dieser Stelle, dass Baden-Württemberg den dritthöchsten Anteil an ausländischenIT-Spezialisten, die die Green Card nutzen, aufweist, ob-wohl sich damals ausgerechnet der baden-württem-bergische Ministerpräsident vehement gegen die Ein-führung der Green Card ausgesprochen hat.
Das macht deutlich: Wären wir Teufel bzw. der CDU ge-folgt, wäre Deutschland der Verlierer gewesen. Deshalbkönnen wir die Initiativen der Bundesregierung nur be-grüßen.
Vergessen wird auch gerne, dass die Green Card zu-gleich eine Ausbildungskomponente beinhaltet.
Kollege Lange, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schwarz-
Schilling?
Nein, ich
möchte zum Schluss kommen.
Economy der CDU!)
Bereits bis Ende 2000 wurden in den neu geschaffenen
Multimediaberufen 40 000 Ausbildungsplätze geschaf-
fen. In 2001 werden es dann 60 000 sein. Das heißt, wir
verbinden die Green-Card-Initiative damit, eigene Nach-
wuchskräfte zu qualifizieren. Die Zahl, die der Kollege
Tauss in diesem Zusammenhang genannt hat, nämlich die
Tatsache, dass wir eine viertel Milliarde DM in die Infra-
struktur der Berufsschulen in Deutschland investieren,
macht deutlich, dass wir dafür sorgen, dass endlich auch
etwas im Bereich der gewerblichen und kaufmännischen
Berufe getan wird und Ihre Versäumnisse ausgeräumt
werden.
Durch die Bereitstellung von Risikokapital konnten
darüber hinaus viele junge Firmen aufgebaut werden und
konnte der sich parallel etablierende Neue Markt an Dy-
namik gewinnen. Mit der Steuerfreistellung von Beteili-
gungsveräußerungen haben wir ebenfalls der Belebung
des Risikokapitalmarktes wichtige Impulse verleihen
können. Der Bereich des E-Commerce – das ist die Ab-
wicklung von Geschäftsprozessen über das Internet – ver-
zeichnet ebenfalls Wachstumsraten von 100 Prozent pro
Jahr.
All dies macht deutlich, dass wir auf einem guten Weg
sind. Ich kann der Bundesregierung und dem Bundes-
wirtschaftsminister nur viel Erfolg dabei wünschen, wenn
sie diesen Weg weiterverfolgen.
Herzlichen Dank.
Das Wort zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Schwarz-
Schilling.
HerrPräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren derKoalition! Ich bin ohne jede Voreingenommenheit zu die-ser Debatte gekommen und muss nun feststellen, dass dieKoalitionsparteien tatsächlich der Meinung sind, dass sieuns von der Dynamik derTelekommunikation überzeu-gen müssten.
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Christian Lange
14831
Ich möchte einmal fragen: Ist Ihnen eigentlich klar, wel-che Position SPD und Grüne in den letzten 20 Jahren ver-treten haben, in denen wir die Telekommunikation mitaller Macht in diese Dynamik hineingebracht haben, da-mit wir den Anschluss auf internationaler Ebene nicht ver-hindern?
Wissen Sie, mit welchen Methoden, nämlich mit Angrif-fen unter die Gürtellinie – so muss ich fast sagen –, derMinister für Post und Telekommunikation in den letzten20 Jahren, beginnend 1982, an der Breitbandverkabelunggehindert werden sollte?
Wissen Sie, dass wir damals die gesamte Technologie desISDN und die ersten Glasfasernetze trotz Ihrer entspre-chenden Redebeiträge durchgesetzt haben?
Wissen Sie, dass wir als erstes Land dieser Welt – in einerZeit, in der Sie das Wort „digital“ noch nicht einmal buch-stabieren konnten –
den gesamten Mobilfunk in ein digitales System umge-wandelt und die Monopolisierung der Bundespost aufge-hoben haben? Dies alles ist gegen Ihren Widerstand ge-schehen.
Ich finde es ein bisschen tollkühn, wenn Sie jetzt mei-nen, Sie seien die Lehrmeister der Dynamik im Bereichder Telekommunikation. Ich muss Ihnen schon sagen: Vordem Hintergrund des von mir Dargestellten sollten Sie et-was bescheidener sein. Sie sollten wissen, dass all dieBahnen, auf denen Sie bzw. wir alle heute unsere Netzebetreiben können, und zwar Glasfaser, Mobilfunk, ISDNund damit auch das Internet, gegen Ihren Widerstand vonuns ausgebaut worden sind. Seien Sie also ein wenig be-scheidener bei der Erfolgsbilanz, die Sie hier ziehen wol-len!
Kollege Lange, Sie
haben Gelegenheit zur Antwort.
Herr Präsident!
Herr Kollege Schwarz-Schilling, ich stelle erstens fest,
dass es in Ihrer Fraktion einen interessanten Generatio-
nenschnitt gibt: Riesenhuber und Schwarz-Schilling wer-
fen den Blick zurück. Nur die Frage ist: Wer blickt ei-
gentlich nach vorn?
Das ist die Frage, die ich gestellt habe. – Nichts als blanke
Polemik!
Aber ich gestehe Ihnen zu: Das Internet haben weder
wir noch Sie erfunden. Insofern will ich die Brücke gerne
bauen. Aber es gehört auch zur Wahrheit, dass für die Li-
beralisierung des Telekommunikationsmarktes eine
Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag notwendig
war. Schauen Sie einmal nach, wer zugestimmt hat. – Dies
zum Thema, wer schuld ist und wer nicht schuld ist.
Zweite Bemerkung. Auch was die Universaldienst-
leister anbelangt, sind Fragen wie Breitbandigkeit und
Kupferdraht erwähnt worden. Manche haben Fehler ge-
macht, manche haben auch neue Erkenntnisse gewonnen.
Das wollen wir gerne eingestehen.
Für mich ist aber die Frage: Wer steht eigentlich bei Ihnen
für die Zukunft? Offensichtlich nur die Minister außer
Diensten, aber nicht die junge Generation in der CDU.
Ich schließe die Aus-sprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vor-lage auf Drucksache 14/5246 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damiteinverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Damit istdie Überweisung so beschlossen.Wir stimmen nun über den von der Bundesregierungeingebrachten Entwurf eines Gesetzes über Rahmenbe-dingungen für elektronische Signaturen und zur Ände-rung weiterer Vorschriften – Drucksachen 14/4662 und5324 – ab. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf inder Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? –Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit denStimmen von SPD, CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grü-nen bei Stimmenthaltung der PDS und Nichtabgabe derStimmen bei der F.D.P. angenommen.
– Ich habe genau hingeguckt. Sie konnten sich nicht ent-schließen. Jetzt gibt es für Sie ja noch eine Chance, näm-lich diedritte Beratungund Schlussabstimmung.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des
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Dr. Christian Schwarz-Schilling14832
Hauses bei Stimmenthaltung der PDS-Fraktion angenom-men.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag derFraktion der PDS mit dem Titel „E-Europe: die europä-ische Informationsgesellschaft sozial und demokratischgestalten“ auf Drucksache 14/4486. Der Ausschuss emp-fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3623 abzulehnen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istmit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen derPDS-Fraktion angenommen.Ich rufe die Punkte 4 a und 4 b der Tagesordnung auf:a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Thomae, Detlef Parr, Dr. Irmgard Schwaetzer, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.Abschaffung derArznei- und Heilmittelbudgets– Drucksachen 14/3299, 14/5319 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Wolf Bauerb) Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSUeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ab-schaffung der Budgets in der gesetzlichen Kran-kenversicherung
– Drucksache 14/5225 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für GesundheitNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache eineinhalb Stunden vorgesehen, wobei dieF.D.P. zwölf Minuten Redezeit erhalten soll. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem KollegenDieter Thomae, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Ihnen, Frau Ministerin,wünsche ich viel Glück und viel Freude. Ich denke, Siekönnen das wirklich brauchen.
Denn das deutsche Gesundheitswesen steckt in einerSackgasse.Missgunst, Misstrauen, Reglementierung und Budge-tierung prägen das deutsche Gesundheitswesen. Sie, FrauMinisterin, haben selber gesagt: Wir müssen wieder Ver-trauen schaffen. In der Tat: Grüne und Rote haben in derVergangenheit das Vertrauen der Patienten, aber auch alleranderen in diesem System massiv zerstört.
Dies ist ein ehrliches Eingeständnis der Ministerin, dennsie hat erkannt: Diese Gesundheitspolitik von Rot-Grünist gescheitert.
Wir stehen in der Tat vor einer entscheidenden Wegga-belung. Wenn wir nämlich mit diesen Instrumenten soweitermachen, wird der Dirigismus im Gesundheitswesenweiter zunehmen.
Die ideologischen Folterwerkzeuge von Rot-Grün wieArznei- und Heilmittelbudget, Budgetierung der ärztli-chen Leistungen und der zahnärztlichen Leistungen, diePositivliste, das Sachleistungssystem passen nicht in die-ses Gesundheitssystem, zumal unser Gesundheitswesenein großer Wachstumsmarkt sein könnte. Aber diese großeChance wird mit dieser Politik nicht genutzt.
Heute sprechen wir zunächst über unseren Antrag, alsoüber das Thema Budgetierung, und über den Gesetzent-wurf der CDU/CSU, also auch über Budgetierung im ärzt-lichen und zahnärztlichen Bereich. Die Ministerin hat inder vergangenen Woche gerade zur Thematik Arznei-und Heilmittelbudget verkündet, dass die Kollektivhaf-tung auf jeden Fall verschwinden muss. Eine gute Ent-scheidung! Denn Kollektivhaftung bedeutet Sippenhaftfür alle Ärzte. Dies kann keine vernünftige Politik sein.
Die Kollektivhaftung zeigt eine verachtende Grundhal-tung gegenüber allen Leistungserbringern, aber vor allemauch gegenüber den Patienten;
denn sie sind die von dem Arznei- und Heilmittelbudgetentscheidend Betroffenen.Es gibt mittlerweile viele Fälle, in denen chronischKranke nicht mehr vernünftig therapiert werden können,weil das Arznei- und Heilmittelbudget zu eng begrenzt ist,es also nicht zu einer modernen Therapie passt.Ich könnte Ihnen eine Reihe von Fällen aufzeigen, in de-nen Patienten massiv getroffen werden. BeispielsweiseSchlaganfallpatienten werden zwar sofort behandelt, aberanschließend gibt es nicht die notwendige Behandlung imRahmen der Logopädie. Ist das sinnvoll, Frau Ministerin?Daher ist es viel zu wenig, nur zu sagen, dass die Kollek-tivhaftung verschwinden muss. Übrigens würde Ihnen dasVerfassungsgericht bei einer solchen Entscheidung auchin die Parade fahren.
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Präsident Wolfgang Thierse14833
Nein, wir müssen das Arznei- und Heilmittelbudget ab-schaffen. Das muss hier auf den Weg gebracht werden.
Wir müssen nach den Vorschlägen der alten Koalition– wir haben das schon immer gesagt – vernünftige Richt-größen entwickeln, die die moderne Therapie und unter-schiedliche Arztgruppen berücksichtigen. Meine Damenund Herren von der Regierungskoalition, wenn Sie vongroßen Leitlinien sprechen, die in der Medizin eingeführtwerden sollen, dann glauben Sie bitte nicht, dass alles vielbilliger würde. Nehmen Sie nur einmal das Beispiel desDiabetes. Wenn man Ihre Vorstellungen über diese Leitli-nien umsetzen würde, würde die Behandlung in diesemBereich erheblich teurer werden. Sie dürfen also nicht Sa-chen versprechen, die Sie letztlich nie halten können. Dasist die Gefahr in Ihrer Gesundheitspolitik.
Meine Damen und Herren, aber nicht nur das Arznei-und Heilmittelbudget muss verschwinden, sondern dieBudgetierung in allen Bereichen.
Es ist völlig schizophren, zu glauben, dass die Budgetie-rung ein geeignetes Instrument sei. Schauen Sie sich dieSituation an! Budgetierung zerstört die Freiberuflichkeitin unserem Gesundheitswesen.
Das ist der entscheidende Knackpunkt. Schauen Sie in dieLänder, in denen mit solchen Instrumenten gearbeitetwurde! Wir kennen eine Reihe von Ländern, in denen mitden gleichen Instrumenten gearbeitet wird, wie Sie es ma-chen.
Dort ist die Freiberuflichkeit zerstört worden und das Ge-sundheitswesen ist erheblich teurer geworden, weil näm-lich die Leistungen in das Krankenhaus verlagert wurden.Meine Damen und Herren, weil die Zeit nicht reicht,will ich gar nicht von all den Problemen reden, die dieBudgetierung für die Freiberufler und die neuen Bundes-länder mit sich bringt. Sprechen Sie dort mit den Ärzten!Sprechen Sie darüber, wie der Tagesablauf aussieht undwie die Leistungen honoriert werden. Wir müssen zufesten Regelleistungsvolumina mit festen Preisen kom-men. Dazu gibt es keine Alternativen.
Ähnlich sehe ich die Situation in den Krankenhäu-sern. DRGs sind eine gute Vorstellung. Darüber kannman reden. Aber wenn die DRGs mit einem Budget prak-tiziert werden sollen, können Sie den ganzen Aufwandlassen. Es gibt nur eins: Wenn Sie das Gesundheitswesenfür wettbewerbliche Strukturen auch im Krankenhaus öff-nen wollen, dann müssen Sie DRGs einführen, aber dieBudgetierung beseitigen. Andere Alternativen gibt esnicht.
Wir haben gestern Vorabmeldungen bekommen undheute den „Stern“ lesen können. Wir waren natürlichüberrascht, dass der Bundeskanzler in eine Richtung mar-schiert, die wir schon seit vielen Jahren vorgeben.
Das sind Gedanken und Ideen, die wir seit Jahren vertre-ten haben und die von Ihnen massiv bekämpft wurden,
und zwar von Ihnen allen.
Es gibt natürlich auch in Ihren Reihen einige Kollegen,die die Köpfe etwas herausstrecken und neue Vorschlägemachen. Aber bisher wurden sie rasiert.
Jetzt aber stützt der Bundeskanzler diese Leute. Sie, FrauMinisterin, haben jetzt die große Chance, eine vernünftigeGesundheitspolitik auf den Weg zu bringen.Diese kann nur lauten: erstens vernünftige medizini-sche Versorgung, zweitens Definition von Kern- undWahlleistungen, drittens Zusatzmöglichkeiten bei Wahl-leistungen und viertens Erweiterung der Vertrags-gestaltungsmöglichkeiten. Darüber hinaus müssen Sieauch im ärztlichen Bereich mit festen Regelleistungsvo-lumina arbeiten, also zu einer festen Honorierung kom-men.Auch im Hinblick auf Europa gibt es keine Alternative.Sie müssen in Deutschland das Sachleistungssystem än-dern. Sie müssen zur Kostenerstattung kommen.Es gäbe noch viele Punkte, die ich ansprechen könnte.Leider reicht die Zeit nicht.
Die entscheidenden Punkte habe ich genannt. Frau Mi-nisterin, Sie haben eine Chance. Nutzen Sie sie!
Ich gebe dasWort der Bundesministerin für Gesundheit, der KolleginUlla Schmidt.
leginnen und Kollegen! Herr Thomae, es ist schlecht, ineine Debatte einzusteigen, wenn man davon ausgeht, dasses keine Alternativen gibt. Ich verstehe die heutige
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Dr. Dieter Thomae14834
Debatte so, dass wir beginnen, über Alternativen zu dis-kutieren und sie auszuloten. Ich will mir jetzt am Anfangersparen, auf die Historie der Budgets und auf die Frageeinzugehen, wann das Vertrauen in dieses Gesundheits-system zerstört worden ist. Das ist eine Geschichte, dieweiter zurückliegt.Ich setze mit der heutigen Debatte darauf, dass wir wie-der an eine Politik anknüpfen, die über Jahre hinweg ge-meinsam von allen Fraktionen dieses Bundestages davongeprägt wurde: Wir wollen ein Gesundheitssystem inDeutschland, das hohe Qualität bei bezahlbaren Preisenbietet.
Das ist das, was wir gemeinsam durchsetzen müssen.Wenn ich von Vertrauen spreche, bin ich mir darüberklar, dass Menschen, die krank sind oder befürchten,krank zu werden, zunächst einmal verunsichert sind undzu einem Arzt oder zur stationären Behandlung gehen. Siewissen nicht, was auf sie zukommt. Manchmal ahnen siees nur. Sicher hat sich jeder von Ihnen schon gefragt, auchwenn er nicht selber, sondern ein Angehöriger krank war:Wird denn auch wirklich alles Erdenkliche getan? Weil eseine so große Verunsicherung bei den Kranken und ihrenAngehörigen, die mit ihnen zusammenleben oder sie pfle-gen, gibt, brauchen die Menschen vor allem eins: Siebrauchen die Sicherheit,
dass ihnen ein Gesundheitssystem zur Verfügung steht,das ihre persönlichen Bedürfnisse berücksichtigt und dasauch in Zukunft leistungsfähig ist.
Wenn mich jemand fragt, wie ich mir denn ein solida-risches Gesundheitswesen in Deutschland vorstelle, dannist für mich eines klar: In einem solidarischen Gesund-heitswesen
darf niemand auf den Gedanken kommen: Wenn ich nurmehr Geld hätte, dann würde ich besser behandelt. Das isteine Maxime, von der wir ausgehen müssen.
Dabei gelten für uns in der Regierung und auch in derrot-grünen Koalition folgende Prinzipien: Die Qualitätder Leistungen muss gesichert, ständig angepasst und,wenn nötig, ausgebaut werden. Die solidarische Finan-zierung muss auch in Zukunft genauso erhalten werdenwie die wirtschaftliche Stabilität der gesetzlichen Kran-kenversicherungen, die die Versorgung in der Breite indiesem Land sicherstellen.
Das schließt Gedanken oder das Nachdenken über neueWege nicht aus, sondern – das sage ich ausdrücklich – esschließt diese Gedanken ein.
Wenn wir einmal von dem, was wir in Deutschlandvorfinden, ausgehen, dann haben wir im internationalenVergleich immer noch ein Defizit im Bereich der Präven-tion und der Gesundheitsförderung. Die Gesundheitspoli-tik der Regierungskoalition hat deshalb zu Recht seit Be-ginn der Legislaturperiode hier klare Akzente gesetzt undsie hat mit dem Gesundheitsreformgesetz 2000 struktu-relle Veränderungen zur Verbesserung der Qualität undder Leistungen des Gesundheitswesens auf den Weg ge-bracht. Es wäre besser gewesen, wenn wir dies damals imDialog gemeinsam gemacht hätten und der Bundesratnicht blockiert hätte.
Wir wollen diesen Weg fortsetzen.
Wir wollen auch in Zukunft das solidarisch finanzierteSystem der Krankenversicherung, in das Arbeitgeber,aber auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Beiträgeeinzahlen,
stärken und wir wollen es sichern.
Dabei ist uns klar – und müsste auch Ihnen klar sein –:Die Bereitschaft zu finanziellem Engagement wird es aufDauer nur dann geben, wenn die Versicherten voll undganz hinter dem System stehen. Dies tun sie umso über-zeugter, je genauer sie wissen, was mit ihrem Geld pas-siert, wenn sie wissen, dass wir verantwortungsvoll mitihrem Geld umgehen und dabei versuchen, hohe Leistun-gen zu sichern.
Mancher hat sich ja schon gewundert, warum ich nachvier Wochen im Amt immer noch lache,
Es ist natürlich klar: Auch ich erlebe das Gesundheitswe-sen als ein Politikfeld, das stark oder überwiegend vonEinzelinteressen geprägt ist. Aber es liegt vielleicht inmeiner Natur.
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Bundesministerin Ulla Schmidt14835
Wenn wir eine neue Qualität erreichen wollen, dann brau-chen wir auch gegenseitiges Verständnis für die Positio-nen der verschiedenen Beteiligten im Gesundheitswesenund eine gemeinsame Verpflichtung auf konkrete Pro-jekte, die wir umsetzen wollen.Deshalb setze ich auf die Zusammenarbeit; ich setzeauf eine neue Kultur des Dialogs aller im Gesundheits-wesen Beteiligten. Aber ich setze auch auf eine gemein-same Arbeit aller hier im Parlament vertretenen Fraktio-nen, weil ich glaube, dass das der einzige Weg ist, umwirklich zu gemeinsamen Lösungen und zu einer Verbes-serung im Gesundheitswesen zu kommen. Ich sage ganzklar: Unter Dialog verstehe ich nicht den Austausch alt-bekannter Positionen, sondern eine ernsthafte Diskussionum Schwerpunkte, um gemeinsame Strategien, um Zieleund um Instrumente.Ich bin überzeugt davon, dass sich zielkonformes Han-deln eher durch positive Anreize als durch Sanktionen er-reichen lässt. Vielleicht ist diese Überzeugung meinerTätigkeit als Sonderpädagogin geschuldet. Positive An-reize motivieren, setzen Ressourcen frei und steigern dieQualität. Sanktionen dagegen können immer nur das al-lerletzte Mittel sein, wenn nichts mehr geht. In diesemSinne, Herr Kollege Thomae, waren und sind für dieseBundesregierung und für die Koalitionsfraktionen sekto-rale Budgets nur Übergangslösungen,
die durch neue, positiv steuernde Instrumente ersetzt wer-den müssen. Davon bin ich überzeugt.
Allerdings – damit nicht wieder so viele Erwartungengeweckt werden, die nicht erfüllt werden können – mussbei der Einführung neuer Instrumente eines sichergestelltwerden: Reformen dürfen nicht nur darin bestehen, immermehr Geld ins System zu stecken, indem die Beiträge er-höht werden. Es muss vielmehr sichergestellt werden,dass mit dem Geld der Versicherten verantwortungsbe-wusst umgegangen wird.
– Ich spreche von dem solidarisch finanzierten Gesund-heitssystem.Jetzt komme ich zu dem Punkt, den auch der KollegeThomae angesprochen hat. Ich bin davon überzeugt, dasvor allen Dingen bei der Kollektivhaftung bezüglich desArzneimittelbudgets negative Wirkungen und fehlendesZielerreichen auf der Hand liegen. Ich kann lebhaft nach-vollziehen, dass eine drohende Mithaftung von Ärztinnenund Ärzten, die selber entweder gar keine oder wirtschaft-lich verantwortungsbewusst Arzneimittel verschreiben,kaum zu vermitteln ist. Ich habe Verständnis für negativepsychologische Wirkungen, bei denen sich Ärztinnen undÄrzte stets fremdbestimmt fühlen und sich fragen: Warumeigentlich muss ich für die Kolleginnen und Kollegen ge-radestehen, die nicht wirtschaftlich und sparsam verord-nen?
– Die Kollektivhaftung war keine Erfindung dieser Re-gierungskoalition. Ich bin nun schon länger im Parlamentund weiß, dass es eine Erfindung meines sehr geschätztenKollegen Seehofer, also einer meiner Vorgänger, war.
– Er hat leider keine Mehrheit mehr.Ich habe in den letzten Tagen den Eindruck gewonnen,dass verantwortlich denkende Leistungserbringer im Ge-sundheitswesen für neue Wege offen sind. Ich treffe aufviele, die bereit sind, neben der therapeutischen Verant-wortung auch die Verantwortung für die finanzielle Seitedes Gesundheitssystems zu übernehmen. Wenn wir ehr-lich sind, müssen wir sagen: Es geht auch nicht anders, alsdass wir uns gemeinsam in die Pflicht nehmen. Bei derSchlüsselstellung, die die Ärztinnen und Ärzte in unseremGesundheitssystem haben, können wir sie aus der Fi-nanzverantwortung nicht entlassen.Ich bin zusammen mit der Regierungskoalition bereit,die Ärzteschaft beim Wort zu nehmen und ihnen dieChance zu verantwortlichem Handeln zu eröffnen.
Dabei bin ich offen für jede neue Idee, für alle Vorschlägeund Konzepte, die einer Prüfung standhalten.
Herr Kollege Thomae, ich bin Gesundheitsministerinund nicht die Chefredakteurin des „Stern“.
Deshalb muss ich an dieser Stelle einmal sagen: Nicht alleVorschläge, die zurzeit publiziert werden, halten einerÜberprüfung stand. Ich kann nur denjenigen in der schrei-benden Zunft, die nicht müde werden, immer wieder neueVorschläge zur Belastung ausschließlich der Patienten zuentwickeln, sagen:
Seien Sie vorsichtig! Auch Sie könnten in diesem Landeinmal Patient werden!
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Bundesministerin Ulla Schmidt14836
– Nein, aus dem Kanzleramt kommt nur der Sonnen-schein, von dort kommen keine Nebelkerzen. Das wissenSie doch.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nur wenn man bereitist, aus den Fehlern der vergangenen Jahre zu lernen, wirdman in der Lage sein, die großen Kapazitäten und dieüberragenden Kompetenzen des deutschen Gesundheits-wesens zusammenzuführen. Niemand von uns sollteAngst davor haben, dabei klüger zu werden. Ich jedenfallshabe diese Angst nicht. Dabei geht es nicht nur um Ein-zelmaßnahmen, sondern wir brauchen ein Gesamtkon-zept.Zu Ihren Initiativen muss ich sagen: Der vorliegendeGesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion und der Antragder F.D.P. beschäftigen sich leider nur mit bestimmtenAusschnitten der Arzneimittelversorgung
und der Honorarsituation der Ärztinnen und Ärzte. LiebeKolleginnen und Kollegen von der Opposition, wer Sank-tionen – vielleicht zu Recht – aufheben will, weil ihreWirkungen verpufft sind, muss klare Alternativen anbie-ten.
Daran werden wir arbeiten. Ich lade Sie ein, das mit unsgemeinsam zu tun.
– Ich habe ihn gelesen, im Lesen war ich immer gut.
– Hören Sie mir jetzt zu! Dann erfahren Sie, worüber wirreden können.Für mich muss ein tragfähiger Lösungsansatz Folgen-des voraussetzen: Erstens. Wir brauchen eine differen-zierte Betrachtung der einzelnen ärztlichen Fachrichtun-gen ebenso wie eine differenzierte Beurteilung derNotwendigkeiten und Besonderheiten bei der Pharmako-therapie, und zwar wirklich bezogen auf die einzelnenMorbiditätsindikatoren in jeder Praxis und orientiert andem, was therapeutisch notwendig ist.
Zweitens. Wir brauchen qualitätsgesicherte Systemefür die Leistungserbringung und die Arzneimittelverord-nung, wenn die Wirtschaftlichkeit sichergestellt sein soll.
– Das wird zusammen mit den Ärzten ausgearbeitet.Darin sind diese weiter als Sie, Herr Kollege Parr.Drittens. Nur ein Transparenz garantierendes Systemfür die Ärztinnen und Ärzte, die Kassenärztlichen Verei-nigungen in den einzelnen Versorgungsgebieten, aberauch für die gesetzlichen Krankenkassen gewährleistet,dass regulierend, unterstützend und steuernd eingegriffenwerden kann.Viertens. Wir brauchen klar definierte Verantwortun-gen auf der Basis der einzelnen Praxen, differenziert nachFachrichtungen.Fünftens. Wir brauchen die Sicherstellung der Gesamt-verantwortung der Kassenärztlichen Vereinigungen inihren Versorgungsregionen.Sechstens. Kassenärztliche Vereinigungen und Kran-kenversicherungen müssen gleichermaßen Information,Beratung und Unterstützung der Ärztinnen und Ärzte ge-währleisten.Siebtens. Wir müssen unmissverständliche Schwellen-werte definieren, bei denen eingegriffen werden muss:durch Beratung, durch Mahnung und durch Formen derIntervention – das müssen wir erarbeiten –, die einen Aus-gleichsmechanismus auf der Zeitachse vorsehen.
– Das haben Sie heute leider nicht eingebracht.Achtens. Am Ende steht die Eigenverantwortung derÄrztinnen und Ärzte, aus der wir sie nicht entlassen kön-nen. Das kann die Politik nicht gewährleisten.
In einem Punkt haben Sie Recht, Herr KollegeThomae: Es geht nicht um Einzelinstrumente. Bei einemOrchester wäre es sehr schlecht, wenn man sich auf ein-zelne Instrumente konzentrierte. Es funktioniert nurdann, wenn alle Einzelinstrumente verbunden werden,um zu einer stimmigen Melodie zu gelangen.
Für das, was wir noch leisten müssen, brauchen wirzwei Dinge: Erstens. Wir brauchen kurzfristig greifendeMaßnahmen. Zweitens. Wir brauchen eine Diskussionüber die notwendigen langfristigen Veränderungen desGesundheitssystems in Deutschland.Ich nenne Ihnen jetzt meine wichtigsten Projekte fürdieses Jahr. Wir werden die Festbetragsregelung im Arz-neimittelbereich auf eine rechtlich sichere Grundlage stel-len.
Wir können auch in Zukunft – das sage auch ich ange-sichts dessen, worüber wir diskutieren – nicht auf die Aus-schöpfung von Reserven bei der Arzneimittelversorgungverzichten. Entsprechende Regelungen finden sich übri-gens in allen europäischen Ländern. Wir prüfen, inwie-weit Festbetragsregelungen im Einzelnen notwendig sindoder ob sie durch Alternativen abgelöst werdenkönnen. Wir planen zunächst eine Übergangslösung, die
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Bundesministerin Ulla Schmidt14837
kurzfristig umgesetzt werden kann. Zur konkreten Ausge-staltung werden noch heute die ersten Gespräche mitMitgliedern der Fraktionen des Deutschen Bundestages,mit den gesetzlichen Krankenkassen und den Vertreternder pharmazeutischen Industrie geführt werden.Mein Haus wird eine Alternative zum Kollektivre-gress beim Arzneimittelbudget entwickeln, da der Kol-lektivregress nicht wirksam geworden ist. Es ist vielleichtmeinem viel beschriebenen Pragmatismus zu schulden:Ich bin der Meinung, von unwirksamen Instrumentensollte man Abschied nehmen, besonders wenn sie unpro-duktive Diskussionen auslösen. Außerdem gilt: Im Be-reich der Arzneimittel steht auch die Positivliste unterdem Stichwort von Transparenz und Wirtschaftlichkeitauf der Agenda. Wir werden nach Lösungen suchen, umhier weiterzukommen.
Ein nächster wichtiger Bereich: Die Einführung wett-bewerblicher Instrumente in der Versorgung war und istder richtige Weg. Unser Ziel ist es, den Leistungswettbe-werb der Krankenkassen zu fördern. Aber Wettbewerbbedeutet einen Wettbewerb um die bessere Behandlungvon Kranken. Er bedeutet keine Konkurrenz der Kassenum Gesunde.
Das stellt die Versorgungskassen langfristig infrage.Deshalb müssen wir den Risikostrukturausgleichreformieren. Wie Sie wissen, hat das Bundesge-sundheitsministerium zu dieser Frage ein Gutachten inAuftrag gegeben, dessen endgültiger Bericht uns in die-sen Tagen vorgelegt wird. Wir werden dieses Gutachten,aber auch andere Konzepte, die mittlerweile entwickeltwurden, sorgfältig und umgehend auswerten. Danachwerde ich dem Parlament und den Beteiligten einen Wegvorschlagen, wie der Risikostrukturausgleich vor demHintergrund der bisher gesammelten Erfahrungen und zurVerhinderung von Fehlanreizen weiterentwickelt werdenkann. Wir müssen – darauf kommt es mir an – einen Aus-gleich für die strukturellen Faktoren schaffen, die von deneinzelnen Kassen nicht zu verantworten sind. Wir wollenjedoch nicht den Wettbewerb zwischen den Kasseneinschränken.Einen weiteren wichtigen Schritt hin zu mehr Vertei-lungsgerechtigkeit bei den Arzthonoraren in Ost und Westbildet ein Vorschlag der Koalitionsfraktionen für eine ge-setzliche Regelung beim Fremdkassenausgleich, der mitmeinem Hause abgestimmt wurde. Es kann nicht sein,dass die von Arbeitgebern und den Beschäftigten in ihrenArbeits- und Wohnorten eingezahlten Beiträge am Sitz ei-ner Betriebskrankenkasse verbleiben. Die Mittel müssendorthin fließen, wo die Menschen zu ihren Ärztinnen undÄrzten gehen.
Das Geld hat der Leistung zu folgen und ich glaube, dassdas Wohnortprinzip hierfür ein richtiger Ansatz ist.Herr Kollege Thomae, auch im Krankenhausbereichstehen Veränderungen an. Wir können nicht immer so tun,als könne man alles verändern, ohne an die Wirtschaft-lichkeitsreserven in den einzelnen Bereichen des Gesund-heitswesens heranzugehen. Deshalb steht die Umsetzungeines neuen Entgeltsystems auf der Tagesordnung. Mitder Einführung der diagnosebezogenen Fallpauschalenschaffen wir positive Anreize. Es darf nicht länger um dieErstattung von Kosten, sondern es muss im Gesundheits-wesen insgesamt um die Bezahlung von Leistungen ge-hen.
Unser Ziel dabei ist mehr Leistungsgerechtigkeit, verbun-den mit höherer Qualität. Viele Krankenhäuser leistendies bereits und das ist nicht nur aus wirtschaftlichen Ge-sichtspunkten erstrebenswert.Ich weiß, dass wir einen ehrgeizigen Zeitplan haben. Erstellt an die Selbstverwaltung hohe Anforderungen. Essind aber schon wichtige Entscheidungen gefallen, sodassich optimistisch bin, den Zeitplan einhalten zu können.Ich kann Sie alle nur darum bitten, daran mitzuwirken, so-dass wir den Zeitplan einhalten können. Alles, wodurchuns Zeit verloren geht, verhindert, dass wir zu vernünfti-gen Lösungen – auch in anderen Bereichen – kommen.
Wir brauchen – auch das werden wir auf den Weg brin-gen – Daten, die in einer Weise erfasst und verarbeitetwerden, dass sie für Steuerungszwecke im Gesundheits-wesen geeignet sind. Die Daten müssen für alle hilfreichsein, sodass wir die Pläne, die wir eben angesprochen ha-ben – so wie es auch von Ihnen angemahnt wird –, um-setzen können.Ich glaube, die von mir geschilderten Maßnahmen sindnur ein Ausschnitt von all dem, was wir im Moment ma-chen können. Es sind aber wichtige Schritte hin zu einemGesundheitswesen, dem die Menschen auch in Zukunftvertrauen können. Ich setze dabei auf einen ernsthaftenund konzentrierten Dialog aller Beteiligten am rundenTisch. Ihre Vorschläge, meine Damen und Herren vonCDU/CSU und F.D.P., darf ich sicherlich als Beitrag zudieser Debatte sehen.Ich wünsche mir, dass es uns gelingen wird, im Ge-sundheitswesen und der Debatte dazu wieder zu demzurückzukehren, was jahrelang – wenn auch im vorigenJahrhundert; denn wir befinden uns jetzt an der Schwellezu einem neuen – in diesem Hause Tradition war: dass diewichtigen, elementaren Interessen von Menschen in ei-nem breiten gesellschaftlichen und parlamentarischenKonsens Berücksichtigung finden. Das ist gut für unserGesundheitswesen. Ich biete Ihnen diesen Dialog an undmöchte ihn gemeinsam mit Ihnen führen. Sie sollten ihnzusammen mit uns führen, damit es uns gelingt, die Ge-sundheit der Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunktder Politik zu stellen. Ich setze dabei auf positive Anreizeund die überzeugende Kraft der Vernunft, die ich von Ih-nen ja gewohnt bin,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Bundesministerin Ulla Schmidt14838
wenn es gilt, mehr Qualität und Wirtschaftlichkeit zu rea-lisieren.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Regierungskoali-tion und die Bundesregierung stehen für eine Ge-sundheitspolitik, in der nicht partielle Interessen Zielrich-tung und Marschgeschwindigkeit angeben, sondern in derallein das Wohl der Patientinnen und Patienten Maßstabder Entscheidungen ist. Auch im Gesundheitswesen wirddie Solidarität erst durch die eigene Verantwortung er-bracht und die eigene Leistungsfähigkeit erst durch dieSolidarität aller ermöglicht.Ich lade Sie alle herzlich zu einem gemeinsamen Auf-bruch ein. Die Menschen in unserem Lande wollen eineGesundheitspolitik, der sie vertrauen können und der siesich vor allen Dingen anvertrauen können. Machen Siemit! Wir sind dazu bereit und ich freue mich auf die wei-teren Debatten mit Ihnen.Vielen Dank.
Das Wort
hat nun der Kollege Horst Seehofer für die Fraktion der
CDU/CSU.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Frau Schmidt, auchich möchte Ihnen zu Ihrer Ernennung zur Bundesministe-rin für Gesundheit gratulieren. Ich kann Ihnen aus eigenerErfahrung sagen, dass Ihnen ein sehr schöner, unterhalt-samer Lebensabschnitt bevorsteht.
Wir wünschen Ihnen dabei so viel Erfolg, dass wir uns alsOpposition nicht darüber ärgern müssen. Sie werden vielMut und Geschicklichkeit benötigen, um dieses Amt aus-zuüben.Sie haben gerade viele Süßigkeiten verteilt. Gleich-wohl: Als ich so manches Interview mit Ihnen aus denletzten Tagen und Wochen nachgelesen habe, habe ichfestgestellt, dass Sie sich offensichtlich des Ernstes derLage durchaus bewusst sind. Allerdings können wir dieletzten zwei Jahre in der deutschen Gesundheitspolitiknicht so ganz vergessen.
Liebe Frau Schmidt, Sie sind im Grunde genommen ineiner Zwickmühle. Ihre Vorgängerin, Frau Fischer,musste auf Druck Ihrer Fraktion, der Fraktion der SPD,die Budgetierung durchsetzen.
Derjenige, der diesen Druck ausgeübt hatte, ist heute Bot-schafter. Er wusste, was kommt, und hat sich deshalbrechtzeitig aus dem Gesundheitswesen verabschiedet.
Der Treppenwitz der Geschichte ist – wenn man dem, wasSie in den Interviews gesagt haben, glauben darf –, dassSie jetzt die Budgetierung gegen den Widerstand der Grü-nen wieder abschaffen wollen.
An einer Tatsache kommen Sie von der Regierungskoali-tion nicht vorbei, nämlich dass das deutsche Gesund-heitswesen durch Ihre Regulierungswut in den letztenzwei Jahren in eine Krise manövriert wurde.
Wer sich ein bisschen im Gesundheitswesen auskennt,kommt an der Tatsache nicht vorbei, dass sich die Ver-sorgung kranker Menschen zunehmend verschlechterthat,
kommt an der Erkenntnis nicht vorbei, dass die Finanzie-rung aus dem Ruder läuft – wir werden das in diesem undim nächsten Jahr merken – und dass die Deutschen, diemit ihrem Gesundheitswesen einstmals in der Spitzenpo-sition waren, auf dem besten Weg hin zum Mittelmaßsind.
Dieser Befund, den auch Sie offensichtlich gestellt ha-ben, ist nicht so sehr und in erster Linie auf externe Fak-toren zurückzuführen; vielmehr ist er zuallererst auf einevöllig falsche Gesundheitspolitik in den letzten zwei Jah-ren zurückzuführen. Die Gesundheitspolitik von Rot-Grün hat die Probleme nicht gelöst, sondern die Problemeim deutschen Gesundheitswesen erst geschaffen. Das istdie Wahrheit.
Deshalb tragen Sie für diesen Befund auch die Verant-wortung.
Das lässt sich besonders am Beispiel des Arzneimittel-budgets deutlich machen, obwohl das auf alle anderenSektoren des deutschen Gesundheitswesens spiegelbild-lich übertragen werden kann. Ich bestreite ja gar nicht,Frau Schmidt, dass ein Budget für eine begrenzte Zeit ein-mal Helfer in der Not sein kann. Ich bin übrigens immerdankbar, wenn man uns das Patent für alles Mögliche zu-misst. Aber zur ganzen Wahrheit gehört, dass wir die Bud-getierung in Lahnstein 1992 gemeinsam vereinbart haben,
und zwar unter der Prämisse – ich habe das nachgelesen;es steht auch in der Begründung unseres Gesetzent-wurfs –, dass Budgets für begrenzte Zeit Hilfe in der Notsind. Wir haben dann die Budgets in unserer Regierungs-zeit gegen Ihren erbitterten Widerstand wieder abge-schafft, Herr Kirschner.
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Bundesministerin Ulla Schmidt14839
Jetzt müssen wir feststellen, dass Sie mit den Budgets,deren Einführung Sie in Ihr Wahlprogramm hineinge-schrieben haben und die Sie zwei Jahre lang als großen so-zialen Fortschritt gefeiert haben, eine grandiose Bruch-landung gemacht haben. Das, was Sie in den letzten Tagengerade über die Budgets im Arzneimittelbereich gesagthaben, gleicht einem gesundheitspolitischen Offen-barungseid.
Mit einem Budget – ich erkläre das, damit es auch jederversteht – werden zwei Ziele verfolgt: Auf der einen Seitesoll es Wirtschaftlichkeit garantieren und dafür sorgen,dass nur das medizinisch Notwendige verordnet wird. Aufder anderen Seite soll es den kranken Menschen auch eineumfassende, qualitativ hochwertige Versorgung garan-tieren.Heute muss man aber feststellen, dass bei Ihrer Dauer-budgetierung beide Ziele – ich betone: beide – verfehltworden sind.
Betrachtet man die belastbaren Zahlen, so stellt man fest,dass die Ausgaben im Arzneimittelbereich zwischen1998 und 1999, also im ersten Jahr Ihrer Regierungsver-antwortung, trotz Budgetierung von 34,7 Milliarden DMauf 37,6 Milliarden DM, also um fast 3 Milliarden DM,gestiegen sind. Die Zahlen für das Jahr 2000 liegen nochnicht vor. Das Ziel, die Ausgaben im Gesundheitsbereichzu begrenzen, ist glatt verfehlt worden. Sie sagen nun, denRegress, der jetzt fällig wäre, würden Sie nicht vollziehen.Dazu kann ich Ihnen nur gratulieren und ich werde dazunoch etwas sagen.Durch das Budget ist es zu der verhängnisvollen Ent-wicklung gekommen, dass man zum einen die Ausgaben-explosion im Arzneimittelbereich nicht in den Griff be-kommen hat und dass es gleichzeitig eine nachweislicheVerschlechterung bei der Versorgung kranker und älte-rer Menschen gibt.
Reden Sie einmal mit den Selbsthilfegruppen zu denKrankheiten Krebs, Multiple Sklerose, Rheuma und an-dere! Dort werden Sie erschütternde Beispiele hören.10 bis 20 Prozent der chronisch kranken und der älterenMenschen erhalten – Frau Schmidt, das wissen Sie – we-gen der Budgetierung nicht mehr die Versorgung mit not-wendigen Medikamenten. Das ist die Realität im deut-schen Gesundheitswesen.
Das ist eine unwürdige und beschämende Situation:Die kranken und älteren Menschen sind zu Bittstellern ge-worden. Sie müssen Ärzte suchen, die bereit sind, sieüberhaupt zu behandeln. Wenn sie einen solchen Arzt ge-funden haben, dann bekommen sie die Auskunft, dass erwegen des Budgets die notwendigen Arzneimittel nichtverordnen könne.
Ich sage es noch einmal: Das ist die Realität im deut-schen Gesundheitswesen zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
Das ist die Folge der Dauerbudgetierung. Es ist be-schämend!
Wir haben im Moment eine Mehrklassenmedizin.Wer von der Sozialhilfe lebt, der bekommt eine umfas-sende gesundheitliche Versorgung auf dem besten Ni-veau.
Wer 40 Jahre Beiträge in die gesetzliche Krankenversi-cherung eingezahlt hat, bei dem wird gespart, weil er un-ter das Diktat des Budgets fällt.
Ich gönne dem Sozialhilfeempfänger die Versorgung aufdem höchsten medizinischen Niveau. Das soll auch sobleiben. Aber wir müssen schleunigst abschaffen, dass je-mand, der Solidarbeiträge in die Krankenversicherungzahlt, eine nur noch mittelmäßige gesundheitliche Versor-gung bekommt.
Ich weiß, welches Argument Sie als nächstes bringen:die Selbstbeteiligung.Das Budget wird gegen die Selbst-beteiligung ausgespielt. Das Budget führt im Gegensatzzur Selbstbeteiligung voll und ganz zur Leistungsaus-grenzung bei kranken Menschen. Deshalb wiederhole ich,was wir vor zwei Jahren prognostiziert haben: Das Bud-get ist die unsozialste Form der Selbstbeteiligung, die mansich vorstellen kann.
Das Budget nimmt keinerlei Rücksicht auf soziale Härte-fälle oder darauf, ob man Kinder erzieht, wie krank manist und welches Einkommen man hat. Das Budget schlägtnach der Fallbeilmethode zu: Wer im November krankwird, bekommt unter bestimmten Voraussetzungen keinemedizinische Versorgung mehr. Deshalb, Frau Schmidt:Die Budgets müssen weg. Es gibt keine andere Möglich-keit. Dabei haben Sie unsere vollste Unterstützung.
Die Budgetierung führt auch zur Demotivation allerBeteiligten im Gesundheitswesen, insbesondere der Ärz-tinnen und Ärzte. Der Kollektivregress führt zu der abs-trusen Folge, dass ein Mediziner, der beispielsweise inHof tätig ist, der verantwortlich verordnet und sogar un-terhalb der Budgetgrenze bleibt, für einen Arzt haftet, derzum Beispiel in München aus dem Vollen schöpft. Siekönnen keinem Arzt erklären, dass er selbst dann, wenn erseine Budgetgrenze nicht erreicht, für einen anderen Arzt,der 3 000 km entfernt ohne Rücksicht auf das medizinischNotwendige aus dem Vollen schöpft, haftet. Man darf alsonicht nur an die Versorgungsstrukturen und an die Versor-gungsqualität denken, sondern muss auch daran denken,
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Horst Seehofer14840
dass wir motivierte Ärzte im deutschen Gesundheitswe-sen brauchen. Das Budget hat aber zur Demotivierung derdeutschen Ärzteschaft geführt.
Greifen Sie unser Modell der Richtgröße auf! Wir ha-ben nach der Bundestagswahl nicht plötzlich eine neueGesundheitspolitik erfunden. Im Jahre 1997, also vor derBundestagswahl, haben wir es hier im deutschen Parla-ment in Kraft gesetzt und sind als Sozialräuber und Ähn-liches beschimpft worden.
Der jetzige Bundeskanzler war damals in meinem Wahl-kreis. Ich nehme an, dass er – so kennen wir ihn – jedenseiner Auftritte auf Video aufnehmen lässt, damit er sichspäter einmal selbst bewundern kann. Wenn er wieder inmeinen Wahlkreis kommt, dann werde ich ihm den Teildes Videos vorspielen, in dem er seine gesundheitspoliti-schen Ausführungen macht. Was er jetzt im „Stern“ sagt,entspricht der Gesundheitspolitik, die er in der Vergan-genheit, vor zwei Jahren, bekämpft hat.
Die Vorlage über die Richtgröße haben wir 1997 ver-abschiedet. Die Richtgröße ist die ideale Kombinationzwischen medizinischen Erwägungen und Wirtschaftlich-keit. Der Arzt hat die Möglichkeit, das unter medizini-schen Gesichtspunkten Notwendige zu verordnen, ohneständig befürchten zu müssen, dass das Fallbeil des Re-gresses kommt. Wenn ein Arzt zehn Krebspatienten mehrals im vorherigen Quartal hat, dann muss er doch ver-dammt noch mal das Notwendige und Hochwertige ver-ordnen können.
Umgekehrt müssen wir auch die Wirtschaftlichkeit se-hen. Natürlich gibt es schwarze Schafe. Aufgrund derRichtgröße haben die Krankenkassen und die Kassenärzt-lichen Vereinigungen die Möglichkeit, die schwarzenSchafe mit einem Regress zu belegen. Dann wären auchwirklich nur die schwarzen Schafe betroffen und es gäbekeinen kollektiven Regress gegenüber den Anständigen.
Wenn Sie bei dem skizzierten Ansatz bleiben und für ihneine Mehrheit in Ihrer Koalition finden, dann können Sie– wir bringen heute einen Gesetzentwurf ein – noch in die-sem Monat unsere Zustimmung bekommen und auf die-sem Feld der Gesundheitspolitik herrscht wieder Ruhe.
Das reicht aber nicht, und das, was Sie, Frau Schmidt, unsheute gesagt haben, reicht auch nicht, um die Probleme imGesundheitswesen zu lösen. Was Sie vorgeschlagen ha-ben, ist Stückwerk. Wir werden in den nächsten Monatennicht darum herumkommen, die deutsche Gesundheitspo-litik neu zu strukturieren. Wenn Sie unsere Gesundheits-reform nicht zurückgenommen hätten, dann hätten Sieviele Probleme, mit denen sie zurzeit zu kämpfen haben,nicht. Sie haben sich die Probleme selbst eingebrockt.
Niemand kann die Augen davor verschließen, dass unsdie gleichen Probleme, die wir in Bezug auf die Renten-versicherung haben, auch in Bezug auf die Krankenversi-cherung bewegen: der Altersaufbau der Bevölkerung,immer weniger Beitragszahler und immer mehr Leis-tungsempfänger. Diese Probleme schlagen in der Kran-kenversicherung viel dynamischer durch.
Die Beitragsdynamik wird dort mittel- und langfristigstärker als in der Rentenversicherung sein. Während imHinblick auf die Rentenversicherung jetzt Gott sei DankKonsens über die Handlungsnotwendigkeit und die Hand-lungsrichtung besteht, fehlt ein solcher Konsens noch imHinblick auf die Krankenversicherung.
Bei den älteren Mitbürgerinnen und Mitbürgern – dasist kein Vorwurf, nur ein Befund – liegt der Aufwand fürdie medizinische und die pflegerische Betreuung um80 Prozent höher als bei den Erwerbstätigen. 6 956 DMfallen für einen älteren Menschen im Durchschnitt an. Dassoll auch so bleiben; denn darin besteht die Solidaritätzwischen Jung und Alt. 3 706 DM fallen im Durchschnittfür jemanden an, der im erwerbsfähigen Alter ist. DerAufwand für einen älteren Menschen liegt also um80 Prozent höher. Da die Anzahl der Beitragszahler immergeringer und die der Leistungsempfänger immer höherwird, stehen wir im Gesundheitswesen vor einer riesigenHerausforderung, die größer als die im Bereich der Ren-tenversicherung ist. Sie dürfen nicht erst handeln, wenndie Katastrophe eingetreten ist.
Sie müssen jetzt handeln, damit die Katastrophe vermie-den wird.
Wir alle wissen, dass die Rentner – das soll auch sobleiben – nur halb so hohe Beiträge wie die Erwerbstäti-gen zahlen, weil ihre Bemessungsgrundlage niedriger ist.Dazu kommen die Kosten des medizinischen Fort-schritts der, ethisch angewandt, ein Segen für dieMenschheit ist. Diese Kosten werden auch in Zukunftstärker als die Einnahmen der Krankenkassen steigen.Beides zusammen, die Demographie unseres Volkes undden medizinischen Fortschritt, bezeichne ich als dasOzonloch unseres Gesundheitswesens. Wir stehen vor ei-ner riesigen langfristigen Herausforderung, auf die in derGegenwart, also kurzfristig reagiert werden muss.
Wer jetzt nicht handelt, Frau Schmidt, der kommt umkrasse Einschnitte in das Leistungsangebot des deutschenGesundheitswesens nicht herum. Das wollen wir vermei-den. Rechtzeitiges Handeln bedeutet Prävention gegenunsoziale und krasse Leistungseinschnitte.
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Wir nennen Ihnen hier die drei wesentlichen Elementeunserer Reformvorstellungen. Der Patient mit seinen Be-dürfnissen muss endlich in den Mittelpunkt des Handelnsgestellt werden. Mit dem ökonomischen Diktat im Ge-sundheitswesen muss Schluss sein. Der kranke Menschmit seinen Bedürfnissen muss ins Blickfeld rücken.
Um das zu gewährleisten, brauchen wir erstens in die-ser Dunkelkammer – so bezeichne ich das deutsche Ge-sundheitswesen – mehr Transparenz hinsichtlich Kostenund Qualität.
Es ist höchste Zeit – so stand es schon im Gesetz –, dassdie Menschen über das, was geleistet wurde, und darüber,wie es abgerechnet wurde, endlich eine Information er-halten, auch eine Information über die Qualität der er-brachten Leistung.
Nur ein informierter Bürger ist ein mündiger Bürger. Esist ganz wichtig, dass wir das realisieren.
Zweitens. Wir brauchen einen Wettbewerb um diebestmögliche Qualität und die bestmögliche medizinischeVersorgungsform. Muss denn alles kartellartig auf derSeite der Krankenkassen und zunftartig auf der Seite derÄrzte und anderer in Deutschland organisiert sein? Mussalles oder jedenfalls das meiste einheitlich organisiertsein? Können wir uns nicht endlich einmal wieder auf einbewährtes Regulativ der sozialen Marktwirtschaft besin-nen, indem wir Pluralität und Wettbewerb im deutschenGesundheitswesen zulassen?
Verschiedene Versorgungsangebote und verschiedenemedizinische Methoden sollen miteinander konkurrieren.Dann sollen nicht Funktionäre oder Ministerialbeamte,sondern die Bürger entscheiden, welches Versorgungs-angebot und welche medizinische Versorgungsform siewollen.
Im Gesundheitswesen gibt es ein Kartell und gibt esZünfte. Die Argumentation von allen, die versucht haben,dieses System ein wenig aufzubrechen – auch ich gehöredazu –, ist mehr oder weniger zertrümmert worden. Manwurde als Sozialräuber, als jemand, der Sozialabbau be-treibt, beschimpft. Wenn wir nicht mehr geordneten Wett-bewerb im Gesundheitswesen zulassen, werden wir aberin Zukunft kein erstklassiges Gesundheitssystem mehrgewährleisten können.Drittens. Was spricht denn eigentlich dagegen, dass wirden mündigen Bürgern etwas mehr Wahlfreiheit auchbeim Leistungskatalog geben? Wie haben Sie solche Vor-haben beim Zahnersatz bekämpft! Der Bürger kann dochzum Beispiel entscheiden, ob er 10 oder 12 Prozent Kran-kenversicherungsbeitrag bezahlen will, wenn er dafür imFalle eines Falles eine Bagatellrechnung selber bezahlt.Wenn er das nicht will, dann kommt auf ihn eben einehöhere Dauerbelastung zu. Warum soll das ein Bürgernicht wollen und können?
Alles trauen wir dem Bürger zu, wenn wir mit schönenWorten Sonntagsreden halten. Nein, übertragen wir ihmdiese Verantwortung einmal in der Realität! Die Schwei-zer, die Franzosen, alle anderen haben das gemacht, nurwir in Deutschland glauben, dass wir dem Bürger dieseWahlfreiheit nicht zumuten können. Mehr Wahlfreiheitbeim Leistungskatalog!
Natürlich muss dann ein Kernbereich festgelegt werden,der solidarisch finanziert wird, denn sonst würden Jungeund Gesunde sich zu der Entscheidung durchringen, sicherst in 30 Jahren zu versichern. Dann würden die Solidar-beiträge für die Kranken und die Älteren fehlen. In einerbestimmten Bandbreite aber wollen die Leute mehr Aus-wahlrechte bezüglich des zu wählenden Leistungs-kataloges. Geben wir sie ihnen!Ich bin der tiefen Überzeugung, dass, nachdem wir inden letzten 20 Jahren mit zweifelhaftem Erfolg im Ge-sundheitssystem fast alles ausprobiert haben, diese dreiElemente – Transparenz,
geordneter Wettbewerb und Wahlfreiheit – für Qualitätund Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen mehr bewir-ken als jede staatliche Reglementierung. Deshalb müssenwir diese drei Dinge umsetzen.
Frau Schmidt, ich nehme es Ihnen ab, dass Sie sich uminhaltliche Signale bemühen und das Gesprächsangeboternst meinen. In einer Demokratie gewinnen jedoch auchnoch so schöne Worte Überzeugungskraft erst durch täti-gen Einsatz. An der Tat werden wir Sie messen. Ihre Ver-suche, mal zu diesem, mal zu jenem Thema ein Gesprächzu führen, sind ehrenwert. Ich will Sie aber einmal daraufhinweisen, dass es sich 1992 anders verhielt: Die da-malige Regierung hatte einen Gesetzentwurf vorgelegt.
Auf der Grundlage dieses Gesetzentwurfes haben wir unsnach Lahnstein in Klausur begeben und parteiübergrei-fende Gespräche geführt. Deshalb sage ich Ihnen auch fürmeine Fraktion: Wir sind immer zu Gesprächen bereit; esmuss aber bitte vorher klargestellt werden, dass die Re-gierung regieren wollte. Also soll sie regieren,
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Horst Seehofer14842
und deshalb soll sie zuallererst einmal ein Konzept vorle-gen.
Dann werden wir auf der Grundlage dieses Konzeptesprüfen, ob Gespräche Sinn machen oder nicht. Ich kannIhnen alle Protokolle und alles, was ich mir persönlich zuLahnstein aufgezeichnet habe, überreichen. Wir haben da-mals die Orientierung vorgegeben, ein Konzept vorgelegtund dann die Opposition zu einem Gespräch eingeladen.Machen Sie es so wie wir! Ohne Konzept wird es kein Ge-spräch geben. Sorgen Sie erst einmal für Ihre Vorstellun-gen und für die des Bundeskanzlers, die im „Stern“ ver-öffentlicht wurden, bei Ihrer eigenen Regierungskoalitionfür die nötigen Mehrheiten!
Frau Schmidt, noch ein Letztes. Es geht natürlich nicht,dass man jetzt Ankündigungen macht und sagt: Die not-wendige Reform machen wir nach der Wahl. – Wir legenschon Wert darauf, dass Sie den Menschen vor der Bun-destagswahl reinen Wein einschenken
und dass Sie jetzt mit der strukturellen Umgestaltungdes deutschen Gesundheitswesens beginnen. Wer demGesundheitswesen jetzt die Umgestaltung verweigert, derverweigert den Menschen ein Stück Zukunftssicherheit.
Ich gebe der
Kollegin Monika Knoche für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Her-ren! Herzlichen Dank, Frau Ministerin Schmidt, für IhreRede, die ich außerordentlich gerne gehört habe.Herr Seehofer, ganz zum Schluss haben Sie die Katzeaus dem Sack gelassen. Ohne auch nur ein einziges Malden Begriff „Ausstieg aus dem Solidarsystem“ zu ver-wenden, ohne auch nur einmal den Begriff zu nennen, umden es geht, nämlich Verabschiedung vom Sachleistungs-prinzip, haben Sie einem Systemwechsel nach originalneoliberaler Konzeption das Wort geredet.
Sie sind nicht einmal davor zurückgeschreckt, Sozial-hilfeempfänger in Konkurrenz zu anderen Versicherungs-nehmern der gesetzlichen Krankenversicherung zu set-zen, um auszudrücken, dass Sie die gesetzlicheKrankenversicherung auf einen so genannten Kernbe-reich reduzieren wollen und anderes der privaten Zusatz-versicherung unterwerfen wollen. Sie wollen also Regel-und Wahlleistungen in einem Konzept mit so genanntenKernleistungen. Herr Seehofer, dieses Modell haben Siesubkutan schon einmal probiert. Sie sind dafür abgewähltworden.
Wir werden alles tun, die ideologische Seite dieses Sys-temwechsels zu thematisieren und das, was wir seit Über-nahme der Regierung durch Rot-Grün gemeinsam ent-wickelt haben, weiterzuführen.Ich bin eine große Verfechterin
des solidarischen Sicherungssystems, das wir in Deutsch-land haben. Alle Reden, die bisher gehalten worden sind,haben eines deutlich gemacht: Einen Wechsel in der Ge-sundheitspolitik wird es unter Rot-Grün bei MinisterinSchmidt nicht geben. Er ist nicht zu erkennen und ihn wirdes nicht geben.
Was hat sie gesagt?
Sie hat eine ganz wichtige Aussage für die Bevölkerungund für die Kommunikation von Politik insgesamt ge-macht. Sie hat gesagt: Ich will nicht, dass eine Patientinoder ein Patient im Wartezimmer sitzt und sagen muss:Wenn ich Geld hätte, würde ich besser behandelt werden.
Ein besseres Plädoyer für das vorhandene Gesundheitssys-tem mit seiner Finanzierungsstruktur kann man meines Er-achtens nicht halten.
Das ist völlig eindeutig und klar.
Ich habe sehr wohl wahrgenommen, dass hier Spitzengefahren werden, um einmal zu sehen: Wird der Ausstiegaus der paritätischen Finanzierung kommen? Gibt esdafür Verlockungen?
Gerade wenn man das Prinzip von Wahl- und Regelleis-tungen propagiert und von Kernleistungen redet, meintman nichts anderes als den Ausstieg aus der paritäti-schen Finanzierung.
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Horst Seehofer14843
Nichts in dieser Gesellschaft – davon bin ich wirklichüberzeugt – schafft mehr Vertrauen in die Zukunftsfähig-keit des Gesundheitswesens als die Gewissheit, dass sichalle an der solidarischen Sicherung beteiligen.
Wenn wir über Zukunftsfragen und Finanzierungsfra-gen sprechen, dann müssen wir den Menschen auch ver-mitteln, dass die Eingebundenheit in die sozialen Siche-rungssysteme mit ihren Beitragssätzen ganz eng mit derwirtschaftlichen und der arbeitsmarktpolitischen Entwick-lung korrespondiert. Angesichts der Herausforderung, dieKultur des Sozialen durch die Gesundheitspolitik sicher-zustellen, ist es unter der Maßgabe der Beitragssatzstabi-lität unverzichtbar, mehr Menschen in dieses System dersolidarischen Sicherung aufzunehmen. Die Zuwächse beiden Gruppen mit höheren Einkommen zu nutzen und de-ren Bezieher in dieses System der solidarischen Siche-rung aufzunehmen
dient auch dem Ziel, Beitragssatzstabilität zu erreichen.Es ist ganz wichtig, dass wir in der öffentlichen De-batte nicht den Eindruck erwecken, es gebe für die Fort-schreibung dieses Systems keine Möglichkeiten. Die Al-ternative besteht wahrlich nicht darin, aus derparitätischen Finanzierung auszusteigen.
Damit können wir die Garantien, die wir in der Gesund-heitspolitik zu geben haben, nicht einhalten. Das wäre inder Tat der Weg in eine Zweiklassenmedizin, die sowohlSie als auch wir nicht wollen und die wir der Gesellschaftauf keinen Fall zumuten werden.
Man muss über die Zukunft der sozialen Sicherungs-systeme in Deutschland und über deren Finanzierungsprechen. Ich habe schon die mögliche Alternative ge-nannt – wir sollten sie nicht vergessen –, die Pflichtver-sicherungsgrenze zu erhöhen, um mehr Menschen in die-ses System aufnehmen zu können.
Diese Alternative ist elementar. Sie werden an keinerStelle erkennen, dass sich in unserer Regierung diese Auf-fassung auch nur in Nuancen ändern wird.
Entsprechende Aussagen stehen im Koalitionsvertrag. Siesind für die weitere Ausgestaltung der rot-grünen Ge-sundheitspolitik entscheidend. Ich hoffe, dass damit die-ser Teil der Debatte geklärt ist.
Das Arzneimittelbudget ist der Ausgangspunkt derheutigen Debatte. Ich weiß nicht, was den Äußerungender Frau Ministerin Schmidt hinzuzufügen wäre.
Ganz wesentlich scheint mir zu sein, auf den Wettbewerbzu orientieren, den Herr Seehofer angesprochen und ge-fordert hat,
der sich dabei grüner Vokabeln und Gedankenbilder be-dient hat.
Das ist wunderbar. Warum auch nicht? Nichts andereskann das Ziel der Gesundheitspolitik sein, als die Interes-sen der Patientinnen und Patienten ins Zentrum zu stellen.Aber genau das müssen auch die niedergelassenenÄrzte in ihren Kassenärztlichen Vereinigungen aufgrundihrer Verantwortung für das Arzneimittelbudget tun. Siehaben die Möglichkeit und auch die Aufgabe – vielleichtkönnen wir es auch evidenzbasierte Medizin nennen –,Qualitätsorientierung anzustreben und Behandlungs-leitlinien zu erlassen. Auf jeden Fall müssen sie in ihrerZuständigkeit als niedergelassene Ärzte solche Formender Honorierung entwickeln, die Arzneimittelausgabenzielgerecht mit einbinden, damit sie mit dem vorhandenenGeld auch auskommen. Wir können zu Recht die Forde-rung an die niedergelassene Ärzteschaft stellen, dass sienicht darauf besteht, das Arzneimittelbudget frei zu las-sen. Es muss vielmehr ein qualitativer Zugewinn erkenn-bar sein, der zeigt, dass die Mittelsteuerung zielgenau ist.Ich will, dass Phytopharmaka wie auch hochpreisigeMedikamente zu den qualitativen Standards gehören, diedie Versorgung der Patienten, der chronisch Erkrankten,aber auch der nicht manifest Erkrankten, zielgenau si-cherstellen. Warum sind einige Kassenärztliche Vereini-gungen in Deutschland in der Lage, das zu leisten? Es istnicht wahr, dass in der Bundesrepublik die Kassenärzteinsgesamt mit dem Geld nicht auskommen. Die Hälfte derKassenärztlichen Vereinigungen stellen sich dieser quali-tativen Neuorientierung und kommen mit dem Geld aus.Ich bitte die Ärzteschaft insgesamt, sich aus dieser Kon-fliktkonstellation zu lösen und die Problematik vor allenDingen in den eigenen Reihen zum Wohle der Patientin-nen und Patienten konstruktiv anzugehen. Das ist der Sinndes Sicherstellungsauftrages; das müssen sie auch leisten.Dialog bedeutet – das halte ich für eine wichtige Aus-sage –, dass wir die Kompetenz und den Willen innerhalbder Kassenärztlichen Vereinigungen sehen, die Arznei-mittelversorgung nach qualitativen Kriterien in den Be-handlungskontext einzubeziehen.Den Dialog so zu führen bietet Möglichkeiten, langfristigzu einer Überwindung der Probleme auch in den Sektoren
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kommen zu können. Anders, denke ich, kann man die Mi-nisterin in dieser Frage gar nicht verstehen.
Es gibt noch einiges, was in den letzten Tagen bewegtworden ist, woran erkennbar wird, dass sich hier eineRichtungsänderung vollziehen soll. Welche Merkmaledafür haben Sie gefunden? Wo sind sie für Sie sichtbar ge-worden? Ich konnte nicht sehen, dass hier in irgendeinerWeise versucht worden ist, das Modell, das dieCDU/CSU-F.D.P.-Regierung in ihrer Regierungszeithatte, neu zu beleben oder neu zu bedienen.Die Frage des Risikostrukturausgleiches ist ange-sprochen worden. Mit diesem Thema mussten wir deshalbneu beginnen, weil – vielleicht erinnern sich manche nochdaran – die CDU/CSU Gefahr lief, die Beitragssätze zuregionalisieren und sich insgesamt aus dem Konsens überdie Notwendigkeit eines gesamtdeutschen Risikostruk-turausgleiches zu verabschieden.Morbiditätskriterien sind neu in den Risikostrukturaus-gleich aufgenommen worden. Diese Parameter sind wich-tig, um den Wettbewerb der Krankenkassen um risikoarmeVersicherte sozial gerecht auszubalancieren. Durch dieAufnahme dieses neuen Kriteriums in den Risiko-strukturausgleich wird es Gesetzgebungsverfahren geben,bei denen auch die Länder gefragt sind, sich konstruktiv andiesem Prozess zu beteiligen. Bei der Durchführung wirdsich zeigen, ob der Wettbewerb unter den Krankenkassensozial ist, ob wir die soziale Ausrichtung in den Vorder-grund stellen oder ob der Wettbewerb destruierende Wir-kungen entfaltet. Die Entwicklung, auch hinsichtlich derHonorierung der Niedergelassenen, wird zeigen, ob das indieser Legislaturperiode eingeleitete Reformwerk derneuen Ausbalancierung des Risikostrukturausgleiches er-folgreich sein wird.Ich möchte auf jeden Fall, dass die Bevölkerung trotzdes ganzen Gezerres und Mutmaßens weiß: Auf Zuruf ausden Medien wird sich die Politikgestaltung durch dieseRegierung nicht verändern.
Dazu ist das Themengebiet zu groß. Es ist zu wichtig fürunser Selbstverständnis, wie wir in der Gesellschaft leben,was der Wert des Sozialen in unserer Gesellschaft ist. Ichdenke, nirgendwo drückt sich deutlicher als im Gesund-heitswesen aus, welches Verständnis von Krankheit undKrankheitsentwicklung wir haben. Es muss immer die Si-cherheit gegeben sein, dass wir keine Ausdifferenzierungwegen des sozialen Status, wegen finanzieller Vorausset-zungen seitens der Patientinnen und Patienten haben.Mit Sicherheit ist es wichtig, die Patientinnen und Pa-tienten stärker an dem Prozess der Qualitätsorientierungzu beteiligen. Aber diese Fragen sollten im Vergleich zuden Systemfragen in der Politik nicht so hochrangig be-handelt werden. Die Probleme, die Patientinnen und Pati-enten im System haben, dürfen nicht dazu benutzt oder so-gar missbraucht werden, um aus dem Systemauszusteigen.Die Probleme sind handhabbar; sie sind lösbar. Des-halb bin ich außerordentlich froh darüber, dass bei derheutigen Debatte von all den Erwartungen, die da herum-waberten, nichts übrig geblieben ist,
woraus Sie schlussfolgern könnten, es gebe in der rot-grü-nen Gesundheitspolitik keine Kontinuität.
Danke.
Ich gebe das
Wort der Kollegin Dr. Ruth Fuchs für die Fraktion der
PDS.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! CDU/CSU und F.D.P. stellen heute erneut dieBudgetierungsproblematik in den Mittelpunkt der De-batte. Ohne Frage: Hier liegt ein entscheidenderSchwachpunkt der bisherigen rot-grünen Gesundheitspo-litik und das scheint endlich auch die Regierung begriffenzu haben.
Nur so ist die angekündigte Streichung der ärztlichenKollektivhaftung beim Arznei- und Heilmittelbudget zuverstehen.Wie die Praxis zeigt: Dies war mehr als überfällig.Schlimm wäre aber, wenn diese Maßnahme nur dazuführen sollte, das aufgewühlte Gesundheitswesen, alsoÄrzte und Patienten, für den Rest der Legislaturperioderuhig zu stellen und hinter dieser Fassade ein ganz ande-res Szenario vorzubereiten.Wenn auch nur einiges von dem stimmt, was gestern im„Stern“ – ich weiß aus Erfahrung, dass sich Zeitungs-meldungen oft als Zeitungsenten entpuppen; aber es wa-ren keine Nobodys, die dort zitiert worden sind; darauf,denke ich, sollte man schon achten – über die gesund-heitspolitischen Absichten der jetzigen Regierung nachden nächsten Wahlen zu lesen war – Frau Ministerin,natürlich habe ich Ihr Dementi gelesen und Ihrer Redeheute sehr aufmerksam zugehört –, dann ist festzustellen:Die Menschen, besonders die kranken, älteren und behin-derten, gehen traurigen Zeiten entgegen. Eine SPD-ge-führte Bundesregierung würde – ich betone das Wort„würde“ – im Hinblick auf das Gesundheitswesen eineUmwälzung planen, deren soziale Härte all das in denSchatten stellt, was wir vor 1998 erlebt haben.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Monika Knoche14845
Frau Ministerin, Sie plädieren für eine Gesundheitspo-litik des Vertrauens. Aber auch Sie benutzen in Ihrem De-menti das verräterische Wort von der Eigenverantwor-tung der Versicherten und Patienten.
Die gesundheitspolitisch tätigen Kollegen in Ihrer Frak-tion haben schon oft genug klargestellt – die KolleginMonika Knoche hat dies heute noch einmal getan –, wasdamit bei der Vorgängerregierung gemeint war: nochmehr Zuzahlungen, Leistungskürzungen, private Zusatz-versicherungen nach individueller Zahlungsfähigkeit undandere soziale Grausamkeiten. Ins Spiel gebracht wurdendiese von Arbeitgebern, neoliberalen Wirtschaftsprofes-soren und sonstigen marktradikalen Vordenkern.
Trotz mancher Enttäuschung in den letzten zwei Jah-ren: Es fällt mir immer noch schwer, zu glauben, dass soetwas sozialdemokratische Gesundheitspolitik werdensoll. Liebe Kollegin Monika Knoche, ich möchte das inIhrer Rede Dargestellte wirklich gerne glauben – und diesvor allem im Interesse der Versicherten und Patienten.
Aber allein die Rentenreform hat für mich gezeigt, wozudie Regierung Schröder inzwischen in der Sozialpolitikfähig ist.
Natürlich wissen wir alle, dass der Bedarf an gesund-heitlicher Versorgung weiter steigen wird. Selbst wennes gelingt, die Effizienz zu erhöhen, werden die Aufwen-dungen deutlich stärker. Somit ist eine Erweiterung derFinanzgrundlage der gesetzlichen Krankenversicherungunausweichlich. Seit langem setzen wir uns dafür ein. Inder Vergangenheit haben wir dazu viele konstruktive Vor-schläge gemacht.Der entscheidende Unterschied scheint aber zu sein:Wir sagen, eine solche Entwicklung könne und müssestrikt an sozialer Gerechtigkeit und Solidarität orientiertbleiben. Unser Credo ist: Gesundheitssicherung undmedizinische Versorgung sind Menschenrechte. Siegehören zu den elementaren Voraussetzungen von sozia-ler Gerechtigkeit und Chancengleichheit und sie müssenfür jeden gleichermaßen zugänglich sein und bleiben.
Was nun die Budgetierung betrifft, so gilt für uns: Ge-setzlich verordnete Ausgabenbegrenzungen eignen sichauf Dauer nicht als Steuerinstrument im Gesundheitswe-sen. Wie ich gehört habe, sind wir uns alle an dieser Stelleeinig. Mit dem Arzneimittelbudget werden die Ärzte inunzumutbare Gewissenskonflikte und noch dazu inExistenzängste gestürzt. Die Patienten sind zu Recht ver-unsichert und dem Arzt-Patienten-Verhältnis wird schwe-rer Schaden zugeführt.Auch wir, Frau Ministerin, halten es für richtig, dassdie Ärzteschaft als Ganzes nicht aus der Verantwortungfür die rationelle Arzneimitteltherapie entlassen wird. Dasergibt sich für uns schon aus der Tatsache, dass dort dernötige Sachverstand vorhanden ist. Wir können auch fest-stellen, dass bereits anerkennenswerte Ergebnisse erreichtwurden. Der jüngste Arzneiverordnungsreport, der einesLobbyismus in Bezug auf Ärzte und Industrie wahrlichunverdächtig ist, bescheinigt, dass es ärztlicherseits ge-lungen ist, einen beachtlichen Teil der Rationalisierungs-reserven zu erschließen.Was jetzt vor allem fehlt, ist der Beitrag, den die Re-gierungsseite zu leisten hat. Wir fragen: Warum sehen Siehilflos zu, wie die Pharmaindustrie mittels juristischerEinsprüche eine Steuerungsmaßnahme nach der anderenaußer Kraft setzt? Sie, meine Damen und Herren vonUnion und F.D.P., sollten, wenn Sie schon Vorschläge zurAbschaffung des Budgets machen, das richtig tun. Was inIhren Anträgen völlig fehlt, lieber Kollege Thomae, isteine klare Benennung jener Aufgaben, die die Politikselbst zu lösen hat.Warum – das frage ich Sie besonders – trauen Sie sichnicht, die Pharmaindustrie zu kritisieren?
Am Ende unterbindet diese nämlich die elementarenBemühungen von Kassenärztlichen Vereinigungen, dieÄrzte systematisch über wirtschaftliche Verordnungsweisenzu informieren.
Insidern sage ich nur: Denken Sie an die KV Hessen undan das, was dort läuft!Im Übrigen hat es auch Rot-Grün bisher nicht ge-schafft, die hemmungslose Preistreiberei der Pharmain-dustrie besonders bei innovativen Arzneimitteln zu unter-binden. Frau Ministerin, Sie haben sich hierzu geäußert.Ich hoffe, es wird in Zukunft auch hierzu Maßnahmen ge-ben.Könnte es sein, dass Union und F.D.P. dazu nichts sa-gen, weil sie es selbst nie gewagt haben, am übermächti-gen Einfluss der Pharmaindustrie zu rütteln?
Herr Seehofer, ich möchte in diesem Zusammenhang nurnoch einmal an das Zerreißen der Positivliste erinnern,über das wir – damals noch in Bonn – alle gelacht haben.
Ich frage: Was hindert uns eigentlich, in diesem Parla-ment einen fraktionsübergreifenden Antrag zu stellen,dass zum Beispiel bei Arzneimitteln nur der halbe Mehr-wertsteuersatz anzuwenden ist oder dass man sogar ganzauf die Mehrwertsteuer verzichtet?
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Dr. Ruth Fuchs14846
Alle von uns wissen, dass wir damit den Ärzten wirklicheinen enormen Druck nähmen. Wir bleiben dabei: Es kannnicht allein um die Streichung des Budgets gehen. Not-wendig ist ein ganzes Bündel von Maßnahmen im Sinneeiner überzeugenden Arzneimittelpolitik.Ein weiterer Vorschlag der Unionsfraktion bezieht sichauf die Abschaffung der Honorarbudgets. Sie sollen durchRegelleistungsvolumina mit festen Punktwerten ersetztwerden.
– Ja, ein guter Vorschlag und auch ein wich-tiges Thema. – Auch aus unserer Sicht verfügt ein zuneh-mender Teil der Ärzte – als Ostdeutsche sage ich, weil iches aus eigenem Erleben kenne: in Ostdeutschland beson-ders – nicht mehr über ein angemessenes Einkommen.
Dabei muss gerade in den neuen Bundesländern ange-sichts der stärker überalterten Bevölkerung von einemhöheren Bedarf an medizinischer Versorgung ausgegan-gen werden. Dennoch bleiben die Einkommen der Ärztedort deutlich hinter denen der Ärzte in den alten Bundes-ländern zurück. Hier besteht tatsächlich dringender Hand-lungsbedarf und auch diesbezüglich hoffe ich, dass dieVersprechungen der Frau Ministerin Realität werden.Was die ärztlichen Vergütungsformeln im Einzelnenbetrifft, so sollte unserer Auffassung nach die Entwick-lung noch stärker weg von der Einzelleistungsvergütunghin zu pauschalen Honorierungsformen führen. Sie müs-sen vor allen Dingen von kommerziellen und bürokrati-schen Zwängen entlasten und mehr zuwendungsorien-tierte Medizin ermöglichen. Der alleinige Übergang zuRegelleistungsvolumina, wie er im Antrag der Union vor-geschlagen wird, greift unserer Meinung nach zu kurz.Aber ich denke, wir werden in den Ausschüssen nochgenügend Zeit haben, über Ihren Antrag zu debattieren.Lieber Herr Thomae, Ihrem Antrag können wir aus dengenannten Gründen unsere Zustimmung nicht geben.
Für die
Fraktion der SPD spricht nun die Kollegin Regina
Schmidt-Zadel.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, ich finde esganz besonders bemerkenswert – deswegen will ich dashervorheben –, dass Sie in den Mittelpunkt Ihrer Rede,aber auch Ihrer Politik die Menschen stellen, nämlich dieVersicherten und die Kranken. Deswegen möchte auchich Ihnen ganz herzlich für Ihre Rede danken.
Herr Seehofer, es reizt mich ja, auf Ihre Rede einzuge-hen. Ich werde es aber nicht tun; denn ich habe positiveDinge zu verkünden und das andere ginge von meiner Re-dezeit ab. Nur eines will ich Ihnen sagen: Wir haben dieBudgets wieder eingeführt,
weil Sie uns eine desolate Situation im Gesundheitswesenhinterlassen haben, meine Damen und Herren. Deswegenmussten wir sie wieder einführen.
Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür – HerrThomae, da können Sie noch so böse gucken –, dass SieIhre Rückwärtsgewandtheit in vielen Bereichen zumGrundprinzip Ihrer gesundheitspolitischen Überlegungenmachen. Aber das genau tun Sie mit den heute vorliegen-den Entwürfen.
Wenn ich mir ansehe, was in Ihrem Gesetzentwurf steht,dann frage ich mich ernsthaft: Warum haben Sie dennnicht gleich einen Gesetzentwurf für die Wie-dereinsetzung der alten Kohl-Regierung geschrieben?Darauf läuft die Sache doch letztlich hinaus, meine Da-men und Herren.
Sie kommen mit alten Kamellen. Sie legen verstaubteVorschläge vor, mit denen Herr Seehofer schon zu seinenMinisterzeiten große Schwierigkeiten hatte. HerrSeehofer, wir würden Ihnen ja einen Botschafterpostengönnen. Wir können gemeinsam überlegen, wo.
Dazu sind wir gerne bereit.
Ich stelle fest: Anstatt überzeugende Konzepte vorzu-legen, mit denen unser Gesundheitswesen für die nächs-ten Jahrzehnte fit gemacht werden kann, anstatt in einenDialog darüber einzutreten, welche Prioritäten in der Ge-sundheitspolitik gesetzt werden sollen, und anstatt kon-struktiv mit uns zu diskutieren – dazu fordern wir Sieheute auf – kramen Sie in der Mottenkiste die alten, ver-staubten Parolen heraus.
– Hören Sie gut zu! Dazu komme ich noch. – Dabei istdoch allen Akteuren im Gesundheitswesen längst klar: Inder Debatte um die Zukunft der GKV geht es nicht in ers-ter Linie um die Budgetierung. Wer über die Zukunft dergesetzlichen Krankenversicherung spricht, muss doch vorallem über die Verbesserung der Versorgungsqualitätund über die Situation der Menschen sprechen. Darauf hatdie Ministerin hingewiesen.
Lassen Sie uns doch nicht über eine Gesundheitspoli-tik von gestern reden,
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Dr. Ruth Fuchs14847
sondern über eine von morgen. Unsere Ideen und Vorstel-lungen möchte ich Ihnen jetzt gerne vortragen.
Die Bundesgesundheitsministerin hat in ihrer Rede dieGrundzüge formuliert. Ich möchte daran anknüpfen undfür meine Fraktion auf einige Aspekte eingehen.
Wie wir alle wissen, bewirken die Strukturen unseres Ge-sundheitswesens derzeit Unter-, Fehl- und Überversor-gung.
Jahrzehntealte Strukturen stemmen sich trotz manchenErfolges immer noch gegen eine Weiterentwicklung.
In einigen Bereichen fehlt das Geld, in vielen anderen Be-reichen wird es aber geradezu verschleudert, auch im Ge-sundheitswesen.
Das gilt vermutlich für viele medizinische Versorgungs-bereiche;
das wird das Gutachten des Sachverständigenrates be-stätigen. Wir alle wissen das und wir alle müssen verhin-dern, dass diese Entwicklung, auf die ich eben hingewie-sen habe, so weitergeht. Erfolgreiche Konzepte derGesundheitsreform 2000 – auch darauf hat die Ministerinhingewiesen –, wie die Schaffung integrierter Versor-gungsformen, müssen konsequent umgesetzt und weiter-entwickelt werden.Sie alle wissen, warum bisher nicht mehr Veränderun-gen in der Gesundheitspolitik möglich waren. Sie von derCDU/CSU und der F.D.P. haben mit Ihrer Fundamen-talopposition und Ihrem Stimmverhalten im BundesratVeränderungen verhindert.
Umdenken heißt die Parole. Ziel muss es sein, eingespar-tes Geld nicht aus dem System herauszuziehen, sondernin den unterentwickelten Bereichen des Systems einzu-setzen.
Es ist höchste Zeit zum Umdenken bei allen politischVerantwortlichen – dazu fordere ich Sie auf –, aber auchbei den Krankenkassen, der Pharmaindustrie – darauf istschon hingewiesen worden –, den die Leistungen erbrin-genden Menschen
– Herr Zöller, Sie können gleich noch reden und daraufeingehen –
und den unterschiedlichen Verbänden. Für viele ist dasselbstverständlich. Ich möchte aber nochmals betonen:Wir erwarten, dass die Menschen, ganz gleich mit welcherErkrankung sie zum Arzt gehen und ob in Norddeutsch-land oder in Süddeutschland, ob in Ballungszentren oderauf dem Land, möglichst einheitlich und nach dem wis-senschaftlichen Stand behandelt werden. Das ist es, waswir fordern.
Sie wissen, dass das heute keineswegs der Fall ist.
Wir wissen, es kann theoretisch nur die beste Behand-lung einer Erkrankung geben. In der Praxis geht es um dieam besten geeigneten Therapien. Alle diese Therapienmüssen jedem gesetzlich Krankenversicherten unabhän-gig vom Einkommen und unabhängig vom Wohnort zurVerfügung stehen. Dafür kämpfen wir.
Behandlungsleitlinien, Qualitätszirkel und vergleichbareEinrichtungen scheinen hier wirklich eine Lösungsoptionzu sein. Diese Entwicklung kommt, aber sie kommt viel-leicht auch zu langsam. Das will ich eingestehen.
Wir brauchen den Willen und auch die Fachkompetenzder Ärzteschaft. Wir möchten den emanzipierten Patien-ten. Wir möchten, dass auch die Krankenkassen sich derQualitätsaufgabe noch mehr annehmen, als dies bereitsin der Vergangenheit geschehen ist. Wir wünschen unsmehr Experimentierfreude bei Erkrankungs- und Einzel-fallmanagement im Interesse aller Versicherten. Wirwerden – darauf können Sie sich verlassen – alles dazuNotwendige veranlassen, damit dieses in die Tat umge-setzt wird.
Wir begrüßen ausdrücklich Ihre Einladung, Frau Mi-nisterin, zu einem Dialog aller am Gesundheitswesen Be-teiligten. Es gibt nämlich viele Gemeinsamkeiten undZiele, für die sich der gemeinsame Kampf lohnt. Wir müs-sen es nicht Lahnstein 2 nennen, Herr Seehofer. Ichkomme aus dem Wahlkreis Mettmann, vielleicht machenwir ein Mettmann 1, um diese Ziele durchzusetzen.
Wir wünschen uns eine finanzielle und eine solida-risch-menschliche Seite, die oft vergessen wird. Ich ladealle Verantwortlichen zur Mitarbeit ein. Die SPD-Bun-
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Regina Schmidt-Zadel14848
destagsfraktion und die SPD wissen, dass die Gesund-heitspolitik einen sehr hohen Stellenwert in der Bevölke-rung einnimmt. Ich erinnere an die vergangenen Wahlen,die das gezeigt haben.
Deswegen scheuen wir uns nicht, vorzuzeigen, was wirbisher geleistet haben.
Auch für die Zukunft gelten die Grundsätze unsererGesundheitspolitik: hohe Dialogbereitschaft, hohe Ver-sorgungsqualität und – darauf will ich ganz besonderenWert legen – die solidarische Finanzierung und die medi-zinisch beste Versorgung.
Darauf können sich die Bürgerinnen und Bürger in diesemLand verlassen.
Vielen Dank.
Nunmehr
gebe ich das Wort dem Kollegen Wolfgang Lohmann für
die CDU/CSU-Fraktion.
– Ja, Lüdenscheid.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerade wurde „Lüden-scheid“ gerufen. Ich schlage vor, aus Lahnstein Lü-denscheid zu machen.
Dann sind wir auch sicher, dass nicht geklüngelt wird. Siewissen, dass im Rheinland geklüngelt wird, wir Westfalenaber sind strack durch, wie man bei uns sagt.Meine Damen und Herren, liebe Frau Schmidt-Zadel,Sie erwarten eine einheitliche und qualitativ hochwer-tige Versorgung nach Standards. Aber wir sehen daran,dass die Betroffenen nicht mehr zu Ihnen kommen, wiesehr die Versorgung inzwischen gelitten hat, und zwar un-ter dieser Regierung.
Insofern hätte es auch möglich sein können, dass Siedas, was in der Vergangenheit geschehen ist, kritisierenund sagen: Wir wollen zu neuen Ufern aufbrechen, umdiese Ziele, die im Grunde genommen gemeinsame Zielesein müssen, zu erreichen. Eingefangen werden wir abernicht. Und wenn Sie glauben, dass wir Horst Seehofergern irgendwo zum Botschafter machen würden,
irren Sie. Der wird hier dringend gebraucht. Wir lassenihn uns nicht wegmobben; damit das klar ist.Frau Ministerin, jetzt möchte ich gern etwas aus demBlatt zitieren, das heute erschienen ist und in dem sicherwieder alles falsch steht. Dort heißt es:Ulla Schmidt ist richtig nett. Ob Ärzte, Patienten oderKassenmanager – für jeden hat die Gesundheitsminis-terin ein aufmunterndes Wort. Mit pädagogischerFreundlichkeit wirbt sie für eine „Gesundheitspolitikdes Vertrauens“– das macht sie auch heute hier –oder lädt zum „Miteinander“ ein.Letzter Satz in diesem Absatz:Eine rheinische Frohnatur als wandelnde Beruhi-gungspille.Genau diesem Eindruck können wir uns nicht entziehen,denn immer dann, wenn auch von diesem Blatt die Fragegestellt wird, was möglicherweise konkret gemacht wer-den soll, um eine Wende einzuleiten, bleiben Sie im Ne-bulösen.Sie haben unmittelbar nach Amtseintritt angekündigt,Sie wollten die Kollektivhaftung der Ärzte abschaffen.Sie sagten wörtlich:Es bleibt bei der Grundaussage, dass berechenbarefinanzielle Stabilität letztlich nicht durch starre Bud-gets gewährleistet werden kann. ... Am allerwenigs-ten brauchen wir Instrumente, deren Wirksamkeit inder Praxis nicht unter Beweis gestellt werden kön-nen.Das ist ein Teil unseres Antrags, Sie haben aber kein gutesHaar daran gelassen bzw. nichts zu diesem Antrag gesagt.Sie tun seit Ihrem Amtsantritt so – das ist jetzt der füruns entscheidende Punkt –, als würde Rot-Grün nichtschon seit zwei Jahren regieren. Auf dem Empfang derBundesärztekammer vergangene Woche sagten Sie sogar,Sie hätten alles viel schlimmer vorgefunden als erwartet.Ist Frau Fischer gerade da? – Nein.
Sie wird sich sicher sehr für die Beurteilung dessen, wassie in den letzten zwei Jahren gemacht hat, interessieren,die von einem Mitglied der Koalitionsregierung geäußertwird. Aber Sie sind doch dafür verantwortlich, was sichtagtäglich in den Arztpraxen und Krankenhäusern ab-spielt. Mit Ihrer Budgetierungsorgie – wir haben das anden verschiedensten Stellen immer wieder kritisiert; auchHorst Seehofer hat das eben noch einmal deutlich ge-macht – sind Sie gescheitert. Jetzt muss Farbe bekanntwerden, was sich in Zukunft ändern soll.Es ist auch zu fragen, ob beim Bundeskanzler und beiIhnen in Vergessenheit geraten ist, dass durch IhrenDruck – auch das wurde heute schon angedeutet – die
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Regina Schmidt-Zadel14849
Einführung der Budgets in die Koalitionsvereinbarungaufgenommen worden ist. Sie werden sich jetzt überlegenmüssen, wie Sie aus dem eben schon geschilderten Di-lemma herauskommen wollen, um die Koalition auf-rechtzuerhalten.Nun haben wir gestern in den Abendstunden und heuteverschiedene Zitate gelesen. Ein Teil wird sicherlich de-mentiert werden oder ist schon dementiert worden, viel-leicht auch das, was Professor Rürup, einer der wich-tigsten Berater der Regierung, gesagt hat. Das mag ja sein.Aber was die Einzelnen von Ihnen gesagt haben, kann we-niger gut dementiert werden. Danach soll es im Gegensatzzu dem, was Frau Schmidt-Zadel eben angekündigt hat– sie sagte, es bleibe alles beim Alten – , eine grundsätz-liche Änderung und Wende geben.Herr Struck zum Beispiel, der Fraktionsvorsitzende,sagt, dass bis zur Wahl bloß keine umstürzlerischen Ge-sundheitsreformversuche unternommen werden sollen.Dies richtet er praktisch an Ihre Adresse.Herr Minister Müller, der Gralshüter der Wirtschafts-interessen, charakterisiert das, was in der Parteispitze beiIhnen als „harter Sprung für die SPD“ verklausuliert wird,folgendermaßen:Das wird eine Revolution; aber wir müssen ja ir-gendwann mal damit anfangen.Es wäre gut, wenn man einmal hören würde, was konkretdamit gemeint ist.
Vorsichtshalber haben Sie aus diesen Gründen denZeitpunkt für den angekündigten Kurswechsel offen ge-lassen. Weil man den Eindruck haben könnte, dass großeTeile dieser neuen Überlegungen bei uns auf fruchtbarenBoden fallen würden, haben wir Ihnen nun ganz kurz-fristig den Gefallen getan, diesen Gesetzentwurf als Hilfemit ins Gespräch zu bringen, damit Sie in Ihrer Koalitionvielleicht noch schneller daran arbeiten können, als Sie esursprünglich vorgesehen haben.Diese Budgets müssen weg. Die Multiple-Sklerose-Gesellschaft berichtet, dass von 60 000 Patienten, bei de-nen eine Therapie mit Interferon indiziert ist, wegen derfallbeilartigen Verhinderung durch das Budget zurzeit nur15 000 behandelt werden können. Die Deutsche Parkin-son-Vereinigung weist darauf hin, dass häufig im Kran-kenhaus medikamentös gut eingestellten Patienten vomambulant weiterbehandelnden Arzt aus Budgetgründendie Medikamente vorenthalten werden. – All das sind Tat-sachen, auf die Sie bisher aber nicht eingegangen sind.Darüber wundern wir uns, denn Sie führen doch offen-sichtlich – zumindest nach Ihren Ankündigungen – auchGespräche mit den Betroffenen. Und in Ihrer Koalitions-vereinbarung haben Sie den Patienten- bzw. Verbrau-cherinteressen Vorrang eingeräumt.Diese Beispiele ließen sich fortführen. Ich möchte abernoch gerne auf den vielstimmigen Chor – es ist ja einmisstönender Chor, weil jeder aus der Koalition etwas an-deres singt – eingehen und erläutern, welche Töne dortzurzeit angestimmt werden.Eike Hovermann – er ist ja nicht irgendjemand; herzli-che Gratulation zur Wahl zum stellvertretenden gesund-heitspolitischen Sprecher – hat in der Veröffentlichungder Betriebskrankenkassen unter dem Titel „Wettbewerbim Gesundheitswesen“ gesagt:Wir werden ein entscheidendes Thema nicht mehrausklammern können, nämlich die Diskussion überKernleistungen und Ergänzungsleistungen. Dabeiwerden wir uns wichtigen Fragen stellen müssen:...Was kann und soll in Zukunft solidarisch von derGemeinschaft der Versicherten bezahlt werden ...?Das bezieht sich also auf den Regelleistungskatalog.Was muss in Zukunft jeder selbst tragen ... ?Es ist doch interessant, dass das Dementi schnell, in dennächsten Tagen, erfolgt ist.Herrn Müller habe ich eben als Gralshüter bezeichnet.Zu Herrn Kirschner würde ich sagen: Er ist einer der letz-ten Betonfacharbeiter aus der Dressler-Riege.
Er sagt schon vorbeugend, die Debatte um eine Spaltungder Krankenversicherung in Grund- und Wahlleistun-gen zerstöre die Akzeptanz jedes Solidarsystems. Dasheißt, wir können mit Ihnen gar keine Gespräche führen,solange wir dafür keine Basis haben. Oder wollen Sie unszumuten, dass wir mit zehn, zwölf oder 15 verschiedenenMitgliedern Ihrer Koalition Einzelgespräche führen, umerst einmal zu erkunden, auf welchem Pfad sie sich be-wegen? Dies hat wenig Sinn.Inzwischen beklagen – das ist heute auch schon gesagtworden – die Ärzte – weil wir gerade von Budgets, derAbschaffung des Honorarbudgets und den damit verbun-denen Regressforderungen sprechen – im Osten großeSchwierigkeiten. Wir reklamieren schon seit Monaten infast jeder Ausschusssitzung, dass etwas geschehen muss,aber es geschieht nichts.Es ist nicht nur so, dass dort die Morbiditätsrate höherist als bei uns, dass dort also mehr geleistet werden muss.Nein, allein schon die Zahl der Patienten pro Arzt ist inden neuen Bundesländern größer als hier. Infolgedessenmüssen sie wesentlich mehr arbeiten, bekommen aber we-niger Honorar und müssen obendrein noch einen Ab-schlag hinnehmen. Das muss unbedingt geändert werden.
Wenn Vertreter unserer Seite das Wort „Eigenverant-wortung“ in den Mund nehmen, ruft Herr Kirschner meis-tens „Zuzahlung!“.
Das ist uralt und falsch. Sie können sich nicht vorstellen,dass Menschen Eigenverantwortung übernehmen kön-nen, ohne automatisch zu Mehrzahlungen gezwungen zusein. Die Menschen wollen entscheiden, welche Versor-
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Wolfgang Lohmann
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gung, welche Sicherheit sie für ihr Geld einkaufen. Siewollen möglicherweise ein geringeres Risiko abdeckenund dafür einen geringeren Beitrag zahlen. Warum sollensie das nicht können?
Frau Schmidt, Ihr Chef, Herr Schröder, der Ihnen auchdie Verhaltensmaßregeln mit auf dem Weg gegeben hat– was auch richtig ist –, hat in dem Aufsatz „Zivile Bür-gergesellschaft“ auch geschrieben, dass ein Gesundheits-wesen ohne finanzielle, geistige und in diesem Fall buch-stäblich körperliche Selbstbeteiligung der Versichertennicht mehr vorstellbar ist.
Das ist eine richtige Erkenntnis, die aber bisher von Ihnenimmer diffamiert wurde und keineswegs zu einem Um-denken geführt hat.
Herr Kol-
lege Lohmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Ab-
geordneten Dr. Seifert?
Ja.
Herr Kollege Lohmann, können
Sie mir und anderen vielleicht erklären, wie ein System
solidarisch funktionieren soll, bei dem sich jemand dann,
wenn er gesund ist, überlegt, für welche Krankheiten er
sich versichert und für welche nicht? In Ihrer Rede haben
Sie gesagt, dass gerade das solidarische System ein wich-
tiger Bestandteil unseres Gesundheitswesens sei. Wie soll
dies funktionieren, wenn sich jemand aussuchen kann, für
welche Krankheiten er sich absichert? Sie wissen ganz ge-
nau, dass das Prinzip der solidarischen Versicherung darin
besteht, dass diejenigen, denen es gut geht, mehr einzah-
len, als sie herausbekommen, und diejenigen, denen es
schlecht geht, mehr herausbekommen, als sie einzahlen.
Anders kann es nicht funktionieren.
Sie
versuchen mich nun auf den Pfad der Differenzierung
zwischen Kern- und Wahlleistungen zu führen und wol-
len, dass ich einzelne Krankheiten benenne. Das ist so
nicht richtig. Es geht um Folgendes: Es gibt heute einen
Leistungskatalog. Jeder weiß, welche Leistungen dieser
umfasst. Dieser Katalog enthält so genannte Kernleistun-
gen, die unbedingt Bestandteil der Krankenversicherung
bleiben müssen, damit nicht jemand, der sie abgewählt
hat, in einigen Jahren sagen kann: Ich habe die entspre-
chende Krankheit und muss nun behandelt werden, und
zwar zulasten der Solidargemeinschaft. – Das andere sind
Wahlleistungen oder – wie Herr Hovermann sagt – Zu-
satzleistungen. Nun soll der Versicherte nicht entscheiden
müssen, ob er Leistungen hinzuwählt und dafür zusätzlich
bezahlt, sondern sagen können: Auf diesen Teil kann ich
verzichten und habe dafür einen niedrigeren Beitrag zu
zahlen. Das ist eine ökonomische Eigenverantwortung.
Anders ausgedrückt: Warum soll es nicht möglich sein
– das stand bereits in unserem Gesetz –, zum Beispiel
500 DM pro Jahr selbst an Kosten zu übernehmen, wenn
dadurch weniger Beiträge bezahlt werden müssen, wie
das bei einer privaten Krankenversicherung immer schon
der Fall gewesen ist? Warum wollen Sie den Menschen
die Möglichkeit der freien Entscheidung, der Wahl und
ein Mehr an Eigenverantwortung nicht geben? Das ist die
Frage.
Die Menschen werden nicht gezwungen, dies zu machen,
sondern es ist eine Option, die ihnen geboten wird.
Ich will in der letzten Redeminute, die mir bleibt, noch
etwas ansprechen: Liebe Frau Schmidt, Sie hätten die
Möglichkeit gehabt – Sie haben das nicht getan, was ich
bis zu einem gewissen Grad verstehen kann –, zu dem,
was bei vielen Kollegen und wichtigen Kräften Ihrer Ko-
alition im Gespräch ist, Stellung zu nehmen. Wenn das
heute nicht geschieht, dann erwarten wir, dass Sie dies in
den nächsten Tagen tun, spätestens am 7. März dieses Jah-
res, an dem Sie – immerhin sieben Wochen nach Ihrer Ver-
eidigung – dem Ausschuss Bericht erstatten werden. Wir
möchten gerne wissen, was unter einer „Grundversor-
gung“ zu verstehen ist, von der heute Ihre Kollegen ge-
sprochen haben. Gleiches gilt, wenn von einem Verzicht
auf Zahnersatz oder Psychotherapie die Rede ist. Ich zi-
tiere Sie selbst, Frau Schmidt, und keinen anderen: Ich
meine die Unfallkosten bei Risikosportarten. Übrigens
betreibe auch ich eine Risikosportart.
Sie sagten: Wer das macht, muss sich nebenbei versi-
chern.
Wenn Sie dies vorhaben, sagen Sie dies bitte deutlich.
Dann werden wir gemeinsam darüber sprechen und ein
Gesamtkonzept erarbeiten, bei dessen Diskussion sich un-
sere Standpunkte annähern können. Aber Ihre Freund-
lichkeit allein reicht nicht. Sie haben schon die ganze
Zeit – das ist mein letzter Satz – den Mund gespitzt. Ich
habe bei anderer Gelegenheit Frau Fischer gesagt: Den
Mund zu spitzen reicht nicht, es muss auch gepfiffen wer-
den. Nur dann gibt es Antworten.
Vielen Dank.
Für die
Fraktion der F.D.P. spricht nun der Kollege Detlef Parr.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Oecher Tön, dat is schön, Frau Ministerin.Als Düsseldorfer könnte ich eigentlich über den rheini-schen Ton froh sein, der die gesundheitspolitische Musikin Zukunft ausmacht. Aber die Frage bleibt auch nach
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Wolfgang Lohmann
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Ihrer Antrittsrede, Frau Ministerin, weiter unbeantwortet,ob Sie die schrillen Dissonanzen der Vergangenheit wirk-lich abstellen können.
Auch wenn in Ihrer Heimatstadt Aachen soeben GuidoWesterwelle den „Orden wider den tierischen Ernst“ er-hielt – ich will kein Spaßverderber sein –, kommen wir ander Feststellung nicht vorbei, Herr Kirschner: Die Lageim Gesundheitswesen ist bitterernst. Mit Schönredereikommen wir nicht weiter.
Wir haben durch die Rolle rückwärts, Frau Schmidt-Zadel, der grünen Amtsvorgängerin von Frau Schmidtzweieinhalb Jahre Zukunft verspielt.
Erinnern wir uns, welche zarten Pflänzchen der Eigen-verantwortung, der Wahlmöglichkeiten und des Wett-bewerbs Ihre grüne Vorgängerin konzeptions- und gedan-kenlos zertreten hat. Ich nenne einige Beispiele: die freieEntscheidung der gesetzlich Versicherten für die Kosten-erstattung und damit den Durchblick des Patienten auf dietatsächlichen Kosten eines Arztbesuches, den möglichenVersicherungsschutz mit Selbstbehalt und Beitragssen-kungen,
Beitragsrückerstattungen, eine berechenbare Bezahlungärztlicher Leistungen mit festen Punktwerten und Preisen.Wo sonst gibt es in Deutschland einen Berufsstand, der et-was leistet und erst später erfährt, was ihm für diese Leis-tung gezahlt wird?
Für manches mussten wir uns sogar beschimpfen lassen.Wir werden, Dieter Thomae, die Last des Transports über-zeugender Ideen natürlich gerne weiter auf uns nehmen.
Gute Medizin schmeckt manchmal bitter. Wir müssenden Versicherten endlich die Wahrheit sagen: Mit be-grenzten Mitteln sind Leistungen nicht unbegrenzt zu be-zahlen.
– Doch, das sagen Sie. Sie gaukeln den Versicherten et-was vor, Herr Kirschner.Wir werden immer älter. Der medizinische Fortschrittist rasant und nicht zum Nulltarif zu haben.Ordnen wir das Verhältnis von Subsidiarität und Soli-darität neu! Reden Sie nicht nur von Solidarität, sondernauch von Subsidiarität. Trauen wir allen Beteiligten imGesundheitswesen mehr Eigenverantwortung und eigeneEntscheidungen zu! Herr Seehofer hat das Neuordnungs-gesetz von 1997 angesprochen. Stellen wir dieses Gesetzauf den Prüfstand und entwickeln wir es in den Punktenweiter, wo es angefangen hat, sich zu bewähren. Dabeigehören Verantwortung und Transparenz zusammen. DasBewusstsein für die Kostenentwicklung, die alle Beteilig-ten beeinflussen können, muss geschärft werden. Es mussein Wettbewerb der Krankenkassen um Qualität – oft an-gesprochen – durch Flexibilisierung und echte Gestal-tungsrechte in den Tarifen und Versorgungsstrukturen inGang gesetzt werden.Eines steht auch für uns außer Frage: Auch in Zukunftsollen Bürger im Krankheitsfall die notwendige medizi-nische Versorgung erhalten. Niemandem darf die medi-zinisch notwendige Versorgung versagt werden – wie diesIhre Budgetierungspolitik zur Folge hat –, nur weil er überzu wenig Einkommen verfügt. Genauso gilt aber, dassnicht alles, was wünschenswert ist, über die sozialen Si-cherungsnetze finanziert werden kann.
Frau Ministerin, ein letztes Wort: Bedenken Sie bei al-len neuen Überlegungen, dass wir eine Gesundheitspoli-tik für mündige Versicherte und freie Heilberufe machen.
Auch den Forschungsstandort Deutschland dürfen wir da-bei nicht vergessen. Ärzte, Apotheker und Therapeutendürfen nicht zu Kassenangestellten oder Staatsbeschäftig-ten degradiert werden.
Die Versicherten sollen nicht länger Zwangsversicherteohne eigene Gestaltungsmöglichkeiten bleiben.
Abschließend, Frau Schmidt-Zadel, erinnere ich an einWort Ihres Kanzlers, das wir alle noch im Ohr haben: Wirwollen nicht alles anders, aber vieles besser machen. –Diese Bundesregierung hat in der Gesundheitspolitik bisheute fast alles anders, aber nichts besser gemacht. Also:Ballonmütze ab, ideologische Scheuklappen weg und Al-ternativen erkennen! Wir sind zu einem sachlichen Dialogbereit.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Detlef Parr14852
Als letzter
Redner in dieser Debatte spricht der Kollege Klaus
Kirschner für die SPD-Fraktion. Er ist nicht Beton-
facharbeiter, sondern Werkzeugmacher und Mechaniker-
meister.
Herr Präsident! Auch dermir zugedachte Beruf ist keine Schande, ich wollte nurkorrekterweise die Tatsache dem Kollegen Lohmanndurch meinen Zuruf deutlich machen.Was die neue Politik angeht: Lieber Herr Kollege Parr,ich denke an den Gewürzpflanzenanbau in Westfalen-Lippe. Das ist ja die neue Gesundheitspolitik.
Als Fazit dieser Debatte will ich feststellen: Sie vonCDU/CSU und F.D.P. haben das Ziel – das kommt sowohlim Gesetzentwurf als auch in Ihrem Antrag zum Aus-druck –: Es soll mehr Geld für die Leistungserbringerfließen. Herr Kollege Seehofer, das ist Ihre Botschaft. Sieblenden aber aus, wer es bezahlen soll.
– Doch, sicher. Ich habe nichts davon gehört.Lassen Sie mich noch eines sagen: Die einzige Bot-schaft, die ich von Ihnen vernommen habe, ist die Aus-grenzung des Zahnersatzes aus der vertragszahnärztlichenVersorgung. Dazu kann ich nur sagen: Diagnose falschund Therapie verfehlt. Wir haben das in der Vergangenheiterlebt.Es ist unbestritten, dass eine moderne Gesundheits-versorgung viel Geld kostet. Man kann doch nicht so tun,Herr Kollege Parr, als ob Gesundheit zum Nulltarif zu ha-ben sei. Ich bitte Sie: Die GKV hat 1999 256 Milliar-den DM ausgegeben, 2000 260 Milliarden DM und wirdin diesem Jahr voraussichtlich 266 Milliarden DM ausge-ben. Wer kann denn in diesem Zusammenhang von einemNulltarif reden?
– Wo steht denn die Bundesrepublik Deutschland?Herr Kollege Lohmann, wenn Sie die Gesundheitsmi-nisterin Schmidt zitieren, tun Sie das bitte im richtigenZusammenhang. Wenn Sie sie mit der Aussage zitieren,sie habe die Verhältnisse schlimmer vorgefunden, so mussman den Zusammenhang sehen. Sie hat gesagt, das Ganzesei ein Haifischbecken, in dem um Partikularinteressengestritten werde, und dieser Umstand sei viel schlimmer,als sie sich das gedacht habe. Ich bitte Sie, in dieser Aus-sage keine Abgrenzung – wie das von Ihrer Seite zwarversucht wird, wie es aber nicht gemeint ist – zu ihrer Vor-gängerin zu sehen.Ich frage noch einmal: Wo stehen wir? Die Bundesre-publik Deutschland gibt in Europa, gemessen am Brut-toinlandsprodukt, das meiste Geld für das Gesundheits-wesen aus. Wir stehen damit weltweit an zweiter Stelle.Deshalb kann die Frage auch nicht lauten: Muss mehrGeld in das Gesundheitssystem hineingesteckt werden?Die entscheidende Frage lautet vielmehr: Wie viel Geldwird bei der Diagnostik und bei den Therapien durch nichtnotwendige, nicht indizierte und nicht qualitätsgesicherteLeistungen – auch bedingt durch Überkapazitäten undDoppelstrukturen –, die deswegen nicht solidarisch zu fi-nanzieren sind, fehlgeleitet?
Sie können doch nicht die Tatsache ignorieren, dass wirin Deutschland die höchste Bettendichte mit der längstenVerweildauer in den Krankenhäusern, die höchste Zahl anRöntgenuntersuchungen, die meisten Linksherzkatheter-untersuchungen und mit die höchsten Arzneimittelkos-ten haben. Sie tun so, als ob die Sparmöglichkeiten beiden Medikamenten ausgereizt seien.Ich möchte jetzt auf Ihre Angstmacherei mit der Ratio-nierung eingehen. Ein Kostenvergleich bei Blutdrucksen-kern in Baden-Württemberg
– lieber Kollege Dieter Thomae, ich kann auch Rhein-land-Pfalz als Beispiel nehmen – macht deutlich
– hören Sie doch einmal genau zu; Sie können ja versuchen,das, was ich Ihnen jetzt sagen werde, zu widerlegen –, dasszum Beispiel durch die Verordnung von Generika und denVerzicht auf teure Analogpräparate, die in der Fachspra-che Metoos heißen, alleine im zweiten Quartal 2000 nurbei den kostenintensivsten Arzneimitteln rund ein Drittelder Kosten,
nämlich sage und schreibe 46Millionen DM, einzusparengewesen wären. Hätte man 1999 beim ACE-HemmerCaptopril in allen KV-Bereichen – zu diesem Ergebniskommt das Wissenschaftliche Institut der Ortskranken-kassen bei der Auswertung des Arzneimittelmarktes –zum günstigsten Tagestherapiepreis substituiert, ergäbesich ein theoretisches Einsparpotenzial im gesamten Be-reich der GKV von fast 140 Millionen DM.
Beim Betarezeptorenblocker Metoprolol wären es rund177 Millionen DM gewesen. Meine Damen und Herrenvon der Opposition, in welcher Welt leben Sie denn, dassSie solche Fakten nicht zur Kenntnis nehmen?
Ich möchte auch etwas zur Versorgung der Diabetikersagen, die der Kollege Seehofer bereits angesprochen hat.Der MDK Baden-Württemberg hat in einer Untersuchungfestgestellt, dass im zweiten Quartal 2000 in Baden-Würt-temberg 10,63 Millionen DM für Kunstinsuline, Amarylund Glucobay ausgegeben wurden. Hätte man auf diepreisgünstigsten Generika und auf standardisierte Thera-pien mit bewährten Diabetesmedikamenten zurückge-griffen, hätte man 7 Millionen DM einsparen können.Wenn Sie sich diese Zahlen einmal vor Augen führen,
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dann können Sie mit der Rationierung doch nicht denTeufel an die Wand malen.
– Darauf komme ich gleich zu sprechen. – Der KollegeThomae hat gefragt: Wie sieht es mit der Deregulierungaus? Der Kollege Seehofer, der nicht mehr anwesend ist
– Entschuldigung, ich habe ihn nicht gesehen; ich nehmealles zurück und behaupte das Gegenteil –, hat von Regu-lierungswut gesprochen. Lieber Kollege Thomae und lie-ber Kollege Seehofer, wie sieht es denn eigentlich aus?Welcher andere Markt ist so reguliert wie der Arzneimit-telmarkt? Wie lautet denn eure Antwort? – Bei euchherrscht Stillschweigen.
– Haben Sie schon einmal etwas von Marktwirtschaftgehört? Hier könnte man marktwirtschaftliche Instru-mente auf diesem Markt einführen.
Aber Sie wissen ganz genau, dass man dann natürlich aufgewaltigen Widerstand stößt, weil damit wirtschaftlicheInteressen berührt sind.Ich möchte noch auf ein paar andere Bereiche einge-hen, in denen auch Geld verschwendet wird. Die Deut-sche Röntgengesellschaft beziffert die Ausgaben für nichtnotwendige Röntgenaufnahmen auf 800 Millionen DMpro Jahr. In einem Punkt muss ich dem Kollegen Seehoferimmer wieder Recht geben. Er hat früher einmal das Wirt-schaftlichkeitspotenzial in der GKVauf 25 Milliarden DMgeschätzt. Ich bin der Meinung, dass diese Einschätzungnach wie vor aktuell ist.Sie blenden neben dem Wirtschaftlichkeitsaspekt auchden Qualitätsaspekt weitestgehend aus. Dies wird zuneh-mend zu einem Kernproblem des deutschen Gesundheits-wesens. In der Lebenserwartung – meine Damen und Her-ren, daran müssen wir uns orientieren – nehmen wirlediglich einen Mittelplatz ein. Das müsste doch auch beiIhnen Nachdenken erzeugen.Das zum 1. Januar 2000 in Kraft getretene Gesund-heitsreformgesetz – jetzt setzen wir die Reformen Schrittfür Schritt um – bringt für die Bürgerinnen und Bürgermehr Qualität im Gesundheitswesen. Das gilt beispiels-weise für die Wiedereinführung der von Ihnen gestriche-nen Prävention. Die haben Sie doch gestrichen. Wie vielwar Ihnen Prävention denn wert?
– Was heißt, das stimmt nicht? Haben Sie den § 20 nichtgestrichen?
– Na also.Ferner haben wir die durchgängige Verpflichtung derLeistungserbringer zur Qualitätssicherung; an entspre-chenden Richtlinien wird gearbeitet. Dann haben wir in§ 140 die integrierte Versorgung weiterentwickelt. Daswird zu einer Verbesserung in der Versorgung führen.
Wir haben die Arzneimittelpositivlistewieder ins Ge-setz geschrieben. Sie können jetzt einmal beweisen, obSie für mehr Qualität sind, indem Sie dafür sorgen, dassdies im Bundesrat auch durchkommt.
Der Kollege Seehofer hat die Positivliste Herrn ProfessorVogel, dem damaligen Hauptgeschäftsführer des BPI, zuseinem 60. Geburtstag geschreddert überreichen lassen.Hätten Sie diese Positivliste – wir haben sie in Lahnsteingemeinsam verabredet – weitergeführt, dann wären wir,was Qualität und mehr Wirtschaftlichkeit in der Arznei-mittelversorgung angeht, ein gewaltiges Stück weiter.
Meine Damen und Herren, ich erinnere daran, dass wireinen Koordinierungsausschuss installiert haben, derjährlich auf der Grundlage evidenzbasierter LeitlinienKriterien zur Behandlung von zehn Krankheiten zu be-schließen hat. Das wird ebenfalls die Qualität verbessern.
Herr Kol-
lege Kirschner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Zöller?
Ja, bitte.
Herr Kollege
Kirschner, halten Sie es für richtig, wenn in einer Positiv-
liste nur noch vier Firmen vertreten sind, aber Hunderte
von mittelständischen Unternehmen nicht erscheinen?
Halten Sie eine solche Positivliste für sinnvoll?
Lieber Herr Kollege Zöller – –
– Nein, mir ist der Hals trocken geworden.
– Nein, nicht vor Schreck. So schnell lasse ich mich nichterschrecken.Herr Kollege Zöller, Sie wissen doch genau, dass dievon uns in Lahnstein beschlossene Positivliste – –
– Sehen Sie, das ist ja schon die Antwort: Das wargrundsätzlich ein Fehler. Sie haben sich davon verab-
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schiedet, wie Sie sich auch von dem dahinter stehendenKonzept und von einer ganzen Reihe von Dingen verab-schiedet haben.
– Nein, es stimmt ja auch nicht, dass am Schluss vier Arz-neimittelfirmen übrig bleiben. Das ist doch überhauptnicht wahr.
– Entschuldigen Sie bitte: In der Arzneimittelpositivlistewerden – das wissen Sie genau – die Wirkstoffe festge-legt.
Die eben auch von Ihnen genannte Zahl ist eine Horror-zahl, die einfach nicht stimmt.
Meine Damen und Herren, wenn Sie Richtgrößenwollen, dann erinnere ich Sie daran, dass es heute schonRichtgrößen gibt, allerdings budgetbegleitet. Die Prüfver-einbarungen werden in vielen KVen – auch das müssenSie zur Kenntnis nehmen – beim jeweiligen Sozialgerichtbeklagt. In Hessen drohen 10 bis 15 Prozent der nieder-gelassenen Ärzte Richtgrößenprüfungen. Da können Siesich einmal vorstellen, was das bei 120 000 niedergelas-senen Ärzten an Sozialgerichtsverfahren und vielen Din-gen mehr bedeutet. Dieses Konzept funktioniert dochnicht.
Was die Regelleistungsvolumina angeht, die Sie for-dern, so geht der Gesetzentwurf ins Leere und ist pureKosmetik, da die Selbstverwaltung heute schon nach derbestehenden Gesetzeslage dies vereinbaren kann. Ihr Ge-setzentwurf entspricht der Rechtslage des Jahres 1997.Auf der Grundlage des 2. NOG sind jedoch in den KVenkeine Vereinbarungen über Regelleistungsvolumen zu-stande gekommen, da sie auch damals nicht finanzierbarwaren und der Grundsatz der Beitragssatzstabilität entge-gensteht.Meine Damen und Herren, kurzum: die Vorgabe festerSteigerungsraten der Gesamtvergütung – daran möchteich Sie auch noch einmal erinnern – galt mit dem Solida-ritätsgesetz nur für ein Jahr, für das Jahr 1999. Bereits seitdem Jahre 2000 ist die Selbstverwaltung wieder frei, sek-toral andere Margen zu vereinbaren, wenn sie denn mitdem Grundsatz der Beitragssatzstabilität vereinbar sind.Ich kann es daher nicht anders sagen: Ihr Gesetzentwurfist populistische Spiegelfechterei.
Ich schließedie Aussprache.Wir kommen nun zu den Abstimmungen.Wir stimmen zunächst über die Beschlussempfehlungdes Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Frak-tion der F.D.P. zur Abschaffung der Arznei- und Heilmit-telbudgets auf Drucksache 14/5319. Der Ausschuss emp-fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3299 abzulehnen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istmit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen undPDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. ange-nommen.In Bezug auf Tagesordnungspunkt 4 b wird interfrak-tionell die Überweisung der Vorlage auf Drucksa-che 14/5225 an den in der Tagesordnung aufgeführtenAusschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden?– Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-sen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 k sowieZusatzpunkt 2 auf. Es handelt sich um Überweisungen imvereinfachten Verfahren ohne Debatte:20a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die An-passung von Dienst- und Versorgungsbezügen inBund und Ländern 2000
– Drucksache 14/5198 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und SozialordnungVerteidigungsausschussHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOb) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Sicherstellung derNachsorgepflichten bei Abfalllagern– Drucksache 14/4926 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forstenc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-zung der UVP-Änderungsrichtlinie, der IVU-Richtlinie und weiterer EG-Richtlinien zumUmweltschutz– Drucksache 14/5204 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Uniond) Beratung des Antrags der Abgeordneten DagmarSchmidt , Brigitte Adler, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
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SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller
, Rezzo Schlauch und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENFörderung von Entwicklungspartnerschaft mitderWirtschaft/Vergabe eines Preises fürUnter-nehmerinnen und Unternehmer– Drucksache 14/3810 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologiee) Beratung des Antrags der Abgeordneten KatherinaReiche, Volker Rühe, Dr. Friedbert Pflüger, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUFür eine zukunftsgerichtete deutsch-polnischeFreundschaft– Drucksache 14/4162 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
InnenausschussAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und Medienf) Beratung des Antrags der Abgeordneten KarlLamers, Christian Schmidt , HartmutKoschyk, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSUChancen des deutsch-polnischen Nachbar-schaftsvertrages fürVersöhnung stärker nutzen– Drucksache 14/5138 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
InnenausschussAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und Medieng) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD unddes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENFür eine gemeinsame Zukunft: Deutsche undPolen in Europa– Drucksache 14/5244 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
InnenausschussAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und Medienh) Beratung des Antrags der Abgeordneten EduardLintner, Dirk Fischer , Dr.-Ing. DietmarKansy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUErlaubnis zum Führen von Schienenfahrzeugen– Drucksache 14/4933 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unioni) Beratung des Antrags der Abgeordneten HartmutKoschyk, Arnold Vaatz, Christian Schmidt
, Karl Lamers und der Fraktion der CDU/
CSUFrieden, Stabilität und Einheit auf der koreani-schen Halbinsel– Drucksache 14/4936 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungj) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. HelmutHaussmann, Ulrich Irmer, Ina Albowitz, weitererAbgeordneter und der Fraktion der F.D.P.Die russische Exklave Kaliningrad/Königsbergunterstützen– Drucksache 14/5141 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionk) Beratung des Antrags der Abgeordneten HeidiLippmann, Eva Bulling-Schröter, WolfgangGehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder PDSAktuelle Menschenrechtssituation in derTürkei– Drucksache 14/5165 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussVerteidigungsausschussAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten WernerLensing, Ilse Aigner, Dr. Maria Böhmer, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUZukunftsorientierte Weiterbildung durch Eigen-verantwortung und Selbstorganisation – EinParadigmenwechsel– Drucksache 14/5312 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Kultur und MedienInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Die Vorlage auf Drucksache 14/5204, Tages-ordnungspunkt 20 c, soll abweichend von der Tagesord-nung zusätzlich an den Rechtsausschuss und an den In-nenausschuss, jedoch nicht an den Ausschuss für dieAngelegenheiten der Europäischen Union überwiesenwerden. – Das Haus ist damit einverstanden. Dann sinddie Überweisungen so beschlossen.Wir kommen zur Beschlussfassung über Vorlagen, zudenen keine Aussprache vorgesehen ist.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters14856
Tagesordnungspunkt 21 a:Zweite Beratung und Schlussabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zu dem Europäischen Überein-kommen vom 5. März 1996 über die an Verfah-ren vor dem Europäischen Gerichtshof fürMenschenrechte teilnehmenden Personen– Drucksache 14/4298 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 14/5330 –Berichterstattung:Abgeordnete Hedi WegenerNorbert RöttgenHans-Christian StröbeleJörg van EssenDr. Evelyn KenzlerDer Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksa-che 14/5330, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte die-jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zuerheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 21 b:Zweite Beratung und Schlussabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zu den Änderungen vom 1. Oktober1999 der Satzung der Internationalen Atom-energie-Organisation– Drucksache 14/4454 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 14/5183 –Berichterstattung:Abgeordneter Volker Jung
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-fiehlt auf Drucksache 14/5183, den Gesetzentwurf anzu-nehmen. Wer zustimmen möchte, den bitte ich, sich zu er-heben. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Ich gehe davonaus, dass auch diejenigen, die sich an dieser Abstimmungnicht beteiligt haben, damit zum Ausdruck bringen woll-ten, dass sie zustimmen. Der Gesetzentwurf ist angenom-men.Tagesordnungspunkt 21 c:Zweite Beratung und Schlussabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zu dem Zusatzabkommen vom 19. Mai1999 zum Europipe-Abkommen vom 20. April1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschlandund dem Königreich Norwegen über den Trans-
Bundesrepublik Deutschland– Drucksache 14/4300 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 14/5184 –Berichterstattung:Abgeordneter Wolfgang Börnsen
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-fiehlt auf Drucksache 14/5184, den Gesetzentwurf anzu-nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-stimmen möchten, sich zu erheben. – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Auch dieser Gesetzentwurfist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 21 d:Zweite Beratung und Schlussabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zu dem Vertrag vom 3. Juni 1999zwischen der Bundesrepublik Deutschland undder Tschechischen Republik über das Grenzur-kundenwerk der gemeinsamen Staatsgrenze– Drucksache 14/4707 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti-gen Ausschusses
– Drucksache 14/5187 –Berichterstattung:Abgeordnete Petra ErnstbergerKarl LamersRita GrießhaberUlrich IrmerWolfgang GehrckeDer Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksa-che 14/5187, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen möchten,sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 21 e:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-logie zu der Verordnung der Bun-desregierungZweiundfünfzigste Verordnung zur ÄnderungderAußenwirtschaftsverordnung– Drucksachen 14/4389, 14/4571 Nr. 2.1, 14/5182 –Berichterstattung:Abgeordneter Rolf KutzmutzDer Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verordnungauf Drucksache 14/4389 nicht zu verlangen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen desHauses bei Enthaltung der PDS angenommen.Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Peti-tionsausschusses.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters14857
Tagesordnungspunkt 21 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 240 zu Petitionen– Drucksache 14/5257 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 240 ist mit den Stimmendes Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen.Tagesordnungspunkt 21 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 241 zu Petitionen– Drucksache 14/5258 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 241 ist einstimmig ange-nommen.Tagesordnungspunkt 21 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 242 zu Petitionen– Drucksache 14/5259 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 242 ist mit den Stimmendes Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.Wir kommen zum Zusatzpunkt 3 a:Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-sprache
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung der Europäischen Sozialcharta– Drucksache 14/4671 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Sozialordnung
– Drucksache 14/5327 –Berichterstattung:Abgeordneter Johannes SinghammerDer Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung emp-fiehlt, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-tung einstimmig angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist einstimmig angenommen.Zusatzpunkt 3 b:Beratung des Antrags der BundesregierungZulassung einerAusnahme vom Verbot der Zu-gehörigkeit zu einem Aufsichtsrat für Mitglie-der der Bundesregierung– Drucksache 14/5271 –Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 14/5271? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag isteinstimmig angenommen.Ich rufe nunmehr den Zusatzpunkt 4 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der CDU/CSUHaltung der Bundesregierung zu den von grü-nen Kernkraftgegnern angekündigten Protes-ten bei Wiederaufnahme der Castortrans-porteIch gebe für den Antragsteller, also für die CDU/CSU-Fraktion, zunächst dem Kollegen Dr. Paul Laufs das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Demnächst, aber erst nach den Land-tagswahlen, wird es wieder Atomtransporte in Castor-behältern geben.
Es wäre ehrlicher, Transporte schon ab sofort durchzu-führen. Sie kommen aus Frankreich, gehen nach Gorlebenund werden in ausschließlicher Verantwortung der Bun-desregierung durchgeführt. Der BundesumweltministerTrittin sieht keine Gefahren durch radioaktive Strahlun-gen für Begleitpersonal und Umwelt.
Das ist gut.Wir erinnern uns an die 90er-Jahre, als in großer ZahlCastortransporte stattfanden, die ebenfalls in jeder Hin-sicht gefahrlos waren, aber von der rot-grünen Anti-Atom-Bewegung zum Inbegriff des Schreckens und derLebensgefahr erklärt wurden.
Bündnis 90/Die Grünen hat damals zu Massenprotestenaufgerufen. Namhafte Politiker haben Gewalt befürwor-tet und gebilligt. Elisabeth Altmann hat als grüne Bun-destagsabgeordnete zur Demontage von Schienen aufge-rufen.
Die bündnisgrüne Europaabgeordnete Undine vonBlottnitz fand in einem Fernsehinterview das Lockernvon Schrauben an Gleisen total in Ordnung. Der ehema-lige grüne Bundestagsabgeordnete Wolfgang Ehmke for-derte Sabotage und Bandenbildung.
Andere Grüne riefen zur Blockade von Bahnanlagen auf.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters14858
Damals haben wir darauf gewartet, dass der Sprecherder grünen Fraktion Joseph Fischer seine gewaltgeneigtenKolleginnen und Kollegen öffentlich abmahnt und zurOrdnung ruft. Er hat es nicht getan; wir haben nichtsvernommen. Tatsächlich kam es damals zu gewalttätigenAusschreitungen und nahezu bürgerkriegsähnlichen Zu-ständen: Schienen wurden demontiert, Bahndämme un-terminiert, auf Oberleitungen wurden Krampen geworfenund Personen verletzt. Mehr als 30 000 Polizei- und Bun-desgrenzschutzbeamte mussten aufgeboten werden.Minister Trittin spricht heute vom Missbrauch der Polizei;damals marschierte er noch selber gegen den Castor, hatdie Proteststimmung aufgeheizt und die Bundesrepublikals Polizeistaat diffamiert.
Was wir vor vier Jahren erlebt haben, darf sich nichtwiederholen. Wir fordern die Bundesregierung auf, ohnejede augenzwinkernde Sympathie alle Aktionen entschie-den zu verurteilen,
die zu Blockaden, Transportgefährdungen und Gewaltführen können. Proteste gegen seine eigenen Castortrans-porte, so meint Minister Trittin heute, seien unbegründetund unklug. Nach allem, was sich in Diskussionen, in An-kündigungen in Presse und Internet abzeichnet, muss manfeststellen: Die Atomblockierer lassen sich nicht gängeln,von den Regierungsgrünen schon gar nicht.
Selbst Trittins Parteifreunde wollen protestieren, gegenihn auf die Straße gehen und friedliche, fantasievolle Sitz-blockaden veranstalten, wie es euphemistisch ausge-drückt wird.
Es braut sich etwas zusammen.
Die Bürgerinitiative vor Ort will die gesamte 56 Kilome-ter lange Bahnstrecke von Lüneburg nach Gorleben alsAktionsfläche blockieren.Nun muss Minister Trittin durchsetzen, was er gesternselbst kompromisslos bekämpft hat. Wir werden mit Inte-resse verfolgen, wo er sich aufhält, wenn mithilfe desBundesinnenministers und von Landesinnenministern dieStrecke für die Atomtransporte geräumt wird.
Die Geister, die er rief, wird er nun nicht los. Deshalb willMinister Trittin die Zahl der Transporte reduzieren, kostees, was es wolle. Davon sind die innerdeutschen Trans-porte in die regionalen Zwischenlager betroffen.Der Zweck heiligt offenbar die Mittel. Das gilt auch fürdie rechtswidrige bundesaufsichtliche Weisung an dasLand Baden-Württemberg vom 22. Januar. In Neckar-westheim dürfen die zum Transport bereitgestelltenBrennelemente plötzlich nicht mehr zu der am Standortzugelassenen Umgangsmenge gerechnet werden. So wirdPlatz geschaffen und werden Atomtransporte vermieden.Das ist reine Willkür und in eklatantem Widerspruch zumAtomgesetz und zu den Genehmigungsbescheiden. Hierwird für politische Ziele das Recht manipuliert und in-strumentalisiert.Am 14. Juni 2000 wurde zwischen der Bundesregie-rung und den Energieversorgern vereinbart, dass Castor-transporte bis zur Inbetriebnahme standortnaher Zwi-schenlager in einem Zeitraum von längstens fünf Jahrennicht behindert werden. Auch diese Zusage gilt offenbarnicht mehr.Herr Trittin, Sie haben diesen Staat früher aktiv und ve-hement bekämpft. In Ihrem Ministeramt sind Sie heute inder Pflicht, Völkerrecht und Gesetz zu achten und denRechtsstaat zu verteidigen. Daran werden wir Sie messenund Sie in den kommenden Wochen sehr kritisch beglei-ten.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Arne Fuhrmann.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Ich bin überrascht, Herr Laufs,dass Sie heute ohne die sonstige Polemik ausgekommensind
und sich darum bemüht haben, so etwas wie Sachkompe-tenz in diesen Raum hineinsprudeln zu lassen.Allerdings habe ich bei der ganzen Geschichte etwasvermisst, nämlich erstens eine Begründung dafür, wiesoSie diese Aktuelle Stunde – vor allem unter der von Ihnengewählten Überschrift – beantragt haben.
Zweitens habe ich vermisst, dass Sie irgendwann ein-mal – das ist aber wahrscheinlich von der Opposition indiesem Haus zurzeit überhaupt nicht zu erwarten – daraufeingehen, dass es so etwas wie einen Rechtsstaat gibt, indem auch Dinge, die Ihnen nicht gefallen, von den gel-tenden Gesetzen gedeckt sind.
– Herr Uldall, Sie kommen noch dran. Dann können Siealles sagen, was Sie möchten. Jetzt müssen Sie – egal, obes Ihnen gefällt oder nicht –,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Dr. Paul Laufs14859
weil Sie da sitzen, sich das anhören, was ich Ihnen insStammbuch schreibe.Wenn Sie so gesetzestreu sind, wie Sie immer vorge-ben, dann nehmen Sie gefälligst zur Kenntnis, dass dieserStaat mit Ihrer Unterstützung Meinungs-, Versammlungs-und Demonstrationsfreiheit als ein ganz prinzipiellesRecht, das jedermann und jeder Frau in diesem Land zu-steht, festgeschrieben hat.
Die schamlose Unterstellung von Ihrer Seite, dass esbei künftigen Castortransporten zu Gewalt kommt, wirdwahrscheinlich dazu führen – dies war eh und je der Fall;diese verbalen Entgleisungen kennen wir von Ihnen –dass sich die betroffenen Menschen in der Region und da-rüber hinaus bereits jetzt wieder in der Ecke fühlen, ob-gleich das, was sie zum Teil mit Fantasie und äußersterKreativität tun, nämlich ihren Ausdruck von: „Ich will dasnicht“ deutlich zu dokumentieren, von uns als Parlamentnicht nur hingenommen werden sollte, sondern imGrunde genommen als Bestätigung unserer demokrati-schen Grundauffassung für richtig geheißen werdenmuss.
Es kann nicht angehen, dass jedes Mal, wenn sich je-mand in dieser Republik gegen eine Entscheidung desParlaments verbal oder durch eine vom Gesetz erlaubteHandlung – dazu gehören zum Beispiel friedliche Sitz-blockaden –
zur Wehr setzt, Parlamentarier sagen: Das ist ein Geset-zesverstoß! Wehret den Anfängen!
– Das hat der Minister niemals getan.
Er hat in seiner Partei die Menschen, die bisher sehr en-thusiastisch gehandelt haben und die sich manchmal in ih-rer jugendlichen und leichtsinnigen Art angekettet haben,
vernünftigerweise daran erinnert, dass ihr friedlicher Pro-test in Ordnung ist; aber all das, was nicht in friedlicherForm geschieht, nicht in Ordnung ist.
Sie sollten sich beispielsweise auch einmal mit derPresse auseinander setzen. Ich habe einen Artikel mit derSchlagzeile „Dialog soll Gewalt verhindern“ vor mir lie-gen. Ich empfehle Ihnen, keine hämischen – ich will nichtsagen: dümmlichen, weil das nicht parlamentarischwäre – Bemerkungen zu machen.
Sie sollten sich vielmehr mit den Möglichkeiten ausei-nander setzen, die Sie haben, um diejenigen, die protes-tieren, davon zu überzeugen, dass ihr Protest überflüssigist. Das wird uns aber erst dann gelingen, wenn dieCastortransporte in dieser Republik weniger werden undwenn die Menschen in Gorleben nicht wie in diesem Jahrdie Aufnahme von zwölf Castoren aus La Hague hinneh-men müssen, obwohl es ein Moratorium gibt.Wir werden in diesem Bereich erst erfolgreich sein,wenn dieses Haus bereit ist, sich auf die Seite derer zustellen, die mit uns allen zusammen – das unterstelle ichauch Ihnen – einen Ausstieg auf gesittete Art und Weiseerreichen wollen. Dieser Ausstieg kostet im Zweifelsfalletwas, in dem einen oder anderen Fall auch einen großenTeil der bisherigen eigenen Überzeugungen.Dies ist nicht leicht und fällt gerade den betroffenenMenschen in der Region um Gorleben ganz besondersschwer. Herr Laufs, Sie haben es wesentlich einfacher,weil Sie nicht in dieser Gegend wohnen. Vielleicht erin-nern Sie sich daran, welche Debatten im Laufe der letztenzehn Jahre in diesem Haus stattgefunden haben. Ich wün-sche mir, dass Sie nicht mehr von Gewalt reden und dassSie die entsprechenden Unterstellungen aufgeben. Ver-bale Gewalt nämlich ist immer der Funke, der das Feuerentzünden kann.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Walter Hirche.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Es ist schon bemerkenswert, mit wel-chen sprachlichen Verrenkungen sich rote und grüne Po-litiker heute zu den gleichen Transporten äußern und dieserechtfertigen, die sie noch vor zwei Jahren abgelehnt ha-ben.
Sachlich hat sich im Hinblick auf die Transporte dochnichts verändert: Erstens. Es gibt seit Jahren völkerrecht-lich verbindliche Vereinbarungen mit Frankreich, wieder-aufgearbeiteten Atommüll aus La Hague zurückzuneh-men. Zweitens. Die Transporte bedeuten keine Ge-fährdung der Bevölkerung. Jeder weiß: Das war so unddas ist so geblieben.
Wenn das Bundesamt für Strahlenschutz nach demStopp der Transporte durch Frau Merkel vor gut zwei Jah-
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Arne Fuhrmann14860
ren einige Auflagen verfügt hat, dann entspricht das demin Deutschland glücklicherweise üblichen guten Verwal-tungshandeln, bei Erkennen von Problemen im DetailAuflagen anzuordnen. Das ändert nichts an der Tatsache,dass von den Castortransporten noch nie eine akute Ge-fährdung für die Polizei oder für die Begleitung ausge-gangen ist. Wer anderes behauptet, will immer nur Hyste-rie schüren.
Geändert hat sich nur eines: Die Grünen sind geradedurch die Verbreitung hysterischer Parolen an die Machtgekommen und müssen jetzt denen, die an die Parolen ge-glaubt haben, verklickern, warum das heute beim glei-chen Sachverhalt alles anders ist. Jetzt rufen die Bürger-intiativler: Das sind doch aber die gleichen Castoren! –Das ist natürlich korrekt. Aber Herr Trittin und FrauMüller erklären, dass des Kanzlers neue Castoren jetzteben grüne Kleider hätten.
Einige tragen offenbar sogar ein schwarzes „T“.Warum kapieren die armen Wendländer denn nicht,dass damit alles anders ist? Warum wird denn nun vor Ortweiter die Stimmung aufgeheizt und gegen alle Trans-porte Stellung bezogen? Das ist einfach zu erklären: Rotund Grün stehen angesichts der Proteste als Zauberlehr-linge da. Sie müssen die Suppe auslöffeln, die sie sicheingebrockt haben. Das macht die Situation aus.
Die Transporte sind ungefährlich und notwendig. Dassagen auch Sie heute. Ich begrüße das. Aber wer jahrelangdafür getrommelt hat, zu demonstrieren, zu blockierenund zu verhindern, der muss sich doch nicht wundern,dass es Menschen gibt, die an solche Aufrufe glauben.Tatsache ist, dass für diese notwendigen und ungefährli-chen Transporte offenbar wieder Irrsinnskosten anfallen,für ein Demonstrationsziel, das die Grünen selbst nichtmehr vertreten. Wer in Deutschland über Polizeikosten fürCastortransporte nachdenkt und darüber spricht, der kanndiese Kosten für Blockaden und gewalttätige Ausschrei-tungen getrost der jahrelangen früheren Politik der Grü-nen zuschreiben.
Um nicht missverstanden zu werden, nachdem geradedie F.D.P. jahrelang eine Distanzierung der Grünen vonGewalt gefordert hat: Wir begrüßen es, wenn die Grünenjetzt zum Verzicht auf Blockaden auffordern. Wir würdenes noch mehr begrüßen, wenn dem heute ausdrücklich deröffentliche Verzicht auf Gewalt nachgeschoben würde.Das ist das Mindeste, was Sie tun können und müssen, da-mit nicht weiterhin im Schutz von Demonstrationen undBlockaden gewalttätige Aktionen stattfinden.Denn genau das ist der Punkt. Herr Fuhrmann, ichknüpfe an Ihre Worte an: Demonstrationen gehören zumguten politischen Grundrecht auf Meinungsfreiheit inDeutschland. Das trifft auf jeden Sachverhalt zu, ob es ei-ner politischen Partei, einer Regierung oder einer Oppo-sition passt oder nicht. Aber Gewalt, die direkt oder indi-rekt von solchen Demonstrationen ausgeht, ist nicht zu to-lerieren.
– Ich sehe: Auch da stimmen wir überein.
Aber genau das bleibt von Ihrer früheren Politik. Siewussten, dass Demonstrationen als Schutzwände für Ge-waltaktionen genutzt werden konnten.
Das ist der Beginn der Unterminierung des Rechts auffriedliche Demonstrationen.
Die Gefahr, dass friedliche Demonstrationen von einigenfür gewalttätige Happenings genutzt werden, müssen dieDemonstranten selbst ausschließen, wenn sie ihr Zielnicht gefährden wollen. Das haben Sie in der Vergangen-heit nicht getan. Die Aussage des Sprechers der LüchowerBürgerinitiative jetzt, dass der Protest das Wichtigste sei– und nicht die Verhinderung des Transports der Castorenin die Zwischenlager –, dieser solle „die Kunst des Wi-derstands“ zeigen, macht deutlich, dass hier eine Sacheum ihrer selbst willen getrieben werden soll.Diese lockere Selbstbeschreibung führt zum Kern desProblems. Es geht nicht mehr vorrangig um Bedenken ge-gen die Transporte, sondern es geht darum, der demokra-tischen Mehrheit im Staat die rote Karte zu zeigen. Dastrifft Sie so, weil Sie sich in der Vergangenheit an diesemSpiel beteiligt haben und so Ihr politisches Süppchen ge-kocht haben. Jetzt sind Sie selber die demokratischeMehrheit und merken zum ersten Mal, was Sie angerich-tet haben.
Eine Regierung, die auf zwei Schultern trägt, einegrüne Partei, die gleichzeitig vorwärts und rückwärtsläuft, das ist wie Zirkus pur, nur nicht ganz so lustig. Werein solches Vorbild abgibt, muss sich nicht wundern, dassin der Gesellschaft Werte und Normen durcheinanderkommen.
Herr Abgeord-
neter, Ihre Redezeit ist beendet.
Das ist der rote Faden, HerrMinister Trittin, der sich aus Ihrer Studentenzeit bis in dieheutigen Tage zieht.
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Walter Hirche14861
Das Wort hatjetzt der Herr Bundesminister Jürgen Trittin.Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit: Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Mancher Faden der Rhetorik, lieberHerr Hirche, entwickelt sich zum Knäuel, bei dem amEnde der Zauberlehrling als Suppenkaspar dasteht. Inso-fern sollte man aufpassen, welche Bilder man verwendet.
Herr Glos hat letzte Woche gefordert, wir sollten dieAtomtransporte vor den nächsten Landtagswahlen durch-führen. Ich muss Ihnen mit allem Ernst und Nachdruck sa-gen: Die Bundesregierung genehmigt Atomtransportenicht aus Daffke und nicht zur Unterhaltung von HerrnGlos. Die Bundesregierung genehmigt Transporte, wennsie notwendig sind. Sie genehmigt sie, wenn sie dazu in-ternational verpflichtet ist, und sie genehmigt sie aus-schließlich unter der Voraussetzung, dass die Sicherheitdieser Transporte gewährleistet ist.
Die Ausführungen von Herrn Laufs hätten eines nichtdeutlicher machen können: Es geht Ihnen nicht um dieNotwendigkeit und die Sicherheit der Transporte. Es gehtIhnen ausschließlich um ein politisches Spektakel. InBayern ist Fasching und in Baden-Württemberg Land-tagswahlkampf.
– Regen Sie sich ruhig auf! – Dass bei der CDU/CSU dienärrische Zeit nicht an die Faschingssaison gebunden ist,wissen wir: Merz gegen Merkel und beide gegen Stoiber!
Ich warte noch auf den Tag, an dem Sie Herrn Landowskyzum Kanzlerkandidaten ausrufen.
Ich will mit allem Nachdruck auf folgende Dinge hin-weisen:Erstens. Sie tragen die Verantwortung dafür, dass überJahre hinweg deutscher Atommüll im Ausland zwi-schengelagert worden ist. Die Zwischenlagerung deut-schen Atommülls im Ausland entspricht weder dem deut-schen noch dem französischen Recht.
Zweitens. Sie haben dafür gesorgt, dass da, wo einTransport nötig gewesen wäre, dreimal transportiertwurde, und zwar in die Wiederaufarbeitungsanlage, in daszentrale Zwischenlager, nach Gorleben und nach Ahaus,und anschließend wieder zurück.Drittens. Sie haben unter dem Deckmantel der Erkun-dung – wohlgemerkt: der Erkundung! – den Bau des End-lagers in Gorleben betrieben, dessen einziger geologi-scher Vorteil im Vergleich zu anderen Standorten esgewesen ist, dass er sehr nahe an der Grenze zur damali-gen DDR gelegen war.Für all das tragen Sie durch Ihre Atommüllpolitik dieVerantwortung!
Ich sage Ihnen mit allem Nachdruck: Gegen diese Politikdes Faktenschaffens haben die Wendländer zu Recht pro-testiert und demonstriert. Deswegen sind sie mit ihremProtest von den jetzigen Koalitionsfraktionen zu Rechtunterstützt worden.
Wenn wir heute Atommüll aus Frankreich zurückholenmüssen, dann ist dies auch eine Folge Ihres unverant-wortlichen Handelns, die wir zu tragen haben. Sie könnenhier reden, wie Sie wollen; eines lassen wir Ihnen nichtdurchgehen: Wenn wir versuchen, mit den Folgen IhresHandelns fertig zu werden, und von Ihnen dafür noch be-schimpft werden, dann akzeptieren wir das nicht.
Wir haben im Rahmen des Atomkonsenses zum erstenMal die Menge des Atommülls definiert und begrenzt.Erst damit beginnt eine Entsorgungspolitik.
Wir haben mit dem Verzicht auf Wiederaufarbeitung ab2005 die Menge des Atommülls vermindert. Wir habendurch das Konzept der dezentralen Zwischenlagerung undder direkten Endlagerung die Zahl der Transporte per-spektivisch auf ein Drittel reduziert. Gegen all dieseDinge sind Sie; gegen all diese Dinge protestieren Sie!Die Betreiber von Atomanlagen beurteilen die Situa-tion heute anders, als Sie das tun. Zum Beispiel erfolgteder Verzicht auf den Transport von Atommüll von Neckar-westheim nach Ahaus, obwohl die Betreiber zwei gel-tende Transportgenehmigungen hatten.
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– Lieber Herr Hirche, Sie sollten sich diese anschauen.Die hat den Transport nicht untersagt. – Der Verzicht er-folgte durch den Betreiber und gegen den wütenden Pro-test von Herrn Laufs und gegen die rechtswidrige Haltungder örtlichen Atomaufsicht, die eine atomrechtliche Posi-tion eingenommen hat, die in dieser Form nicht einmalvon Bayern geteilt wird.
– Das sehen wir mit großer Gelassenheit.Der Ausstieg aus der Atomenergie wird auch mitTransporten einhergehen. Dafür haben wir die Vorausset-zungen – auch die politischen Voraussetzungen – ge-schaffen. Wir haben den Bau des Endlagers in Gorlebenunterbrochen und wir entwickeln wissenschaftlich be-gründete Standortkriterien für ein solches Endlager, an-statt eine fachliche Standortbestimmung durch politischeVorfestlegungen zu ersetzen.
Nur wenn uns diese fachliche Standortbestimmung ge-lingt, werden wir Akzeptanz erhalten.Außerdem haben wir die Festschreibung Gorlebens alsEndlagerstandort beendet.
Deswegen finde ich die Proteste gegen den jetzigenRücktransport verständlich, aber in der Sache falsch. Dakann es kein Vertun geben. Dieser Transport dient, andersals Ihre Transporte, nicht dem unbegrenzten Betrieb vonAnlagen. Dieser Transport ist Folge der Abwicklung derAtomenergie.
Aber, meine Damen und Herren, auch wenn wir dasZiel des Ausstiegs mit den Menschen im Wendland teilen,so teile ich dennoch ihre Gründe nicht, gegen diesenTransport zu demonstrieren. Eines allerdings verteidigeich mit Nachdruck: das Recht der Wendländer, für dieseihre – aber in meinen Augen falsche – Auffassung ge-waltfrei zu demonstrieren.
Ich verwahre mich mit aller Entschiedenheit dagegen,dass der gewaltfreie Protest der Wendländer von der Op-position hier im Hause mit Gewalt in Verbindung ge-bracht wird.
Die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg hat stets undimmer zu gewaltfreiem Widerstand aufgerufen.
Der zivile Ungehorsam im Wendland war deswegen so er-folgreich, weil er massenhaft auf gewaltfreie Aktionen ge-setzt hat.
Die Menschen im Wendland brauchen von Ihnen, HerrHirche – und das gilt besonders für die CDU –, keine Be-lehrungen über die Art und Weise von gewaltfreiem Pro-test.
Meine Damen und Herren, Sie sollten sich vielleichteinmal in aller Ruhe das Urteil des Bundesverfassungsge-richts zu der Frage, ob Sitzblockaden Nötigung und ob sieGewalt sind, anschauen.
Sie wissen es doch selber besser. Ich will Ihnen das aneinem Beispiel verdeutlichen. Ich war am 2. Oktober aufder Insel Rügen. An diesem Tage kam der Verkehr fak-tisch zum Erliegen, weil Taxifahrer und Bauern mitschwerem Gerät – Treckern, Bussen – die zentrale Kreu-zung in Bergen dichtgemacht hatten. Zum Dank für dieseAktion wurden sie von der CDU-Kreistagspräsidentinempfangen. Sie hat sich selber als „Bindeglied“ zwischenden Blockierern und der Bundespolitik angeboten. Ichweiß genau, was sie damit gemeint hat. Vermutlich spieltesie auf die örtliche CDU-Abgeordnete an. Das ist AngelaMerkel.Meine Damen und Herren, eines will ich Ihnen sagen:Ich habe das Anliegen dieser Demo nicht geteilt. Ich fandes ziemlich daneben. Aber so lange Sie Straßenblockadenmit Treckern, mit Lastern und Bussen für zulässige Pro-testformen halten und sich Ihre Mitglieder daran beteili-gen, so lange haben Sie überhaupt keinen Grund, andereMenschen, die sich friedlich auf die Straße setzen, alsGewalttäter zu diffamieren.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Roland Claus.
Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Also sprach der Grünen-Vorstand: „Schluss mit Protestieren“, wird nix mit Castornix, bleibt daheim und achtet die Gesetze!“
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Bundesminister Jürgen Trittin14863
Dazu kann man eine Meinung haben. Ich werde Ihnenmeine Meinung auch sagen, will aber zunächst eine Fragestellen: Wo soll das hinführen, wenn Vorgänge innerhalbeiner politischen Partei – innerhalb einer politischen Par-tei! – von einer anderen politischen Partei hier im Bun-destag zum Gegenstand einer Debatte gemacht werden?Anders gefragt: Was geht es die Schwarzen an, dass dieGrünen sich nicht grün sind?
Ich glaube Ihnen nicht, dass Ihr Begehren darin be-steht, die Grünen auf den wahren Tugendpfad der Demo-kratie zu führen. Wir dürfen uns hier nichts vormachen.Ich denke, es ist der erneute Versuch der Christdemokra-ten, die Geschichte und Gegenwart demokratischer Wi-derstandsbewegungen zu diskriminieren und zu krimina-lisieren.
Darum geht es: um nicht mehr, aber auch nicht um weni-ger.Die 68er-Bewegung, die aus ihr entstandene Friedens-bewegung, die ich heute sehr, sehr vermisse,
der Drang nach Demokratisierung und Liberalisierungder Gesellschaft und auch das Ideal von sozialer Gerech-tigkeit lassen sich nicht wegreden, nicht wegverordnenund auch nicht wegtragen.
Das weiche Wasser bricht den Stein.Genauso gilt heute: Niemand darf das Demonstra-tionsrecht infrage stellen. Es hat nämlich etwas mit derWürde des Menschen gemein. Deshalb gehört die bürger-nahe Anticastorbewegung unterstützt und nicht diskrimi-niert.
Sie werden mit dem Versuch scheitern, diese volksnaheBürgerinitiative quasi als Vereinigung von Gewalttäterndarzustellen. Sie gehört erst recht nicht in Käfige gesperrt,die den schönen Polizeibegriff „mobile Gewahrsamszel-len“ bekommen sollen.Ich glaube, die CDU versucht hier, die Diskriminie-rung und Diskreditierung demokratischer Bewegungenfortzusetzen. Ich glaube, das alles sind keine Betriebsun-fälle Ihrer parlamentarischen Arbeit,
sondern Sie knüpfen damit bewusst an antidemokratischeRessentiments, die es in der Gesellschaft gibt, an. DiesenVorwurf muss man Ihnen machen.
Insofern sage ich Ihnen: Sie haben nichts, aber auch garnichts aus Ihrer Anti-Schröder-Plakat-Affäre gelernt. FrauMerkel hat gesagt – das hat mich sehr beeindruckt –, siehabe 48 Stunden darüber nachgedacht. Ich habe großenRespekt davor, wenn jemand 48 Stunden am Stück nach-denkt. Aber das hat ihr heute nichts genutzt.
Frau Merkel sagt noch immer – ich zitiere sie –: UnserStaat, die Bundesrepublik Deutschland, ist seit 1949 un-unterbrochen eine freiheitliche, solidarische und weltof-fene Republik.
Wenn das stimmt, meine Damen und Herren,
dann stimmt es auch, dass Gehlen, Globke und Heusingernie in hohen Bundesämtern waren, dass die Erde eineScheibe und die CDU eine Partei der christlichen Nächs-tenliebe ist,
wobei ich seit dem Gebaren von Herrn Landowsky besserverstehe, was bei der CDU Nächsten-Liebe bedeutet,
und dann wird es auch stimmen, dass die anonymen Spen-der von Helmut Kohl alle in der PDS sind.Die Grünen leisten Hilfestellung bei der Entsorgungund Klitterung der eigenen Vergangenheit. Es ist natürlichkurios, wenn Jürgen Trittin gleichzeitig auf der einenSeite die Kernkraft und auf der anderen Seite die Kern-kraftgegner bekämpft. Das muss man erst einmal hinbe-kommen. Dafür muss man Formeln schaffen wie: dieguten und die schlechten Transporte. Er geht sogar nochweiter – er ist ja pfiffig –: Er hat die Transporte in un-heimliche und heimliche unterteilt, wie wir seit einigerZeit wissen.
Meine Damen und Herren, Parteien sollen laut Grund-gesetz an der Willensbildung des Volkes mitwirken, nichtaber den eigenen Mitgliedern den Willen nehmen. Ich willjetzt aber enden, sonst richten Sie doch noch die Frage anmich: Was geht es die Roten an, wenn sich die Grünennicht grün sind?Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Ulrich Kelber.
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Eines wird von Tag zu Tag deutli-cher: Viele Politiker von CDU/CSU können ihre klamm-
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Roland Claus14864
heimliche Freude, dass es zu möglichen Krawallenkommt, kaum mehr verhehlen.
– Klammheimliche Freude passt dieses Mal sehr gut zurCDU/CSU.
Wenn ich mir die Ausführungen von Herrn Hirche anhöre,dann muss ich feststellen, dass auch in der F.D.P. dem ei-nen oder anderen die rechte liberale Gesinnung in dieserFrage fehlt. Dabei geht es der Opposition überhaupt nichtum die Form der Proteste. Mit ihrer dümmlichen Anti-Ökosteuer-Kampagne haben CDU/CSU selber zu Blocka-den und teilweise sogar zu Rechtsbruch aufgerufen.
Es geht der Opposition nur um die inhaltlichen Ziele derProtestierer. Möglichst viele Atomtransporte passen indas politische Kalkül von CDU/CSU/F.D.P., weil die Weltdann endlich wieder so schön schwarz-weiß ist, wie dasMeyer, Merz und Merkel brauchen.Dabei ist es der Opposition völlig egal, ob die Trans-porte zulasten der Dienstzeiten der Polizeibeamten undzulasten der Steuerzahler gehen. CDU/CSU/F.D.P. sindbereit, Hunderte Millionen DM aus Steuergeldern indirektfür ihre Wahlkämpfe in Baden-Württemberg und Rhein-land-Pfalz zu missbrauchen.
Die Quelle für dieses politische Kalkül ist die völligeIgnoranz dessen, wieweit Technologien von der Bevölke-rung akzeptiert werden. Besonders pikant an der Sacheist, dass die Südländer, selber immer glühende Befürwor-ter der Atomenergie, nicht bereit sind, Zwischen- undEndlager auf ihrem Gebiet einzurichten.
Die Quelle für die Proteste ist die Atompolitik der letz-ten Jahrzehnte. Die SPD hat sich davon lösen können,CDU/CSU/F.D.P. aber sind im alten Denken verblieben.
Die Transportlogik der früheren Bundesregierung, hoch-radioaktiven Abfall quer durch die Republik zu schicken,und zwar durch dicht besiedelte Gebiete, ist der entschei-dende Fehler gewesen, der den Menschen so aufgestoßenist.
Niemandem ist es verständlich zu machen, warum manhochradioaktiven Abfall quer durch unser Land nachFrankreich schickt, ihn dann in ein Zwischenlager undschließlich in ein imaginäres Endlager bringt, das nochimmer nicht zur Verfügung steht.Der Frust der Protestierer vor Ort ist deswegen gut ver-ständlich. Man hatte sich natürlich von einer neuen Atom-politik auch ein Ende der Transporte erhofft. Es ist Ironieder Geschichte, dass die rot-grüne Bundesregierung ausder Atomenergie aussteigt und trotzdem mit Atomgegnernin Konflikt gerät. Das tut weh, das muss man zugeben, da-rum kommt man nicht einfach herum.Deswegen werden wir mit den Menschen noch inten-siver sprechen müssen und ihnen eine Perspektive für dieBeendigung der Atomenergie und der Transporte deutlichmachen. Wir werden ihnen zeigen, dass wir die Zahl derTransporte schon heute über die Wege, die wir gegangensind, verringert haben. Gleichzeitig werden wir die inter-nationalen Vereinbarungen erfüllen müssen, die Folge derfalschen Politik der Vorgängerregierung sind.
Zum Schluss möchte ich noch einmal in RichtungCDU/CSU, insbesondere an die CSU gewandt, deren Vor-sitzender Stoiber der Hauptkonfliktschürer in diesemLand ist, aber noch nicht einmal den Unterschied zwi-schen Zwischen- und Endlagern kennt – das zeigte er beieiner seiner letzten Reden –, sagen: Diese Aktuelle Stunde– einige der Vorredner haben schon gesagt, welch ein Un-sinn diese Aktuelle Stunde ist – wäre überflüssig, wennSie bei der Erinnerung an Franz Josef Strauß nicht immernur an seine Sonthofen-Rede denken würden, sondernsich darüber freuen würden, dass sich diese Bundes-regierung strikt an das von Strauß so oft zitierte Prinzip„Pacta sunt servanda“ hält.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Vera Lengsfeld.
Da habe ich von derSED schon andere Dinge gehört, das nehme ich ganz ge-lassen.
Sie sollten sich schon ein bisschen weniger in diese Tra-dition stellen.Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!Herr Minister, eine Bemerkung muss ich vorweg machen:Die Regierung Kohl hat ganz bestimmt Großes geleistet;aber wenn Sie meinen, dass sie die Salzstöcke in RichtungGrenze schieben konnte, überschätzen Sie sie wirklichmaßlos.
Diese sind schon im Perm entstanden, als es die 16 JahreKohl noch nicht gegeben hat.
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Ulrich Kelber14865
Nun zur Sache: Für eine Partei, die sich selbst als ge-waltfrei bezeichnet, haben die Grünen eine erstaunlichenge Beziehung zu einer Vielzahl von gewaltsamen Er-eignissen in der Geschichte unseres Landes vor und nachder Vereinigung: Ob Wackersdorf, Brokdorf, StartbahnWest, die alljährliche Revolutionäre 1.-Mai-Demo in Ber-lin bis hin zu den Castorblockaden, immer waren grüneParteiaktivisten dabei und meist hat die Partei sogar zuden Mitaufrufern gehört.Feinsinnig wurde zwischen Gewalt gegen Sachen, dieangeblich akzeptabel sei, und Gewalt gegen Menschenunterschieden, die man nicht unterstützen wolle. Dabeizählten Polizisten offensichtlich nicht zu den Menschen;denn bei den aufopferungsvollen Schlachten um das Gutekamen regelmäßig Polizisten zu Schaden, was kaum ei-nen grünen Politiker je zu einem Wort des Bedauernsgenötigt hat.
Heute, wo die Grünen in der Regierungsverantwortungsind, lehnen sie in dem gleichen Brustton der Überzeu-gung Gewalt gegen Sachen als illegitim ab, wie es unsKerstin Müller am Montag vorgeführt hat, die im Frühjahr1996 die Demontage von Bahnanlagen „erst mal o.k.“fand und heute
Gewalt gegen Sachen für illegitim erklärt.Das geschieht nach dem Motto: Wir verkünden heutedies und morgen das Gegenteil, aber auf jeden Fall sindwir die besseren Menschen.
Wer angesichts der unaufgearbeiteten Gewaltgeschichteder Grünen Zweifel und Fragen hat, dem drohen schärfsteKonsequenzen.Man könnte nun den Grünen zugute halten, dass sie ei-nen erheblichen Teil des gewaltbereiten linken Protestpo-tenzials in diesem Lande domestiziert und zur Demokra-tie bekehrt haben, aber leider fehlt es an der nötigenEhrlichkeit gegenüber der eigenen Geschichte. Denn eswaren eben jene grünen Politiker, die noch heute ihrer Ba-sis im revolutionären Rolli und in der Lederjacke ge-genübertreten, um anschließend im Dienstwagen in denNadelstreifenanzug für den Stehempfang zu wechseln,die in den 70er-Jahren die Gewalt vom linken Rand „indie Mitte der Gesellschaft“ getragen haben.
Das war die Zeit der „klammheimlichen Freude“ überdie Ermordung von Buback und Schleyer, Herr KollegeKelber, die Zeit der kaum kaschierten Parteinahme für dieRAF, der Sympathie mit der SED-Diktatur, die Zeit desGefasels vom „Vorbild Kuba“ und der Forderung nach ei-ner Kulturrevolution in Deutschland.
Die Zeit des Straßenterrors war auch eine Zeit der Ver-harmlosung der stalinistischen Verbrechen,
der Ergebenheitsadressen an Pol Pot und des Wunschesnach dem Sieg des palästinensischen Volkes auf dem ge-samten Territorium von Palästina, das heißt nach Auslö-schung Israels.
Unserem Land steht eine Aufarbeitung und eine Aus-einandersetzung mit dieser verdrängten bzw. verklärtenGewaltgeschichte noch bevor. Sie wird heute entschei-dend durch den Umstand erschwert, dass die damalsAgierenden und Sympathisierenden heute die Interpreta-tionsmacht besitzen, und sie zeigen, wie sie diese Inter-pretationsmacht benutzen.
Da wird allen Ernstes behauptet, eine demokratischeBürgergesellschaft wäre erst durch gewaltsamen Protestentstanden, so als wäre gewaltsamer Protest eine Art Zi-vilcourage und Voraussetzung für die Civil Society.
Da wird zur Rechtfertigung des NATO-Einsatzes, alswäre Völkermord nicht Grund genug, der Holocaustbemüht, um alle Zweifler gleich mit der Moralkeule, dasssie sich zu Mitschuldigen machen, zu erledigen. Da wirddas Land wie selbstverständlich mit vermeintlich poli-tisch korrekten Verdikten überzogen, und wer sich diesenVerdikten nicht gleich beugen will,
wird schon mal verbal aus der Gemeinschaft der Anstän-digen ausgeschlossen,
wobei es sich lohnt, einige besonders edle Exemplare die-ser Gemeinschaft der Anständigen einmal näher zu be-trachten.
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Vera Lengsfeld14866
Ist es anständig, wenn man sich wie UmweltministerTrittin noch 1996 an den gewaltsamen Protesten gegenden Castortransport beteiligt hat oder im Juli 1994 ge-meinsam mit gewaltbereiten Vermummten marschiert,aber heute seiner grünen Basis per Rundbrief ihr demo-kratisches Recht auf Demonstration abspricht?
Die CDU sollte vielleicht eine Sitzblockade für dasRecht der Grünen machen, friedlich gegen die Castor-transporte zu protestieren.
Ist es anständig, dass Herr Trittin nach 1992 in einemInterview in der „Welt am Sonntag“ seine K-Gruppen-Vergangenheit nicht bestätigen will?
Frau Kollegin,
denken Sie bitte daran, dass Sie fünf Minuten Redezeit
haben.
Ich bin sofort fertig.
Ist es anständig, wenn er später so tut, als hätte er im-
mer öffentlich zu seinem Hinterzimmerkommunismus
gestanden?
Ist es anständig, dass die Grünen sich nicht einmal zu
dem einfachen Bekenntnis durchringen können, dass das
Gewaltmonopol des Staates immer gleich ist, egal, ob man
sich in der Regierung oder in der Opposition befindet?
Es stellt sich die Frage, wie sich Herr Trittin verhalten
wird, wenn er morgen nicht mehr Minister ist.
Wird er wieder mit Vermummten gegen den Polizeistaat
demonstrieren? Diese Frage könnten Sie gern einmal be-
antworten.
Frau Kollegin,
fünf Minuten heißen wirklich fünf Minuten. Ich bitte Sie,
jetzt Ihren letzten Satz zu sagen.
Das ist mein letzter
Satz.
Ist es anständig, dass Herr Wolfram König, Präsident
des Bundesamtes für Strahlenschutz, heute eine Bro-
schüre verbreitet, in der die sicherheitstechnische Unbe-
denklichkeit der Castortransporte mit Fakten und Zahlen
belegt wird, –
Frau Kollegin,
ich bitte Sie jetzt aufzuhören.
– die eben jene Fakten
und Zahlen sind, die jahrelang von grünen „Experten“ und
so genannten kritischen Wissenschaftlern im grünen Um-
feld bestritten worden sind?
Soll diese Art von Doppelmoral, die die Grünen hier – –
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Winfried Hermann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-legin Lengsfeld, bei Ihren Reden und bei all dem, was Sieüber uns erzählen und behaupten, frage ich mich manch-mal wirklich, welcher Teufel Sie eigentlich geritten hat,dass Sie ausgerechnet zu den Grünen gegangen sind.
Es ist unglaublich, dass Sie jahrelang in dieser Fraktionwaren und sich jetzt so benehmen.Dabei will ich es aber bewenden lassen und zum ei-gentlichen Tagesordnungspunkt, den Castortransporten,kommen. Sie haben mehrfach versucht, das Thema sohinzustellen, als wären nicht die Atomtransporte für dieRisiken und die Ängste der Menschen verantwortlich unddas eigentliche Problem, sondern als wäre der Protest alssolcher das Problem. Das ist eine völlige Verkehrung derSituation. Wir haben es hier mit Problemen zu tun, die Siemit Ihrer Politik nie haben lösen können.
Zu den Protesten, die Sie heute beklagen, und von denenSie behaupten, sie kämen nur aus dem grünen Umfeld,muss ich Ihnen, Herr Laufs, sagen: Ob in Baden-Württem-berg oder anderswo, der Protest gegen Transporte und vorOrt an den Atomkraftwerken kam aus allen Bevölkerungs-schichten, ob von CDU-Mitgliedern oder Grünen. Vor Ortsaßen alle zusammen, unter Umständen vor den Toren oderauf dem Bauplatz.
Das ist die Wahrheit. Es war nicht nur eine grüne Marotte,wie Sie das jetzt darstellen. Es gab überall vor Ort einenbreiten Bürgerprotest.
Unter anderem haben diese Proteste und dauerndenAufmärsche bei der Polizei, die man gebraucht hat, umRisiken zu minimieren, dazu geführt, dass man nachge-dacht hat, wie man aus diesem Teufelskreis herauskommt,
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Vera Lengsfeld14867
wenn es offensichtlich ist, dass die Bevölkerung vor Ortdiese Technologie nicht akzeptiert, wenn es offensichtlichist, dass die Mehrheit der Bevölkerung das Risiko derAtomwirtschaft nicht tragen will. Den Ausweg daraus ha-ben wir gesucht.Wir haben mit unserem Ansatz versucht, aus einer, wiewir finden, verheerenden Technologie langfristig mit ei-ner Strategie herauszukommen, die das vorhandene Ri-siko zwar nicht mehr wegzaubern, es aber begrenzen undschließlich minimieren kann. Das ist schwierig,
weil wir hier eine Suppe auszulöffeln haben, die Sie, HerrHirche, uns angerührt haben.
Nur handelt es sich nicht um ein beliebiges Süppchen,sondern um eine hochgefährliche Atomsuppe.
Sie können wirklich froh sein, dass sich die heutige Re-gierung dieses Problems annimmt, mit dieser TechnologieSchluss macht und für ihre Entsorgung und Beendigungsorgt.
Wir haben deutlich gemacht – darüber reden wir ganzoffen –: Grüne waren immer Teil der Anti-AKW-Bewe-gung. Wir haben immer gesagt: Atomkraft ist riskant, ge-fährlich. Die Zukunft ist unklar. Die Endlagerung ist völ-lig unklar. Hier stehen wir auf der Seite der Bevölkerung.
Aber es gibt bei den Grünen sehr wohl eine ganz langeTradition bei der Debatte darüber, welcher Protest sinn-voll und was gewaltfrei ist. Ich bin von Anfang an bei denGrünen dabei: Wir haben diese Debatte immer hart ge-führt; intern und auch in der Bewegung. Wir haben klargesagt: Für uns kommen nur gewaltfreie Widerstandsfor-men infrage. – Wir haben das auch konsequent praktiziert.
Das war der Grundkonsens. – Dies haben manche von Ih-nen schon damals nicht zur Kenntnis genommen. Dazukann ich Ihnen sagen: Die Grünen haben ein reines Ge-wissen. – Dies können Sie in vielen Papieren nachlesen.
Meine Damen und Herren von der CDU, wir müssenuns nicht von Dingen distanzieren, die Sie uns seit 20 Jah-ren unterstellen und die noch nie wahr waren. Herr Laufsoder Herr Hirche, wenn Sie hier reden, müssen Sie immerMenschen zitieren, die schon lange nicht mehr bei denGrünen sind oder das Thema früher einmal ganz andersbetrachtet haben. Es tut mir Leid, aber Sie kommen im-mer mit Leuten, die schon lange draußen sind.
Das wäre etwa so, als wenn ich Rechtsradikalismus damitbeweisen würde, dass ich Republikaner zitiere, die malCDU-Mitglieder waren. Das ist doch absurd; das kannman nicht machen. Aber so unfair und ungerechtfertigt ar-gumentieren Sie. Damit liegen Sie, wie ich glaube, völligdaneben.Ich komme zum Schluss. Meine Damen und Herrenvon der CDU: Eine Partei, die es bis zum heutigen Tagenicht geschafft hat, sich anständig von ihrem Ehrenwort-Vorsitzenden zu distanzieren, sollte hier im Hause nie-manden in Sachen Rechtsstaat belehren.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Max Straubinger.
Sowieso. – Frau Prä-sidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Pünktlichnach den Landtagswahlen in Baden-Württemberg undRheinland-Pfalz wird Ende März oder Anfang April auf-grund regierungsamtlicher Vereinbarungen zwischenBundeskanzler Schröder und dem französischen Minis-terpräsidenten Jospin unter der rot-grünen Bundesregie-rung der erste Castortransport von La Hague nach Gorle-ben durchgeführt werden. Damit kommt – das begrüßenwir – der Bundesumweltminister Trittin zu der überfälli-gen Einsicht, dass Transporte sicher getätigt werden kön-nen und dass die von grünen Aktivisten verbreitetenÄngste über irrationale Risiken bei Castortransporten inder Vergangenheit falsch waren.Die Bundesregierung hat dies noch zusätzlich unter-mauert; denn in der heutigen Pressemitteilung kann manlesen, dass zwischen 1998 und 2000 mehrere Transportevon nuklearem Material zwischen Hanau und La Haguegetätigt wurden, dies der Öffentlichkeit aber nicht darge-legt wurde. Hier sieht man sehr deutlich, wie rot-grünesRegierungshandeln in der Bundesrepublik letztendlichfunktioniert.
Aufgrund dieser Einsichten wäre eine Grundlage dafürgelegt, ideologiefrei und offen über die Risiken undChancen der Kernenergie zu reden. Doch damit beginntdas Problem mit den grünen Anhängern, die sich zu Rechtverschaukelt fühlen. Wenn jetzt richtigerweise HerrTrittin, Herr Kuhn und Frau Müller an die grüne Par-teibasis Aufrufe richten, von Blockaden des Transportes
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Winfried Hermann14868
abzusehen, und erklären, dass Demonstrationen eigent-lich unnötig sind, begreift das die grüne alternative An-hängerschaft nicht. Sie fragt sich zu Recht, ob denn vonRot-Grün genehmigte Transporte besser als die Trans-porte sind, die unter einer CDU/CSU-F.D.P.-Regierungdurchgeführt wurden.
Ich gebe Ihnen sofort die Antwort: Sie sind unter Rot-Grün nicht besser geworden. Die frühere Bundesumwelt-ministerin Angela Merkel hat nämlich für die notwendi-gen Sicherheitsstandards gesorgt,
die darüber hinaus in den vergangenen zwei Jahren vonRot-Grün nicht verbessert wurden.
Aber die grüne Parteibasis hat ein starkes Erinne-rungsvermögen. Haben nicht Trittin, Fischer und dieFührung der grünen Partei in der Vergangenheit zu De-monstrationen aufgerufen, welche zum Teil sehr gewalt-tätig verlaufen sind? Wurde nicht aufgrund des Aufrufsder ehemaligen Kollegin von Bündnis 90/Die GrünenElisabeth Altmann, sich am „lustigen Demontieren vonSchienen“ zu beteiligen, die Sicherheit der Transporte ge-fährdet und damit natürlich eine Grundlage für gewalt-tätige Ausschreitungen gelegt?
Der grünen Parteibasis wird immer mehr bewusst, dass sievon Fischer und Trittin hintergangen wurde und weiterhinwird und dass die Antiatombewegung von den beidenHerren nur zur Erringung der Macht benutzt wurde.Eine weitere Frage drängt sich mir angesichts derAnkündigung von Blockaden und Demonstrationen auf,und zwar inwieweit der zu Unrecht viel gelobte Atom-konsens vom 15. Juni 2000 trägt. Vollmundig hatte derBundeskanzler ausgeführt – ich zitiere mit der Genehmi-gung der Frau Präsidentin –:Als in jener Nacht zum 15. Juni 2000 die Einigungerzielt war und ein grüner Umweltminister und dieChefs der Energiewirtschaft zugestimmt hatten, daging eine Epoche gesellschaftlichen Konfliktes zuEnde.Ich frage mich angesichts der Aufrufe zu Blockadenund Demonstrationen: Wo ist denn der Konflikt beendet?Hat nicht die rot-grüne Bundesregierung neue Konfliktegeschaffen, weil sie nicht bereit ist, die Entsorgungsfragezu lösen, sondern das Problem nur vor sich herschiebt,Zwischenlager an Kernkraftwerksstandorten einrichtet,die zu Endlagern werden, die Wiederaufbereitung vonKernbrennstäben verhindern möchte, die sichersten Kern-kraftwerke stilllegen will und bereit ist, aus dem Auslandin unsicheren Reaktoren erzeugten Atomstrom zu impor-tieren?
Das verstehen die Bürger nicht und die Steuerzahler ha-ben kein Verständnis für die Blockaden und Demonstra-tionen, die die grüne Basis nur deshalb durchführenmöchte, um ihre Parteiklientel bei der Stange zu halten.Der Steuerzahler und die Stromabnehmer sind nämlich dieZahler dieser verfehlten rot-grünen Kernenergiepolitik.Besten Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Monika Ganseforth.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ohne den Schluss Ihrer Aus-führungen hätte ich Ihre Rede als flammende Lobesrede zurUnterstützung einer Bürgerinitiative gegen die Atomenergieaufgefasst. Insofern habe ich mich etwas gewundert.Wir als rot-grüne Regierung sind angetreten, um denWeg zu gehen, den die Mehrheit unserer Bevölkerung ge-hen möchte, nämlich die Nutzung der Atomkraft zur Ener-gieerzeugung zu beenden und aus dem Betrieb der Atom-kraftwerke auszusteigen.
Die Auffassung hierüber hat sich seit dem Regierungs-wechsel grundsätzlich geändert. Wir haben aber leidernoch mit den Altlasten zu tun, die Sie uns hinterlassen ha-ben. Am schönsten fand ich in diesem Zusammenhang,wie Herr Hirche über die Suppe gesprochen hat, die wirnun auslöffeln müssten, die wir aber Ihnen zu verdankenhaben.
Wir stehen zu den notwendigen Konsequenzen undwerden die nationalen sowie internationalen Verträge ein-halten. Außerdem tragen wir die Verantwortung für dieSuche nach einer nationalen Lösung für die Entsorgungdes deutschen Atommülls. Auch wenn die Lösung dieserFrage in einem gewissen Widerspruch zu unserer Über-zeugung, endlich mit der Nutzung der Atomenergie auf-zuhören, steht, müssen wir diese Altlasten beseitigen.Gegenüber den Transporten, die zu Ihrer Regierungszeitstattgefunden haben, hat sich allerdings etwas geändert.
Wir haben die Rahmenbedingungen verändert: Wir habendie Menge begrenzt – das bedeutet, dass ein Ende derTransporte abzusehen ist – und wir tun alles, um die Zahlder Transporte zu reduzieren. Wir wollen unnötige Trans-porte vermeiden. Unsere Maßnahmen zeigen auch bereitsWirkung.
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Max Straubinger14869
Ich will schließlich an die Schlampereien erinnern, diees im Zusammenhang mit den Transporten in den letztenJahren Ihrer Regierung gegeben hat. Wir stellen heuteeine penible Einhaltung des Atomrechtes und des Ver-kehrsrechtes durch das Bundesamt für Strahlenschutz si-cher, sodass gewährleistet ist, dass die Transporte, dieheute noch stattfinden müssen, nach geltendem Recht undunter größter Sorgfalt durchgeführt werden.Des Weiteren – das ist die allerwichtigste Botschaft,die ich sowohl an die rechte Seite als auch an die Bürger-initiativen richten muss – gilt: Wir machen aus diesenTransporten keine Kraftprobe für einen ideologischenWeiterbetrieb der Atomkraftwerke zur Energieerzeugung.
Insofern sind die Atomtransporte kein Symbol mehr füreine ideologische Unterstützung einer falschen Energie-politik. Das ist die Hauptbotschaft und darin besteht derentscheidende Unterschied gegenüber Ihrer Regierungs-zeit. Deswegen benötigen die Bürgerinnen und Bürgerden Protest gegen diese Transporte nicht mehr als Symboleines Kampfes gegen die Atomenergie.Trotzdem gibt es natürlich Menschen – Bürgerinnenund Bürger in der Region –, die besorgt sind. Es ist ganzselbstverständlich ein demokratisches Bürgerrecht, gegendiese Transporte zu demonstrieren, wenn man davor Angsthat. Wo sind wir denn? Es ist ein demokratisches Recht.Dass wir immer wieder betonen müssen, dass solche De-monstrationen Gewaltfreiheit verlangen, ist allmählichrichtig ärgerlich. Sie verlangen in diesem Zusammenhang,dass wir uns immer wieder zu Selbstverständlichkeiten be-kennen.
Allerdings stellt sich die Frage, ob es klug ist, wennMitglieder von Parteien gegen Maßnahmen einer Regie-rung, an der die eigene Partei beteiligt ist, demonstrieren.Das ist eine andere Frage. Aber legitim ist das.
Zu den diesbezüglichen Zwischenrufen möchte ich sagen:Ich erinnere mich, dass ich demonstriert habe, als HelmutSchmidt regiert hat. Ich denke, es ist legitim, gegen Maß-nahmen der eigenen Regierung zu demonstrieren. Wosind wir denn?
Ich bin allerdings sicher, dass sich die zukünftigen De-monstrationen nicht mehr in erster Linie wie zu Ihrer Zeitgegen die Regierung, sondern gegen die Atomenergienut-zung richten werden.
– Aber sicher! – Der Kampf der Menschen gegen dieAtomenergienutzung wird erst beendet sein, wenn dasletzte Atomkraftwerk vom Netz gegangen ist. Darauf war-ten wir und dafür kämpfen wir seit vielen Jahren.
Vielleicht haben Sie es vergessen: Im April vor 15 Jah-ren geschah die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Icherinnere mich noch sehr deutlich, dass es damals auch aufder rechten Seite des Parlaments sehr nachdenkliche Tönegab und auch viele von Ihnen davon überzeugt waren,dass man von der Atomenergienutzung Abschied nehmenmüsse. Das hat sich inzwischen leider geändert. Es gab si-cherlich auch Leute in Ihren Reihen, die schon als Atom-energielobbyisten auf die Welt gekommen sind.
Aber es gab auch einmal andere. Es ist schade, dass es die-sen Konsens nicht mehr gibt; denn die Atomenergie ist ri-sikoreich. Die Endlagerfrage ist national und internationalnicht gelöst. Auch das Problem der Proliferation ist nichtgelöst. Es gibt inzwischen viele Studien, in denen bewie-sen wurde, dass man auf die Nutzung der Atomenergieverzichten kann und eine nachhaltige und klima-freundliche Energiepolitik auch ohne Atomenergienut-zung möglich ist. Wir sind auf dem Weg dahin.Schönen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Jürgen Gehb.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Ich muss mich schon wun-dern,
ausgerechnet aus dem Munde unseres Umweltministerszu hören, dass die Ausübung des Demonstrationsrechtsdavon abhängen soll, ob atomrechtliche Maßnahmen un-ter einer CDU/CSU/F.D.P.-Regierung oder unter einerrot-grünen Regierung beschlossen worden sind. HerrTrittin, zu dem Versuch, zwischen moralisch guten undrechtmäßigen und weniger moralisch guten, illegitimenoder, wie Frau Roth gesagt hat, sogar illegalen Genehmi-gungen und Transporten zu unterscheiden, möchte ich Ih-nen etwas sagen: Sie haben heute zum wiederholten Maleunter Beweis gestellt, dass Sie als Minister nicht in derLage sind, einen Notenschlüssel von einem Paragraphen-schlüssel zu unterscheiden.
Bei großem Bemühen gelingt Ihnen, Herr Trittin, viel-leicht die Parallelwertung in der Laiensphäre. Das werdeich Ihnen jetzt einmal klarmachen.Sämtliche Transportgenehmigungen der letzten Jahresind auf der Rechtsgrundlage des Atomgesetzes in der
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Monika Ganseforth14870
Fassung der Bekanntmachung vom 15. Juli 1985 erteiltworden. Das gilt für die gestern und für die heute erteiltenGenehmigungen. Aber das wird auch für die morgen undübermorgen erteilten Genehmigungen gelten. De lege latasind sämtliche Genehmigungen, ausschließlich auf demAtomgesetz beruhend, legal, legitim und rechtmäßig.Selbst de lege ferenda – ich übersetze für Sie, Herr Trittin:nach der künftigen Gesetzeslage –, wenn Sie den so ge-nannten Atomkonsens parlamentarisch umgesetzt habenund wenn das neue Atomgesetz, dessen Entwurf jetzt vor-liegt, in Kraft ist – letztlich wollen wir Parlamentarier da-rüber befinden und nicht irgendwelche Gruppen, die zwi-schen den Energieversorgungsunternehmen und Regie-rungsmitgliedern stehen –, wird es weiterhin genehmigteTransporte geben.Herr August Fuhrmann, da Sie mich gerade so an-schauen: Sie haben zwar nicht nur in Ihrer eigenen Frak-tion, sondern auch außerhalb dieses Hauses den Ruf eines„ausgewiesenen Atomrechtsexperten“. Aber als Sie in Ih-rer Rede am 7. Dezember letzten Jahres – mit sicheremAuftreten bei völliger Ahnungslosigkeit in der Sache – be-hauptet haben, dass es in Zukunft – außer bei völker-rechtlichen Verpflichtungen – keine Genehmigungen fürCastortransporte mehr geben werde, haben Sie damit Ihrevöllige Ahnungslosigkeit unter Beweis gestellt.
Sie haben uns darüber hinaus – das finde ich besondersverwerflich, weil Sie gerade Sprache und Gewalttätigkeitgerügt haben – Geheimniskrämerei bei den letzten Ge-nehmigungen vorgeworfen. Wer sich wie ich fünf Jahrelang am höchsten hessischen Gericht mit Atomrecht be-fasst hat, der weiß, dass es kein transparenteres, keinmehrstufigeres und kein offeneres Verfahren gibt als beider Erteilung von atomrechtlichen Genehmigungen.Uns haben Sie Geheimniskrämerei vorgeworfen – viel-leicht sagt Herr Uldall nachher noch etwas dazu –; aberbei Ihnen gab es ein paar Transporte, die jenseits aller Ge-setzlichkeit geheim abgelaufen sein sollen.
Meine Damen und Herren, ich verstehe gar nicht, wasSie hier bei der Genehmigungspraxis ins Feld führen wol-len. Frau Roth, Sie als designierte Vorsitzende einer Par-tei, die an der Regierung ist, haben davon geredet – Sie,Herr Trittin, übrigens auch –, dass in der VergangenheitAtommüll verschoben worden sei. Sie haben es noch ge-toppt, indem Sie gesagt haben, dies sei illegitim. Dannkam der Höhepunkt: Es sei auch illegal.
Nichts von alledem ist der Fall. Es waren alles legaleTransporte.Sie wollen nur neben der Rechtsmäßigkeitsvorausset-zung einen neuen Parameter bilden und Moral zu derMesslatte machen, an der sich Genehmigungen auszu-richten haben. Wissen Sie, dazu, dass in den 70er-Jahren,als unter der „Schreckensherrschaft“ der sozialdemokra-tischen Kanzler Brandt und Schmidt
Polizeihundertschaften durch die Straßen Frankfurts ma-rodierten, um 25-jährige jugendliche Studierwillige, diefreilich kein Abitur hatten, am Besuch von Vorlesungenzu hindern,
wird heute gesagt, es sei gerechtfertigt gewesen, sich ge-gen diese Polizisten mit Gewalt zur Wehr zu setzen.
Sie führen ganz neue Prüfungsmaßstäbe für die Erteilungvon Genehmigungen ein,
nämlich jenseits von Recht und Gesetz Moral und mora-lische Verpflichtung. Nicht nur, dass Sie diese Parameterneu setzen, Sie füllen sie auch noch mit Inhalt aus. Dasheißt, dass nur Sie sagen dürfen, was moralisch verwerf-lich ist und was nicht.
Wer so mit dem Rechtsstaat umgeht und die Hysterie inder Bevölkerung geradezu schürt, indem er sagt, Atom-müll sei verschoben worden und dies sei illegitim und so-gar illegal gewesen, hat es schlichtweg nicht verdient,sich selbst „rechtsstaatlich“ zu nennen.Wenn nun ausgerechnet Sie, Frau Müller – Sie sind ge-rade so schön in Ihre Unterlagen vertieft; eben hatten Sieschon einmal einen puterroten Kopf – sich zum Sprach-rohr derer machen, die wollen, dass nicht und schon garnicht gewalttätig demonstriert wird, dann kommt mirdas – mit Verlaub; im Moment ist Berlinale – so vor, alswollte Dr. Hannibal Lecter Graf Dracula von seinennächtlichen Blutraubzügen ablenken.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Reinhard Loske, dem ich vorab zu
seinem heutigen Geburtstag gratuliere.
Frau Präsidentin, schönen Dank für die Glückwünsche.Das sollte mich eigentlich milde stimmen. Aber ange-sichts des Blödsinns, der hier erzählt worden ist – vor al-len Dingen in der letzten Rede –, geht das leider nicht.
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Dr. Jürgen Gehb14871
Ich will nur auf einige Argumente eingehen, die hier ge-bracht worden sind.Ich beginne mit Ihnen, Herr Hirche. Sie haben sinn-gemäß gesagt, die Transporte seien in der Vergangenheitunproblematisch gewesen, seien in der Gegenwart unpro-blematisch und würden auch in der Zukunft unproblema-tisch sein.
– Das ist ja noch schlimmer. Sie haben jedenfalls gesagt,es gebe keinen Unterschied zwischen früher, jetzt und inZukunft. Das ist falsch. In der Zeit, als Ihre Transportestattgefunden haben, waren sie Teil einer unendlichen Ge-schichte. Seitdem wir an der Regierung sind, sind sie Teileiner Abwicklungsgeschichte. Das ist ein fundamentalerUnterschied.
Wir haben den Atomausstieg vereinbart und, wie Sie wis-sen, ein drei- bis zehnjähriges Erkundungsmoratorium inGorleben vereinbart. Das ist ein sehr wichtiger Unter-schied. Sie haben nichts dergleichen gemacht. Insofernunterscheiden sich diese Transporte vom Prinzip her fun-damental.Zweiter Punkt: Herr Claus und Herr Gehb haben aus-geführt, bei den Dingen, die jetzt bekannt geworden seien,handele es sich um Geheimtransporte. Es gibt kundigereLeute als mich, die dazu sprechen können, zum Beispielder Minister selbst oder Vertreter seines Hauses. DieWahrheit ist, dass im Jahr etwa 350 vergleichbare Trans-porte stattfinden. Fakt ist auch, dass gerade diese Trans-porte Teil einer Abwicklungsgeschichte sind: Die MOX-Brennelemente-Fabrik in Hanau ist geschlossen wordenund die Transporte, die daraus resultieren, sind 1996 Teileines Öffentlichkeitsbeteiligungsverfahrens gewesen.Hier von Geheimtransporten zu reden ist schierer Blöd-sinn.
Der dritte Punkt betrifft die Glaubwürdigkeit derCDU/CSU; dies liegt mir besonders am Herzen, FrauLengsfeld und Herr Gehb. Das Vorgehen der CDU/CSUgrenzt schon fast an Chuzpe. Man muss übrigens dazu garnicht auf die Insel Rügen gehen, Herr Minister, man kannhier in Berlin bleiben. Vor wenigen Monaten haben amBrandenburger Tor LKW-Fahrer Randale gemacht. Auchdas war eine vollkommen legitime Nutzung des Demons-trationsrechts; dieses Kronjuwel der Demokratie solltenwir hüten und pflegen, das ist überhaupt keine Frage.
Als die Herrschaften dann aber in das Regierungsviertel,in die so genannte Bannmeile – über deren Sinn kann manunterschiedlicher Meinung sein – , eindrangen, haben sichAbgeordnete aus den Reihen der CDU mit Ihnen gemeingemacht und sich den Randalierern angeschlossen. Zudem, was aus Ihrem Munde hier vorgetragen wurde, sindSie nicht berufen.
Auf die Rede von Frau Lengsfeld, die sehr stark bio-grafische Züge gehabt hat, will ich nicht weiter eingehen.Ich möchte nur sagen: Der Hass, der darin zum Ausdruckkam, entspricht doch nicht der Realität. Eine Gesellschaftentwickelt sich dadurch weiter, dass es Konflikte gibt. Ihrstatisches Verständnis von der Gesellschaft ist vollkom-men unrealistisch und muss hier insofern nicht weiter dis-kutiert werden.Zu dem Punkt, an dem die Grünen angegriffen werden,muss ich Ihnen sagen: Ich bin froh darüber und sogar einbisschen stolz darauf, dass wir uns mit dieser Sachequälen; das kann gar nicht anders sein. Unsere Grundhal-tung ist nämlich: Wir wollen so schnell wie möglich ausder Atomenergie aussteigen; für uns sind die besten Trans-porte diejenigen, die gar nicht stattfinden müssen. Wir ha-ben dem Atomkonsens auf unserem Parteitag – unterMühen – mit einer großen Mehrheit zugestimmt. Wir ste-hen zu dem Atomkonsens, auch zu den Teilen, die uns un-angenehm sind. Dazu gehören zum Beispiel die notwen-digen Rücktransporte aus La Hague und der Bau vonstandortnahen Zwischenlagern, der vor Ort nicht geradeHallelujarufe auslöst.
Die CDU, die Atompartei schlechthin – Filbinger hatvor 25 Jahren gesagt: „Wenn wir nicht noch mehr Atom-kraftwerke bauen, dann gehen die Lichter aus.“ – organi-siert jetzt den Protest vor Ort gegen die standortnahenZwischenlager. Das ist unglaubwürdig, heuchlerisch undverlogen.
Als Abgeordneter aus Nordrhein-Westfalen möchte ichzum Abschluss Folgendes sagen: Herr Laufs, Sie kommendoch aus Baden-Württemberg. Es gibt Transporte, die denCharakter einer politischen Provokation hätten. DerTransport von Neckar-Westheim nach Ahaus in Nord-rhein-Westfalen wäre eine solche politische Provokationgewesen, die von der Sache her in gar keiner Weise not-wendig gewesen wäre.
Ein Geschäft funktioniert nicht: Sie kassieren in Baden-Württemberg sozusagen die Gewerbesteuer für die Atom-anlagen und wir in Nordrhein-Westfalen nehmen Ihren
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Dr. Reinhard Loske14872
Müll entgegen, wofür wir noch Danke schön sagen sollen.So geht es nicht.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gunnar Uldall.
Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Zunächst wünsche ichunserem Kollegen Loske alles Gute für das neue Lebens-jahr. Vor allen Dingen wünsche ich Ihnen, Herr Loske,sehr viel Weisheit, damit Sie die politischen Dinge immerrichtig einordnen können.
Über Jahre hinweg wurden die Demonstranten amRande der Castortransporte von den Grünen aufgehetzt.Angeblich bestand eine Verstrahlungsgefahr. An den Cas-tortransporten hat sich aber nichts geändert.
Minister Trittin hat eben gesagt, dass durch die Transporteder nächsten Zeit keine Gefahr besteht. Wenn das so ist,dann bestand auch bei den früheren Castortransportenkeine Gefahr. Das zeigt: Minister Trittin, Frau Müller undalle anderen, die zu den Anführern der früheren Demons-trationen gegen die Castortransporte gehörten, sie sind alsPharisäer entlarvt.
Offensichtlich gilt für die Grünen: Castortransporteunter einer CDU-geführten Regierung sind schlecht, Cas-tortransporte unter einer Regierung, an der die Grünen be-teiligt sind, sind gut. So einfach kann man die Rechnungaber nicht machen.
Zu Recht schreibt die „Süddeutsche Zeitung“ in ihrerAusgabe vom Dienstag, Herr Minister Trittin: „Die Cas-tortransporte befördern nicht nur Müll, sondern auch Kar-rieren.“ Herr Minister Trittin, ich finde, das ist eine sehrgute Beschreibung Ihrer politischen Karriere. Ich fragemich: Würden Sie heute auf dieser Regierungsbank sit-zen, wenn Sie damals gegen die Castortransporte nicht soengagiert demonstriert hätten? Die Castortransporte be-fördern nicht nur Müll, sondern auch Karrieren.
Heute berichtet die „Berliner Zeitung“, dass der HerrMinister Trittin heimlich acht Atomtransporte hat durch-führen lassen.
Er hat damit die Bevölkerung und seine eigenenParteifreunde auf das Schlimmste hintergangen.
Die Transporte mögen gerade noch legal gewesen sein,aber politisch, Herr Minister, haben Sie durch die Ver-heimlichung Ihre eigene Basis betrogen.
Ihre Fraktion und die Sozialdemokraten wurden von Ih-nen hinters Licht geführt.
Man stelle sich einmal einen Moment lang vor, washier im Parlament und auf den Straßen in Deutschland losgewesen wäre, wenn unter einer CDU/CSU/F.D.P.-Regie-rung insgeheim acht Transporte mit Atommüll durch-geführt worden wären,
Heute ist hier alles ganz ruhig. Die Grünen klatschen so-gar noch Beifall, wenn der Minister hier spricht. Ich weißeigentlich nicht, worüber ich mehr den Kopf schüttelnsoll: darüber, dass der Minister Trittin seine eigene Frak-tion hinters Licht führt, oder darüber, dass die Grünen-Fraktion Trittin dafür nicht kritisiert. Ein solches Maß anpolitischer Unterwürfigkeit habe ich bei einer anderenBundestagsfraktion noch nie erlebt.
Alles das wäre noch erträglich, wenn es nicht noch ei-nen weiteren und sehr viel ernsteren Aspekt bei dieserAngelegenheit gäbe: Über 25 Jahre haben Sie Ihre politi-schen Vorstellungen stets moralisch überhöht. Ihre politi-schen Ideen hielten Sie nicht nur für richtig – das mussman als Politiker natürlich immer tun –, sondern Sie hiel-ten Ihre Vorstellungen auch immer für moralisch so hochstehend, dass Sie für deren Umsetzung auch andere Mit-tel als die politische Überzeugungsarbeit als gerechtfer-tigt ansahen. Der politische Gegner wurde nicht nur mitWorten bekämpft, der politische Gegner wurde ver-dammt. Das war zum Beispiel bei den Auseinanderset-zungen um den NATO-Doppelbeschluss oder auch beiden Demonstrationen gegen die Kernenergie der Fall.Mit dieser moralischen Selbstüberhöhung haben Siedie einfachen, gutgläubigen Demonstranten angetrieben,sodass viele von ihnen glauben, dass Gewalt bei diesenDemonstrationen auch heute gerechtfertigt sei.
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Dr. Reinhard Loske14873
Deswegen liegt bei Ihnen ganz persönlich, Herr MinisterTrittin, bei Ihnen ganz persönlich, Frau Müller, die politi-sche Verantwortung dafür, wenn auf diesen Demonstra-tionen Gewalttätigkeiten vorkommen sollten.
Sie tragen dafür die Verantwortung, dass dieses vermie-den wird.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Horst Kubatschka.
Sehr geehrte Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Uldall, Sie unter-stellen, die Grünen hätten den politischen Gegner ver-dammt.
Ihre Rede könnte man bestens dafür hernehmen, um zubeweisen, wie Sie das machen. Wie die rechte Seite desHauses in letzter Zeit den politischen Gegner verdammt,geht eigentlich nicht mehr auf die berühmte Kuhhaut. Per-manent versuchen Sie das.
Eigentlich muss die Regierungsarbeit von Rot-Grünsehr gut sein.
Anders lässt es sich nicht erklären, dass die CDU/CSUverzweifelt nach Themen für eine Aktuelle Stunde sucht.Heute setzen wir uns mit dem Thema „Haltung der Bun-desregierung zu den von den grünen Aktivisten angekün-digten Protesten bei Wiederaufnahme der Castortrans-porte“ auseinander. Erst heute früh haben Sie es etwasabgemildert und sprechen jetzt von „grünen Kernkraft-gegnern“. In ihrer Verzweiflung greift die CDU/CSU-Fraktion in innerparteiliche Vorgänge bei den Grünen ein.Dieses Thema müssten eigentlich die Grünen in ihren Par-teigremien diskutieren; es ist eigentlich überhaupt keinThema für den Deutschen Bundestag.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, hinter die Aussage,ob dieser Protest vernünftig ist, setze ich ein Fragezei-chen. Ich will es aber auch klar sagen: Der Protest ist le-gitim. In Art. 8 unseres Grundgesetzes heißt es:Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmel-dung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zuversammeln.Dies ist ein selbstverständliches Grundrecht. Aber ent-scheidend ist auch das Wort „friedlich“. Jede Gewalt wirdvon uns Sozialdemokraten abgelehnt. Gleichwohl gibt esimmer wieder Versuche, Rot-Grün in die Nähe von Ge-walt zu rücken. Dies geht bis hin zu Fälschungen in derZeitung mit den großen Buchstaben. Dies ist eine Strate-gie der CDU/CSU-Fraktion und der gesamten Partei, wiesie hier schon öfter erlebt haben.Um aber die SPD-Linie noch einmal klar zu formulie-ren: Wir lehnen Gewalt gegen Menschen und Sachen ab.Am 17.April 1996 habe ich vor diesem Hohen Hause aus-geführt:In unserem Rechtsstaat bleibt es jedem unbenom-men, gegen Entscheidungen, die er für falsch oderrichtig hält, friedlich zu demonstrieren oder in ande-rer Weise friedlich vorzugehen. Wir fordern die Teil-nehmerinnen und Teilnehmer an der Demonstrationauf, sich nicht an gewalttätigen Aktionen zu beteili-gen. Gewalt gegen Menschen und Sachen ist ein Irr-weg. Gewalttätige Aktionen arbeiten den Befürwor-tern der Kernenergie in die Hände.
Der letzte Satz gilt immer noch. Im Rahmen der Aktuel-len Stunde ist schon angesprochen worden, wie das da-mals dargestellt wurde.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Castortransportesind nicht zu vermeiden. Die rot-grüne Koalition hat nachRegierungsantritt Kriterien und Bedingungen genannt,die erfüllt sein müssen, damit die Transporte wieder ge-nehmigt werden können. Nachdem diese lange Liste ab-gearbeitet wurde, besteht ein Rechtsanspruch auf dieTransporte. Darauf habe ich bereits im November 1999 indiesem Hohen Hause hingewiesen.Durch die Transporte, die jetzt in der Diskussion sind,sollen Glaskokillen aus der Wiederaufbereitungsanlage inLa Hague in das zentrale Zwischenlager Gorleben ge-bracht werden. Auch Frankreich hat einen Anspruch da-rauf, dass man die Glaskokillen abtransportiert.Dazu hat sich die Bundesregierung in einer gemeinsa-men Erklärung vom 6. Juli 1989 und in einem Brief-wechsel zwischen der deutschen und der französischenRegierung vom 25. April 1990 verpflichtet. Die jetzigeRegierung hat sich ebenfalls dieser Verpflichtung gestellt.Wir müssen also abtransportieren, um die Verträge ein-zuhalten. Es ist nach wie vor eine Verpflichtung, eine na-tionale Lösung für die Endablagerung zu finden. Die Cas-tortransporte sind nicht zu verhindern. Sie können aberminimiert werden. Deswegen will die rot-grüne Koalitiondezentrale Zwischenlager schaffen. Damit werden sinn-lose Castortransporte verhindert. Dadurch wird die Zahlder Transporte minimiert. Nach Errichtung der dezentra-len Zwischenlager sollen sie nur noch ein Drittel des jet-zigen Umfangs betragen.Um es aber noch einmal klarzustellen: Bei der Lage-rung an den Kernkraftwerken darf es keine geringere Si-cherheit geben als bei den zentralen Zwischenlagern.Herr Hirche, noch einmal zu Ihrem Zwischenruf. Siehaben von den gewalttätigen Siebzigern gesprochen. Ichmuss sagen: Sie hatten einmal einen Generalsekretär na-mens Flach. Ich glaube, der dreht sich im Grabe um, wenner solche Zwischenrufe hört. Sie sind wirklich zu einer
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Gunnar Uldall14874
Partei verkommen, die Big Brother nützt und Fallschirmspringt. Das ist nicht die alte liberale Partei.Ich danke fürs Zuhören.
– Nein.
Das Wort erhält
noch einmal der Herr Bundesminister Jürgen Trittin.
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit: Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Erstens. Pro Jahr finden in der Bun-
desrepublik Deutschland ungefähr 45 000 Transporte ra-
dioaktiver Stoffe statt.
Zweitens. Die Stoffe, um die es hier geht, sind Brenn-
elemente. Von dieser Kategorie finden pro Jahr – jeden-
falls über den Daumen; ich habe aber auch die genauen
Zahlen für den Fall hier, dass Sie sie haben wollen –
350 Transporte statt. Mich wundert schon, dass Parla-
mentarier, die schon eine geraume Zeit im Geschäft sind,
angesichts dieser Tatsache behaupten, sie hätten von
nichts gewusst.
Man kann von diesen acht Transporten in keiner Weise
behaupten, dass sie geheim stattgefunden hätten. Die ers-
ten vier dieser Transporte wurden im September 1998 und
die nächsten vier Transporte im August 2000 genehmigt.
Diese Genehmigungen waren zuvor Gegenstand eines
öffentlichen Anhörungsverfahrens im Zusammenhang
mit der Stilllegung der Anlage in Hanau. Im Rahmen die-
ses Anhörungsverfahrens ist darüber debattiert worden,
was mit dem Müll und mit den Kernbrennstoffen, die sich
noch in dieser Anlage – beruhend auf der Stilllegung die-
ser Anlage – befanden, zu passieren habe.
Ergebnis des öffentlichen Anhörungsverfahrens ist ge-
wesen, dass die einzige Möglichkeit der Entsorgung die-
ser Kernbrennstoffe der Transport zur Wiederaufberei-
tungsanlage in La Hague war. Was ist daran geheim? Die
„Berliner Zeitung“ hat versucht, ihre mangelnde Recher-
chefähigkeit dadurch zu verdecken, indem sie von Ge-
heimtransporten spricht, obwohl sie Gegenstand von öf-
fentlichen Anhörungen gewesen sind.
– Ich weiß nicht, wie Sie Richter am Hessischen Verwal-
tungsgerichtshof werden konnten.
Angesichts Ihrer Beiträge komme ich ins Grübeln. Dieses
Verfahren hat übrigens in Hessen stattgefunden. Viel-
leicht beschäftigen Sie sich einmal damit, Herr Kollege.
Ich lege ausdrücklich Wert auf die Feststellung, dass es
seit 1998, also seit dem Verhängen des Transportstopps,
keine Castortransporte nach Frankreich mehr gegeben
hat. Diese Transporte hat es nicht etwa deswegen nicht
gegeben, weil eine hysterische Öffentlichkeit – Sie haben
versucht, es so darzustellen – suggeriert hat, diese Trans-
porte seien gefährlich. Diese Transporte haben vielmehr
deswegen nicht mehr stattgefunden, weil die damalige
Umweltministerin Merkel – sie hat jetzt in ihrer Partei
eine bestimmte Funktion – gezwungen war, sie zu stop-
pen. Warum war sie dazu gezwungen? – Weil die Betrei-
ber von Atomtransporten zehn Jahre lang nicht gemeldet
haben, dass bei diesen Transporten die international gül-
tigen Grenzwerte nicht nur nicht eingehalten, sondern um
das Hundertfache und in einigen Fällen sogar um das Tau-
sendfache überschritten worden sind. Das ist der Grund,
warum Frau Merkel völlig zu Recht diese Transporte ge-
stoppt hat.
Wenn Sie versuchen, diese richtige Entscheidung – sie
ist eine der wenigen richtigen atompolitischen Entschei-
dungen von Frau Merkel – in Zusammenhang mit angeb-
lich hysterischem Gerede aus der Richtung der Grünen
und der SPD zu bringen, dann verkennen Sie schlicht und
ergreifend einen einfachen Umstand: Eine Atomaufsicht
kann nicht tolerieren, dass bei Transporten Grenzwert-
überschreitungen in dieser Höhe vorkommen. Wir haben
es hier nicht mit dem Betrieb einer Pommesbude zu tun.
Das ist der Grund, warum die Transporte gestoppt worden
sind und warum wir mit neuen Auflagen sicherstellen,
dass es nicht wieder zu diesen Grenzwertüberschreitun-
gen kommt. Das ist der Unterschied zwischen der heuti-
gen Praxis und der Praxis vor zehn Jahren.
Der Herr Bun-
desminister Trittin hat nach Ablauf der vorgesehenen
Dauer der Aussprache gesprochen. Da, wie nach unseren
Regeln vorgesehen, eine fünfminütige Antwort innerhalb
der Dauer der Aussprache nicht mehr möglich ist, eröffne
ich auf Verlangen der CDU/CSU eine weitere Ausspra-
cherunde. Jede Fraktion kann sich daran mit einem fünf-
minütigen Redebeitrag beteiligen.
Zunächst erteile ich dem Abgeordneten Uldall das
Wort.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Ich weiß gar nicht, warum Sie sich soaufregen, Herr Kollege Trittin.
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Horst Kubatschka14875
Wenn das Verfahren in Ordnung und jedermann be-kannt gewesen ist: Warum echauffieren Sie sich dann amRednerpult? Es kommt außerordentlich selten vor, dasseine Aussprache im Rahmen einer Aktuellen Stunde vomMinister noch einmal eröffnet wird, weil er ein bestimm-tes Thema in der vorgesehenen Debattenzeit nicht ange-sprochen hat.
Wenn Sie dieses Thema ganz bewusst nicht angespro-chen haben, obwohl es heute in einer Vielzahl von Agen-turmeldungen abgehandelt wurde, obwohl Rundfunkmel-dungen dazu gelaufen sind und die „Berliner Zeitung“einen großen Bericht geschrieben hat, dann zeigt dasdoch, Herr Minister Trittin, dass Sie in dieser Frage einaußerordentlich schlechtes Gewissen haben.
Wir haben mit Ihnen hier ja schon viele Debatten geführt.Aber dass Sie einmal schlichtweg etwas vergessen hätten,war nie der Fall. Sie haben dieses Thema ganz bewusstausgeklammert.Wenn Sie nun sagen, es sei für Sie völlig unverständ-lich, warum dieses Thema in der Öffentlichkeit zu einersolchen Erregung führe, dann will ich nur an das erinnern,was der Kollege Michael Müller von der SPD hierzu ge-sagt hat.
– Der Kollege Michael Müller fehlt natürlich, weil ihmdiese ganze Geschichte außerordentlich peinlich ist. Daskann ich auch verstehen.
Der Kollege Müller hat – obwohl Sie gemeint haben,das hätte eigentlich jeder wissen müssen – gesagt: Ichhabe von diesen Transporten nichts gewusst, das ist eineUnverschämtheit. – Recht hat Herr Müller, kann ich nursagen.
Wenn Sie sagen, dass das Ganze eigentlich völlig inOrdnung gewesen sei, dann kann ich nur wiederholen,was ich schon vorhin ausgeführt habe:
Es ist beschämend, dass sich die grüne Fraktion von ihremMinister so abbürsten lässt.
Der Einzige, der hier wenigstens etwas Flagge gezeigthat, war der Vertreter von der Sozialdemokratischen Par-tei. Es wäre gut, wenn Frau Müller gleich noch einmalnach vorne gehen würde und genauso mannhaft und klarwie ihr Namenskollege aus der SPD dieses von Trittinverschwiegene, verheimlichte Transportieren von Atom-müll durch Deutschland verurteilen würde.
Es handelt sich hier nicht um eine vernachlässigbareGrößenordnung, – überhaupt nicht, Herr Trittin. Das lässtsich nicht einfach vom Tisch wischen. Wir haben ja vonHerrn Trittin schon gehört, dass es in den Jahren 1998 und2000 Fuhren gab. Die ersten Transporte wurden alsodurchgeführt, sofort nachdem Herr Trittin Umweltminis-ter geworden war und wenige Monate nachdem FrauMerkel einen allgemeinen Transportstopp ausgesprochenhatte. Jeder politisch denkende Umweltpolitiker wusstedoch, dass damit im Grunde genommen jegliche Art vonTransporten gestoppt werden sollte. Aber Sie, HerrTrittin, als grüner Umweltminister haben dann sofortdafür gesorgt, dass diese Transporte wieder durchgeführtwurden.Bei der zweiten Runde im letzten Jahr handelte es sichum Transporte von insgesamt 3 927 Kilogramm Uran und154 Kilogramm Plutonium. Ich kann nur sagen: Dies istder Rohstoff, aus dem man auch Bomben bauen kann.
Wie ist eigentlich gesichert worden, dass hieraus keineBomben gebaut werden und dass nichts irgendwie abhan-den kommt?Dies ist ein großer Skandal. Durch den zweiten Auftrittvon Herrn Minister Trittin hat dieser Skandal erst seine ei-gentliche Dimension erfahren. Deswegen ist es richtig,dass wir zu dieser Sache noch einmal das Wort bekommenhaben.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Herr Kollege Kubatschka.
Liebe Kolleginnen undKollegen! Auch wenn Sie noch so lautstark sind, HerrUldall: So schnell wird kein Skandal daraus.
– Das wollen wir erst einmal prüfen.
Ich meine, wir sollten uns im Umweltausschuss einenBericht dazu anhören und darüber sprechen. Sie reagierenauf Pressemeldungen und sagen, sie seien wahr.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Gunnar Uldall14876
– Ich habe ja nicht die Existenz der Transporte geleugnet.Ich denke auch, wir müssen über diese Meinung vonHerrn Trittin sprechen.
Aber nach meiner Auffassung ist der Umweltausschussder Ort, wo das erörtert werden sollte.
Ich möchte das nicht aus der Hüfte heraus im Schnell-schuss beurteilen, denn ich möchte zu vernünftigen Aus-sagen kommen.Ich wurde gerade von n-tv zu einem Interview über dieCastortransporte gebeten. Als mir der Journalist die Fra-gen stellte, fiel mir auf, dass er von etwas ganz anderemspricht. Ich hatte angenommen, es gehe um die Castor-transporte, die Thema dieser Aktuellen Stunde sind. Eraber wollte über die so genannten Geheimtransporte spre-chen.Es gab diese Geheimtransporte nicht. Minister Trittinhat klargelegt, dass es natürlich Transporte gegeben hat.Wegen dieser Transporte sollten Sie dem Minister keinschlechtes Gewissen einreden.
Sie versuchen einen Skandal herbeizureden, der so nichtstattgefunden hat.
– Frau Präsidentin, ich weiß nicht, ob Zwischenfragenzulässig sind.
Nein. Wir befin-
den uns immer noch in der Aktuellen Stunde.
Dies geht also leider nicht.
So müssen die Kollegen von der CDU/CSU weiter randa-
lieren und können sich nicht artikulieren und mir damit
nicht die Möglichkeit geben zu antworten.
Diese Geheimtransporte – sie würden in Ihr politisches
Kalkül passen – haben so nicht stattgefunden. Aufgrund
meiner Informationen gehe ich davon aus, dass diese
Transporte selbstverständlich unter höchster Bewachung
durchgeführt wurden, wenn dabei Plutonium im Spiel
war. Dann besteht schon die Gefahr, dass etwas passiert.
Meine Damen und Herren, im Grunde genommen ba-
den wir aus, was Sie uns bis 1995 eingebrockt haben.
Bis 1995 wurde überlegt, in Hanau eine Atomfabrik zu
bauen. Sie ist dann Gott sei Dank nicht gebaut worden.
Das dafür notwendige Atommaterial existiert und muss
abtransportiert werden.
Ich halte es für vernünftig, es nach La Hague zu transpor-
tieren, weil das meiner Meinung nach eine vernünftigere
Lösung ist, als das Material weiter in Hanau zwischenzu-
lagern. In La Hague wird es, wenn dazu die Genehmigung
erteilt wird, zu MOX-Brennelementen aufgearbeitet wer-
den.
Diese Angelegenheit hat also nichts mit den Castor-
transporten zu tun, über die hier zunächst diskutiert wor-
den ist. Das ist ein ganz anderes Thema. Wenn dieses
Atommaterial in Castorbehältern transportiert und das
Verbot, das Ihre Ministerin ausgesprochen hat, umgangen
worden wäre, dann wäre dies für mich ein Skandal. Aber
dies hat so nicht stattgefunden.
Dadurch, dass Sie es behaupten, wird es nicht wahrer.
Das ist das Entscheidende bei dieser Sache. Wir werden
im Umweltausschuss prüfen, ob der Transport nach La
Hague eine vernünftige Lösung ist. Ich glaube, das, was
Sie hier vorbringen, ist ein Schnellschuss und bringt uns
nicht weiter.
Ich danke Ihnen für Ihr Zuhören.
Das Wort hat
jetzt noch einmal der Abgeordnete Walter Hirche.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! In Wirklichkeit geht es hier darum, dassein Fall von Doppelmoral offenkundig geworden ist.
Herr Minister Trittin, ich halte Ihre Sachdarstellung – derAusschuss wird sie prüfen – für durchaus nachvollzieh-bar. Aber Herr Uldall hat es auf den Punkt gebracht: Wenneine andere Regierung in dieser Art und Weise solcheTransporte durchgeführt hätte, hätten Grün und Rot diehalbe Republik mobilisiert
und beispielsweise gesagt: Verstoß gegen Recht und Ge-setz, die Atommafia ist am Werke, da soll etwas verscho-ben werden – um mit Trittins Worten zu sprechen.Der Hauptpunkt in dieser Geschichte ist, dass der Ver-such gemacht wird, mit zweierlei Maßstäben zu arbeiten,
und zwar je nachdem, ob Rot-Grün es tut oder ob es diealte Regierung getan hat.
Das ist die Verbindung zum ersten Thema dieser Aktuel-len Stunde.
Ich habe hier gesagt – dabei bleibe ich; Herr KollegeLoske, Sie haben das dankenswerterweise aufgegriffen –,dass die Transporte, die unter der CDU/CSU-F.D.P.-Re-gierung durchgeführt wurden, ungefährlich und sicherwaren und dass auch die neuen Transporte sicher sind.
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Horst Kubatschka14877
Daraufhin haben Sie gesagt, ob die Transporte sichersind, sei letztlich überhaupt nicht der Punkt. Früher habenSie aber die Leute mobilisiert
und gesagt: Die Polizeibeamten, die sich in der Nähe die-ser Castorbehälter bewegen, werden alle impotent; manfällt um, wenn man sich zu lange in deren Nähe aufhält.Es wundert mich immer, dass die Leute dann direkt vorOrt demonstrieren. Das waren Ihre Vokabeln. Sie habengesagt, das sei das Schlimme; deswegen dürften solcheTransporte nicht stattfinden. Ich habe dagegen gesagt: Diealten Transporte waren genauso sicher, wie die neuen essind. Es sind zusätzliche Auflagen in einzelnen Punkten,an denen man Schwächen erkannt hat, gemacht worden.Das ist das klassische deutsche Verwaltungshandeln.Jetzt kommen wir an einen interessanten Punkt. Sie sa-gen: Gegen die neuen Transporte haben wir nichts, weilder Zweck ein anderer ist.
Denn Sie bringen dies in Verbindung mit Ihrem Plan, ausder Kernenergie auszusteigen. Damit führen Sie etwasNeues in das deutsche Rechtsverständnis ein. Es gehtnicht mehr darum, einen Sachverhalt zu beurteilen und zuprüfen: ob ein Transport sicher ist oder nicht. Weil einZweck für richtig gehalten wird, ist vielmehr plötzlich dergleiche Sachverhalt heute in Ordnung, während er frühernicht in Ordnung war.
Meine Damen und Herren, das ist die eigentlicheFrage, mit der wir uns auseinander setzen müssen, und daszeigt auch die Linie zu dem auf, was sich Anfang der70er-Jahre an den Hochschulen abgespielt hat, HerrKubatschka. Ich hatte dies bereits angesprochen. Einigeglaubten, nachdem sie definiert hätten, was für sie selberdas Richtige ist, sagen zu können
– Selbstgerechtigkeit, sage ich zunächst einmal –, ob eineSache richtig oder falsch ist.
Wir haben aber unseren Rechtsstaat errichtet, damit un-abhängig von den Zwecken und den Meinungen der Leuteobjektiv Recht gesprochen wird. Dagegen verstoßen Siean dieser Stelle fundamental.
Das wäre ein Staat, wie ich ihn in Deutschland nicht ha-ben will.
Ich will einen Staat haben, bei dem der Buchstabe des Ge-setzes gilt, unabhängig von dem Zweck, für den etwas ge-macht wird. Insoweit unterscheiden sich unsere Beweg-gründe fundamental.
Herr Kubatschka, ich habe in diesem Zusammenhangim Übrigen nicht pauschal von den 70ern gesprochen.
Wenn Sie das so aufgefasst haben, tut mir das Leid. Dannnehme ich das zurück. Ich habe gesagt: Es gibt einen Un-terschied zwischen den 68ern und dem, was sich bei den70ern an Gewalttätigkeit abgespielt hat. Das wird ja auchin der Presse breit diskutiert. Da sage ich: Ein Bindeglied– darüber werden wir noch diskutieren müssen – ist derberühmte Chefberater Herrn Fischers, Herr Schmierer,
der damals, 1970, den Psychoterror an der UniversitätHeidelberg organisiert hat und unter dem ich und vieleandere gelitten haben. Ich nehme nicht hin, dass das Rechtnoch einmal für Zwecke instrumentalisiert wird, dassunterschieden wird, ob etwas gut oder böse ist. Recht giltfür alle, unabhängig vom Zweck.
Das Wort hat
noch einmal der Abgeordnete Reinhard Loske.
Herr Hirche, wir wollen einmal ein wenig mehr Ruhe indie Debatte hineinbringen. Den Pappkameraden, den Siehier aufbauen, gibt es in dieser Form überhaupt nicht.Jetzt zu Ihren Argumenten, und zwar zunächst nur zuden Tatsachen, soweit ich sie aus dem Stand beurteilenkann. Es ist vollkommen richtig, dass wir nicht alle De-tails ständig parat haben –, auch als Abgeordnete nicht.Erstens, zu den Transporten: Ich habe mich noch ein-mal vergewissert. Es geht um zwei Chargen à vier Trans-porte. Die Transporte aus dem Jahre 1998 sind am18. September 1998 von der Umweltministerin Merkelgenehmigt worden.
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Walter Hirche14878
Zu diesem Zeitpunkt war Walter Hirche von der F.D.P.Parlamentarischer Staatssekretär. Er tut jetzt so, als wenner von Tuten und Blasen keine Ahnung hätte.
Herr Hirche, Sie wissen, dass ich Sie als Kollegen schätze.Aber das nenne ich absolut scheinheilig.
Zweiter Punkt. Hier werden systematisch und vorsätz-lich die Castortransporte auf der einen Seite und auf deranderen Seite die notwendigen Transporte, die aufgrundder Abwicklung, Schließung, Stilllegung und Dekontami-nation der Anlagen von Alkem und Nukem in Hanau not-wendig geworden sind, vermischt. Das sind zwei äußerstunterschiedliche Dinge.
Ich möchte Sie wirklich bitten, diese Dinge auseinanderzu halten.Hier ist viel über Juristerei geredet worden. FrauMerkel hat sich geärgert, weil sie jahrelang von der Atom-industrie nach Strich und Faden belogen worden ist. Des-halb hat sie politischen Druck ausgeübt. Dieser Druck hatdazu geführt, dass die Atomkraftwerksbetreiber von denerteilten Genehmigungen keinen Gebrauch gemacht ha-ben. Das war der Stand der Dinge. Sie dürfen hier nicht al-les miteinander vermischen.Bei dem dritten Punkt, den ich noch ansprechenmöchte, geht es um die Frage, wie sich das in der Praxisverhält. Darüber können wir im Detail noch einmal imUmweltausschuss reden, wobei mir der Fall allerdings re-lativ klar zu sein scheint. Hier hat eine Information derÖffentlichkeit durch die hessische Landesregierung statt-gefunden. Diese Information war umfassend. Klar warnämlich, dass viele öffentliche Belange berührt sind,wenn eine solche Anlage wie in Hanau abgebaut wird.Das muss man umfassend besprechen. Das ist geschehen.Insofern besteht kein Grund, von Geheimaktionen zusprechen. Das ist absoluter Blödsinn.
Sprechen kann man sicherlich noch einmal über dieFrage, ob dann, wenn das Bundesamt für Strahlenschutzals Genehmigungsbehörde ein bestimmtes Zeitfenster fürdie Transporte angibt, auch der Tag genau genannt wird.Ob das bei 350 Transporten im Jahr sinnvoll und für dieÖffentlichkeit wirklich erforderlich ist, kann man in Ruhebesprechen.Ich möchte Sie aber bitten, nicht Äpfel mit Birnen zuvergleichen und nicht eine Debatte aufzuziehen, HerrHirche, die sozusagen den Charakter eines Popanzes hat.Jürgen Trittin vertritt – das gilt für ihn in ganz besondererWeise, völlig unabhängig davon, welche politischen Vor-behalte Sie ihm gegenüber haben, – in dieser Frage eine150-prozentig klare rechtsstaatliche Position, die ihm imÜbrigen auch viel Ärger einbringt. Das nötigt mir durch-aus Respekt ab. Von daher sollten Sie keine Zwischentönein die Diskussion bringen, die so nicht gerechtfertigt sind.
Das Wort hat die
Abgeordnete Eva Bulling-Schröter.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe das Gefühl,dass diese Debatte scheinheilig geführt wird, und zwar aufallen Seiten.
Ich beginne einmal mit Frau Lengsfeld und Herrn Gehb.Aus den Reden hat der Hass gegenüber Demonstrantin-nen und Demonstranten nur so getrieft. Frau Lengsfeld istleider schon weg. Offensichtlich hatte sie keine Zeit mehr.Scheinheiligkeit der CSU: In Bayern sind Sie gegenZwischenlager, in einem Land, in dem die Atomkraft ab-solut befürwortet wird. Vielleicht werden Herr Stoiberund ich gemeinsam gegen Zwischenlager demonstrierenmüssen. Sie wollen aber die Atomkraftwerke weiterbe-treiben. Sie wollen keinen Atomkonsens. Sie wollen über-haupt nichts.
Gute und schlechte AKWs: Die CSU spricht sich in Bay-ern bei Bürgerinitiativen gegen Temelin aus.
In Passau ist das alles bekannt. Gleichzeitig werden vonder Bayerischen Staatsregierung Kredite für den Bau vonTemelin vergeben. Die CSU lehnt es im BayerischenLandtag natürlich ab, einen Untersuchungsausschuss ein-zusetzen.Ein Stadtrat in Passau fordert die Bürger auf, von ihremVersorgungsvertrag mit Eon zurückzutreten, damit keinStrom von diesem schmutzigen Atomkraftwerk bezogenwird.
Dieser Mann soll entlassen werden. Das ist Scheinheilig-keit hoch drei. Irgendwann muss man sich entscheiden.Sie tun das aber nicht.SPD und Atomkonsens: Die Laufzeit der AKWs sollnoch 32 Jahre betragen. Schacht Konrad soll genehmigtwerden.
Zwischenlager sollen genehmigt werden. In der Geneh-migung von Gundremmingen steht eine Laufzeit bis2046. Das ist ein bisschen länger als ein paar Jahre. DieWiederaufbereitung soll bis 2005 genehmigt werden.
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Dr. Reinhard Loske14879
Über die atomare Verstrahlung der Meere spricht nie-mand, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen.Meine Kollegin Ursula Schönberger stand hier mit mir.Wir haben über diese Themen diskutiert. Damals klangdas noch ganz anders; AKWs und Transporte galten alsschädlich. Jetzt sind sie plötzlich nicht mehr schädlich.Das müsst ihr uns einmal erklären.
Warum sich die CSU und die F.D.P. aufregen, versteheich nicht. Sie wollen doch die Atomkraft noch viel längernutzen.Die Bundesregierung garantiert im Zusammenhangmit dem so genannten Atomkonsens den ungestörten Be-trieb. Wie die Anti-AKW-Bewegung kann auch ich nursagen: Konsens ist Nonsens. Denn nach wie vor wird keineinziges AKW abgeschaltet. Wir werden sehen, wannüberhaupt eins abgeschaltet wird.
Im Grunde gibt es eine Atomverstromungsgarantie, dasheißt, die Atomkonzerne werden weiter Profite machen.Sie haben jetzt auch noch die Garantie durch die rot-grüneRegierung. Danke.
Die Leute in Gorleben haben das Recht zu demonstrie-ren. Es geht darum, dass sie den Atomausstieg wollen,und zwar nicht in 10 oder 20 Jahren, sondern jetzt. Da-hinter steht die PDS. Wir werden den Protest unterstützen.
Was Sie von der rechten Seite hier betreiben, ist Hetze.Diese Hetze haben wir schon ein paarmal erlebt. Demje-nigen, der sagt, das ist die Ecke der Buback-Mörder, kannich nur sagen, dass ich in München bei einer Demo gegendie NPD war und uns die NPD entgegengerufen hat: „IhrBuback-Mörder“. Wenn Sie sich auf diese Ebene begebenwollen, täte mir das wirklich Leid.
Bezüglich der geheimen Transporte bin ich der Mei-nung: Aufklärung muss natürlich sein. Im September1998 war Herr Hirche noch Staatssekretär; da gab es dieneue Regierung noch nicht. Wir wollen Aufklärung. Fürmich ist eines ganz klar: Wenn es heißt, alle Transportewerden nicht genehmigt, dann meine ich auch alle, dannsollte auch die Bundesregierung, egal welche, alle Trans-porte meinen. Hier ist Aufklärung nötig. Natürlich ist klar– Sie haben Recht, Herr Hirche –: Was hätte die grüne Par-tei gesagt, wenn Sie das damals gemacht hätten?
– Sie haben es gemacht, das ist das Schlimme. Wo ist derUnterschied?
Ich meine, hier muss es einen Unterschied geben.Ich wünsche mir, dass trotz der geänderten Haltung derGrünen möglichst viele Menschen in Gorleben demons-trieren; denn die AKW-Bewegung hat sich inzwischenemanzipiert, sie braucht keine Parteien mehr. Es wird einegute außerparlamentarische Opposition.
– Vielleicht braucht sie uns nicht, aber wir unterstützensie, ohne sie parteilich vereinnahmen zu können oder zuwollen. Das ist eine wichtige Sache.Ich denke, die Proteste werden sehr stark werden. Ichwünsche den Leuten dort viel Erfolg.
Die Aktuelle
Stunde ist damit beendet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung futtermittelrechtlicher, tierkörperbe-
seitigungsrechtlicher und tierseuchenrechtlicher
Vorschriften im Zusammenhang mit der BSE-
Bekämpfung
– Drucksache 14/5219 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
– Drucksache 14/5332 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Helmut Lamp
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Matthias Weisheit.
Frau Präsidentin! GeschätzteKolleginnen und Kollegen! Mit dem Gesetz zur Änderungfuttermittelrechtlicher, tierkörperbeseitigungsrechtlicherund tierseuchenrechtlicher Vorschriften im Zusammenhangmit der BSE-Bekämpfung stellen die Koalitionsfraktionenvon SPD und Grünen und die Bundesregierung erneut unterBeweis, wie ernst sie diese Aufgabe nehmen und dass siedurch schnelles und konsequentes Handeln das Vertrauender Verbraucherinnen und Verbraucher in unsere heimi-schen Nahrungsmittel wiedergewinnen wollen.
Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Oppositions-fraktionen und den Bundesländern dafür, dass sie auf die
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Eva Bulling-Schröter14880
üblichen Fristen bei der parlamentarischen Beratung ver-zichten und so eine Verabschiedung dieses Gesetzes in-nerhalb einer guten Woche ermöglichen.
So werden unnötige Verzögerungen bei der BSE-Bekämpfung vermieden.Dieses Gesetz enthält eine Reihe von Verordnungser-mächtigungen, die notwendig sind, um die Vorschriftender einschlägigen Gesetze im Zusammenhang mit derBSE-Bekämpfung neuen Entwicklungen und wissen-schaftlichen Erkenntnissen jeweils aktuell anpassen zukönnen. Die im Ausschuss vorgetragenen grundsätzlichenBedenken des Kollegen Heinrich gegen diese Verord-nungsermächtigungen – er wird sie hier sicherlich wie-derholen – sind nicht tragfähig. Ich will das am Beispielder derzeit verfügten Bestandskeulung von Rinderher-den, in denen ein BSE-Fall aufgetreten ist, verdeutlichen.Nach gegenwärtigem Stand der wissenschaftlichen Er-kenntnisse bleibt unter dem Primat des vorsorgenden Ver-braucherschutzes keine andere Möglichkeit, als die ge-samte Herde zu schlachten. Diese Anordnung fällt mitSicherheit keinem von uns leicht; dessen können Sie si-cher sein.Gibt es aber Fortschritte, neue wissenschaftliche Be-wertungen, können sie durch Verordnung, so wie wir esvorgesehen haben, sofort umgesetzt werden, ohne dass eseines – wie wir alle wissen – langwierigen Gesetz-gebungsverfahrens bedarf. Der Umgang mit Beständen,in denen BSE aufgetreten ist, kann in Zukunft flexibel denjeweiligen Erkenntnissen entsprechend gehandhabt wer-den. Auch die Sorge, wir Parlamentarier würden in demFall außen vor bleiben, ist angesichts der bisher geübtenPraxis der Bundesregierung nicht begründet, und daranwird sich speziell im Zusammenhang mit der BSE-Bekämpfung nichts ändern.
Besonders froh bin ich darüber, dass unser allerWunsch, eine Sonderregelung im Milchquotenregime fürvon BSE betroffene Betriebe zu treffen, mit diesem Ge-setz erfüllt wird. Die betroffenen Betriebe können ihreMilchquote maximal zwei Jahre, bis ihre Herde wiederaufgebaut ist, ganz oder teilweise verleasen. So wird derwirtschaftliche Schaden durch das Auftreten von BSE ineinem Betrieb in Grenzen gehalten.
Ein Ansatz, der die Entschädigung unbilliger Härtendurch Maßnahmen zur BSE-Bekämpfung geregelt hätte,musste zu unserem Bedauern aus dem Entwurf gestrichenwerden, um die rasche Zustimmung des Bundesrates zumRest des Gesetzes zu ermöglichen.An die Adresse aller Länder – hierbei spielt die Farbeüberhaupt keine Rolle – richte ich den dringenden Appell,sich sehr schnell mit der Bundesregierung über eine Auf-teilung der Kosten im Zusammenhang mit der BSE-Be-kämpfung zu einigen. Es kann nicht angehen, dass dieBundesländer, die unter anderem für die Kontrolle vonFuttermitteln verantwortlich sind und die einen großenTeil der Verantwortung dafür tragen, dass es in der Ver-gangenheit in diesem Sektor nicht immer nach Recht undGesetz zugegangen ist, die finanziellen Lasten jetzt aufden Bund allein abschieben wollen. Auf diese Art undWeise wird das föderale System leichtfertig in Misskreditgebracht. Die Leidtragenden sind die betroffenen Unter-nehmen und die Bauern. Deshalb noch einmal mein Ap-pell: Einigen Sie sich – auf der Bundesratsbank sitztnatürlich niemand – möglichst schnell mit der Bundes-regierung auf eine Regelung für die Entschädigung.
Eine letzte Anmerkung zu den Vorschlägen Kommis-sar Fischlers zur weiteren Begrenzung der Überschüsse.Eine 90-Tier-Obergrenze für Rinderprämien lehnen wirebenso ab wie weitere Tötungsaktionen über die beschlos-sene Zahl von Tieren hinaus.
– Das steht nicht im Gesetz, aber ich mache hier nochdiese Anmerkung, damit das klar ist. – Wir erwarten inZukunft von der Europäischen Union keine weiteren Tö-tungsaktionen und auch nicht diese 90-Tier-Obergrenze.Wir unterstützen hier die Ministerin in ihrer Haltung mas-siv und hoffen, dass sie das in Brüssel so durchsetzenkann.Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Helmut Lamp.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und liebe Kolle-gen! Die CDU/CSU-Fraktion hat erhebliche Bedenkengegen die Verabschiedung dieses Gesetzes. Wir werdenaber aus übergeordneten Gründen und insbesondere weilwir heute Morgen nach Rücksprache mit verschiedenenLändern signalisiert bekommen haben, dass in nächsterZeit einige Ergänzungen umgesetzt werden, die uns sehram Herzen liegen und auf die ich noch zu sprechen kom-men werde, mehrheitlich zustimmen.Das Gesetz ist eine erste Korrektur des Verfütterungs-verbotsgesetzes vom 1. Dezember. Weitere Nachbesserun-gen werden ganz sicher bald folgen. Im Dezember akzep-tierten wir die Eilbedürftigkeit der Gesetzesverabschiedung.Auch wenn wir diesmal dem Gesetz zustimmen werden, sofehlt uns jetzt für das überstürzte Verfahren doch das Ver-ständnis. Die rot-grüne Regierung hatte zwei Monate Zeitzur Vorbereitung des Nachbesserungsgesetzes.
Auch ein Ministerwechsel kann nicht als Grund der Ver-zögerung vorgeschoben werden. Der Mitarbeiterstab im
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Matthias Weisheit14881
Ministerium ist in die Problematik eingebunden. Die Pro-bleme sind seit Wochen und Monaten bis ins letzte Detailbekannt. Es wäre durchaus möglich gewesen, die parla-mentarischen Gremien in ausreichender Weise in die Be-ratungen mit einzubeziehen.Nun werden immer noch etliche Fragen offen bleiben.Auch die betroffenen Verbände bemängeln nachdrück-lich, dass ihnen nicht der erforderliche Zeitrahmen fürumfassende Stellungnahmen eingeräumt wurde. Wirwerden ein oberflächliches Durchpeitschen so wichtigerGesetzesvorhaben künftig nicht mehr einfach hinneh-men.
Abgesehen von gewissen Vorbehalten kann dieCDU/CSU den Gesetzestext in den wichtigen Teilen mit-tragen. So stehen wir im Sinne eines vorbeugenden Ver-braucherschutzes zu den futterrechtlichen Bestimmun-gen des Gesetzentwurfes. Wir begrüßen, dass in dergestrigen Ausschusssitzung unser Antrag Berücksichti-gung fand, den Herr Weisheit schon angesprochen hat.Damit wird einem wichtigen CDU-Anliegen Rechnunggetragen, nämlich dass auch die Milchbetriebe in dieÜbergangsregelung für Milcherzeuger einbezogen wer-den, die nur indirekt von einem BSE-Fall betroffen wur-den, also zum Beispiel jene Betriebe – wie das hier schongesagt wurde –, von denen Rinder verkauft worden wa-ren, die auf anderen Höfen an BSE erkrankten.Ein entscheidender Punkt, den ich vorhin schon an-deutete, ist, dass uns heute Vormittag in Aussicht gestelltwurde, dass der Tiermehltourismus über die Ländergren-zen hinweg eingedämmt werden soll, und zwar vonseitender Länder; die werden darauf drängen.
Damit zeichnet sich die baldige Lösung eines für uns sehrzentralen Problems ab. Das erleichtert es uns, unser Un-behagen zurückzustellen und dem Gesetz nun doch zu-zustimmen.Mit dem Tiermehltransport über Ländergrenzen hin-weg sind vielfältige Probleme verbunden. So sindwährend des Transportes feinkörniger Tiermehle ausGroßbritannien, die für die Verbrennung in Deutschlandvorgesehen sind, Verwehungen nicht auszuschließen. DieCDU/CSU fordert die Bundesregierung nachdrücklichauf, gemeinsam mit den Ländern sicherzustellen, dassmöglichst bald zumindest Tiermehlimporte nachDeutschland unterbunden werden. Wir sind der Überzeu-gung, dass das Tiermehlproblem von jedem Land inner-halb seiner eigenen Grenzen gelöst werden muss. Damitwürde auch die Gefahr vermindert, dass Tiermehle dochwiderrechtlich als Tierfutter eingesetzt werden.Man kann sich natürlich fragen, warum wir uns überVerwehungen Sorgen machen, ist Tiermehl doch immernoch in Gartenfachgeschäften in unbegrenzten Mengenfrei verkäuflich. Seit Wochen mahne ich das Verbrau-cherministerium, dieses Problem aufzugreifen, ohne dasserkennbare Konsequenzen zu registrieren sind. Nochheute Morgen wurde mir auf Anfrage bestätigt, dass inder Gartenabteilung eines Berliner Baumarktes reinesKnochenmehl, aufgepeppt mit Blutmehl, für jedermannin ausreichenden Mengen zu haben sei. Ich denke, hierkönnte die Verbraucherministerin auch einmal Aktivitä-ten zeigen und dieses doch so kleine Problem in Kürzelösen.Ich erwarte in diesem Zusammenhang von der Regie-rung – auch dies hätte Niederschlag im Gesetz findenkönnen –, dafür zu sorgen, dass auf EU-Ebene umgehenddie Düngung mit Tiermehlen in Gärten und im ökologi-schen Landbau verbindlich untersagt wird.
Auch wenn wir dem Gesetz zustimmen werden, sosind noch eine Reihe von Fragen offen. Ich möchte hiereinige markante Punkte nennen: Herr Weisheit, viel zuweit gehen unserer Ansicht nach die im Gesetz vorgese-henen Verordnungsermächtigungen. Damit könnenVerordnungen – für einen gewissen Zeitraum geltend –an Parlament und Länderkammer vorbei erlassen wer-den.
Was sollen wir davon halten, wenn uns gestern der Re-gierungsvertreter eher lapidar mitteilt, dem zuständigenFachausschuss würden anstehende Verordnungstexte zurKenntnis gegeben? Das ist keine Beratung in den politi-schen Gremien.
Existenzielle Rechte des Parlaments werden hiermit aus-gehöhlt, eine parlamentarische Kontrolle ist somit nichtmöglich. Wie die Praxis aussehen wird, werden wir sehenund sehr genau beobachten.Es wird unserer Meinung nach langsam skandalös,dass es immer noch keine verbindlichen Vorgaben zur Fi-nanzierung der Folgekosten der BSE-Krise gibt. Wirerlassen Gesetze – auch heute wieder –, deren Finanzie-rung im Nebel liegt.Während der Anhörung am 5. Januar dieses Jahres imBerliner Roten Rathaus kündigte der damalige Landwirt-schaftsminister Funke an, die Frage der Finanzierung imZusammenhang mit den Folgekosten werde in den nächs-ten zwei Wochen geklärt.
Einige Tage später wurde Frau Künast die verantwortli-che Ministerin. Auch sie hat bis heute kein Konzept zurFinanzierung der Folgekosten vorgelegt. Nichts ist da!
Im Gegenteil: Sie ließ es zu, dass im vorliegendenBSE-Maßnahmengesetz der § 5 zum „Ausgleich unbilli-ger Härten“ komplett gestrichen wurde. Der Kernsatz des§ 5 lautete:
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Helmut Lamp14882
Wird durch eine Anordnung aufgrund dieses Geset-zes ... dem Betroffenen ein erheblicher Vermögens-nachteil zugefügt, so kann ein Ausgleich in Geld ge-währt werden.Selbst diese pflaumenweiche Formulierung war zu viel.Die Betroffenen aber haben einen Anspruch darauf, um-gehend und verlässlich darüber informiert zu werden, wiees mit der Finanzierung der Folgen der BSE-Krise wei-tergehen soll. An der Finanzierung soll sich jeder beteili-gen, heißt es. Offensichtlich haben aber manche nochnicht begriffen, dass die Bauern, die Futtermittelindustrieund das Fleischereigewerbe mit dem Rücken an der Wandstehen und kaum mehr finanzielle Spielräume haben.1995 verkaufte ich Mastbullen aus meinem Stall für8,40 DM das Kilogramm. Bullen gleicher Qualität wer-den heute in Schleswig-Holstein mit 3,35 DM notiert. Dasist eine Mindereinnahme von weit über 1 000 DM je Tier.In der Zwischenzeit explodierten förmlich die Kosten.Die Beiträge für den Tierseuchenfonds werden sich innächster Zukunft wahrscheinlich verzehnfachen. Es dro-hen der Gesamtwirtschaft Folgen, die in ihrem Gesamt-umfang immer noch weit unterschätzt werden.Ich möchte zum Schluss kommen. Ich hätte noch gernedas eine oder andere zum Außenschutz gesagt.
Wir werden – wenn auch mit erheblichem Unbehagen –dem vorliegenden Gesetzentwurf mehrheitlich zustim-men. Unsere uns nicht leicht fallende Zustimmung solltedie Ministerin als Angebot zur kritisch-konstruktiven Be-gleitung im Interesse eines wirksamen Verbraucher-schutzes und des Erhaltes einer vielfältigen mittelständi-schen Landwirtschaft verstehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin
Ulrike Höfken.
Sehrgeehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Der Agrarbericht zeigt – das ist erfreulich –, dass esaufwärts geht. Für die Betriebe gibt es bei den Einnahmenein Plus von etwa 13 Prozent. Eine Ausnahme stellt hierRheinland-Pfalz dar, wo der F.D.P.-Landwirtschaftsmi-nister Bauckhage auch aktuell nicht allzu viel Innovati-onskraft beweist.
Dieses Plus von 13 Prozent – das wissen wir natürlich –hat sich aber hauptsächlich im Bereich der Veredlung beiden Schweinepreisen ergeben. Dabei muss man im Zu-sammenhang mit der Diskussion um den aktuellen Skan-dal darauf hinweisen, dass es erheblichen Handlungsbe-darf gibt; denn wenn der Skandal um die Haltung vonSchweinen anhält, wird es auch in diesem Bereich einenPreiseinbruch geben. Ich nenne die Haltungsform und dieillegale Abgabe von Antibiotika. All diese Probleme müs-sen jetzt gelöst werden, auch vom Berufsstand selber.
Im Agrarbericht wird auch deutlich, dass es eine Struk-turveränderung gibt, die in der zunehmenden Aufgabevon Betrieben zum Ausdruck kommt. Das zeigt die man-gelhafte Bereitschaft zur Betriebsnachfolge. Dies ist einklares Zeichen für die bisherige Perspektivlosigkeit undUnattraktivität des landwirtschaftlichen Berufs.Es gibt aber auch eine positive Entwicklung, nämlichdie gleichzeitige Zunahme von Arbeitnehmerzahlen, alsoeine Entwicklung hin zur Arbeitnehmerlandwirtschaft.Wir von Rot-Grün wollen Möglichkeiten zur Erhöhungder Zahl der Arbeitsplätze in der Landwirtschaft mas-siv unterstützen. Umwelt- und tiergerechte Produktion,Ökolandbau und Qualitätsproduktion – all das sind posi-tive Faktoren für den Arbeitsmarkt.
Das sind Felder, in denen Menschen wieder gerne arbei-ten sowie Ansehen und Einkommen erzielen sollten.Diese Aspekte möchten wir durch eine verbesserte För-derpolitik unterstützen.Im Agrarbericht wird auch deutlich, dass die Einkom-mensgrundlage im Futterbau und in Milchviehbetriebenbedroht ist.
In diesem Punkt handelt die Bundesregierung. Unsere Mi-nisterin, Frau Künast, hat in Brüssel auf der letzten Ta-gung des Agrarrates eine ganze Reihe von Maßnahmenvorgeschlagen, von denen im Notfallpaket des Agrar-kommissars Fischler eine größere Zahl Berücksichtigunggefunden hat.Die Vorschläge von Agrarkommissar Fischler wei-sen sowohl eine gute als auch eine problematische Seiteauf. Gut ist, dass die Vorschläge der Koalitionsfraktionen,zum Beispiel auf den Stilllegungsflächen Kleegras anzu-bauen – ein Antrag, der mit den Stimmen des ganzen Hau-ses verabschiedet worden ist –, Aufnahme in den Katalogvon Agrarkommissar Fischler gefunden haben. Auch dieFlächenbindung der Tierhaltung – er hat jetzt eine Grenzevon 1,8 Großvieheinheiten eingezogen, auch das ist einepositive Sache –
sowie die Änderungen bei der Gewährung von Prämienmit dem Ziel, weniger Fleisch auf den Markt zu bringen,sind sinnvolle Ziele. Wir müssen diese Vorschläge nach-haltig unterstützen.
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Helmut Lamp14883
Nicht gut ist, dass diese Maßnahmen durch den Vor-schlag, 1,2 Millionen Tiere in ein so genanntes Sonder-aufkaufprogramm einzubeziehen, konterkariert werden.Ich glaube, in diesem Punkt muss man viel mehr auf dieMaßnahmen Wert legen, die sowohl die Koalitionsfrak-tionen als auch die Ministerin vorgeschlagen haben, näm-lich Veränderungen bei der Prämiengewährung mit demZiel einer Verringerung der Fleischmengen einzuführen.Eine solche Form von Sonderaufkaufprogrammen, wiesie vorgeschlagen werden, werden wir uns kaum vorstel-len können. Ganz gewiss darf keine weitere Vernichtungvon Tieren geschehen. Nicht akzeptabel für Deutschlandist auch eine Begrenzung auf 90 Tiere. Wichtig für uns ist,wie ein Tier gehalten wird,
und nicht, wie viel Weidefläche zur Verfügung steht. Indiesem Zusammenhang bleibt festzustellen, dass wir inden neuen Bundesländern die geringsten Tierzahlen ha-ben.
Eine solche Begrenzung darf keine Rolle spielen. Wichtigist, wie ein Tier gehalten wird, und danach muss sich diePrämiengewährung richten.Jedenfalls setzt das Programm endlich eine notwen-dige Neuorientierung um, auch wenn es nur ein Notfall-programm ist. Es setzt aber die Zeichen in die richtigeRichtung. Wichtig ist dabei, dass die Punkte, die ich an-gesprochen habe und die wir nicht mittragen können,nicht mehr in dem Programm enthalten sind. Wir könnennicht – auch nicht mit den neuen Bundesländern – überModulation reden und gleichzeitig über eine solche Formder Begrenzung diskutieren.Für uns steht heute das BSE-Maßnahmengesetz in derdritten Lesung und damit zur Verabschiedung an. Ich be-danke mich bei der CDU/CSU, dass sie dem Gesetzent-wurf nunmehr zustimmt. Für uns ist die Verabschiedungdes Gesetzes zur Umsetzung der beschlossenen Maßnah-men notwendig und es ist in diesem Sinne auch eilig. Wirhaben hier ganz eindeutig die Notwendigkeit zur Beseiti-gung der rechtlichen Defizite. Das Gesetz schafft die tier-seuchenrechtlichen Bekämpfungsmöglichkeiten. Auchdas ist notwendig, und zwar für alle Bundesländer.Wir haben hier auch eine Lösung des Milchproblemsfür die betroffenen Betriebe. Herr Lamp, Sie haben daraufhingewiesen, dass wir in diesem Punkt im Ausschuss eineÄnderung vorgenommen haben. Wir hatten aber von An-fang an die Intention, die Betriebe mit einzubeziehen, diedadurch betroffen sind, dass ein erkranktes Tier in ihrerHerde gestanden hat, was zur Folge hat, dass die gesamteHerde gekeult werden muss.Das Gesetz schafft die Voraussetzungen, die angespro-chenen Maßnahmen durchzuführen. Aber niemand vonuns sagt, dass das alles ist. Diese Maßnahmen sind einBaustein zur Problemlösung. Wir haben noch einiges an-dere zu tun. Alle Bereiche des Verbraucherschutzes sindin der Regierungserklärung und in dem Antrag der Koali-tionsfraktionen bereits angesprochen worden. Darunter,Herr Lamp, ist auch das Problem des Tiermehltouris-mus. Wir müssen eine rechtliche Möglichkeit finden– wir werden uns anstrengen, das bald zu tun –, Exportevon Tiermehl zu verhindern, die als Wertstoff und nichtals Tiermehle deklariert sind und bei denen sich plötzlichherausstellt, dass dieses reimportierte Tiermehl eine In-karnation zum Futterstoff erfahren hat. Das kann nichtsein.Wichtig sind auch die Vorschläge des Bundesamtes fürgesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedi-zin, zum Beispiel zu den Schlachtverfahren. Auch dieseVorschläge sind Bestandteil unseres Konzepts. Dasselbegilt für die Frage der Kosten. Aber um es ganz deutlich zusagen: Das BSE-Maßnahmengesetz ist natürlich kein Ge-setz zur Kostenregelung. Diese findet an anderer Stellestatt, nämlich bei den Verhandlungen zwischen Bund undLändern. Auch ich bin der Meinung, dass die Kosten nichtlänger hin- und hergeschoben werden dürfen.
Es ist auch das zu unterstützen, was Ministerin Künastim Ausschuss gesagt hat: Wir werden auf jeden Fall dieLänder unterstützen, die jetzt bei der Beseitigung von Fut-termitteln, von Altrückständen auf den Bauernhöfen han-deln. Natürlich muss eine bessere Lösung gefunden wer-den, als Steuerzahlergelder zwischen Bund und Ländernhin- und herzuschieben. Wir sollten versuchen, markt-wirtschaftliche Lösungen zu finden, und dafür sorgen,dass zum Beispiel tierische Bestandteile auf ungefährli-che Art und Weise im Rahmen der energetischen Verwer-tung genutzt werden. All das sind Maßnahmen zur Kos-tensenkung, die der Bund, die Länder und die Kommunenund natürlich auch die Steuerzahler benötigen.Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Heinrich-
Wilhelm Ronsöhr, CDU/CSU.
Meinesehr verehrten Damen und Herren! Ich war zuerst etwaserstaunt. Ich dachte, dass es um ein BSE-Bekämpfungs-gesetz gehe. Ulrike Höfken muss wohl – jedenfalls mitBlick auf ihre anfänglichen Ausführungen – ein falschesRedemanuskript erwischt haben;
denn sie hat sich vorwiegend mit dem Agrarbericht 2000auseinander gesetzt.
Ich möchte darauf hinweisen – unser Vorredner konntenatürlich nicht mehr darauf eingehen –, dass man dann,wenn man behauptet, dass die Einkommen der Land-
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Ulrike Höfken14884
wirte gestiegen seien, zuerst einmal beziffern muss, umwie viel die Einkommen der Landwirte im Vorjahr gesun-ken sind.
Die Einkommen, die zuerst gesunken sind und jetzt wie-der steigen, erreichen damit lediglich den Status quo.Nach meiner Meinung sollten wir alle gemeinsam denAgrarbericht 2000 zu Makulatur erklären, damit wir unsendlich der Lösung der wahren Probleme in der Land-wirtschaft zuwenden können. Wie sieht es denn zurzeitbei den Rindfleisch produzierenden und den Milchviehhaltenden Betrieben aus? Die deutsche Landwirtschaftwird wahrscheinlich eine Superabgabe zahlen müssen,weil sie die Milchquoten überschritten hat und weil dieseBundesregierung bezüglich bestimmter Herauskaufaktio-nen nicht in Gang gekommen ist.
Es ist zwar richtig, dass sich eine neu ernannte Ministerinerst einmal einarbeiten muss. Aber es gibt sicherlich auchandere Mitglieder der rot-grünen Bundesregierung, dieVerantwortung tragen und die die entsprechenden Ent-scheidungen viel schneller hätten treffen können. DasGleiche gilt für viele andere Bereiche. Obwohl sich dieLandwirtschaft in einer existenziellen Krise befindet,wird hier von Einkommenserhöhungen von 13 Prozentgesprochen. Ich glaube, dass das der Situation in den länd-lichen Räumen in der Bundesrepublik Deutschland aufkeinen Fall gerecht wird. Ich hätte es lieber gesehen, wennman sich bei den Ausführungen auf die im Gesetz vor-gesehenen BSE-Bekämpfungsmaßnahmen beschränkthätte; denn schließlich soll heute das BSE-Maßnahmen-gesetz verabschiedet werden.Frau Höfken, wir werden Sie in der Tat daran messen,ob Sie es schaffen, den Tiermehltourismus in der Europä-ischen Union zu unterbinden. Die rot-grüne Bundesregie-rung hat sich mit dem vorliegenden BSE-Maßnahmenge-setz eine Verordnungsmöglichkeit geschaffen. Ich hoffe– deswegen stimmen wir dem Gesetz zu –, dass die rot-grüne Bundesregierung diese Verordnungsmöglichkeit imSinne des Verbraucherschutzes nutzen wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Erwiderung Frau
Kollegin Höfken, bitte.
Herr
Kollege Ronsöhr, wenn Sie sich durch den Titel des Ta-
gesordnungspunktes beschränkt fühlen, dann kann ich das
nicht ändern. Ich rede jedenfalls zu aktuellen politischen
Themen, die – ich glaube, das wird niemand bestreiten
wollen – im Zusammenhang mit diesem Tagesordnungs-
punkt stehen. Ich bin auf sämtliche Vorwürfe, die Sie jetzt
gemacht haben, schon in meiner Rede eingegangen und
habe bei meiner Argumentation die Ergebnisse des Agrar-
berichts in einen Zusammenhang mit der Notwendigkeit
des Handelns und mit unserem Entwurf eines BSE-Maß-
nahmengesetzes gesetzt. Das ist sicherlich notwendig und
es tut mir Leid, wenn Ihr Redner das eben nicht getan hat.
Zum Zweiten gehe ich auf die Herauskaufaktion ein.
Gerade aus Ihrer Fraktion und gerade von der F.D.P.
kam der riesengroße Popanz, dies dürfe man alles nicht
machen. Widerspruch kam aber auch vonseiten des Tier-
schutzes und der Kirchen; das ist eine ernst zu nehmende
Sache.
Insofern kann man vernünftigerweise nur Argumente auf-
nehmen und dafür sorgen, dass es hier wenn schon keinen
Konsens, dann doch wenigstens ein gewisses Verständnis
für Maßnahmen gibt. Ohne jegliche Akzeptanz sind sie
nämlich nicht durchführbar. Insoweit hat es nicht im Min-
desten eine Verzögerung gegeben, sondern, ganz im Ge-
genteil, eine Verständigung mit der Gesellschaft und eine
Erklärung von Maßnahmen. Dies empfand ich in diesem
Zusammenhang weiß Gott als notwendig.
Was die Tiermehlexporte betrifft, so bedanke ich mich
für die Unterstützung. Im Übrigen leide ich nicht an
Selbstüberschätzung und sage, dass sich erst noch erwei-
sen wird, wer die europäischen Fragen regeln kann. Wir
haben hier unseren Part zu erledigen, und das tun wir.
Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Ulrich Heinrich für die
F.D.P.-Fraktion
Frau Präsidentin! Meine lie-ben Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heuteüber ein BSE-Bekämpfungsgesetz, das von den Koaliti-onsfraktionen – bemerkenswerterweise nicht von der Re-gierung – eingebracht worden ist. Erstaunlicherweise be-antragt die Koalition für die Regierung weit gehendeErmächtigungen. Nur derjenige, der trotz der Erfahrungender Vergangenheit der Meinung ist, der Staat und die Po-litik hätten im Zusammenhang mit BSE alles richtig ge-macht, kann glauben, es seien zusätzliche Ermächtigun-gen notwendig. Wir sind hier absolut anderer Meinung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Er-mächtigungen gehen weit über das hinaus, was in einerDemokratie üblich ist und was demokratisch erträglichist. Wir wollen die Debatte im Plenum des Bundestagesund im Ausschuss führen. Wir wollen aber keine einsa-men Beschlüsse der Bundesregierung, die uns dann nurnoch zur Kenntnis gegeben werden.
Wir wollen vor allen Dingen, dass in jedem Gesetz –das schreibt eigentlich schon der Anstand vor – Aussagen
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Heinrich-Wilhelm Ronsöhr14885
über die Finanzierung enthalten sind. Wenigstens müssteda stehen, wer finanziert.
Auch wenn Sie die Zahlen noch nicht kennen, müsstenSie doch wissen, wer finanziert. Aber das wissen Sie auchnicht. Deshalb ist es äußerst unsolide, was Sie mit diesemGesetzentwurf vorhaben.
Das widerspricht jeder ordentlichen Haushaltsführung.Wie jemand dem zustimmen kann, wenn er nicht in Notist, ist für mich völlig unverständlich.
Die Ermächtigung zur Keulung der gesamten Beständemöchte ich ausdrücklich nicht, weil ich eine andere Rege-lung haben will, nämlich das Schweizer Modell, das dieAnonymität der betroffenen Betriebe und eine Kohorten-keulung, nicht aber die Keulung der gesamten Beständebeinhaltet.
Ein weiterer Punkt ist der 0,00-Prozent-Grenzwert beiFuttermitteln: Wir haben uns darüber im Ausschuss un-terhalten und waren uns einig, dass ein solcher Grenzwertnicht einzuhalten ist. Wenn Sie in einen Gesetzentwurf et-was hineinschreiben, von dem jeder Fachmann weiß, dasses nicht einzuhalten ist, dann ist das von vornhereinschlampig, überstürzt und der Sache nicht dienlich.
Solche Grenzwerte lassen sich schon bei einem Getrei-debestand nicht einhalten, in dem sich ein Getreideschäd-ling, zum Beispiel ein Käfer, vermehrt. Verfüttern Sie die-ses Getreide als Futtermittel an Ihre Tiere, verstoßen Siegegen dieses Gesetz. Es ist doch absurd, so etwas in einGesetz hineinzuschreiben.
Genauso absurd ist es mit Blick auf Kleintiere, deren Auf-nahme und Tötung im Rahmen der Silageherstellung un-vermeidbar ist. Wenn man das Futter untersucht, dannstellt man möglicherweise fest, dass es tierisches Eiweißenthält. Der im Gesetzentwurf enthaltene Wert von0,0 Prozent ist absoluter Unsinn. Sie wissen offensichtlichnicht, was Sie tun.
Die F.D.P. wird diesem Gesetzentwurf nicht zustim-men.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Heinrich, ein seltener Fall: Ihre Redezeit ist noch nicht ab-
gelaufen. Außerdem hat die Kollegin Höfken den Wunsch
nach einer Zwischenfrage. Lassen Sie die zu?
Gerne.
Herr
Kollege Heinrich, erkennen Sie an, dass in all Ihren Aus-
führungen der Aspekt des Verbraucherschutzes deutlich
missachtet wurde? Sie haben nichts anderes getan, als auf
Probleme hinzuweisen und einige Defizite aufzuzeigen.
Wirkliche Problemlösungen haben Sie aber nicht einbe-
zogen.
Wissen Sie, dass in der Schweiz Bekämpfungsmaß-
nahmen zehn Jahre lang sehr verantwortungsvoll durch-
geführt worden sind? Das hatte Auswirkungen auf den
Grad der epidemiologischen Durchseuchung. Nach dem,
was Sie hier gesagt haben, glaube ich, dass Sie die Gefahr,
dass die Milchproduktion schwer in Misskredit gerät,
nicht ausreichend berücksichtigt haben.
Wissen Sie, dass wir uns hinsichtlich der Grenzwerte
dafür einsetzen, dass es zu einer angemessenen Berück-
sichtigung unbeabsichtigt eingetragener Bestandteile,
zum Beispiel von auf dem Feld herumlaufenden Tierchen,
kommt, wodurch die Praktikabilität verbessert wird?
Liebe Frau KolleginHöfken, ich hätte einem schlüssigen, sauber ausgearbei-teten und dem Verbraucherschutz tatsächlich dienendenGesetzentwurf sehr gerne zugestimmt.
Dass ein solcher Gesetzentwurf vorliegt, ist nicht der Fall.Mit diesen Inhalten bringen Sie den Verbraucherschutz inden von mir angesprochenen Bereichen nicht voran; viel-mehr schaffen Sie neue Problemfelder. Das garantiere ichIhnen schon heute.Zur Keulung – Stichwort „Schweizer Modell“ – sei Ih-nen gesagt, dass dem Verbraucherschutz sowohl bei derBestandstötung als auch bei der Kohortentötung gleicher-maßen Rechnung getragen wird. Das sagen die SchweizerWissenschaftler. Sie haben sehr sorgfältig gearbeitet; vonihren Ergebnissen können wir einiges aufnehmen. Wirsollten nicht so tun, als müssten wir in dieser Frage dasRad neu erfinden. Wir können vielmehr auf den Erfah-rungen der Schweizer aufbauen und daraus unsereSchlüsse ziehen. Wenn das geschieht, dann können wirschon heute entsprechende Maßnahmen ergreifen. DieErfahrungen der Schweizer lehren, dass man mittels derKohortentötung den gleichen Grad an Verbraucherschutzwie mittels der Tötung des gesamten Bestands gewähr-leisten kann.
Wir alle rücken den Verbraucherschutz an die vor-derste Stelle. Daher verstehe ich nicht, dass Sie in den Ge-setzentwurf Ziele aufnehmen, bei denen von vornhereinklar ist, dass sie nicht erreichbar sind. Die Analyseme-thoden zur Ermittlung von Futtermittelbestandteilen sindschon heute so fein, dass man einfach davon ausgehenmuss, dass auch die kleinsten Bestandteile feststellbarsind. Im Nachhinein lässt sich nicht bestimmen, ob ein be-
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Ulrich Heinrich14886
stimmtes Eiweiß durch eine schlampige Herstellung indas Futtermittel gekommen ist oder von einer Maus odervon einem Insekt stammt.Die gleichen Probleme gab es bereits bei der Herstel-lung von Wurstwaren. Man hatte auf die Verpackung ge-schrieben, dass das Nahrungsmittel rindfleischfrei sei.Bei der Analyse stellte man zwar fest, dass Rindfleischenthalten ist; tatsächlich aber war es so, dass die Verwen-dung von Naturdarm von Rindern ausreichte, um das Ana-lyseergebnis entsprechend zu beeinflussen.Sie kommen mit dem Gesetz nicht weit. Ich garantiereIhnen: In der Praxis werden Sie damit scheitern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Kersten Naumann.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Um endlich Klarheit und Rechtssi-
cherheit zu schaffen, hält auch meine Fraktion die Verab-
schiedung eines BSE-Maßnahmengesetzes im Eilverfah-
ren für notwendig.
Dass der Gesetzentwurf bereits fünf Tage nach seiner Ge-
burt zurechtgestutzt werden musste, nur um morgen im
Bundesrat nicht zu scheitern, erinnert aber schon sehr an
Flickschusterei.
Ich habe kein Verständnis dafür, dass so wichtige Pro-
blemfelder wie Sperrung von Schlachthöfen, Tötung von
Rinderbeständen, Entschädigung von Landwirtschafts-
betrieben und Schlachthöfen, die im Gesetzesantrag des
Freistaates Thüringen enthalten sind, im Entwurf der Bun-
desregierung ausgeklammert wurden. Immerhin sind das
die Fragen, die gerade die Betroffenen besonders bewe-
gen. Da ist es wenig tröstlich, lieber Kollege Weisheit,
wenn Sie, wie gestern im Ausschuss, ankündigen, dass
weitere Gesetze kommen werden. Nach Ihrer Aussage,
Kollegin Höfken, dass der vorliegende Gesetzentwurf nur
ein Baustein sei, bin ich gespannt, wann das Haus endlich
fertig ist.
Wo ist nun das BSE-Folgekostenkonzept der Bundes-
regierung? Das war für den 31. Januar 2001 angekündigt
und soll nun morgen mit den Ministerpräsidenten, aber
ohne Bundeskanzler Schröder, der plötzlich abgesagt hat,
verhandelt werden. Es steht jedem offen, dies zu bewer-
ten. An ein Ergebnis werde ich allerdings erst dann glau-
ben, wenn es schwarz auf weiß vorliegt. Wenn Sie hier
schnell Klarheit herstellten, würde das mehr Akzeptanz
für Ihre Politik der Krisenbewältigung schaffen und vor
allem Existenznöte und -ängste verringern. Um nicht miss-
verstanden zu werden: Mein Plädoyer ist kein Plädoyer
für eine unkritische Übernahme der Thüringer Positionen,
sondern für eine klare Regelung.
Notwendig ist die vorgesehene Änderung des Verfüt-
terungsverbotsgesetzes vom 1. Dezember 2000, um die
EU-Entscheidungen in nationales Recht umzusetzen und
Regelungen zum Schutz vor BSE schnell auf dem Ver-
ordnungsweg treffen zu können.
Das Gleiche gilt für die Änderungen im Tierkörperbe-
seitigungsgesetz, namentlich für die Aufnahme des Ver-
brennens von Tierkörpern und Tierkörperteilen als Ent-
sorgungsform. Erforderlich ist auch, dass mit dem
Tierseuchengesetz eine Rechtsgrundlage für eine Tötung
von Rindern bei Ausbruch von BSE im Interesse des Ge-
sundheitsschutzes der Verbraucher geschaffen wird. Ich
halte es für richtig, dass im Gesetz nicht geregelt wird, ob
der Bestand oder die Kohorte zu töten ist. Sicher wird
früher oder später – abhängig vom Erkenntnisstand – der
Übergang zur Kohortentötung möglich werden.
Da es für die Gesundheit und das Leben von Menschen
Gefahren durch BSE gibt, akzeptiert meine Fraktion auch,
dass die Bundesregierung mit diesem Gesetz ermächtigt
wird, bei Gefahr im Verzug Eilverordnungen mit befris-
teter Geltungsdauer ohne Zustimmung des Bundesrates
zu erlassen. Ich gehe – im Unterschied zum Kollegen
Heinrich – nicht davon aus, dass dadurch die parla-
mentarische Demokratie ausgehöhlt wird. Solche Gefah-
ren sehe ich auf ganz anderen Gebieten.
– Wehret den Anfängen? Gut, dann werden Sie darauf
achten.
Vernünftig ist auch die Übertragung der Milchquote
eines Agrarbetriebes, dessen Milchkuhbestand wegen ei-
nes BSE-Falles getötet wird, bis zum Wiederaufbau eines
neuen Bestandes an einen anderen Milcherzeuger. Sicher
bedarf es in punkto Milch einer Lösung zur Abwehr der
Superabgabe für die drohende Überschreitung der natio-
nalen Milchreferenzmenge. Aber das ist keine Frage die-
ses Gesetzes.
Die Aufnahme von Straftatbeständen in das Gesetz
deckt sich mit den Forderungen der PDS und wird von uns
ausdrücklich unterstützt. Die PDS sieht den dringenden
Handlungsbedarf, wird sich aber aufgrund der von mir
kritisierten Punkte der Stimme enthalten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in die-
ser Debatte ist der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Gerald Thalheim.
Dr
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir haben mit dem heutigen Tag 29 bestätigteBSE-Fälle und neun Verdachtsfälle.
– Ungefähr 140 000.
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Ulrich Heinrich14887
– Jetzt reden wir über den Gesetzentwurf; Antworten kannich Ihnen später geben.Wir haben also Grund genug, sehr intensiv die weitereBekämpfung von BSE anzugehen. Das BSE-Maßnah-mengesetz ist ein wichtiger Schritt auf diesem Weg. Es istnotwendig im Interesse der Risikominderung, des vor-beugenden Verbraucherschutzes und natürlich als Hilfefür die Landwirte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hermann
Otto Solms?
Dr
Ja, bitte.
Herr Kollege,
wären Sie bitte bereit zur Kenntnis zu nehmen, dass es bis
zum 2. Februar bei ungefähr 185 000 Rindern Tests gege-
ben hat und bis zu diesem Zeitpunkt 28 Fälle festgestellt
worden sind?
Dr
Meine Zahlen, Herr Kollege Solms, be-
zogen sich auf die uns gemeldeten Fälle; nach dem Stand
von heute früh gibt es 29 bestätigte Fälle und neun Ver-
dachtsfälle, unabhängig davon, wie viele Tests es gegeben
hat. Diese Zahlen entsprachen der letzten Meldung der
Länder. Ich habe das nicht wegen der heutigen Debatte ab-
gefragt, weil das hier nicht Gegenstand ist.
Was den BSE-Erkrankungsumfang anbelangt – da gibt
es überhaupt keinen Zweifel –, so gelten die Zahlen, die
ich genannt habe. Es kommen aber leider fast täglich viel
zu viele hinzu. Das ist das eigentliche Problem.
Herr Lamp hat die Eilbedürftigkeit des Gesetzes kri-
tisiert. Herr Kollege Lamp, das ist nicht eine Frage der
Versäumnisse der Bundesregierung, sondern der Dyna-
mik, die der Krankheit innewohnt. Das heißt, der Sach-
verhalt ändert sich fast täglich. Das gilt zum Beispiel für
die Regelungen bei der Milchquote. Wäre es bei einem,
zwei oder drei Fällen geblieben, was wir alle gehofft ha-
ben, hätten wir in dem Punkt nichts regeln müssen. Aber
wir mussten hier letztendlich zur Tat schreiten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, es
gibt einen weiteren Wunsch nach einer Zwischenfrage.
Dr
Ja, gerne.
Herr
Staatssekretär Thalheim, wie bewerten Sie unter dem Ge-
sichtspunkt des Verbraucherschutzes Plakate, die in Gast-
stätten hängen und auf denen geschrieben steht: „Argen-
tinien bietet, was die Kunden jetzt fordern: Rindfleisch
garantiert frei von BSE“, mit amtlicher Genusstauglich-
keitsbescheinigung als BSE-frei zertifiziert, offensicht-
lich herausgegeben vom Staatssekretariat für Landwirt-
schaft, Fischerei und Ernährung in Argentinien? Wie
werden Sie gegen eine solche Verbrauchertäuschung vor-
gehen?
Da dies offensichtlich bei uns möglich ist, frage ich
Sie: Warum bekommt zum Beispiel die Edeka Nord, die
freiwillig alle Rinder testet und dieses im Sinne des Ver-
braucherschutzes tut, nämlich um den Verbrauchern et-
was mehr Sicherheit zu geben, nicht die Genehmigung,
ihre Waren entsprechend auszuzeichnen?
Dr
Herr Kollege Carstensen, als Erstes ist
festzuhalten, dass wir das als sehr problematisch erachten;
denn Frau Bundesministerin Künast ist nicht nur die Ver-
braucherschutzministerin für die Produkte, die in Deutsch-
land hergestellt werden, sondern für die Produkte insge-
samt. Da ist es schon problematisch, wenn mit BSE-
Freiheit geworben wird, ohne dass ein Nachweis erbracht
werden kann. Ganz eindeutig wird in Argentinien wie in
vielen Drittländern nicht getestet.
Es ist das Bemühen der Bundesministerin auf europä-
ischer Ebene, bei Drittlandimporten die gleichen Stan-
dards einzuführen oder, wenn es aus WTO-Gründen nicht
möglich ist, entsprechend auszuzeichnen, um zumindest
zu erreichen, dass der Verbraucher dann ganz genau weiß,
dass das Produkt – im Gegensatz zu den Produkten, die
bei uns hergestellt werden – aus einem Drittland mit ei-
nem anderen Schutzniveau kommt.
Was die Frage Edeka Nord und BSE-Tests angeht, so
wissen wir natürlich alle, dass die Aussagekraft der Tests
umso stärker zurückgeht, je jünger die Tiere sind. Mit den
Tests ist es nicht möglich, BSE-Prionen im Anfangssta-
dium nachzuweisen. Insofern ist natürlich die Aussage
„getestet“ mit einem gewissen – die Betonung liegt auf
„gewissen“ – Fragezeichen zu versehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Thalheim, es gibt eine weitere Frage des Kollegen
Carstensen.
Dr
Ja, bitte.
Nurnoch eine kurze Frage, Herr Staatssekretär: Habe ich Sierichtig verstanden, dass die Bundesregierung jetzt endlichdie Initiative ergreifen und dafür sorgen wird, dass in derEU beschlossen wird, nur noch getestetes Rindfleisch aufden deutschen bzw. den europäischen Markt zu lassen?Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei derBundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim14888
Landwirtschaft: Die Bundesregierung – das ist auch dieAussage von Frau Bundesministerin Künast – hat sich be-reits beim letzten Agrarrat auf der europäischen Ebenedafür eingesetzt – dies wird sie auch in Zukunft tun –, dassfür Drittlandimporte der gleiche Standard gilt wie fürWare, die in Deutschland hergestellt wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es gibt eine weitere
Frage des Kollegen Ulrich Heinrich.
Dr
Wenn der Erkenntnisgewinn der Opposi-
tion dient, dann kann es ja nicht schaden.
Vielen Dank, Herr Staatsse-
kretär Thalheim. Ich habe mich sehr gefreut zu hören,
dass Sie sich auf europäischer Ebene dafür einsetzen, dass
auch von Drittländern entsprechende Tests verlangt wer-
den sollen. Aber das sind längere Prozesse, die man nicht
von heute auf morgen hinbekommt. Deshalb aktuell die
Frage: Was unternimmt die Bundesregierung, damit es für
die Betriebe, die mit dem vorhin erwähnten Plakat wer-
ben, entsprechende Konsequenzen gibt? Mich würde die
Antwort auf diese Frage sehr interessieren.
Dr
Herr Kollege Heinrich, die Bundesminis-terin hat gestern in der Ausschusssitzung zugesagt, in die-sem Punkt aktiv zu werden. Ich gehe davon aus, dass siesich seit heute Morgen damit beschäftigt, und hoffe, dassich Ihnen zur nächsten Ausschusssitzung eine Antwort ge-ben kann.Herr Kollege Heinrich, ich bleibe bei Ihren Argumenten.
Wie notwendig der Erkenntnisgewinn gerade bei Ihnenwäre, haben Sie durch Ihren Redebeitrag deutlich ge-macht.
Zu Ihrer Argumentation wäre mir eine Reihe landwirt-schaftlicher Fachbegriffe eingefallen, die ich hier aber ausHöflichkeit nicht äußern will.
Erstens. Verordnungsermächtigungen sind im Be-reich des landwirtschaftlichen Fachrechtes, also im Fut-termittelrecht, im Tierkörperbeseitigungsrecht und übri-gens auch im Lebensmittelrecht, durchaus üblich und keinNovum, wie Sie es dargestellt haben.Zweitens. Die Frage der 0,0-Grenze wird durch dasGesetz überhaupt nicht berührt. Sie wird durch das Ver-fütterungsverbotsgesetz geregelt, dem Sie übrigens zuge-stimmt haben.
Sie haben also ein Plädoyer gegen ein Gesetz gehalten,dem Sie selbst zugestimmt haben. Ich kann Ihrer Argu-mentation nur insofern folgen, als dass wir das bei nächs-ter Gelegenheit ändern sollten.Drittens. Auch die Keulung ist nicht Gegenstand desBSE-Maßnahmengesetzes.
– Nein! – Das Gesetz enthält zu Recht eine Verordnungs-ermächtigung.
– Nein, es kommt nicht auf dasselbe heraus. – Die Ver-ordnung muss natürlich auf politischer Ebene diskutiertwerden: auf der einen Seite mit den Ländern und auf deranderen Seite im Parlament und dort vor allen Dingen imAusschuss. Die Frage wird sein – das ist der entschei-dende Punkt –, ob wir uns eher Ihrer Argumentation an-schließen, für die zugegebenermaßen einiges spricht, oderob wir auch Argumente übernehmen, die dafür sprechen,dem vorbeugenden Verbraucherschutz das entsprechendeGewicht einzuräumen.Ich kann Ihnen als Antwort auf Ihre Frage, ob die Keu-lung in Zukunft praktiziert werden solle oder nicht, nurdas sagen, was ich angesichts der Tötung von 1 000 Rin-dern in Sachsen-Anhalt gesagt habe. Ich habe dort ausge-führt, dass wir von dieser Praxis abrücken, sobald wir esvor den Verbraucherinnen und Verbrauchern und vor denLandwirten verantworten können. Diese Aussage giltweiterhin.
Wir werden eine Verordnung auf den Weg bringen. DerVorschlag der Bundesregierung, alle Rinder einer betrof-fenen Herde zu töten, wird in dem Entwurf enthalten sein.In diesem Zusammenhang haben wir über den vorbeu-genden Verbraucherschutz zu diskutieren. Wenn es richtigist, dass BSE über Futtermittel übertragen wird und dassauch andere Tiere des Bestandes das gleiche Futter fres-sen, dann entspricht es einer gewissen Logik, den ganzenBestand zu töten.Ein weiterer Aspekt ist der Verbraucherschutz– wenn ich das so sagen darf – in Richtung der Landwirte.Es würde keinem etwas nützen, wenn wir von der Praxisder Tötung der jeweiligen Bestände abweichen, aber an-schließend weder die Milch noch das Fleisch gekauft wer-den würde. Das heißt, wir müssen mit der Öffentlichkeit,mit der Wissenschaft, mit der Ernährungsindustrie, mit
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim14889
den Bauern und mit den Verbraucherinnen und Verbrau-chern in einen Dialog eintreten. Erst wenn wir sicher seinkönnen, dass wir gute Gründe für ein Abrücken von die-ser Praxis haben und unser Vorgehen letztendlich von derÖffentlichkeit akzeptiert wird, können wir zu einer ande-ren Entscheidung kommen.
Um noch eine letzte Bemerkung anzufügen: Es istnatürlich auch notwendig, das Thema in der Öffentlich-keit nicht unter Sensationsaspekten, sondern sachlich zudiskutieren.
In der Vergangenheit lag hier der größte Missstand. Wirwerden dann erkennen, dass es mit dem Verbraucher-schutz durchaus zu vereinbaren ist, wenn wir Schritt fürSchritt zu einer anderen Praxis kommen.Zu diesem Dialog, Herr Kollege Heinrich, darf ich Sieschon an dieser Stelle einladen. Im Gesetzentwurf steht,wie gesagt, lediglich die Verordnungsermächtigung. DieVerordnung wird damit keineswegs vorweggenommen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen ein-
gebrachten Entwurf eines BSE-Maßnahmengesetzes. Es
handelt sich um die Drucksachen 14/5219 und 14/5332.
Mir liegt eine schriftliche Erklärung gemäß § 31 der
Geschäftsordnung der Kollegin Susanne Jaffke vor.1) Zu
einer mündlichen Erklärung gemäß § 31 der Geschäfts-
ordnung erteile ich jetzt dem Kollegen Peter Harry
Carstensen das Wort.
Ich
mache es kurz, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
Ich gebe diese Erklärung auch im Namen der Kollegen
Herr Kansy, Herr Siemann, Herr Scherhag, Herr Deß,
Herr Gerd Müller und Frau Ilse Aigner ab.
Wir werden dem Gesetz zustimmen, obwohl wir als
Parlamentarier bei einem Gesetz, das so viele Verord-
nungsermächtigungen enthält, dieselben Bauchschmer-
zen haben, wie sie der Kollege Heinrich hier formuliert
hat. Wir stimmen deswegen zu, weil wir in einer Situation
sind, in der schnelles Handeln angebracht ist
und in der wir merken, dass wir von Woche zu Woche
neue Erkenntnisse gewinnen, die schnell umgesetzt wer-
den müssen. Obwohl ich, wie gesagt, als Parlamentarier
diese Bauchschmerzen habe, der Regierung durch die
Verordnungsermächtigung so viele Vollmachten zu ge-
ben, halte ich es für richtig, dass die Regierung in dieser
Sache bei neuen Erkenntnissen ausgesprochen schnell
reagieren kann.
Ich stimme auch deswegen zu, weil dadurch die Mög-
lichkeit besteht, nach neuen Erkenntnissen von der Her-
denkeulung abzukommen und sehr schnell zu einer Ko-
hortenkeulung oder einer anderen modifizierten Keulung
und Bekämpfung von BSE in den Beständen zu kommen.
Dies ist im Moment für mich sowie die Kolleginnen
und Kollegen, die diese Erklärung unterstützen, der
Grund, Ja zu sagen und der Regierung trotz unserer
Bauchschmerzen diese Ermächtigung zu geben. Wir wol-
len, dass schnell gehandelt wird. Wir wollen nicht jedes
Mal in ein langwieriges Gesetzgebungsverfahren eintre-
ten, sondern ermöglichen, dass Erkenntnisse sehr schnell
umgesetzt werden können. Das können wir mit diesem
Gesetz erreichen.
Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir kommen zur Ab-stimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf inder Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen dieStimmen der F.D.P.-Fraktion bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion und eineStimme aus der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung derPDS-Fraktion angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Peter Rauen, Gerda Hasselfeldt, DietrichAustermann, weiteren Abgeordneten und derFraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Senkung der Mineralölsteuer
– Drucksache 14/4097 –
aa) Beschlussempfehlung und Bericht desFinanzausschusses
– Drucksache 14/5272 –
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim14890
1) Anlage 2Berichterstattung:Abgeordnete Heinz SeiffertDetlev von Larcher
– Drucksache 14/5273 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Emil SchnellOswald MetzgerJürgen KoppelinDr. Uwe-Jens RösselDietrich Austermannb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Horst Friedrich
, Hildebrecht Braun (Augsburg), Rainer
Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder F.D.P.Kraftfahrzeugsteuer für schwere LKWauf EU-Niveau senken – Bedingungen am Güterkraft-verkehrsmarkt harmonisieren– Drucksachen 14/4254, 14/5300 –Berichterstattung:Abgeordneter Gerhard Schüßlerc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses zu derUnterrichtung durch die BundesregierungMitteilung der Kommission an den Rat, dasEuropäische Parlament, den Wirtschafts- undSozialausschuss und den Ausschuss der Regio-nen: Besteuerung von FlugkraftstoffKOM 110 endg.; Ratsdok. 06743/00– Drucksachen 14/3576 Nr. 2.11, 14/4443 –Berichterstattung:Abgeordneter Klaus LennartzNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die SPD-Fraktion ist der Kollege Ernst Ulrich von Weizsäcker.
Frau Präsi-dentin! Meine verehrten Damen und Herren! Ich be-trachte es als eine Ehre, gegenüber dem Hohen Hause zubegründen, warum man einen in der gesamten Diktionunsinnigen Antrag der CDU/CSU-Fraktion ablehnenmuss.
Die CDU/CSU-Vertreter haben sich an einigen Stellensogar zu der Behauptung verstiegen, dass die ökologischeSteuerreform der Umwelt schade. Allerdings wurde diesbei der Anhörung im November von niemandem bestätigt,nicht einmal von denjenigen, die die Oppositionsfraktio-nen eingeladen haben.Es ist zwar zutreffend und bedauerlich, dass der eineoder andere Busunternehmer in der Zeit der explodiertenWeltmarktölpreise hat aufgeben müssen. Das hatte abersehr wenig mit den damals 6 plus 1 Pfennig Ökosteuer zutun.
Es ist unsinnig und unglaubwürdig, an diesen 7, 14 bzw.inzwischen 21 Pfennig all die Veränderungen aufzuhän-gen, die man in unserem Land sieht. Bekanntlich wurdenja dem Benzinpreis während der Regierungszeit vonDr. Kohl 50 Pfennig aufgeschlagen. Doch lassen wir die-ses Aufrechnen. Denn schließlich plädiere ich ja nicht fürein Gesetz zur Abschaffung der Kohl-Benzinsteuer.Lassen Sie uns stattdessen über das sprechen, was inder Diskussion neu ist, und nicht die alten Schlachten neuschlagen. Neu ist zum Beispiel, dass bei der Anhörung,die wir zu diesem Thema durchgeführt haben, in denHerbstgutachten der Wirtschaftsinstitute und in denÄußerungen des Sachverständigenrates zur Begutachtungder gesamtwirtschaftlichen Entwicklung auf einmal – an-ders als früher – ein eindeutiges Plädoyer der führendenÖkonomen dieser Republik für die ökologische Steuerre-form zum Ausdruck gekommen ist.
Ich gestatte mir hier, aus dem Herbstgutachten derWirtschaftsinstitute zu zitieren:Eine Senkung der Mineralölsteuer würde lediglichbedeuten, dass der Staat die Belastung von denÖlverbrauchern auf die Allgemeinheit umverteilt.Das wäre der falsche Weg.Weiter unten heißt es:Die Mineralölsteuersenkung letztlich garnicht beim Verbraucher an, sondern nützte lediglichden Ölstaaten bzw. den Mineralölkonzernen,während gleichzeitig die öffentlichen Haushalte be-lastet würden.So ähnlich hat sich vor etwa 14 Tagen Professor NorbertWalter, der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, geäußert.Allerdings raten diese renommierten Wirtschaftswis-senschaftler, die ökologische Steuerreform noch etwaskonsequenter durchzusetzen, zum Beispiel die bestehen-den Ausnahmen zu streichen. Das Geschrei derjenigen,die sich gegen die ökologische Steuerreform ausgespro-chen haben, möchte ich hören, wenn wir diesem Rat-schlag folgen würden.Oft hört man von der Oppositionsseite die Kritik, eshandele sich bei der ökologischen Steuerreform um eineVermischung von Zielen des Klimaschutzes, der Ressour-censchonung und der Beschäftigungspolitik.
Bei dieser Kritik liegt ein grundsätzliches Missverständ-nis vor. Es beruht auf einer viel zu engen und veraltetenAuffassung von Umweltpolitik. Bei dieser alten Umwelt-politik ging es um die rasche und gezielte Verminderung
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Vizepräsidentin Petra Bläss14891
von Schadstoffen. Diese Hausaufgaben sind in den letztenJahrzehnten – übrigens mit Beiträgen aus allen Parteien –in Deutschland vorbildlich erledigt worden.Bei der neuen ökologischen Herausforderung geht esum etwas, was man eigentlich nur mit dem Wort „ökolo-gischer Strukturwandel“ bezeichnen kann. Da geht esum eine neue Agrarpolitik; darüber haben wir gerade ge-sprochen. Es geht um eine neue Energiepolitik, eine neueVerkehrspolitik und auch eine neue Technologiepolitik.Es geht also nicht nur um die Minderung des CO2-Aus-stoßes, sondern um eine generelle Minderung desRessourcenverbrauchs. Das ist natürlich ein langfristigerProzess.Auch die industrielle Revolution war ein langfristigerProzess. Sie hat 200 Jahre gedauert. Im Laufe dieser Zeitist die Arbeitsproduktivität etwa verzwanzigfacht wor-den. Heute ist der Faktor Arbeit überhaupt nicht knapp– sonst hätten wir keine Arbeitslosen –; heute ist die Na-tur das eigentlich knappe Gut. Es geht also hauptsächlichdarum, endlich die Ressourcenproduktivität zu erhöhen.
In diesem Kontext ist es dann verhältnismäßig nachran-gig, ob Kohle oder Atomstrom eingespart wird. Die Be-schränkung auf ein ganz bestimmtes Ziel, zum Beispielauf CO2, wird dem Thema nicht gerecht.Dass die Wirkungen der ökologischen Steuerreformnicht über Nacht eintreten, weiß jeder, der etwas vomStrukturwandel versteht. Aber immerhin haben wir im Jahr2000 interessante Signale für einen solchen beginnendenStrukturwandel erlebt. Zum Beispiel ist die volkswirt-schaftliche Energieproduktivität – die Menge Wohlstandpro eingesetzter Energieeinheit – um mehr als 3 Prozentgestiegen. Damit ist sie mehr als doppelt so groß wie in denJahren billiger Energie.In der Zeit seit der Einführung der ökologischen Steu-erreform erleben wir beispielsweise eine dramatische Ent-wicklung hinsichtlich der Energieeffizienz im Gebäu-debereich.
Die Bestellungen für so genannte Passivhäuser, die imVergleich zum Altbaubestand nur noch ein Zehntel Ener-gie verbrauchen, gehen seit Jahren exponentiell in dieHöhe. Jetzt kommt die Altbausanierung hinzu. Mit denZinseinsparungen aus der Versteigerung der UMTS-Li-zenzen werden 2 Milliarden DM für Zinsverbilligungenzur Verfügung gestellt. Das summiert sich zu einem In-vestitionsvolumen von etwa 10 Milliarden DM für Alt-bausanierungen. Auch in diesem Bereich erwarten wirtechnische Sprünge und große Einspareffekte.Ähnlich sieht es im Automobilbereich aus. Wer vorein paar Jahren für ein Dreiliterauto eingetreten ist, war inGefahr, sich lächerlich zu machen. Heute schmückt sichjede Firma, die sich modern geben will, mit einem Pro-gramm für ein Dreiliterauto.
Ich möchte gerne wissen, ob Firmen, die noch dieTechnologien vergangener Jahrzehnte verkaufen, dengroßen chinesischen Markt oder andere Exportmärkteerobern können. Nein, das werden eindeutig diejenigenFirmen sein, die – zum Teil unter dem Druck der ökolo-gischen Steuerreform, zum Teil aus internen Modernisie-rungsgründen – auf das Effizienzauto setzen.Ein weiterer Bereich des ökologischen Strukturwan-dels, der eingesetzt hat, sind die erneuerbaren Energie-quellen.Deutschland ist diesbezüglich in den letzten zweiJahren zum Spitzenreiter weltweit geworden. Hundertevon Hightech-Arbeitsplätzen sind zum Beispiel in Baden-Württemberg, aber auch in anderen Bundesländern ge-schaffen worden; dieser Trend ist ungebrochen.Nicht zu vergessen ist bei all dem die Finanzierungs-seite der Ökosteuerreform. Dass wir endlich den jahr-zehntelangen Trend der Steigerung der Lohnnebenkostengebrochen haben, ist ein unbestreitbar segensreiches Sig-nal für die Arbeitsmärkte.Diese erfreulichen Trends bei Gebäuden, Autos, Son-nenenergie, Windenergie und Lohnnebenkosten jetzt ab-zubrechen wäre also nicht nur umweltpolitisch, sondernauch wirtschaftspolitisch unverantwortlich.
Sie können nicht im Ernst erwarten, dass sich die SPD-Fraktion einer solchen unverantwortlichen Politik an-schließt.Ich hatte gesagt, ich wolle über neue Nachrichten spre-chen. Eine sehr interessante neue Nachricht haben wirdieser Tage aus Belgien gehört. Belgien wird ja in derzweiten Jahreshälfte 2001 die Präsidentschaft in Europahaben. Die durch den Gipfel von Nizza ermöglichte neueForm der Koordination in dem so genannten Verfahrender verstärkten Zusammenarbeit wollen die Belgier nut-zen, um endlich eine europäische ökologische Steuer-reform auf den Weg zu bringen.
Das wäre doch ein Angebot zur Güte an CDU/CSU undF.D.P., die immer wieder, wenn sie die deutsche ökologi-sche Steuerreform abgelehnt haben, beteuert haben, beieiner europäischen würden sie selbstverständlich mitma-chen. Das möchte ich dann auch einmal sehen.
Aber wenn man ausgerechnet in dem Moment, in demdurch den Erfolg des Gipfels von Nizza diese Perspektiveeröffnet ist, ein Gesetz zur Abschaffung der Ökosteuervorlegt, dann heißt das: Die Unglaubwürdigkeit wird per-fekt. Da machen wir nicht mit.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker14892
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU
spricht jetzt der Kollege Heinz Seiffert.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Die Ökosteuer warvon Anfang an eine Fehlkonstruktion,
eine Fehlkonstruktion, die ideologisch geleitet war und dieauch durch Ihre Reparaturversuche nicht besser gewordenist. Wenn ich mich recht entsinne, Herr von Weizsäcker,haben Sie das anfangs ebenso gesehen. Die einzig konse-quente Lösung ist: Diese Ökosteuer muss weg.
Diese Steuer war immer ein Abkassiermodell mitfalschem Etikett. Sie haben nie besonders umweltfreund-liches Verhalten belohnt und Sie haben umweltschädli-ches Verhalten auch nicht in jedem Fall bestraft. Dafür ha-ben schon die umfangreichen Ausnahmen gesorgt, die miteinem wahnsinnigen bürokratischen Aufwand umgesetztwerden. Es ging der rot-grünen Regierung in diesem Fallimmer nur ums Geld!Die Mehreinnahmen aus der schrittweisen Erhöhungvon Mineralöl- und Stromsteuer dienen nicht der Förde-rung erneuerbarer Energien oder sinnvoller Maßnahmenim Umweltschutz. Auch sind die Steuermehreinnahmennicht in vollem Umfang für die Senkung des Rentenversi-cherungsbeitrages verwendet worden, wie Sie immer vor-gegeben haben. Damit sind auch noch Lafontaines Haus-haltslöcher gestopft worden. Das wissen Sie ganz genau.Die so genannte Ökosteuer ist eine sozial unausgewo-gene Belastung für die Bürger, für viele Bereiche derWirtschaft, für den Arbeitsmarkt und auch für den Um-weltschutz, weil nämlich viele Investitionen, die beimUmweltschutz dringend notwendig gewesen wären, nichtgetätigt werden konnten, Herr von Weizsäcker, weil mandas Geld in die Rentenkasse abliefern musste. Sieschwächt die Wettbewerbsposition der deutschen Wirt-schaft und belastet den mühevollen Angleichungsprozessder neuen Länder. Die Ökosteuer ist als untauglichesQuerfinanzierungsinstrument für die Rentenversiche-rung konzipiert worden. Das führt zu einem Grundwi-derspruch zwischen den Zielen einer dauerhaften Einnah-meerzielung zugunsten der Rente auf der einen Seite undder Lenkungswirkung, die eigentlich von einer ökolo-gisch begründeten Steuer entwickelt werden sollte, aufder anderen Seite.Dass durch die Ökosteuer einzelne Branchen in ihrerExistenz bedroht sind, kann Ihnen doch nicht egal sein!Aber die Regierung bleibt trotz der massiven Proteste derbetroffenen Gewerbezweige und trotz des Unmuts der ge-schröpften Autofahrer stur. Zum 1. Januar 2001 trat des-halb, wie geplant, die dritte Stufe der Ökosteuer in Kraft,die eine Verteuerung der Spritpreise um weitere 6 Pfen-nige brachte. Dabei hatten Sie das Glück, dass die Mine-ralölkonzerne kurz vorher die Preise aufgrund der Dollar-entwicklung und der gesteigerten Fördermengen gesenkthatten.
Damit ist im Übrigen auch die Behauptung widerlegt,Herr Poß, dass die Senkung der Ökosteuer nicht automa-tisch zu einer Senkung der Benzinpreise führen würde.Das haben Sie immer gesagt. Hier ist das Gegenteil be-wiesen, dass nämlich nach den Faktoren kalkuliert wird,die für die Preisgestaltung wichtig sind.
Dies kann jedoch überhaupt nicht darüber hinwegtäu-schen, dass der Staat bei jedem Liter Benzin heute schon1,43 DM an Mineralölsteuer und Mehrwertsteuer kas-siert. Das sind 70 Prozent des Spritpreises, die an denStaat gehen. Bis 2003 folgen zwei weitere Erhöhungsstu-fen. Damit wird dann der Staatsanteil bei 1,57 DM pro Li-ter liegen.Dass die Ölmultis diese Steuererhöhungen jeweils miteigenen Preiserhöhungen begleiten werden, kann Siedoch nicht ernsthaft überraschen. Damit aber überfordernSie die Wirtschaftsbereiche, die ihre gestiegenen Kostennicht über höhere Preise abwälzen können. Rot-Grün be-straft besonders die Menschen im ländlichen Raum, diedringend auf ihr Auto angewiesen sind. Gerade dort hätteman vielleicht noch einen Funken Verständnis, wenn zu-mindest ein Teil der Ökosteuer dem Straßenbau – insbe-sondere dem Bau von Ortsumgehungen – zugute käme.Aber Fehlanzeige!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, ichwill Sie einmal an Ihren Koalitionsvertrag erinnern. Dasist vielleicht ganz interessant für Sie.
Darin gehen Sie davon aus, dass nach 1999 zwei weitereErhöhungsschritte kommen. Damit sollen dann die So-zialversicherungsbeiträge auf unter 40 Prozent sinken.Bei der Ausgestaltung der Erhöhungsschritte wollten Siedie Ergebnisse der deutschen EU-Präsidentschaft beach-ten. Außerdem wollten Sie die konjunkturelle Lage unddie Preisentwicklung auf den Energiemärkten berück-sichtigen.Meine Damen und Herren, in allen wesentlichen Punk-ten haben Sie sich über Ihre Koalitionsvereinbarung hin-weggesetzt. Sie haben nicht drei Erhöhungsstufen, son-dern fünf beschlossen. Außerdem haben Sie dieeuropäische Komponente, die konjunkturelle Lage inDeutschland sowie die Preisentwicklung auf den Ener-giemärkten nicht berücksichtigt. Von gesetzlichen Lohn-nebenkosten unter 40 Prozent sind Sie trotz der drei Er-höhungsstufen meilenweit entfernt.
Statt nach Ihrer eigenen Vereinbarung zu handeln, ha-ben Sie die Ökosteuer ohne Rücksicht auf Verluste durch-gezogen. Weder die konjunkturelle Entwicklung nochdie Preisentwicklung auf den Energiemärkten hätten es1999 zugelassen, die Preise noch weiter in die Höhe zutreiben. Ganz im Gegenteil: Der Preis für Rohöl ist geradeim letzten Jahr in Schwindel erregende Höhen geklettertund hat damit die Inflation angeheizt. Auch die Abstim-mung mit den europäischen Partnern war ein leeres Ver-sprechen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001 14893
Wie sagte doch Bundeskanzler Schröder am 26. Okto-ber 1998 im „Spiegel“?Wir wollen auch aus Gründen der Wettbewerbs-fähigkeit die Energiebesteuerung nicht im nationalenAlleingang machen.Im selben Interview sagte er:Ich bedauere auch, dass der eine oder andere 10 Markim Monat mehr fürs Autofahren, fürs Heizen, fürsGas zu zahlen hat. Aber mehr sind es dann auch nichtim ungünstigsten Fall. Bei 6 Pfennig ist Ende derFahnenstange.Worte und Taten fallen beim Herrn Bundeskanzler jagelegentlich weit auseinander, es sei denn, er hätte mit6 Pfennig nur die jährliche Erhöhungsquote gemeint. Hater aber nicht und die 10 Mark im Monat waren ebenfallsein schlechter Witz.Deshalb sage ich Ihnen ganz offen: Ich glaube demHerrn Bundeskanzler kein Wort, wenn er jetzt sagt, nach2003 und nach fünf Ökosteuerstufen soll keine weitereErhöhung folgen. Das ist doch ein durchsichtiges Spiel inder rot-grünen Koalition, wenn zur gleichen Zeit nam-hafte Grüne wie der stellvertretende Ministerpräsidentvon NRW, Vesper, und unser geschätzter – weil ehrlicher –Kollege Loske ankündigen, dass ihre Fraktion über 2003hinaus an der schrittweisen Erhöhung der Ökosteuer fest-halte.Die Erfahrung zeigt doch, wie dieses abgekartete Spielläuft: Die Grünen sind nach wie vor auf dem Weg zu5 DM pro Liter Benzin und der Bundeskanzler würde fol-gen. Nur gut, dass die Meinung von Herrn Schröder nachder verlorenen Bundestagswahl 2002 nur noch am Randeinteressiert.
Dabei würde seine Begründung für das Ende derÖkosteuer nach 2003 bereits heute gelten. Herr Schrödersagte vor wenigen Tagen im „Mannheimer Morgen“, essei ein Fehler, die Ökologisierung des Steuersystems stetsauf die Frage der Verteuerung des Sprits zu beziehen, hiergebe es objektive Grenzen;
diese hätten mit der Automobilkonjunktur zu tun, aberauch mit der Belastbarkeit der Menschen. Ich denke, dieÄußerung war nicht mit Ihnen abgestimmt, Herr vonWeizsäcker.Genau diese richtigen Argumente des Kanzlers geltennämlich bereits heute und nicht erst nach 2003. Es kannIhnen doch nicht entgangen sein, dass die Zulassungszah-len der PKW in Deutschland dramatisch zurückgegangensind und dass die Grenze der Belastbarkeit der Menschenund Unternehmen längst erreicht oder überschritten ist.Den Menschen wird durch Ihre übermäßige Benzinbe-steuerung und durch die demnächst ins Haus flatterndeAbrechnung der Mietnebenkosten Kaufkraft entzogen,die im Wirtschaftskreislauf dringend benötigt wird. Dieteilweise minimale Entlastung, die Sie den Lohn- undEinkommensteuerzahlern durch die Steuerreform ge-währt haben, wird zu einem guten Teil wieder abkassiert.All diejenigen Mitbürger, die weder von stabilenRentenversicherungsbeiträgen noch von der Steuerreformprofitieren, werden von der Ökosteuer netto erfasst. Dassind vor allem Rentnerinnen und Rentner und die sozialSchwachen, auf die Ihre Politik grundsätzlich keine Rück-sicht nimmt.
Darüber kann auch der untaugliche Reparaturversuchdurch die Entfernungspauschale und den einmaligenHeizkostenzuschuss, die Sie zulasten der Länder undKommunen eingeführt haben, nicht hinwegtäuschen.
Meine Damen und Herren, die Ökosteuer passt auchkonjunkturell nicht in die Landschaft. Es kann Ihnen dochnicht verborgen geblieben sein, dass sich die Wachstums-rate in Deutschland besorgniserregend entwickelt. Nam-hafte Volkswirte halten die Prognosen der Regierung für2001 für viel zu optimistisch.Obwohl wir mit 2,4 Prozent Wirtschaftswachstum inEuro-Land nur den vorletzten Platz einnehmen, drohenwir auf 2,0 Prozent zurückzufallen. Ich will den Teufel garnicht an die Wand malen, denn der regiert in Baden-Würt-temberg erfolgreich,
aber wenn ich die konjunkturelle Entwicklung in denUSA sehe – meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ichhoffe, dass Ihnen das Zwischenrufen nicht vergeht –, dannhabe ich die große Sorge, dass dies auch auf unsere Wirt-schaft übergreift und dass unsere exportorientierte Wirt-schaft von dieser Entwicklung relativ rasch erfasst wird.In dieser Situation müsste eigentlich die Binnennach-frage anspringen, aber dafür sind Steuererhöhungen fürWirtschaft und Verbraucher das pure Gift.Viele Wirtschaftsbereiche, die auf bezahlbare Energie-kosten angewiesen sind, empfinden die Ökosteuer zuRecht als Folterwerkzeug. Ich nenne hier nur das Trans-portgewerbe, die Spediteure, die Omnibusbetriebe; ichnenne auch die Landwirtschaft und die Betriebe in denneuen Ländern, die es derzeit besonders schwer haben. Indiesen Betrieben wird um die Erhaltung jedes einzelnenArbeitsplatzes gekämpft und diesen Kampf für die Ar-beitnehmer sollte die Regierung nicht durch eine Öko-steuer, die keiner akzeptiert, erschweren.
Meine Damen und Herren, wenn Sie nun sagen:„Aber das Geld für die Rente brauchen wir doch“, dannwill ich dazu als ehemaliger Kämmerer auch Stellung neh-men. Ich kann nur entgegnen: Hätten Sie im November1998 unsere Rentenreform nicht zurückgenommen, hättenSie den fairen demographischen Faktor nicht außer Kraftgesetzt und dann zwei Jahre nur diskutiert, dann hätten Sievon Anfang an keine Ökosteuer in dieser Form gebraucht.
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Heinz Seiffert14894
Ich finde, Lafontaines Haushaltslöcher hätten Sieeben auf seriöse Weise stopfen müssen. Wenn Sie uns jetztvorwerfen, dass wir zur Finanzierung dieser Ausfällenichts sagen, dann ist das so, als wenn Ihnen, nachdem Siein den falschen Zug eingestiegen sind, der Schaffnersagte: „Sie erreichen so Ihr Ziel nicht“ und Sie ihm ent-gegneten: Jetzt müssen Sie mir aber sagen, wie ich wiederzurückkomme und wer mir diese Fahrt finanziert. – Sogeht es nicht.
Diese Ökosteuer ist als Bestandteil einer verfehlten Po-litik, die Sie zulasten der Menschen und zulasten der Wirt-schaft machen, abzulehnen. Kehren Sie auf diesem ver-hängnisvollen Weg um. Stimmen Sie unserem Gesetz zurAbschaffung dieser Ökosteuer zu!Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat Kollege
Dr. Reinhard Loske für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerKollege von Weizsäcker hatte ja darum gebeten, wir soll-ten uns einmal bemühen, nach neuen Argumenten Aus-schau zu halten. Herr Kollege Seiffert, obwohl ich Ihnenauch gern Ehrlichkeit attestiere und hohe Anerkennungzolle, muss ich doch sagen: Dem haben Sie wirklich nichtgenügt. Das war alles altes Zeug von vorgestern.
Das ist falsch und bleibt falsch.
Was vielleicht für uns auch noch eine ganz interessanteSache ist: Früher, wenn man klarmachen wollte, dass dieUnion bei der Debatte über die Ökosteuer auch schon ein-mal ein Stück weiter war, musste man immer im Zita-tenschatz der Vergangenheit suchen. Man musste gucken,was Herr Töpfer, Frau Merkel oder Herr Schäuble frühergesagt haben.
Heute braucht man gar nicht mehr in alten Unterlagennachzusehen, sondern muss nur die Zeitungen von heuteheranziehen. Da wird nämlich unter anderem HerrSchäuble, der leider zurzeit nicht da ist, interviewt und mitdem bemerkenswerten Satz zitiert:Der Verbrauch von Ressourcen muss langfristig ingrößerem Maße zur Finanzierung öffentlicher Haus-halte herangezogen werden als bisher, um die Ar-beitskosten zu entlasten.Da kann ich nur sagen: Der Mann hat Recht.
Das ist nämlich ganz genau das Prinzip der ökologischenSteuerreform, so wie wir sie umsetzen, wie Sie es aberimmer noch nicht verstanden haben.Die ökologische Steuerreform ist und bleibt ein zen-trales Instrument zur Modernisierung unserer Volkswirt-schaft und vor allen Dingen zur Verringerung unserer Ab-hängigkeit vom Erdöl. Man kann deshalb sagen: EineAbschaffung der Ökosteuer wäre unverantwortlich undfalsch.
Ich will mich aber jetzt doch gern einmal mit IhremGesetzentwurf auseinander setzen, denn Sie haben ja ver-sucht, auf die argumentative Ebene zu gelangen. Wir hat-ten ja im Finanzausschuss vor wenigen Monaten eineAnhörung und man darf sagen, dass das, was Sie da prä-sentiert haben, vollkommen auseinander genommenwurde.
Das wurde nicht ernst genommen und es war jedem mitAusnahme des BDI klar – Sie waren ja selbst da, HerrSeiffert, zumindest zeitweise –,
dass das Ganze ein durchsichtiger Showeffekt ist undkeine Substanz vorhanden ist. Die Veranstaltung war imPrinzip eine teure Anhörung auf Kosten des Steuerzah-lers, auf die wir auch ganz und gar hätten verzichten kön-nen.
Ich komme jetzt zu den einzelnen Argumenten. Ichwerde Herrn Ewringmann vom FinanzwissenschaftlichenForschungsinstitut der Universität Köln heranziehen.Dieses hat viel für den BDI gearbeitet und steht deshalbsicherlich nicht im Verdacht, übermäßig einseitig zu sein.Er nimmt sich Ihre Argumente im Einzelnen vor undschreibt als ersten Satz:Der Gesetzentwurf ... geht von falschen Annahmenund falschen Behauptungen aus.Danach greift er sich einzelne Aussagen Ihres Gesetzent-wurfes heraus. Ich werde ihn im Einzelnen zitieren.Ewringmann sagt:Erstens. Die Aussage, dass sich die Ökosteuer zu ei-ner Belastung sowohl für alle Bürger als auch für dieWirtschaft, den Arbeitsmarkt und den Umweltschutzentwickelt,
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Heinz Seiffert14895
widerspricht sämtlichen bisher vorliegenden empiri-schen Untersuchungsbefunden. Legt man die wis-senschaftlichen Ergebnisse zugrunde, so ist die deut-sche Wirtschaft insgesamt von der Ökosteuer undden Sozialabgabensenkungen bisher entlastet worden,der Arbeitsmarkt wurde – wenn auch nur leicht – po-sitiv beeinflusst. Für die Umwelteffekte ist ein nega-tives Ergebnis auszuschließen.Im Gegenteil – dazu komme ich gleich –: Sie sind positiv.Das heißt, das Argument, die Ökosteuer sei beschäfti-gungs-, sozial- und umweltpolitisch kontraproduktiv,wird durch die Fakten nicht gedeckt. Es ist schlicht undeinfach falsch und dumme Polemik.
Zweitens – ich zitiere wieder wörtlich –:Die Aussage, dass die ökologische Lenkungswir-kung daran scheitert, dass sie als Quersubventionie-rungsinstrument für die Rentenversicherung konzi-piert wurde, verkennt triviale Zusammenhänge. Dieökologische Wirkung der Steuer hängt vor allem vonBemessungsgrundlage und Steuersatz ab. ... Die Mit-telverwendung für die Senkung der Sozialversiche-rungsbeiträge stört indessen die ökologische Len-kungswirkung ... überhaupt nicht.Das heißt, auch diese Behauptung ist falsch.
Drittens – ich zitiere wieder wörtlich –:Die Aussage, dass die Wettbewerbsposition der deut-schen Volkswirtschaft geschwächt werde, ist falsch!Durch eine aufkommensneutrale Umschichtung vonvolkswirtschaftlichen Abgaben- bzw. Steuerlastenwird die Volkswirtschaft nicht geschwächt.Auch diese Behauptung von Ihnen ist falsch.Der vierte Punkt betrifft das so genannte Austermann-Märchen. Herr Seiffert, hören Sie zu, es ist wirklich sehrinteressant. Ewringmann sagt:
Es heißt: Beträge in einer Größenordnung von jähr-lich 16 Milliarden DM hat sie– die Bundesregierung –regelmäßig zur Finanzierung des allgemeinen Haus-halts verwendet. Daraus muss bzw. soll wohl die Fol-gerung abgeleitet werden, in den beiden bisherigenErhebungsjahren der Ökosteuer seien insgesamt32 Milliarden DM des Ökosteueraufkommens falsch,also nicht zur Senkung der Rentenversicherungs-beiträge verwendet worden.Jetzt kommt der schönste Satz:Die Tatsache, dass dieser Betrag– also diese 32 Milliarden DM –weit über der bisher vereinnahmten Ökosteuer– nämlich 25 Milliarden DM –liegt, macht deutlich, wie diese Aussage einzuordnenist.
Seine Schlussfolgerung ist:Der Gesetzentwurf sollte nicht weiter verfolgt wer-den. Er steht einer sachlichen Diskussion ... entge-gen.Dem ist wirklich nichts mehr hinzuzufügen, außer viel-leicht abschließend ein paar nackte Zahlen.Neben der Tatsache – das wurde bereits von dem Kol-legen von Weizsäcker genannt –, dass fast alle Heizungs-anlagenbauer und alle Automobilkonzerne mittlerweilemit energieeffizienten Modellen werben, gibt es weitereFakten. Erstes Faktum: Der öffentliche Personennahver-kehr profitiert. Das Wachstum im letzten Jahr betrug1,3 Prozent.Zum Mineralölabsatz: Bei Ottokraftstoffen gab es einMinus von 4,3 Prozent, bei leichtem Heizöl ein Minus von5,7 Prozent, bei schwerem Heizöl ein Minus von 8,7 Pro-zent. Die Begründung des Mineralölwirtschaftsverban-des – ich bin sofort fertig, Frau Präsidentin – lautet: ers-tens Rückgang der Fahrleistung und zweitens geringererspezifischer Verbrauch der Fahrzeuge aufgrund effizien-terer Modelle.Ich glaube, diese Zahlen sprechen für sich und zeigen,wie flach Ihr Antrag – ich muss sagen: leider – ist.
Ihn können wir leider nicht unterstützen. Wir werden ihnablehnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht der Kol-
lege Hermann Otto Solms, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hier wird eineökologisch-ökonomische Rundumdiskussion geführt, dievon den eigentlichen Problemen ablenkt. Es ist offenkun-dig so, dass die Oppositionsparteien, jedenfalls CDU/CSU und F.D.P.,
auch früher Vorschläge für eine stärkere ökologische Be-lastung vorgelegt haben. Das heißt aber doch noch langenicht, dass wir den Unsinn dieser Ökosteuer verteidigenkönnen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Dr. Reinhard Loske14896
Herr von Weizsäcker, das Problem haben Sie sauberumgangen. In einer früheren Rede haben Sie es deutlicherangesprochen: In dieser Ökosteuer stecken gewaltigeKonflikte, Widersprüche.Erstens steht die ökologische Lenkungsfunktion völ-lig im Hintergrund. In Wirklichkeit geht es um die Finan-zierung der Rente.
Zweitens. Auch ökologisch ist diese Steuer nicht wett-bewerbsneutral. Unterschiedliche Energieträger werdenunterschiedlich behandelt. Der ökologisch schlechtesteEnergieträger, die Kohle, wird von dieser Belastungausgenommen.
Der öffentliche Personennahverkehr ist in diese Besteue-rung einbezogen.Drittens. Die Betroffenen werden unterschiedlich be-und entlastet. Eine große Gruppe der Bevölkerung kannvon den Entlastungen bei den Lohnzusatzkosten nichtprofitieren: Hausfrauen, Rentner, Sozialhilfeempfänger,Arbeitslose, Studenten und Schüler. Das wissen Sie dochalles.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Solms,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Loske?
Ja, bitte schön.
Herr Kollege Solms, ich als Ökologe bin wahrlich kein
übermäßiger Freund der Kohle, doch ich will Sie ernsthaft
fragen: Wissen Sie nicht, dass die Kohle im Wesentlichen
zur Stromerzeugung eingesetzt wird und dass wir eine
Stromsteuer haben, die die Kohle vollständig erfasst? Ihre
Behauptung, die Kohle sei von der Ökosteuer ausgenom-
men, ist deswegen schlichtweg falsch. Meinen Sie etwa
den kleinen Anteil des Hausbrandes? Wenn Sie wollen,
dass wir auch Briketts besteuern, dann bringen Sie doch
einen entsprechenden Antrag ein. Wenn Sie glauben, dass
dadurch die ökologische Konsistenz erhöht wird, können
Sie dies tun. Es könnte aber sein, dass Sie in diesem Punkt
irren.
Herr KollegeLoske, vielen Dank, dass Sie Ihre Frage selbst beantwor-ten. Überall dort, wo Kohle direkt als Energieträger ein-gesetzt wird, ist sie von der Besteuerung ausgenommen.Das haben Sie gerade bestätigt. Dies ist einer der vielenWidersprüche dieser Steuer. Einen würde man vielleichtnoch akzeptieren, aber die Fülle der Widersprüche ist sogroß, dass man sagen muss: Die Logik in diesem Systemfehlt.
Ich bekenne mich weiterhin offen zu dem Vorschlagder F.D.P., dass ein dritter Mehrwertsteuersatz auf denEnergieverbrauch eine vernünftige Lösung dieses Pro-blems wäre. Dieser Steuersatz müsste jedoch in Europaeinheitlich sein. Das wäre technisch unglaublich einfach,völlig wettbewerbsneutral und würde die Energie ohneUnterschied gleichmäßig belasten.
– Das ist in Europa bis jetzt nicht akzeptiert worden, weiles gar nicht verhandelt worden ist. Das ist das Problem.Aber jeder, dem Sie dies erklären, wird dies als das idealeInstrument ansehen.Die Ökosteuer beinhaltet sehr viele Widersprüche. Ei-nige besonders krasse will ich Ihnen erläutern. Sie be-haupten, mit dieser Steuer würden die Lohnzusatzkostenentsprechend der Belastung gesenkt. Bei der Ökosteuerer-höhung Anfang dieses Jahres ist die Belastung für die Ver-braucher um knapp 6 Milliarden DM einschließlichMehrwertsteuer gestiegen. Die Entlastung bei den Ren-tenversicherungsbeiträgen von 19,3 auf 19,1 Prozent istnur zur Hälfte den Verbrauchern, den Arbeitnehmern, zu-zurechnen, weil die andere Hälfte den Arbeitgebern zu-gute kommt. Die Verbraucher werden also nur um1,8 Milliarden DM entlastet. Wo findet denn ein Aus-gleich statt? Was Sie der Öffentlichkeit erzählen, ist gelo-gen. Es stimmt überhaupt nicht.
Ein anderes pikantes Beispiel: Die Sozialhilfeempfän-ger müssen keine Rentenversicherungsbeiträge zahlen.Über die Ökosteuer müssen sie aber für ihre Rentenversi-cherung indirekt Beiträge zahlen. Was soll das? Auch daswird nicht erklärt.
Wir unterstützen den Vorschlag der Union, diese Steuerabzuschaffen. Das Thema soll auf der Tagesordnung blei-ben. Aber die Lösung soll systemimmanent, vernünftig,gleichmäßig und ohne Wettbewerbsverzerrungen sein.Eines möchte ich noch ergänzen, Herr von Weizsäcker.Es ist nun wirklich nicht so, dass die gestiegene Energie-effizienz auf die Ökosteuer zurückzuführen ist. Über dasDreiliterauto redet die Automobilindustrie schon seit gutzehn Jahren und forscht an seiner Entwicklung.
Auch die Senkung des Energieverbrauchs in den Haus-halten ist ein Thema, das schon in den 70er-Jahren disku-tiert worden ist. Bereits damals gab es Anreize und das ist
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Dr. Hermann Otto Solms14897
seitdem konsequent fortgesetzt worden. Das hat mit derÖkosteuer, die es erst seit zwei Jahren gibt, überhauptnichts zu tun.
Lassen Sie mich noch einige Bemerkungen zu dem Ge-setzentwurf der F.D.P.-Fraktion zu den schweren LKWmachen. Wir haben gefordert: Aufgrund der unerträgli-chen und inakzeptablen Belastungen des deutschen Spe-ditionsgewerbes im Wettbewerb müssen wir eine Entlas-tung schaffen, die wir europakonform ohne weiteresselber umsetzen können. Wir müssen nämlich dazu dieKfz-Steuer für schwere LKW in Deutschland auf das inEuropa festgelegte Mindestniveau senken. Das bedeutetepro schwerem LKW eine Entlastung um 1 000 DM imJahr. Damit könnte die gewaltige Benachteiligung imWettbewerb ein wenig ausgeglichen werden.Zu diesem Thema hat es Verhandlungen mit dem Ver-bandspräsidenten Schmidt im Bundeskanzleramt gege-ben. Man hat Nebelkerzen aufsteigen lassen, indem mangesagt hat, man könne sich vorstellen, Entgegenkommenzu zeigen. Der Finanzminister hat das am gleichen Tag de-mentieren lassen und gesagt, er sei nicht bereit, in diesemPunkt Entgegenkommen zu zeigen. Im Endeffekt passiertgar nichts.Im Gegenteil: Die Belastungen werden noch erhöht.Die Belastungen werden zum einen durch die Verlänge-rung der Abschreibungsfristen beim Speditionsgewerbe– Frau Kollegin Hendricks, Sie wissen, dass uns dasThema im Finanzausschuss beschäftigt hat – und zum an-deren dadurch erhöht, dass die Bundesregierung auf eu-ropäischer Ebene zugestimmt hat, die für Holland undFrankreich vorgesehenen Ausnahmen im Zusammenhangmit der Mineralölsteuer bis zum Ende des nächsten Jahresbeizubehalten. Das ist eine gewaltige Zeitspanne, da indiesen zwei Jahren eine völlig inakzeptable, innerhalb Eu-ropas eigentlich nicht zulässige Entlastung der Wettbe-werber in Frankreich, Holland oder in anderen Ländernerfolgt, ohne dass für das deutsche Speditionsgewerbe einÄquivalent ausgehandelt wurde.
Ein solches Ergebnis müsste aus Sicht der Bundesre-gierung völlig unverantwortlich und inakzeptabel sein.
Deswegen möchte ich Sie sehr herzlich bitten, unseremGesetzentwurf zuzustimmen.
Wenn Sie das im Augenblick aber nicht dürfen, weil Sienur das tun, was die Regierung Ihnen vorgibt – leider ha-ben die Koalitionsfraktionen kein Selbstbewusstsein, siebrauchen immer die Anweisung der Regierung dazu, wassie beschließen dürfen –, und Sie diese Genehmigungnicht bekommen, dann möchte ich Sie doch zumindestauffordern, an die Bundesregierung heranzutreten, geradeSie, Herr Schmidt, der Sie sich als Verkehrspolitiker einengewissen Namen gemacht haben,
und zu sagen: Es kann nicht sein, dass Deutschland Wett-bewerbsvorteilen für andere Länder zustimmt,
das Speditionsgewerbe in Deutschland zusätzlich im steu-erlichen Bereich benachteiligt wird und wir nicht handeln,um einen gewissen Ausgleich für Benachteiligungen zuschaffen.Das kann nicht akzeptiert werden und das können auchSie nicht akzeptieren. Deswegen fordern wir Sie auf zuhandeln.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht die Kol-
legin Dr. Barbara Höll für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Im „Spiegel“ dieser Woche ist einsehr interessanter Artikel über ein Werk von HerrnProfessor Rüdiger Glaser mit dem Titel „KlimageschichteMitteleuropas. 1 000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen“veröffentlicht. Er vermutet, dass das milde, trockene Bil-derbuchwetter zwischen 1770 und 1820 die Dichter undDenker zu ihren klassischen Höchstleistungen veranlassthat. Auch in den 90er-Jahren hatten wir ein sehr gutesWetter mit sehr guten Sommern. Ich glaube aber, der An-trag der CDU/CSU beweist, dass gutes Wetter nicht ohneweiteres zu geistigen Höchstleistungen führt.
Ihr Antrag zeugt eigentlich nur von einem, nämlich vonIhrer derzeitigen völligen Politikunfähigkeit.
Fakt ist bei aller Kritik an der Ökosteuer: Sich hinzu-stellen und ohne eigenes Konzept eine Rücknahme zu for-dern zeugt von Politikunfähigkeit, weil Sie einfach nurzum alten Zustand zurückkehren wollen.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal aufProfessor Glaser kommen, der seine Geschichte über denKlimawandel bestimmt nicht allein aus Jux und Tollereigeschrieben hat. Er kommt zu der Erkenntnis, dass in denletzten 1 000 Jahren die Durchschnittstemperatur in Mit-teleuropa nur um 1,5 Grad Celsius geschwankt hat,während wir in den nächsten 100 Jahren mit einer Erwär-mung um mindestens 1,4 bis maximal 5,8 Grad Celsiusrechnen müssen.
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Dr. Hermann Otto Solms14898
In dieser Situation so zu tun, als könnte man weiter sohandeln wie bisher, zeugt einfach von Politikunfähigkeit.
Sie haben keine eigene Antwort. Ich möchte mich nichtweiter damit auseinander setzen. Es ärgert mich aberschon, wenn Sie bei der Begründung Ihres Entwurfs, dienicht einmal analytisch ist, auf die neuen BundesländerBezug nehmen. Es ist sicher so, dass die gestiegenenPreise insbesondere die Menschen in den neuen Bundes-ländern belasten.
Ich frage mich, warum Sie dann nicht zum Beispiel demAntrag, den die PDS in der vergangenen Woche im Fi-nanzausschuss gestellt hat, zugestimmt haben, in dem wirdie Aufhebung der zweijährigen Begrenzung der steuerli-chen Absetzbarkeit von Zweitwohnungen gefordert ha-ben, einer Begrenzung, die von Ihnen eingeführt wurdeund die eine wirkliche Behinderung für die Menschen ist,die zum Beispiel in Leipzig wohnen und in Stuttgart ar-beiten und die nicht umziehen können bzw. wollen, weildie Kinder in Leipzig zur Schule gehen und es in Sachsenein anderes Schulsystem als in Baden-Württemberg gibt.
– Das hat damit sehr wohl etwas zu tun; denn man kannnicht einfach nur so Mobilität fordern. Man muss viel-mehr die konkreten Bedingungen analysieren. Erst dannkann man konkrete Antworten geben.Ich muss leider zugeben, dass die rot-grüne Regie-rungskoalition Ihnen durch eine schlecht gemachte Öko-steuerreform erst das Einfallstor für Ihre platte Kampagnegeöffnet hat. Fakt ist leider: Ihre Ökosteuer ist eben nichtökologisch. Sie hat kaum ökologische Lenkungswir-kung.
– Herr Binding, man kann sich nicht darauf beschränken,zu sagen: Wir verteuern jetzt ein kleines bisschen denStrom und das Mineralöl. Wo ist denn bitte schön nun dasDreiliter- oder das Einliterauto? Wo ist der Boom bei denneuen Umwelttechnologien? Durch Ihre Ökosteuer istnichts dergleichen angeschoben worden. Man kann sichdie Ökosteuerreform, wie es im Finanzausschuss gesche-hen ist, natürlich schönreden und sie zur Erfolgsge-schichte von Rot-Grün umstricken. Aber darüber lachtnicht nur ein Großteil der Abgeordneten im Parlament,sondern auch diejenigen, die nicht hier sitzen. Die Men-schen fühlen sich dadurch regelrecht veralbert.Man kann zudem eine ökologische Steuerreform nurdann in der Bevölkerung durchsetzen, wenn man sie so-zial gerecht ausgestaltet. Das haben Sie eben nicht getan.Die Ökosteuer ist keine sozial gerechte Steuer, weil sieeinseitig Rentnerinnen und Rentner, Sozialhilfeempfän-gerinnen und -empfänger, Studentinnen und Studentenbelastet; denn diese haben nichts davon, dass das Auf-kommen aus der Ökosteuer zur Senkung der Renten-beiträge verwendet wird. Wenn man eine Ökosteuerre-form durchführt, ohne gleichzeitig eine Wende in der Ver-kehrspolitik einzuleiten, nimmt man von vornherein inKauf, dass sie Stückwerk bleibt.Wir können hier gerne ausführlich darüber diskutieren,warum Sie den ÖPNV in die Ökosteuerreform einbezo-gen haben; denn das ist völlig unerklärlich. Nehmen SieBerlin als Beispiel: Im August sollen die Preise für denöffentlichen Personennahverkehr wieder erhöht werden.Der Fahrschein für eine einfache Fahrt wird dann4,20 DM kosten. Da kann doch niemand davon sprechen,dass die Menschen zum Umstieg auf den öffentlichenPersonennahverkehr angeregt werden. Der öffentlichePersonennahverkehr kommt dadurch nicht aus der Spiraleheraus, die darin besteht, dass immer weniger Menschenmit dem ÖPNV fahren, dass der ÖPNV dadurch immerteurer wird und dass dann im nächsten Jahr unweigerlichdie nächste Preiserhöhung ansteht. Das ist eine Politik, diesehr kurzfristig angelegt ist.Da einige Abgeordnete offenbar nur ein Kurzzeit-gedächtnis haben – ich denke, dass sie manchmal wirklichdarunter leiden –,
möchte ich auf unseren Entschließungsantrag auf Druck-sache 14/4534, den wir eingebracht haben, verweisen, dereinen Katalog mit notwendigen Maßnahmen enthält.Denn wenn Sie von der Bundesregierung in der Diskus-sion über die Ökosteuer hauptsächlich daran denken, wiedas Straßennetz am besten ausgebaut werden kann,während die Bahn vor Problemen steht und flächen-deckend Strecken stilllegt, so zeugt das eindeutig davon,dass Ihre Politik sehr kurzfristig angelegt ist. Leider ha-ben Sie das Instrument Ökosteuer, mit der sich tatsächlicheine ökologische Lenkungswirkung erzielen ließe, dis-kreditiert.Wir von der PDS sind für eine Verteuerung des Um-weltverbrauchs, aber nicht auf diese Art und Weise. Des-halb lehnen wir Ihre Ökosteuer weiterhin ab. Wir lehnenallerdings auch den Gesetzentwurf der CDU/CSU ab. DerVorschlag der F.D.P. ist zwar vom Ansatz her verständ-lich. Aber mit ihm wird leider nur der europäische Sub-ventionswettlauf weiter vorangetrieben. Deshalb ist auchdas nicht der richtige Weg.Ich bedanke mich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat jetzt der
Kollege Wolfgang Grotthaus für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Wir reden heute erneut überdie Ökosteuer; ich weiß gar nicht, zum wievielten Male.Ich hoffe aber, dass dies das letzte Mal sein wird;
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Dr. Barbara Höll14899
denn das Interesse in Ihren Reihen, Herr Seiffert, zeugtdavon, dass das Thema sozusagen ausgelutscht ist. An-sonsten wären mehr von Ihren Kolleginnen und Kollegenim Parlament anwesend, zumal Sie die Debatte verlangthaben.
Auch der heute ebenfalls zur Debatte stehende Antragder F.D.P. stellt einen neuerlichen Versuch dar, über einescheinbare Initiative zum Güterkraftverkehr die Öko-steuer infrage zu stellen. Die F.D.P. macht für die Lage desGüterkraftverkehr die Ökosteuer verantwortlich,
obwohl sie genau weiß, dass die steuerliche Seite hiernicht verantwortlich ist.Die Opposition sollte durch die Anhörung zumThema Ökosteuer im November 2000 eigentlich dazu-gelernt haben. Diese Anhörung wurde von der Oppositioninszeniert; doch dieses Schauspiel ist von der Öffentlich-keit und von den Kritikern verrissen worden.
– Herr Seiffert, darauf komme ich gleich noch zurück.Wie Herr Kollege von Weizsäcker bereits darstellte,fand sich auch nicht ein Ökonom, der sich auf Ihre Seiteschlug.
Sehr eindrücklich wird dieses für die Regierungspolitik sopositive Echo zu Beginn dieses Jahres im „Spiegel“ dar-gestellt. Niederschmetternd, Herr Seiffert, ist das Urteilfür die Opposition:Steuerpolitik muss stetig und verlässlich sein.... Ganz besonders gelte das für die Ökosteuer, so derDarmstädter Wirtschaftsexperte Rürup.Bei der Expertenanhörung ... stand die Union fest ander Seite der Autolobbyisten ...Fachleute raufen sich die Haare. Selten sei eine poli-tische Diskussion „dermaßen jenseits jeder Sachar-gumentation“ geführt worden, klagt ein hoher Beam-ter im Berliner Umweltbundesamt. ...Umweltexperten, vor allem aber Finanz- und Wirt-schaftswissenschaftler attestierten den Christdemo-kraten „fehlerhafte Annahmen und falsche Behaup-tungen“.Schließlich zitiere ich noch Dieter Ewringmann.
– Führen Sie sich das doch einmal zu Gemüte, hören Siedoch einmal zu!
Dann werden Sie in Ruhe überlegen können. Wir gehennämlich davon aus, dass Sie solche Anträge dann weißGott nicht mehr stellen werden.
Zum Schluss also zitiere ich noch eine Äußerung vonHerrn Ewringmann, über die Sie besonders nachdenkensollten:
Die Behauptung, die Ökosteuer belaste die Bürger,Wirtschaft, den Arbeitsmarkt und den Umwelt-schutz, widerspreche „sämtlichen vorliegenden em-pirischen Untersuchungsbefunden“. Die Union igno-riere „triviale Zusammenhänge“ und arbeite mitfalschen Zahlen.
– Dies, Herr Seiffert, auch zu Ihrer Bemerkung, die Öko-steuer sei von Anfang an eine Fehlkonstruktion gewesen.Festzuhalten ist, dass Sie nichts dazugelernt haben: nichtweil Sie es nicht verstehen, sondern weil Sie in IhrenDenkstrukturen verhaftet sind.
Mein Kollege von Weizsäcker hat schon die zentralenPunkte der Ökosteuer aufgelistet. Ich möchte hiernochmals einen der wichtigsten Punkte der Ökosteueraufgreifen, die Senkung der Lohnnebenkosten und damitdie Schaffung von neuen Arbeitsplätzen.
– Herr Fromme, stellen Sie ruhig eine Zwischenfrage. Icherinnere mich noch an eine Zwischenfrage von Ihnen, beideren Beantwortung Sie am liebsten den Saal verlassenhätten.Die Opposition sollte nochmals die Zahlen des Deut-schen Instituts für Wirtschaft und des RWI nachlesen, diesich auf die Neuschaffung und den Erhalt von Arbeits-plätzen durch die Ökosteuer beziehen. Dies sollten wirden Arbeitnehmern in unserer Republik sagen, weil sievon der Ökosteuer auch diesbezüglich profitieren.Der Einsatz der F.D.P. für den Güterkraftverkehr in al-len Ehren, ihr Antrag geht aber meines Erachtens völlig ander Sache vorbei. Hier geht es nicht alleine um die Öko-steuer, sondern es muss uns um die gesamte Wettbe-werbslage im Güterkraftverkehr gehen. Die steuerlicheSeite ist nicht an vorhandenen Wettbewerbsverzerrungenschuld. Zum Beispiel ist die Kraftfahrzeugsteuer unterBerücksichtigung aller rechtlichen und tatsächlichen Rah-menbedingungen ungeeignet, eine spürbare Verbesserungder wirtschaftlichen Situation im deutschen Güterkraft-
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Wolfgang Grotthaus14900
verkehr herbeizuführen. Da sind viele weitere Faktorenentscheidend; ich nenne nur den Faktor Sozial- und Lohn-dumping. Das wissen Sie, meine Damen und Herren vonder F.D.P., genauso wie wir.Aus diesem Grunde ist im zuständigen Fachausschussmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen folgende Emp-fehlung verabschiedet worden:Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-rung auf, dem Deutschen Bundestag einen Berichtvorzulegen, aus dem die Wettbewerbsverzerrungenim europäischen Güterkraftverkehrsgewerbe beiSteuer- sowie bei Sozial- und Umweltstandards her-vorgehen; dem Deutschen Bundestag darüber zu be-richten, welche Schritte die Bundesregierung in denletzten zwei Jahren bereits unternommen hat, um dieHarmonisierungsdefizite zu verringern; den Deut-schen Bundestag darüber zu informieren, wo die Wi-derstände gegen eine Harmonisierung der Wettbe-werbsbedingungen in erster Linie zu suchen sind.Erst wenn diese Fragen beantwortet sind und alle Ant-worten diskutiert werden können,
werden wir uns in aller Ruhe und mit allen Fakten überden Güterkraftverkehr unterhalten.
Ich möchte ein letztes Zitat vortragen, mit dem ichmich nicht nur an Sie, Herr Seiffert, sondern an alle Kol-leginnen und Kollegen der CDU und der CSU richtenwill. Folgende Sätze sind in einem Artikel des Informati-onsdienstes des Zentralkomitees der deutschen Katholi-ken unter der Überschrift „Warum die Ökosteuer zu er-halten ist“ veröffentlicht worden:Die Ökosteuer kann ein kleines, aber wichtiges Ele-ment auf dem Weg zu einem verträglichen Ausgleichzwischen Ökonomie und Ökologie sein. Es ist eineFrage christlicher Schöpfungsverantwortung, dazubeizutragen, dass sie entsprechend akzeptiert undtransformiert wird.Der Autor ist Prof. Dr. Markus Voigt, Leiter der Clearing-stelle Kirche & Umwelt, Benediktbeuren. Vielleicht ver-suchen Sie einmal, dieses Informationsmaterial zu be-kommen. Möglicherweise brechen Sie dann aus Ihrenengen Denkstrukturen aus und lernen tatsächlich etwasdazu.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Kol-
lege Michael Meister für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das deutscheGüterkraftverkehrsgewerbe geht wirtschaftlich auf demZahnfleisch.
Es steht aufgrund der Liberalisierung des europäischenBinnenmarkts in scharfem Konkurrenzkampf. Dafür gibtes drei wesentliche Gründe: erstens die fehlende Harmo-nisierung der Wettbewerbsbedingungen, zweitens die il-legalen Praktiken der Konkurrenz, drittens die politischenEntscheidungen dieser Bundesregierung. Deshalb stehtdie Bundesregierung in der Verantwortung, dem deut-schen Güterkraftverkehrsgewerbe kurzfristig Flanken-schutz zu geben, wenn nicht ein Großteil der 380 000 Ar-beitsplätze vor allem im Bereich des mittelständischenGewerbes verloren gehen soll.
Leider spricht nichts dafür, dass sich die Bundesregie-rung dieser Verantwortung bewusst ist. Sie nimmt, HerrKollege Grotthaus, die Probleme lediglich zur Kenntnis;schließlich sind sie alle im Verkehrsbericht 2000 aufgelis-tet. Jedoch frage ich mich, was Ihre Beschlussempfehlungsoll. All das, was Sie sich berichten lassen wollen, stehtim Verkehrsbericht 2000. Wir brauchen hier keineBerichte, sondern Handlungen. Frau Mertens, HerrBodewig, handeln Sie endlich und tun Sie etwas für dasdeutsche Verkehrsgewerbe!
Statt die Harmonisierung auf der EU-Ebene zu be-schleunigen, hat unsere Bundesregierung – vor dem Hin-tergrund massiver Kraftstoffverteuerungen – einem neuenSubventionswettlauf in der EU zugestimmt. Die Konkur-renten in Frankreich, Italien, Belgien und Holland habenmit Zustimmung der deutschen Bundesregierung Rück-vergütungen bekommen. Somit ist das deutsche Gewerbenicht nur national, durch die Ökosteuer, belastet. Die Ver-günstigungen, die mit der Stimme der deutschen Bundes-regierung der Konkurrenz genehmigt wurden, haben eszusätzlich belastet. Sie haben durch die Ökosteuer keine,wie Sie immer sagen, „Win-win-Situation“, sondern eine„Lose-lose-Situation“ herbeigeführt. Es handelt sich umeinen doppelten Nachteil für Deutschland.
Die Bundesregierung unterschätzt in fahrlässigerWeise die Folgen der Ökosteuer hinsichtlich ihrer Wir-kung auf die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Güter-kraftverkehrsgewerbes. Höhere Beförderungsentgeltesind auf dem Markt nicht durchzusetzen. Auf der geplan-ten Endstufe der Ökosteuer, der fünften Stufe, haben diedeutschen Transportunternehmen unter Berücksichtigungder steuerlichen Vorteile in anderen EU-Ländern pro Jahrund Fahrzeug Mehrkosten in Höhe von netto 13 250 DMzu tragen. Diese Mehrkosten lassen sich nicht auf denPreis umlegen, wenn man in einem liberalisierten Markttätig ist.
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Wolfgang Grotthaus14901
Die Bundesregierung hat in einer Antwort auf eine An-frage unseres Kollegen Sebastian erklärt, dass kleine undmittlere Unternehmen im gewerblichen Güterkraftver-kehr „unter Umständen strukturelle Veränderungen vor-nehmen müssen, um im europäischen Wettbewerb zu be-stehen“. Es ist, als ob man Hohn und Spott über diedeutschen LKW-Fahrer und das deutsche Transportge-werbe ausgießt, wenn man ihnen zumutet, sich strukturellneu aufzustellen, obwohl man selbst die Verantwortungfür ihre Probleme trägt.
Herr Grotthaus, nehmen Sie diese Fakten doch einfachzur Kenntnis! Wenn Sie das tun, dann brauchen Sie keineBerichte anzufordern. Allen, die sich hier damit befassen,ist das, was ich sage, bekannt.
Herr Loske, ich gehe davon aus, dass Sie ähnlich wieder Kollege Grotthaus bei irgendeiner anderen Anhörung,aber nicht bei der zur Ökosteuer waren. Dort ist nämlichklar und deutlich gesagt worden, dass diese Ökosteuer fürunsere Unternehmen ökonomisch nicht vertretbar ist undden Arbeitsplätzen am Standort Deutschland schadet.
Ich will aber nicht nur über die Frage reden, wer inDeutschland fährt, sondern auch über die Situation desLogistikgewerbes in Deutschland insgesamt. In diesenKomplex gehört zum Beispiel auch die Stromsteuer. FürLogistikunternehmen gibt es am Standort Deutschlandkeine Ermäßigung bei der Stromsteuer. Unsere europä-ischen Nachbarländer haben konsequent auf den deut-schen Markt ausgerichtete Logistikstandorte in Grenz-nähe geschaffen und locken mit strukturellen Vorteilen:geringere Steuern, niedrigere Investitionskosten, flexible-rer Arbeitsmarkt, kürzere Genehmigungszeiten. Das allessind Vorteile, die gewährt werden, um gezielt Arbeits-plätze aus Deutschland über die offene Grenze im EU-Binnenmarkt herauszuziehen. Was tut die deutsche Bun-desregierung? Sie sieht zu und unterstützt diese Ent-wicklung durch die Erhebung von Strom- und Ökosteuer.Das ist unverantwortlich.
Die nächste einschneidende Änderung steht uns schonbevor. Sie haben ja den Gipfel von Nizza als großen Er-folg gelobt; aufgrund der dort gefällten Beschlüssekommt die EU-Osterweiterung auf uns zu. Wie wird ei-gentlich das deutsche Logistikgewerbe auf die EU-Ost-erweiterung vorbereitet? Was tun wir, um eine Stufenlö-sung hinzubekommen, damit diejenigen, die dort zuBilligstlöhnen und -konditionen anbieten, nicht unsereMarktpreise total verderben? Die Bundesregierung wärehier gefordert; im Zusammenhang mit Nizza habe ichdazu nichts gehört. Sehen Sie sich die Entwicklung imJahre 2000 an: Das Mengenwachstum im Logistikmarktwurde zu 10 Prozent von ausländischen Unternehmen undzu lediglich 1,6 Prozent von deutschen Unternehmen ab-geschöpft. Das zeigt, wo die Entwicklung hingeht. Sieaber schauen zu, handeln nicht, sondern lassen sich nurBerichte geben und auf diese Weise informieren. HandelnSie endlich, sonst verschwinden die Arbeitsplätze ausDeutschland!
Wir brauchen dringend mit Blick auf das deutscheGüterkraftverkehrsgewerbe ein Maßnahmenpaket zurHarmonisierung der Wettbewerbsbedingungen. 11 von 15EU-Ländern subventionieren ihre Unternehmen, dieDeutschen schauen zu. Hier ist dringend Handlungsbe-darf geboten. Im Rahmen der EU-Osterweiterung mussdie Interessenlage des deutschen Transportgewerbes striktbeachtet werden. Wir brauchen eine Stufenlösung, damitein gemeinsamer Markt unter vergleichbaren Wettbe-werbsbedingungen entsteht.Wir brauchen schnellstens ein Gesamtkonzept zurBekämpfung der grauen und illegalen Kabotage sowieder illegalen Beschäftigung im EU-Straßengüterverkehrs-gewerbe. Die Bundesregierung hat einen entsprechendenGesetzentwurf im Kabinett verabschiedet. Es ist dringenderforderlich, dass dieser Gesetzentwurf rasch beschlossenund durchgesetzt wird, damit deutsche Unternehmen diegleichen Chancen haben.
Wir müssen darüber hinaus etwas bezüglich der Öko-Punkte-Problematik mit Österreich tun. Hier dürfen wirdie deutschen Unternehmen nicht alleine lassen und ihreInteressen an diesem wichtigen Nord-Süd-Transportwegin Europa nicht aus den Augen verlieren.Wir brauchen ferner eine streckenbezogene, nutzungs-abhängige LKW-Gebühr. Sie ist nötig, muss aber auf-kommensneutral sein. Wir brauchen keine neuen Belas-tungen. Außerdem muss sie bald eingeführt werden. Ichglaube Herrn Bodewig nicht mehr, Frau Mertens. Ichglaube nicht, dass sie 2003 kommen wird. Sie kündigenan, dass diese Gebühr für LKWkommt. Ich frage Sie: Wieweit sind Ihre Vorbereitungen? Es wird an dieser Stelleviel zu wenig getan. Zugleich kommen wir in die Situa-tion hinein, dass Ihr groß angekündigtes Anti-Stau-Pro-gramm nur auf dem Papier finanziert erscheint, tat-sächlich aber die Finanzierungsgrundlage fehlt. Hier istdringend Handlungsbedarf geboten.Ich komme zum Punkt Ökosteuer. Die Ökosteuer mussdringend abgeschafft werden, da sie die Wettbewerbssitu-ation zusätzlich verschärft, ihre ökologische Lenkungs-wirkung verfehlt und Aufkommensneutralität nicht gege-ben ist. Wir haben immer gesagt: Klimaschutz hat für unsPriorität, wenn EU-weite Maßnahmen ergriffen werden,diese emissionsbezogen, aufkommensneutral und wettbe-werbskonform sind. Von allen vier Punkten sind Sie mei-lenweit entfernt, meine Damen und Herren.
Heute Morgen gab es eine intensive Debatte über IT-Technologie. Der Logistikmarkt ist dabei, in immer klei-nere Transporteinheiten zu zerfallen. Miniaturisierung
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Dr. Michael Meister14902
heißt das Stichwort. Was tun wir in Deutschland? Wir be-hindern Transport- und Logistikgewerbe durch ständigmehr Regulierung. Wir brauchen eine Öffnung, damit derdeutsche Markt von dieser durch die neuen Technologienausgelösten Entwicklung auf dem Logistikmarkt profitie-ren kann. Hier sind weitere Verbote, mehr Regulierungund weitere Behinderungen und Verteuerungen nichtsinnvoll, hier bedarf es einer wettbewerbsgerechten Öff-nung des Marktes, damit unsere Unternehmen an dieserEntwicklung teilhaben können. Da sind intelligente, zu-kunftsgerichtete Antworten nötig und nicht Ihre rück-wärts gerichteten Verbote, Restriktionen und Ver-teuerungen.Wenn wir eine Chance haben wollen, dann ist der Wegüber die Verteuerung von Benzin nicht richtig; stattdessenmüssen neue Technologien gefördert und vorangebrachtwerden. Man muss zukunftsgewandt agieren und nichtmit Verboten, Steuererhöhungen und zusätzlichen Belas-tungen hantieren. Sie tun nichts für die Ökologie inDeutschland, sondern Ihre Politik richtet sich gegen dieUnternehmen und Arbeitsplätze am Standort Deutsch-land.
Kommen Sie endlich zur Besinnung, führen Sie eineWende zu mehr Ökologie, mehr Arbeitsplätzen und einerbesseren Wirtschaftspolitik durch! Dann haben Sie uns anIhrer Seite.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Albert Schmidt für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist im Moment schon eine verrückte Ge-
fechtslage: Vorgestern hat der Ecofin-Rat, also die ver-
sammelten europäischen Finanzminister, beschlossen,
dass man die – wie ich hoffe, von uns allen für falsch ge-
haltenen – Steuervergünstigungen, die einige europäische
Mitgliedstaaten für den LKW-Verkehr gewährt hatten,
erstens sofort um 20 Prozent reduziert, sie nämlich auf
40 000 statt bisher 50 000 Liter pro Jahr und Fahrzeug be-
grenzt, und dass man sie zweitens bis Ende 2002 befristet.
Zwei Tage später behandeln wir im Bundestag einen
Antrag von der rechten Seite des Hauses, der zum Inhalt
hat, vergleichbare Subventionen für das speditierende
Gewerbe in Deutschland einzuführen. Sie sagen Harmo-
nisierung, aber Sie meinen Subventionswettlauf. Das ist
der Fehler Ihres Antrags.
Herr Kollege Meister, in den ersten beiden Punkten Ih-
rer Problemanalyse stimme ich Ihnen ausdrücklich zu.
Was aber sind die wirklichen Probleme des Güterver-
kehrs, insbesondere der mittelständischen Unternehmen
des speditierenden Gewerbes? Sie haben Recht, wenn Sie
auf die illegale Kabotage verweisen. Dagegen ist die Bun-
desregierung vorgegangen und mit dem bekannten Ge-
setzentwurf tätig geworden. Aber das eigentliche Problem
ist eine gnadenlose Deregulierung und Liberalisierung,
einhergehend mit einem Preisverfall, der dazu führt, dass
niemand mehr bereit ist, den Transport per LKW zu be-
zahlen. Es ist heute billiger, mit dem Taxi von München
nach Hamburg zu fahren, als die Strecke per LKW
zurückzulegen. Das ist das eigentliche Problem, das wir
angehen müssen.
Kommen wir einmal ganz nüchtern zu dem Thema Mi-
neralölsteuer. Sie sagen ja, das sei das Hauptproblem.
Der Preis für einen Liter Diesel an deutschen Tankstellen
lag zu Beginn des Jahres 2001 im Durchschnitt bei etwa
1,60 DM.
In den Niederlanden, die als eines der subventionsge-
benden Länder als Vergleich herangezogen werden, liegt
der Preis bei 1,64 DM. Selbst wenn ich die 4,7 Pfennig,
die das Güterkraftgewerbe dort als Steuerbegünstigung
wieder herauskriegt, abziehe, Herr Solms, bin ich immer
noch bei 1,60 DM, also dem deutschen Niveau.
Oder nehmen Sie Frankreich: Der Tankstellenpreis für
Diesel liegt dort heute durchschnittlich bei 1,72 DM.
Selbst wenn die 7,5 Pfennig Vergünstigung abgerechnet
werden, liegt der Preis mit 1,64 DM nach Adam Riese im-
mer noch 4 Pfennig höher als in Deutschland.
In Italien, ein weiterer Subventionssünder, liegt der
Tankstellenpreis für Diesel bei 1,85 DM. Wenn ich die
Steuervergünstigung, also das, was erstattet wird, ab-
ziehe, dann beträgt der Preis 1,72 DM, 12 Pfennig mehr
als in Deutschland.
Lieber Herr Kollege Solms, wenn Sie behaupten, das
Hauptproblem des speditierenden Gewerbes sei die Mi-
neralölsteuer, dann kann ich Ihnen nur sagen: Sie haben
sich mit der Verkehrspolitik heute keinen Namen ge-
macht.
– Bitte schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Solms,
Ihre Zwischenfrage, bitte.
Herr KollegeSchmidt, sollte es Ihnen entgangen sein, dass sich unser
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Dr. Michael Meister14903
Antrag auf die Senkung der Kfz-Steuer und nicht der Mi-neralölsteuer gerichtet hat?Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Das ist mir natürlich nicht entgangen, weilich die Anträge der F.D.P. immer besonders genau lese.Ich bin dankbar für Ihre Frage; denn jetzt kann ich Ihnendazu unmittelbar Antwort geben.
In Ihrem Antrag, Herr Kollege Solms, heißt es zunächstganz pauschal – ich kann es fast auswendig –, der Deut-sche Bundestag möge die Bundesregierung auffordern,die Kraftfahrzeugsteuer für LKW abzusenken. Dann istdie Rede vom europäischen Mindestniveau. Da denktman: Hoppla, das ist ja eine Wohltat für alle.Liest man aber vier Zeilen weiter, so stellt man fest,dass jedoch für die schweren LKW der Klassen Euro 1und Euro 2, also für die normalen bis mittleren Stinker– das sind die meisten Fahrzeuge –, der Steuersatz beibe-halten werden soll. Nur für Fahrzeuge der Klasse Euro 3soll die Steuer gesenkt werden. Da wird der Antrag alsowieder eingeschränkt.
Ich sage Ihnen Folgendes, Herr Kollege: Der Steuer-satz für Euro 2 ist im Vergleich zu Euro 1 bereits abge-senkt. Für einen 40-Tonner müssen, sofern dieser dieEuro-2-Norm erfüllt, schon heute 700 DM weniger Kraft-fahrzeugsteuer gezahlt werden als für einen altenEuro-1-Stinker.
Gleiches gilt für Euro-3-Fahrzeuge.
Was wir beachten sollten – dieser Punkt ist leider inIhrem Antrag nicht enthalten; aber man kann ihn mitgutem Willen hineininterpretieren –, ist, dass die nächsteGeneration von besonders schadstoffarmen LKW unmit-telbar vor der Markteinführung steht. Wenn wir uns jetztin Bezug auf Euro 4 darauf einigen könnten – darübermöchte ich mit Ihnen ernsthaft diskutieren –, eine zu-sätzliche Begünstigung in Richtung Mindeststeuersatzeinzuführen, um diese Technologie beschleunigt auf denMarkt zu bringen, dann kämen wir vielleicht zusammen.Ich möchte das Finanzministerium bitten, in diese Rich-tung Überlegungen anzustellen.
Was mir, liebe Kolleginnen und Kollegen von derF.D.P., nicht gefallen hat und was ich nicht als seriös emp-finde, ist, dass Sie Steuersenkungen vorschlagen – egal,für welchen guten Zweck –, ohne zu sagen, wie siegegenfinanziert werden sollen. Sie haben in der Begrün-dung Ihres Antrags geschrieben – ich habe nicht nur IhrenAntrag, sondern auch Ihre Begründung dazu gelesen –,dass die Steuerentlastung durch eine Erhöhung der Kfz-Steuer zum 1. Januar 2001 für diejenigen Fahrzeuge fi-nanziert werden solle, die nur wenig emissionsreduziertsind. Ich muss Sie daran erinnern, dass die ab 1. Januar2001 geltende Steuererhöhung für die besonders schad-stoffreichen und wenig modernen Fahrzeuge Bestandteileines Paketes gewesen ist, das Sie selbst 1997, als Sienoch in der Regierung waren, mit den Ländern ausgehan-delt haben – und zwar für die Länder aufkommensneutral.Wenn Sie den Ländern also diese 1 Milliarde DM weg-nehmen, dann würden Sie Ihr Versprechen brechen, dasSie ihnen 1997 gegeben haben. Das ist absolut unseriös.
Lassen Sie mich abschließend noch eine kurze Bemer-kung zu dem Thema Kerosinbesteuerung machen, dasebenfalls auf der Tagesordnung steht. Ich halte es für einepure Selbstverständlichkeit, dass der Bundestag mit denStimmen des ganzen Hauses dem Entschließungsantragder Koalitionsfraktionen folgt und die Bundesregierungnachdrücklich ersucht, die Einführung einer Kerosinbe-steuerung oder eines vergleichbaren fiskalischen Elemen-tes einer emissionsbezogenen Treibstoffabgabe auf inter-nationaler Ebene im Gleichklang mit den anderenMitgliedstaaten zu forcieren. Wir waren 1995 schon ein-mal weiter. Ich weiß dies ganz genau, weil ich zu diesemThema meine erste Rede als frisch gebackener Abge-ordneter gehalten habe.
Damals haben Politiker wie Schäuble – ein wirklich Wert-konservativer! – dem zugestimmt. Heute wollen Sie da-von nichts mehr wissen, Sie Scheinkonservativen!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort zur Ge-
schäftsordnung hat der Kollege Peter Ramsauer.
Frau Präsidentin,ich möchte gemäß § 42 unserer Geschäftsordnung na-mens meiner Fraktion die Herbeirufung einer Vertreterinoder eines Vertreters des Bundesfinanzministeriums be-antragen. Die Federführung liegt nämlich beim BMF.
– Sie ist jetzt nicht da.
Dieses Ressort ist nicht vertreten.Wir haben schon des Öfteren im Ältestenrat darauf hin-gewiesen, dass bei wichtigen Debatten die federführen-den Ministerien durch Abwesenheit glänzen. Es wurdeuns immer wieder zugesagt, dass sich diese Situation
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Dr. Hermann Otto Solms14904
verbessern würde. Sie hat sich aber nicht verbessert. Des-wegen bestehen wir darauf, dass die Debatte gegebenen-falls so lange unterbrochen wird, bis eine Vertreterin oderein Vertreter des BMF anwesend ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort zur Ge-
schäftsordnung hat die Kollegin Steffi Lemke.
Sehr
geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kolle-
gen! Der Kollege Ramsauer hat in meinen Augen zum
wiederholten Male das Parlament mit einer Angelegen-
heit belästigt, die aus meiner Sicht – –
– Sie sollten mich erst einmal ausreden lassen.
Es geht mir darum, festzustellen, dass Sie hier einen Kla-
mauk inszenieren,
der nichts mit der Anwesenheit eines Vertreters der Bun-
desregierung bei dieser Debatte zu tun hat.
Erstens. Herr Ramsauer, Sie wissen – es wurde Ihnen
auch gesagt –, dass Frau Staatssekretärin Hendricks noch
bis vor kurzem im Plenum anwesend war. Sie hat also den
größten Teil der Debatte verfolgt.
– Das kann sein. Er hat dann wahrscheinlich nicht be-
merkt, dass Frau Hendricks den größten Teil der Debatte
anwesend war.
Zweitens. Auf der Regierungsbank sind das Ver-
kehrsministerium, das Umweltministerium und ein wei-
teres Ministerium vertreten. Ferner ist Staatsminister
Schwanitz anwesend. Mit Hinweis darauf, dass ein Ver-
treter des Finanzministeriums den größten Teil der De-
batte anwesend war, möchte ich feststellen, dass die Re-
gierung in dieser Debatte ausreichend repräsentiert ist.
Ich betrachte das also als eine Inszenierung hier im Parla-
ment, die mit der Geschäftsordnung wenig zu tun hat, da
die Bundesregierung der Debatte natürlich aufmerksam
gefolgt ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Geschäftsordnung
hat sich jetzt der Parlamentarische Geschäftsführer
Dr. Küster gemeldet.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Herr Ramsauer, Sie wissen si-
cherlich, dass der Bundesfinanzminister durch einen Un-
fall gesundheitlich angeknackst ist und dass dadurch eine
gewisse personelle Schwierigkeit entstanden ist. Die bei-
den Staatssekretäre versuchen im Augenblick natürlich,
die Hausleitung wahrzunehmen.
Dass es nötig ist, am Rande des Plenums eine Reihe
von Abstimmungsgesprächen zu führen, wissen Sie aus
Ihrer Regierungszeit genau. Sie handeln im Augenblick
sehr unfair. Sie wissen auch genau, dass die Staatssekre-
tärin den größten Teil der Debatte mit verfolgt hat. Ich bin
sicher, dass sie auch am Ende dieser Debatte wieder im
Plenum sein wird.
– Da ist sie schon.
Wir werden also auch den Rest der Debatte in Anwesen-
heit der Staatssekretärin Frau Dr. Hendricks führen.
Dann kommen wir
jetzt zur Abstimmung. Wer dem Antrag auf Herbeirufung
zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. – Die
Frau Staatssekretärin ist da; Sie sollten sich bei ihr
entschuldigen.
Ihr Antrag ist doch ein Zeichen dafür, Herr Kollege, dass
Sie nicht die ganze Zeit anwesend waren und nicht mit-
bekommen haben, dass die Frau Staatssekretärin nur kurz
hinausgegangen ist. Wir müssen sie also nicht mehr
herbeirufen und wir müssen auch nicht mehr die Sitzung
unterbrechen. Damit ist dies erledigt.
– Was wünschen Sie jetzt?
Sie haben mich
aufgefordert, mich zu entschuldigen.
Nachdem die FrauStaatssekretärin und weitere Mitglieder der Bundesregie-rung nun da sind, können wir die Debatte fortführen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Dr. Peter Ramsauer14905
Augenblick, Sie
verwechseln jetzt die Fragerolle, Frau Präsidentin. Sie
fragen mich, was ich will; aber Sie wollten gerade etwas
von mir. Sie haben von mir verlangt, dass ich mich bei der
Frau Staatssekretärin entschuldige. Ich möchte Sie jetzt
fragen, wofür ich mich entschuldigen soll. Ich habe le-
diglich namens meiner Fraktion den Wunsch geäußert,
dass eine Vertreterin oder ein Vertreter des federführenden
Ministeriums kommt. Das ist jetzt geschehen. Insofern
erübrigt sich der Antrag. Aber wenn eine Entschuldigung
für eine Äußerung ausgesprochen werden sollte, dann für
die, dass es eine Belästigung der Koalition und ein Kla-
mauk sei, wenn eine Oppositionsfraktion verlangt, dass
ein Regierungsmitglied herbeigerufen wird.
Das ist ein grundgesetzlich garantiertes Recht.
Dass jemand eine Sitzung verlassen hat, haben wir in
dieser Woche schon einmal gehört, nämlich von Joschka
Fischer, der 1969 eine Sitzung nach einer Stunde wegen
Langeweile verlassen hat. Offensichtlich hat auch die
Frau Staatssekretärin dies aus diesem Grund getan.
Langer Rede kurzer Sinn: Sie ist jetzt da, der Antrag
erübrigt sich. Aber ich entschuldige mich für nichts.
Ich möchte Sie noch
einmal darauf aufmerksam machen, dass die Frau Staats-
sekretärin den überwiegenden Teil der Diskussion anwe-
send war und nur kurz hinausgegangen ist und Sie in der
kurzen Zeit nichts anderes zu tun hatten, als diesen Antrag
zu stellen.
Wir setzen jetzt die Debatte fort. Der letzte Redner ist
der Kollege Reinhold Strobl. Sie haben das Wort.
Sehr geehrte FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir bera-ten heute über den Antrag der CDU/CSU, die Mine-ralölsteuer wieder zu senken
bzw. die Ökosteuer abzuschaffen. Außerdem will dieF.D.P., dass die Kraftfahrzeugsteuer für schwere LKWsabgesenkt wird. Beides – das werden Sie sicherlich ver-stehen oder vielleicht auch nicht – müssen wir ablehnen,und dies aus mehreren Gründen.Das Verhalten der CDU/CSU, immer nur zu fordern,finde ich nicht nur abenteuerlich, sondern geradezu un-verantwortlich.
Würden wir nämlich allen Wünschen der Oppositionnachkommen, würden wir riesige Haushaltslöcher schaf-fen und unser Land weiter verschulden.Die Ökosteuer wurde schließlich nicht aus Jux undTollerei eingeführt. Der frühere Umweltminister und heu-tige Chef der UN-Umweltbehörde, Klaus Töpfer, war esja selbst, der voller Sorge hinsichtlich des Klimawandelsdarauf verwies, dass die Lage überaus kritisch sei und dieextremen Wettersituationen dramatisch zugenommen hät-ten. Herr Töpfer hat einmal in einem Interview gesagt,dass er in seiner Zeit als Bundesumweltminister selbsteine Anhebung des Benzinpreises in jährlichen 10-Pfen-nig-Schritten empfohlen habe.Verantwortlich ist man nicht nur für das, was man tut,sondern auch für das, was man nicht tut. Wir, die Fraktio-nen der SPD und der Grünen, sind uns unserer Verant-wortung gegenüber der jetzigen Generation, aber auchgegenüber nachfolgenden Generationen und unserer Um-welt bewusst. Meine Damen und Herren von derCDU/CSU, ich meinte, sogar bei Ihrem früherenFraktionsvorsitzenden Wolfgang Schäuble so etwas wieVerantwortungsbewusstsein verspürt zu haben. Seinediesbezüglichen Aussagen sind heute schon zitiert wor-den.Von all dem wollen Sie nichts mehr wissen. Sie wetterngegen die Ökosteuer und sammeln Unterschriften. Was isteigentlich mit diesen geschehen? Vielleicht können Siemir das bei Gelegenheit einmal beantworten. Sie habenUnterschriften gesammelt, Postkartenaktionen gestartet;aber man hat dann nichts mehr davon gehört.Ihre Mandatsträger – das verurteile ich ganz beson-ders – verbreiten sogar, dass sich aufgrund der Erhebungder Ökosteuer die Heizölrechnung verdoppelt hat, ob-wohl Sie selbst genau wissen, dass das nicht stimmt. Dennsowohl im Jahre 2000 als auch im Jahre 2001 wurde garkeine zusätzliche Ökosteuer auf das Heizöl erhoben. DerPreis stieg aus anderen Gründen an.Bereits jetzt ist die Europäische Union stark abhängigvon Erdölimporten. Sie musste im Jahre 2000 75 Pro-zent ihres gesamten Ölbedarfs einführen. Dieser Anteildürfte bis zum Jahre 2020 auf über 85 Prozent ansteigen.2020 werden über 40 Prozent der weltweiten Fördermen-gen aus der Golfregion stammen. Die Abhängigkeit vonRohölimporten muss verringert werden. Wir wollen, dassauch unsere Kinder noch Auto fahren können. Wir habendie nötigen Weichen gestellt. Die Autohersteller habenreagiert und setzen immer mehr auf Autos mit niedrige-rem Kraftstoffverbrauch bzw. auf die Brennstoffzelle. –Erwähnen möchte ich auch den vermehrten Einsatz vonBiobrennstoffen, welcher neue wirtschaftliche Perspekti-ven für die Landwirtschaft eröffnet. – Der Verbraucherwiederum weiß, dass er zum Beispiel beim Kauf einesNeuwagens auf den Spritverbrauch zu achten hat. Denn erkann damit, auf längere Sicht gesehen, Geld sparen.Bei dieser Gelegenheit ist festzustellen – denn eswurde heute davon gesprochen, dass es sich bei der Öko-steuer um ein Abkassiermodell handelt –: Wir haben dieArbeitnehmer und die Familien finanziell entlastet.
Durch unsere Steuerreform profitieren die Arbeitnehmer:Sie erhalten bis zum Zehnfachen dessen, was sie für dieErhöhung der Mineralölsteuer ausgeben müssen. Nachder Gehaltsabrechnung vom 1. Februar dieses Jahres
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bestätigten mir viele Arbeitnehmer – fragen Sie sie docheinmal selber –, dass sie netto 60, 70, 80 DM – oder sogareinen noch höheren Betrag – mehr bekommen haben.
Sie dagegen haben die Mineralölsteuer um 100 Prozent,um 49 Pfennig, erhöht, ohne dass die Menschen eine Ent-lastung erhalten haben.Würden wir Ihren Forderungen nachgeben, so könntenwir die Steuereinnahmen gleich an die Mitglieder derOPEC überweisen. Die Absenkung der Kraftfahrzeug-steuer für schwere LKWs, wie von der F.D.P. vorge-schlagen, wäre ein falsches Signal und ein Schritt in diefalsche Richtung. Schon heute sind unsere Autobahnenmit LKWs verstopft. Wir wollen die Straßen entlasten undwieder mehr Verkehr auf die Schiene bringen. Auch Ihnendürfte bekannt sein, dass ein 40-Tonner die Straßen ge-nauso stark belastet – die Zahlen habe ich vom VCD – wie160 000 PKWs. Der größte Teil der Straßen- undBrückenschäden geht direkt auf das Konto der schwerenLKWs. Auch deswegen liegen wir mit unserer Schwer-verkehrsabgabe richtig.Mit unserer Politik wollen wir unsere Umwelt schonenund die verschiedenen Verkehrsträger, die Straße, dieSchiene, das Wasser und die Luft, aufeinander abstim-men.
Auch der Luftverkehr muss dabei in die Anstrengungenzu einer möglichst sparsamen Verwendung von fossilenKraftstoffen einbezogen werden.
Wir unterstützen die Bundesregierung in ihren Bemühun-gen, im Luftverkehr auf internationaler Ebene eine Kero-sinbesteuerung bzw. eine emissionsbezogene Klima-schutzabgabe zu erreichen.
Schon jetzt zeigt sich, dass wir mit unserer Politik richtigliegen. Wir stärken damit den WirtschaftsstandortDeutschland. Wir warten nicht, bis andere es uns vorma-chen.
Wir geben jetzt den Anreiz, neue energiesparendeTechniken zu entwickeln. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz wird von vielen Seiten gelobt. Wir schaffen damitneue Arbeitsplätze. Meine Damen und Herren von derOpposition, wir laden Sie ein, diesen Weg, der von denMenschen in unserem Land mehr und mehr unterstütztwird, mit uns zu gehen. Ich habe allerdings das Gefühl,dass Sie viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind, alsdass Sie dazu in der Lage wären, eine Antwort auf dieHerausforderungen der Zukunft zu geben.Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
Ich schließe die Aus-sprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurfder Fraktion der CDU/CSU zur Senkung der Mineralöl-steuer und zur Abschaffung der Stromsteuer auf Drucksa-che 14/4097. Der Finanzausschuss empfiehlt auf Druck-sache 14/5272, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf auf Drucksache14/4097 zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist inzweiter Beratung abgelehnt.Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei-tere Beratung.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz-ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. mitdem Titel „Kraftfahrzeugsteuer für schwere LKW aufEU-Niveau senken – Bedingungen am Güterkraftver-kehrsmarkt harmonisieren“. Das ist die Drucksa-che 14/5300. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a)seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksa-che 14/4254 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist angenommen.Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe b)seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/5300 dieAnnahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist angenommen.Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung desFinanzausschusses zu der Unterrichtung durch die Bun-desregierung über die Mitteilung der Kommission zur Be-steuerung von Flugkraftstoff auf Drucksache 14/4443 ab.Der Ausschuss empfiehlt die Annahme einer Entschlie-ßung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-genprobe! – Gegen die Stimmen von CDU/CSU undF.D.P. ist diese Beschlussempfehlung angenommen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 7a bis 7 d auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten BrunhildeIrber, Dr. Eberhard Brecht, Annette Faße, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD sowie derAbgeordneten Sylvia Voß, Dr. Thea Dückert,Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und derFraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENProgramm zur Stärkung des Tourismus inDeutschland
– Drucksache 14/5315 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus
Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Reinhold Strobl
14907
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausBrähmig, Ernst Hinsken, Anita Schäfer, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUWettbewerbsfähigkeit der deutschen Touris-muswirtschaft stärken– Drucksache 14/5313 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus
Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussc) Beratung des Antrags der Abgeordneten ErnstBurgbacher, Cornelia Pieper, Hildebrecht Braun
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der F.D.P.Neue Kampagne „Deutschland besuchtDeutschland“ starten– Drucksache 14/4153 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungHaushaltsausschussd) Beratung des Antrags der Abgeordneten ErnstBurgbacher, Birgit Homburger, Dirk Niebel, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.Beschilderungsmöglichkeiten für touristischeHinweise entlang von Autobahnen flexibler ge-stalten– Drucksache 14/4635 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Damit sind Sie ein-verstanden. Das ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Für die SPD-Fraktion hatdie Kollegin Brunhilde Irber das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir inden ersten beiden Jahren dieser Legislaturperiode denGrundstein gelegt haben, um dem Tourismus zu den bis-lang höchsten Wachstumsraten zu verhelfen, legen wirnun ein gesondertes Tourismusförderprogramm vor, dasdie bisherigen Bemühungen noch verstärken soll und ins-besondere Qualifizierung in den Bereichen Arbeits- undUmweltrecht zum Inhalt hat.Noch einmal zur Verdeutlichung für die Opposition:Die höchste Steigerungsrate bei den Übernachtungenseit Beginn der Aufzeichnungen ist nicht vom Himmel ge-fallen, Herr Brähmig. Durch die Maßnahmen derBundesregierung zur Steuererleichterung und zur Stär-kung der Kaufkraft können sich die Menschen in unseremLande wieder mehr leisten
und sie nutzen ihre gestiegenen Möglichkeiten, um inDeutschland Urlaub zu machen. Das ist eine Entwick-lung, auf die wir stolz sein können.
Alle Maßnahmen, die die Opposition bisher vorge-schlagen hat und die auch jetzt wieder in Ihren Anträgenzu lesen sind, zielen darauf ab, dass andere Branchendurch höhere Steuern und infolge einer höheren Staats-verschuldung einen boomenden Wirtschaftsbereich sub-ventionieren sollen. Diese Vorschläge von Ihnen, meinesehr verehrten Damen und Herren von der Opposition,können nur dann bezahlt werden, wenn andere aus ihremBereich etwas abgeben. Steuererleichterungen, die Ab-senkung der Mehrwertsteuer, mehr Mittel für Zuwen-dungsempfänger und was Sie sonst noch so auf IhrerWunschliste haben – das alles kann nur finanziert werden,wenn andere etwas von dem in ihrem Bereich erwirt-schafteten Mehrwert an die Tourismuswirtschaft abgeben.Wie sollen wir denen erklären, dass sie dafür blutensollen, dass der Wirtschaftsfaktor Tourismus mit seinem– dank unserer Politik – größten Wachstum der Ge-schichte noch weiter steuerlich entlastet werden soll? Dasmüssen Sie den anderen Branchen erst einmal vorschla-gen.Ich glaube, Sie sind einfach unfähig, anzuerkennen,dass unsere Wirtschafts- und Steuerpolitik für die Men-schen wirklich etwas gebracht hat. Wir im Tourismus sindauf der Gewinnerseite.
Ich fordere Sie auf: Erkennen Sie endlich an, dass unsereRegierung dieser Branche zu einer Gesundung verholfenhat!
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Vizepräsidentin Anke Fuchs14908
Gebetsmühlenartig wiederholen Sie Ihre Forderungennach Abschaffung der Ökosteuer – gerade eben hatten wirdieses Thema auf der Tagesordnung –, nach Verringerungdes Mehrwertsteuersatzes für die Hotellerie und nach Än-derung der 630-DM-Regelung.
Frau Kollegin, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brähmig?
Ja, gerne.
Bitte sehr, Herr Kol-
lege.
Liebe Frau Kollegin
Irber, Sie schreiben in Ihrem Antrag und haben das auch
hier noch einmal persönlich an mich gerichtet angespro-
chen, dass diese positive Entwicklung Ergebnis der Re-
formpolitik von Rot-Grün sei. Ich stelle das hier infrage.
Ich bin der festen Überzeugung,
dass dies das Ergebnis der Leistung der Touristiker in den
verschiedenen Regionen der Bundesrepublik Deutsch-
land ist.
Ich habe zwei konkrete Punkte. Erstens. Sie sprechen
von einem Förderprogramm. Dieses liegt aus meiner
Sicht noch nicht vor. Damit meinen Sie wahrscheinlich
den Antrag, den Sie hier einbringen.
Zweitens. In Ihrem Antrag wird mit Zahlen gespielt.
Ich denke dabei an die Angaben über die Steigerung der
Zimmerauslastung von 61,1 Prozent auf 63,6 Prozent. Es
kann doch nicht Ihr Ernst sein, dies als allgemein geltende
Zahlen für die deutschen Tourismusregionen anzusehen.
Hier ist aus meiner Sicht ein ganz kleines Segment der
Großstadthotellerie hinzugezählt worden.
Mich würde einmal Ihre Stellungnahme zu diesen bei-
den Punkten interessieren.
Herr Kollege Brähmig, esfreut mich, dass Sie diese Punkte angesprochen haben.Diese Punkte haben Sie schon während der letzten De-batte thematisiert und ich habe Ihnen schon damals daraufgeantwortet. Ich verweise deshalb auf diese Antwort.Zum anderen werde ich Ihnen im Folgenden das Touris-musförderprogramm erläutern, das wir mit unserem An-trag vorgeschlagen haben. Wenn Sie gut zuhören, werdenSie erfahren, was damit gemeint ist.
– Jawohl.Ich möchte jetzt mit meiner Rede fortfahren. Durch dieMaßnahmen, die sich aus der 630-DM-Regelung ergebenhaben, wurden die Lohnnebenkosten gesenkt. Die Ren-tenversicherung wurde gestützt. Das wissen Sie. Das Ren-tensystem war marode.
– Sie waren an der Regierung, Herr Burgbacher und HerrBrähmig. Nicht wir waren 16 Jahre an der Regierung undauch nicht wir waren es, die den Unsinn beschlossen ha-ben, die Renten Ost aus dem Rententopf West zu bezah-len. Es waren Ihre Leute, die das beschlossen haben.Ich möchte jetzt gerne fortfahren. Was die Wachstums-chancen angeht, die sich im Tourismus ergeben haben,sind 326 Millionen Übernachtungen in Deutschland mitder höchsten Steigerungsrate seit Beginn der Aufzeich-nung kein Pappenstiel.
Das ist das Verdienst der Leistungsträger in der Touris-muswirtschaft, aber auch das Verdienst der rot-grünenBundesregierung, die die richtigen Rahmenbedingungengesetzt hat und damit dieses Wachstum ermöglicht hat.
Wir lassen uns auf diesem Wege nicht beirren; der Erfolggibt uns Recht.Sie werden in Ihren Beiträgen sicherlich wieder diegleiche Litanei herunterbeten und mit den 55 Punkten, diein Ihrem Antrag stehen – das will ich Ihnen auch einmaldeutlich vorhalten –, den Tourismusstandort Deutschlandbeschädigen. Sie reden andauernd von hohen Mehrwert-steuersätzen in der Hotellerie, verschweigen aber, dassdie Hotelpreise in Deutschland deutlich niedriger sind alsin anderen Ländern. Den Kunden draußen wird weisge-macht, sie würden in deutschen Hotels über den Eingriffdes Staates abgezockt. In Wirklichkeit findet er in den Ho-tels ein Preisgefüge, das deutlich anders gestaltet ist als indem von Ihnen so hochgelobten Ausland mit den so nied-rigen Mehrwertsteuersätzen. Ich bitte Sie also: Hören Sieauf, den Tourismus- und Wirtschaftsstandort Deutschlandkaputtzureden und verabschieden Sie sich aus Ihrer Jam-mer AG.
Das Prinzip ist also – ich möchte es Ihnen noch einmalverdeutlichen –: Wir werden einer boomenden Branchenicht weitere Steuermittel andienen, für die andere auf-kommen müssen. Die Zeichen der Zeit stehen auf Quali-fizierung, Qualitätssicherung und Qualitätsverbesserung.Das ist etwas, was auch wir als Fachausschuss bewegenkönnen.
Die Zeichen der Zeit stehen auch auf Nachhaltig-keit und Umweltschutz. Das Motto lautet „Lust aufNatur“. Diese beiden Eckpunkte – das Sichern von Ser-vicequalität und die Nachhaltigkeit der Produkte im
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Brunhilde Irber14909
Deutschlandtourismus – werden wir in Modellprojektenunterstützen.Das Modellprojekt Qualitätsmanagement im Touris-mus hat bereits begonnen. Ich danke der Bundesregierungdafür, dass sie es ermöglicht hat, in Ostbayern beispielhaftLehrpläne zu entwickeln, mit denen die Macher des Tou-rismus in Deutschland zukünftig qualifiziert und weiter-gebildet werden können. Zunächst werden in dieser Qua-lifizierungsoffensive 80 Referenten der Landkreise zuQualitätsmanagern im Tourismus ausgebildet. Diese ge-ben ihr Wissen in 800 Qualitätszirkeln an Beschäftigte derTourismuswirtschaft weiter. Selbstverständlich ist dieseArbeit ein Modell, das dann auf die gesamte Bun-desrepublik übertragen werden kann. Darum geht es.
– Der Bund bezahlt sie; das wissen Sie doch.Die Qualifizierung und deren berufliche Anerkennungwaren bereits in der vergangenen Legislaturperiode unserAnliegen. Das betrifft die Leiter von Fremdenverkehrs-ämtern, das Personal im Gastgewerbe und natürlich auchdie Eigner und Manager von Tourismuseinrichtungen.Eine hochwertige Leistung im Tourismus setzt Ausbil-dung und Motivation voraus. Unsere Initiativen der letz-ten Legislaturperiode und die Realisierung heute setzengenau an diesen Punkten der Wertschöpfungskette in derDienstleistung an. Wir verwirklichen damit ein Projekt,das Sie, lieber Herr Burgbacher – das muss ich jetzt leiderloswerden –, Ihrem Minister zu „verdanken“ haben, weiler dies in der letzten Legislaturperiode vehement abge-lehnt hat. Das ist schade; denn sonst wären wir heute viel-leicht schon weiter.Für uns steht das Interesse des Kunden im Vorder-grund. Das ist das Einmaleins der Marktwirtschaft, das istder Schlüssel zu einer erfolgreichen Branche. Menschen,die mit ihrem Urlaub in Deutschland zufrieden sind, wer-den auch weiterhin gern hier Urlaub machen. Die Zufrie-denheit hängt in hohem Maße davon ab, wie sich der Gastaufgenommen fühlt. Wir wollen den Dienstleistenden inder Tourismusbranche das Rüstzeug dafür geben, dieWünsche der Gäste besser zu erkennen und entsprechendvorbereitet zu sein.
Ich wiederhole meinen Dank an die Bundesregierung.Sie hat die Sperre im Denken beseitigt.
– Ihr Antrag, Herr Brähmig – entschuldigen Sie –, ist einSammelsurium von Punkten, wovon den Bundestag viel-leicht acht Punkte angehen. Der Rest betrifft Länder undKommunen. Ihr Antrag ist also wirklich nicht der Redewert.Ein weiteres Projekt, welches wir in der letzten Legis-laturperiode eingebracht haben, war das Modellprojektzur umweltverträglichen Besucherlenkung im Touris-mus. Auch das haben Sie abgelehnt. Den Trend zum nach-haltigen Tourismus haben Sie nicht erkannt. Wie auch?Ihre Regierung hatte mit Tourismus schlichtweg nichtsam Hut. Das war der Punkt, Herr Brähmig. Deshalb müs-sen Sie jetzt 55 Forderungen in den Deutschen Bundestageinbringen, um die Versäumnisse Ihrer Regierungszeit zuheilen.
Die Erhaltung der Natur, der Umweltschutz und dieAbsicherung des sozialen Standards in den Ferienregio-nen waren damals und sind auch heute ein aktuellesThema. Heute können wir einen Schritt weiter gehen, alsdies damals mit dem Modellprojekt möglich war; dennheute haben wir die Mehrheit. Mit dieser Mehrheit habenwir die Entwicklung der Dachmarke „Nachhaltiger Tou-rismus – via bono“ vorangetrieben. Dazu steht etwas inunserem Antrag. Wir wollen damit eine Entwicklung an-stoßen, die beim Tourismus mehr Wert auf Qualität dennauf Quantität legt.Auch hier gilt mein Dank zunächst dem Ministeriumfür Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Die An-schubfinanzierung für die Dachmarke ist ein wichtigerBeitrag zu deren Realisierung.
Mir fehlt jetzt leider die Zeit, um auf die anderenPunkte in unserem Antrag einzugehen;
ich würde das gern tun. Aber eines möchte ich noch fest-stellen: Es geht uns darum, auch das Reisebürogewerbezu stützen. Wir werden ein Kompetenzzentrum fürE-Commerce einrichten, wodurch es der mittelständi-schen Reisebürobranche ermöglicht wird, sich an das mo-derne Zeitalter anzuschließen.
– Dann wundert es mich aber, Herr Feibel, dass gerade ausIhrer Branche dieser Wunsch an uns herangetragen wor-den ist.
– Na also, dann brauchen wir es doch.Wir wollen uns bemühen, eine Zertifizierung für dieBerufe im Tourismus zu etablieren, eine Kammerregelungfür die Fremdenverkehrsamtsleiter und -leiterinnen. Dasjetzige Qualitätsmanagementprojekt ist die Grundlagedafür.Ich sage Ihnen, Herr Burgbacher, jetzt hier schon: Wirliebäugeln auch mit Ihrem Antrag, dass wir eine bessereBeschilderung auf den Autobahnen erreichen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Brunhilde Irber14910
Leider fehlt mir jetzt die Zeit, alle anderen Punkte die-ses Antrags noch aufzuzählen,
aber lassen Sie mich zum Abschluss feststellen: Der Wegzum Erfolg führt nicht über ein bedingungsloses Ab-nicken aller Forderungen der Branche. Der Weg zum Er-folg führt über das Setzen von Rahmenbedingungen, diedas Augenmerk auf die Menschen im Lande, die Reisen-den, die Kunden legen. Hier sind wir auf dem richtigenWeg. Diesen Weg werden wir fortsetzen – zur Stärkungdes Tourismus in Deutschland.
– Am Ende wird abgerechnet!
Nun hat Kollege
Ernst Hinsken für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Werte Frau Präsidentin!
Werte Kolleginnen und Kollegen! Wenn einer eine Reise
tut, kann er was erzählen. Das ist eine alte deutsche
Spruchweisheit.
Wenn einer in dieser Debatte reden darf, dann hat er
viel zu sagen.
Frau Kollegin Irber hat eben gesagt, ihr fehle die Zeit. Ich
möchte die Zeit, die mir zur Verfügung steht, nutzen, um
die Probleme der Tourismuswirtschaft in der Bundesre-
publik Deutschland aus unserer Sicht zu beleuchten.
Frau Kollegin Irber, drei- oder viermal haben Sie ge-
sagt, wir seien unfähig. Ich überlasse es Ihnen allein, so
zu urteilen. Ich meine nur, Ihnen heute das Gegenteil sa-
gen und belegen zu können, damit Sie sehen, wer in die-
ser Bundesrepublik Deutschland unfähig ist.
Wenn Sie hier von der Qualifizierungsoffensive Ost-
bayern sprechen, dann freue ich mich darüber, dass diese
Qualifizierungsoffensive in Ostbayern läuft.
Aber warten wir zunächst einmal das Ergebnis ab. Hof-
fentlich lohnt sich der Einsatz. Schauen wir, was unter
dem Strich gesehen dabei herauskommt. Ich bin nicht
überwältigend beeindruckt und zuversichtlich, dass alles
geht. Ich möchte von dieser Stelle aus appellieren, dass
man von diesem Angebot Gebrauch macht,
um die Grundlage zu schaffen, sich zu stärken, sich wei-
terzubilden, um zu bestehen.
Eines muss ich Ihnen sagen, Frau Kollegin Irber: Sie
waren ja zu feige, im Tourismusausschuss des Deutschen
Bundestages einen Tagesordnungspunkt zuzulassen, in
dem die Bundesregierung über diese Qualifizie-
rungsoffensive berichten sollte. Dafür müssen Sie sich
schämen.
Jetzt aber kommt eine
Zwischenfrage der Kollegin Irber, Herr Kollege. Lassen
Sie sie zu?
Selbstverständlich.
Bitte sehr, Frau Kol-
legin.
Herr Kollege Hinsken, kön-
nen Sie mir bestätigen, dass Sie aus Verärgerung darüber,
dass Sie bei der Präsentation dieses Modellprojekts nicht
in der ersten Reihe stehen konnten, zwei Briefe an den Re-
gierungspräsidenten von Ostbayern geschrieben sowie
den Kollegen Brähmig instruiert haben, bei der Bundes-
regierung einen entsprechenden Antrag auf Bericht zu
stellen?
Frau Kollegin Irber, Ers-
teres stimmt. Ich habe dem Präsidenten der Regierung
der Oberpfalz geschrieben und mich beschwert, dass ich
Sie bei dieser Präsentation nicht loben konnte, was ich
gerne getan hätte.
Das Zweite stimmt nicht, nämlich meinen Kollegen
Brähmig instruiert zu haben, in dieser Angelegenheit
tätig zu werden. Ich gehe davon aus, dass wir so mündige
Kolleginnen und Kollegen in der Arbeitsgruppe haben,
dass sie sehr wohl wissen, was sie wollen. Wenn diese hin-
terfragen, was speziell für ihren Bereich getan wird, ist
das richtig und rechtens. Solchen Wünschen möchte ich
mich grundsätzlich nicht verschließen.
Nun möchte die Kol-
legin Faße eine Zwischenfrage stellen.
Selbstverständlich
gerne. Frau Kollegin Faße ist eine nette Kollegin.
Bitte sehr, Frau Kol-legin.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Brunhilde Irber14911
Herr Kollege Hinsken, ist es
vielleicht so, dass Sie die Briefe aus dem unbefriedigten
Ehrgeiz heraus geschrieben haben, dass Sie kein Rede-
recht bekommen haben? Haben Sie den Bericht deswegen
angefordert. Ist es nicht so, dass Sie mit Ihrem Ansinnen
ein wenig daneben gelegen haben?
Frau Kollegin Faße,
jetzt muss ich doch ein bisschen aus dem Nähkästchen
plaudern und darauf verweisen, dass sich der wissen-
schaftliche Referent der CDU/CSU-Fraktion drei Tage
vor dieser Präsentation an das Bundeswirtschaftsministe-
rium gewandt hat, um zu erfragen, was sich überhaupt
hinter dieser Qualifizierungsoffensive verbirgt. Ihm
wurde gesagt, das sei geheime Kommandosache und er
könne das am Freitag oder Samstag der Woche in der Zei-
tung lesen. Das ist meines Erachtens ein ganz schlechter
Stil. Den hat es zur Zeit der CDU/CSU/F.D.P.-Regierung
nicht gegeben.
Nun möchte Ihnen
der Kollege Brähmig eine Frage stellen. Bitte sehr, Herr
Kollege.
Vielen Dank, Herr Kol-
lege Hinsken. – Ich habe eigentlich nur eine Nachfrage.
Die CDU hat Anfragen an die Bundesregierung zu den Pi-
lotprojekten und dem Qualitätsmanagement im Bayeri-
schen Wald bzw. in Ostbayern gestellt. Begrüßen Sie, dass
wir diese Fragen gestellt haben, um vor allem zu erfahren,
welche Maßnahmen die Bundesregierung – möglicher-
weise am Tourismusausschuss vorbei – in der Bundesre-
publik Deutschland noch plant, und inwieweit seitens der
Bundesregierung die Projekte zum Qualitätsmanagement,
die in der Bundesrepublik Deutschland schon seit vielen
Jahren vorhanden sind, in diesen Kommunikationspro-
zess und in die Projektförderung eingebunden werden?
Herr Kollege Brähmig,
ich bin selbstverständlich voll und ganz Ihrer Meinung,
dass es richtig war, diese Fragen an die Bundesregierung
zu stellen. Einerseits freue ich mich, dass diese Qualifi-
zierungsoffensive in Ostbayern stattfindet,
andererseits habe ich aber nichts dagegen, wenn auch an-
dere Teile der Bundesrepublik Deutschland hier Berück-
sichtigung finden und von den dort gewonnenen Erkennt-
nissen profitieren können.
Herr Staatssekretär Mosdorf, ich habe Ihnen schon da-
mals in der Sitzung gesagt, ich bedauere es sehr, dass Sie
dieses Projekt nicht positiv darstellen können. Die Bun-
desregierung hätte die Möglichkeit gehabt, dies zu tun.
Aber die Kollegin Irber hat das leider Gottes verhindert.
Herr Kollege, ich
gehe jetzt davon aus, dass Sie in Ihren Ausführungen fort-
fahren wollen, und lasse erst einmal keine weiteren Zwi-
schenfragen mehr zu. Sie haben weiterhin das Wort.
Frau Präsidentin, es liegtnatürlich in Ihrem Belieben, so zu handeln, wie Sie dasgerade getan haben.
Der Kollege Brähmig hat einmal gesagt: Die Touris-muswirtschaft ist die Leitökonomie der Zukunft. Daranist nichts auszusetzen. Das haben Sie, Frau Kollegin Irber,die Sie vorhin das Wort „unfähig“ gebracht haben, leidernoch nicht ausreichend zur Kenntnis genommen.Wir müssen nur eines tun: Die Tourismuswirtschaft istgefordert, auf Urlaubswünsche, die immer anspruchsvol-ler werden und differenzierter sind, vermehrt einzugehen.Wenn die Tourismuswirtschaft die Trends frühzeitig er-kennt und die Angebote danach ausrichtet, ist sie gut be-raten und wird auch Zuwachsraten zu verzeichnen haben.Hier spielt vor allen Dingen die regionale Vielfalt einewesentliche Rolle, die es gilt herauszuarbeiten.
Deutschland ist so vielseitig, Frau Kollegin Gradistanac,dass man sagen kann: Es lohnt sich, einmal den Urlaubnicht im Ausland, sondern in der BundesrepublikDeutschland zu verbringen.
Deshalb muss es unser aller Anliegen sein, einen Aha-Ef-fekt zu erzielen. Der Anreiz muss geschaffen werden, ein-mal bei uns in der Bundesrepublik Deutschland Urlaub zumachen.
Dabei sollte man natürlich nicht aus den Augen verlieren,was auch das Ausland an Schönheiten bietet. Dem zuneh-menden Wunsch nach Erlebnisurlaub muss aber inDeutschland durch Fitnessangebote, moderne Sportartenund vieles andere mehr Rechnung getragen werden.Wenn der Kollege Brähmig von der „Leitökonomie derZukunft“ spricht, dann kann ich dazu nur sagen: Allein imvergangenen Jahr waren weltweit 700 Millionen Men-schen unterwegs. Bis zum Jahr 2020 wird diese Zahl auf2 Milliarden ansteigen. Diese Entwicklung darf am deut-schen Tourismus nicht einfach vorbeigehen, sondern wirmüssen mit dabei sein.
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Eines muss erwähnt werden: Der Freizeitforscher Pro-fessor Opaschowski – das ist jüngst in der Öffentlichkeitbekannt geworden – hat festgestellt, dass die Tourismus-wirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland bei weitemnicht so gut dasteht, wie das Frau Irber vorhin deutlich zumachen versuchte. Über 96 Milliarden DM sind im ver-gangenen Jahr ins Ausland getragen worden, aber nur33 Milliarden DM kamen durch den Tourismus an Ein-nahmen in die Bundesrepublik Deutschland.
Das Verhältnis beträgt also 3:1. Das heißt, hier ist nochviel zu tun.
Diese Entwicklung zeigt sich auch darin, dass die Luft-hansa ein Rekordjahr mit 47 Millionen Passagieren hatte.– Frau Kollegin Irber, wenn Sie ein bisschen aufpassen,dann müssen Sie nicht mehr von Unfähigkeit reden. Siewürden dann erfahren, dass Sie mit Ihren Ausführungentotal daneben lagen.
47 Millionen An- und Abflüge in der BundesrepublikDeutschland durch die Lufthansa lassen sich hören. Wennzu dem gerade jetzt, wenige Tage vor der Eröffnung derInternationalen Tourismusbörse, festgestellt wird, dassdieses Jahr mit 9 000 Anbietern 30 Prozent mehr als imletzten Jahr verzeichnet werden können, dann ist das et-was Positives, über das wir uns alle zusammen freuensollten.
Angesichts der Forderung, dass die Deutschen ver-mehrt in Deutschland Urlaub machen sollen, ist es wich-tig, dass die Hotellerie und Gastronomie in einer Weiseunterstützt wird, dass sie weiterhin existenzfähig ist.
Mich beunruhigt die Aussage des Deutschen Hotel-und Gaststättenverbandes, dass viele kleinere und mittlereBetriebe Existenzängste haben. Darum müssen Sie sichkümmern. Es ist bei weitem nicht so, Frau Kollegin Irber,wie Sie es dargelegt haben.
Viele Betriebe müssen mit einer Auslastung von unter30 Prozent auskommen. Sie können nicht die Städte mitden Orten vermischen, in denen der Urlaub insgesamt ver-bracht wird.
Beim Städtetourismus sind Zuwachsraten von über60 Prozent zu verzeichnen, aber in anderen Regionenschaut es aber bei weitem nicht so gut aus.Deshalb möchte ich nochmals Herrn ProfessorOpaschowski erwähnen: Die Zahl der Reisenden im In-land ist gestiegen, aber der Auslandstourismus ist pro-zentual noch stärker gestiegen. Wenn man also davonspricht, dass Jahr für Jahr immer mehr Deutsche ihr Landals Reiseland entdecken, dann muss man sich auch be-wusst machen, dass es die Deutschen noch mehr ins Aus-land zieht. Es ist nach wie vor das Ausland, das vornehm-lich von der Reiselust der Deutschen profitiert. Dies wirddurch die negative deutsche Reiseverkehrsbilanz belegt.Das habe ich vorhin bereits angesprochen.Frau Kollegin Irber, Sie haben darauf hingewiesen, wieviel seitens dieser Bundesregierung für die mittelständi-sche Wirtschaft getan worden ist und getan wird.
Dazu muss ich Ihnen sagen, dass Sie damit ein kleinbisschen daneben liegen. Sie sprechen immer von weni-ger Bürokratie und von Deregulierung. Das haben Sie be-reits vor eineinhalb Jahren für Ihre Fraktion angekündigt.Geschehen ist bislang nichts.
Ich hoffe und wünsche, dass die neue Mittelstandsbe-auftragte der Bundesregierung nicht umsonst bezahltwird, sondern dass sie sich in ihrer Aufgabe darauf kon-zentriert, die Deregulierung nach vorne zu treiben. Esmuss eingelöst werden, was sie versprochen hat, nämlichnoch in diesem Jahr einen Deregulierungskatalog für dieBundesrepublik Deutschland vorzulegen, um die Grund-lage dafür zu schaffen, dass die bürokratischen Belastun-gen in Zukunft verringert werden.
Ich erspare es mir, auf Einzelheiten – wie zum Beispieldas 630-DM-Gesetz – einzugehen.
Das wird unsere weitere Rednerin, Frau Töpfer, heutenoch tun. Wir haben uns die Aufgaben in gewisser Hin-sicht geteilt. Hotellerie und Gastronomie klagen, über das630-DM-Gesetz hinaus, über zu viel Bürokratie, die Öko-steuer, die Steuerreform – Stichwort Personen- und Kapi-talgesellschaften –, Verschlechterung bei den Abschrei-bungsmöglichkeiten und über den Rechtsanspruch aufTeilzeitarbeit. In diesem Zusammenhang werden Gering-verdiener im Hotel- und Gaststättengewerbe in verwerfli-cher Weise als volle Arbeitskräfte mitgezählt und dann istman gleich bei 15 Mitarbeitern angelangt. Weiterhin wirdüber Belastungen im Zusammenhang mit der Kündi-gungsschutzschwelle und dem Lohnfortzahlungsgesetzgeklagt. Die Tourismuswirtschaft wird in diesem Punktseitens der Politik auf stärkste Weise negativ tangiert.
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Ernst Hinsken14913
Die CDU/CSU-Fraktion versucht mit der Postkarten-aktion, die sie jetzt starten wird, den Menschen klarzuma-chen, dass die Tourismuswirtschaft einige Probleme hat.
Unter dem Begriff „Standortstau – SOS“ wird daraufverwiesen, dass das Betriebsverfassungsgesetz, die Öko-steuer, die Neufassung der AfA-Tabellen, das630-DM-Gesetz und andere Maßnahmen für die Touris-muswirtschaft negativ sind.
– Ich lasse Ihre Zwischenfrage zu, Frau Kollegin Irber,wenn die Frau Präsidentin das erlaubt, selbstverständlich,gern.
Nach dieser Demon-
stration, Herr Kollege muss ich das doch erlauben. Frau
Kollegin, bitte sehr.
Ich möchte von Herrn Kolle-
gen Hinsken nur wissen, ob die CDU/CSU-Fraktion die
Rechte an diesem Bild erworben hat.
Das kam hier oben
akustisch nicht an.
Frau Kollegin Irber, Sie
haben gesehen, dass das kein Foto, sondern eine Zeich-
nung ist. Diese Zeichnung wurde in Auftrag gegeben. Das
bedeutet, dass die rechtlichen Voraussetzungen
voll und ganz erfüllt sind, so wie es sich für eine ord-
nungsgemäße Fraktion gehört.
Nun möchte Ihnen
auch Herr Schmidt eine Frage stellen. Anschließend fah-
ren sie in Ihrer Rede fort. Einverstanden? – Ja.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Herr Kollege Hinsken, ich wollte Sie nur fra-
gen, ob sie mir das Bild noch einmal zeigen könnten.
Herr Kollege Schmidt,
ich bin nicht nur bereit, Ihnen das Bild zu zeigen, sondern
Sie bekommen nachher von mir eine Postkarte, die Sie an
die Bundesregierung schicken können, um sich mit uns zu
identifizieren, weil unsere Forderungen berechtigt sind.
Ich warte sowieso
schon lange auf Ausführungen über die Nordsee und nicht
nur über bayerische Tourismuszentren. Herr Kollege, Sie
haben das Wort.
Herr Kollege Schmidt,ich weiß nicht, wo Sie mit dem Schiff herumfahren wol-len, ob auf hoher See oder als Binnenschiffer zum Bei-spiel auf der Donau, die auch große Probleme haben. Esbleibt Ihnen freigestellt, Ihren Horizont auf diese Art undWeise zu erweitern.
Ich möchte noch Ausführungen im Zusammenhang mitden Kompetenzen des Wirtschaftsministeriums ma-chen, weil man seitens des Wirtschaftsministeriums derTourismuswirtschaft zu wenig Bedeutung beimisst. In derzuständigen Abteilung sind nur neun Personen beschäf-tigt.
– Ich war dagegen, eine weitere Staatssekretärin für die-ses Ministerium zu ernennen, da das Geld kostet. Wennman aber Kompetenzen verliert, kann man interne Um-stellungen zum Wohle der Tourismuswirtschaft vorneh-men. Darauf warte ich, aber bislang ist nichts geschehen.
Ich darf noch darauf verweisen, dass nicht nur Hotel-lerie und Gastronomie von der Politik negativ betroffensind, sondern dass neben anderem auch die Abschaffungdes Rabattgesetzes und der Zugabeverordnung Reise-bürounternehmen betrifft. Kollege Feibel, Sie gehörenzu den Kollegen, die gerade auf diesem Sektor besondersaktiv sind. Sie wissen davon ein Lied zu singen. Auch ichbin für Deregulierung, ganz klar. Aber ich bin dagegen,dass man das Kind mit dem Bade ausschüttet, dass man
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Ernst Hinsken14914
die Probleme kleiner und mittlerer Unternehmen nichtsieht, diese außen vor lässt und sagt: Augen zu und durch!
So darf man bei diesem Gesetz nicht vorgehen.
Deshalb werden wir von der CDU/CSU danach trachten,dass auch in Zukunft den kleineren und mittleren Betrie-ben das notwendige Verständnis entgegengebracht wird.Ein weiterer Punkt. Die Tourismuswirtschaft ist eingroßer Wirtschaftsfaktor. Fakt ist, dass in diesem Be-reich mit 275 Milliarden DM ein großer Batzen erwirt-schaftet wird. Man könnte diese Zahl noch erhöhen, wennman auch die Betriebe mit weniger als neun Betten statis-tisch erfassen würde. Wenn man auch die Übernachtungs-und Urlauberzahlen dieser Betriebe berücksichtigenwürde, kämen in verschiedenen Regionen fast 40 Prozentdazu. Ich freue mich deshalb – es hat lange gedauert –,dass die SPD-Fraktion jetzt auf den Trichter gekommenist und zwischenzeitlich auch von der Bundesregierungsignalisiert worden ist, dass man in Zukunft auch die Be-triebe mit weniger als neun Betten statistisch erfassenwill.Mir ist auch wichtig, dass wir in Zukunft alles tun, umdie Bundesrepublik Deutschland auf das Tourismuswesenauszurichten. Marketing und Buchungssystememüssenüberregional aufeinander abgestimmt und die gefordertenStandards eingeführt werden.
Ich bin der Meinung – ich denke, darüber gehen dieMeinungen nicht auseinander –, dass die touristischeLandkarte Deutschlands neu gezeichnet werden muss.Die Zahl der Tourismusorganisationen ist den natürlichenGegebenheiten anzupassen. Leistungsfähige Strukturenhaben sich künftig an den Grenzen der Ferienregionen zuorientieren und dürfen nicht in die Grenzen von Kommu-nen und Landkreisen verbessern. Dies würde zu einer Re-duzierung auf 30 bis 50 wettbewerbsfähige Destinationenführen.
Lassen Sie mich zum Abschluss feststellen: Herr Kol-lege Burgbacher, Sie haben federführend für die F.D.P.-Fraktion den Antrag „Beschilderungsmöglichkeiten fürtouristische Hinweise entlang von Autobahnen flexiblergestalten“ eingebracht.
– Jawohl. – Unsere Fraktion möchte diesen Antrag nach-haltig unterstützen.
Herr Kollege, Sie
müssen auf Ihre Redezeit achten.
Es ist wichtig, die Mög-
lichkeiten, Schilder mit touristischen Hinweisen entlang
der Autobahn aufzustellen, zu verbessern.
Wir wollen zudem auch den Campingtourismus un-
terstützen; denn in diesem Bereich wird eine Bruttowert-
schöpfung von 6,5 Milliarden DM erzielt. Dieser Bereich
soll nicht außen vor gelassen werden. Auch ihm müssen
wir das notwendige Verständnis entgegenbringen.
Allerletzte Bemerkung: Es passt nicht zusammen,
wenn man das Jahr 2001 zum Jahr des Tourismus in der
Bundesrepublik Deutschland erklärt – Herr Staatssekretär
Mosdorf, ich bedanke mich, dass Sie diesen Vorschlag,
den die CDU/CSU-Fraktion eingebracht hat, aufgegriffen
haben –
und dann keine einzige Mark dafür zur Verfügung stellt.
Das bedaure ich.
Wenn man hier erfolgreich sein möchte, dann muss man
auch die notwendigen finanziellen Mittel bereitstellen,
die, wie gesagt, leider nicht bereitgestellt worden sind.
Herr Kollege, Sie
müssen jetzt wirklich zum Schluss kommen.
Ich möchte mich herz-
lich für Ihre Aufmerksamkeit bedanken und Ihnen emp-
fehlen: Anstatt die Bundesregierung weiterhin dabei zu
unterstützen, unsinnige Gesetze aufzulegen – um bei dem
Jargon von Frau Irber zu bleiben –, wäre es besser, wenn
Sie, die Mitglieder der Bundesregierung Urlaub in
Deutschland machen würden.
Herzlichen Dank.
Das Wort für das
Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Sylvia Voß.
Sehr ge-ehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU sind imPlakativen offensichtlich kreativer als in der Politik, kannman nach ihrem Plakat nur sagen.Die Gesellschaft für deutsche Sprache kürt jährlich ein„Wort des Jahres“. Sie richtet sich dabei nach inhaltlichenund sprachlichen Kriterien. Entscheidend ist aber das,was im jeweiligen Jahr stattgefunden hat und besonderswichtig war. Im Jahr 1998 gewann das Wort „rot-grün“.Das war sehr schön und erfolgte völlig zu Recht. Im Jahr2000 hatten wir leider keine Chance, denn als das Wortdes Jahres wurde diesmal „Schwarzgeldaffäre“ gekürt.
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Ernst Hinsken14915
Das war zwar nicht schön, erfolgte aber auch völlig zuRecht.
– Herr Brähmig, Sie werden gleich wissen, warum ichdieses Thema anspreche.Wir möchten nachträglich noch einen Vorschlag fürdas Jahr 2000 machen, nämlich das Wort „Rekordjahr“.Von einem Rekordjahr sprechen nämlich die Tourismus-verbände durchweg, wenn sie an das zurückliegende Jahrdenken. Noch nie reisten so viele Besucher aus Deutsch-land innerhalb des Landes und noch nie kamen mehr Be-sucher aus anderen Ländern nach Deutschland.
Das Wachstum im Tourismusbereich machte ausdem Jahr 2000 tatsächlich ein Rekordjahr, was sich leichtmit Zahlen belegen lässt. Im zurückliegenden Jahr reisteninnerhalb Deutschlands 108,2 Millionen Menschen, die326 Millionen Mal in Hotels, Pensionen und Gasthöfenmit mehr als neun Betten übernachteten. Das entsprichteinem Anstieg von 6 Prozent. Bei den ausländischen Gäs-ten stieg die Zahl sogar um 10 Prozent an. Dieser erneutedeutliche Anstieg sorgt bei den Mitarbeitern in der Tou-rismusbranche, aber nicht nur dort für Freude
– bei Ihnen offensichtlich nicht –; denn durch die anhal-tend positive Entwicklung in den vergangenen Jahrenkonnte zum Beispiel das Gastgewerbe im Jahre 199913,7 Prozent mehr Ausbildungsplätze zur Verfügung stel-len.
Die Zahl der Ausbildungsplätze ist übrigens auch eineRekordzahl. Weitere 15 000 Ausbildungsplätze kommenin anderen Tourismusberufen hinzu.Es gibt viele weitere positive Zahlen, die das Jahr 2000zum Rekordjahr für den Tourismus machen. Schauen wiraber, liebe Kolleginnen und Kollegen, von den zufriedenstellenden Statistiken auf; denn es geht ja letztlich nichtum ständig neue Rekorde unter Rot-Grün.
Es geht uns in diesem Zusammenhang auch um denSchutz von Natur und Kultur, um gesünderes Essen, umdie Stärkung des Mittelstandes und der ländlichen Räume.Es geht um mehr Klasse statt Masse im Tourismus.
Unser Programm zur Stärkung des Tourismus in Deutsch-land beinhaltet dies, während Sie nichts Ähnliches zu-stande gebracht haben. Wir werden unter Beachtung dergrundgesetzlich geregelten Zuständigkeit des Bundes dieRahmenbedingungen für den Tourismus in Deutschlandverbessern.Die Gäste- und Übernachtungszahlen in Deutschlandsteigen. Auch das Jahr des Tourismus ist viel verspre-chend angelaufen. Mit den fast unzähligen kulturellen,sportlichen und kulinarischen Aktionen wird das Jahr2001 wesentlich dazu beitragen, Deutschland als attrakti-ves Reiseland noch bekannter zu machen, auch und ge-rade in Deutschland selbst. Wer einmal mit dem Floß aufden herrlichen Seen der Uckermark unterwegs war oderdie Störtebeker-Spiele in Ralswiek auf Rügen erlebte,wird davon erzählen.
Gäste, die sich beispielsweise in den Bann der Walpur-gisnacht haben ziehen lassen oder den Klang des Chori-ner Musiksommers erlebt haben, werden wiederkom-men und vieles auch als Geheimtipp weiterempfehlen. Sowird das Jahr des Tourismus 2001 dazu führen, dass sichimmer mehr Bürger für eine Reise im eigenen Land be-geistern.Entscheidend für eine beständige, erfolgreiche Ent-wicklung ist neben der Qualität der Produkte deren Ver-marktung. Es reicht nicht mehr, die Möglichkeiten zunutzen, die der Markt bietet. Es kommt immer stärker da-rauf an, neue Trends frühzeitig zu erkennen und diesedann gegebenenfalls auch zu fördern, sofern sie naturver-träglich sind. Darüber sind wir uns hoffentlich in allenFraktionen einig.
Wir haben uns vorgenommen, entsprechende Modellvor-haben anzuschieben.
Die guten Zahlen im Deutschlandtourismus sind auchauf die Weitsicht der Touristiker zurückzuführen. Etwadie Hälfte der Deutschlandreisen werden als Hauptur-laub unternommen. Viele Touristen nutzen ihre Urlaubs-tage aber mittlerweile und zunehmend auch dazu, einenKurzurlaub in einem unserer 16 Bundesländer zu ver-bringen.
Frau Kollegin, es
wird eine Zwischenfrage vom Kollegen Seifert ge-
wünscht. Nehmen Sie sie an?
Nein, ei-
gentlich nicht.
Dann haben Sie wei-
terhin das Wort.
Zweit-und Dritturlaube sind ebenfalls gefragt. Darauf galt und
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Sylvia Voß14916
gilt es sich einzustellen. Während sich die Branche bei derBuchung früher auf den Wochenrhythmus von Sonnabendbis Sonnabend konzentrierte, haben sich einige Unterneh-men bereits auf flexible und kreative Angebote fürDeutschland umgestellt.Die Kunden werden anspruchsvoller. Auch diese Tat-sache haben wir uns vor Augen geführt. Deshalb werdenwir Vermietern, die bemüht sind, ihren Gästen die schöns-te Zeit des Jahres so angenehm wie möglich zu gestalten,unter die Arme greifen. So können Vermieter zinsverbil-ligte Kredite durch Inanspruchnahme des CO2-Ge-bäude-Sanierungsprogramms der Kreditanstalt fürWiederaufbau erhalten, mit denen sie privat vermieteteZimmer modernisieren und sanieren können. Mit dieserFörderung ist beiden Seiten geholfen: Den Touristen ge-fallen die schönsten Tage des Jahres noch einmal so gutund die privaten Vermieter halten durch die Modernisie-rung den Anschluss an gewünschte Standards. Gleichzei-tig tun wir dabei etwas für den Klimaschutz.
Es wäre wirklich zu kurz gesprungen, sich nur um Freudeund Zufriedenheit unter Tourismusmitarbeitern und Tou-risten zu sorgen. Wenn wir nicht gerade im Tourismus aufunsere Umwelt Acht geben, dann kann es mit beiden ganzschnell vorbei sein.Nachhaltiger Tourismus lautet unser Konzept, bei demdeutlich wird, dass im Mittelpunkt die Bemühungen zumSchutz und zur Pflege der Umwelt stehen. So freut es unsauch, dass im tourismuspolitischen Bericht der Bundesre-gierung der Umweltschutz inzwischen zu einem neuenSchwerpunkt gemacht wurde.
Das ist nur ein Zeichen dafür, dass die Beachtung des Zu-sammenhangs von Umweltschutz und Tourismus inDeutschland unter Rot-Grün endlich jenen Stellenwert er-hält, den er eigentlich schon lange hätte erhalten müssen.Der in Arbeit befindliche Bericht der Bundesregierung zuUmwelt und Tourismus wird uns weitere und tiefere Ein-blicke in diese Zusammenhänge liefern. Bei solchen Zei-chen darf es aber nicht bleiben; dafür werden wir sorgen.Als Abgeordnete der Regionen sollten wir uns aberauch Bedächtigkeit auferlegen, wenn es um neueStraßenprojekte geht. Ich denke zum Beispiel an die stil-len kleinen Alleen auf Rügen. Tut es dieser Insel gut,wenn ein neuer Rügen-Damm mit all den nachfolgendengroßen Verkehrsprojekten gebaut wird? Ist eine Straßedurch das Oderbruch oder durch den Nationalpark Unte-res Odertal sinnvoll, obwohl diese Straße – auf der ande-ren Seite ist nichts! – in wertvollsten polnischen Naturge-bieten endet? Wir sollten uns auch fragen, ob wir einBombodrom in Wittstock unterstützen – in dieser Gegendist Fontane gewandert –, obwohl dadurch die Mecklen-burgische Seenplatte und auch der Nationalpark Müritzbeeinträchtigt werden.Touristen lieben die unzerstörten stillen Räume, woman sich noch richtig von Lärm, Verkehr und Hektik er-holen kann.
– Sie sollen jetzt zuhören! – Diejenigen, die es anderswollen, können in die Städte gehen. Wir unterstützen diebehutsame und naturbewahrende Entwicklung des Tou-rismus in den ländlichen Räumen. Es handelt sich nichtnur um ein großes Potenzial bei der Bewältigung des sodringend notwendigen Strukturwandels der Landwirt-schaft, sondern auch um einen entscheidenden Beitrag zueiner nachhaltigen und eigenständigen Regionalentwick-lung. Eine solche Entwicklung gibt dem ökologischenLandbau und der naturgemäßen Waldwirtschaft eine neueChance. Das bedeutet Gesundheit für alle: für Touristen,für Einheimische und für die Natur.Wenn wir hier über eine intakte Natur sprechen, dannfallen uns die Nationalparke Deutschlands ein, die zur-zeit 2,1 Prozent der Fläche des Bundesgebietes ausma-chen.
Unsere Nationalparke, die vor allem der Bewahrung un-seres nationalen Naturerbes dienen, wollen wir auch tou-ristisch nutzen; denn wir wissen, dass die Akzeptanz desNaturschutzes vor allem dann gegeben ist, wenn derMensch diese herrliche Natur unmittelbar erleben, sehenund schätzen lernen kann, um sie dann auch schützen zuwollen. Das ist ein Erfolg versprechender Weg. Darumarbeiten wir mit Bund und Ländern bereits gemeinsam da-ran, das Marketing für Nationalparke
und die Kenntnis von dieser hinreißend schönen Natur so-wohl bei unseren Landsleuten – dort ist davon nochviel zu wenig bekannt – als auch im Ausland deutlich zuverbessern.
Ich denke, da sind wir auf einem guten Weg. Die Erho-lungssuche in der geschützten Natur muss mit einer sinn-vollen Besucherlenkung selbstverständlich verbundenwerden.An dieser Stelle möchte ich einige Anmerkungen zumvorliegenden Antrag der CDU/CSU machen. Sie habensich Gedanken um die deutsche Tourismuswirtschaft ge-macht. Allerdings kann ich mich, wie Frau Irber vorhinschon sagte, des Eindrucks nicht erwehren, dass Ihr An-trag nach dem Motto „Husch, husch!“ in den letzten Ta-gen zusammengestellt worden ist; denn er ist wirklichnur ein Sammelsurium, eine bunte Liste von Forderun-gen. Was dort enthalten ist, hat der Bundestag zum Teillängst beschlossen oder der Bundestag hat diese Forde-rungen bereits mehrfach begründet abgelehnt, weil nur
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Sylvia Voß14917
die Länder betroffen sind usw. Ihr Antrag erinnert mich– die Kollegen aus dem Osten werden verstehen, was da-mit gemeint ist – an die Sendung „Wünsch Dir was“, diees einmal im DDR-Fernsehen gab.Tourismuspolitik, lieber Herr Brähmig und lieber HerrHinsken, ist aber kein Wunschkonzert, sondern die Ge-staltung günstiger Rahmenbedingungen unter Beachtungauch der finanziellen Möglichkeiten des Bundes.
Leider vergisst die Opposition nur allzu gerne, dass dieHaushaltsführung des Bundes viel zu lange in ihren Hän-den lag.Es ist der CDU/CSU mit ihren 5 Forderungen gelun-gen, nahezu jeden Bereich, der auch nur im Entferntestenetwas mit dem Tourismus zu tun hat, aufzulisten. Ihr An-trag lässt aber leider kaum eine Anregung, geschweigedenn eine konkrete Idee erkennen, wie alle Ihre Forde-rungen umgesetzt werden können.
Vielleicht haben Sie als Ihren Beitrag zu dem „Wünsch dirwas“ und zum „Tischleindeckdich“ den Goldesel schonim Stall stehen.Wir begrüßen aber, dass die Opposition die Bundesre-gierung in dem Vorhaben, die statistische Erfassung derAnzahl der Übernachtungen unterhalb von acht Betten zuverbessern, unterstützen wird.
Sie muss schnell le-
sen, weil ihre Redezeit schon abgelaufen ist.
Ja, ich
weiß.
Leider hat das Wort „Rekordjahr“ rückwirkend keine
Chance noch das Wort des Jahres 2000 zu werden.
Wenn sich die Opposition aber in der nächsten Zeit
– jetzt kommt das scheußliche CDU-Wort – „brutalst-
möglich“ mit unserem Antrag beschäftigen wird,
statt nur neidvoll und in Trance realitätsvergessen zu jam-
mern, dann bestehen wirklich gute Chancen, im Jahre 2001
wieder einige Rekorde für den Tourismus in Deutschland
zu vermelden.
Danke.
Nun hat das Wort der
Kollege Ernst Burgbacher für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Ich hatte mich eigent-lich darauf gefreut, hier vor der ITB eine Tourismusde-batte zu einer vernünftigen Zeit zu führen. Dieser Wirt-schaftssektor hat es nicht verdient, dass wir hier inkleinkarierter Weise miteinander um manche Detailsstreiten. Da wäre wahrlich etwas anderes angesagt.
Sie haben in Ihrem Antrag zunächst einmal Zahlen ge-nannt, die ich nur unterstreichen kann und über die wiruns alle mächtig freuen. Die Steigerungsraten betragen6 Prozent, bei Gästen und Übernachtungen aus dem Aus-land sogar 10 Prozent. Nur kommt dann in Ihrem Antragder Kernsatz:Diese Entwicklungen sind das Ergebnis der Reform-politik der rot-grünen Bundesregierung.
Nein, meine Damen und Herren, diese Entwicklungensind das Ergebnis der Risikobereitschaft und des Fleißesvon Unternehmern und Beschäftigten
in Hotels, Gaststätten, bei der Bustouristik, in Freizeitein-richtungen, in Reisebüros, von Schaustellern und Unter-nehmern, die dem rot-grünen Gegenwind trotzen, die Är-mel aufkrempeln, um im Wettbewerb bestehen zu können.Das ist der Sachverhalt.
Alle diese Menschen, deren Tätigkeiten ich beschriebenhabe, müssen den Inhalt des von mir zitierten Satzes dochals Hohn empfinden.Ganz besonders müssen die in der Gastronomie Täti-gen einen solchen Satz als Hohn empfinden.
Sie haben Umsatzrückgänge und ansonsten überhaupt nurgeringe Zuwächse zu verzeichnen. Die Situation in derGastronomie ist Besorgnis erregend. Sie aber, Frau Voß,sagen da ernsthaft, die rot-grüne Politik habe dazu ge-
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Sylvia Voß14918
führt, dass dort 13 Prozent mehr ausgebildet würden. Dasssie ausbilden, ist eine riesige Leistung, die Respekt ver-dient, da sie selbst fast nichts verdienen. Das ist doch derPunkt.
Sie, liebe Kollegin Irber, gaukeln uns hier vor, Sie hät-ten den Menschen mehr Geld gegeben. Schauen Sie sichdoch die Zahlen an, die das von Ihnen geführte Finanz-ministerium veröffentlich hat: Dort wurde errechnet, dassdie Steuerbelastung nicht abgenommen, sondern sich dieSteuerlastquote im Jahre 2000 sogar geringfügig um0,1 Prozent erhöht habe. Trotz Steuerreform nimmt dieSteuerlast zu und nicht ab.
– Die Steuerlastquote ist gestiegen.Der Tourismus ist zweifellos wichtig für die gesamteGesellschaft, aber man sollte die Kirche schon im Dorflassen. Nicht alle aktuellen gesellschaftspolitischen Pro-bleme wie zum Beispiel die verfehlte europäische Agrar-politik und BSE können wir durch Maßnahmen im Tou-rismusbereich ausgleichen. Es bringt doch nichts, überden ökologischen Landbau als Wegbereiter für Tourismuszu reden.
Es wäre viel sinnvoller, eine moderne Kampagne zu star-ten. So könnten wir zum Beispiel eine Kampagne „Bauerund Bett im Internet“ machen. Bieten wir das doch ein-fach einmal am Markt an. Solche Wege müssen wir gehen.
Das funktioniert aber nicht auf der Basis der Aussagen inIhrem Antrag.
Wenn Sie für sich in Anspruch nehmen, die Erfolgeseien das Ergebnis rot-grüner Politik, dann muss es um-gekehrt einmal gestattet sein, in aller Kürze aufzulisten,was Sie eigentlich konkret getan haben. Sie haben denTourismushaushalt unterm Strich um 1 Million DM ge-kürzt; Sie haben zwar bei der DZT draufgelegt, aber dafüran anderer Stelle umso stärker gekürzt. Im Resultat machtdas 1 Million DM weniger.
Weiterhin nenne ich das 630-Mark-Gesetz, die Erhebungder Ökosteuer und die Einführung der echten 0,5-Pro-mille-Grenze, die gerade für die Gastronomie ein Riesen-problem darstellt, weil sie zu weniger Umsätzen führt.
Sie wollen die Gaststättenverordnung ändern; darüber ha-ben wir neulich diskutiert. Dann muss man immer mitdem Taschenrechner in die Wirtschaft gehen.
Meine Damen und Herren, das Grundproblem hat sichdoch gerade in den letzten Tagen gezeigt: Wir haben einenzuständigen Minister, der zwar bei großen Anlässen auf-tritt, sich aber in keiner einzigen Frage durchgesetzt hat.Herr Müller hat überall gekuscht. Er hat für den Touris-mus überhaupt nichts Konkretes herausgeholt.
Lassen Sie mich jetzt ein Wort zu dem Antrag derCDU/CSU-Fraktion sagen. Liebe Kolleginnen und Kol-legen von der CDU/CSU, Sie listen in einem Katalogvon 55 Punkten wirklich alles auf, was überhaupt denk-bar ist. Ich denke, es wäre sinnvoller, Schwerpunkte zusetzen.
Es wäre richtig, auch in der Opposition zu berücksichti-gen, was überhaupt finanzierbar ist. Deshalb werden wirhier ein Stück weit solider arbeiten.
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Faße?
Aber bitte.
Bitte sehr.
Herr Burgbacher, habe ich Sie
eben richtig verstanden, dass Sie die Tatsache, dass wir
die Promillegrenze auf 0,5 gesenkt haben, allen Ernstes
mit der Begründung kritisiert haben, dass dies eine nega-
tive Auswirkung auf die Gastronomie habe?
Ich meine, dass dieser Zusammenhang ja wohl sehr weit
hergeholt ist. Können Sie mir ganz klar und deutlich sa-
gen, ob diese Senkung nicht im Hinblick auf die Sicher-
heit im Straßenverkehr sehr viel Sinn macht?
Liebe Frau KolleginFaße, darüber haben wir vor kurzer Zeit im DeutschenBundestag diskutiert. Sie wissen, dass die F.D.P.-Fraktiondagegen gestimmt hat, weil es wieder ein typischer Vor-wand ist: Sie senken diese Grenze, obwohl Sie genau wis-sen, dass das Problem im Straßenverkehr nicht diejenigenMenschen darstellen, die Promillewerte von 0,5 oder 0,8haben, sondern die, die erheblich höhere haben.
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Ernst Burgbacher14919
Es ist nachweisbar, dass diese Senkung dazu führt, dassman beim abendlichen Ausgehen Angst hat, kein ViertelWein mehr trinken zu können. Dies hat auf das Verhaltender Touristen natürlich erheblichen Einfluss.
Wenn Sie davor die Augen verschließen, tun Sie mir Leid.
Mich wundert schon, wie weltfremd Sie manchmal ar-gumentieren. Das ist unwahrscheinlich.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, lassenSie mich einen zweiten Punkt ansprechen. Der Hilferuf„SOS für den Tourismusstandort Deutschland“ scheintmir völlig überzogen zu sein.
Es ist richtig: Wir haben hohe Wachstumsraten. Wir ste-hen gut da. Dann SOS zu sagen halte ich für völlig an derSache vorbei.
Richtig ist: Wir könnten erheblich mehr machen, wenn dieRahmenbedingungen stimmen würden. Dazu fordern wirauf.Wir als F.D.P.-Fraktion haben zwei Anträge einge-bracht. Einmal fordern wir, die touristische Beschilde-rung an Autobahnen nicht so zu handhaben, wie diesjetzt der Fall ist.
Es ist doch verrückt: Wir erlauben nur alle 20 Kilometerein Schild. Es darf nur auf sichtbare Ziele hingewiesenwerden. Alle unsere Nachbarn machen das völlig anders.Ich freue mich, dass ich von allen Seiten des Hauses Zu-stimmung signalisiert bekommen habe, dass man hiermitmachen wird.
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brähmig?
Aber sehr gerne, von dem
Kollegen Brähmig doch immer.
Bitte sehr.
Lieber Kollege
Burgbacher, Sie sprachen soeben von unserem Antrag und
thematisierten das „SOS“. Wir wollen mit diesem Begriff
„Standortsicherung“ darstellen. Ich glaube, wir sind uns
doch wohl einig – das war sowohl in den letzten Monaten
als auch in den zweieinhalb Jahren im Ausschuss und an-
sonsten im Parlament auch Ihr Petitum –, dass die Über-
bürokratisierung auch in der mittelständischen Branche
derartige Belastungen mit sich bringt, dass man diese
Dinge doch aufzeigen kann.
Dazu gehört ganz einfach, dass man die Öffentlichkeit
und die Branche insgesamt sensibilisiert. Das soll damit
zum Ausdruck gebracht werden – nicht mehr und nicht
weniger. Übrigens freue ich mich auf Ihre Argumente,
aber auch auf die der Kolleginnen und Kollegen von Rot-
Grün im Ausschuss, wie wir versuchen können, diese
Standortsicherung zu erreichen. Denn wer zur Quelle will,
muss gegen den Strom schwimmen. Dies haben wir letzt-
endlich auch mit diesem Antrag versucht zu tun. Lieber
Herr Burgbacher, ob nun 55 Einzelpunkte oder zehn Kern-
aussagen, darüber werden wir in der nächsten Zeit weiter
diskutieren.
Lieber Kollege Brähmig,gestern habe ich die Einladung zur Pressekonferenz gese-hen: „SOS-Tourismus“. Ich habe gesagt: Das kann nichtwahr sein. Dagegen wende ich mich. Wir können doch inBezug auf eine gut laufende Branche nicht sagen: Jetzt müs-sen wir SOS funken. Das scheint mir unrealistisch zu sein.
Lassen Sie mich zu unserem zweiten Vorhaben kom-men. Wir haben einen Antrag eingebracht, eine Kampagneunter dem Motto „Deutschland besucht Deutschland“ zustarten. Auch hier rufe ich Sie auf: Unterstützen Sie das!
Für den Deutschlandtourismus ist es eine Riesenchance,wenn wir nach zehn Jahren deutscher Einheit dafür wer-ben, dass die Menschen aus den neuen Bundesländern malwieder in die alten Bundesländer reisen sollen und umge-kehrt. Es ist auch eine große Chance für unseren Staat.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang Mark Twainbemühen, der einmal gesagt hat: „Reisen ist tödlich fürVorurteile.“ Ich glaube, dieser Satz passt sehr gut.Ich möchte zum Schluss noch ein Wort zum Jahr desTourismus sagen. Ich habe die Idee immer für gut gehal-ten; aber ich war der Einzige, der vor einer kurzfristigenUmsetzung gewarnt hat.
– Sagen wir einmal so: Ich war der Einzige, der dagegengestimmt hat. – Ich mache nun die Erfahrung, dass bisheute vor Ort fast niemand – übrigens auch nicht unter denTouristikern – etwas vom Jahr des Tourismus gehört hat.
– Ich habe diese Erfahrung auf zahlreichen Veranstaltun-gen gemacht.Wir haben eine Chance vertan. Lieber Herr Mosdorf,ich fordere die Bundesregierung auf zu handeln. Es geht
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Ernst Burgbacher14920
nicht an, dass Minister Müller zwar das Jahr des Touris-mus proklamiert, aber dann keinen Pfennig Geld dafürausgeben will.
Sie müssen schon Geld zur Verfügung stellen.Lassen Sie mich zum Abschluss sagen: Wir schreibenim Tourismus schwarze Zahlen, aber nicht dank, sonderntrotz Ihrer Politik. Wenn die Rahmenbedingungen günsti-ger wären, wären die Zahlen noch besser. Wir werden Sieaus Ihrer Verantwortung nicht entlassen, bessere Rah-menbedingungen zu schaffen.
Das Wort hat nun die
Kollegin Rosel Neuhäuser für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Herr Burgbacher, Ihre Argu-mentation hinsichtlich der 0,5-Promille-Grenze
ist schon sehr gewagt. Wir sollten einmal darüber reden.
Ich denke, Ihr Argument dient der Sache nicht.
Sie haben es eben schon angesprochen: 2001 ist dasJahr des Tourismus in Deutschland. Haben Sie schon ge-merkt, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass keiner hin-geht? Oder geht es Ihnen wie den meisten Menschen hierim Lande, dass sie den Eindruck haben, dass das fast un-ter Ausschluss der Öffentlichkeit abläuft?Es war uns ein ganz wichtiges Anliegen – ich denke, indiesem Punkt stimmen wir überein –, deutlich zu machen,dass bestimmte Maßnahmen notwendig sind. Es ist auchdie Einschätzung der Bundesregierung, dass der Tou-rismus ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist, für den stei-gende Tendenzen prognostiziert werden.Was heißt das für uns konkret? Man kann doch nichtdavon ausgehen, dass sich der Tourismus im Selbstlaufentwickelt. In den Anträgen von SPD, Bündnis 90/DieGrünen, CDU/CSU sowie der F.D.P. wird deutlich, dassdie Tourismuswirtschaft ein buntes Netzwerk von vielfäl-tigen Angeboten und Dienstleistern ist. Sie können mir si-cher zustimmen, dass die einzelnen Regionen nicht nurvon der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft, sondern auchdie Wirtschaft von der touristischen Attraktivität der Re-gionen lebt. Soll in diesem Sinne die deutsche Touris-muswirtschaft wettbewerbsfähiger gestaltet werden,benötigen wir den politischen Willen des Bundes, derLänder, der Kommunen und natürlich der Branche.
Was aus meiner Sicht ganz wichtig ist: Wir brauchen einehohe Koordinierungsbereitschaft.Der Tourismusstandort Deutschland darf doch nichtunter Kleingeist leiden. Es ist an der Zeit, nicht mehr nurüber neue Ansätze zu diskutieren, sondern endlich neueWege zu beschreiten.
Dies geht aber nicht in der Weise, wie es am Dienstagbeim Neujahrsempfang des Bundesverbandes mittelstän-dische Wirtschaft recht widersprüchlich von vielen Red-nern und Referenten verkündet und auch gefordert wor-den ist und wie es in einzelnen Punkten im Antrag derCDU/CSU nachzulesen ist: Auf der einen Seite lehnt manstaatliche Bevormundung ab. Auf der anderen Seite ruftman aber im gleichen Atemzug sehr energisch nach Re-gularien und Rahmenbedingungen, die zu schaffen sind,und zwar allein von der Bundesregierung, ohne dass dieMöglichkeiten der Mitwirkung erwähnt werden.
Dieser Zeitgeist ist überholt. Im Wettbewerb um diebesten touristischen Standorte gewinnen schließlich jene,die neben viel Gastfreundschaft, Service und Dienstleis-tung auch eine hohe Bereitschaft zur Koordination desMarketings vor Ort signalisieren und die sich diesem Pro-zess nicht verschließen.
Ihre Anträge lassen an vielen Stellen den guten Willenerkennen, für Veränderungen zu sorgen. In den Mittel-punkt rücken Sie dabei die Forderung, Deutschland bes-ser zu vermarkten. Das ist, denke ich, auch gut und rich-tig, gerade in dieser Situation. Aber eines vergessen Sie:Zu einer besseren, modernen Vermarktung gehört, dasssich Deutschland jung, dynamisch und interessanter prä-sentiert.Ich will Herrn Brähmig jetzt nicht besonders heraus-stellen. Aber es gab gestern Abend in Sachsen eine Prä-sentation der Sächsischen Schweiz. Das war ein gelunge-ner Ansatz. Das Angebot, Herr Brähmig, muss jedochauch für junge Menschen attraktiver sein. Das haben mirIhre jungen Kollegen gestern auch bestätigt. Junge Men-schen müssen neugierig auf Deutschland gemacht wer-den. Das ist eine Frage des Images. Wo – so frage ich zumwas weiß ich wievielten Mal hier in diesem Parlament,auch an die Fraktionen von SPD und Grünen gerichtet –bleiben Ihre konkreten Maßnahmen zum Kinder- und Ju-gendtourismus?
Kinder- und Jugendtourismus ist komplexer, als Sieallgemein annehmen. Experten schätzen, dass der Kinder-und Jugendtourismus in den vergangenen zehn Jahren inDeutschland um 8 Prozent gewachsen ist. Damit liegendie Steigerungsraten fast doppelt so hoch wie beim ge-samten Tourismus.In den nächsten Jahren wird die Kinder- und Jugend-reisebranche aus ihrer Nische herauswachsen und einen
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respektablen Platz in der Reisebranche einnehmen kön-nen.
Die umliegenden europäischen Staaten haben die jungenLeute längst als eine wichtige Zielgruppe erkannt.Deutschland hat mit seinen Regionen auf diesem Gebietnoch einen Nachholbedarf. Der Zug ist in voller Fahrt.Springen Sie auf!Es kann doch auch nicht sein, dass das Problem desKinder- und Jugendtourismus nach einer Anhörung imAusschuss und mehreren Debatten danach in den Anträ-gen, besonders der Regierungsparteien, mit einem Satzabgetan wird.
Es muss gelingen, die vielfältigen Verantwortungsberei-che aus Politik, Wirtschaft und Branche, die mit ihren Ak-tivitäten bisher eher nebeneinander als miteinander agier-ten, an einer gemeinsamen Zielrichtung im Kinder- undJugendreisebereich zu orientieren. Das sollte nicht zuletztfür die Menschen mit Behinderungen gelten. Ich denke,auch das ist eine Frage, der wir uns stellen sollten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, IhreAnsätze, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Touris-muswirtschaft zu stärken, gehen in der Fülle Ihres Forde-rungskataloges unter. Warum müssen es 55 Punkte sein?Viel muss nicht immer gut sein. Lieber Qualität als Quan-tität!
Noch eines zum Schluss. Lassen Sie uns in den weite-ren Beratungen in den Ausschüssen um ein gutes Konzeptringen. Dann haben wir alle Voraussetzungen, das Jahrdes Ökotourismus 2002, das international ausgeschriebenwird, erfolgreich einzuleiten.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesmi-
nister für Wirtschaft und Technologie, Herrn Siegmar
Mosdorf.
S
Frau Präsiden-
tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst zu den
Fakten. Wir haben im Jahr 2000 im Tourismus ein
Rekordergebnis erzielt. 108Millionen Ankünfte von Gäs-
ten – 6 Prozent mehr als im Vorjahr –, 326 Millionen
Übernachtungen – 6 Prozent mehr als im Vorjahr – und,
was besonders bemerkenswert ist, 10 Prozent mehr aus-
ländische Gäste. Ich glaube, wir können alle gemeinsam
darauf stolz sein, dass wir dieses Ergebnis haben.
Deshalb lassen Sie mich zu Beginn auch gleich sagen:
Ich glaube, die Leistungsträger dieser Branche, die Gas-
tronomie, die Hotellerie und diejenigen, die sich hier be-
sonders engagieren, die Tourismusbranche insgesamt ha-
ben ein Dankeschön für die qualitätsvolle Arbeit verdient,
die sie leisten.
Wir sollten diesen Dank alle gemeinsam aussprechen.
Denn wir haben zwar gute Bedingungen in Deutschland,
weil unser Land wirklich interessant und vielfältig ist,
weil es kulturhistorisch, landschaftlich und regional sehr
viel zu bieten hat, aber letztlich hängt es doch von den
Leistungen der Menschen ab, ob wir Touristen gewinnen,
bei uns Urlaub zu machen. Dafür kann man ein Danke-
schön aussprechen; denn die Qualität war im letzten Jahr
besser als in den Jahren zuvor.
Herr Staatssekretär,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
S
Gerne.
Bitte sehr, Herr Kol-
lege.
Herr Staatssekretär, wir
sind natürlich stolz auf die großartigen Zahlen, was die
Touristen angeht. Aber die Zahl der Touristen ist nur die
eine Seite. Es gibt auch eine andere Betrachtungsweise.
Deshalb möchte ich Sie fragen, ob Sie der Auffassung
sind, dass zum Beispiel eine Umsatznettorendite von 0,6
bis 0,8 Prozent im deutschen Reisemittlergewerbe ausrei-
chend erscheint und ebenfalls zu solchem Jubel Anlass
gibt wie die Zahlen der Gäste, die nach Deutschland kom-
men, oder ob nicht vielmehr eine Reihe von Rahmenbe-
dingungen dazu beitragen, dass dieser Teil der Branche
fast nicht mehr überleben kann.
S
Herr Kollege, dawir beide von der Sache etwas verstehen, ist dies für micheine rhetorische Frage. Natürlich wollen wir in dieserBranche eine bessere Umsatzrendite haben; das istselbstverständlich. Aber die kann die Regierung nicht ver-ordnen. Da spielen viele Dinge eine Rolle. Ich glaube,dass eine positive Entwicklung in dieser Branche schondadurch erzielt wird, dass wir die Steuerreform zustandegebracht haben. Denn sie führt zu einer ersten großen Ent-lastung. Wir werden aber gemeinsam weitere Anstren-
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Rosel Neuhäuser14922
gungen unternehmen müssen, um die wirtschaftliche Si-tuation dieser Branche zu verbessern. Auf eine Reihe vonPunkten wollte ich in diesem Zusammenhang noch zusprechen kommen. Da Sie schon zu Beginn meiner Redeeine Zwischenfrage gestellt haben, haben Sie mancheDinge vorweggenommen.Ich habe meine Rede mit dem Hinweis auf diese posi-tiven Zahlen nicht begonnen, um alles zu kalmieren bzw.zu sagen, es sei alles in Butter. Wir arbeiten intensiv an derLösung der bestehenden Probleme.Übrigens muss ich feststellen: Der Tourismusaus-schuss ist ein sehr lebendiger Ausschuss. Dort wird sehrvital und meist an der Sache orientiert gestritten. Was ichheute im Ausschuss ein bisschen schade fand, ist dieZeichnung, Herr Brähmig – ich weiß nicht, ob Sie sie sel-ber gezeichnet haben –, die ein Störtebeker-Schiff und einSOS-Signal darstellt.
Man kann auch Antiwerbung für Deutschland machen; dateile ich die Auffassung von Herrn Burgbacher. Ich finde,das ist nicht gut.
Sie haben ja bereits Ihre Erfahrungen mit Plakaten ge-macht. Wenn Sie diese Zeichnung den Hamburgern an-bieten, die in diesem Jahr an die 600 Jahre zurückliegendeHinrichtung Störtebekers erinnern, dann ist es in Ord-nung. Aber ich finde, man muss ein gemeinsames Inte-resse daran haben, den Standort Deutschland positiv dar-zustellen.
– Eben.Es ist wahr – Ernst Hinsken hat darauf hingewiesen; erkann jetzt leider nicht mehr anwesend sein –: Wir habenim Ministerium neun Mitarbeiter mit der Beantwortungder Frage beschäftigt, wie man den Standort Deutschlandpositiv darstellen kann. Das sind erstens mehr als in derVergangenheit und zweitens die Besten. Das ist nichtschlecht; auch das sollte man einmal feststellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten HerrnBurgbacher – er ist ein sehr fachkundiger Kollege; er kommtaus dem Schwarzwald und kennt sich sehr genau aus –
aus der Sackgasse befreien, in die er im Rahmen der0,5-Promille-Grenze geraten ist. Ich formuliere es jetzteinmal ökonomisch: Herr Burgbacher, wenn die Gäste dieHeimfahrt nicht überleben, dann sind sie morgen dochkeine Gäste mehr.
Insofern betrifft dies doch auch die Tourismusbranche.Herr Burgbacher, verstehen Sie dies bitte nicht falsch. Esist auch nicht ganz ernst gemeint. Ich finde, man kann imÜberschwang des Gefechts auch einmal eine Spur verfol-gen, die nicht hilfreich ist. Viele Ihrer Beiträge zum Tou-rismus waren positiv. Außerdem kennen Sie sich in derSache aus.Im Übrigen will ich feststellen: Das, was Frau Irber ge-sagt hat, nämlich dass wir im Hinblick auf die Möglich-keiten der Beschilderung entlang von Autobahnen einengemeinsamen Weg gehen sollten – dies sollte möglichstnoch breiter angelegt sein, also nicht nur auf die Auto-bahnen begrenzt –, hat Herr Burgbacher bzw. die F.D.P. ineinem Antrag gefordert. Daran haben wir ein gemeinsa-mes Interesse. Ich glaube, dass wir in diesem Punkt, auchinternational gesehen, rückständig sind und noch einigestun können. Das sollten wir gemeinsam angehen. Ich je-denfalls biete das ausdrücklich an.
Wir haben uns direkt im Anschluss an das EXPO-Jahrdas Tourismusjahr auf die Fahnen geschrieben. Wir warenuns einig, dass es sinnvoll ist, noch einmal besondereMarketinganstrengungen im Hinblick auf den Tourismuszu unternehmen.
Herr Staatssekretär,
von Herrn Dr. Seifert wird noch eine Zwischenfrage ge-
wünscht.
S
Gerne.
Bitte sehr, Herr Kol-
lege.
Herr Staatssekretär, Sie spra-
chen gerade von großen Erfolgen, aber auch davon, dass
wir, international gesehen, noch einiges aufzuholen ha-
ben. Was will die Bundesregierung tun, damit wir zum
Beispiel im barrierefreien Tourismus, also im Tourismus
für Menschen mit den verschiedensten Behinderungen,
ein bisschen vorankommen? Momentan sieht es ja so aus,
dass man zum Beispiel als Rollstuhlfahrer kaum irgendwo
hinfahren kann, weil man in kein Hotel hineinkommt. Es
werden höchstens ein oder zwei entsprechende Zimmer
angeboten; aber dann ist Feierabend. Es ist sehr schwierig
zu verreisen. Für die Regierung wäre es doch ein sehr loh-
nendes Ziel, in diesem Bereich etwas zu tun, was dann
übrigens einer ganzen Region zugute käme.
S
Herr Kollege, es
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf14923
ist völlig klar: Gerade bei hoch entwickelten Volkswirt-schaften und bei hoch entwickelten Standorten werdenauf die gezielten Kundengruppen gerichtete spezielle An-gebote immer wichtiger. Sonst steht man im Wettbewerbmit ganz anderen Regionen, die hierauf vielleicht einenbesonderen Akzent legen. Ich meine, wir haben dazu auchschon gezielte Initiativen ergriffen.
– Ja, im Antrag steht es. Wir haben aber auch schon vor-her konkrete Initiativen angestoßen.Wenn Sie das genau wissen wollen, werde ich Ihnendazu – weil ich jetzt gerne fortfahren möchte – gerneschriftlich antworten. Es ist völlig klar, dass wir auf die-sem Sektor gemeinsam Anstrengungen unternehmenmüssen
– nein, aber Sie wissen, was ich meine –, um ein beson-deres Angebot zu machen, damit auch für diese Menschender Urlaub zum Vergnügen wird. Das ist ja nicht möglich,wenn man nicht besondere Bedingungen schafft.Meine Damen und Herren, weil es unser gemeinsa-mes Anliegen ist, den Tourismus voranzubringen, willich noch einmal auf das Jahr des Tourismus zu spre-chen kommen. Wir alle haben dies unterstützt und auchdie Bundesregierung hat Anstrengungen unternommen,auf diesem Sektor in besonderer Weise voranzukommen.Wir haben natürlich auch Partner gesucht, die mithelfen.Sie wissen das ja auch, Herr Brähmig. Wir haben dieBundesbahn gewinnen können, die sich bereit erklärthat, sich mit 1 Million DM an dieser Aktion zu beteili-gen. Wir haben die Rundfunk- und Fernsehanstalten ge-winnen können, sich daran zu beteiligen. Gleichzeitighaben wir die Lufthansa gewonnen, spezielle Angebotezu machen.
Wir haben in unserem Haushalt selber 1 Million DM zu-sätzliche Mittel mobilisiert, um im Jahr des Tourismus vorallen Dingen hinsichtlich der Werbung Anstrengungen zuunternehmen. Das heißt, wir sind doch gemeinsambemüht, alles zu tun, um das Jahr des Tourismus ins Be-wusstsein zu rücken.Ich will es noch einmal ausdrücklich sagen: Die Deut-schen geben heute für Reisen ins Ausland über 90 Milli-arden DM aus.
– Ja. Sie geben also über 90 Milliarden DM aus.
– Das ist doch klar. Ich sage bloß: Einmal weniger Mallorcaund dafür ein Aufenthalt bei uns, am Schwäbischen Meer,am Bodensee, im Schwarzwald oder in der SächsischenSchweiz, wo es besonders schön ist.
– Oder in Heidelberg; das ist ganz wichtig.
– Oder in Bayern. Einmal weniger Mallorca und sich ein-mal zu Hause umschauen.
– Ja, natürlich, Wilhelmshaven.
Die Nordsee verges-
sen Sie immer, Herr Kollege. Das ist unglaublich.
S
Das wäre doch
etwas. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam Anstrengungen
unternehmen, damit wir im Jahr des Tourismus voran-
kommen.
Ich will nur sagen: Wir haben im Campingplatzwett-
bewerb 2000, bei den Radfernwegen, bei den National-
parks, bei der Umweltdachmarke, beim Qualitätsmana-
gement wichtige Fortschritte erzielt.
Ich muss, gerade was das Qualitätsmanagement an-
geht, sagen: Dass wir in Ostbayern begonnen haben, hat
natürlich auch etwas damit zu tun, dass dort die wichtigen
Akteure Bruni Irber und Ernst Hinsken wohnen. Aber es
hat auch etwas mit der schönen Gegend zu tun. Ich finde,
wenn man schon einen solchen Anstoß gibt, dann kann
man das doch positiv hervorheben und muss es nicht be-
kritteln. Dann kann man doch gemeinsam sagen: Die
Frage des Qualitätsmanagements ist eine wichtige Frage.
Man kann es möglicherweise mit den Erfahrungen ver-
knüpfen, die man mit dem Qualitätssiegel in der Sächsi-
schen Schweiz gemacht hat. Wir sollten es gemeinsam po-
sitiv versuchen und nicht immer gleich das Negative
sehen.
Gemeinsam können wir eine Menge bewegen. Das
müssen wir in der Tourismusbranche auch tun. Sie ist eine
der wichtigsten Wachstumsbranchen der Zukunft. Für die
Bundesrepublik ist es besonders wichtig, dass wir dieser
Wachstumsbranche helfen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Jetzt erteile ich für die
CDU/CSU der Kollegin Edeltraut Töpfer das Wort.
Sehr geehrte FrauPräsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf14924
Tourismus ist weltweit die Zukunftsbranche Nummereins. Die Tourismusbranche gilt auch in Deutschland, wiewir bereits von allen Vorrednern gehört haben, als Hoff-nungsträger bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit undhat eine große gesamtwirtschaftliche Bedeutung. Sie si-chert in Deutschland direkt und indirekt 2,8 MillionenAr-beits- und über 90 000 Ausbildungsplätze. Die Touris-muswirtschaft erwirtschaftet mit einem Jahresumsatz von275 Milliarden DM 8 Prozent des Bruttoinlandprodukts.Die Rolle des Tourismus lässt sich am Beispiel Berlinsgut verdeutlichen. Der touristische Höhenflug hielt auchim Jahr 2000 ungebremst an. Zum ersten Mal wurdenüber 11 Millionen Übernachtungen in den Berliner Hotelsregistriert. Das ist ein Plus von über 21 Prozent gegenüberdem Vorjahr.
Rund 5 Millionen Gäste besuchten die Stadt, davon einViertel aus dem Ausland. Besonders bei Gästen aus denUSA ist Berlin beliebter denn je. Hier wird sich positivauswirken, dass Berlin endlich wieder eine direkte Flug-verbindung in die USAbekommt. Berlin ist damit ein Bei-spiel für steigende touristische Wachstumsraten. Die Tou-rismuswirtschaft als besonders personalintensive Brancheist ein bedeutender Hoffnungsträger bei der Bekämpfungder Arbeitslosigkeit. Die Zahl der Arbeitsplätze lässtsich im Bereich Urlaub, Freizeit und Reisen in Deutsch-land noch enorm steigern. Für die gesamte EuropäischeUnion hat eine Expertenkommission für den Zeitraum bis2010 ein Potenzial von 3,3 Millionen neuen Arbeitsplät-zen im Tourismus festgestellt. Bisher wirkt sich aber diepositive Entwicklung der Gäste- und Übernachtungszah-len im Deutschlandtourismus leider nicht auf den Ar-beitsmarkt aus. Darauf sind Sie leider nicht eingegangen.
Die Zahl der Beschäftigten im Gastgewerbe als demwichtigsten Leistungsträger der deutschen Tourismus-wirtschaft ist von Januar bis Oktober 2000 im Vergleichzum Vorjahreszeitraum um 2,7 Prozent zurückgegangen.Auch der Umsatzentwicklung im Gastgewerbe nutztendie Gäste- und Übernachtungszuwächse kaum. 1999 sankder Umsatz um 1,4 Prozent, während er von Januar bisOktober 2000 lediglich um 1,1 Prozent stieg. Gerade imGaststättenbereich ging der Umsatz von Januar bis Okto-ber 2000 um 1,8 Prozent zurück. Hier scheint der Ar-beitskräftemangel, der vor allem auf die Neuregelungder geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse zurück-zuführen ist, am deutlichsten sichtbar zu werden. Seit demIn-Kraft-Treten dieser Neuregelung im April 1999 sindlaut Angaben des Deutschen Hotel- und Gaststättenver-bandes 100 000 nebenberuflich Beschäftigte als Arbeits-kräfte verloren gegangen.
Dies hat gravierende Einschnitte im Servicebereich undbeim Leistungsangebot zur Folge,
und dies, obwohl wir gerade in Deutschland im Dienstleis-tungsbereich einen enormen Nachholbedarf gegenüberdem Ausland haben.
Auf der anderen Seite gibt es im Gastgewerbe zurzeit80 000 freie Stellen. Darum fordern wir die Rücknahmedes Gesetzes zur Neuregelung der geringfügigen Be-schäftigungsverhältnisse, da insbesondere das Gastge-werbe
– liebe Frau Irber, man kann das gar nicht oft genug er-wähnen – durch einen massiven Rückgang der 630-DM-Jobs sowie einen erheblichen bürokratischen Mehrauf-wand dauerhaft schwer belastet wird.
Eine weitere schwere Belastung der Wettbewerbs-fähigkeit stellt die Ökosteuer dar.
Ihre ersten drei Stufen haben zu einer erheblichen nachhal-tigen Mehrbelastung und Benachteiligung der deutschenTourismuswirtschaft im internationalen Wettbewerb ge-führt. Ihre ökologische Lenkungswirkung ist verfehlt, unddie derzeit etwas niedrigeren Rohölpreise dämpfen die ne-gativen Folgen nur kurzfristig.
Die Belastungen der Tourismuswirtschaft hat die SPD-geführte Bundesregierung in ihrer Antwort auf die GroßeAnfrage der CDU/CSU-Fraktion „Auswirkungen derÖkosteuer und der hohen Kraftstoffsteuer auf denDeutschlandtourismus“ bereits selbst festgestellt. NachEinschätzung der Regierung sind demnach vor allem dreiBereiche betroffen, erstens das Gastgewerbe, zweitensdas Schaustellergewerbe und drittens die Deutsche Bahn.Darüber hinaus legt auch die Bustouristik, die einwichtiges Rückgrat der touristischen Infrastruktur inDeutschland darstellt, alarmierende Zahlen vor. Dortschlugen im letzten Jahr die höheren Kraftstoffkosten proBus durchschnittlich mit 10 500 DM zu Buche, davon al-lein über 2 500 DM durch die Ökosteuer. Fast alle ande-ren EU-Staaten gewähren Steuerbefreiungen bzw. Steuer-erleichterungen, um den Bustourismus attraktiver zugestalten. In Deutschland dagegen wird ausgerechnet derökologisch besonders vorbildliche Reisebus genauso be-steuert wie der PKW und unterliegt nicht etwa wie dieBahn einem ermäßigten Steuersatz.
Wo bleibt da die Rücknahme der Ökosteuer, die in Wahr-heit keine Ökosteuer, sondern eine Haushaltsausgleichs-steuer ist?
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Edeltraut Töpfer14925
Die Bundesregierung hat sich zwar den von derCDU/CSU im Tourismusausschuss unterbreiteten Vor-schlag zu Eigen gemacht und das Jahr 2001 zum „Jahr desTourismus in Deutschland“ erklärt; schöne Worte alleinaber genügen nicht. Wo bleiben konkrete Pläne und Kon-zepte? Jetzt müssen endlich Strategien entwickelt werden,die den Tourismusstandort Deutschland weiter stärken.Werbemaßnahmen sind zwar zu begrüßen, reichen abernicht aus. Eine solide Finanzierung muss her.Insgesamt ist in aller Deutlichkeit festzustellen, dassMaßnahmen, die der deutschen Tourismusbranche effek-tiv helfen würden, bisher ausgeblieben sind. Die Bundes-regierung muss sich die Frage gefallen lassen: Warumsind die Zuwendungen an die Deutsche Zentrale fürTourismus nicht deutlich erhöht worden,
um eine effizientere Vermarktung des Tourismusstandor-tes Deutschland im In- und Ausland zu ermöglichen unddie Grundlage dafür zu schaffen, Deutschland auf wichti-gen Auslandsmärkten besser darzustellen und Lust auf ei-nen Besuch unseres Landes zu wecken?Um insbesondere eine Erhöhung der Zahl der osteu-ropäischen Touristen zu erreichen, muss endlich auch imHinblick auf die EU-Erweiterung nach Osten das Dreh-kreuz nach Osteuropa, der Großflughafen Berlin Bran-denburg International in Berlin-Schönefeld, ohne wei-tere Verzögerungen ausgebaut werden. Ich fordere daherdie Bundesregierung auf, dieses Projekt in jeder Hinsichtzu fördern.
Frau Kollegin, Ihre
Redezeit ist abgelaufen.
Meine Damen und
Herren, ich komme zum Schluss. Ich frage Sie: Aus wel-
chen Gründen hat der Umzug der Deutschen Zentrale für
Tourismus, DZT, nach Berlin noch nicht stattgefunden?
Viele wichtige Verbände der Wirtschaft haben die Bedeu-
tung Berlins längst erkannt und ihren Sitz nach Berlin ver-
legt. Sollte der Umzug der DZT aus finanziellen Gründen
noch nicht geschehen sein, muss die Bundesregierung
dafür Mittel zur Verfügung stellen. Die DZT muss, um
leistungsstärker tätig werden zu können, direkt in der
Hauptstadt präsent sein,
nachdem Politik und Wirtschaft inzwischen hier ihr Do-
mizil gefunden haben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren – –
Frau Kollegin, ich
bitte Sie, zum Schluss zu kommen.
Wir haben 2001, das
Jahr des Tourismus. Lassen Sie uns alles daransetzen, die
Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Tourismus gemein-
sam zu stärken. Tourismuspolitik ist Mittelstandspolitik
und Mittelstandspolitik ist Beschäftigungspolitik.
Vielen Dank.
Jetzt erteile ich der
Kollegin Birgit Roth von der SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag derCDU/CSU-Fraktion ist mit den Worten betitelt: Wettbe-werbsfähigkeit der deutschen Tourismuswirtschaft stär-ken. Ich möchte Ihnen in den nächsten Minuten anhandvon Fakten belegen, dass genau das in den letzten zweiJahren unsere Politik gewesen ist und natürlich auch wei-terhin sein wird.
Um erst gar nicht in den Geruch zu kommen, ein Ten-denzgutachten oder eine Tendenzumfrage zu verwenden,möchte ich mich im Folgenden auf die Zahlen der DIHT-Saisonumfrage Tourismus beziehen. Ihnen, HerrBurgbacher, muss ich zunächst einmal sagen, dass Sie nurdie Hälfte zitiert haben, denn der Satz heißtGastgewerbe gespalten: Gastronomie im Minus,– worauf Sie sich ja bezogen haben – und geht dann wei-ter mit:Beherbergungsgewerbe im Plus.
Ich möchte einige Zahlen aus der Umfrage herausgrei-fen. Sie werden feststellen, dass 43 Prozent der Befragtendie Geschäftslagemomentan als befriedigend beurteilen,und – das finde ich ganz erheblich, meine sehr verehrtenDamen und Herren von der Opposition – 40 Prozent derBefragten beurteilen die Geschäftslage als gut.
Mit anderen Worten: Das sind knapp über 80 Prozent.Und da wollen Sie sagen, dass die Wettbewerbsfähigkeitim Tourismusgewerbe nicht gegeben sei?
Es tut mir Leid, da kann ich Ihnen nicht ganz folgen.Ein nächstes Beispiel sind die Umsatzzahlen. Ich fandes sehr beeindruckend, dass Sie vorhin auf den Umsatzeingegangen sind. 34 Prozent der Befragten sagen, der
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Edeltraut Töpfer14926
Umsatz sei gleich geblieben, und 44 Prozent – man höreund staune – sagen sogar, der Umsatz sei gestiegen.
Herr Hinsken hat vorhin gesagt, es gebe Existenzängs-te. Auch hier sind es wieder 80 Prozent der Befragten, diepositive Zahlen, aber vor allem auch positive Erwartun-gen und entsprechende Umsätze haben.
Übrigens haben Sie in der vorigen Debatte die Staats-sekretärin Barbara Hendricks hier herzitiert, weil sie kurzdraußen gewesen ist. Mit Verlaub, meine sehr verehrtenDamen und Herren von der Opposition: Herr Hinsken warIhr erster Redner, und ich möchte auf ein paar Punkte sei-ner Ausführungen eingehen, aber er ist einfach gegangen.Ich muss sagen, das finde ich auch nicht in Ordnung.
Noch einige weitere Fakten. Es gab – Herr Staatsse-kretär Mosdorf hat es ja bereits erwähnt – am Dienstag inFrankfurt eine Pressekonferenz von Frau Schörcher, derLeiterin der DZT, der Deutschen Zentrale für Tourismus-wirtschaft. Sie hat ganz klar gesagt: Von Januar bis No-vember wurden 37,2 Millionen Übernachtungen auslän-discher Gäste gezählt. Das ist ein Plus von 10 Prozent.Wenn Sie sich die Übernachtungszahlen für die inländi-schen Gäste anschauen, dann werden Sie sehen: Hier ha-ben wir eine Steigerungsrate von 5,3 Prozent. Da muss ichSie wieder fragen: Wie kann es denn sein, dass dann an-geblich die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbe-dingungen, sprich die Wettbewerbsfähigkeit, nicht gutsind? – Das Gegenteil ist der Fall.
Nehmen Sie den Städtetourismus! Frau Töpfer hates ja bereits angesprochen. Sie haben auch beim Städte-tourismus für Berlin Zuwachsraten in zweistelligerHöhe. Wir gehen für dieses Jahr davon aus, dass wir21,2 Prozent Zugewinn in Berlin haben werden. Natür-lich ist Berlin eine Ausnahmestadt, es ist die Hauptstadt– überhaupt keine Frage. Aber nehmen Sie eines derBundesländer. Auf Platz eins steht Mecklenburg-Vor-pommern. Auch hier haben wir Zuwächse von 17 Pro-zent. Meine sehr verehrten Damen und Herren, da stim-men die Wettbe-werbsfähigkeit und die Politik bei uns inDeutschland.
Wenn Sie einfach nur einmal einige der Zahlen, die ichIhnen genannt habe, reflektieren, dann ergibt sich, dassdiese Entwicklung auch das Ergebnis einer rot-grünen Re-formpolitik ist.
Frau Kollegin, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Feibel? – Bitte
sehr, Herr Kollege Feibel.
Frau Kollegin Roth,
könnte es sein, dass die Preissteigerungen, die auch in der
Tourismusbranche nicht zu verhindern waren, bedingt
durch höhere Öl- und Treibstoffkosten,
durch höhere Energiekosten, durch die steuerliche Zu-
satzbelastung, durch alle diese Faktoren, automatisch zu
höheren Preisen – das ist auch hier in Berlin sehr gut nach-
zuvollziehen, in der Hotellerie beispielsweise – und damit
automatisch zu einem höheren Umsatz geführt haben, die-
ser höhere Umsatz aber nicht zu einer höheren Rendite
und einer besseren Kapitalausstattung der Unternehmen
geführt hat? Ist das denkbar?
Ich danke Ihnen für dieFrage, Herr Feibel.Nein, das ist nicht denkbar,
denn bedenken Sie doch nur die Steuerreform.
Die Steuerreform entlastet auf der einen Seite Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer, sie entlastet Familien,und sie entlastet gleichzeitig Unternehmen, und zwar ineiner Höhe von 75 Milliarden DM. Das müssen Sie ein-fach einmal reflektieren. Vorhin sind ja auch die AfA-Ta-bellen angesprochen worden. Wir hatten hier gerade dieDiskussion über die angebliche Belastung. Da kann ichIhnen nur sagen: Bei den AfA-Tabellen geht es um eineBelastung von 3,5 Milliarden DM, und Sie müssen diesebeiden Werte auch einmal gegenüberstellen. Ein Entlas-tungsvolumen von 75 Milliarden DM steht einer Belas-tung von 3,5 Milliarden DM gegenüber. Da muss ich Ih-nen ganz einfach sagen: Nein, denn das Entlastungs-volumen ist massiv größer.
Oder nehmen Sie die von Ihnen vorhin zitierte Öko-steuer. Hier sehen Sie es ganz klar. Sie nennen ja immernur den einen Teil, nämlich die Belastung. Aber es hatnoch niemand von Ihnen hier erwähnt, dass auf der ande-ren Seite die Lohnnebenkosten im Bereich der Rente re-duziert worden sind.
Wir machen eine aktive Wirtschafts- und Finanzpoli-tik. Denken Sie nur allein an die Staatsverschuldung:Die wird gerade massiv reduziert. Ferner gehen wir auch
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dieses Jahr wieder von einem Wirtschaftswachstum vonungefähr 2,7 Prozent aus.
Ganz nebenbei bemerkt: Auch die Arbeitslosigkeitbaut sich langsam, aber sicher ab. Das ist selbstverständ-lich auch ein Ergebnis der demographischen Entwick-lung, aber Sie müssen ebenso sehen, dass hier in diesemLande in den letzten zwei Jahren ungefähr 250 000 neue,moderne und – das ist ganz besonders wichtig, HerrFeibel; vielleicht hören Sie mir bitte zu – vor allem ebenauch sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze entstan-den sind. Das wurde bereits vorhin in der Debatte um die630-Mark-Jobs angesprochen.
Ich kann auch hier Ihre Argumentation nicht nachvoll-ziehen, weil ich im Tourismusbereich keine 630-Mark-Jobs haben möchte; denn das, was unter anderem auch inIhrem eigenen Antrag steht, betrifft ja eine Qualitätsof-fensive. Wir brauchen Fachservicekräfte, und diese arbei-ten in erster Linie auf ganz normalen Arbeitsplätzen undnicht in 630-Mark-Jobs.
Mit dem Antrag zum Tourismusförderprogramm ge-hen wir den eingeschlagenen Weg konsequent weiter.
Ich möchte mich an dieser Stelle nochmals bei FrauBrunhilde Irber für ihr großes Engagement für diesen An-trag bedanken. Darin finden Sie in erster Linie, dass wiruns für eine Dachmarke im Tourismus und für weitereKompetenzzentren in diesem Bereich stark machen. Esgibt mittlerweile 24 E-Commerce-Bildungszentren, einesdavon im Tourismusbereich, und zwar in Worms.Vorhin haben Sie gesagt, dass Herr Minister Müller an-geblich nur ankündigen würde.
Mit Verlaub: Es sind 24 neue Kompetenzzentren entstan-den, insbesondere aufgrund des Engagements von Minis-ter Müller.
Ihnen muss ich erst recht vorhalten, dass die Mittel für dieDZT jetzt zum ersten Mal wieder erhöht wurden. WennSie sich die letzte Finanzplanung Ihrer Regierungszeit an-sehen würden, würden Sie sehen, dass Sie selbst die Mit-tel für die DZT von ungefähr 40 Millionen DM auf27 Millionen DM gekürzt hätten. Nur durch den Einsatzvon Minister Müller konnten die Mittel sogar noch auf42 Millionen DM erhöht werden.
Sie kritisieren den angeblich mangelnden Abbau vonBürokratie. Wer von uns beiden hat denn wirklich Ra-battgesetz und Zugabeverordnung abgeschafft bzw. istdabei, sie abzuschaffen? Sie wissen ganz genau, dass dieZugabeverordnung sehr alt, nämlich aus dem Jahre 1933ist. Deutsche Anbieter im Internet sind beispielsweisesehr negativ davon betroffen,
weil alle anderen Anbieter höhere Rabatte geben können.Dann sagen Sie: Wir können das Rabattgesetz wegendes Mittelstandes nicht abschaffen. Ich bitte Sie! Ich habedurch Zufall etwas dabei, nämlich ein tolles Beispiel füreine Rabattkarte, und zwar für den Mittelstand, die ichheute in der Post hatte.
– Das ist richtig, momentan ist es noch unerlaubt. Aberwir sind dabei, Rabattgesetz und Zugabeverordnung ab-zuschaffen. Hier haben sich ungefähr 150 mittelständi-sche, kleine Betriebe zusammengeschlossen. Sie müssenmir jetzt einmal erklären, weshalb sich die Abschaffungdes Rabattgesetzes nicht positiv auf den Mittelstand aus-wirkt.
Eines muss ich noch zur Kritik von Herrn Hinsken ander Reform des Betriebsverfassungsgesetzes sagen. MitVerlaub, meine sehr verehrten Damen und Herren von derOpposition, das Betriebsverfassungsgesetz ist aus demJahre 1972. Sie kennen ganz genau die wirtschaftlicheDynamik. Ich glaube, es ist unser aller Pflicht, auch dieIhre, auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zuunterstützen,
dass wir es schaffen, auch sie an dem Modernisierungs-prozess teilhaben zu lassen.
Frau Kollegin, den-
ken Sie bitte an die Redezeit.
Ja. – Niemand hat ein
größeres Interesse an dem Wohlergehen der Betriebe als
die eigenen Betriebsräte. In diesem Sinne bitte ich Sie um
Zustimmung zu unserem Antrag.
Danke schön.
Ich schließe die Aus-sprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 14/5315, 14/5313, 14/4153 und14/4635 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? –Dann ist das so beschlossen.
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Birgit Roth
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Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten BirgitSchnieber-Jastram, Karl-Josef Laumann, BrigitteBaumeister, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSUBeschäftigung älterer Arbeitnehmer durchQualifizierung sichern – drohendem Arbeits-kräftemangel vorbeugen– Drucksache 14/5139 –ÜberweisungsvorschlagAusschuss für Arbeit und Sozialordnung
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für GesundheitAusschuss für Bildung, Forschung und Technik-folgenabschätzungNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für dieCDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Birgit Schnieber-Jastram.
Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir kommenjetzt zu einem Thema, bei dem man nicht in der Weiseschönmalen kann, wie wir das eben erlebt haben, nämlichzur Arbeitslosigkeit älterer Menschen, die in diesemLand – ich glaube, das wissen wir alle – erschreckendhoch ist. Ich bin sicher, dass wir quer durch die ParteienAbhilfe schaffen wollen.Das Problem betrifft rund 800 000 Menschen. Ich redevon denjenigen, die älter als 55 Jahre alt sind. Im Übrigenist das heute kein Alter mehr. Viele fühlen sich in diesemzünftigen Alter noch sehr jung.
– Bei dieser Aussage hätte auch der eine oder andere vonder SPD klatschen können.
– Danke schön.
Wir reden über Menschen, die, bevor sie ihren Arbeits-platz verloren haben, jahrzehntelang fleißig einem Berufnachgegangen sind und Steuern und Sozialabgaben ge-zahlt haben. Plötzlich gehören sie zum alten Eisen, zu denVerlierern. Diese Zahl stellt nur die Spitze des Eisbergsdar. Jeder kann heutzutage im Arbeitsamt miterleben, wiees einem 45-jährigen Erwerbslosen geht. Ihm wird direktgesagt: Vielen Dank für Ihren Besuch, aber Sie sind zu alt,Sie haben keine Chancen mehr.Wenn man sich den europäischen Vergleich anschaut,stellt man fest, dass Deutschland bei den über 50-Jährigenmit einer Erwerbstätigenquote von 39 Prozent 10 Pro-zentpunkte unter dem europäischen Durchschnitt liegt.Dies ist für uns kein Ruhmeszeichen.Das Kuriose ist, dass diese Entwicklung vor dem Hin-tergrund von Prognosen abläuft, die ab 2005 vor einemMangel an qualifizierten Arbeitsplätzenwarnen. Sechsvon zehn Arbeitnehmen werden dann älter als 40 Jahre altsein, ein Viertel sogar älter als 50 Jahre. Für 2030 wirdprognostiziert, dass jeder zweite Deutsche älter als50 Jahre alt sein wird. Das sind in jeder Hinsicht Alarm-zeichen. Der Mangel an Fachkräften ist vorprogrammiert.Wenn wir nicht bereits heute die Weichen stellen, ältereErwerbstätige im Beruf zu halten und weiter zu qualifi-zieren, dann wird es ein böses Erwachen geben.
Welchen Schaden der Mangel an qualifizierten Arbeits-kräften für die Volkswirtschaft bedeutet, ist absehbar. Hierbesteht für Politik und Wirtschaft akuter Handlungsbe-darf. Das wissen wir alle miteinander.Die Phrase vom lebenslangen Lernen müssen wirendlich mit Inhalten füllen, damit auch in Zukunft erst-klassige Fachkräfte aller Altersstufen in unseren Betrie-ben arbeiten. Jenseits aller ökonomischen Gesichts-punkte müssen wir wissen: Menschen sind keineMaschinen, die nach abgelaufener Abschreibungsfristgeleisteter Arbeit in Rente und Erwerbslosigkeit entsorgtwerden können, wenn neue Modelle am Markt auftau-chen. Vergessen wir nicht, dass menschliche Arbeit ebennicht nur materielle Versorgung bedeutet, sondern auchetwas mit Würde, Selbstbewusstsein und sozialer Teil-habe zu tun hat.
Wir reden über ein ernstes Thema, das nicht nur hun-derttausende Einzelschicksale betrifft, sondern in einigenJahren unsere Volkswirtschaft nachhaltig beeinflussenwird. Deshalb möchte ich den nachfolgenden Rednern– Herrn Ostertag und Frau Dr. Dückert – einen Vorschlagzur Dramaturgie der Debatte machen. Streiten wir nichtüber Prozentpunkte und Zahlen, sondern denken wir ge-meinsam über vernünftige und pragmatische Lösungennach, wie wir den älteren Erwerbslosen eine neue Chanceauf ein Beschäftigungsverhältnis eröffnen können.
Ich gestehe Ihnen gerne zu – damit habe ich keine Pro-bleme –, dass die Zahlen des Arbeitsmarktes besser ge-worden sind. Ich will nur in einem Nebensatz anmerken– weil das immer schöngeredet wird –, dass dies zu ei-nem Gutteil der Frühverrentung, der Altersteilzeit unddem erleichterten Bezug von Arbeitslosengeld für ältereMenschen zuzuschreiben ist. Wir wissen alle miteinan-der, dass allein 100 000 Menschen die vorruhe-standsähnliche Regelung gemäß § 428 SGB III, also Ar-beitslosengeld unter erleichterten Voraussetzungen, inAnspruch nehmen.Damit Sie sich von der Regierungskoalition, insbeson-dere von der SPD, im Folgenden konzentrierter mit unse-rem Antrag beschäftigen, will ich gern auch das berühmteProgramm „50 Plus“ erwähnen. Dies ist ein Programmder Bundesregierung, das vielleicht ein gut gemeinterSchritt ist; aber die Substanz der dort vorgeschlagenenMaßnahmen ist nicht nur meiner Meinung nach sehr
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Vizepräsidentin Anke Fuchs14929
mager. Ich will Ihnen aber die Peinlichkeit ersparen, die-ses Programm, das eher Absichtserklärungen beinhaltet,zu diskutieren.
Ich möchte vielmehr die Mehrheit der Abgeordnetendes Hauses davon überzeugen, dem von der CDU/CSUeingebrachten Antrag zuzustimmen. Ich glaube, es istauch Sinn einer Debatte im Parlament, sich von gutenVorschlägen überzeugen zu lassen. Dass ein solches Vor-gehen kein sinnloses Unterfangen ist, zeigt die Absichtder Regierungskoalition, jetzt ein „Job-Rotation“-Pro-gramm aufzulegen.
Ich habe mich sehr darüber gefreut, als Herr Thönnes hiervor einer Woche diese Absicht verkündet hat. Offensicht-lich ist es sogar ihm aufgefallen, dass Ihre Regierung beidiesem Programm nicht in die Puschen gekommen ist.
Ich halte dieses Modell für einen sehr guten Weg, einer-seits älteren Arbeitslosen die Möglichkeit zur Qualifizie-rung im Beruf zu bieten und andererseits älteren Arbeit-nehmern eine Chance zu einer weiteren Qualifizierung imBeruf zu eröffnen. Wie gesagt: Ich war über die Absichtder Regierungskoalition, dieses Modell in Deutschland zupraktizieren, hoch erfreut.Etwas verwundert war ich allerdings, als ich vor einerWoche Herrn Thönnes hörte, der sagte: Wir werden einenAntrag in den Deutschen Bundestag einbringen, mit demwir die „Job-Rotation“ fördern wollen. Ein solcher Antragliegt tatsächlich druckfrisch vor. Dieses Vorhaben ge-schieht jedoch ziemlich genau ein Jahr, nachdemCDU/CSU das Gleiche in einem ausführlichen Antrag ge-fordert haben.
Dieser Antrag mit der Drucksachennummer 14/2909schmort seitdem im Ausschuss. Sie waren und sind herz-lich eingeladen, diesen Antrag gemeinsam mit derCDU/CSU-Fraktion schnellstmöglich vom Bundestagverabschieden zu lassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitions-fraktionen, Sie hätten sich viel Energie für dringlichereAufgaben sparen können, etwa für die Ausarbeitung einerdurchdachteren Rentenreform oder eines durchdachterenBetriebsverfassungsgesetzes. Aber von all dem abgese-hen: Es sieht doch nicht gut aus, wenn die Regierungs-parteien Anträge der Opposition zuerst ignorieren unddann plagiieren. Wir bitten höflichst um die Beachtungdes Urheberrechtes.
– Seit zwei Jahren ist Ihre Partei an der Regierung, FrauLotz, und auf diesem Feld haben Sie nichts getan.
Alles, um was wir höflichst bitten, ist die Einhaltungdes Urheberrechtes. Es waren CDU und CSU, die als erstePartei die Idee einer „Job-Rotation“ in den DeutschenBundestag eingebracht haben. Basta!
– Das ist doch keine Frage. Wir wissen, dass das Modellpraktiziert wird. Aber wir waren die Ersten, die es imDeutschen Bundestag eingebracht haben, und freuen uns,wenn Sie es jetzt machen wollen.Davon abgesehen: Befürworten Sie doch einfach denheute zur Debatte stehenden Antrag, denn er fordert alsersten Punkt die Einführung einer „Job-Rotation“. Stim-men Sie einfach zu, denn es ist wirklich der schnellsteWeg, um die Sache zum Laufen zu bringen. Außerdem le-gen wir in unserem Antrag neun weitere vernünftige Ini-tiativen vor. Ich nenne als Beispiel die Förderung von Wei-terbildungsverbünden.Warum sollen sich Unternehmennicht zusammenschließen, um im Verbund Weiterbildunganzubieten? Fördern Sie das und ermöglichen Sie eine Un-terstützung durch die Bundesanstalt für Arbeit. Was sprichtgegen die Möglichkeit, den gesetzlichen Bildungsurlaubin Absprache zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeberauch für die betriebliche Fortbildung zu nutzen?Klar ist, dass wir älteren Arbeitnehmern und Erwerbs-losen nur durch die Zusammenarbeit mit den Tarifpart-nern wirklich helfen. Einige unserer Vorschläge zielen da-rauf ab; ich nenne etwa die Einrichtung von lokalenNetzwerken zur Beratung und gezielten Förderung ältererArbeitsloser oder die verstärkte Einbeziehung von Wei-terbildungsmaßnahmen in Tarifverträge. Das sindMaßnahmen, mit denen man die Qualifizierung ältererArbeitnehmer wirklich vorantreiben kann.
Gefordert sind übrigens auch die Unternehmen, diespeziell bei der Umsetzung anspruchsvoller und kontinu-ierlicher Weiterbildung noch eine Menge aufzuholen ha-ben. Man sollte nicht nur nach weiter reichenden Green-Card-Regelungen rufen, sondern sich auch darumbemühen, ältere Mitarbeiter, Fachleute, jene über45 Jahre, nicht nur in die Rente oder auf das Arbeitsamt,sondern in die betriebseigene Qualifizierung zu schicken.Ich glaube, dass das ein sehr guter Weg ist, und denkenicht, dass wir noch sehr viel Zeit haben, den problemati-schen Entwicklungen länger tatenlos zuzusehen.Unser Antrag sieht vor, Arbeitgebern, die spezielleQualifizierungsmaßnahmen anbieten, und Arbeitneh-mern, die solche Maßnahmen wahrnehmen, Abschlägebei den Beiträgen zur Rentenversicherung und zurArbeitslosenversicherung zu gewähren; denn wir glau-ben, dass man diesen Bereich durch entsprechende An-reize ein Stückchen anschieben muss. Von einem sol-chen Anschub hätten alle Beteiligten etwas.
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Birgit Schnieber-Jastram14930
Das war ein Auszug aus den zehn Punkten, deren Um-setzung wir von der Bundesregierung in unserem Antraggefordert haben, um die Erwerbschancen und die Quali-fizierung älterer Arbeitnehmer zu verbessern. Ich würdemich freuen, wenn Sie nicht wieder so handeln würden,wie Sie es im Hinblick auf unser Job-Rotations-Pro-gramm getan haben, nämlich die Vorschläge abzulehnen,nur weil sie von der Opposition stammen, um ein Jahrspäter die Richtigkeit unserer Vorschläge einzugestehenund dann die eigene Regierung aufzufordern, endlich et-was zu tun.
Ich hoffe, dass Sie dem von uns vorgelegten Antrag imSinne der älteren Arbeitslosen zustimmen werden. Ichfreue mich auf die zukünftige Debatte. Ich befürchte al-lerdings, dass wir im Ausschuss lange über unsere Vor-schläge diskutieren werden, bevor wir im Bundestag da-rüber abschließend beraten können. Ich bitte Sie: LassenSie uns nicht zu viel Zeit verschwenden und lieber schnellentscheiden! Die Lage auf dem Arbeitsmarkt bedarf drin-gend einer Verbesserung.Danke.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Adolf Ostertag
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Es ist erfreulich, dass sichdie Union endlich mit diesem Thema befasst.
Man kann nachlesen, dass die Union im Laufe des letztenJahres insgesamt vier Initiativen zu diesem unbestrittenwichtigen Thema gestartet hat, nämlich zwei Kleine An-fragen und zwei Anträge. Eine Antwort auf eine der bei-den Kleinen Anfragen liegt schon relativ weit zurück.Aber Konsequenzen sind daraus eigentlich nicht gezogenworden, vor allen Dingen nicht in dem jetzt vorliegendenAntrag. Das bedauere ich außerordentlich. Wir haben dieAnträge, die die Union im Verlauf des letzten Jahres ge-stellt hat, nicht ignoriert. Wir haben politisch gehandelt,im Gegensatz zu Ihnen: Sie haben in den vielen Jahren, indenen Sie in der Regierungsverantwortung waren, nichtgehandelt.Frau Schnieber-Jastram, Sie haben auch die Entwick-lung auf dem Arbeitsmarkt angesprochen. Es ist be-kannt, dass die Arbeitslosenzahl erheblich zurückgegan-gen ist.
Ich glaube, das ist der größte Erfolg, den diese Regierungneben anderen bei diesem Thema, über das wir heute de-battieren, aufzuweisen hat.
Seit Antritt der rot-grünen Regierung ist die Arbeitslosen-zahl kontinuierlich verringert worden. Die Erwerbstäti-genzahl – dieser Aspekt ist genauso wichtig – ist um1Million gestiegen. Das korrespondiert natürlich mit demRückgang der Arbeitslosigkeit. Eigentlich hätte sich diegestiegene Zahl der Arbeitsplätze – das ist der wichtigsteIndikator – noch stärker auf dem Arbeitsmarkt bemerkbarmachen sollen. Trotzdem kann sich die Zahl von 1 Mil-lion neuer Arbeitsplätze sehen lassen.
Sie haben anscheinend nicht gemerkt – das ist ein wei-terer wichtiger Indikator –, dass die Zahl der Arbeitslosenüber 55 Jahre im letzten Jahr im Durchschnitt um fast12 Prozent zurückgegangen ist, stärker als in allen ande-ren Problembereichen des Arbeitsmarktes. Darauf sindwir stolz. Das ist letzten Endes das Ergebnis unserer Poli-tik. Das ist ein gutes Zwischenergebnis, das die Opposi-tion auch einmal zur Kenntnis nehmen sollte.
Ich behaupte nicht, dass wir mit dieser Entwicklung zu-frieden sind. Wir wollen – darauf komme ich noch zusprechen – noch mehr erreichen. Darauf können Sie sichverlassen!Im internationalen Vergleich steht Deutschland nichtso schlecht da, wie Sie glauben machen wollen. Mansollte natürlich nicht die Zahlen von 1990 bis 1995 neh-men. Die aktuellen Daten von Eurostat belegen, dass dieQuote der Erwerbstätigen im Bereich der 50- bis unter65-Jährigen im Jahr 1999 bei 48,2 Prozent lag, also nichtbei 39 Prozent, die Sie angeführt haben. Damit liegtDeutschland im Durchschnitt der Europäischen Union.Mit ihrem beschäftigungspolitischen Aktionsplan wirddie Bundesregierung ihre Anstrengungen natürlich fort-setzen; das ist überhaupt keine Frage. Die EuropäischeKommission hat unsere Arbeit anerkannt und bestätigt,dass wir auf einem guten Weg sind. Trotzdem müssen dieBeschäftigungsquote und die Beschäftigungschancen derälteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weiter ver-bessert werden.In dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion steht, dass manüber die momentane Situation erschrocken sei. Wenn Sieschon erschrecken, dann doch bitte über die Arbeits-marktpolitik, die in den letzten 16 Jahren der Kohl-Regierung betrieben wurde; denn die Millionen von Ar-beitslosen sind ja nicht in den letzten zwei Jahren derrot-grünen Regierung vom Himmel gefallen. Dieses Pro-blem hat sich vielmehr über lange Zeit entwickelt, ge-nauso wie die Probleme der Langzeitarbeitslosigkeit undder älteren Arbeitslosen. Das ist also ein erschreckendesErgebnis Ihrer Politik und nicht dessen, was in den letztenzwei Jahren gemacht oder nicht gemacht worden ist; dasmuss man hier fairerweise auch sagen.
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Birgit Schnieber-Jastram14931
Wenn Sie zum Beispiel die Antwort auf Ihre KleineAnfrage nachgelesen hätten, hätten Sie feststellen kön-nen, dass die von Ihnen vorgeschlagenen Maßnahmenvon der Bundesregierung längst auf den Weg gebrachtworden
– ich komme darauf zu sprechen, Frau Schnieber-Jastram – oder auch im Bündnis für Arbeit in enger Zu-sammenarbeit mit den Tarifvertragsparteien, also Arbeit-gebern und Gewerkschaften, vorbereitet worden undwirksam geworden sind. Daraus resultiert der Abbau derArbeitslosigkeit in dieser Altersgruppe um beinahe12 Prozent in einem Jahr.
Nehmen Sie das doch bitte zur Kenntnis!Ich nutze deswegen die Gelegenheit, Ihnen hier bei ei-nigen Punkten auf die Sprünge zu helfen und ein paarWahrnehmungslücken in Bezug auf die Arbeitsmarktpo-litik zu schließen. Ich glaube, dass das wichtig ist. Wir ha-ben – Sie haben es vielleicht schon vergessen – im August1999 mit dem Zweiten Änderungsgesetz zum SGB IIIwichtige Akzente im Hinblick auf eine verstärkte Qualifi-zierung von älteren Arbeitslosen gesetzt. Durch die Sen-kung der Altersgrenze von 55 auf 50 Jahre können jetzt fürnoch mehr ältere und vor allem Langzeitarbeitslose Ein-gliederungszuschüsse gezahlt werden. Für ältere Arbeit-nehmer im Osten haben wir spezielle Strukturanpas-sungsmaßnahmen eingeführt; auch dies ist positiv zuBuche geschlagen.
Herr Kol-
lege Ostertag, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Meckelburg?
Natürlich.
Bitte.
Herr Ostertag,
ich hätte die Frage nicht gestellt, wenn Sie jetzt nicht
zwei-, dreimal wiederholt hätten, dass im Bereich der Äl-
teren die Arbeitslosenquote sehr stark gesunken ist. Wir
haben dieses Thema angesprochen, weil wir darauf hin-
weisen wollten, dass wir nicht weiter den Weg gehen kön-
nen, immer mehr Leute in Altersteilzeit zu bringen. Stim-
men Sie mir also zu, dass Altersteilzeit eigentlich etwas
anderes – hier geht es darum, Menschen früher aus dem
Arbeitsleben heraus und in die Rente zu bringen – als das
ist, was Absicht unseres Antrags ist, nämlich ältere Ar-
beitnehmer stärker und länger im Arbeitsleben zu halten
und damit eine Beseitigung des absehbaren Fachkräfte-
mangels zu unterstützen?
Herr Meckelburg, auf dasThema Altersteilzeit komme ich gleich noch zu sprechen,weil das einer der Punkte ist, der natürlich auch zu demInstrumentenkasten gehört. Sie kommen ja auch aus derProblemregion Ruhrgebiet, wo wir in den letzten Jahr-zehnten viele Erfahrungen mit dem Strukturwandel ge-macht haben. Ich bin davon überzeugt, dass dieses In-strument, das wir ausgebaut haben, weiterhin einenStellenwert haben wird. Es ist immer noch ein besseresInstrument als das, was wir vor zehn Jahren hatten,
als mit einer ganz breiten Palette von Sozialplänen teil-weise sogar 50-, 51-Jährige in den Vorruhestand geschicktworden sind und dies insbesondere von Sozialkassen fi-nanziert worden ist. Diese Politik der damaligen Regie-rung wollen wir nicht fortsetzen, sondern wir wollen Äl-teren behutsam eine Chance geben, im Arbeitsleben zubleiben, und zugleich einen gleitenden Ausstieg ermögli-chen. Deswegen gehört dies zu den Instrumenten, zu de-nen wir uns ausdrücklich bekennen.
– Nein, das reicht nicht. Deswegen werde ich auch gleichnoch auf eine Reihe weiterer Punkte eingehen und nach-weisen, wo wir etwas unternommen haben.Zuletzt habe ich etwas zum Thema Strukturanpas-sungsmaßnahmen im Zusammenhang mit der Änderungdes SGB III gesagt. Zu dieser Reform des SGB III habenSie im Grunde genommen nur erklärt, es sei ein Auf-blähen des Sozialhaushalts und eine Bürokratisierung.Die Zahlen sprechen aber dafür, dass die Reform richtigwar. Die überdurchschnittliche Senkung der Arbeitslosig-keit bei Älteren schlägt sich eben ganz konkret nieder.Wir werden in den Betrieben auch künftig keine olym-piareifen Mannschaften haben, gerade nicht bei den Älte-ren.
Wir wollen eine Arbeitswelt, in der jeder, egal, wie alt erist, seinen Platz finden kann und Chancen des Wiederein-stiegs hat. Deswegen unterstützen wir hier eine ganzeReihe von Aktivitäten in der Arbeitszeitpolitik, insbeson-dere Arbeitszeitmodelle. Gerade im Bündnis für Arbeitsind einige wichtige Weichenstellungen vorgenommenworden. Dazu gehört zum Beispiel das Thema Altersteil-zeit, weil, meine Damen und Herren von der Union, dasAltersteilzeitgesetz an diesem Punkt ansetzt.
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Adolf Ostertag14932
– Herr Niebel, Sie können sich gerne noch einbringen.
Ich möchte noch auf eine Zahl hinweisen, die deutlichmacht, wie dieses Gesetz angenommen wird.
– Ja, Altersteilzeit. – Innerhalb eines Jahres ist die Anzahlder entsprechenden Tarifverträge von 349 auf 530 gestie-gen; das ist eine gute Entwicklung. Dieses Instrumentwird vor allen Dingen in Problembereichen angewandt.Wir dürfen uns nichts vormachen: Der Strukturwandel indiesem Land hört nicht auf, weil wir ihn in großen Regio-nen, in den neuen Ländern oder vielleicht in einigen Bran-chen hinter uns gebracht haben, sondern er geht weiter.Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass das Gesetz zur Al-tersteilzeit vielen älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmern geholfen hat. Das gilt übrigens auch – das istganz klar – für die Betriebe.
Des Weiteren haben wir – auch das ist hier zu erwäh-nen – auf den Gebieten „Teilzeit“ und „befristete Arbeits-verträge“ einen Fortschritt gemacht. Seit dem 1. Januardieses Jahres ermöglicht das Gesetz über Teilzeit undbefristete Arbeitsverträge, Arbeitslose ab dem 58. Le-bensjahr ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes in einbefristetes Arbeitsverhältnis zu übernehmen.
Mit den Instrumenten „Teilzeit“ und „befristete Arbeits-verträge“ werden wir in den nächsten Monaten und Jah-ren eine weitere Entspannung gerade dieses Sektors derArbeitslosigkeit zustande bringen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass es uns gelingenwird, diesen Weg fortzusetzen und die Quote erwerbstäti-ger älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu stei-gern.Frau Schnieber-Jastram, Sie haben angesprochen, dasswir, was Job-Rotation angeht, erst auf Ihre Aktion hinund daher sehr spät reagiert haben. Wie Sie wissen, pla-nen wir – wir haben ein Vorschaltgesetz verabschiedet –eine Reform des SGB III.
Das Thema Job-Rotation und auch einige andere Punktewerden – darauf können Sie sich verlassen – im Rahmender SGB-III-Reform angepackt werden.
Auch unsere Regierung hat ein Konzept für ihre Arbeit.Wir führen kontinuierlich eine Reform nach der anderendurch und wir werden die SGB-III-Reform in dieser Le-gislaturperiode auf den Weg bringen.
Das Thema Job-Rotation wird dabei einen hohen Stellen-wert haben.
Man muss auch fragen, warum Sie zum Thema Job-Rotation 16 Jahre lang – das ist eine lange Zeit – keinenAntrag eingebracht haben. Warum wurde nichts unter-nommen?Ihr Antrag, in dem zehn Punkte aufgelistet werden, istein Sammelsurium von Forderungen, die entweder fernabder Wirklichkeit sind – ich komme auf einige noch zusprechen – oder die durch Regierungshandeln und durchdas Handeln im Bündnis für Arbeit längst erledigt sind.
Einige Ihrer Forderungen sind mit uns allerdings nichtzu machen.
Sie wollen die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversiche-rung und zur Arbeitslosenversicherung senken, wenn äl-tere Arbeitnehmer eingestellt werden. Wir können undwerden dem nicht zustimmen. Ich glaube, dass diese For-derung falsch ist. Wir wollen weder die Rentenversiche-rung noch die Arbeitslosenversicherung weiter ausblutenlassen; vielmehr wollen wir sie stärken.
Wir haben in dieser Legislaturperiode einige Gesetz-entwürfe eingebracht und verabschiedet, durch die die ge-setzlichen Solidarsysteme gestärkt und nicht geschwächtwerden.
Ich glaube, Sie wollen die Rentenkasse mutwilligschwächen und die älteren Menschen zugleich als eineArt Discountarbeitskraft verramschen.
Das wollen wir nicht machen. Es wäre gegenüber den äl-teren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern unredlich,wenn ihr Arbeitgeber plötzlich keine Beiträge zur Ar-beitslosen- oder Rentenversicherung mehr zahlen würde.Meine Fraktion und ich, wir halten diesen Weg für ver-kehrt. Die Politik der Bundesregierung hat andere An-sätze, die ich teilweise schon genannt habe.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Adolf Ostertag14933
Die Mittel für das lebensbegleitende Lernen – auchdas ist in Ihrem Antrag genannt – haben wir in den letztenzwei Jahren verdoppelt. Während Ihres letzten Regie-rungsjahres standen dafür gerade einmal 100 Milli-onen DM zur Verfügung, inzwischen sind es 200 Milli-onen DM.
Warum waren Sie in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeitnicht aktiv? Warum legen Sie jetzt plötzlich vollmundigeinen Katalog von Forderungen vor?Ich verweise auf das von Ihnen angesprochene Pro-gramm „50 plus – die können es“. Das ist eine gute Ak-tion der Arbeitsämter, die von einer Kampagne begleitetwird, die in der Öffentlichkeit und insbesondere mit Blickauf die Arbeitgeber, Aktivitäten entfalten soll.Ich möchte auch auf das Beispiel der betrieblichenWeiterbildung eingehen. Ich glaube, dass die betriebli-che Weiterbildung ein wichtiges Instrument ist, um älte-ren Menschen wieder eine Perspektive zu geben oder sieim Betrieb zu halten. Hier verweise ich aber in der Tat aufdas, was im Bündnis für Arbeit vereinbart worden ist undauch die Arbeitgeber selbst so sehen: Sie wollen keinediesbezüglichen gesetzlichen Regelungen, sie wollen die-sen Bereich in der betrieblichen Verantwortung belassen.Ich glaube, da gehört er letzten Endes auch hin.Meine verehrten Damen und Herren insbesondere vonder Unionsfraktion, Sie werfen uns in Ihrem Antrag vor,die Bundesregierung verharre in Untätigkeit.
Wenn man diese Punkte, die ich genannt habe, als Bei-spiele nimmt, dann zeigt sich, dass wir tatsächlich einigeSchritte vorangekommen sind. Es kann doch nicht sein,dass Sie das wirklich ernst meinen. Sie sollten besserIhren Antrag nicht weiter verfolgen,
sondern uns unterstützen, wenn wir konsequent die Ar-beitsplatzfrage von älteren Arbeitnehmern in den Mittel-punkt von Diskussionen stellen, zum Beispiel bei den Dis-kussionen um die SGB-III-Reform. Das ist ganz wichtig.Sie sollten das unterstützen, was die Arbeitsämter ma-chen; ich glaube, das wäre der richtige Weg.Wir werden bei der anstehenden SGB-III-Reform nichtnur das Thema Jobrotation in Angriff nehmen, sondernwir werden auch weitere Schritte in Richtung auf Wie-dereingliederung von älteren Arbeitslosen in den Ar-beitsmarkt machen. Das ist wohl auch angesichts der Ent-wicklung der Zahlen angesagt.
Herr Kol-
lege Ostertag, kommen Sie bitte zum Schluss.
Wir werden die Arbeitsmarkt-
politik auf hohem Niveau fortsetzen. Im Ansatz sind in-
zwischen 44 Milliarden DM für die aktive Arbeits-
marktpolitik vorgesehen.
Bei Ihnen waren gerade einmal 37 Milliarden DM für die
aktive Arbeitsmarktpolitik vorgesehen, als Sie abgewählt
wurden. Inzwischen haben wir zusätzlich noch 1 Million
Arbeitslose weniger, wenn man das im Vergleich zu die-
sem Zeitpunkt sieht. Ich glaube, dass die Anstrengungen,
die wir unternommen haben, richtig waren.
Jetzt
kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich lade Sie ein: Leisten Sie ei-
nen konstruktiven Beitrag, das Arbeitsplatzrisiko der älte-
ren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu senken, und
helfen Sie mit, dass das immense Erfahrungswissen der
älteren Arbeitslosen in den Unternehmen und unserem
Gemeinwesen wieder zum Tragen kommt.
Herr Kol-
lege, ich hatte Sie jetzt dreimal gebeten, zum Schluss zu
kommen.
Diese Aufforderung richtet
sich auch an die Tarifvertragsparteien.
Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Dirk Niebel von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr ver-ehrten Damen und Herren! Ja, auch ich befürchte, dass dieRegierung ein Konzept hat, aber dieses Konzept führtnicht dazu, dass die Situation auf dem Arbeitsmarkt ver-bessert wird, sondern dazu, dass die Chancen, neueArbeitsplätze zu schaffen, erschwert werden. Dieses Kon-zept wird ebenso wie die Maßnahmen im Antrag derUnion verhindern, dass die älteren Menschen in diesemLand eine Chance auf Teilhabe am Arbeitsleben bekom-men.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Adolf Ostertag14934
Es gibt 1,2 Millionen Menschen über 50 Jahren, die ar-beitslos sind. Das faktische Renteneintrittsalter liegt mitt-lerweile bei 60,1 Jahren. Ein Zeitraum der Arbeitslosig-keit von zehn Jahren ist nicht nur für die sozialenSicherungssysteme ein Problem, sondern ganz besondersfür die betroffenen Menschen außerordentlich schwierig.Deshalb ist es dringend notwendig, dass wir sowohl diemenschlichen und sozialen Kompetenzen als auch dieFachkenntnisse, die bei älteren Menschen vorhandensind, in die Betriebe einbinden. Das werden wir nichtschaffen, Herr Ostertag, durch eine vermehrte Ausnut-zung von Altersteilzeit, weil diese dazu führt, dass die Äl-teren aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden und nicht wiederneu hereinkommen. Das ist auch nicht durch eine erhöhteSubventionierung der Einstellung von Arbeitssuchendenaufseiten der Arbeitgeber zu schaffen,
sondern das werden wir nur schaffen, wenn wir die tarif-vertraglichen Arbeitsmarkteintrittsbarrieren entschärfenund so die Möglichkeit für ältere Arbeitnehmer schaffen,wieder in den Arbeitsmarktprozess hereinzukommen.Die Union setzt mit ihrem Antrag im Wesentlichen aufSubventionen und viel zu wenig auf Eigeninitiative auf-seiten von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Lebensbe-gleitendes Lernen – die Erwerbsbiografien verändernsich ja und man bleibt nicht mehr direkt nach der Ausbil-dung sozusagen über die goldene Uhr bis zum verdientenRuhestand im gleichen Betrieb und im gleichen Beruf –setzt ein höheres Maß von Flexibilität auf beiden Seitenvoraus, bei den Arbeitnehmern und bei den Arbeitgebern.
Die Weiterbildung ist zunächst Sache der jeweiligen Be-troffenen. Das kann man durch steuerliche Anreize abfe-dern, aber das nicht ist in erster Linie Sache der staat-lichen Unterstützungskassen.Wir müssen mehr auf Prävention setzen, das heißt,man soll sich nicht erst beim Arbeitsamt melden, wennman schon arbeitslos ist oder weiß, dass man es innerhalbvon zwei Wochen wird. Man kann auch schon früher dort-hin gehen und die Vermittlungsdienste in Anspruch neh-men. Aber das alles ändert nichts daran, dass die tarifver-traglichen Eintrittshemmnisse abgebaut werden müssen.Wir haben es hier mit einem Kartell der Arbeitsplatzbe-sitzenden gegen die Arbeitssuchenden zu tun. Dieses Kar-tell müssen wir aufbrechen.
Das geht nur, wenn wir das Einkommen vom Lebens-alter abkoppeln, wenn wir zu einer Bezahlung nach derTätigkeit und nach der Leistung kommen und die Bezah-lung nach Alter und Betriebszugehörigkeit abschaffen.Denn das ist gut für die, die drin sind, etwa für einen53-Jährigen, der nach sechs Monaten Betriebszugehörig-keit unkündbar ist. Das ist aber nicht gut für die, diedraußen sind, die mit 55 vielleicht noch hineinkommenwollen. Deswegen war es falsch, die Chance von befris-teten Arbeitsverhältnissen einzuschränken.Sie müssten, da bei den 45-Jährigen jeder zweite Ar-beitslose schon länger als ein Jahr arbeitslos ist, vielmehrdie Chance von befristeten Verträgen nutzen und für Ar-beitnehmer ab 50 Jahren befristete Arbeitsverträge ohneEinschränkung ermöglichen, wenigstens aber zur altenRegelung zurückkehren; denn nur so bekommen Sie dieMenschen in den Arbeitsmarkt.
Diese Regierung hat nicht erkannt, dass es besser ist,befristet in Arbeit zu sein, als unbefristet arbeitslos zusein. Mit der Frühverrentung spielen Sie die junge Gene-ration gegen die alte aus. Die Alten werden aus dem Ar-beitsmarkt herausgedrängt. Die Jungen müssen es bezah-len. Im Endeffekt hat keiner etwas davon. So wird es nichtfunktionieren.
Herr Staatssekretär Andres hat im Bündnis für Arbeiteinen richtigen Schritt eingeleitet. Dass der Einkom-menszuschuss für ältere Arbeitslose ab 50 Jahre gewährtwerden kann, ist vernünftig; denn dieses Förderinstrumentgreift im ersten Arbeitsmarkt, wodurch in aller Regel eineneu eintretende Arbeitslosigkeit verhindert wird.Wir werden auch – das werden wir in einem Teilbe-reich zu späterer Stunde in diesem Hause noch tun – ver-mehrt über Zuwanderung reden müssen. Aber auch mitZuwanderung werden wir die Probleme des Arbeits- undFachkräftemangels nicht dauerhaft lösen. Wir müssen unsum die Menschen kümmern, die schon im Land sind. Dassind Ältere und das sind Nichtdeutsche.Kurz gesagt, es geht um Teilhabe für Ältere; wir brau-chen mehr davon. Es geht aber auch um die Sicherung derFachkompetenz für die Betriebe, die diese Kenntnisse un-bedingt brauchen, wir brauchen mehr davon. Im Endef-fekt: F.D.P., mehr davon.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Thea
Dückert von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!Es ist gut, dass wir über dieses Thema hier diskutieren.Der von der CDU/CSU eingebrachte Antrag wäre sogargut, wenn nicht mindestens 80 Prozent dessen, was darinvorgeschlagen wird, in den letzten zwei Jahren von dieserRegierung bereits angegangen worden wäre bzw. in derUmsetzung wäre.Sie haben Beispiele genannt. Das eine Beispiel ist dieJob-Rotation, Sie behaupten, Sie seien die Erfinder, dieUrheber dieses Programms. Richtig aber ist, FrauSchnieber-Jastram, dass das Programm in den vergange-nen Jahren in rot-grün regierten Ländern wie zum Bei-spiel Nordrhein-Westfalen erprobt worden ist
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Dirk Niebel14935
und dass wir das Programm auf der Basis der währenddieser Erprobung gemachten Erfahrungen jetzt im Bundals Regelinstrument in ein verändertes SGB III überneh-men können. Das ist doch die Realität.
Frau Schnieber-Jastram, wenn Sie auf einen Zug auf-springen wollen, der schon längst fährt, dann werden Sieübernächste Woche in diesem Plenum Gelegenheit haben,sich unserem Antrag, der das noch präzisiert, anzu-schließen. Dann werden wir an dieser Stelle weiterkom-men.
Sie schlagen in Ihrem Antrag vor – ich finde, das isteine gute Idee –, den Bildungsurlaub für innerbetriebli-che Bildung zu nutzen. Sie wissen aber genauso gut wieich, dass Bildungsurlaub Ländersache ist und in den Län-dern sehr unterschiedlich geregelt ist. Ich frage Sie einmal– wenn Sie doch schon dafür verantwortlich sind –, inwelchem CDU-Land Sie das schon umgesetzt haben. Wieist es denn mit dem Bildungsurlaub im CSU-Land Bay-ern? Wenn Sie hier ernsthaft diskutieren wollen, dann ma-chen Sie Vorschläge, über die wir auf Bundesebene redenkönnen.
Wenn Sie meinen, Sie seien vorne an der Bewegung, dannzeigen Sie uns doch einmal, wie Sie das in Ihren eigenenLändern regeln.
Der Antrag wäre nicht nur gut, wenn nicht schon so vielumgesetzt wäre, er wäre sogar sehr gut, wenn Sie Per-spektiven aufzeigen würden. Auch das machen Sie natür-lich nicht. Sie haben einen nur in Ihren Augen zu-kunftsgewandten Vorschlag bezüglich der Rente gemacht,nämlich dass nach 35 Jahren Mitgliedschaft in der ge-setzlichen Rentenversicherung die Rentenbeiträge abge-senkt werden sollen.
Frau Schnieber-Jastram, ich muss Sie wirklich mit al-lem Ernst fragen: Was haben wir im letzten Jahr eigent-lich gemacht? Wir haben in zähen Gesprächen über dieRentenreform gestritten. Sie hatten bis vor drei Wochennoch Gelegenheit, Änderungsanträge einzureichen. Aberwas ist passiert? – Ich habe keinen Änderungsantrag ge-sehen.
– Herr Kollege Meckelburg, Sie wissen ganz genau, dassSie eine gegenteilige Position in der Rentendebatte aufBasis eines CSU-Vorschlages eingenommen haben, derVorstellungen enthielt, wie man mit Rentnerinnen undRentnern nach 45 Beitragsjahren verfahren soll. Das istaber ein ganz anderes Thema.
Im Übrigen gibt es dabei ein Problem mit der Äquivalenzin der Rentenversicherung. Sie blasen nur die Backen auf.Sie hatten bis vor kurzem noch die Gelegenheit, sich kon-struktiv mit diesem Thema zu befassen. Sie haben dieseChance aber nicht genutzt.Ich finde Ihre Analyse „spannend“, dass es für die äl-teren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf dem Ar-beitsmarkt ein Riesenproblem gibt,
dass wir ein Qualifikationsproblem in der Zukunft be-kommen und dass wir uns damit auseinander setzen müs-sen. Um aber eine sehr gute Analyse abzuliefern, hättenSie die Ehrlichkeit und den Mut haben müssen, sich ein-mal mit der Tatsache auseinander setzen müssen, dass Siewährend Ihrer Regierungszeit den Paradigmenwechselverschlafen haben. Die Nachbarländer wie zum BeispielDänemark und Holland haben in den vergangenen Jahrenschon längst erkannt – dieser Punkt war Bestandteil IhrerVorschläge –, dass ein Renteneintrittsalter von durch-schnittlich 58 Jahren der falsche Weg ist.
In Dänemark werden seit Jahren Job-Rotation und an-dere Projekte angegangen.
Sie hätten während Ihrer Regierungszeit die Chance ge-habt, in diesem Bereich tätig zu werden. Aber Sie habensie nicht ergriffen. Wir müssen die Probleme jetzt an-packen. Es ist gut, auch wenn es für Sie schwierig ist, dassSie auf den Boden der Tatsachen zurückkommen. Wir be-grüßen Sie gerne an Bord des fahrenden Zuges.
Machen Sie mit beim Kampf gegen die Arbeitslosigkeitvon älteren Menschen!Danke schön.
Alsnächste Rednerin hat die Kollegin Pia Maier von der PDS-Fraktion das Wort.
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Dr. Thea Dückert14936
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Frau Schnieber-Jastram, Ihre Analyse der Zu-
kunftsperspektive für die nächsten zehn Jahre teile ich
durchaus. Ich glaube aber, dass die Vorschläge in Ihrem
Antrag an den heutigen Problemen gänzlich vorbeigehen.
Lassen Sie mich Ihre Vorschläge einmal ganz irdisch
betrachten. Frau Schnieber-Jastram, wären Sie eine ganz
normale Arbeitnehmerin – Ihr Alter kann man genauso
wie meines nachlesen: Sie sind 55 und ich werde 30 –,
dann könnten Sie ohne Einschränkung befristet beschäf-
tigt werden.
– Habe ich mich verrechnet?
– Bei den von Ihnen vorgeschlagenen Fristen zählt nicht,
wie alt Sie sich fühlen, sondern wie alt Sie tatsächlich
sind.
Außerdem würden Sie, abgesehen davon, dass Sie be-
fristet beschäftigt werden, noch die Möglichkeit einge-
räumt bekommen, gefördert ein Tandem zu bilden – mei-
netwegen auch mit mir –, damit ich von Ihrer Qualifikation
profitieren kann. Über Weiterbildung soll geredet werden
und in lokalen Netzwerken sollen Sie sich fortbilden.
In gut zehn Jahren würden Sie nach dem heutigen
Stand der Dinge in Rente gehen. Ich würde dann immer
noch lange Zeit zu arbeiten haben. Sie hätten aber mit
Ihrem Antrag dafür gesorgt, dass ich keinen Bildungsur-
laub mehr nehmen kann bzw. von meinem Arbeitgeber
dahin gedrängt werde, ihn für innerbetriebliche Fortbil-
dung zu verwenden. Wenn mein Arbeitgeber nicht vo-
rausschauend plant, dann hätte ich keine Chance, meine
Qualifikation zu verbessern. Ich wäre vielmehr auf seine
Vorgaben angewiesen.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Ihre
Vorschläge sind kurzsichtig. Das Problem liegt nicht bei
den heute 55-Jährigen. Das Problem ist, dass die Arbeit-
geber nur noch das Nötigste in Bildung und Weiterbildung
investieren, weil sie wissen, dass sie nach dem Staat rufen
können, wenn etwas schief geht.
Das Problem ist die verfehlte Bildungspolitik der letz-
ten knapp 20 Jahre, die keinen Grundstein für eine ler-
nende Gesellschaft gelegt hat. Das Problem ist aber nicht
der Mangel an qualifizierten Mitarbeitern. Wir hätten ge-
nug Menschen, die qualifizierte Stellen besetzen könnten,
wenn sie schon viel früher die richtigen Bedingungen vor-
gefunden hätten, zu studieren, Kurse zu besuchen und
sich weiterzubilden. Aber es gibt bis heute kein Weiter-
bildungsgesetz und bei der Personalentwicklung konnten
die Unternehmen getrost sparen, wohl wissend, dass
dann, wenn Probleme auftauchen, staatlicherseits ent-
sprechende Maßnahmen ergriffen werden.
Ihre Vorschläge müssen in den Ohren der heute Ar-
beitslosen – das sind ja nicht gerade wenige und nicht ge-
rade ausgewählte Menschen – zynisch klingen.
Sie sollen nur noch befristet beschäftigt werden und hören
überall, dass ihre Qualifikation falsch sei, dass sie zu
nichts mehr nütze seien, außer kurzfristig und befristet
Löcher zu stopfen. Von den Arbeitslosen, die in Qualifi-
kationsmaßnahmen geschickt werden, hört man dann,
dass sie dort eigentlich nur gebeten werden, doch bitte
möglichst schnell den Arbeitsmarkt zu räumen und in den
Vorruhestand zu gehen.
So bereinigt man Statistiken, aber so löst man nicht die
Probleme der arbeitslos Gemeldeten. Die löst man nur, in-
dem man Arbeitsplätze schafft.
Qualifikation, egal in welchem Alter, ist wichtig. Sie
bauen hier aber einen Popanz auf, der vor allem dazu
dient, die hier und heute bestehende Arbeitslosigkeit als
Problem wegzureden. Für einen solchen Ansatz bekom-
men Sie unsere Zustimmung nicht.
Danke.
Ichschließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/5139 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungDritterBericht zurLage der älteren Generationin der Bundesrepublik Deutschland: Alter undGesellschaftundStellungnahme der Bundesregierung– Drucksache 14/5130 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für TourismusEs liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen derSPD und des Bündnisses 90/Die Grünen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
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Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hatBundesministerin Christine Bergmann das Wort.Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Dritte Al-tenbericht beschreibt sehr umfassend die Lebenssituationder älteren Generation zehn Jahre nach Erreichen derdeutschen Einheit und er beschreibt grundlegende Verän-derungen der Situation älterer Menschen in unserer Ge-sellschaft. Bei aller Notwendigkeit einer differenziertenBetrachtung ist festzustellen – das ist sehr erfreulich –,dass die meisten Seniorinnen und Senioren heute gesün-der, besser ausgebildet und materiell unabhängiger sind,als es in früheren Generationen der Fall war.
Weit über das 70. Lebensjahr hinaus sind immerhin80 Prozent der Rentnerinnen und Rentner zu einer weit-gehend selbstständigen Lebensführung in der Lage. Dergrößte Teil der älteren Bevölkerung lebt die ersten 15 bis20 Jahre nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbslebenunabhängig von ständiger Hilfe und Pflege.Die dritte Lebensphase wird vom überwiegenden Teilder Menschen in unserem Land als Chance gesehen unddas ist sehr gut so.Der Bericht stellt fest, dass die älteren Menschen in un-serem Land in gesicherten sozialen und materiellen Ver-hältnissen leben können. Das gilt für den Westen wie fürden Osten Deutschlands gleichermaßen, wobei die wich-tigste Einkunftsquelle die Rente aus der gesetzlichen Ren-tenversicherung ist. Dies gilt etwas mehr für Ostdeutsch-land als für Westdeutschland.Keine Altersgruppe in Deutschland weist eine so ge-ringe Sozialhilfedichte auf wie die der älteren Menschenüber 65 Jahre. Das ist höchst erfreulich.
Die Politik der Bundesregierung für ältere Menschen istso angelegt, dass dies auch in Zukunft so sein wird. Wirhaben mit der Rentenreform Bedingungen geschaffen,die die demographischen Veränderungen, die auf uns zu-kommen, berücksichtigen. Diese Veränderungen sind ge-waltig. Ich will noch einmal die Zahlen nennen. Der An-teil der über 60-Jährigen wird sich bis zum Jahr 2050 auf36 Prozent erhöhen; gleichzeitig wird sich der Anteil derunter 20-Jährigen auf 16 Prozent verringern. Das heißt,innerhalb von 100 Jahren hat sich das Verhältnis genauumgekehrt. Hatten wir 1950 ungefähr doppelt so viele un-ter 20-Jährige wie über 60-Jährige, werden wir 2050 circadoppelt so viele über 60-Jährige wie unter 20-Jährige ha-ben. Darauf stellen wir uns in unserer Politik, und zwarvon der Rentenreform bis hin zu Altenhilfeprojekten, einund warten nicht ab, was passiert.Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, der in demvorliegenden Altenbericht sehr deutlich zutage tritt: DieSolidarität der Generationen in unserem Land ist – dasmuss man immer wieder betonen – entgegen allen Un-kenrufen intakt. Sie ist ein wichtiges Fundament unsererGesellschaft. Ältere Menschen haben eine enge Verbin-dung zu ihren Familien, ihren Kindern und ihren Enkel-kindern. 70 Prozent der Älteren wohnen mit mindestenseinem ihrer Kinder am selben Ort, 45 Prozent sogar imselben Haus bzw. in unmittelbarer Nachbarschaft. Hilfewird vielfältig geleistet, und zwar in beiden Richtungen:Die Älteren helfen den Jüngeren – häufig in materiellerHinsicht – und die Jüngeren natürlich den Älteren.Dieses „mitverantwortliche Leben“, wie es der Alten-bericht nennt, zeigt sich auch an der aktiven Teilnahmeam gesellschaftlichen und am nachbarschaftlichen Leben.Aus vielen Vereinen, Einrichtungen und Organisationenist die ehrenamtliche Arbeit der Älteren überhaupt nichtmehr wegzudenken. Etwa jeder dritte ältere Mensch istbis zum 70. Lebensjahr ehrenamtlich engagiert.
– Dies verdient wirklich Anerkennung.Wir können es nicht häufig genug betonen: Dieses En-gagement ist ein bedeutendes gesellschaftliches Potenzial,das wir fördern und stützen. Ich will ein Beispiel nennen:Mit unserem Multiplikatorenprogramm „Erfahrungswis-sen für Initiativen“ erhalten Ältere die Möglichkeit, ihreKompetenz einzubringen, indem sie ihr Wissen an jüngereGenerationen weitergeben. Das stärkt das Engagement,die gesellschaftliche Stellung und die Anerkennung ältererMenschen und das hilft den Jungen, weil sich die Älterenwirklich aktiv kümmern können.Dieses bürgerschaftliche Engagement zu würdigenund zu stärken ist das Ziel unserer vielfältigen Aktivitätenim Internationalen Jahr der Freiwilligen. Wir werdenuns an der einen oder anderen Stelle damit sicher nochauseinander setzen.
Meine Damen und Herren, wir brauchen die aktiveTeilhabe älterer Menschen, um die Zukunft unserer Ge-sellschaft zu gestalten. Das gilt auch für die Arbeitswelt.Über dieses Thema wurde ja gerade eine Debatte geführt.Auch im Altenbericht wird zu Recht festgestellt, dass esparadox ist, dass bei einem steigenden Durchschnittsalterder Bevölkerung insgesamt – das gilt auch für die Er-werbsbevölkerung – der Anteil der über 50-Jährigen, dienoch einer Erwerbsarbeit nachgehen, gesunken ist. Wiralle kennen die Arbeitsmarktsituation und wissen, dass esin den letzten Jahren absolute Priorität war und im Mo-ment noch ist, zu sichern, dass die Jungen am Arbeits-markt teilhaben. Aber wir wissen auch, wie die Entwick-lung weitergehen wird: Wir können es uns in den nächstenJahren nicht mehr leisten, auf die Kompetenz der über50-Jährigen, auf diese Fachkräfte, zu verzichten. Deswe-gen ist hier ein Umdenken notwendig. In den Unterneh-men muss es zu einer vorausschauenden Personalpolitikund zu einer Qualifizierung derjenigen kommen, die nichtmehr ganz so jung sind, die also die 30 schon ein bisschenüberschritten haben.
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms14938
Alt sein heißt nicht zwangsläufig, gebrechlich undhilfsbedürftig zu sein. Wir wissen, dass der medizinischeFortschritt den Gesundheitszustand der älteren Men-schen verbessert. Wir können davon ausgehen, dass wiralle länger gesünder bleiben. Das ist eine sehr positiveEntwicklung. Aber wir wissen auch, dass vor allem dieüber 80-Jährigen mit Gesundheits- und Funktionsein-bußen zu tun haben. Bis zum Jahr 2050 wird der Anteil derüber 80-Jährigen an der Gesamtbevölkerung von jetzt4 Prozent auf 12 Prozent wachsen. In diesem Alter stelltsich natürlich einiges ein: Multimorbidität, chronische Er-krankungen und insbesondere Altersdemenz, die heuteeine der häufigsten Ursachen von Pflegebedürftigkeit ist.Das stellt die Altenhilfe vor große Herausforderungen.Ich will ein paar Beispiele nennen, wie wir darauf rea-giert haben – wir haben nämlich den hier bestehenden Re-formstau kräftig abgebaut: Wir haben an der einen oderanderen Stelle schon darüber gesprochen. Es geht darum,den Schutz der Hilfsbedürftigen zu gewährleisten, dieQualität der Hilfe zu sichern und die Strukturen der Al-tenhilfe effektiver zu gestalten. Die Sicherung von Pfle-gequalität ist nicht denkbar ohne die Sicherung einerzeitgemäßen Ausbildung der Pflegekräfte.
Damit fängt es an. Im Rahmen des neuen Altenpflegege-setzes bzw. einer bundeseinheitlichen Altenpflegeausbil-dung haben wir es erstmals geschafft, ein einheitlichesBerufsprofil herzustellen und diesen typischen Frauenbe-ruf aufzuwerten.
Dieses Gesetz haben wir hier verabschiedet. Wir stehennun wieder vor der Situation, dass das Land Bayern – mankann nicht vom vergangenen Jahrhundert sprechen, weiles noch nicht lange zurückliegt – einige Jahrzehnte imRückstand ist und offensichtlich den Zustand der 17 un-terschiedlichen Altenpflegeausbildungen noch eine Weilebeibehalten möchte.Ich kann Ihnen eigentlich nur raten: Lesen Sie diesenDritten Altenbericht sehr genau. Sie finden darin viel zurgesundheitlichen Situation, viele Empfehlungen, die un-ser Handeln sehr unterstützen. Denn in Ihrer Klage vordem Bundesverfassungsgericht behaupten Sie ja, dassdieser Beruf gar nicht so sehr in den medizinisch-pflege-rischen Bereich hineingehört. Die alte Leier: Es reicht,wenn man schon einmal in der Familie etwas getan hat. –Das reicht eben nicht. Deswegen haben wir das Alten-pflegegesetz verabschiedet.
Ich will einen weiteren Punkt nennen. Wir hören leiderimmer wieder von Missständen in Pflegeheimen.Auch indieser Hinsicht haben wir gehandelt. Mit der Novellierungdes Heimgesetzes und dem Pflege-Qualitätssicherungsge-setz, die ja schon auf dem Tisch liegen, werden wir dieseSituation beträchtlich verbessern. Wir verbessern dierechtliche Stellung der Bewohnerinnen und Bewohner derHeime. Wir verstärken die Heimaufsicht. Wir stärken dieQualitätssicherung in den Heimen. Unser Ziel ist klar:Qualitätskontrolle und -sicherung müssen sich zukünftigwie ein roter Faden durch Strukturen und Systeme in derAltenhilfe ziehen. Letztlich geht es darum, die Würde derälteren pflegebedürftigen Menschen zu respektieren. Die-ses Ziel verfolgen wir mit diesen Gesetzen.
Aber unsere Politik sorgt auch für eine zeitgemäßeWeiterentwicklung der Infrastruktur, zum Beispiel durchdas Modellprogramm „Altenhilfestrukturen der Zu-kunft“. Hierbei geht es darum, die Übergänge, die Zu-sammenarbeit zwischen Rehabilitation und Pflege, zwi-schen Tagespflege und ambulanten Diensten und derBeratung für Angehörige zu verbessern. Hier geht es ins-besondere auch darum, den Menschen, die demenzkrankeAngehörige pflegen, Hilfe und Unterstützung zu gebenund damit auch neue Wege in der Pflege zu beschreiten.Darüber hinaus wollen wir das Verständnis der Gesell-schaft für das Zusammenleben mit Demenzkranken ver-bessern und deutlich machen, welche Herausforderungenauf die Familien und auf die Gesellschaft zukommen. Ichdenke, das sind sehr wichtige Punkte.
Ich halte es für wichtig und richtig, dass sich derVierte Altenbericht, an dem jetzt schon gearbeitet wirdund der bis zum Ende der Legislaturperiode vorliegenwird, das Thema Demenz in den Mittelpunkt stellen wird.Die demographische Entwicklung der nächsten Jahr-zehnte stellt unsere Gesellschaft vor neue Herausforde-rungen. Diesen stellen wir uns, und zwar nicht nur auf na-tionaler, sondern auch auf internationaler Ebene. Wirhaben angeregt, dass der Weltaltenplan nach 20 Jahrenendlich überarbeitet wird, dass dieses Thema also nichtimmer nur lokal oder regional bearbeitet wird.
Dies geschieht jetzt und wir arbeiten hieran aktiv mit.Im Jahr 2002 werden wir hier auch eine regionale ECE-Konferenz durchführen, bei der es um die Implementie-rung der Ergebnisse des überarbeiteten Weltaltenplans ge-hen wird, weil wir auch internationale Unterstützung indiesem Bereich haben wollen.Ich komme zum Schluss. Der vorliegende Bericht un-terstützt und bestätigt nachdrücklich die zukunftsorien-tierte Seniorenpolitik der Bundesregierung. Wir schaffenBedingungen für ein aktives Altern inmitten der Gesell-schaft und wir sichern Hilfe und Schutz für Menschen, dieim Alter unsere Unterstützung brauchen. Dafür steht un-sere Politik.Danke.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Bundesministerin Dr. Christine Bergmann14939
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Maria Eichhorn von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Der Dritte Altenberichtzum Thema Alte und Gesellschaft beschreibt einerseitsDefizite und Verbesserungsmöglichkeiten bei der Gesund-heitsversorgung und widmet sich andererseits den Anfor-derungen, die sich aus einer alternden Gesellschaft erge-ben.Die Stellungnahme der Bundesregierung enthält keineAntwort auf die aufgeworfenen Fragen. Auch der vorlie-gende Entschließungsantrag der SPD
enthält außer allgemeinen Feststellungen nichts Neues.Der Lagebericht über die Situation der Älteren in der Bun-desrepublik Deutschland zeigt die erheblichen Anstren-gungen zu Regierungszeiten der CDU/CSU zur Verbesse-rung der gesellschaftlichen Situation der Seniorinnen undSenioren in unserem Land.
Jetzt geht es darum, Perspektiven für die Zukunft zuentwickeln. Die Bevölkerung erwartet von uns und vor al-len Dingen von Ihnen, der Koalition, konkrete Schluss-folgerungen und Handlungsanweisungen. Wir erwarteneine konkrete Stellungnahme der Bundesregierung dazu,ob und wie der Staat in einer alternden Gesellschaft be-reit ist, vorzusorgen und die Teilhabe älterer Menschenam gesellschaftlichen Leben zu fördern.
Wir erwarten konkrete Schritte und verlässliche Aussagender Seniorenministerin dazu, mit welchen Gesetzesvorha-ben und inhaltlichen Zielvorstellungen sie die Senioren-politik in unserem Lande betreiben will.Zu Beginn der Legislaturperiode haben Sie, Frau Mi-nisterin, lautstark mehrere Gesetze im Seniorenbereichangekündigt.
Aber was ist aus diesem Ihrem Versprechen geworden?Lediglich ein Gesetz, das Altenpflegegesetz, ist bisherverabschiedet worden. Dabei gibt es aber viele Problemebei der Umsetzung, wie uns die Fachleute sagen.Nun soll endlich das Heimgesetz eingebracht werden.Trotz langer Vorbereitungszeit gibt es in Fachkreisen er-hebliche Zweifel, ob mit diesem Gesetz die gestecktenZiele erreicht werden können.Alle weiteren angekündigten Gesetze sind auf dielange Bank geschoben worden. Gestern haben Sie, FrauMinisterin, im Ausschuss zugegeben, dass Sie das Alten-hilfestrukturgesetz nicht mehr in dieser Legislaturperiodeverwirklichen wollen, anders als Sie es noch 1999 an-gekündigt hatten.
Zurück zum Altenbericht. Die Bundesregierung gibtkeine Antwort darauf, dass Leistungen, die bisher von derFamilie für die ältere Generation erbracht wurden, in Zu-kunft nicht mehr zu erwarten sind. Kinder leben oft weitentfernt von ihren Eltern, sodass sie sich schon allein des-halb nicht mehr um sie kümmern können.Ein großer Teil des vorliegenden Berichts ist dem Pfle-gebereich gewidmet. Das Altenpflegegesetz, das im letz-ten Jahr verabschiedet wurde, bringt bei der Umsetzungerhebliche Probleme. So sind hinsichtlich der bisher nichterlassenen Rechtsverordnungen heute noch viele Fragenoffen. Die Altenpflegeschulen und die Träger müssenendlich wissen, welche konkrete Bedeutung der ambulan-ten Altenhilfe in der praktischen Ausbildung zugemessenwird.
Es muss geklärt werden, wie die vorgeschriebene inhalt-liche und organisatorische Abstimmung des Unterrichtsmit der praktischen Ausbildung gewährleistet werdenkann. Da heute noch keine Ausbildungs- und Prüfungs-ordnungen vorliegen, können auch noch keine Ausbil-dungsverträge ausgearbeitet werden, obwohl im Herbstmit der neuen Ausbildung begonnen werden soll.Nun aber zum drängendsten Problem. Für die Trägerder stationären Einrichtungen ist es völlig ungewiss, inwelcher Höhe die Ausbildungsvergütung tatsächlich inden Pflegesatz aufgenommen wird. Deswegen frage ichSie, ob es sinnvoll ist, bei derartig vielen offenen Fragendie neue Ausbildung nach dem Altenpflegegesetz zum1. August dieses Jahres erzwingen zu wollen. Ich sage:nein. Machen Sie zuerst Ihre Hausaufgaben!Einen weiteren Bereich will ich herausgreifen, nämlichdie ökonomischen Ressourcen im Alter, wie sie der Be-richt nennt. Die Sachverständigen warnen vor einer dro-henden zunehmenden Altersarmut. Nach der von Ihnendurch den Bundestag gepeitschten Rentenreform wirdaber die Altersarmut nicht ab-, sondern zunehmen. So se-hen es auch die Rentenexperten. Vor diesem Hintergrundkann man wohl kaum noch von ökonomischen Ressour-cen sprechen, sondern eher von ökonomischen Zumutun-gen im Alter.
Die Rentenanpassungsformel ist willkürlich und mani-pulierbar. Dabei wird das Rentenniveau geschönt und istreal niedriger als angegeben. Sie haben am Tage der Ver-abschiedung mit Ihrem Entschließungsantrag selbst ver-deutlicht, dass tatsächlich nur ein Rentenniveau von64 Prozent erreicht wird.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 200114940
Sagen Sie doch den Bürgern in unserem Land dieWahrheit!
Sagen Sie unseren Bürgern, dass trotz Senkung des Ren-tenniveaus der Beitragssatz von 22 Prozent im Jahre 2030nicht gehalten werden kann.
Die Förderung der privaten Altersvorsorge reicht nichtaus, um Familien mit niedrigem Einkommen eine wirkli-che zusätzliche Absicherung zu ermöglichen.Die Rentenreform geht vor allem zulasten der Frauen.
Durch das Einfrieren der Freibeträge bei der Hinterblie-benensicherung und die Anrechnung aller Einkommenauf die Hinterbliebenenrente werden die Rentnerinnen be-trogen.
Diejenigen, die etwas angespart haben, um sich im Alterbesser zu stellen, werden bestraft.Die Absenkung des Rentenniveaus trifft Frauen dop-pelt, bei der eigenen Rente und bei der Witwenrente überdie abgesenkte Rente des Ehemannes. Hinzu kommt, dassFrauen im Durchschnitt im Osten 35 und im Westen nur26 Beitragsjahre aufzuweisen haben.Auf die Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten im Zu-sammenhang mit der Bewertung der Kindererziehung fürdie Rente kann ich aus Zeitgründen nicht näher eingehen.
Festzustellen ist jedoch: Zukünftig gibt es Kinder unter-schiedlicher Güte für die Rente. Der Bericht des „Spiegel“in dieser Woche unter dem Titel „Riesters Reformruine“könnte deutlicher nicht sein. Ich zitiere:Tricks und Pfusch ... frisierte Zahlen ... steigendeBeiträge, kümmerliche Privatrente ... staatliche Be-vormundung.Dem ist nichts hinzuzufügen.
In einem künftigen Altersbericht wird die Rente wohlnicht mehr unter „Ressourcen im Alter“ Erwähnung fin-den, sondern in dem sich ausdehnenden Kapitel „Armutim Alter“.Meine Damen und Herren, das Alter ist eine Lebens-phase, die sowohl für den Einzelnen als auch für die Ge-sellschaft viele Chancen bietet, aber auch mit Anforde-rungen verbunden ist. Der Dritte Altenbericht stellt dieAnforderungen dar. Ich fordere Sie, die Bundesregierungund die Koalitionsfraktionen, auf, daraus die notwendi-gen Schlussfolgerungen zu ziehen, damit Alt und Jungwissen, wie es weitergeht.
Alsnächste Rednerin hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen dasWort.
und Kollegen! Ich möchte mit einem Zitat des DesignersWolfgang Joop beginnen. Er sagt: „Grey is beautiful“ undnennt damit ein neues Schönheitsideal. Im Zeichen derimmer älter werdenden Gesellschaft steht dieser Aus-spruch für die Zukunft; denn bald wird jede dritte Personin Deutschland über 60 Jahre alt sein. Die Ministerin hatgenauere Zahlen genannt; ich will das nicht wiederholen,aber noch eine Zahl zur Verdeutlichung ergänzen: Nacheiner Schätzung des Max-Planck-Instituts wird jedeszweite Mädchen, das heute geboren wird, 100 Jahre alt.Die Menschen werden künftig aber nicht nur länger le-ben, sondern immer mehr Lebenszeit relativ gesund ver-bringen. Auf diese Entwicklung müssen sich Gesellschaftund Politik einstellen. Der vorliegende Bericht bietet hier-für wertvolle Hinweise. Er macht deutlich, wie differen-ziert diese wachsende Gruppe von älteren und altenMenschen zusammengesetzt ist. Die Klischees in der Ge-sellschaft halten sich hartnäckig. Da gibt es die Oma imSchaukelstuhl, den Pflegefall oder die rüstigen Mallorca-Reisenden. Dazwischen ist nichts.Aber alt sein heißt nicht zwangsläufig, gebrechlich undhilfsbedürftig sein. Senioren sind keine graue Masse vonGleichgesinnten, nein, sie sind ein bunter Haufen. Sie un-terscheiden sich deutlich in ihrer Leistungsfähigkeit,ihren Interessen und der Gestaltung ihres Alltags.Von zentraler Bedeutung für ältere Menschen istSelbstständigkeit, Lebenszufriedenheit, soziale Integra-tion und materielle Sicherheit.
80 Prozent der Älteren erfreuen sich guter Gesundheit.Sie leben unabhängig von Hilfe und Pflege, sind aktiv, en-gagieren sich in ihrem familiären Umfeld, in der Nach-barschaft, in Kommunen und Vereinen.Auch Familien profitieren von den alten Menschen;denn familiäre Bindungen sind für sie ebenso wichtig wiefür die jungen. Das bestätigte jüngst die Shell-Jugendstu-die.Familienpflege wird zu 80 Prozent von Frauen zwi-schen 50 und 65 Jahren geleistet und viele erbringen dieseLeistung sogar nach dem so genannten Sandwich-System.Das heißt, sie pflegen die Generation vor ihnen und dieGeneration nach ihnen, die Eltern und die Enkelkinder.Das führt nicht selten zur Überforderung. Ich erwarte,
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Maria Eichhorn14941
dass bei der zunehmenden Frauenerwerbstätigkeit diesefür die Gesellschaft kostenlos geleisteten Dienste
künftig so nicht aufrechtzuerhalten sein werden.
Um ihre Erfahrungen weiterzugeben, entwickeln ältereMenschen aber auch ganz neue Beschäftigungsformen. InWissensbörsen bieten sie ihr Wissen und ihre Dienstleis-tungen an. Sie schließen sich immer mehr zu lokalenInitiativen und zu Seniorenbeiräten zusammen, um ge-meinsame politische Interessen zu verfolgen.Die Politik ist aufgerufen, dieses enorme Engagementzu unterstützen. Dies gilt für alle Bereiche – für die Wei-terbildung, für Wohnen und Stadtplanung bis hin zur Ar-beitsmarkt-, Gesundheits- und Pflegepolitik. Wir ziehenmit diesem Antrag jetzt die Konsequenzen daraus und un-terstützen die Menschen, Frau Eichhorn.
Bildung und Weiterbildung bilden den Grundstock ei-ner auf Wissen basierenden Gesellschaft. Wer nicht außenvor bleiben möchte, muss bereit sein, ein Leben lang zulernen. Deshalb sind altersübergreifende Bildungsan-gebote in Betrieben und Universitäten, aber auch selbst-organisierte Angebote zu fördern.Senioren sind aber auch in Sachen Verbandsarbeit sehraktiv. Die Zahl der Gründungen von gemeinnützigenInitiativen hat sich in den letzten Jahren mehr als verdrei-facht und diese Arbeit ist für unsere Gesellschaft wichtig.Derzeit werden von der Bundesregierung zahlreicheehrenamtlich geführte Einzelprojekte gefördert. WeitereMaßnahmen stehen noch an, um für das Ehrenamt auchbessere Rahmenbedingungen zu schaffen.
Dazu gehören Versicherungsschutz sowie qualifizierteWeiterbildungsmaßnahmen.In der vorigen Debatte haben wir gehört, dass Deutsch-land Schlusslicht bei der Beschäftigung älterer Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer innerhalb der EU ist. Ichfrage Sie: Woran liegt denn das, liebe Kolleginnen undKollegen von der CDU/CSU? Das, was Sie beklagen, ha-ben Sie durch die jahrelange, fehlgeleitete Arbeitsmarkt-politik der Frühverrentung geradezu herbeigeführt.
Wir werden Beschäftigungsmöglichkeiten für ältereArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schaffen, wir wer-den in Qualifizierung investieren. Dies ist nämlich nichtnur ein Anspruch der Beschäftigten, sondern angesichtsder demographischen Entwicklung geradezu notwendig.Ich komme zum Thema Wohnen im Alter.Alte Men-schen wollen so lange wie möglich in ihrer gewohntenNachbarschaft bleiben. Kasernenartige Altenheime sindkeine Einrichtungen der Zukunft und müssen endlich derVergangenheit angehören.
Wohnformen, die einen hohen Grad an eigener Häus-lichkeit ermöglichen, sind gefragt. Die bestehenden For-men des altersgerechten und generationenübergreifendenWohnens müssen daher weiter ausgebaut werden.Deshalb begrüße ich das Modellprogramm der Minis-terin Bergmann „Selbstbestimmt Wohnen im Alter“. Die-ses Programm schafft gute Voraussetzungen dafür, dasswir individuelle Möglichkeiten für vielfältige Wohnfor-men schaffen können.
Ich komme jetzt zu einem sehr traurigen Thema. Dassdie Heimmindestbauverordnung umfassend überarbeitetwerden muss, ist ein Gebot der Stunde. Viel zu lange istauf diesem Gebiet überhaupt nichts passiert. Mich erfülltes mit Scham, wenn alten Menschen 12 Quadratmeterzum Wohnen und Schlafen zugebilligt werden. Für einendeutschen Schäferhund sind 10 Quadratmeter vorgese-hen. Ich finde das schon sehr beschämend.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Kürze werdenwir – die Ministerin hat darauf hingewiesen – ein neuesHeimgesetz verabschieden. Mehr Mitbestimmungsrechteund Stärkung der Heimaufsicht sind die Stichworte dafür.Angesichts der zahlreichen Pflegeskandale ist das drin-gend notwendig.In allen gesellschaftlichen Bereichen muss die beson-dere Lebenssituation alter Menschen berücksichtigt wer-den. Das darf sich jedoch nicht nur auf diejenigen bezie-hen, die in Deutschland geboren sind. Das ist eineGrundvoraussetzung für eine solidarische Gesellschaft.Dass Seniorinnen und Senioren bereit sind, hier Verant-wortung zu übernehmen, zeigt der vorliegende Berichtganz eindringlich. Wir werden sie mit den vorgeschla-genen Maßnahmen, die unserem Antrag zugrunde liegen,in dieser anspruchsvollen Aufgabe unterstützen.Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat Kollege Klaus Haupt von der F.D.P.-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine liebenKolleginnen und Kollegen! Freiheit und Verantwortungkennen weder Ruhestand noch Altersgrenzen. Das macht
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Irmingard Schewe-Gerigk14942
der Dritte Bericht zur Lage der älteren Generation sehrdeutlich. Im Mittelpunkt jeder Seniorenpolitik muss daherdas Selbstbestimmungsrecht der älteren Menschenüber ihre Lebensplanung stehen.
Die Senioren von heute sind keine Menschen, auf derenProduktivität oder Kreativität unsere Gesellschaft einfachverzichten könnte. Sie bilden in Zukunft eine wichtigeRessource, auch für die Arbeitswelt. Von dem Jugend-wahn, der den Arbeitsmarkt noch bestimmt, müssen wiruns schnellstmöglich freimachen. Die Ressourcen ältererArbeitnehmer werden auf dem Arbeitsmarkt derzeit nurwenig geschätzt; das wurde in der Diskussion schon er-wähnt.Der demographische Wandel wird die Arbeitsweltnachhaltig verändern. Von der Vorstellung einer sich stän-dig verkürzenden Lebensarbeitszeit werden wir uns ver-abschieden müssen.
Dem Trend zur Frühverrentung muss politisch entgegen-gewirkt werden.
Die Rente mit 60 ist ein völlig ungeeignetes Instrumentder Arbeitsmarktpolitik.
Betriebliche Innovationsfähigkeit ist weniger vom Alterals vielmehr vom Qualifikationspotenzial der Belegschaftabhängig.
Den Vorsprung an Energie, Dynamik und Ehrgeiz der Jün-geren können die Älteren durch Wissen, Erfahrung, Zu-verlässigkeit und soziale Kompetenz ausgleichen. Das er-fordert in der Wirtschaft eine neue Vorgehensweise beider Personalentwicklung. Es ist notwendig, von einer re-aktiven Politik zu einer präventiven, das heißt zu einer le-benslauforientierten und altersneutralen Politik der Be-schäftigungsförderung und -sicherung zu kommen.Aber auch jenseits des Erwerbslebens können, werdenund müssen ältere und alte Menschen Aufgaben und Ver-antwortung für sich und unsere Gesellschaft wahrneh-men. Bürgerschaftliches Engagement von Senioren imsozialen, kulturellen, politischen und kirchlichen Bereichstellt eine erhebliche gesellschaftliche Ressource da.Wir reden derzeit viel über ein freiwilliges sozialesJahr für Jugendliche. Sollten wir nicht auch einmal überDerartiges für Senioren nachdenken?
Dieses Jahr könnte vielleicht als Ausfallzeit auf die Renteangerechnet werden. Das könnte für die Menschen eineHilfe sein, die die Höchstrente noch nicht erreicht haben.Zugleich könnte dies eine Perspektive für die sozialenEinrichtungen eröffnen, die unter der immer geringerwerdenden Zahl von Zivildienstleistenden leiden.Soziale Altenarbeit knüpft an die Handlungskompe-tenz der Menschen an und versteht ihre Angebote nicht alsKompensation von Defiziten, sondern erschließt Akti-vitätsfelder, die objektiv und subjektiv sinnvoll sind. Esgeht darum, die Selbstständigkeit alter Menschern zu er-halten. Das bedarf der Weiterentwicklung formeller Hil-fen zu einer Unterstützungskette, die von alten Menscheneigenständig mobilisiert werden kann.
Es gibt aber nicht nur aktiv-junge, sondern auch ge-brechliche und pflegebedürftige Alte. Durch die demo-graphische Entwicklung wird auch ihre Zahl in Zukunftwachsen. Es ist unabdingbar, für diese Menschen ein breitgefächertes, möglichst flexibles und auf die Bedürfnisseder Betroffenen zugeschnittenes Angebot bereitzuhalten.Dies muss durch neue Formen der Pflege aufgefangenwerden, etwa durch den so genannten Wohlfahrtsmix ausinformeller und professioneller Pflege, von marktgängi-gen Dienstleistungen und staatlichen Solidarleistungen,von stationärer, familiärer und ehrenamtlicher Versor-gung. Die Förderung und Unterstützung alternativerHeimkonzepte, die Klein- und Wohngruppenansätzen fol-gen und die Einbeziehung von Angehörigen und bürger-schaftlich Engagierten vorsehen, könnte „Heim-Sog-Ef-fekte“, die insbesondere bei Demenzkranken problema-tisch sind, abmildern.
Das Eintrittsalter für Seniorenheime liegt heute bei80 Jahren, das Durchschnittsalter bei 82 Jahren. Eine An-passung des Heimgesetzes an die veränderte Situation istlängst überfällig.
Auch hier gilt: Selbst- und Mitbestimmung kennt keineAltersgrenze. Heimbewohner wollen nicht nur versorgtund verwaltet werden, sondern so aktiv wie möglich amHeimleben teilnehmen und es mitbestimmen.
Sie haben Anspruch darauf, ihren Lebensraum selbst mit-zugestalten.Leider ist Mitbestimmung im bisherigen Referenten-entwurf zum Heimgesetz nicht vorgesehen. Aber da dieKoalition daran schon länger arbeitet, als von ihr selbstgeplant, besteht noch die Hoffnung, dass sich dies ändert.Bei aller Notwendigkeit, die gesetzlichen Regelungendem demographischen Wandel anzupassen: Wir müssendarauf achten, nicht durch Überregulierung jede Initia-tive, auch und gerade der privaten Dienstleister, zu er-sticken.
Qualitätssicherung darf nicht kontraproduktiv werden.
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Klaus Haupt14943
Die F.D.P. wird sich am liberalen Leitbild eines selbst-bestimmten, würdigen Lebens auch im Alter orientieren.In diesem Sinne werden wir an den hoffentlich bald an-stehenden Gesetzesberatungen wie bisher kritisch, aberkonstruktiv mitwirken.Danke.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Monika Balt von der
PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! „Man braucht sehr lange, um jung zu wer-
den.“ Mit diesem schönen Satz von Pablo Picasso kann
man die Schlussfolgerung eines wesentlichen Teils des
Dritten Altenberichts beschreiben. Alt sein heißt nicht
zwangsläufig, gebrechlich und hilfsbedürftig zu sein.
Der Bericht zeichnet unseres Erachtens ein relativ dif-
ferenziertes und realistisches Bild der älteren Generation.
Gleichzeitig beinhaltet er Perspektiven und Anforderun-
gen an eine Politik für ältere Menschen im Kontext indi-
vidueller und gesellschaftlicher Ressourcen. Die Ihnen al-
len bekannte demographische Entwicklung unserer
Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten unterstreicht
die wachsende Bedeutung der Altenpolitik. Längst hat die
Gesellschaft beispielsweise die jungen Alten als potenzi-
elle Käufergruppe entdeckt. Mir geht es um viel mehr: Äl-
tere Menschen sind mit ihren Erfahrungen für uns alle
eine Bereicherung.
In ihrer Regierungserklärung betonte Frau Ministerin
Bergmann die Absicht, die ältere Generation stärker in
den Mittelpunkt der Politik zu rücken. Was ist bisher ge-
schehen und was ist bis zum Ende der Legislaturperiode
geplant? Die Bundesregierung trat an, den bis dahin auf-
gelaufenen Reformstau aufzulösen. Ich erinnere an das
Gesetz über die bundeseinheitliche Ausbildung in den
Berufen der Altenpflege, das beschlossen worden ist, und
die Novellierung des Heimgesetzes. Das Qualitätssiche-
rungsgesetz und andere Gesetze sind noch in der Diskus-
sion.
Die PDS erkennt die Notwendigkeit dieser Reformen
an. Aber eines ist all diesen Entwürfen und Gesetzen ge-
meinsam: Der soziale und sozialfürsorgliche Aspekt wird
Schritt für Schritt abgebaut und ausgeblendet. Alter wird
zunehmend auf Gebrechlichkeit, Krankheit und medizini-
sche Pflegebedürftigkeit reduziert.
Hinzu kommen die äußerst bedenklichen Äußerungen des
Bundeskanzlers und seiner Gesundheitsministerin, ähn-
lich wie bei der Rentenreform die Risiken des Alters
weitgehend zu privatisieren.
Die PDS tritt dafür ein, den Pflegebedürftigkeitsbe-
griff, wie er im SGB XI gefasst ist, nämlich im Sinne ei-
ner umfassenden Betreuung im Alter, also auch der sozia-
len Betreuung, auszubauen.
Tatsächlich geschieht eine rasante Aushöhlung dieses Be-
griffes, indem die sozialen Kompetenzen älterer Men-
schen in der Politik völlig ausgeblendet werden.
Nehmen wir zum Beispiel die Entwicklungstendenzen
auf dem Arbeitsmarkt. Zum einen erleben wir eine groß
angelegte Diskussion um die Green Card. Zum anderen
weist der Bericht aus, dass die Erwerbslosenquote in den
letzten Jahren sowohl in West- wie in Ostdeutschland, so-
wohl bei Männern als auch bei Frauen stark angestiegen
ist. Die vorangegangene Debatte machte dies zusätzlich
deutlich. Von einer generellen oder automatischen Ab-
nahme der Leistungsfähigkeit älterer Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer kann überhaupt keine Rede sein. Ihre
Berufserfahrung und Kompetenz können wohl kaum er-
setzt werden.
Gefördert werden kann Leistungsfähigkeit durch ge-
sundheitsspezifische Merkmale am Arbeitsplatz und
durch eine gezielte und kontinuierliche Weiterbildung der
Qualifikation. Hier vermissen wir von der Bundesregie-
rung weit reichende Maßnahmen.
Zum Schluss noch eines: Sorgen macht uns wohl allen
die anhaltende und überproportionale Abwanderung
jüngerer Menschen aus den neuen in die alten Bundes-
länder. Es sind nicht nur keine Maßnahmen der Bundes-
regierung zur Lösung des Problems erkennbar – offen-
sichtlich herrscht Ratlosigkeit. Lassen Sie nicht zu, dass
der Osten zum Altenheim Deutschlands wird!
Danke.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Christa Lörcher von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! FrauEichhorn, während Ihrer Regierungszeit waren dreiMinisterinnen im Amt und keine davon hat die Altenpfle-geausbildung bundeseinheitlich regeln können. Seit un-serem Regierungsantritt ist eine Ministerin im Amt undwir haben das bereits in dieser Legislaturperiode ge-schafft. Was die Rente angeht, so bitte ich Sie herzlich,sich erst einmal sachkundig zu machen.
Herr Haupt, bei der Novellierung des Heimgesetzes istMitbestimmung sehr wohl vorgesehen. Es freut mich,dass Sie sich derart für die Mitbestimmung einsetzen. Se-hen Sie sich die Vorschrift einfach noch einmal genau an!
Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich stellefest, dass in der Reihe der bisher vorgelegten Altenbe-
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Klaus Haupt14944
richte mit diesem Dritten Altenbericht wichtige aktuelleGrundlagen für eine differenzierte Einschätzung der Lageder älteren Menschen bei uns sowie Leitlinien für eine Al-tenpolitik, die auf allen Ebenen die Menschenwürde unddie Rechte der Älteren in den Mittelpunkt stellt, geschaf-fen wurden.
In diesem Altenbericht ist besonders hervorzuheben,dass durch alle Kapitel hindurch von den Ressourcen desälteren Menschen in unserer Gesellschaft und von denRessourcen der Gesellschaft zur Gestaltung einer gemein-samen Zukunft für alle gesprochen wird.Dies zeigt den Paradigmenwechsel in der Altenpolitik,den wir in der Altenarbeit seit langem zu vermitteln ver-suchen, und zwar: weg vom Defizitmodell, das vor allemSchwächen aufzeigt, hin zu einem Kompetenzmodell, dasauf Stärken und Fähigkeiten hinweist, diese weiterent-wickelt und nutzt, zum Wohle des Einzelnen und der Ge-sellschaft.
Dieses veränderte Bild des Alters aufzunehmen, wei-terzutragen und in den Köpfen der Menschen zu veran-kern sehe ich als eine der Chancen des Berichts und alseine Aufgabe für uns alle. Für diese Weiterentwicklung zueinem sehr differenzierten, ressourcenorientierten Bilddes Alters danke ich der Sachverständigenkommissionunter Leitung von Professor Kruse sehr herzlich.
Aus der Fülle des Materials und der Anregungen willich nur einige Bereiche herausgreifen:Zum Ersten, Gesundheit und Pflege: Die Zahl derüber 60-Jährigen bei uns wird – das wissen wir alle – vonrund 18 Millionen Anfang 1999 voraussichtlich auf über26Millionen im Jahre 2030 anwachsen. Auch die Lebens-erwartung wird weiter zunehmen; und zwar, so wird ge-schätzt, um rund ein Jahr je Dekade. Allein diese Voraus-schätzungen machen deutlich, welch hohen StellenwertGesundheitsförderung sowie medizinische, pflegerischeund – Frau Balt, das wollte ich Ihnen gerne sagen – auchsoziale Dienste haben und haben werden.
Zum Zweiten: Damit diese Dienste nicht nur in genü-gender Zahl angeboten werden, sondern qualifizierte Ar-beit geleistet werden kann, müssen die entsprechendenBerufsbilder in Bezug auf Theorie und Praxis von hoherQualität sein. Dies erfordert – wie die Kommission anmehreren Stellen des Berichts betont – eine Stärkung vonAusbildung, Weiterbildung, Pflegeforschung und Pfle-gewissenschaft.Als Drittes: Unsere Gesellschaft wird bunter und viel-fältiger. Von den bei uns lebenden 7,3 Millionen Men-schen mit anderer als deutscher Nationalität ist erst einkleiner Teil in der nachberuflichen Lebensphase. Sie bil-den aber die am stärksten anwachsende Gruppe unsererGesellschaft. Es ist jetzt und erst recht im Hinblick auf dieZukunft wichtig, dass die Situation von Menschen mitMigrationserfahrung aufgezeigt wird, zum Beispiel imHinblick auf ihre gesundheitliche Belastung oder die Zu-gangsbarrieren zu unseren Diensten. Wir begrüßen es da-her, dass der Bericht Forderungen für diese gesellschaft-liche Gruppe einbezieht.
Alter ist eine Lebensphase, die – so die Kommission –mit Chancen und Anforderungen verbunden ist. Das giltfür jedes Lebensalter, ist aber gerade für Menschen imhohen Alter eine Herausforderung. Deshalb freue ichmich, dass, kaum war der Dritte Altenbericht am 20. Junides letzten Jahres vorgelegt, am 1. Juli der nächste in Auf-trag gegeben wurde: ein Bericht, der schwerpunktmäßigHochaltrigkeit und Demenzerkrankungen thematisiert.Die demographische Entwicklung mit der Zunahme anÄlteren und der Zunahme an Lebenserwartung bietet denMenschen in jedem Alter Chancen und Anforderungen:dem 80-jährigen Diabetiker, der nach beidseitigerAmputation im Rollstuhl sitzt, der 40-jährigen Ärztin, diefür ihre Arbeit den Schwerpunkt Geriatrie gewählt hat, ge-nauso wie dem 20-Jährigen, der seinen Zivildienst been-det hat und überlegt, ob er einen Pflegeberuf erlernen soll.Es sind Chancen für mehr Lebensqualität und Anforde-rungen durch komplexer gewordene Strukturen in Alltagund Beruf.41 der 81 Empfehlungen der Sachverständigenkom-mission beziehen sich auf den Bereich Gesundheit undPflege. Die wichtigste Botschaft dieser Empfehlungen ist:Gesundheitserhaltung und -sicherung sowie Präventionund Rehabilitation sind die beste Strategie, um die Le-bensqualität in jedem Lebensalter zu verbessern, um abergerade auch in der letzten Lebensphase physische undpsychische Einschränkungen oder Multimorbidität zeit-lich hinauszuschieben oder die Folgen abzumildern. Dashat auch eine Anhörung bestätigt, die wir in der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ zum ThemaGesundheit durchgeführt haben: Wir brauchen – genaudieser Punkt ist entscheidend – Prävention und Rehabili-tation.Der größte Teil der Älteren bei uns – darauf ist heutemehrfach hingewiesen worden – führt ein selbstständigesLeben im eigenen Haushalt. Aber rund ein Drittel lebt inEinpersonenhaushalten. Gerade deswegen ist es notwen-dig, vielfältige Formen des Wohnens anzubieten und sieweiterzuentwickeln. Wir haben die Forderung nach demMehrgenerationenwohnen in unserem Entschließungs-antrag aufgenommen, weil wir das für sehr wichtig halten.
Anfragen von Betroffenen, Angehörigen und Pflege-kräften, die Erfahrung in der Pflege Älterer und psychischKranker haben – seit 20 Jahren kenne und erlebe ich dieseArbeit –, betreffen immer wieder die Rahmenbedingun-gen in der Pflege. Wenn die Zahl der Pflegebedürftigengenannt wird, dann wird immer, so auch im Dritten Be-richt zur Lage der älteren Generation, die Zahl der Leis-tungsempfängerinnen und -empfänger in der Pflegeversi-cherung angeführt. Das ist zwar korrekt, spiegelt abernicht die Realität wider. Es gibt tatsächlich viel mehr
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Christa Lörcher14945
Pflegebedürftige, als die Statistik ausweist; denn auchMenschen, die einen Pflegebedarf von weniger als 90 Mi-nuten haben, sind pflegebedürftig. Sie werden allerdingsnicht von der Pflegeversicherung unterstützt. Auch dieseMenschen müssen wir in unseren Planungen berücksich-tigen.Ein großer Teil der Pflege und Betreuung wird im häus-lichen Bereich geleistet. Rund 80 Prozent der Pflegendensind Frauen. Ihre Situation ist durch die Pflegeversiche-rung mit Hilfen in Form von Geld- oder Sachleistungenund durch die inzwischen von uns vorgenommenen Än-derungen in der Pflegeversicherung verbessert worden.Aber bei zunehmend schwieriger werdender Pflege mussdem Risiko der Überforderung der Pflegenden – ichkomme darauf bei der teilstationären Pflege zurück– durch Entlastung entgegengewirkt werden.
Die Sicherung der Pflegequalität, die Erreichbarkeitvon pflegerischen und sozialen Diensten, die Versorgungund Betreuung Schwerkranker und Sterbender nicht nurin stationären Einrichtungen, sondern auch zu Hause inder gewohnten Umgebung wird jedoch in Zukunft bei ab-nehmender Zahl jüngerer Menschen immer schwierigerwerden. Entscheidend ist deswegen, dass die Berufsbilderin diesen Bereichen attraktiver werden und dass eine aus-reichende Zahl an Pflegekräften für diese Aufgaben aus-gebildet und weiterqualifiziert wird. Eine Aufwertungund Neuordnung der Pflegeberufe ist im letzten Jahrgeschehen. Ich bin sehr dankbar, dass das Altenpflegege-setz demnächst in Kraft treten wird.
Sehr positiv sehe ich auch die Entwicklung in der teil-stationären Pflege. Die Zahl der Tagespflegeeinrichtun-gen und -plätze ist in den letzten Jahren sprunghaft gestie-gen. Sowohl für die Tagesgäste wie auch für die zu HausePflegenden bedeutet diese Form der Betreuung mit Si-cherheit eine große Entlastung und eine Erhöhung der Le-bensqualität. Ich möchte in diesem Zusammenhang kurzvon einer Einrichtung in Ulm-Wiblingen berichten: Dortwerden circa 25 Tagesgäste betreut. Es sind vorwiegendÄltere mit demenziellen Erkrankungen. Ein Teil von ihnenkommt aus der angegliederten stationären Einrichtung, dieanderen von zu Hause. Wir, eine Gruppe von Gästen, wur-den dazwischengesetzt und nahmen am Singen, Essen undan der gemeinsamen Kommunikation teil. Das war für allesehr lebendig und interessant. Den Ausbau solcher Ange-bote sehe ich als Chance für viele der zu Hause Gepfleg-ten, gerade auch bei Demenzerkrankungen.
Auch für stationäre Einrichtungen gibt der Berichtvielfältige Informationen und Anregungen. Ich will nurdie wichtigsten nennen, die sich in unserem Ent-schließungsantrag finden: Verbesserungen zu Standardsfür Wohnen und Personalbemessung. Die Novellierungdes Heimgesetzes wird dazu beitragen; sie ist auf den Weggebracht.Altenpolitik – das möchte ich abschließend sagen – istmehr als die finanzielle Absicherung im Alter. Lebens-qualität hängt natürlich auch von finanziellen Ressourcenab; aber Lebensqualität im Alter bedeutet ebenso das Vor-handensein von vielfältigen Ressourcen in unserer Ge-sellschaft, bedarf vor allem aber unserer Solidarität undAchtung. Bei den vorgeschlagenen Initiativen, Projektenund Forschungsvorhaben werden wir Prioritäten setzenund Schritt für Schritt an die Umsetzung gehen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Thema Alter be-trifft alle und nimmt an Bedeutung zu. Ich freue mich aufdie gemeinsame Weiterarbeit an diesem Thema.Herzlichen Dank.
Zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Klaus Haupt
das Wort.
Ich weiß, dass man Damen sel-
ten widersprechen soll. Da Sie, liebe Kollegin Lörcher,
mich aber persönlich angesprochen haben, will ich noch
etwas zu Ihnen sagen; dann kann ich heute Abend auch
wirklich beruhigt schlafen gehen.
Es wird nicht wahrer, wenn Sie schlicht behaupten, die
Novelle des Heimgesetzes sehe Mitbestimmung vor, und
mich dann auffordern, es nachzulesen. In der Novelle des
Heimgesetzes ist von Mitsprache und Mitentscheidungs-
recht die Rede. In den §§ 2 bis 4, in denen der Wertekanon
aufgezählt ist, fehlt jedoch das Wort Mitbestimmung, weil
die Juristen, die das im Ministerium erarbeitet haben, be-
fürchten, dass ein solcher Begriff ganz bestimmte juris-
tische Konsequenzen nach sich ziehe. Ich empfehle also
wärmstens, dass wir beide nachlesen. Wenn Sie Recht haben
sollten, bezahle ich eine Flasche guten sächsischen Weines.
Zur Erwi-
derung, Frau Lörcher.
Herr Haupt, könnte es sein,dass wir unter Mitbestimmung Unterschiedliches verste-hen, dass Sie also eine ganz andere Vorstellung von Mit-bestimmung haben als ich? Wenn ich in der Novelle desHeimgesetzes sehe, dass Heimbewohnerinnen und -be-wohner an Entscheidungen in vielen Bereichen beteiligtwerden sollen – die Heimträger kritisieren dies insbeson-dere in Bezug auf finanzielle Entscheidungen –, dannkann ich Ihre Kritik nicht nachvollziehen. Die Stärkungdes Heimbeirats ist klar gegeben. Dass auch noch anderePersonen als Fürsprecher hinzugezogen werden können,sehe ich nicht als Schwächung, sondern als Stärkung derStellung der Menschen, die ihren Lebensabend in einemHeim verbringen.
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Christa Lörcher14946
Als letz-
ter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kol-
lege Walter Link von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zu späterStunde versuchen, Ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, in-dem ich den Dritten Bericht zur Lage der älteren Genera-tion aus der Sicht der Demographie beleuchte. Verbes-serte Lebens- und Umweltbedingungen, der Fortschritt inder Medizin und ein gesundheitsbewusstes Verhalten derMenschen haben dazu geführt, dass die durchschnittlicheLebenserwartung von Frauen und Männern bei uns inDeutschland weiterhin steigt. Wir wissen, dass inDeutschland bis zum Jahre 2050 Frauen durchschnittlich85 und Männer 80 Jahre alt werden. Das heißt, die Le-benserwartung wird in den nächsten Jahren um weiterevier Jahre steigen. Es ist immer ein Wunsch der Menschengewesen, bei guter Gesundheit möglichst alt zu werden.Diesem Wunsch sind wir schon sehr nahe gekommen.Getrübt wird diese Tatsache nur dadurch, dass die An-zahl der Geburten auf einem relativ niedrigen Niveau ver-harrt. Gegenwärtig werden in Deutschland durchschnitt-lich weniger Kinder geboren, als zum Erhalt derBevölkerungszahl notwendig wären. Das heißt, die Be-völkerungszahl geht zurück. Wenn diese Entwicklung an-hält, werden wir in Deutschland im Jahre 2050 nur nochcirca 70 Millionen Menschen sein. Der Altenberichtspricht davon, dass dann 37 Prozent älter als 60 Jahre seinwerden. Die Zahl der Erwerbspersonen wird sich von ge-genwärtig 41 Millionen auf knapp 34 Millionen – das isteine alarmierende Zahl – im Jahre 2050 verringern. MeineFraktion, die CDU/CSU, ist der Meinung, dass diese Ent-wicklung durch Zuwanderung im bisherigen Ausmaß ge-mildert, aber nicht grundsätzlich gestoppt werden kann.Im Übrigen betrifft diese Entwicklung nicht nur dieBundesrepublik; vielmehr ist die Situation auch in allenanderen EU-Staaten ähnlich.Das von mir geschilderte Szenario ist demographischrelativ sicher vorhersehbar und stellt uns vor enorme wirt-schaftliche und soziale Herausforderungen. Der Berichtzur Lage der älteren Generation, den die Bundesregierungam 17. Januar 2001 vorgelegt hat und über den wir heutediskutieren, beschreibt vor diesem Hintergrund die Le-benssituation der älteren Menschen in der Bundesrepu-blik Deutschland. Außerdem beschreibt der Bericht die zuerwartenden gesellschaftspolitischen Herausforderungenauch aus anderen Bereichen.Dass Reformen dringend notwendig sind, stellt der Be-richt der Sachverständigen auf analytisch gute Art undWeise dar. Von den Sachverständigen, die von der frühe-ren Bundesministerin Claudia Nolte im Januar 1998 be-rufen wurden, ist gute Arbeit geleistet worden. Sowohlaus individueller, innerfamiliärer als auch aus gesell-schaftlicher und ökonomischer Perspektive werden Defi-zite beschrieben und Empfehlungen an die Politik gege-ben. – Empfehlungen, die mehr als die derzeitigeSituation und die Zukunft der älteren Generation be-schreiben. Das war, so glaube ich, auch notwendig, weilwir auf diesem Gebiet mithalten müssen.Auch die vom Deutschen Bundestag eingesetzte En-quete-Kommission „DemographischerWandel“, die inder zweiten Legislaturperiode unter meinem Vorsitz tagt,befasst sich mit den Auswirkungen einer älter werdendenGesellschaft und deren Folgen. Der Schlussbericht derEnquete-Kommission hat allerdings nicht nur die ältereGeneration im Blick; sondern untersucht das Verhältnisder Generationen unter ökonomischer, gesellschaftlicherund politischer Perspektive.Es geht in diesem Zusammenhang auch um Genera-tionengerechtigkeit, die die sozialpolitische Grundlageunserer Gesellschaftsordnung darstellt. Das beinhaltet je-doch auch die Betrachtung der Grenzen der Finanzier-barkeit unserer Sozialversicherungssysteme bzw. derGrenzen der materiellen Leistungsfähigkeit unseres Sozi-alstaates insgesamt. Es kommt darauf an, auf der Grund-lage vorliegender Analysen – an dieser Stelle wird der Be-richt der Enquete-Kommission ausreichend Materialbieten – heute die Weichen für die Demographietauglich-keit unseres Sozialsystems zu stellen. Der Bericht derBundesregierung zur Lage der älteren Generation wirddarum im Schlussbericht der Enquete-Kommission mitseinen analytischen Ergebnissen entsprechend sicherlichgewürdigt werden.Die Sachverständigenkommission spricht im BerichtEmpfehlungen für die medizinische Versorgung, für dieVersorgung psychisch Kranker, für das Pflegesystem, füreine lebenslauforientierte, altersneutrale Politik derBeschäftigungsförderung, für innerfamiliäre Netzwerkeund für vieles mehr aus. Diese Empfehlungen fordern vonunserer Seite ein Umdenken in der Politik.Trotz der Freude über das Älterwerden der Menschenmüssen wir auch gravierende Gesundheitsbeeinträchti-gungen im Alter realistisch zur Kenntnis nehmen. DieHäufigkeit von Demenzen nimmt mit steigendem Altererheblich zu. Bei 80- bis 84-Jährigen liegt sie bei 11 Pro-zent, bei über 90-Jährigen bei 31 Prozent, also bei unge-fähr einem Drittel. Verantwortliche Politik muss daraufreagieren.
Meine Fraktion, die CDU/CSU, weist seit langem aufeine notwendige Verbesserung der Leistungen für De-menzkranke im Rahmen der Pflegeversicherung hin. Dervorliegende Bericht bestätigt unsere Forderungen. Jetztwarten wir auf einen Gesetzentwurf der neuen Gesund-heitsministerin, die für einen guten Vorschlag die Unter-stützung meiner Fraktion erhalten wird.Wir brauchen nicht nur eine den gesellschaftlichenVeränderungen angepasste Seniorenpolitik, sondern einediesen Veränderungen angepasste Gesellschaftspolitik.Heute sind in Deutschland nur noch – bei einem anderenTagesordnungspunkt haben wir darüber gesprochen –circa 37 Prozent der Erwerbstätigen im Alter von 55 bis60 Jahren im Arbeitsprozess aktiv. Die Ursachen dafürsind neben gesundheitlichen Faktoren, die zur Erwerbs-und Berufsunfähigkeit führen, Frühverrentungen und einejugendzentrierte Einstellungspolitik der Unternehmen.Wenn es nun gelänge, dieses Potenzial an qualifizier-ten Arbeitskräften länger im Erwerbsleben zu halten, dann
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würde sich das, wie sich leicht vorstellen lässt, auf die ge-samte Sozialversicherung auswirken.
Die deutsche Wirtschaft sollte nicht auf die Erfahrung ih-rer Älteren verzichten. Darum darf lebenslanges Lernennicht nur ein Konzept bleiben.
Lassen Sie mich noch eines sagen: Wir haben wederRentnerberge noch eine alte, graue Gesellschaft. Auchdiskutieren wir nicht über den Altenbericht, wie es dieBundesregierung in ihrer Presseerklärung tut. Wir spre-chen über das positive Potenzial, das ältere Menschen inder Gesellschaft darstellen.
Meine Fraktion, die CDU/CSU, ist der Meinung, dasswir, wenn wir die aus der demographischen Entwicklungentstehenden Anforderungen richtig, überlegt und tabulosangehen, eine große Chance haben, diese Anforderungenin der Zukunft zu meistern. Lassen Sie uns daran gemein-sam arbeiten!Wer nur einen Funken von der Arbeit versteht, die Hun-derttausende Altenpflegerinnen und Altenpfleger und alleim Ehren- und Hauptamt Tätigen für unsere älteren Men-schen in der Bundesrepublik tun, versteht, dass ich fürmeine Fraktion ein herzliches Wort des Dankes an dieseim Haupt- und Ehrenamt Tätigen richte.
Danke schön.
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5130 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungs-
antrag auf Drucksache 14/5322 soll zur federführenden
Beratung an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend und zur Mitberatung an den Ausschuss für Ar-
beit und Sozialordnung, den Ausschuss für Gesundheit,
den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen so-
wie den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-
folgenabschätzung überwiesen werden. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Dr.-Ing. Rainer Jork, Ilse Aigner, Günter Baumann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Nutzung von Geoinformationen in der Bundes-
republik Deutschland
– Drucksachen 14/3214, 14/4139 –
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie ein Ent-
schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Dr. Rainer Jork von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Geoinfor-mationstechnik ist ein wesentlicher Nutzungsbereich derInformationstechnik. Geoinformationen beschreiben Zu-stände, Prozesse und Entwicklungen auf, über und unterder Erdoberfläche. Was abstrakt klingt, erschließt sich amehesten, wenn man sich Anwendungsbeispiele aus demtäglichen Leben vor Augen führt. Die Wanderkarte für denWochenendausflug, der Wetterflug am Ende der Fern-sehnachrichten oder das Navigationssystem im PKW, alldies wäre ohne Geoinformationen nicht möglich.Etwa 80 Prozent aller erhobenen Daten weisen einenräumlichen Bezug auf, zum Beispiel in Form von zu-gehörigen Koordinaten, Ortsbezügen, Lagebeschreibun-gen und Adressen. Damit sind Geoinformationen als in-frastrukturelle Voraussetzung für die Verbesserung derLebensbedingungen heute von ähnlicher Bedeutung wiefrüher Straßen und Schienenwege. Geoinformationen ha-ben einen überaus interdisziplinären und dynamischenCharakter. Sie sind ein Rohstoff, der es ermöglicht, durchdie Zusammenführung mit anderen Informationen neueInformationen, Produkte und Dienstleistungen zu schaf-fen. Gerade mittelständische Dienstleister können hier-von sehr profitieren.Wenn der frühere Bundespräsident Roman Herzog einsteinen Ruck forderte, der durch Deutschland und dessenBildungs- und Wissenschaftssystem gehen müsse, hat erwohl nicht die Einführung der Green Card und die Anwer-bung ausländischer Fachkräfte gemeint. Green-Card-Ak-tionen in der Informationstechnik greifen allenfalls kurz-fristig. Es ist absolut notwendig, künftig kontinuierlicherund effektiver als bisher die neuen Wissensbereiche undHochtechnologien in Deutschland zu fördern, besondersdie Informationstechnik.Deutschland hat auf dem Geoinformationsmarkt iminternationalen Vergleich akuten Nachhole- und Hand-lungsbedarf. Das Finanzvolumen des deutschen Marktesfür Geoinformationen erreichte 1999 etwa 220 Milli-onen DM und 7 000Arbeitsplätze. Das geschätzte Wachs-tum liegt zwischen 10 und 30 Prozent pro Jahr.In den USA rechnet man mit weitaus höheren Wachs-tumsraten, vor allem wegen der dort besseren staatlichenRahmenbedingungen.
Dort ist die enorme Bedeutung von Geoinformationenseit langem erkannt. Präsident Clinton hat bereits 1994eine entsprechende Order zur Koordinierung erlassen. DieUSA fördern den Aufbau einer Geodateninfrastruktur mitmehreren Milliarden Dollar und amtliche Daten werdennahezu kostenlos abgegeben. Insbesondere amerikanischeUnternehmen drängen mit aller Macht auf den internatio-
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Walter Link
14948
nalen Markt und verkaufen orts- und raumbezogene Datenzur weiteren Nutzung.Das Hauptproblem in Deutschland ist sicher nicht derquantitative Mangel an Geodaten und auch nicht derenQualität. Das speziell deutsche Problem besteht darin,dass die amtlichen Daten unter Länderhoheit erhobenwerden und die Datenformate zu wenig aufeinander ab-gestimmt und kompatibel sind.Zudem kommt es oft zu Mehrfacherfassungen. Geoin-formationen werden nämlich auch in der Privatwirtschaftin großem Umfang erfasst.Damit kann es vorkommen, dass parallel ähnliche Da-tenbestände entstehen. Diese Mehrfacherfassungen vonGeoinformationen sind volkswirtschaftlich unsinnig.Nötig wäre ein zentrales Auskunftssystem, das dem Inte-ressierten Hinweise gibt, wo welche Daten in welcherQualität verfügbar sind.
Im Bereich der amtlichen Geodaten gibt es immerhinerste Verbesserungsansätze durch das Bundesamt für Kar-tographie und Geodäsie, das seit 1996 zentral Geodatenaus den Ländern sammelt.
Damit wird aber das Problem nicht gelöst, auf das ichbei meinen Kontakten mit der Wirtschaft vielfach ange-sprochen wurde. Es wird beklagt, dass die Preise für dieamtlichen Geodaten oft zu hoch sind. Gerade kleinere Un-ternehmen mit wenig Eigenkapital, vor allem in denneuen Bundesländern, können sich den Einkauf nicht leis-ten. Um marktfähige Produkte aus oft inhomogenen Da-ten herzustellen, entstehen ohnehin noch hohe Entwick-lungskosten.Hinzu kommt, dass von den Landesvermessungsäm-tern der Bundesländer bei der Datenabgabe vielfach un-terschiedliche Nutzungsbedingungen festgelegt werden.Das erleichtert nicht gerade den länderübergreifendenEinsatz der Daten.Ohne also die föderale Struktur Deutschlands infrage zustellen, muss doch festgestellt werden, dass die föderaleHoheit über öffentliche Daten besondere Schwierigkeitenbereitet. Solange 16 Bundesländer über die Erhebung,Bereitstellung und Vermarktung von Geodaten einzeln be-stimmen, so lange scheint es für die wertvollen Informa-tionen keine wirkliche Lösung des Verfügbarkeits-problems zu geben. Es fehlt eine ordnende Hand, diepolitische Führung, welche die Länderdaten auf Bundes-ebene koordiniert und Ordnung in das Chaos bringt.
Da Geoinformationen wesentlich mehr als die amtli-chen Geodaten der Länder umfassen, kann die föderaleAufgabenteilung völlig unangetastet bleiben. Der Bundmuss eine politische Führungsrolle übernehmen mit demZiel, eine funktionierende Geodateninfrastruktur für dengesamten Geoinformationsmarkt, also den privaten wieden öffentlichen Teil, zu schaffen. Als positives Beispielhierfür mag die Organisation des Rundfunks gelten.Um das Problem anzugehen, hat noch die alte Bundes-regierung im Jahre 1998 einen ständigen Interministeri-ellen Ausschuss für Geoinformationswesen, IMAGI,unter der Federführung des BMI eingerichtet. Leider hatdieser Ausschuss das Geoinformationswesen in Deutsch-land bisher noch nicht entscheidend vorangebracht.
Nach dem Beschluss der alten Bundesregierung von1998 sollte „zur besseren Vertretung der deutschen Inte-ressen im Ausland, insbesondere gegenüber der EU, einhochrangiger Vertreter auf Bundesebene in Fragen derGeoinformation nach außen eingesetzt werden.“Ich beklage, dass die benannte Vorsitzende des IMAGI,Frau Staatssekretärin Zypries, zumindest öffentlich bisherkaum in Erscheinung getreten ist. Ich sehe sie auch jetztnicht.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat im April 2000die Große Anfrage „Nutzung von Geoinformationen inder Bundesrepublik Deutschland“ an die Bundesregierunggerichtet, um den öffentlichen Missständen abzuhelfen.
Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Anfrageliegt nun vor.
– Sie können gerne eine Frage stellen. – Sie ist im We-sentlichen mit erheblicher Sorgfalt erstellt worden. Diebesondere Rolle der Geoinformation als Technologie- undWirtschaftsfaktor wurde augenscheinlich erkannt. Es liegtjetzt eine umfassende Bestandsaufnahme der Aktivitätenauf Bundesebene vor.Bei dieser Bestandsaufnahme handelt es sich aller-dings in erster Linie um eine Sicht auf die amtlichen Da-ten, die von Bundesstellen erfasst werden. Die Situationdes deutschen Geoinformationswesens insgesamt – alsoauch die Einbeziehung der Wirtschaft – ist aus der Ant-wort weitgehend ausgeklammert.
Damit wird zwar ein wichtiger, aber eben nur ein Teil desProblems behandelt.Besonders bedauerlich ist, dass der Antwort der Bun-desregierung deutlich entnommen werden kann, dass of-fensichtlich nach wie vor keine Bereitschaft besteht, einenhochrangigen politischen Vertreter auf Bundesebene fürFragen der Geoinformation zu benennen, der in dem ebengenannten Sinn tätig wird.
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Dr.-Ing. Rainer Jork14949
– Da bin ich gespannt, welchen Namen Sie nennen. – Invielen Punkten enthält die Antwort lediglich Absichtser-klärungen. Beschrieben ist, was man für sinnvoll undwichtig hält.
Konkrete Taten und Aktionspläne fehlen dagegen.Um eine spürbare Stimulierung des deutschen Geoin-formationsmarktes zu erreichen, sind jetzt konkreteSchritte und politische Initiativen zu ergreifen. Die Wich-tigsten sind im vorliegenden Entschließungsantrag derCDU/CSU genannt.
Ich nenne einige der Forderungen an die Bundesregie-rung: Bekennen Sie sich klar zur Zuständigkeit auch desBundes in Fragen der Geoinformation! Benennen Sieendlich einen hochrangigen politischen Vertreter, der dieKoordination innerhalb der EU und mit den Aktivitätender Länder übernimmt!
– Warum stellen Sie keine Zwischenfrage? Ich frage Sie:Warum stand in Ihrem ersten Antrag ebenfalls diese For-derung? Es hat sich doch in der Zwischenzeit nichts geän-dert.Sorgen Sie für eine Vereinheitlichung der Datenfor-mate bzw. für die Kompatibilität der erhobenen Daten!Bauen Sie ähnlich wie in den USA eine nationale Geoda-teninfrastruktur auf! Unterstützen Sie die Hersteller undauch die Anwender von Geoinformationssystemen!Ich darf daran erinnern, dass der Bundeskanzler gesagthat, die Informationstechnik sei Chefsache. Chefsachewar auch der Aufbau Ost. Ich habe aber den Eindruck,dass beide Chefsachen Akte ein und desselben Theater-stücks sind. Entwickeln Sie endlich einen Katalog kon-kreter Maßnahmen, die eine gemeinsame, effektive Nut-zung und Erhebung von Geoinformationen durchWirtschaft, Wissenschaft und Staat gewährleisten und be-fördern!
Noch etwas Grundsätzliches: Unsere Probleme dürfennicht auf Kosten anderer Länder gelöst werden. Der wis-senschaftliche Nachwuchs sowie Bildung und Forschungin unserem Lande müssen dringend und weit besser alsbisher gefördert werden. Ich fordere die Bundesregie-rung auf, hier das Nötigste zu tun. Sonst ist auch das Pro-blem der Geoinformation in Deutschland nicht wirklichlösbar.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die
SPD-Fraktion hat die Kollegin Dr. Margrit Wetzel das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Wissen Sie, wo Ekapa liegt? Ken-nen Sie Kapkaupunki? Nein? – Doch! Denn Sie alle ken-nen Kapstadt. Dieses kleine Beispiel zeigt schon, wiewichtig die internationale Verbindlichkeit von Namen ist.Allein diesem Randthema der Nutzung von Geoinforma-tionen wird im Herbst 2002 eine internationale Tagungder Vereinten Nationen in Berlin gewidmet sein.Daten sind weder trocken noch verstaubt oder lang-weilig, sondern sie sind der Schlüssel zu einem hochdy-namischen Wachstumsmarkt mit sehr qualifizierten neuenArbeitsplätzen. Lassen Sie mich deshalb einige Beispielenennen:Navigationssysteme.Der Autopilot auf Basis der elek-tronischen Seekarte macht nautisch schwierigste Schiffs-passagen mit der führerlosen Brücke technisch möglich.Ein anspruchsvolles Navigationssystem im PKWwird fürden Verbraucher bezahlbar. Im LKW führt die elektroni-sche Routenplanung zu einer optimalen Auslastung derFahrzeuge. Leerfahrten können vermieden werden. Dasist aktiver Umweltschutz und CO2-Reduzierung dankGeodatenmanagement.
Ist Ihnen bewusst, dass die modernen Handydienstleis-tungen nur auf der Basis zuverlässiger Geodaten möglichsind?Nehmen wir Land- und Forstwirtschaft: Waldscha-denserfassung, Bodenschutz durch sparsamste Düngung,Ernteschadenversicherung, Kontrolle flächenbezogenerBeihilfen – alles wird wirtschaftlich überschaubar, ist be-reits jetzt weder personal- noch kostenintensiv technischmöglich.Oder BSE: Hilfestellung durch Visualisierung überGeodaten, Tierbestände, BSE-erkrankte Tiere, Einzugs-bereiche, Hauptlieferrichtungen bestimmter Futtermittel-hersteller, Milchaustauscher, selbst die Häufigkeit derDasselfliegenbekämpfung – all das kann mithilfe von Geo-daten optisch überlagert werden, um daraus erste Ansätzezur Lösung wichtiger aktueller Fragestellungen abzuleiten.Oder nehmen wir die Raumplanung, zum Beispiel dieFindung einer Autobahntrasse: Planung wird exakter; Bür-gerbeteiligung kann, wenn sie gut vorbereitet ist, Konflikteentschärfen, statt sie zu produzieren. Wer optisch groß-flächig projiziert, welche Nutzungen und welche Nut-zungskonflikte es wo gibt, Naturschutzgebiete, Moore,Flussverläufe mit notwendigen Querungsbauwerken auf-zeigt, Einwohnerverteilungen, Belastungskorridore über-lagert, findet nicht nur die konfliktärmste Trasse schneller,sondern kann sie auch sofort anschaulich darstellen undbegründen.Oder das Beispiel der Hilfe im Katastrophenfall,beim Oder-Hochwasser: Über Erdbeobachtung und durchSatellitendaten war konkrete, zielgenaue Hilfe, Vorsorgeund Evakuierung schneller möglich als jemals zuvor.
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Dr.-Ing. Rainer Jork14950
Geodaten, aktuell, zuverlässig und von gleichbleiben-der Qualität, sind öffentliche Infrastruktur mit ständig zu-nehmenden, grenzenlosen Anwendungsmöglichkeiten.
Deshalb wollen wir die anwendungsorientierte Forschungfördern, damit insbesondere kleinen und mittleren Unter-nehmen durch die uneingeschränkte, zuverlässig verfüg-bare Nutzung dieses spannenden Zauberlehrlings neueChancen gegeben werden.
Deutschland nimmt in Qualität und Stand seiner Geo-daten noch eine internationale Spitzenstellung ein.
– Neuerdings, das stimmt. – Aber sie ist durch die welt-weite Konkurrenz gefährdet. Denn aus Indien kommennicht nur Green-Card-Inhaber. Wir sind zum Beispielauch darauf angewiesen, in Indien produzierte Satelliten-bilder zu kaufen, weil uns leider Staatsverschuldung undZinsbelastung die Hände binden, sodass wir vom Finanz-minister keine Mittel für einen eigenen Satelliten zur Erd-beobachtung fordern können. Und wer uns die Staatsver-schuldung eingebrockt hat, das brauche ich hier, glaubeich, nicht zu betonen.Der Interministerielle Ausschuss für Geoinformati-onswesen und sein Konzept eines effizienten Geoda-tenmanagements finden deshalb unsere überzeugte undabsolut engagierte Unterstützung.
Die selbstkritische Bereitschaft, ein noch effizienteresManagement im eigenen Zuständigkeitsbereich zu ent-wickeln, ist hervorragend. Aber wir brauchen bis in dieEbene der Gemeinden hinein die Bereitschaft, das mo-derne Datenmanagement angemessen und zügig zu nut-zen.
Wir wollen den noch vorhandenen Vorsprung Deutsch-lands auch politisch nutzen – Sie müssen unserenEntschließungsantrag nur einmal anständig lesen, HerrJork –,
um die internationale Kooperation, die Kompatibilität derinternationalen Daten, Normung und Nutzung EU-weitvoranzutreiben.
Deutschland soll in den entsprechenden EU-Gremienhochrangig und kompetent vertreten sein.Ich danke speziell Frau Staatssekretärin Zypries fürihren überzeugenden Einsatz als Leiterin des IMAGI.Ich hoffe, dass diese parlamentarische Debatte, die im-merhin die allererste zu diesem Thema ist, dazu beiträgt,diesem Thema die notwendige öffentliche Aufmerksam-keit zukommen zu lassen
– ja, auch das erstmals –, damit Wirtschaft, Verwaltungund Politik die vor uns liegenden Wertschöpfungspoten-ziale erkennen, begreifen und umsetzen.
Frau Kol-
legin Wetzel, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Jork?
Ja, wenn er das möchte.
Bitte
schön, Herr Jork.
Liebe Kollegin
Wetzel, Sie haben vorhin nicht gefragt. Ich nehme mir
jetzt die Freiheit zu fragen.
Ich möchte versichern, dass ich Ihren Entschließungs-
antrag „anständig“ gelesen habe. Ich habe auch dessen
erste Fassung sehr „anständig“ gelesen. Deshalb meine
Frage: Können Sie mir einmal erklären, weshalb wesent-
liche Forderungen, die auch in unserem Entschließungs-
antrag enthalten sind, in der zweiten Fassung Ihres Antra-
ges nicht mehr vorkommen?
In der ersten Fassung des Antrages der SPD stand näm-
lich, dass Sie fordern, dass ein höherer Vertreter der Re-
gierung diese Aufgabe wahrnimmt. In der zweiten Fas-
sung fehlt dieser Punkt.
Bei „anständigem“ Lesen hatte ich einfach Probleme,
die Zusammenhänge zu verstehen. Seien Sie so nett und
erklären Sie sie mir bitte!
Herr Jork, das erkläre ichIhnen gerne. Dieser Antrag ist mehr oder weniger von mirgeschrieben worden. Ich habe ihn abgestimmt
mit Arbeitsgruppen, mit anderen Vertretern. – Nein, nichtabgeschrieben, sondern abgestimmt. – Ihren Antrag kann-ten wir nicht. Ich habe ihn heute erst erhalten. Es gibt we-der einen ersten noch einen zweiten Antrag. Es gibt einenEntwurf, der im Umlauf war und an dem geringe redak-tionelle Änderungen vorgenommen wurden.
– Moment, diesen Antrag müssen Sie mir erst einmal zei-gen. Wir haben die CDU/CSU-Fraktion nicht in unsereBeratungen einbezogen. Mir ist das nicht bekannt. Ichweiß nicht, welcher Entwurf Ihnen vorgelegen haben soll.
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Dr. Margrit Wetzel14951
Auf jeden Fall ist an der hochrangigen politischen Vertre-tung Deutschlands in den EU-Gremien nie irgendetwasgeändert worden. Wir wollen, dass Deutschland dort ver-treten ist. Nichts anderes ist der Fall.
– Einen Dialog gibt es doch nicht, oder, Herr Präsident?
Nein, es
gibt keinen Dialog.
Es sei denn, Sie würden eine weitere Zwischenfrage des
Kollegen Jork zulassen.
Ich lasse sie zu.
Bitte
schön, Herr Jork.
Frau Kollegin
Wetzel, haben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen den
ersten Antrag, der von Herrn Tauss unterschrieben wor-
den ist, gleich einmal gebe? Ich suche ihn aus meiner Ta-
sche heraus.
Dann wissen Sie, wie bei Ihnen der Entwicklungsgang
war, und wir könnten im Nachgang – wenn es Ihnen Recht
ist – darüber sprechen. Ich lege Ihnen diesen Antrag gleich
vor; ich habe ihn hier.
Darauf antworte ich Ihnen
gerne. Ein Antrag von Herrn Tauss hat bei uns in der
Fraktion und auch in den Arbeitsgruppen nicht vorgele-
gen.
– Es ist so. Ich weiß beim allerbesten Willen nicht, was
Sie in der Hand haben. Herr Tauss hat einige Ergän-
zungsvorschläge gemacht – das ist sicherlich auch bei Ih-
nen in der Fraktion üblich – und die sind alle aufgenom-
men worden.
Ich weiß beim besten Willen nicht, welche geheimnisvol-
len Quellen Sie haben. Ich denke, Sie schaden damit dem
Thema. Das ist absolut absurd.
Ich möchte die letzten Sekunden meiner Redezeit dafür
nutzen, etwas zu Ihrem Antrag zu sagen: In der Sache
wollen Sie mit Ihrem Antrag das Geodateninfor-
mationswesen unterstützen. Ihr Antrag ist – wenn Sie ihn
mit unserem vergleichen, werden Sie das feststellen – we-
sentlich schlechter als unserer.
Wir brauchen weder einen Maßnahmenkatalog für Öf-
fentlichkeitsarbeit noch ein Bekenntnis der Bundesregie-
rung. Das ist Quatsch! Wir brauchen auch keine qualifi-
zierte Erhebung der wirtschaftlichen Bedeutung. Die
Märkte werden die neuen Anwendungen aufsaugen wie
ein Schwamm. Sie werden eine solche Eigendynamik ent-
wickeln, dass Sie noch staunen werden.
Wir greifen dieses Thema auf und setzen uns überzeu-
gend dafür ein. Wir wünschen dem IMAGI einen durch-
schlagenden Erfolg und werden unserem Entschließungs-
antrag zustimmen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Ulrike Flach
von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Wenn ich nur die wichtigsten Anwendungenvon Geoinformationen aufzählen wollte, wäre meine Re-dezeit – sie ist für die Liberalen knapp bemessen – bereitsnach dieser Aufzählung zu Ende. Von Awie Altlastenkar-tierung bis Z wie Zivilschutz reichen die Nutzungsmög-lichkeiten. Sie können froh sein, dass mir zu dieser fort-geschrittenen Stunde nur eine Redezeit von dreieinhalbMinuten zusteht und ich mich daher kurz fassen muss.Die Antwort auf die Große Anfrage der Union ist zwarsehr umfangreich, hinterlässt aber auch Verwirrung. Dennmehr als 200 Fachaufgaben mit Geodatenbezug werdenallein in 55 Einrichtungen mit Bundeszuständigkeit wahr-genommen;
von den Ländern und der EU ganz zu schweigen. Ich freuemich, dass heute auch Zuhörer der Länderebene anwe-send sind, die ja offensichtlich betroffen sind.
– Schauen Sie genau hin.
Damit kommen wir zu einem der Kernprobleme: zurmangelnden Koordination und Harmonisierung von Da-tenerhebungsmethoden und Datenkriterien sowie zurAufbereitung und Verfügbarkeit. So dauert es leider inmanchen Katasterämtern inzwischen fünf Jahre, ehe eine
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Dr. Margrit Wetzel14952
neue Grundstücksgrenze wirklich vermessen und einge-tragen ist. Zwar ist die Datengenauigkeit in Deutschlandeinmalig – das bestätigt uns jeder –; aber für Unterneh-men, die als Nutzer von Geodaten zum Beispiel für Stand-ortentscheidungen Datenprodukte brauchen, sind dieZeitabläufe zu lang. Gerade länderübergreifende Datenpassen nicht zusammen und sind viel zu teuer.Liebe Kollegen, es fehlt eine homogene Systemland-schaft. Das heißt, Daten müssen immer wieder – daraufhaben die beiden Vorredner schon hingewiesen – zwi-schen unterschiedlichen Computersystemen neu konfigu-riert werden. Wir brauchen einen möglichst auch in der In-dustrie verwendeten Standard und keine langen Debatten– wie heute Abend – über die Weiterentwicklung der ein-heitlichen Datenbankschnittstelle.Die Einrichtung des Interministeriellen Ausschussesfür Geoinformationswesen war sinnvoll – wir stimmenihr zu –, dieser muss aber deutlich an Kooperationsfähig-keit mit der Wirtschaft gewinnen. So, wie der Kanzler dieLandwirtschaft von der Ladentheke her denken will, müs-sen wir Geoinformationen von der Nutzerseite her den-ken.
Der Zugriff für die Bürger, die Datenumsetzung und dieTransparenz müssen verbessert werden.Liebe Kollegen, in beiden Entschließungsanträgen,über die wir heute abstimmen, sind gute Forderungen ent-halten, um die Nutzung und Anwendung von Geoinfor-mationen voranzubringen. Aus diesem Grunde wundereich mich über die etwas erregte Diskussion. Das, Herrvon Klaeden, ist offensichtlich bei einigen Kollegen da-rauf zurückzuführen, dass sie den Inhalt nicht kennen.
Der Unionsantrag geht aus meiner Sicht weiter. SeineAnnahme würde uns – da stimme ich Ihnen zu, HerrDr. Jork – endlich eine Person bringen, die auf Regie-rungsebene Ansprechpartner im Wust der Geoinformatio-nen ist. Deshalb stimmen wir Ihrem Antrag zu.
Der Koalitionsantrag setzt zwar Akzente in die richtigeRichtung, aber, ehrlich gesagt: Sie könnten Ihrer Bundes-regierung ruhig etwas mehr Dampf machen. Dennschließlich sind Sie jetzt dran.
Wir hätten die Möglichkeit, zu einer transparenteren, nut-zerfreundlichen Geoinformationspolitik zu kommen. Des-halb werden wir uns bei Ihrem Antrag enthalten.
Ich hätte mir gewünscht, dass angesichts der grundsätz-lichen Übereinstimmung auf diesem Gebiet ein gemeinsa-mer Antrag von uns allen entstanden wäre. Bis vor weni-gen Minuten habe ich mir gewünscht, dass dies auch beieinem Bereich der Geoinformationen möglich ist, für denich in meinem früheren Leben als Umweltpolitikerin gear-beitet habe: beim satellitengestützten Umweltmonitoring.
Nun höre ich vom Kollegen Fischer, dass dieser Antrag imUmweltausschuss erneut gescheitert ist. Das bedaure ich,liebe Kollegen. Das wäre eine Möglichkeit gewesen, ge-meinsam etwas voranzubringen.
Wir sollten daran arbeiten, dass wir das in Zukunft etwasbesser machen.
Ich erteile dem
Abgeordneten Hans-Josef Fell das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Herr Jork, natürlich schauen auch wir neidisch in dieUSA. Dort werden Milliardenbeträge für den Aufbau vonGeoinformationssystemen ausgegeben. Aber die USAhaben eben einen geordneten Haushalt. Hätten Sie uns ei-nen geordneten und nicht überschuldeten Haushalthinterlassen, könnten wir auch mehr Mittel für den not-wendigen Aufbau dieser Datensysteme zur Verfügungstellen.
Ich fand den größten Teil Ihrer Rede völlig in Ordnung,denn es ist unbestritten: Geoinformationsdaten sind wert-volle Daten, die in vielen Bereichen die Grundlage sinn-vollen planerischen Handelns bilden. Bündnis 90/DieGrünen und die SPD unterstützen daher alle Bestrebun-gen, eine weitere Verbesserung der Gewinnung, der Ver-arbeitung und der Nutzung von Geoinformationen vo-ranzutreiben.Lassen Sie mich zunächst einige Schwerpunktbereicheaufzeigen, in denen Geoinformationen unverzichtbar sindund praktisch die Grundlage für gezieltes und erfolgrei-ches Handeln darstellen.Auswirkungen der Klimaveränderungen zeigen sichzuerst im globalen Maßstab. Einzelbeobachtungen vorOrt sind wenig hilfreich und führen häufig zu Fehlein-schätzungen. Geoinformationen bieten die wichtigste Da-tenbasis für klimabedingte Veränderungen, sei es die Aus-breitung von Wüsten, das Abschmelzen von Gletschern,der Anstieg des Meeresspiegels, das Abholzen von Wäl-dern, Sedimentationen oder Bodenerosionen, und auchfür den Hochwasserschutz. Viele für die menschliche Da-seinsvorsorge unverzichtbare Wissensgrundlagen findensich in den Geoinformationen.
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Ulrike Flach14953
Meine Aufzählung ist lange nicht vollständig und be-inhaltet im Wesentlichen auch nur den Umweltbereich.Mir ist sehr wohl bewusst, dass Geoinformationen auch inanderen Bereichen wie der Informationstechnologie, derInfrastruktur, der Wirtschaft, der Landwirtschaft und derVerwaltung sehr wichtig sind. Vor allem mit der Raum-fahrt, über Satelliteninformationen, lassen sich solche Da-ten umfassend erheben.Wie wichtig diese Erhebung von Geodateninformatio-nen für Bündnis 90/Die Grünen und für die Bundesregie-rung ist, wurde schon im Januar 2000 deutlich, als dasUmweltministerium einen viel beachteten Workshop zurFernerkundung für Umwelt, Natur und Landschaft orga-nisiert hat. Frau Probst als wichtigste Koordinatorin undMinister Trittin haben diesen Workshop initiiert. DieseFernerkundungsdaten liegen heute vor, und wir orientie-ren uns auch an diesem Workshop.Das letzte herausragende Ereignis für die Fernerkun-dung war die von der Bundesregierung maßgeblich unter-stützte SRTM-Mission des Spaceshuttle Endeavour. Eineimmense Datenflut mit der präzisen dreidimensionalenVermessung der bewohnten Erdoberfläche wurde gesam-melt.Ich selbst konnte vor wenigen Wochen beim DeutschenLuft- und Raumfahrtzentrum in München/Oberpfaffen-hofen die ersten beeindruckenden Auswertungen derSRTM-Mission miterleben.Bündnis 90/Die Grünen sehen aufgrund der wertvollenErgebnisse daher den Schwerpunkt der Raumfahrtfor-schung gerade in der Erdbeobachtung. Wir haben uns im-mer dafür eingesetzt
und werden auch in Zukunft weiterhin dafür arbeiten,Frau Flach, dass die Mittelausstattung für die Erdbeo-bachtung vor allem in der kosteneffizienten unbemanntenRaumfahrt den Erfordernissen angepasst wird.
Die noch lange nicht bewältigte Datenflut der SRTM-Mission ist ein Beispiel dafür dass auch die Datenaus-wertungen und die Datennutzungen verbessert werdenmüssen und können. Noch immer liegen Daten brach, dieeiner wichtigen Nutzung zugeführt werden könnten. Al-lerdings liegt dies auch darin begründet, dass der Aufbaueiner entsprechenden Nutzungsinfrastruktur naturgemäßnicht mit der Erfassung der Datenfülle Schritt halten kann.Die Bundesregierung hat, wie die vorliegende Antwortauf die Große Anfrage der CDU/CSU zeigt, wesentlicheVerbesserungen vorangetrieben und arbeitet weiterhin ak-tiv und erfolgreich an Verbesserungen.
Mit der Einrichtung des Interministeriellen Ausschussesfür Geoinformationswesen wurde die Koordination maß-geblich gefördert.Da hauptsächlich die Länder für die Bereitstellung derGeoinformationsdaten zuständig sind, hat die Bundesre-gierung mit der Bund-Länder-Vereinbarung vom1. September 1999 bereits die Grundlagen für eine Ver-einfachung der Nutzung angestoßen. Fachdatenzentrensind an verschiedenen Bundesämtern im Aufbau. Der öf-fentliche Zugang zu den Geoinformationen wurde lau-fend verbessert, zum Beispiel über das Internet.Mit Millionenbeträgen wurden verschiedene Projektevon Datenbanken oder Informationssysteme von derBundesregierung unterstützt.All diese Erfolge dürfen aber nicht darüber hinwegtäu-schen, dass weiterhin an der Verbesserung der Nutzungvon Geoinformationen gearbeitet werden muss. Der vonden Regierungsfraktionen vorgelegte Antrag trifft dierichtigen Ziele und beschreibt die notwendigen Maßnah-men; übrigens weitaus besser als der Antrag derCDU/CSU.
Bündnis 90/Die Grünen sind sich daher mit dem Ko-alitionspartner SPD einig, dass dem Anliegen der Unionvoll Rechnung getragen wird. Die Nutzung von Geoin-formationen wird damit in Zukunft weiter verstärktwerden und die Informationen werden für die Lösungvieler Probleme und Zukunftsaufgaben zur Verfügungstehen.
Danke schön. –
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Heinrich Fink.
Sehr geehrte Frau Präsiden-tin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es istdurchaus zu begrüßen, dass durch die Große Anfrage derCDU/CSU die Bundesregierung genötigt ist, eine umfas-sende Bestandsaufnahme auf den Tisch des Hauses zu le-gen. Damit wird das Jahr 2002 als Jahr der Geowissen-schaft angemessen eingeläutet.Ohne Zweifel können Geodaten wichtige Aufschlüsseüber die Beschaffenheit der Umwelt, der Landschaft oderder Meere, geben. Frau Dr. Wetzel hat das anschaulich,engagiert und unübertroffen geschildert.
Doch die plötzliche Entdeckung der hohen Bedeut-samkeit von Geodaten macht mich misstrauisch. Als rele-vant für die Nutzung von Geoinformationen sieht der An-trag der CDU/CSU sowohl zivile wissenschaftlich-technische – dem können wir zustimmen – als auch mi-litärische Bereiche an. Der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen schließt die militärische Nutzung nicht un-bedingt aus.Nach meiner Erinnerung ging es bei Veranstaltungenzur Datenfernerkundung vordergründig um deren Intensi-vierung zu friedlichen Zwecken. Aber ich habe den Ein-druck, dass die Bemühungen der Antragsteller eigentlich
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Hans-Josef Fell14954
auf die Legitimation laufender Planungen zum Satelliten-navigationssystem Galileo innerhalb des 5. EU-For-schungsrahmenprogramms gerichtet sind.
In der Antwort auf die Große Anfrage steht auf Seite 19:Die Satellitentechnik spielt eine wachsende Rolle beider Gewinnung und Verteilung von Informationen. ...Das kann in Einzelfällen den Aufbau neuer Welt-
dass stärker auf Produkte des entstehenden privatenAnbietermarktes zurückgegriffen wird.Meine Damen und Herren, der Entschließungsantragder CDU/CSU, aber auch der entsprechende Antrag vonSPD und dem Bündnis 90/Die Grünen lesen sich wie einWerbekatalog für die Auslastung von Galileo. Im Ent-schließungsantrag der Regierung steht, dass die Bundes-regierungzum Wohle einer nachhaltigen Entwicklung ... denEinsatz effizienter Technik unter konsequenter Nut-zung von Geoinformation in allen Gesellschaftsbe-reichen und Anwendungsfeldern ... entschieden vor-antreiben soll.Soll das bedeuten, dass die Bundesregierung auf Ge-heiß der Wirtschaft künftige Nutzer für das Satellitensys-tem werben soll? Denn zunächst sollen europäische Steu-erzahler und Industrie in den Jahren 2001 bis 20073,25 Milliarden Euro dafür zahlen. Namentlich Daimler-Chrysler erwartet für seine Vorleistungen in kurzer Zeithohe finanzielle Rückläufe. Aber der Markt für Geo-informationen in der Privatwirtschaft, in Institutionenund Behörden ist meines Wissens ziemlich begrenzt.Was eigentlich soll Galileo können, was das GPS-Sys-tem aus den USA nicht kann? Die Deutsche Gesellschaftfür Luft- und Raumfahrt bemerkt in ihren Internetseiten,dass diederzeit für die zivile Nutzung verfügbarenSatellitennavigationssysteme – das russische GLO-NASS und vor allem das weltweit genutzte amerika-nische GPS – im Hinblick auf ihre Genauigkeit undZuverlässigkeit für eine Vielzahl von Anwendungenausreichendsind. Ich bin deshalb nicht davon überzeugt, dass es hierhauptsächlich um die zivile Nutzung von Geoinformatio-nen geht; denn die zahlreichen Verweise auf die militäri-schen Seiten der Satellitennavigation machen einfachskeptisch. Die DLR hebt zum Beispiel hervor, dass es sichbeim GPS um ein
handelt, dessenVerfügbarkeit jedem ausländischen – also aucheuropäischen – Mitspracherecht entzogen ist.
Lieber Herr
Kollege, selbst bei großzügiger Betrachtung ist Ihre Re-
dezeit bereits ausgeschöpft.
Meine Fraktion betrachtet
eine militärische Variante der Nutzung von Galileo mit Arg-
wohn, wenn Westeuropa damit eigene militärische Interes-
sen verfolgen würde. Das wird die PDS nicht unterstützen.
Herr Kollege,
ich glaube, das wäre ein schöner Schlusssatz. Ihre Rede-
zeit ist tatsächlich vorbei.
Wir sehen uns in der Ver-
antwortung, dafür zu wirken, dass wissenschaftliche For-
schung ausschließlich nichtmilitärischen Zwecken dient.
Das Wort hat
jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf
Körper.
F
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Es ist in der Tat richtig, dass das wirtschaftli-che Potenzial der Geoinformationen gewaltig ist. Das Vo-lumen des deutschen Marktes erreicht derzeit rund125 Millionen Euro bei einem jährlichen Wachstum zwi-schen 10 und 30 Prozent. Dem europäischen Markt wird biszum Jahre 2004 eine Steigerung von 840 Millionen Europrognostiziert. Der Geoinformationsmarkt der USA hattebereits 1998 ein Volumen von 4,2 Milliarden US-Dollar.Die Wirtschaftsleistungen im Zusammenhang mit Geoin-formationen beliefen sich auf 3,5 Billionen US-Dollar – dieHälfte der Gesamtwirtschaftsleistung der Vereinigten Staa-ten von Amerika.Mit nicht geahnter Dynamik werden weitere wichtigeAnwendungsfelder erschlossen. Ein Beispiel dafür sinddie künftigen Dienste für Handys.Die Bundesregierung hat die Chancen, die der Geoda-tenmarkt gerade auch für kleine und mittlere Unterneh-men bietet, erkannt und in den letzten beiden Jahren er-hebliche Anstrengungen unternommen.
Lieber Herr Dr. Jork, nicht seit 16 Jahren, aber seit1990 sind Sie im Deutschen Bundestag. Bis zum heutigenTag habe ich zu diesem Thema bis auf Ihre Große Anfragekeine einzige Rede, keine einzige Initiative erlebt.Ja, die Situation war anders. Unter dem alten Bun-desinnenminister wäre das zuständige Bundesamt um einHaar liquidiert worden.
Das ist Ihre Politik zu diesem Sachbereich gewesen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Dr. Heinrich Fink14955
Jetzt fangen Sie nicht an, so zu tun, als ob Sie die Weisheiterfunden hätten. Ich glaube, es ist nicht redlich, was Sie indieser Sache tun.Im Übrigen – so sage ich einmal – ist diese Bundesre-gierung für die Kompetenzzuteilung in unserer Verfas-sung nicht verantwortlich. Dieser Bereich liegt nun ein-mal in Länderkompetenz,
und wir müssen im föderalen System dafür sorgen, dasswir vernünftige Lösungen zustande bekommen.
Dann sage ich Ihnen noch etwas, Herr Dr. Jork: Der In-terministerielle Ausschuss für Geoinformationswesenwurde 1998 gegründet – das ist richtig –, aber erst nachdem Regierungswechsel ist die Konzeption eines effizi-enten Managements fürGeodaten auf Bundesebene ent-wickelt worden.
Herr Staatsse-
kretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
F
Damit hatten Sie als Bundesre-
gierung überhaupt nichts zu tun.
Sie haben vielleicht formal etwas gemacht, aber inhaltlich
überhaupt nichts.
Herr Staatsse-
kretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
F
Ich möchte gerade noch etwas zu
dem Interministeriellen Ausschuss für Geoinformations-
wesen sagen,
weil es mir wichtig ist, darauf hinzuweisen, dass sich der
gesamte Prozess in der Umsetzungsphase befindet, wobei
vorrangig ein Auskunfts- und Zugriffssystem entsteht, das
die in der Vergangenheit in mehr als 55 Einrichtungen
in Bundeszuständigkeit unkoordiniert aufgebauten Geo-
datensätze verknüpfen wird. Das ist unsere Lösung.
Ich will noch weiter darstellen, aber wenn Herr Kol-
lege Dr. Jork jetzt eine Zwischenfrage stellen möchte,
dann kann er das gern tun.
Ich danke Ihnen,
Herr Staatssekretär. Das erspart mir eine Kurzinterven-
tion.
Nachdem Sie mir direkt Unredlichkeit unterstellten
und vorwarfen – Sie haben gesagt, das, was ich getan
habe, sei nicht redlich gewesen –, frage ich Sie, ob es nicht
eine übliche und redliche Angelegenheit ist,
dass man dann, wenn man einen Aufgabenbereich als
wichtig erachtet, sich mit einer Großen Anfrage um die
Lösung der Probleme bemüht.
Ich lasse mich von Ihnen auch nicht in jeder Sache –
Sie wissen, dass ich 1990 aus einem der neuen Bundes-
länder hierher in den Bundestag gekommen bin – im Hin-
blick auf Fragen, deren Klärung früher versäumt worden
ist, in die Pflicht und Verantwortung nehmen.
Ist es nicht für Sie auch eine tolle Sache, dass Sie schon
zwei Jahre an der Regierung sind, dass Sie schon zwei
Jahre lang etwas tun können
und dass Sie nach zwei Jahren mit einer solchen Anfrage
ernst genommen werden?
F
Lieber Herr Dr. Jork, das Themazeigt beispielsweise auch, dass 16 Jahre lang Entwicklun-gen verschlafen worden sind und dass diese Bundesregie-rung handelt.
Das kann ich Ihnen auch noch weiter deutlich machen.Im Geodatenzentrum des Bundesamtes für Kartogra-phie und Geodäsie, Außenstelle Leipzig, haben wir bei-spielsweise eine bundesweite Datenbank für Geobasis-daten mit Anschluss an das Internet geschaffen.Hervorgehoben werden muss hier die Zusammenarbeitdes Bundes mit den Ländern, die eben nach dem Grund-gesetz für die Erfassung solcher Basisdaten verantwort-lich sind.Hier haben die Länder und das zuständige Bundesamtdas Amtliche Topographisch-Kartographische Informati-onssystem entwickelt. Das sollten Sie auch einmal zurKenntnis nehmen. Durch das Geodatenzentrum nimmtder Bund seine häufig geforderte Koordinierungsfunk-tion wahr. Wir brauchen da nicht gemahnt zu werden,sondern wir machen dies.
Auch in der Europäischen Kommission wird Geoin-formation inzwischen als ein zentraler Teil der Informati-ons- und Wissensgesellschaft gesehen. Auf politischerEbene ist die Bundesregierung gerade dabei auszuloten,wie das europäische Geoinformationswesen – natürlichunter deutscher Mitwirkung – gestärkt werden kann. Ichbin zuversichtlich, dass die angebahnten Gespräche dazu
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Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper14956
beitragen, die bei der EU gelegentlich noch vorherr-schende abwartende Haltung zu überwinden.Lassen Sie mich zusammenfassen: Diese Bundesre-gierung wird dafür sorgen, dass die Anwendung der Geo-informationen den politischen Stellenwert erhält, der ihrim Hinblick auf ihre außerordentlichen Chancen für dieEntwicklung der Gesellschaft zukommt. Sie wird in Zu-sammenarbeit mit den Ländern sicherstellen, dass amtli-che Geodaten für die Unterstützung der Wirtschaft undder Wissenschaft stetig zur Verfügung stehen, sie wird dieAnwendung von Geoinformationen bei der Modernisie-rung der Bundesverwaltung durch den InterministeriellenAusschuss für Geoinformationswesen koordinieren undfortentwickeln und sie wird sich dafür einsetzen, dass dasGeoinformationswesen im internationalen Bereich unterdeutscher Teilnahme und Mitwirkung gestärkt wird. DieBelehrungen, Herr Dr. Jork, können Sie für sich behalten;wir haben sie nicht nötig.
Ich schließe da-
mit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnis-
ses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/5323. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
CDU/CSU und eine Stimme aus der PDS bei Enthaltung
der F.D.P. und der anderen Stimmen aus der PDS ange-
nommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache
14/5321. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag?
– Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs-
antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. ab-
gelehnt worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Gerhard Jüttemann, Angela Marquardt, Rolf
Kutzmutz, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Änderung des Postgesetzes
– Drucksache 14/1108 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 14/2109 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Elmar Müller
Die Abgeordneten Barthel, Müller, Hustedt und Funke
sowie der Parlamentarische Staatssekretär Mosdorf bit-
ten, ihre Reden zu Protokoll geben zu dürfen.1) Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann redet in die-
ser Runde nur der Abgeordnete der PDS, Gerhard
Jüttemann. Bitte, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! In der Debatte zur zweiten und drit-ten Lesung des Postgesetzes hat der Vertreter der SPD,Hans Martin Bury, im Oktober 1997 gesagt:Wir treten für einen fairen Wettbewerb ein. Dieserbasiert auf ordentlichen Arbeitsplätzen. Deswegenwollen wir eine Lizenzbestimmung, wonach alle An-bieter im Postsektor die üblichen wesentlichen Ar-beitsbedingungen einhalten müssen.Der damalige Antrag der PDS auf Festschreibung so-zialer Standards im Postwesen wurde rundweg abge-lehnt, auch von der SPD, weil diese, wie Bury damalssagte, einen eigenen, besseren hatte. Dieser angeblichbessere Antrag ist jetzt im Postgesetz verankert und führtdazu, dass die Konkurrenten der Post, von der Regulie-rungsbehörde ungehindert, flächendeckend die im Post-sektor üblichen wesentlichen Arbeitsbedingungen unter-schreiten. Der Trick ist einfach: Im Postgesetz ist zwar dieRede von den wesentlichen Arbeitsbedingungen, dienicht unterschritten werden dürfen. Die Regulierungs-behörde prüft aber nicht die Arbeitsbedingungen, sondernlediglich die Arbeitsverhältnisse.
Die Frage lautet also nur noch: Sind die Arbeitsver-hältnisse versicherungspflichtig oder nicht? Die wesentli-chen Arbeitsbedingungen jedoch, von denen das Gesetzausgeht, umfassen weit mehr: Arbeitslohn, Arbeitszeit,Urlaub und Kündigungsschutz. Das bedeutet: Das Post-gesetz ist an dieser Stelle so beliebig – um nicht zu sagen,schlampig – formuliert, dass die eingangs zitierte angeb-liche Absicht der SPD, also die Einhaltung der üblichenwesentlichen Arbeitsbedingungen im gesamten Postsek-tor, überhaupt nicht zum Tragen kommt.
Das Ergebnis ist die absolute Umkehrung der formu-lierten Idee. Nicht die Postkonkurrenten passen ihre Ar-beitsbedingungen an die der Deutschen Post AG an, son-dern die Deutsche Post AG senkt das soziale Niveau derbei ihr üblichen Arbeitsbedingungen auf das Niveau ihrerKonkurrenten ab. Die ehemalige Staatspost macht das aufzwei Wegen. Erstens hat sie unter dem Dach des Konzernsein riesiges Geflecht von Subunternehmen geschaffen,in denen die Tarife der Deutschen Post AG nicht gelten.Schlimmer noch: In diesen Unternehmen wird vielfachmit Scheinselbstständigen und Menschen in prekären Be-schäftigungsverhältnissen gearbeitet. Erst gestern wurdebekannt, dass die Post durch Auslagerung bis Ende nächs-ten Jahres 12 000 LKW-Fahrer einsparen will. Die Arbeitwird dann von Privatunternehmen übernommen, die ihreMitarbeiter auch unter unsozialen Bedingungen beschäf-tigen.Der zweite Weg ist der Abbau der geltenden Tarif-verträge. Wer seit Anfang dieses Jahres neu bei der Postanfängt, für den gelten diese Tarife schon nicht mehr. Er
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Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper14957
1) Anlage 3muss Einkommensverluste zwischen 7 und 29 Prozenthinnehmen. Der Grund dafür ist die Verwandlung derehemaligen Bürgerpost in eine Börsenpost. Was sich nichtrechnet, wird abgeschafft.Dazu zitiere ich den Vorsandsvorsitzenden der Deut-schen Post AG, Klaus Zumwinkel, in der „Wirtschaftswo-che“ vom 31. August 2000:Wir haben mit den Gewerkschaften vereinbart, dassjeder, der etwa in der Zustellung neu zu uns kommt,nicht nach den Posttarifen bezahlt wird, sondern da-nach, was auch für die Konkurrenz gilt ...
Der Gegenwert dieses Tarifvertrags und der darausresultierenden Einsparungen bei den Personalkostengeht langfristig und kumuliert in den Milliardenbe-reich.Im Klartext heißt das: Die viel zitierten üblichen we-sentlichen Arbeitsbedingungen im Postsektor sind seitAnfang dieses Jahres ein Auslaufmodell. Sie wurden aufdem Börsenaltar der Renditen geopfert. Leider ist zu be-fürchten, dass die nun auch von der Regierung angestrebteVerlängerung des Teilmonopols bei der Briefbeförde-rung lediglich den Börsenwert der Deutschen Post AGstärken soll, anstatt die sozialen Bedingungen der Be-schäftigten im Postsektor endlich wieder den gesetzlichenErfordernissen anzupassen.
Lieber Herr
Kollege, auch Sie müssten jetzt zum Schluss kommen.
Ich bin gleich am Ende.
Vielen Dank.
Letzteres ist das Ziel des Gesetzentwurfes, den die
PDS vorgelegt hat. Die SPD lehnt laut Bericht des Aus-
schusses für Wirtschaft und Technologie unseren Entwurf
ab, weil angeblich kein Regelungsbedarf bestehe. Das ist
etwas rätselhaft, da es in den jüngst veröffentlichten The-
sen der AG Telekommunikation und Post der SPD-Frak-
tion heißt – ich zitiere –:
Nein, Herr Kol-
lege, es geht wirklich nicht mehr, dass Sie jetzt noch zi-
tieren. Sie sind zwei Minuten über Ihre Redezeit.
Es sind nur noch zwei
Sätze. Das muss bei diesem Inhalt doch möglich sein. Ich
bin der letzte Redner. Es ist außerdem noch keine Schla-
fenszeit.
Ich glaube, dass
es Ihnen nicht zusteht zu bestimmen, ob Sie noch weiter-
reden dürfen oder nicht. Das geht jetzt wirklich zu weit.
Ich weiß, dass es für die kleinen Fraktionen schwierig ist.
Ich bin in der Regel aber wirklich sehr großzügig, aber
mehr als zwei Minuten über Ihre Redezeit kann ich Ihnen
nicht zugestehen.
Gut, dann versuche ich
es ganz kurz zu machen.
Nein, Sie dürfen
sich auch nicht mehr kurz fassen, sondern Sie müssen jetzt
Schluss machen.
In der Analyse kommt
die SPD selbst zu der Erkenntnis, dass die Bedingungen
so sind. Ich gebe Ihnen eine Chance, sich Ihrer Sorgen zu
entledigen: Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu.
Vielen Dank.
Ich schließe da-mit die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf derFraktion der PDS zur Änderung des Postgesetzes aufDrucksache 14/1108. Der Ausschuss für Wirtschaft undTechnologie empfiehlt auf Drucksache 14/2109, denGesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf auf Drucksache 14/1108 zustimmen wol-len, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit denStimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der PDS,die zugestimmt hat, abgelehnt worden.Damit entfällt die weitere Beratung.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:Erste Beratung des von den AbgeordnetenDr. Guido Westerwelle, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Dr. Max Stadler, weiteren Abgeordnetenund der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Ent-wurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Aus-ländergesetzes– Drucksache 14/4893 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeHier bitten alle Redner, ihre Reden zu Protokoll gebenzu können. Das sind die Abgeordneten Veit, Philipp,Beck, Niebel und Jelpke sowie die ParlamentarischeStaatssekretärin Cornelie Sonntag-Wolgast.1) Sind Sie da-mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann verfahren wirso.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/4893 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überwei-sungen so beschlossen.
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Gerhard Jüttemann14958
1) Anlage 4Ich rufe den letzten Tagesordnungspunkt auf, nämlichden Tagesordnungspunkt 19:Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur weiteren Verbesserung
– Drucksache 14/2096 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeFür die Beratung ist eine halbe Stunde vorgesehen. –Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst dieSenatorin der Hansestadt Hamburg, Frau Peschel-Gutzeit.Bitte.
GRÜNEN sowie den Abgeordneten Dr. Heinrich Fink
mit Beifall begrüßt):
– Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehr-ten Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag berätheute das Kinderrechteverbesserungsgesetz. Es handeltsich dabei um einen Gesetzentwurf, der auf Antrag derLänder Hamburg und Sachsen-Anhalt vom Bundesrat am24. September 1999, also vor nunmehr fast eineinhalbJahren, beschlossen worden ist. Zwei Forderungen dieserGesetzesinitiative, nämlich das absolute Gewaltverbot inder Erziehung und das kleine Miterziehungsrecht beiStieffamilien, sind inzwischen gesetzlich geregelt und da-mit erledigt.
Die anderen in dem Entwurf enthaltenen Forderungensind aber nach wie vor unerledigt und brandaktuell.Worum geht es? Es geht abermals um die Verbesserungder Rechte unserer Kinder.Ich will die wichtigsten unerledigten Punkte dieser Ge-setzesinitiative nennen: Es geht – erstens – um den Aus-schluss der Vaterschaftsanfechtung bei einvernehmlicherheterologer Insemination.Margot von Renesse [SPD]: Das ist lange ander Zeit!)Es geht – zweitens – um die erleichterte Einbenennungvon Kindern in eine neue Familie, und zwar auch bei ver-bliebener gemeinsamer Sorge der leiblichen Eltern. Esgeht – drittens – um die vollständige erbrechtliche Gleich-stellung nichtehelicher Kinder.Ich beginne mit dem ersten Punkt: Entscheiden sichPaare gemeinsam dafür, einem Kind auf dem Wege einerkünstlichen Befruchtung mittels Samenspende einesDritten das Leben zu schenken, so lässt das geltendeRecht – genauer: die höchstrichterliche Rechtsprechung –dem Manne die Möglichkeit, die Vaterschaft anzufech-ten;
sozusagen Rückgabe bei Nichtgefallen. Dies geht natür-lich nicht. Nebenbei: Eine solche Anfechtung geht natür-lich durch; die Partner wissen ja ganz genau, dass dasKind nicht vom Partner, sondern von einem Drittenstammt. Eine solche Anfechtung führt zu einem Verlustvon Unterhalts- und Erbansprüchen, ganz zu schweigenvon den Auswirkungen auf die persönlichen Beziehungendes Kindes zu seinen Eltern. Das Wohl des Kindes ver-langt, dass Eltern, die sich bewusst für diesen Weg zu ei-nem Kind entscheiden, hierfür beide die Verantwortungtragen und behalten
sowie die Vaterschaft nicht im Nachhinein aufkündigenkönnen. Deshalb muss eine Regelung in das BürgerlicheGesetzbuch eingefügt werden, welche in diesen Fällen imInteresse der Kinder eine Anfechtung der Vaterschaftausschließt.Der zweite Punkt betrifft Stiefkinder. Stiefkinderfami-lien sind eine millionenfach gelebte soziale Realität. Siestellen das Recht vor besondere Herausforderungen. EinAspekt dieses Problemfeldes ist das Namensrecht. Lebtein Kind, dessen Eltern geschieden sind, in einer neuenFamilie – Vater oder Mutter sind wieder verheiratet –,dann kann es die Integration des Kindes durchaus fördern,wenn es auch den Familiennamen der neuen Familie, inder es lebt, trägt; das heißt, wenn es einbenannt wird, wieder Fachausdruck dafür lautet.Dies ist besonders wichtig, wenn Kinder aus der Erst-familie – ich nenne sie einmal die kleinen Meiers – mitKindern aus der Neufamilie – vielleicht den kleinenMüllers – zusammentreffen und zusammen aufwachsen.Schon jetzt kann das Kind einbenannt werden, wenn esmit einem Elternteil in einer neuen Familie lebt und die-ser Elternteil die alleinige elterliche Sorge hat.Nach neuerem, seit 1998 geltendem Recht kommt esviel häufiger vor, dass in der gleichen Situation beide El-ternteile – also zum Beispiel die wieder verheiratete Mut-ter und der geschiedene Vater – gemeinsam sorgeberech-tigt sind und bleiben. Auch hier kann aber eineEinbenennung in die neue Familie gewünscht und sinn-voll sein. Sie scheitert aber, wenn zum Beispiel der mit-sorgeberechtigte Vater widerspricht. Rechtlich wäre hiernur über den Umweg einer Sorgerechtsänderung – einerÄnderung, die sehr weit reichende Folgen hat und die imÜbrigen oft gar nicht gewollt ist – zu helfen. Ein Kind, dasin einer solchen bleibenden Elternbeziehung lebt, mussdie Chance auf Einbenennung erhalten. Die entspre-chende Vorschrift des Bürgerlichen Gesetzbuches mussdeshalb entsprechend flexibilisiert werden.Dritter und letzter Punkt. Seit nunmehr über 30 Jahrengilt in der alten Bundesrepublik das Gesetz über die recht-liche Stellung nichtehelicher Kinder. Das Gesetz hat ganzwesentlich zur Verbesserung der Rechtstellung nicht-ehelicher Kinder beigetragen. Aber eine vollständige
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Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer14959
erbrechtliche Gleichstellung wurde bekanntlich nichtvollzogen. Für die vor dem 1. Juli 1949 geborenen nicht-ehelichen Kinder – ich möchte sie einmal etwas unchar-mant die Altkinder nennen – gilt noch immer der alte, un-befriedigende Rechtszustand fort. Der Bundesrat hat hierwiederholt Abhilfe verlangt. Jetzt ist es endlich an der Zeit,den letzten alten Zopf des Nichtehelichenrechts abzu-schneiden und die entsprechende Vorschrift aus dem Nicht-ehelichenrecht zu streichen.Die Regelung, die das Erbrecht der vor dem 1. Juli1949 geborenen nichtehelichen Kinder ausschließt, mussvor allem gestrichen werden, um einen bis heute beste-henden, nicht zu rechtfertigenden Unterschied zum Rechtder ehemaligen DDR zu beseitigen. Dort waren nämlichdie vor dem Stichtag geborenen nichtehelichen Kinderschon lange voll erbberechtigt, sodass das Erbrecht dervor dem 1. Juli 1949 geborenen Kinder im wieder-vereinigten Deutschland davon abhängt, wo ihr Vater zumZeitpunkt der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 sei-nen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt hat. Das ist eine Si-tuation, die in Berlin besonders unbefriedigend ist, weilvorstellbar ist, dass zwei nichteheliche Gemeinschaften inein und derselben Straße wohnen. Allerdings wohnten dieeinen im Osten und die anderen im Westen. Kinder, dieaus solchen Verbindungen hervorgegangen sind, habennach wie vor einen völlig unterschiedlichen Status.Die rechtliche Gleichstellung nichtehelicher Kinder istseit Jahrzehnten ein Thema der Rechtspolitik und auchweitgehend umgesetzt. Ich vermag deshalb die bisweilengeäußerte, meines Erachtens aus Besitzstandsdenkenherrührende Ansicht nicht zu teilen, dass in Altfällen Ver-trauenstatbestände künftiger Erben entstanden seien. Eskommt allein darauf an, die rechtliche Gleichstellungnichtehelicher Kinder in ganz Deutschland endlich zuvollenden und damit das deutsche Recht dem europä-ischen Standard anzugleichen.Ich danke Ihnen.
Der Kollege
Pofalla von der CDU/CSU-Fraktion hat gebeten, seine
Rede zu Protokoll geben zu dürfen.1) Sind Sie damit ein-
verstanden? – Dann verfahren wir so.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ekin Deligöz.
FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das neue,erst zwei Jahre junge Kindschaftsrecht steht in einer sehrguten Tradition. Kinder werden in unseren Gesetzen im-mer mehr als eigenständige Rechtssubjekte und nicht mehrnur als Rechtsobjekte betrachtet. Kinder werden als Trägervon Rechten anerkannt. Das neue Kindschaftsrecht ist indiesem Sinne auch ein Stück demokratischer Erfolgsge-schichte, auf die wir stolz sein können.
Das Kindschaftsrecht ist jedoch nichts Statisches,nichts Unbewegliches, nichts Starres. Es ist Teil eines ge-sellschaftlichen Veränderungs- und Entwicklungsprozes-ses. Es muss deshalb immer wieder überprüft, überdachtund an aktuelle Entwicklungen angepasst werden. Deshalbhat die Koalition vereinbart, das neue Kindschaftsrecht zuevaluieren und die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.Die Vorlage, die wir heute behandeln, ist eine Vorstufedazu. Die Bundesratsinitiative greift im Wesentlichen dieMängel auf und schließt die Lücken, die sich insbesonderein den letzten zwei Jahren abgezeichnet haben. Wir – ichsage das im Namen meiner Fraktion – unterstützen dieseInitiative voll und ganz, liebe Senatorin.
Es geht vor allem um die praktischen und pragmati-schen Probleme des Alltags, die mit dieser Initiativegelöst werden sollen. Die wesentlichen Elemente wurdenschon von meiner Vorrednerin sehr ausführlich darge-stellt. Es geht darum, Rechtssicherheit für unsere Kinderzu schaffen. Alle geplanten Veränderungen dürften in die-sem Hause wohl weitgehend auf Konsens stoßen.Eine wichtige Forderung des Entwurfs ist seit gerau-mer Zeit bereits erfüllt. Wir haben das Recht auf gewalt-freie Erziehung in unser BGB aufgenommen. Die For-mulierung, die wir dafür gefunden haben, greift dieAbsicht des Bundesrats auf, ist aber um einiges präziser.Es geht hier nämlich nicht nur um ein Gebot für Erwach-sene, sondern um ein echtes Kinderrecht. Nur so erzielenwir die nötige gesellschaftliche Signalwirkung; das habenuns die Erfahrungen aus dem Ausland gezeigt.Der zukünftige Handlungsbedarf im Kindschaftsrechtist trotz allem bereits heute erkennbar. Wir haben in unse-rer Fraktion vor kurzem eine Fachanhörung veranstaltet,auf der wir die Erfahrungen vor Ort ausgewertet und An-forderungen für die künftige Entwicklung formuliert ha-ben. Ich möchte heute Abend die Gelegenheit nutzen, siestichwortartig darzustellen.Eine der besonders bedeutsamen Forderungen der vie-len Interessensgruppen, Verbände und auch der Verfah-renspfleger war, dass Kenntnisse über Kinderrechte keinInsiderwissen darstellen dürfen. Kinder haben einen An-spruch darauf, zu erfahren, welche Rechte sie haben. Hierstehen wir alle gemeinsam in der Verantwortung: die Me-dien, die Bildungseinrichtungen, die Schulen, die Elternusw.
– Ich habe Sie leider nicht verstanden, Herr Kollege; an-derenfalls würde ich darauf reagieren.Von der Bundesregierung gibt es zum Thema gewaltfreieErziehung bereits ein Programm und eine öffentliche Kam-pagne. In dieser Kampagne geht es auch darum, Kinder überihre Rechte zu informieren und sie ernst zu nehmen.
Ein weiterer Punkt ist ein Mitspracherecht derKinder in Scheidungsfällen. In der Praxis erweist es sich
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Senatorin Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit
14960
1) Anlage 5immer mehr als problematisch, dass Kinder in Trennungs-fällen nicht mehr angehört werden, wenn eine gemeinsameelterliche Sorge vereinbart wird. Sehr viele Kinderpsycho-therapeuten und -psychologen sowie zum Teil die Verfah-renspfleger selbst bestätigen, dass dadurch sehr oft beste-hende Probleme verdrängt werden und später auf dieFamilie und vor allem die Kinder zurückschlagen. Es istnicht nur, aber gerade auch deshalb erforderlich, dass wirden Kindern, aber auch den Eltern niedrigschwellige Be-treuungs- und Beratungsangebote bereitstellen.Ich komme zu meinem letzten Punkt, Frau Präsidentin.Ein echter Fortschritt des neuen Rechts ist die Verfah-renspflegeschaft. Die „Anwälte der Kinder“ leisten einehervorragende Arbeit. Damit sie aber ihre Arbeit nochwirkungsvoller, dauerhaft und flächendeckend erledigenkönnen, benötigen wir ein paar Grundvoraussetzungen.Eine davon ist die Fortbildung der Familienrichter, eineandere die Qualitätssicherung für die Verfahrenspflegersowohl in ihrer Ausbildung also auch in der Praxis.Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Kinderpolitikbasiert auf einem Leitprinzip: Gute Kinderpolitik ist einePolitik, die die Rechte der Kinder anerkennt und schützt.Sie ist eine Politik, die Kinder stark macht. Starke Kinderwünschen wir uns in dieser Gesellschaft.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Haupt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Die F.D.P. begrüßt im Wesentlichenden vom Bundesrat vorgelegten Entwurf eines Gesetzeszur weiteren Verbesserung von Kinderrechten. Er nimmtnotwendige, aus der praktischen Erfahrung der Gerichtegewonnene Detailverbesserungen im Interesse derschwächsten Glieder unserer Gesellschaft vor. Die libe-ral-konservative Koalition hat in der letzten Legislaturpe-riode mit der großen Kindschaftsrechtsreform die maß-gebliche Grundlage hierfür gelegt.Ich weise hier grundsätzlich darauf hin, dass die Zeitreif dafür ist, das Verhältnis der Generationen zu beden-ken. Die Würde von Kindern und Erwachsenen istgleichwertig. Dem Schutz ihrer Persönlichkeit ist glei-chermaßen Rechnung zu tragen. Wie meine Vorrednerinsagte: Kinder sind nicht Objekte, sondern Subjekte, alsoeigene Persönlichkeiten. Sie sind Träger von Rechten,aber auch von Pflichten. Wir Erwachsenen müssen Kin-der ernst nehmen.Eigentlich wünscht sich das Kind die Familie wie ei-nen starken, schützenden Ring. Ist dieser irgendwo unter-brochen, so darf man wenigstens die Blickrichtung aufdas Kind nicht verlieren. Jede Diskussion überKindschaftsrechte muss davon ausgehen, dass es primärum die Rechte der Kinder geht.Eine sensiblere Gestaltung des Einbenennungsrechtessowie des kleinen Sorgerechtes für Stiefeltern im Innen-verhältnis bei „Angelegenheiten der tatsächlichen Betreu-ung“ dürfte häufig im Sinne der Kinder sein und ist dahergrundsätzlich zu begrüßen. Allerdings müssen wir daraufachten, dass wir die leiblichen Elternteile, die mit ihrenKindern nicht mehr in einer Familie leben, nicht vor denKopf stoßen und noch mehr in die Empfindung drängen,nur noch „Zahlmutter“ oder „Zahlvater“ zu sein.
Besonders beim Einbenennungsrecht muss das Ein-vernehmen beider Elternteile gegeben sein. Auch dieFrage der Rückbenennungsmöglichkeiten ist zu prüfen.Andererseits muss dem Kind natürlich ein permanenterNamenswechsel erspart bleiben. Wir müssen daran den-ken, dass seit der letzten Novellierung des Namensrech-tes die Chance größer geworden ist, dass in einer Familieverschiedene Nachnamen geführt werden. Insofernkönnte in absehbarer Zeit eine Namensverschiedenheit in-nerhalb der Familie durchaus „normal“ und für ein Kindweniger belastend als wiederholte Umbenennungen sein.Auch in diesem Fall muss das Wohl des Kindes im Mit-telpunkt stehen.Die Anregung, dass eine einvernehmliche künstlicheBefruchtung eine Anfechtung der Vaterschaft aus-schließt, ist logisch und konsequent. Allerdings – darinstimme ich der Bundesregierung zu – bedarf es auch ausliberaler Sicht wohl noch einiger Präzisierungen. Einer-seits muss das Einvernehmen irgendwie nachweisbarsein, andererseits darf die Anfechtung nicht ausgeschlos-sen werden, wenn Zweifel daran bestehen, dass das Kindauf dem vereinbarten Wege gezeugt worden ist.Die gesetzliche Ächtung von Gewalt in der Erziehungund die Garantie des Rechtes auf Gewaltfreiheit für un-sere Kinder ist, wie schon erwähnt, mit Unterstützung derF.D.P. Realität geworden. Das Erfahren von Gewalt imKindesalter wird sehr häufig weitergegeben. Dies führt zueinem Teufelskreis, in dem die Würde junger Menschenmit Füßen getreten wird. Dieser verhängnisvolle Kreis-lauf von erfahrener und weitergegebener Gewalt wirdjetzt durchbrochen.Die Frage der Erbberechtigung vor dem 1. Juli 1949geborener nichtehelicher Kinder sehen wir Liberale inso-fern als problematisch an, als eine gewachsene Rechtssi-cherheit, die der Bundestag mehrfach so bestätigt hat,durch eine Änderung nun plötzlich umgeworfen würde.
Wir müssen davon ausgehen, dass die potenziellenErblasser nicht auf diese zusätzlichen Pflichtteilsberech-tigten vorbereitet sind.
Auch Rechtssicherheit, die in diesem Falle nicht zu einemfinanziellen Schaden führt, ist im Rechtsstaat ein hohesGut.Aus liberaler Sicht ist es bedauerlich, dass eine nach derletzten Kindschaftsrechtsreform offen gebliebene Frageim vorgelegten Gesetzentwurf weiterhin offen bleibt: diedes gemeinsamen Sorgerechts beider Elternteile für
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Ekin Deligöz14961
uneheliche Kinder. Es gibt aus meiner Sicht eigentlich kei-nen Anlass, Kindern ihre Eltern vorzuenthalten – egal obverheiratet oder nicht. Deshalb sollte das gemeinsame Sor-gerecht beider Eltern generell und ausnahmslos die Regelsein und nur bei Einvernehmen beider Elternteile oder inbesonders zu begründenden Fällen sollten abweichendeRegelungen im Sinne des Kindeswohls gerichtlich ange-ordnet werden können.Danke.
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Christina Schenk.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Der Gesetzentwurf des Bundesrates
enthält diskussionswürdige Aspekte. Ich kann mir vor-
stellen, dass die PDS-Fraktion den noch nicht geregelten
Punkten zustimmen wird.
Es ist unbestreitbar, dass die Kindschaftsrechtsreform,
die 1998 in Kraft getreten ist, reformbedürftig ist. Immer-
hin hat das auch die Bundesregierung insofern klarge-
macht, als sie in ihrem Koalitionsvertrag Maßnahmen in
dieser Richtung angekündigt hat.
In Teilbereichen – das will ich hier ausdrücklich aner-
kennen – ist auch bereits eine Nachbesserung erfolgt. Das
betrifft zum einen die Ächtung der Gewalt in der Erzie-
hung. Wir haben die Klarstellung im Bürgerlichen Ge-
setzbuch, dass Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erzie-
hung haben, nachdrücklich begrüßt. Wir meinen aber
auch, dass das nicht ausreicht. Vielmehr bedarf es vielfäl-
tiger Unterstützung, Angebote für Kinder, Jugendliche
und ihre Eltern, damit körperliche, seelische und emotio-
nale Gewalt dauerhaft aus dem Repertoire der Erzie-
hungsmethoden verschwindet.
Die PDS hat das seinerzeit in einem eigenen Antrag deut-
lich gemacht.
Zum anderen hat die Bundesregierung im Zusammen-
hang mit der eingetragenen Lebenspartnerschaft das kleine
Sorgerecht eingeführt. Damit hat künftig der nicht biolo-
gische Elternteil eine Mitentscheidungsbefugnis in Ange-
legenheiten des täglichen Lebens. Dies gilt für soziale El-
tern sowohl in homo- als auch in heterosexuellen
Partnerschaften. Das begrüßen wir ausdrücklich. Jedoch
bleibt kritikwürdig, dass homosexuelle Eltern nach wie
vor keine Möglichkeit haben, das gemeinsame Sorge-
recht für ein Kind zu erhalten, das bereits mit dem Paar zu-
sammenlebt. Gemeinsame Adoption und Stiefelternadop-
tion sind ihnen verwehrt. Der Weg über eine Erklärung zur
gemeinsamen Sorge ist ebenfalls versperrt. Das, finde ich,
ist ohne jeden Zweifel diskriminierend.
Mittlerweile gibt es genügend Untersuchungen, die die
Gleichwertigkeit homo- und heterosexueller Elternschaft
belegen. Es ist daher aus meiner Sicht überhaupt nicht zu
rechtfertigen, homo- und heterosexuelle Eltern rechtlich
verschieden zu behandeln.
Zu kritisieren ist auch die Untätigkeit der Bundesre-
gierung bezüglich der jetzt geltenden Regelung zur elter-
lichen Sorge nach Trennung und Scheidung. Da habe
ich eine ganz andere Meinung als Herr Haupt. Die Ge-
richte gehen von einem Regel-Ausnahme-Verhältnis von
gemeinsamer und alleiniger Sorge aus. In dem ersten Jahr
nach In-Kraft-Treten der Reform wurde in fast 90 Prozent
der Scheidungsfälle das gemeinsame Sorgerecht bei den
Eltern belassen. Es gab dabei eine Reihe von Entschei-
dungen, in denen das gemeinsame Sorgerecht gegen den
Willen eines Elternteils verordnet wurde.
Glücklicherweise werden diese Extrempositionen ge-
genwärtig seltener. Es wächst die Zahl der Gerichte, die
richtigerweise einen Grundkonsens der Eltern als Voraus-
setzung für die Beibehaltung der gemeinsamen elterli-
chen Sorge ansehen. In dieser Auffassung wurden sie im
vergangenen Jahr vom Bundesgerichtshof unterstützt, der
die Gleichwertigkeit beider Sorgerechtsformen ausdrück-
lich betont hat.
Trotzdem ist es so, dass noch immer viele Scheidungs-
willige glauben, dass es nach Trennung und Scheidung
keine Möglichkeit der alleinigen elterlichen Sorge mehr
gebe. Aus Resignation oder auch aus Furcht vor dem
Sorgerechtsstreit verzichten vor allem Frauen darauf, ei-
nen Antrag auf alleinige Sorge zu stellen. Das führt zwin-
gend dazu, dass die ehelichen Konflikte weiter auf Kos-
ten des Kindes ausgetragen werden.
Um hier Rechtssicherheit zu schaffen, bedarf es drin-
gend einer Klarstellung durch den Gesetzgeber. Es sollte
darauf hingewiesen werden, dass das alleinige und das ge-
meinsame Sorgerecht gleichwertige Sorgerechtsformen
sind. Die Eltern müssen die Möglichkeit haben, sich be-
wusst und entsprechend ihrer ganz konkreten Situation
für eine dieser beiden Sorgerechtsformen zu entscheiden.
Ich meine, um diese Reform durchzuführen, müssen
nicht erst die Endergebnisse der Begleitforschung abge-
wartet werden. Der Handlungsbedarf ist überaus eindeu-
tig und einsichtig. Die PDS wird zur Reform des
Kindschaftsrechts demnächst einen eigenen Antrag in den
Bundestag einbringen.
Danke schön.
Als letzter Red-
nerin erteile ich nun der Abgeordneten Margot von
Renesse das Wort.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Mit großer Freude erinnereich mich an die gemeinsame Arbeit an der Kindschafts-rechtsreform. Herr Pofalla ist jetzt nicht da. Viele sindjetzt nicht dabei, die damals mitgewirkt haben. Das waren– wie auch Sie, Frau Kollegin, erwähnt haben – wirklichso etwas wie Sternstunden demokratischen, kooperativenStreits. Wir waren uns absolut nicht einig, aber wir habenargumentativ so gestritten, dass etwas dabei herausge-kommen ist, und zwar, wie wir alle sehen, etwas Gutes,auch wenn noch Korrekturen nötig sind; das ist völligklar.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Februar 2001
Klaus Haupt14962
Wir haben etwas geschafft, was bei den Eltern Streitvermeidet, was Streit schlichtet, wo es ihn gibt, und wasvor allem nicht Streit provoziert, wie es das alte Rechttat – selbst da, wo kein Streit war. Wir haben auf dieseWeise erreicht, dass viele Kinder ihre Eltern auch imScheidungskonflikt, im Trennungskonflikt als kompetentund handlungsmächtig erleben und nicht zusehen müssen,dass sie vor einem Dritten, nämlich dem Familienrichter,zittern. Ich habe das immer als eine besonders problema-tische Erfahrung für Kinder angesehen. Das ist das eine.Nichts ist so gut, dass es nicht noch verbessert werdenkönnte. Es gibt eine Reihe von Restanten aus dem dama-ligen Diskussionsprozess, die die beiden grandes damesder Justiz – wenn ich das einmal so sagen darf – aus denLändern aufgegriffen haben und uns dankenswerterweisein diesem Gesetzentwurf vorgelegt haben. Ich denke, vie-les davon wird in genau dieser kooperativen Weise ge-meinsam mit ihnen beraten werden und, wie ich hoffe, zueinem guten Erfolg geführt werden.Aber es gibt noch ein paar Punkte, die ich auch gerneeinführen würde, wenn Sie erlauben. Da ist zum Beispieldas Besuchsrecht Dritter bei Kindern. Ich habe immerdas Gefühl gehabt, dass das vom Kopf auf die Füße ge-stellt werden muss. Ich nehme an, Frau Kollegin, dass wiruns da einig sind. Es kann nicht das Recht von Großelternoder Dritten sein, Umgang mit einem Kind zu haben, son-dern die Kinder haben ein Recht auf Kontinuität ihrer ge-wachsenen Beziehungen. Wie ich weiß, ziehen mancheGroßeltern die Eltern, die Familien von Enkelkindern mitsolchen Verfahren in Streitigkeiten hinein. Selbst wennsie im Ergebnis ihre Beschlüsse nicht bekommen, ist dieKostenteilung schon ein großes Problem für die Familiemit den Kindern. Das ist der eine Punkt.Der andere Punkt ist die Prozessstandschaft im Un-terhaltsverfahren für erwachsene Kinder, die noch imHaushalt ihrer Eltern oder eines Elternteils leben. Ichweiß ganz genau, man kann diesen Kindern sagen, dasssie ihren Vater auf Unterhalt verklagen können. Aber esentstehen Loyalitätskonflikte, die sehr problematischsind. Darüber werden wir nachdenken.Jetzt komme ich zu drei Problemfeldern, die mir be-sonders am Herzen liegen. Wir haben es leider immernoch nicht geschafft – ich denke, wir werden uns das Hirnzermartern müssen, damit uns etwas einfällt –, um erstensHerausgabeverfahren nach Kinderklau, nach „legal kid-napping“, effektiv abzuwickeln, damit nicht die Zeit dieVerhältnisse zementiert.Das Zweite ist die Durchsetzung von Umgangsrech-ten. Auch da ist uns noch nicht der Stein der Weisen ge-glückt. Ich denke, dass wir nicht das Verfahren findenwerden, sondern dass wir den Instrumentenkasten mitweiteren Möglichkeiten füllen müssen, um die Familien-gerichte in den Stand zu setzen, in diesen Fällen effektivzu helfen. Was nützt es denn, wenn ein Verfahren vierJahre schwebt und ein unter zehnjähriges Kind, das seinenVater nicht mehr gesehen hat, eines Tages ein Umgangs-recht vor die Stirn geknallt bekommt und sagt, den Herrnkenne ich nicht? Das ist so gut wie Rechtsverweigerung.Das Dritte ist die lange Verfahrensdauer bei Sorge-rechts- und Umgangsverfahren, die das Verfassungsge-richt inzwischen in mehreren Entscheidungen als verfas-sungswidrige Rechtsverweigerung dargestellt hat. Wennman die Fälle sieht, wenn man sieht, wie beraubte Kinderund beraubte Eltern am Recht verzweifeln, wie daraus tra-gische Figuren à la Michael Kohlhaas werden, die wirk-lich schon fast pathologische Züge annehmen, wie Men-schen um Lebenssinn und Lebensglück gebracht werdenund wie Kindern korrigierende Erfahrungen mit dem an-deren Elternteil genommen werden, dann ist das ein Zu-stand, den wir nicht hinnehmen können, wo wir estatsächlich den Betroffenen, und zwar den Eltern wie denKindern, schuldig sind, dass wir mehr machen als nur zubedauern. Die Ohnmacht der Familienrichter ist im Er-gebnis die Verzweiflung der Betroffenen. Das geht sonicht mehr weiter.Weil wir wissen, dass wir hier mit dem Schicksal an-derer umgehen, appelliere ich noch einmal an alle Fami-lienrichter, jeden einzelnen Fall so zu behandeln, dass esnicht zur Routine wird, sondern jeden einzelnen Fall so zuhantieren, als wäre es der eigene, als ginge es um die ei-genen Kinder. Ich glaube, dann geht es weiter.
Danke schön.
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 14/2096 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderwei-
tige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 16. Februar, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.