Protokoll:
14127

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 127

  • date_rangeDatum: 26. Oktober 2000

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 23:28 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Wahl der Abgeordneten Christa Nickels als or- dentliches Mitglied in den Programmbeirat für Sonderpostwertzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . 12123 A Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . 12123 B Absetzung der Tagesordnungspunkte 24 a und b 12124 C Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 12124 C Tagesordnungspunkt 3 a) Abgabe einer Erklärung der Bundesre- gierung zum 50. Jahrestag der Euro- päischen Menschenrechtskonvention 12125 A b) Antrag der Fraktionen von SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und F.D.P.: 50 Jahre Europä- ische Menschenrechtskonvention (Drucksache 14/4390) . . . . . . . . . . . . . 12125 A c) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europäischen Über- einkommen vom 5. März 1996 über die an Verfahren vor dem Europä- ischen Gerichtshof für Menschen- rechte teilnehmenden Personen (Drucksache 14/4298) . . . . . . . . . . . . . 12125 A Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12125 B Dr. Christian Schwarz-Schilling CDU/CSU 12128 D Rudolf Bindig SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12130 C Sabine Leutheusser-Schnarrenberger F.D.P. 12131 D Joseph Fischer, Bundesminister AA . . . . . . . . 12133 B Carsten Hübner PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12135 B Dieter Schloten SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12136 D Dr. Karl-Heinz Hornhues CDU/CSU . . . . . . . 12138 B Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12140 A Peter Altmaier CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 12140 D Hedi Wegener SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12142 C Tagesordnungspunkt 4 a) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Gutachten des Wissenschaftli- chen Beirats Bodenschutz beim Bun- desministerium für Umwelt, Natur- schutz und Reaktorsicherheit Wege zum vorsorgenden Boden- schutz Fachliche Grundlagen und konzep- tionelle Schritte für eine erweiterte Bodenvorsorge (Drucksache 14/2834) . . . . . . . . . . . . . 12144 A b) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Bericht der Bundesregierung zum Jahresgutachten 1998 „Welt im Wandel – Strategien zur Bewältigung globaler Umweltrisiken“ des Wissen- schaftlichen Beirats derBundesregie- rung Globale Umweltänderungen (Drucksache 14/3285) . . . . . . . . . . . . . 12144 B c) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Umweltgutachten 2000 des Ra- tes von Sachverständigen für Um- weltfragen Schritte ins nächste Jahrtausend (Drucksache 14/3363) . . . . . . . . . . . . . 12144 B Plenarprotokoll 14/127 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 127. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 I n h a l t : d) Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger, Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Novellierung der Verpackungsver- ordnung und Flexibilisierung der Mehrwegquote (Drucksache 14/3814) . . . . . . . . . . . . . 12144 C e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit – zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Grenzüberschreitende Zusam- menarbeit zur Stärkung des Schutzes der Böden – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Erarbeitung einer internationalen Bodenschutzkon- vention (Drucksachen 14/2567, 14/983, 14/3711) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12144 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4 Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger, Marita Sehn, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion F.D.P.: Börsen- handel mit Emissionszertifikaten in Deutschland konkret vorbereiten (Drucksache 14/4395) . . . . . . . . . . . . . . . 12144 D Marion Caspers-Merk SPD . . . . . . . . . . . . . . 12144 D Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/CSU 12146 C Jürgen Trittin, Bundesminister BMU . . . . . . . 12148 B Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/CSU 12150 B Jürgen Trittin, Bundesminister BMU . . . . . . . 12151 B Birgit Homburger F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . 12151 D Marion Caspers-Merk SPD . . . . . . . . . . . . . . 12154 A Birgit Homburger F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . 12154 B Eva Bulling-Schröter PDS . . . . . . . . . . . . . . . 12154 D Ulrich Kelber SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12156 C Christa Reichard (Dresden) CDU/CSU . . . . . 12158 B Dr. Reinhard Loske BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12159 B Werner Wittlich CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 12161 C Jürgen Wieczorek (Böhlen) SPD . . . . . . . . . . 12163 A Dr. Christian Ruck CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 12164 D Eva Bulling-Schröter PDS . . . . . . . . . . . . 12165 D Tagesordnungspunkt 25 Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des Euro im Sozial- und Arbeitsrecht sowie zur Än- derung anderer Vorschriften (4. Euro- Einführungsgesetz) (Drucksachen 14/4375, 14/4388) . . . . 12167 A b) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Verbesserung der be- trieblichen Altersversorgung (Drucksache 14/4363) . . . . . . . . . . . . . 12167 B c) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Überein- kommens zum Schutz der Mee- resumwelt des Nordostatlantiks (OSPAR-Übereinkommen) (Drucksache 14/3949) . . . . . . . . . . . . . 12167 B d) Erste Beratung des von den Abgeordne- ten Christina Schenk, Christine Ostrowski, weiteren Abgeordneten und der Fraktion PDS eingebrachten Ent- wurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch (... SGB III – Änderungsgesetz) (Drucksache 14/3227) . . . . . . . . . . . . . 12167 B e) Antrag der Abgeordneten Hildebrecht Braun (Augsburg), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Für eine vertiefte Partner- schaft zwischen Rußland und der EU (Drucksache 14/811) . . . . . . . . . . . . . . 12167 C Zusatztagesordnungspunkt 5 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren (Ergänzung zu TOP 25) Antrag der Fraktionen SPD und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Weiterentwick- lung der sozialen Pflegeversicherung (Drucksache 14/4391) . . . . . . . . . . . . . . . 12167 C Tagesordnungspunkt 26 Abschließende Beratungen ohne Aus- sprache a) Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 7. September 1999 zwischen der Bundesrepublik Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000II Deutschland und der Republik Usbe- kistan zur Vermeidung der Doppel- besteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (Drucksachen 14/3465, 14/4207) . . . . 12167 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem An- trag der Abgeordneten Hildebrecht Braun (Augsburg), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Für eine sofortige Verhängung umfassender Handelssanktionen ge- gen Jugoslawien (Drucksachen 14/793, 14/4205) . . . . . 12168 A c) – h) Beschlussempfehlungen des Petitions- ausschusses Sammelübersichten 201, 202, 203, 204, 205, 206 zu Petitionen (Drucksachen 14/4278, 14/4279, 14/4280, 14/4281, 14/4282, 13/4283) 12168 B Zusatztagesordnungspunkt 6 Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bun- desregierung zur Forderung von Bun- desverkehrsminister Klimmt, die Öko- steuer im Jahr 2003 zu beenden . . . . . . 12168 D Jürgen Koppelin F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12168 D Ludwig Eich SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12170 A Hans Michelbach CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 12171 B Albert Schmidt (Hitzhofen) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12172 B Dr. Barbara Höll PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12173 C Monika Ganseforth SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 12174 D Dirk Fischer (Hamburg) CDU/CSU . . . . . . . . 12176 B Dr. Reinhard Loske BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12177 C Gisela Frick F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12178 D Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12180 A Otto Bernhardt CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 12182 A Lothar Binding (Heidelberg) SPD . . . . . . . . . 12183 A Klaus-Peter Willsch CDU/CSU . . . . . . . . . . . 12184 B Dr. Peter Danckert SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 12185 B Tagesordnungspunkt 5 Beschlussempfehlung und Bericht des Ver- teidigungsausschusses zu der Unterrich- tung durch die Wehrbeauftragte: Jahresbe- richt 1999 (41. Bericht) (Drucksachen 14/2900, 14/4204) . . . . . . . 12186 C Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages . . . . . . . . . . . . . . . . . 12186 D Uwe Göllner SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12189 B Bernd Siebert CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 12190 C Winfried Nachtwei BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12193 A Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. . . . . . . 12194 C Dr. Winfried Wolf PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 12195 D Walter Kolbow, Parl. Staatssekretär BMVg . . 12196 D Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. . . . . 12197 C Angelika Beer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 12198 C Hans Raidel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 12198 D Ulrike Merten SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12200 B Robert Leidinger SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12201 B Zusatztagesordnungspunkt 7 Antrag der Abgeordneten Ulrich Adam, Ilse Aigner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Verfassungsklage der Bundesregierung gegen das Land Nordrhein-Westfalen wegen der Verlet- zung seiner verfassungmäßigen Pflich- ten gegenüber dem Bund im Verfahren zurAufhebung der Immunität des Abge- ordneten Ronald Pofalla (Drucksache 14/4244) . . . . . . . . . . . . . . . 12202 C Eckart von Klaeden CDU/CSU . . . . . . . . . . . 12202 D Erika Simm SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12204 C Dr. Norbert Lammert CDU/CSU . . . . . . . . . . 12207 A Erika Simm SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12207 D Rainer Funke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12208 B Steffi Lemke BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 12208 D Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/CSU 12209 D Sabine Jünger PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12210 B Tagesordnungspunkt 7 a) Erste Beratung des von den Abgeord- neten Dr. Hermann Otto Solms, Jörg van Essen, weiteren Abgeordneten und der Fraktion F.D.P. eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 48 Abs. 3) (Drucksache 14/4127) . . . . . . . . . . . . . 12211 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 III b) Erste Beratung des von den Abgeordne- ten Dr. Hermann Otto Solms, Jörg van Essen, weiteren Abgeordneten und der Fraktion F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes (Drucksache 14/4128) . . . . . . . . . . . . . 12211 A Dr. Hermann Otto Solms F.D.P. . . . . . . . . . . . 12211 B Dr. Uwe Küster SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12212 B Dr. Peter Ramsauer CDU/CSU . . . . . . . . . . . 12213 B Cem Özdemir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 12215 B Dr. Barbara Höll PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12216 B Anni Brandt-Elsweier SPD . . . . . . . . . . . . . . 12216 D Tagesordnungspunkt 6 Antrag der Abgeordneten Renate Blank, Wilhelm Josef Sebastian, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion CDU/CSU: Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Güterkraftverkehrsgewerbes erhalten und sichern (Drucksache 14/4150) . . . . . . . . . . . . . . . 12217 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8 Antrag der Abgeordneten Horst Friedrich (Bayreuth), Hans-Michael Goldmann, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.:Wettbewerbsnachteile für deut- sches Güterkraftverkehrsgewerbe besei- tigen (Drucksache 14/4396) . . . . . . . . . . . . . . . 12217 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 9 Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer (Hamburg), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Weißbuch über Harmonisie- rungsdefizite bei Verkehrsdienstleistun- gen (Drucksache 14/4378) . . . . . . . . . . . . . . . 12218 A Wilhelm Josef Sebastian CDU/CSU . . . . . . . 12218 A Angelika Graf (Rosenheim) SPD . . . . . . . . . . 12219 C Horst Friedrich (Bayreuth) F.D.P. . . . . . . . . . 12221 D Albert Schmidt (Hitzhofen) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12222 D Renate Blank CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 12224 B Dr. Margrit Wetzel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 12225 D Zusatztagesordnungspunkt 10 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu der Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvF 1/00 (Drucksache 14/4354) . . . . . . . . . . . . . . . . 12227 B Alfred Hartenbach SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 12227 B Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/CSU 12229 C Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12231 C Norbert Geis CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 12232 D Jörg van Essen F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12233 A Dr. Evelyn Kenzler PDS . . . . . . . . . . . . . . . . 12233 C Tagesordnungspunkt 8 Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Neuregelung der sozialversiche- rungsrechtlichen Behandlung von einmalig gezahltem Arbeitsentgelt (Einmalzah- lungs-Neuregelungsgesetz) (Drucksachen 14/4371, 14/4409) . . . . . . . 12234 B Walter Riester, Bundesminister BMA . . . . . . 12234 C Heinz Schemken CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 12235 B Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12236 C Dirk Niebel F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12237 D Pia Maier PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12239 A Franz Thönnes SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12240 A Wolfgang Zöller CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 12242 A Tagesordnungspunkt 9 Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über Teilzeitarbeit und befristete Ar- beitsverträge und zur Änderung und Aufhebung arbeitsrechtlicher Bestim- mungen (Drucksache 14/4374) . . . . . . . . . . . . . . . 12243 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 11 Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Irmgard Schwaetzer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion F.D.P. eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Intensivierung der Beschäftigungsförderung (Drucksache 14/4103) . . . . . . . . . . . . . . . 12243 B Walter Riester, Bundesminister BMA . . . . . . 12243 B Dr. Heinrich L. Kolb F.D.P. . . . . . . . . . . . 12244 A Brigitte Baumeister CDU/CSU . . . . . . . . . . . 12245 C Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12247 B Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000IV Dr. Heinrich L. Kolb F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . 12248 C Dr. Klaus Grehn PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12249 D Olaf Scholz SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12250 D Wolfgang Meckelburg CDU/CSU . . . . . . 12251 B Dr. Klaus Grehn PDS . . . . . . . . . . . . . . . . 12252 A Johannes Singhammer CDU/CSU . . . . . . . . . 12253 B Tagesordnungspunkt 10 Antrag der Abgeordneten Hartmut Büttner (Schönebeck), Dr. Paul Krüger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Einsatz von Bildauswertungssystemen bei der Rekonstruktion vorvernichteter Stasi-Unterlagen (Drucksache 14/3770) . . . . . . . . . . . . . . . 12254 D Hartmut Büttner (Schönebeck) CDU/CSU 12254 D Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär BMI 12255 D Rainer Funke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12256 D Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12257 B Ulla Jelpke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12258 B Tagesordnungspunkt 11 a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Straßen- verkehrsgesetzes und anderer straßenverkehrsrechtlicher Vor- schriften (StVRÄndG) (Drucksache 14/4304) . . . . . . . . . . . . . 12259 B b) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Bericht des Bundesministeri- ums für Verkehr, Bau- und Woh- nungswesen über Maßnahmen auf dem Gebiet der Unfallverhütung im Straßenverkehr und Übersicht über das Rettungswesen 1998 und 1999 – Unfallverhütungsbericht Straßen- verkehr 1998/99 (Drucksache 14/3863) . . . . . . . . . . . . . 12259 B Tagesordnungspunkt 12 Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer (Ham- burg), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion CDU/CSU: Für ein fahrradfreundli- ches Deutschland (Drucksache 14/3773) . . . . . . . . . . . . . . . 12259 C Gustav-Adolf Schur PDS . . . . . . . . . . . . . . . . 12259 D Tagesordnungspunkt 13 Antrag der Abgeordneten Detlef Parr, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Präimplantationsdiagnostik rechtlich absichern (Drucksache 14/4098) . . . . . . . . . . . . . . . 12260 C Detlef Parr F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12260 D Hubert Hüppe CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 12261 B Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12261 D Dr. Carola Reimann SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 12262 B Hubert Hüppe CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 12264 C Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12265 C Dr. Edzard Schmidt-Jortzig F.D.P. . . . . . . . . . 12266 B Hubert Hüppe CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 12266 C Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12266 D Annette Widmann-Mauz CDU/CSU . . . . . . . 12267 B Monika Knoche BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12267 D Christa Nickels, Parl. Staatssekretärin BMG 12268 C Dr. Edzard Schmidt-Jortzig F.D.P. . . . . . . 12269 A Tagesordnungspunkt 14 Antrag der Abgeordneten Dr. Norbert Lammert, Dirk Fischer (Hamburg), weite- rer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses (Drucksache 14/3673) . . . . . . . . . . . . . . . 12270 B in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 12 Antrag der Abgeordneten Petra Pau, Heinrich Fink, Roland Claus und der Frak- tion PDS: Arbeitsweise der Experten- kommission Historische Mitte (Drucksache 14/4402) . . . . . . . . . . . . . . . 12270 B Dr. Heinrich Fink PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12270 C Tagesordnungspunkt 15 a) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Rosel Neuhäuser, Petra Pau und der Fraktion PDS: Schaffung der gesetzlichen Vo- raussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis für lange in Deutschland lebende Ausländerin- nen und Ausländer (sog. Altfallrege- lung) (Drucksachen 14/2066, 14/2509) . . . . 12271 B Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 V b) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Petra Pau, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS: Abschaffung des Flughafenver- fahrens (§ 18 a AsylVfG) (Drucksachen 14/26, 14/2979) . . . . . . 12271 B Ulla Jelpke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12271 C Rüdiger Veit SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12272 D Erwin Marschewski CDU/CSU . . . . . . . . . . . 12274 A Marieluise Beck (Bremen) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12275 D Eva Bulling-Schröter PDS . . . . . . . . . . . . 12276 C Dr. Max Stadler F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12277 B Hans-Peter Kemper SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 12278 A Zusatztagesordnungspunkt 13 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vor- schriften über die Tätigkeit der Wirt- schaftsprüfer (Wirtschaftsprüferord- nungs-Änderungsgesetz – WPOÄG) (Drucksachen 14/3649, 14/4262) . . . . . . . 12279 C Tagesordnungspunkt 16 Antrag der Abgeordneten Horst Schmidbauer (Nürnberg), Gudrun Schaich- Walch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion SPD sowie der Abgeordneten Katrin Dagmar Göring-Eckardt, Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ziele für die Qualitätssteigerung in der Diabetes-Versorgung (Drucksache 14/4263) . . . . . . . . . . . . . . . 12280 A Tagesordnungspunkt 23 Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer Funke, Hans-Joachim Otto (Frank- furt), weiteren Abgeordneten und der Frak- tion F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der EU-Richtli- nie über das Folgerecht des Urhebers des Originals eines Kunstwerkes (Folge- rechtsanpassungsgesetz) (Drucksache 14/3555) . . . . . . . . . . . . . . . 12280 A Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12280 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 12281 A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags: Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Güterkraftverkehrsgewerbe erhalten und si- chern (Tagesordnungspunkt 6) Dr. Winfried Wolf PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12281 D Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – des Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer straßenverkehrsrechtlicher Vor- schriften (StVRÄndG) – der Unterrichtung der Bundesregierung zum Bericht des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen über Maßnahmen auf dem Gebiet der Unfallverhütung im Straßenverkehr und Übersicht über das Rettungswesen 1998 und 1999 (Unfallverhütungsbe- richt Straßenverkehr 1998/99) (Tages- ordnungspunkt 11 a und b) Rita Streb-Hesse SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12282 C Eduard Lintner CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 12284 A Albert Schmidt (Hitzhofen) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12284 D Horst Friedrich (Bayreuth) F.D.P. . . . . . . . . . 12286 A Dr. Winfried Wolf PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12286 B Siegfried Scheffler, Parl. Staatssekretär BMVBW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12287 B Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Für ein fahrradfreundliches Deutsch- land (Tagesordnungspunkt 12) Heide Mattischeck SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 12288 A Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU . . . 12288 C Winfried Hermann BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12290 A Hans-Michael Goldmann F.D.P. . . . . . . . . . . 12291 B Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Wiederaufbau des Berliner Stadtschlos- ses – Arbeitsweise der Expertenkommission Historische Mitte (Tagesordnungspunkt 14 und Zusatztagesordnungspunkt 12) Monika Griefahn SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12292 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000VI Dr. Norbert Lammert CDU/CSU . . . . . . . . . . 12293 B Dr.-Ing. Dietmar Kansy CDU/CSU . . . . . . . . 12293 D Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12294 C Dr. Günter Rexrodt F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . 12295 A Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit der Wirt- schaftsprüfer (Wirtschaftsprüferordnungs-Än- derungsgesetz – WPOÄG) (Tagesordnungs- punkt 13) Dr. Rainer Wend SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12295 C Hartmut Schauerte CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 12296 B Margareta Wolf (Frankfurt) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12297 A Rainer Funke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12298 A Rolf Kutzmutz PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12298 B Siegmar Mosdorf, Parl. Staatssekretär BMWi 12298 D Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Ziele für die Qulitätssteigerung in der Diabetes-Versorgung (Tagesordnungs- punkt 16) Horst Schmidbauer (Nürnberg) SPD . . . . . . . 12299 D Dr. Harald Kahl CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 12301 C Detlef Parr F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12302 D Katrin Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12303 B Dr. Ruth Fuchs PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12304 C Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der EU-Richtlinie über das Folgerecht des Ur- hebers des Originals eines Kunstwerkes (Fol- gerechtsanpassungsgesetz) (Tagesordnungs- punkt 23) Dirk Manzewski SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12305 B Norbert Röttgen CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 12306 A Dr. Antje Vollmer BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12306 D Rainer Funke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12307 B Dr. Heinrich Fink PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12308 A Dr. Eckhart Pick SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12308 D Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 VII Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
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    Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms 12280 (C)(A) 1) Anlage 7 2) Anlage 8 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12281 (C) (D) (A) (B) Balt, Monika PDS 26.10.2000 Barthel (Berlin), SPD 26.10.2000 Eckhardt Behrendt, Wolfgang SPD 26.10.2000* Deß, Albert CDU/CSU 26.10.2000 Ehlert, Heidemarie PDS 26.10.2000 Elser, Marga SPD 26.10.2000 Flach, Ulrike F.D.P. 26.10.2000 Dr. Gehb, Jürgen CDU/CSU 26.10.2000 Glos, Michael CDU/CSU 26.10.2000 Götz, Peter CDU/CSU 26.10.2000 Großmann, Achim SPD 26.10.2000 Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 26.10.2000 Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 26.10.2000 DIE GRÜNEN Hirche, Walter F.D.P. 26.10.2000 Hornung, Siegfried CDU/CSU 26.10.2000* Dr. Hoyer, Werner F.D.P. 26.10.2000 Klemmer, Siegrun SPD 26.10.2000 Dr. Knake-Werner, PDS 26.10.2000 Heidi Dr. Kohl, Helmut CDU/CSU 26.10.2000 Lippmann, Heidi PDS 26.10.2000 Matschie, Christoph SPD 26.10.2000 Müller (Jena), Bernward CDU/CSU 26.10.2000 Müller (Berlin), PDS 26.10.2000 Manfred Neuhäuser, Rosel PDS 26.10.2000 Roth (Augsburg), BÜNDNIS 90/ 26.10.2000 Claudia DIE GRÜNEN Scharping, Rudolf SPD 26.10.2000 Schily, Otto SPD 26.10.2000 Schmidt (Eisleben), SPD 26.10.2000 Silvia Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 26.10.2000 Hans Peter Schröder, Gerhard SPD 26.10.2000 Schulhoff, Wolfgang CDU/CSU 26.10.2000 Schultz (Everswinkel), SPD 26.10.2000 Reinhard Dr. Süssmuth, Rita CDU/CSU 26.10.2000 Dr. Tiemann, Susanne CDU/CSU 26.10.2000 Wiefelspütz, Dieter SPD 26.10.2000 Wissmann, Matthias CDU/CSU 26.10.2000 Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 26.10.2000* Zierer, Benno CDU/CSU 26.10.2000* * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlungdes Europarates Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags: Wettbewerbsfähig- keit des deutschen Güterkraftverkehrsgewerbes erhalten und sichern (Tagesordnungspunkt 6) Dr. Winfried Wolf (PDS): Die CDU/CSU stimmt in ihrem Antrag „Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Gü- terkraftverkehrsgewerbes erhalten“ ein kakophonisches und pharisäisches Klagelied an. Pharisäisch, weil die hier beklagten „Wettbewerbsverzerrungen“ doch nicht allein und nicht einmal in erster Linie Produkt der SPD-Grünen- Regierung sind. CDU/CSU und F.D.P. haben acht Jahre lang die Öff- nung der EU nach Osten gefördert, wohl wissend, dass dies zunächst in den Beitrittsländern zu hunderttausenden Existenzvernichtungen führen würde, und mit in Kauf nehmend, dass dies auch in unserem Land zerstörerische Folgen haben müsste. Jetzt, als Oppositionspartei, wird die „Liberalisierung im europäischen Güterverkehrsmarkt“ wortreich beklagt. Doch dies ist nur eine Klage über die eigene EU-Politik, die seitens SPD und Grünen fortgesetzt wird. Der Antrag ist kakophonisch, und dies bereits in der Sprache. Da ist die Rede von „ausländischen Güterver- kehrskraftunternehmen“, die in den „attraktiven deut- schen Markt drängen“ würden. Kurz darauf heißt es gar, durch diesen fremdländischen LKW-Angriff würden entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht „deutsche LKW durch gebietsfremde Fahrzeuge ... er- setzt“. Die Wortwahl ist einfach fatal und dient, kollegial und freundschaftlich formuliert, nicht der Völkerverstän- digung. Doch abgesehen von dieser Scheinheiligkeit und die- ser unseriösen Terminologie sind es zwei besondere Aspekte, weswegen wir den Antrag von CDU/CSU ab- lehnen. Da ist zum einen Punkt 6 dieses Antrags, wonach „die mit dem Gesetz vom 24. März 1999 eingeführte ... ökolo- gische Steuerreform aufzuheben“ sei. Die CDU/CSU-Fraktion fordert damit ein weiteres Mal eine ersatzlose Aufhebung der ökologischen Steuer- reform. Bei aller Kritik an dieser Ökosteuer – eine ersatz- lose Streichung lehnen wir ab. Diese Steuer ist sozial nicht ausgewogen und sie hat ökologisch eine unzureichende Wirkung. Doch die Richtung, in die sie weist, ist richtig. Ihre ersatzlose Streichung hieße doch, dass Energie er- neut billiger wird und der Verbrauch damit ansteigt. Eine ersatzlose Streichung hieße andererseits aber auch, dass der löbliche und im Detail vielfach misslungene Versuch von SPD und Grünen, über eine Ökosteuer eine Energie- und Verkehrswende zu erreichen, für lange Zeit von der Tagesordnung gestrichen wäre. Diese Politik des „weg damit“ und „weiter so“, die in diesem CDU/CSU-Antrag zum Ausdruck kommt, ist un- verantwortlich. Sie ist vor allem nicht zu verantworten mit Blick auf eine drohende Klimakatastrophe und mit Blick auf spätere Generationen, für die wir hier und heute Mit- verantwortung tragen. Der zweite Grund, weswegen der CDU/CSU-Antrag abzulehnen ist, hat etwas mit seiner Borniertheit zu tun. Ja, in unserem Land sind Arbeitsplätze als Resultat der EU-Erweiterung und EU-Liberalisierung im LKW-Ge- werbe bedroht. Doch wer redet von den Arbeitsplätzen in anderen Transport-Branchen? Wer redet von den kleinen Binnenschiffern, die kaputt gehen und die für eine ökolo- gisch wesentlich akzeptablere Transportpolitik stehen? Wer redet von den hunderttausenden Arbeitsplätzen bei der Bahn in den mittel- und osteuropäischen Ländern und in unserem Land, die mit dieser Liberalisierung zerstört wurden und zerstört werden. Auch hier gilt: Es sind Arbeitsplätze in einer Transport-Branche, die als umwelt- freundlich zu gelten hat. Überhaupt: Der Antrag zielt faktisch auf ein weiteres Wachstum des LKW-Verkehrs, und das ist das Verkehrtes- te, was im Rahmen des verkehrten Verkehrs gemacht werden kann. Der LKW-Verkehr hat sich in den letzten zehn Jahren bereits um rund 50 Prozent erhöht. Während der Anteil der Bahn im Güterverkehr von 20,5 Prozent im Jahr 1991 auf 15 Prozent im Jahr 1999 fiel und sich damit in Rich- tung „bodenlos“ entwickelt, stieg der Anteil des LKW- Verkehrs von 61 auf 70 Prozent. Wer regelmäßig auf Autobahnen fährt, weiß, dass in- zwischen die rechte Fahrbahn zu einem erheblichen Teil vom LKW-Verkehr okkupiert ist und damit als Endlos- Lager der Wirtschaft fungiert. Wenn es für die einen „just in time“ heißt, dann heißt dies für die anderen „just im Stau“. Eine Förderung dieser untragbaren Zustände, die der CDU/CSU-Antrag impliziert, ist abzulehnen. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – des Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Straßenverkehrsgesetzes und ande- rer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften (StVRÄndG) – der Unterrichtung der Bundesregierung zum Bericht des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen über Maßnahmen auf dem Gebiet der Unfallverhütung im Straßenverkehr und Übersicht über das Ret- tungswesen 1998 und 1999 (Unfallverhü- tungsbericht Straßenverkehr 1998/99) (Tages- ordnungspunkt 11 a und b) Rita Streb-Hesse (SPD):Um die Zielsetzung und Än- derungen im Straßenverkehrsgesetz zu veranschaulichen, möchte ich Sie nach Frankfurt am Main entführen: Der Frankfurter Stadtteil Nordend liegt in der Nähe des Ban- kenviertels und der Fachhochschule, hat eine hohe Block- bebauung und Wohndichte, eine bevorzugte Kneipenkul- tur und enge Straßen. Jeden Morgen quält sich eine Blechlawine auf den Einfallstraßen durch das Viertel. Be- rufspendler und Studenten fahren mehrfach um die Blocks und streiten sich mit den Anwohnern um die we- nigen Parklücken. Geparkt wird auf dem Bürgersteig, der Straße, und auch Ein- und Ausfahrten sind nicht tabu. Der Schulweg wird zum Parcourslauf, ebenso wie das Fahren mit einem Kinderwagen. Der Leiter der Frankfurter Straßenverkehrsbehörde be- schreibt dies treffend als „Ausnahmezustand“, und dieses Bild findet sich genauso in den Abendstunden. Ob in Frankfurt, Wiesbaden, Köln, Berlin oder München: Besonders Großstädte kämpfen mit zunehmendem Ver- kehrsdruck. Mangelnder Parkraum für die Anwohner, Pendlerströme und Parksuchverkehr, dies verringert die Wohnqualität, verursacht Stadtflucht und gefährdet die Si- cherheit aller. Letzteres zeigt auch der vorliegende Unfallverhü- tungsbericht. Rund 65 Prozent aller Unfälle mit Perso- nenschaden passieren innerorts, die Zahl von 77 Prozent von Kindern als Unfallopfer lässt erschrecken. Hier ist die Bundespolitik gefordert. Ein zentraler und wichtiger Schritt der Gesetzesnovelle ist die Schaffung einer rechts- sicheren Grundlage für das bevorrechtigte Parken von Be- wohnern städtischer Quartiere mit erheblichem Park- raummangel, bekannt als Anwohnerparken. Sie erinnern sich: Aufgrund des höchstrichterlichen Ur- teils vom Mai 1998 zu der Klage Einzelner mussten viele Kommunen bisher bewährte Anwohnerparkregelungen aussetzen bzw. abschaffen – in anderen Städten herrscht seitdem Verunsicherung über die Rechtssicherheit ihres Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012282 (C) (D) (A) (B) Parksystems. Das Bundesverwaltungsgericht befand, dass der Begriff „Anwohner“ nicht mit Parkzonen, die über zwei oder drei Straßen hinausgehen, vereinbar sei. In der Folge sind auch in Frankfurt die Anwohnerparkzonen „ge- kippt“. Die Polizei meldet seitdem eine Verkehrszunahme in den betroffenen Stadtteilen von rund 5 bis 7 Prozent. Über zwei Dinge sind wir uns doch einig: Zum einen ist das Anwohnerparksystem eine bewährte Maßnahme der Kommunen, eine zufrieden stellende Parkraumbewirt- schaftung zu schaffen, den Individualverkehr nicht weiter wachsen zu lassen und Verkehrssicherheit zu fördern. Zum anderen brauchen die Kommunen eine Rechtsgrundlage, die ihnen den notwendigen Handlungsspielraum ermög- licht. Im Klartext: Eine kleinräumige Begrenzung des An- wohnerparkens ist in vielen Kommunen nicht alltagstaug- lich. Eine straßenbezogene Regelung reicht dort nicht aus, wo schon jetzt mehr Anwohner, die einen Parkplatz benötigen, als Parkraum vorhanden sind – erst recht nicht in Großstädten mit hohen Pendlerquoten. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung trägt diesem Anliegen Rechnung: Er ermöglicht Bewohner-Parkberei- che bis zu einer maximalen Ausdehnung von einem Kilo- meter. Das ist praxistauglich und kommunalfreundlich, es entspricht den Forderungen des Deutschen Städtetags. Dieser ist es auch, der ausdrücklich darum bittet, nähere Ausführungsbestimmungen den Kommunen zu überlas- sen. Ich betone das nicht ohne Grund und mit einem kri- tischen Blick zur Länderbank, denn der Bundesrat wird die Ausführungsbestimmungen beraten. Und damit haben Sie ja auch schon begonnen, zum Unwillen der kommu- nalen Vertreter aller Parteien in den Städten. Diese haben sich ausnahmslos und einstimmig gegen restriktive Vor- gaben ausgesprochen. Wer, wie die hessische Landesre- gierung, eine restriktive Vorgabe von maximal 50 Prozent des Parkraums für die Bewohner fordert oder wer die Größe der Bewohnerparkzonen nach der Einwohnerzahl der Städte staffeln will und dabei auf die Zustimmung ei- ner Mehrheit im Bundesrat setzen will, regelt schlicht an den kommunalen Notwendigkeiten vorbei. Ich appelliere an die Damen und Herren Länderminister: Haben Sie doch ein wenig mehr Vertrauen in die politische Kompe- tenz der Kommunalpolitiker! Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen zeigen dieses Vertrauen. Mit der neuen Rechtsgrundlage werden die Kommunen gemeinsam mit den Straßenver- kehrsbehörden vernünftige Regelungen festlegen, die An- liegerrechte wahren und Handwerk und Gewerbebetrei- bende berücksichtigen. Eine einseitige Privilegierung liegt nicht im Interesse der Kommunen, und das wissen Sie alle. Auf einen zweiten Bestandteil des Gesetzes möchte ich ebenfalls ausführlicher eingehen: Auto und Alkohol gehören nicht zusammen. Gemäß unserer Ankündigung in der Koalitionsvereinbarung wird als neuer einheitlicher Grenzwert die 0,5-Promille-Regelung aufgenommen. Die Vorgängerregierung war hier nicht konsequent genug: Einerseits haben Sie bei der damaligen Änderung die 0,5- Promille-Grenze neu eingeführt, andererseits von wirksa- men Rechtsfolgen bei Verstößen jedoch abgesehen. Das war ein halbherziger Vorstoß in die prinzipiell richtige Richtung. Im Interesse einer Steigerung der Ver- kehrssicherheit, besonders für unsere jungen und jüngsten Verkehrsteilnehmer, wird es keine 0,8-Promille-Grenze mehr geben. Der Verstoß gegen die 0,5-Promille-Grenze soll mit dem Entzug der Fahrerlaubnis und einer Buß- geldhöchstgrenze von 3 000 DM geahndet werden, ana- log dem vorgesehenen Strafmaß bei Verstoß gegen das Drogenverbot im Straßenverkehr. Der Unfallverhütungsbericht hat auch hier sprechende Zahlen: Jeder fünfte Verkehrstod ist auf Alkohol zurück- zuführen, bei circa einem Drittel der registrierten Unfälle spielte Alkohol eine Rolle; der Rückgang hier ist mit 2 Prozent nur geringfügig. Angaben der Frankfurter Poli- zei zeigen einen Zuwachs der innerörtlichen Unfallzahlen unter Alkoholeinfluss allein im letzten Jahr von 8,4 Pro- zent. Ebenso alarmierend ist auch die Zahl der an Unfäl- len beteiligten Fahranfänger: Jeder fünfte Unfall mit Per- sonenschaden ging 1999 auf Fahrer im Alter zwischen 18 und 24 Jahren zurück. Experten der Polizei und der In- stitute bestätigen uns, dass auch geringer Alkoholkonsum die Leistungsfähigkeit mindert, das Reaktionsvermögen beeinträchtigt. Die einheitliche Einführung der 0,5-Pro- mille-Grenze wird Alkohol am Steuer künftig härter ahn- den, sie unterstützt unser gemeinsames Bemühen um mehr Verkehrssicherheit, weniger Todesfälle und weniger Unfallverletzte. Sie ist ein glaubwürdiger und richtungs- weisender Kompromiss zwischen den Vorstellungen mancher Bundesländer, ein Fahrverbot schon bei null Pro- mille bzw. bei 0,3-Promille festzulegen oder die 0,8-Pro- mille-Regelung beizubehalten. Dabei ist der kurvenreiche Kurs, den ein Teil der CDU/CSU-Ländervertreter zurzeit fahren, doch erwäh- neswert. Wie wollen vor allem die CSU-Kolleginnen und Kollegen erklären, dass es auf der einen Seite sinnvoll ist, für Fahranfänger die Nullpromillegrenze zu diskutieren und einzuführen, sich aber Erwachsene ab dem 24. Le- bensjahr getrost an eine 0,8-Promille-Grenze herantrin- ken sollen? Diese „Logik“ kann ich nicht nachvollziehen. Welches Lernverhalten soll das bewirken? Die SPD-Fraktion hat hier einen klaren Kurs: Wir müs- sen und werden eine sachliche und faktenbezogene Dis- kussion über Maßnahmen zum Schutz junger Fahranfän- ger führen, aber ebenso konsequent das Signal an alle Verkehrsteilnehmer senden, dass Alkohol am Steuer für uns keine Bagatelle ist. Der Gesetzentwurf beinhaltet noch eine Reihe weiterer Regelungen, die ich nur kurz benenne: Die Neuregelung zum Verbot des Mitführens von Radar- und Laserwarn- geräten ist wohl unstreitig – ein Vorhaben, das die SPD-Fraktion schon im Sommer 1999 beantragt hat. Die Änderungen zum Fahrerlaubnis- und Fahrlehrerrecht setzen notwendige Ergänzungen der 1999 vorgenommenen Änderungen um. Darüber hinaus sieht die Gesetzesnovelle Änderungen beim Punktesystem, dem Kraftfahrsachver- ständigengesetz und zur Bußgeldkatalog-Verordnung vor. Bereits in den 30er-Jahren sagte Kurt Tucholsky: „Die Deutschen fahren nicht Auto, um sich fortzubewegen, sondern um Recht zu haben.“ In der heutigen Zeit gilt dies sichtlich immer noch – oft nicht im Sinne der Verkehrssi- cherheit. Unsere Aufgabe ist es daher, das Verkehrsrecht Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12283 (C) (D) (A) (B) fortzuschreiben, um ein Mehr an Sicherheit und ein faires Miteinander aller Verkehrsteilnehmer zu gewährleisten. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf kommt die Bundes- regierung dieser wichtigen Aufgabe nach. Ich hoffe auf eine konstruktive Diskussion in den Ausschüssen und eine breite Zustimmung. Eduard Lintner (CDU/CSU): Erlauben sie mir ein- gangs – bei aller Tragik, die hinter jedem Einzelfall steht – die Feststellung, dass es insgesamt erfreulich ist, wenn der „Unfallverhütungsbericht Straßenverkehr 1998/99“ auch für das vergangene Jahr von einem Rückgang der Zahl der Getöteten berichten kann. Dabei ist besonders der signifi- kante Rückgang der schweren Verkehrsunfälle mit Kin- dern – von 511 1991 auf nur noch 309 im Jahre 1999 – zu begrüßen. Diese Bilanz wird noch dadurch verbessert, dass die Zahl der Kfzs von 1991 bis 1999 um 17,5 Prozent auf 50,6 Millionen Autos gestiegen ist. Tatsache ist aber auch, dass die Zahl der von der Poli- zei erfassten Verkehrsunfälle insgesamt um 6,4 Prozent auf 145 099 gestiegen ist, die Sachschäden um 6,8 Prozent zugenommen haben, ebenso die Zahl der Verletzten. Ein solch differenziertes Geschehen verlangt nach spe- ziellen, ebenfalls differenzierenden Antworten: Generelle Gebote oder Verbote werden der Problematik häufig nicht gerecht. Ihnen fehlt es an Plausibilität und damit an Ak- zeptanz. Dann aber bedarf es zur Erzwingung einer so hohen Kontrolldichte, wie sie weder personell noch ma- teriell auf Dauer durchgehalten werden kann, von dem verheerenden Eindruck einmal abgesehen, den solche dichte Polizeieinsätze hinterlassen. Mit Überzeugung und Aufklärung ist da mehr zu gewinnen als mit Verboten und Repression. Ein ermutigendes Beispiel für einen solchen Weg ist zum Beispiel die am 1. August 1998 eingeführte Rege- lung, das Verstöße gegen das Verbot von Alkohol am Steuer differenziert ahndet: Für 0,5 bis 0,8 Promille sind 200 DM Geldbuße und zwei Punkte in Flensburg fällig; danach gibt es den Entzug der Fahrerlaubnis. Trotz einer Zunahme des PKW-Bestandes im letzten Jahr stagnierte die Zahl der durch Alkoholeinfluss bedingten Unfälle. Nach einem deutlichen Rückgang um 13 Prozent im Jahr davor – 1998 mit damals 15 Prozent weniger Verletzten und 23 Prozent weniger Toten –, ist die Sicherung dieses relativ niedrigen Niveaus im Jahr 1999 ein echter Erfolg. Die Autofahrer und die potenziellen Mitfahrer sind of- fenbar zusätzlich sensibilisiert worden und handeln zu- nehmend verantwortungsbewusster als früher. Wachsen- des Verantwortungsbewusstsein und damit freiwillige Befolgung von staatlichen Vorgaben sind die effizienteste Form einer Regelung überhaupt, weil der Sicherheits- effekt dieser freiwilligen Selbstbeschränkung wirkungs- voller ist als die unter dem Gesichtspunkt der Verhältnis- mäßigkeit immer nur in beschränkter Zahl möglichen Kontrollen. Überzieht man Verbote, dann macht man ihre Beach- tung in der Lebenswirklichkeit fast unmöglich, denn man verspielt die freiwillige Selbstbeschränkung und riskiert, dass die Fahrer eine Zusammenarbeit wegen Überforde- rung praktisch verweigern. Dann wäre die höchst wün- schenswerte Mitwirkung durch Einsicht gestört und der Erziehungseffekt stark gefährdet. Mit Sicherheit muss die Änderung der zum 1. Mai 1998 geltenden Promilleregelungen als vorschnell bezeichnet werden. Um den Einfluss solcher Vorschriften auf das Unfallgeschehen beurteilen zu können, bedarf es weit längerer Zeiträume. Die Bundesregierung selbst stellt auch in dem heute vorliegenden „Unfallverhütungsbe- richt Straßenverkehr 1998/99“ ausdrücklich fest: „Die Entwicklung des Unfallgeschehens in den zurückliegen- den zehn Jahren ist relevant für die Abschätzung der Wir- kung von laufenden und künftigen Verkehrssicherheits- maßnahmen.“ Warum halten Sie sich nicht an die eigenen Erkenntnisse? lm Übrigen zeigen die positiven Erfahrungen mit Mo- dellprojekten, die auf erzieherische Einwirkung auf spe- zielle Gruppen und Verkehrsteilnehmer wie Kinder, Ju- gendliche, Zweiradfahrer oder jugendliche Fahranfänger gerichtet sind, dass man sehr wohl auf diese Weise posi- tive Verhaltensänderungen erreichen kann. Umso unver- ständlicher ist es, dass die Regierungskoalition erst ges- tern im Verkehrsausschuss einen Antrag unserer Fraktion, die Mittel im Haushalt 2001 um magere 4 Millionen DM auf 26 Millionen DM zu erhöhen, abgelehnt hat. Sie set- zen also unverändert – nach sozialistischer Denkart – auf Gesetzeszwang und Bevormundung und halten offenbar wenig von selbstverantwortlichem Verhalten mündiger Bürger. Selbst nachweisbare Erfolge eines solchen Denk- ansatzes können Sie von Ihrer eingefahrenen Denkweise nicht abbringen. Die im Gesetzentwurf ebenfalls vorgesehene Ermäch- tigungsgrundlage zur Anordnung weiträumiger Bewoh- nerparkbereiche ist nicht unproblematisch, weil sie geeig- net ist, den für das geschäftliche und kulturelle Leben in Städten so dringend notwendigen, der Allgemeinheit zur Verfügung stehenden Parkraum drastisch einzuschrän- ken. Dieser Aspekt liegt ja auch der Stellungnahme des Bundesrats zugrunde, der die Bundesregierung auffor- dert, die Privilegierung der Bewohner auf maximal 50Prozent des Parkraums zu begrenzen. Dem kann man sich nur anschließen. Alles in allem wird sich in den jetzt folgenden Aus- schussberatungen zeigen, ob wir – was angesichts des mit dem Gesetz verbundenen Eingriffs in die persönliche Sphäre von Bürgerinnen und Bürgern wünschenswert wäre – zu einer gemeinsamen Auffassung in den wichti- gen Punkten kommen können. Den Willen dazu wünsche ich uns allen. Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Gesetzentwurf zum Straßenverkehr der Bundesregierung sorgt für eine Reihe von Verbesserun- gen im Straßenverkehrsrecht, die seit geraumer Zeit über- fällig sind. Er setzt weitere Punkte aus der Koali- tionsvereinbarung zwischen SPD und Bündnisgrünen um, die 1998 mit guten Gründen vereinbart worden sind. Zunächst: Die so genannte ,,Promillegrenze“ beim Autofahren wird endlich auf den Wert 0,5 statt bisher 0,8 abgesenkt. Damit wird klar signalisiert: Alkohol trinken Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012284 (C) (D) (A) (B) und Autofahren passt nicht zusammen. Zahlreiche Unter- suchungen und leider auch zahlreiche Unfallanalysen haben gezeigt: Schon zwischen 0,5 und 0,8 Promille kann es zu beträchtlichen Einschränkungen der Fahrsicherheit kommen. Die Konsequenz daraus kann nur lauten: Die Sanktionen, die bisher als Folge der Überschreitung der alten 0,8-Promille-Regelung galten, insbesondere das Fahrverbot, müssen künftig bereits auf eine Übertretung der 0,5-Promille-Grenze angewandt werden. Fahrverbote kann es demnach bereits ab 0,5 Promille geben. Das „He- rantrinken“ an einen Grenzwert wird erschwert, da 0,5 Promille bekanntermaßen schnell erreicht sind. Es liegt im Interesse aller Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer, mit dieser Neuregelung, die übrigens auch einen Beitrag zur Harmonisierung ver- gleichbarer Regelungen in Europa darstellt, für mehr Sicherheit und weniger Risiko auf Deutschlands Straßen zu sorgen. Nicht nur die Autofahrerinnen und Autofahrer, sondern auch und vor allem für die nicht motorisierten Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer wird diese Neuregelung zu mehr Sicherheit führen. Ich appel- liere an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Neuregelung zuzustimmen und daraus keine ideologische Debatte abzuleiten. Einen weiteren Schritt gegen das Unfallrisiko im Straßenverkehr stellt das ebenfalls im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehene Verbot von Radar- warngeräten im Fahrzeug dar. Damit wird unverant- wortliches Rasen unter tatsächlicher oder vermeintlicher Umgehung der polizeilichen Kontrollen erschwert bzw. konsequenter bestraft. Geräte, die rasende Autofahrer vor etwaigen Radarkontrollen warnen sollen, funktionieren zwar bis heute nicht wirklich zuverlässig. Sie suggerieren aber dennoch, getrost schneller als erlaubt fahren zu kön- nen, da man vor dem Erwischtwerden durch Kontrollen geschützt sei. Tempolimits wie auch deren Überwachung sind aber nur dann sinnvoll, wenn sich der Autofahrer gezwungen sieht, sie immer zu beachten, und wenn er im Falle der Nichteinhaltung mit seiner Entdeckung und Be- strafung rechnen muss. Die neue Promille-Regelung wie auch das Verbot von Radarwarngeräten sind keine willkürlichen Einschrän- kungen, die einem übertriebenen staatlichen Kontroll- bedürfnis entsprechen. Es sind vielmehr notwendige und richtige Ergänzungen bisheriger Sicherheitsvorschriften, die Leben retten können. Denn um nichts anderes geht es im Straßenverkehr täglich: um Leben und Tod, um Ge- sundheit oder Verletzungen. Wenn wir durch diese Neuregelungen helfen können, Verkehrsunfälle und ihre schrecklichen Folgen zu vermeiden oder zu verringern, sind wir verpflichtet, sie möglichst schnell in Kraft zu set- zen. Genau darum bitte ich Sie alle. Ein dritter wichtiger Punkt der von der Bun- desregierung vorgelegten Novelle des Straßenverkehrsge- setzes ist die seit längerem erwartete Änderung des An- wohnerparkens. Die bisherige Regelung war durch das Bundesverwaltungsgericht zu Fall gebracht worden: Der Begriff des „Anwohners“ unterstellt demnach eine enge räumliche Beziehung zwischen Wohnung und PKW-Ab- stellort. Die Bereiche mit Sonderparkberechtigungen haben aber zum Teil eine Ausdehnung von bis zu tausend Metern, sodass sie häufig aufgehoben werden mussten. In Großstädten sind aber größere Räume zum Ausgleich zwischen dem Angebot an Parkfläche und der tatsäch- lichen Nachfrage erforderlich. In Zukunft wird es deshalb möglich sein, auch großräumige Bewohnerparkbereiche einzurichten, indem in § 6 des Straßenverkehrsgesetzes das Wort „Anwohner“ durch „Bewohner städtischer Quartiere mit erheblichem Parkraummangel“ ersetzt wird. Ich glaube, auch diese sinnvolle Neuregelung sollte fraktionsübergreifend breite Zustimmung finden. Schließlich beschäftigt uns heute noch die Diskussion des „Unfallverhütungsberichts Straßenverkehr“ der Bun- desregierung für die Jahre 1998 und 1999. Er gibt einen umfassenden Überblick über das Unfallgeschehen und die Unfallursachen auf Deutschlands Straßen. Er berichtet aber auch sehr genau über die zahlreichen und verdienst- vollen Leistungen des Bundes und anderer Maßnahmen- träger, die sich aktiv um eine Verbesserung der Verkehrssicherheit bemühen. Er reportiert auch die For- schungstätigkeit und die großartige Arbeit der Verbände im Bereich der Verkehrssicherheit. Das Ergebnis dieser Übersicht ist in einem Punkt relativ ermutigend: Das Risiko, im Straßenverkehr tödlich zu verunglücken, war Anfang der 90er-Jahre höher als heute. 1990 gab es in Deutschland bei rund 42 Millionen Kfz mit einer Fahrleistung von etwa 550 Milliarden km insgesamt 11 000 Straßenverkehrstote. 1999 wurden trotz erheblich höherer Fahrleistung mit wesentlich mehr Fahrzeugen auf Deutschlands Straßen weniger als 7 800 Menschen töd- lich verletzt. Rückläufig ist vor allem die Zahl der im Straßenverkehr getöteten Kinder. Dies spricht für den Er- folg verbesserter Sicherheitstechnik am und im Auto, vielleicht auch für die Erfolge der Verkehrssicherheits- erziehung. Dennoch gibt es keinen Grund zur Zufriedenheit. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir nach wie vor für die beanspruchte alltägliche Automobilität einen viel zu hohen Preis bezahlen, an den wir uns niemals gewöhnen dürfen. Hinzu kommt, dass die Zahl der Unfälle mit Per- sonenschäden immer noch zunimmt, von 1998 auf 1999 um fast fünf Prozent. Erst die aktuellsten, im Bericht der Bundesregierung noch nicht erfassten Zahlen für das erste Halbjahr 2000 zeigen Gott sei Dank auch hier eine rückläufige Tendenz. In jedem Falle ist jeder Verkehrstote und jeder Verletz- te ein Opfer zu viel, ein Opfer, das jede Anstrengung rechtfertigt, zu mehr Sicherheit im Verkehr beizutragen, zum Beispiel auch durch die eingangs vorgestellten Neuregelungen im Straßenverkehrsgesetz. Die immer noch hohe Unfallzahl im Straßenverkehr ist aber auch ein weiterer Anlass, die Bemühungen zum Ausbau und zur Attraktivitätsverbesserung der sichereren Verkehrssys- teme Bus und Bahn zu verstärken und durch ein beson- deres Verkehrssicherheitsprogramm neue Impulse für mehr Sicherheit zu geben. Die Bundesregierung, aber auch wir alle als Verkehrs- teilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer stehen in der Pflicht, das Menschenmögliche zu tun, um Mobilität sicherer zu machen. Ich erwarte und erhoffe mir dafür im Bundestag eine breite Übereinstimmung. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12285 (C) (D) (A) (B) Horst Friedrich (Bayreuth) (F.D.P.):Wir reden heute über den Unfallverhütungsbericht des Bundesministeri- ums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen für 1998 und 1999 und über den Gesetzentwurf der Bundesregierung, der aus diesem Bericht offenbar Lehren ziehen soll. Ich will mich gar nicht lange mit den Details aufhalten, die im Zweifel unstrittig – es handelt sich um eine reine Übernahme von Erfahrungen aus der Praxis in den Ge- setzestext – sind. Hierzu gehört auch das Thema Park- raumbewirtschaftung, bei dem das Haus auf eine höchst- richterliche Entscheidung einigermaßen liberal reagiert hat. Es wird dann an den Kommunen sein, nicht zu re- striktiv vorzugehen. Nebenbei bemerkt, es zeigt sich hieran auch, dass in den Fachabteilungen immer dann, wenn keine ideologischen Denkverbote auf sie herunter- prasseln, noch immer Sachkenntnis existiert. Diese Sachkenntnis zu nutzen, sollte eigentlich auf al- len Politikfeldern der Normalfall sein. In puncto Promil- legrenze hat man sich allerdings von allzu viel Sachver- stand nicht blenden lassen. Bei den alkoholverursachten Unfällen sind nicht die Fahrer mit einem Wert von 0,5 Promille bis 0,8 Promille das Problem, sondern die „Ex- tremtrinker“, die Werte von über 1,6 Promille aufweisen. Es handelt sich also um Werte, die deutlich über der ab- soluten Fahruntüchtigkeit liegen. Wenn der Minister den Unfallverhütungsbericht seines eigenen Hauses, der doch die Grundlage des Gesetzent- wurfes bildet, richtig gelesen hätte, dann hätte er an der bestehenden Promilleregelung nichts geändert. Denn 96 Prozent der Autofahrer halten sich an die Vorgabe, nichts zu trinken; nur 4 Prozent werden überhaupt auffäl- lig. Von diesen ist es wiederum nur ein Teil, der absolut fahruntüchtig ist. Dieser – nur dieser – wird größer. Man kann etwas für die Verkehrssicherheit tun, indem man die Kontrollen verstärkt und mit gerichtsfest verwertbaren Meßmethoden – die leider auch nicht immer zu finden sind – arbeitet. Auch im internationalen Vergleich muss man nur in den Unfallverhütungsbericht schauen, um sogleich Frankreich mit wesentlich mehr Verkehrstoten bei niedri- gerer Promillegrenze zu finden. Dies steht im Gegensatz zu der Gesetzesbegründung, in der von einer notwendigen Anpassung der Grenze im internationalen Vergleich ge- sprochen wird. Die bestehende Grenze ist auch nicht zu kompliziert. Man kann sie ganz einfach erklären, und jeder wird sie verstehen: Bei unauffälligem Verhalten gilt bei 0,5 Pro- mille Geldbuße und bei 0,8 Fahrverbot. Diese Regelung hat sich bewährt. Bei auffälligem Verhalten dagegen galt und gilt weiterhin die Grenze von 0,3 Promille – die ei- gentlich strafrechtlich relevante Grenze in Deutschland. Ihr Konzept schießt dagegen mit Kanonen auf Spatzen, obwohl die Krähen ganz woanders sitzen. Vielleicht soll- ten Sie mehr Zielwasser trinken. Dr. Winfried Wolf (PDS): Ich möchte mich hier auf den Bericht der Bundesregierung zur Unfallverhütung im Straßenverkehr konzentrieren. Natürlich ist die in diesem Bericht über einen längeren Zeitraum belegte rückläufige Zahl der Straßenverkehrsopfer zu begrüßen. Gleichzeitig bleibt es richtig, dass 7 749 Tote im bundesdeutschen Straßenverkehr 1999 7 749 Tote zuviel und in jeden Fall ein gewaltiger Blutzoll sind. Generell sollte der Blick nicht allzu sehr auf die Verkehrstoten konzentriert sein. Die Zahl der Verletzten – rund 500 000 im Jahr – und die Zahl der Schwerverletzten – rund 100 000 im Jahr – sind ebenfalls wichtige Größen. In einigen Teilbereichen gab es auch Zunahmen. So im Fall der Zahl der Unfälle im Kfz-Verkehr und im Fall der Zahl der Verletzten. Ein besonderes Problem, das im Bericht der Bundesre- gierung kaum angesprochen wird, stellt die enorme Dis- krepanz auf Bundesländerebene dar. Im Grunde haben wir hier vier erheblich auseinander liegende Gruppen. Da sind zum einen die Stadtstaaten Hamburg, Bremen und Berlin. In diesen gibt es „nur“ 26 bis 30 Tote auf eine Million Einwohner. Dann haben wir zweitens die übrigen west- deutschen Bundesländer und das Bundesland Sachsen. In diesen liegt die Zahl der im Straßenverkehr je 1 Million Einwohner Getöteten bei durchschnittlich 100. Drittens haben wir die Bundesländer Thüringen und Sachsen-An- halt mit 137 bzw. 131 Getöteten je 1 Million Einwohner. Und schließlich haben wir die Bundesländer Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern mit 187 bzw. 208 Getöte- ten je 1 Million Einwohner. Für die erste Kategorie gibt es eine einleuchtende Er- klärung: In den Städten gibt es eine durchweg begrenzte Kfz-Geschwindigkeit von normalerweise 50 km/h und teilweise in den Wohnquartieren ein maximales Tempo von 30 km/h. Die Spitzenwerte in den erwähnten zwei ost- deutschen Ländern Mecklenburg-Vorpommern und Bran- denburg, aber im Grunde auch die erheblich über dem westdeutschen Durchschnitt liegenden Werte in Thürin- gen und Sachsen-Anhalt sind schwer zu erklären. Dass in diesen Ländern die Arbeitslosenrate wesentlich über dem westlichen Durchschnitt und auch über derjenigen in Sachsen liegt, spielt möglicherweise eine Rolle, kann aber nicht als entscheidend erkannt werden. Sicherlich wird ein Bündel von Ursachen hierfür eine Erklärung geben können. Und ebenso sicher ist, dass auf diesem Gebiet er- hebliche Anstrengungen erforderlich sind, um diese Ex- tremwerte zumindest zu nivellieren. Über einen längeren Zeitraum hinweg betrachtet ist noch ein Vergleich der Entwicklung zwischen den inner- orts Getöteten und den außerhalb geschlossener Ortschaf- ten Getöteten von Interesse. 1991 waren es 3 349 innerorts und 7 951 außerorts im Straßenverkehr Getötete. 1998 da- gegen 1 098 innerorts im Kfz-Verkehr Getötete und 5 884 außerhalb geschlossener Ortschaften Getötete. Das heißt: Anfang der Neunzigerjahre machten die innerorts Getöte- ten noch 30 Prozent aller Straßenverkehrsopfer aus. Im Jahr 1999 machten die innerorts Getöteten „nur“ noch 15 Prozent aller Straßenverkehrstoten aus. Es gab bei den innerorts Getöteten also nicht nur einen Rückgang bei den absoluten Opferzahlen, sondern vor allem auch einen enormen Rückgang bei ihrem relativen Anteil an allen Getöteten. Dieser Entwicklung entspricht im Übrigen die Entwicklung der im Straßenverkehr innerorts bzw. außer- halb geschlossener Ortschaften verletzten Menschen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012286 (C) (D) (A) (B) Die entscheidende Erklärung für diesen Prozess lautet: Es ist offensichtlich gelungen, in den Städten grundsätz- lich zu einer derartigen Verkehrsberuhigung beizutragen, dass sich diese in wesentlich größeren Verbesserungen in der Opferbilanz niederschlug als außerhalb geschlossener Ortschaften, wo es teilweise keine Tempolimits gibt bzw. Autobahnen, wo Geschwindigkeitsüberschreitungen mehr die Regel sind und wo Tempolimits weit weniger kontrol- liert werden als in geschlossenen Ortschaften. Zum Schluss sei auf zwei Aspekte verwiesen, die in der vorliegenden Statistik nicht auftauchen. Erstens der internationale Vergleich. Trotz aller lobens- werter Fortschritte, die es bei den Straßenverkehrsopfern gibt, steht unser Land keineswegs im EU-Vergleich am besten da. In der BRD wurden 1997 10,4 Menschen je 100 000 Einwohner im Schnitt im Kfz-Verkehr getötet (so die letzten verfügbaren Zahlen – in „Verkehr in Zahlen 1999“, S. 29). In allen skandinavischen Ländern liegt je- doch dieser Wert deutlich darunter: In Finnland bei 8,5, in Schweden bei 6,1, in Dänemark bei 9,3 und in den Nie- derlanden bei 7,5. Auch im Vereinigten Königreich Groß- britannien wurden im Jahr 1997 „nur“ 6,3 Menschen je 100 000 Einwohner im Kfz-Verkehr getötet – knapp 40 Prozent weniger als in der Bundesrepublik Deutsch- land. Zweitens der Vergleich Männer – Frauen. Dieser wird in den uns vorliegenden Statistiken ebenfalls nicht wie- dergegeben. Frauen verursachen im Vergleich zu Män- nern und unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Fahrleistung zwar ähnlich viele Unfälle wie Männer. Doch bei den von Frauen verursachten Unfällen kommt es nur in der Hälfte der Fälle zu Straßenverkehrstoten und nur zu halb so vielen Schwerverletzten wie bei den von Männern verursachten Unfällen – wohlgemerkt immer bei Berücksichtigung der unterschiedlichen Fahrleistun- gen. Auch diese Tatsache sollte zu denken geben und könnte ein Ansatzpunkt für weitere Verbesserungen in der Unfallbilanz sein. Ziele müssen die Entschleunigung, Tempolimits und ein Abbau des Macho-Gehabes im Ver- kehr sein. Wobei das Letztere eng mit dem Ersteren zu- samenhängt. Siegfried Scheffler, Parl. Staatssekretär beim Bun- desministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: Die Erhöhung der Verkehrssicherheit ist und bleibt eine der wichtigsten Aufgaben der Verkehrspolitik. Das BMVBW räumt der Verkehrssicherheit höchste Priorität ein. Die zunehmende Mobilität wird nur dann akzeptiert, wenn auch ein hohes Maß an Verkehrssicherheit gewähr- leistet wird. Unser Verkehrssystem wird immer komple- xer. Deshalb müssen wir bestehende Unfallgefahren be- seitigen und künftige Sicherheitsrisiken frühzeitig erkennen, um sie zu verhindern. Für alle Verkehrsträger gilt grundsätzlich, dass die Eigenverantwortung der Verkehrsteilnehmer, der Trans- portunternehmen und der Hersteller gestärkt werden muss. Auch der Einsatz moderner Verkehrstechnik kann zur wei- teren Verbesserung der Verkehrssicherheit beitragen. Um die von allen geforderte Verkehrswende zu schaf- fen, brauchen wir zunächst eine umfassende Bestandsauf- nahme der Verkehrsentwicklung – auch der Unfallursa- chen und -risiken. Wir gehen diese Bestandsaufnahme in allen Bereichen an: bei großen Projekten wie der Überar- beitung des Bundesverkehrswegeplanes, wie auch in der Verkehrssicherheit. Der vorgelegte Bericht zur Unfallent- wicklung 2000 ist ein wichtiger Baustein unserer inte- grierten Verkehrspolitik. Der Bericht steht in unmittelba- rem Zusammenhang mit dem Verkehrsbericht 2000, den wir in Kürze vorlegen werden. Er dient als Zwischen- schritt für die Überarbeitung des Bundesverkehrswege- planes. Danach folgt ein umfassendes Verkehrssicher- heitsprogramm, das wir Anfang nächsten Jahres vorlegen werden. Der Unfallverhütungsbericht Straßenverkehr stellt die Unfallsituation auf deutschen Straßen dar und informiert umfassend über unsere Maßnahmen zur Verkehrssicher- heit. Straßenverkehrsunfälle sind in der Regel keine schicksalhafte, unvermeidbare Nebenerscheinung des Straßenverkehrs, sondern in den meisten Fällen Folgen vermeidbaren menschlichen Fehlverhaltens. Obwohl die Zahl der tödlichen Unfälle in den letzten Jahren stetig zurückgegangen ist, bedeuten die jährlich Tausende von Straßenunfällen mit Personenschäden und zum Teil schweren Verletzungen einen tiefen Einschnitt in die Le- bensqualität – auch in das allgemeine Sicherheitsgefühl – der Bürger und Bürgerinnen unseres Landes. Im interna- tionalen Vergleich befindet sich Deutschland bei der Un- fallhäufigkeit – bezogen auf die Bevölkerungszahl, den Fahrzeugbestand und die Länge des Straßennetzes – nur im Mittelfeld. Das muss sich ändern. Zu den Unfallrisiken. Festzuhalten ist: Der Fahrzeug- bestand ist gestiegen, aber das Risiko, bei einem Straßen- verkehrsunfall getötet zu werden, ist gesunken. Die Zahl der Verkehrsunfälle insgesamt ist leider nicht zurück- gegangen. Positiv ist der Rückgang der schweren Ver- kehrsunfälle bei Kindern. Dennoch bleibt viel zu tun: Die Aufmerksamkeit der Bundesregierung gilt daher insbe- sondere dem Schutz der schwächeren Verkehrsteilneh- mer, von Kindern und Älteren. Nach wie vor sind junge Fahranfänger am meisten gefährdet. Auch auf den Land- straßen passieren überdurchschnittlich viele Verkehrsun- fälle. Zur Unfallentwicklung in den ersten drei Monaten 2000. Die Ad-hoc-Unfallexpertengruppe hat festgestellt: Die erhöhten Unfallzahlen im ersten Quartal 2000 gehen weitgehend auf eine milde Witterung und den zusätzli- chen Schalttag im Februar zurück. Die Expertenkommis- sion glaubt, dass sich die Unfallentwicklung nicht negativ verändern wird. Die Expertengruppe bestätigt auch, dass mit dem Verkehrssicherheitsprogramm, das wir Anfang des nächsten Jahres vorlegen werden, wichtige Schritte zur Verbesserung der Verkehrssicherheit eingeleitet wer- den. Mein Fazit: Die Bundesregierung wird die Verkehrssi- cherheit kontinuierlich fördern und verbessern. Unsere Maßnahmen tragen bereits erste Früchte und werden von Experten bestätigt. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12287 (C) (D) (A) (B) Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Für ein fahrrad- freundliches Deutschland (Tagesordnung 12) Heide Mattischek (SPD): Obwohl Berlin nicht ge- rade die besten Rahmenbedingungen für Radler und Rad- lerinnen bietet – schon gar nicht im Regierungsviertel –, sehe ich hier mehr Abgeordnete, die sich des Fahrrads be- dienen als je zuvor. Ich bedaure es außerordentlich, dass die konstruktiven Bemühungen des ADFC um ein „fahr- radfreundliches Regierungsviertel“ weder bei der damali- gen Bundesregierung noch bei der Berliner Stadtregie- rung auf Interesse gestoßen sind. Der „1. Fahrradbericht der Bundesregierung über die Situation des Fahrradverkehrs in der Bundesrepublik Deutschland“ ist eine wichtige Zäsur: Die derzeitige Si- tuation des Radverkehrs in Deutschland wird systema- tisch dargestellt. Die grundlegenden Probleme werden be- nannt, Vorbildleistungen im In- und Ausland aufgezeigt, Empfehlungen zur Verbesserung des Radverkehrs formu- liert. Ich begrüße es sehr, dass die jetzige Bundesregierung trotz der besonderen Zuständigkeit der Kommunen bei In- vestitionen und bei Infrastrukturmaßnahmen auch die Verantwortung des Bundes hervorhebt, die die frühere Regierung eher von sich gewiesen hat. Ich freue mich des- halb, dass die CDU/CSU-Kollegen in einem neuerlichen Antrag dies auch so sehen. Nicht nur, weil in dem Antrag meine Heimatstadt Erlangen lobend erwähnt wird, sehe ich sehr viel positive Ansätze darin. Eine Reihe von For- derungen, die Sie erheben, sind diskussionswürdig. Es bleibt allerdings die Frage offen, warum Sie diese nicht in den Jahren 1982 bis 1998 gestellt und erfüllt haben. Da wir uns, Herr Kollege Börnsen, in dem Ziel einig sind, den Fahrradanteil am Alltagsverkehr spürbar anzu- heben, müssen wir nach Wegen suchen, dieses Ziel zu er- reichen. Wenn wir auf diesem Weg ein gutes Stück ge- meinsam gehen könnten, würde es der Sache nicht schaden. Wir haben überfraktionell eine öffentliche Anhörung zum Thema Fahrradverkehr beschlossen, die am 24. Ja- nuar 2001 stattfinden wird. Daraus werden uns gewiss weitere Erkenntnisse erwachsen. Ich begrüße es sehr, dass die jetzige Bundesregierung nicht nur einfach den Fahrradbericht vorgelegt hat, son- dern erste Schlüsse daraus gezogen hat. Es gibt seit dem letzten Jahr einen Bund-Länder-Arbeitskreis, der auch den Sachverstand von Verbänden wie dem ADFC und dem VCD mit einbezieht. Ich erwarte, dass wir nach der Anhörung mehr darüber wissen, welche Strategie zum Beispiel die Niederlande entwickelt und umgesetzt haben, um dem Fahrradanteil auf beinahe 30 Prozent anzuheben. Weder ist das Klima dort bemerkenswert anders noch ist die Topographie in Deutschland hauptsächlich alpin. Es gibt also noch großen Handlungsbedarf: Die Sicherheit muss erheblich verbessert werden, die Infrastruktur braucht erhebliche Verstärkung, für den Imagegewinn muss etwas getan wer- den, auch der Verbund mit ÖPNV und Fernverkehr ist noch nicht optimal – bei aller Anerkennung des Erreich- ten. Ein Stück Benachteiligung wird jetzt durch die Um- wandlung der Kilometerpauschale in eine – lange gefor- derte – Entfernungspauschale beseitigt. Man kann es nicht oft genug sagen: Die gesamtwirt- schaftlichen positiven Effekte des Fahrradfahrens sind beachtlich: das Einsparpotenzial im Gesundheitssystem, die Umsatzsteigerungen bei Reiseveranstaltern, in der Gastronomie und im Beherbergungsgewerbe sowie 8 Milliarden DM Umsatz bei Herstellung, Handel und Dienstleistung. Und überall bestehen noch Steigerungs- möglichkeiten. Umso mehr ist zu begrüßen, dass im Fahrradbericht aufgezeigt wird, dass das Fahrrad als „System“ eine Zukunft hat, wie uns das ziemlich per- fekte „System Auto“ täglich vor Augen führt. Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Die Renaissance des Fahrrades hat Mitte der 70er-Jahre ein- gesetzt. Heute gibt es 75 Millionen Räder in Deutschland. Am Gesamtverkehrsaufkommen ist der Radverkehr bei uns mit 12 Prozent beteiligt – bei steigender Tendenz. Wir von der Union begrüßen diese Entwicklung und werden sie weiter fördern. Die Trendwende zu mehr Fahrrad hat zwei Ursachen. Bei immer mehr Bürgerinnen und Bürgern gilt das Rad als umweltschonendes, gesundheitsförderndes und energie- sparendes Verkehrsmittel. Bei den Kommunen, den Bun- desländern und den Bundesregierungen hat durch die Energiekrise der 70er-Jahre ein Umdenkungsprozess hin zu mehr Förderung des Fahrradverkehrs eingesetzt. Bürgerinteresse und politischer Wille haben dazu geführt, dass heute bereits 35 Prozent aller Radfahrer ihr Rad zur Fahrt zu Arbeit und Ausbildung nutzen, weitere 35 Pro- zent zum Freizeitvergnügen und fast 30 Prozent für Ein- kaufsfahrten. Obwohl die Städte, Gemeinden und die Länder eine vorrangige Zuständigkeit für Investitionen in verbesserte Radfahrbedingungen haben, hat der Bund in den vergan- genen 20 Jahren beispielhaft gehandelt. Das Radwegesys- tem an Bundesstraßen wurde von 6 300 Kilometern auf heute 15 000 Kilometer mehr als verdoppelt. Allein in den neuen Bundesländern wurde eine Erweiterung der Rad- wege von 500 Kilometern in zehn Jahren auf jetzt fast 2 000 Kilometer erzielt. Mit Beginn dieses neuen Jahr- hunderts sind ein Drittel aller Bundesstraßen mit Radwe- gen versehen, das heißt, prozentual verfügen die Bundes- straßen über doppelt so viele Radwege wie Landes- oder Kreisstraßen. Dieses anerkennenswerte Resultat wurde möglich, weil die GVFG-Mittel auf 1 Milliarde DM jähr- lich aufgestockt wurden. Leider hat die derzeitige Bun- desregierung diesen Fonds wesentlich gekürzt, zum Nachteil des Radwegebaus, zum Nachteil der Radfahrer. Einen Durchbruch zu mehr Rechten für Radfahrer hat die Radfahrnovelle von 1997 gebracht, unter anderem mit ihrer Einbahnstraßen- und Sonderstreifenregelung. Hier erwarten wir, dass aus der Probephase eine Dauerregelung zum Jahresende wird. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012288 (C) (D) (A) (B) Einen weiteren Durchbruch für eine kombinierte Fahr- radförderung wurde die Öffnung der GVFG-Mittel auch für die Schaffung von Bike-and-Ride-Anlagen an Bahn- und Bushöfen. Dazu ist auch die Regelmitnahme für Fahrräder durch die DB AG zu rechnen. Sie betrug 1991 818 000 im Schienennahverkehr und verdoppelte sich in sieben Jahren auf 1,6 Millionen. In den Fernzügen hat sie sich in den 90er-Jahren von anfänglich 200 000 auf mehr als 600 000 verdreifacht. Ein deutliches Signal hat die Bundesrepublik auch bei der Novellierung der StVO in sieben Punkten für den Radverkehr gesetzt. Sie wurde zu einer tatsächlichen Un- fallverhütungsvorschrift mit dem Resultat, dass Radfahr- unfälle von 74 000 Anfang der 90er-Jahre auf 68 879 im Jahr 1998 gesenkt werden konnten, trotz einer Zunahme des Radverkehrs. Doch nehmen bei Kindern und Senioren die Radfahrunfälle leider wieder zu. Die Entscheidung der Regierung, die Mittel für die Verkehrssicherheit um 4Millionen DM gegenüber 1999 zu kürzen, ist in diesem Zusammenhang unverantwortlich und kontraproduktiv. Diese wenigen Belege zeigen: Wir von der Union ha- ben klar und konsequent eine Pro-Fahrrad-Politik betrie- ben. Die über 60 Millionen Radfahrerinnen und Radfah- rer in Deutschland können sich auf uns verlassen. Das wird sich auch nicht ändern. Die rot-grüne Regierung hat bei ihrer Fahrradpolitik in diesem Jahr mit einer Verdop- pelung der Verwarngelder für Radfahrerinnen und Rad- fahrer einen besonderen Akzent gesetzt. Diese Maßnah- men hat viele Radler verärgert, fühlen sie sich doch gestraft, obwohl sich die große Mehrheit verkehrsgerecht verhält. Nun müssen alle für wenige Radfahr-Rambos büßen. Eine Alternative zum Auto ist der Drahtesel im Kurz- streckenbereich allemal. Staaten wie Dänemark und die Niederlande mit einem Radverkehrsanteil von 27 Prozent machen deutlich, dass es auch bei uns noch Entwick- lungspotenziale gibt. Wir stellen uns für die Umsetzung dieser Perspektive die Schaffung eines nationalen Fahrradforums vor. Der Bund-Länder-Arbeitskreis kann dafür durchaus die Basis sein, gemeinsam mit Pro-Fahrrad-Organisationen. Dieses „Deutsche Fahrradforum“ hätte eine Koordinierungs- funktion, wäre Bindeglied zwischen den verschiedenen Ebenen, ohne in die Vorort-Kompetenz einzugreifen. Zum Vorschlag Masterplan unterscheidet sich unsere Al- ternative durch mehr Respekt vor der föderativen Rechts- Struktur unseres Landes. Gemeinsam ist beiden, dass sie sich als sachliche Folgerung aus dem ersten Fahrradbe- richt der Bundesregierung ergeben. Diese Dokumentation ist ein Werk aus der Ministerzeit von Matthias Wissmann. Dass sie ungekürzt von der derzeitigen Regierung über- nommen und zur Grundlage für die Fahrradpolitik erklärt worden ist, spricht für die Qualität des Papiers, aber auch für den Pragmatismus des Hauses Klimmt. Unser heute hier vorgelegter Antrag, der Ausgangs- punkt dieser Debatte, will in seiner Zielsetzung die At- traktivität des Fahrradverkehrs steigern, den Mobilitäts- raum für das Rad erweitern, die Sicherheitsbedingungen verbessern, das Potenzial zum Umsteigen auf das Rad er- höhen, insgesamt eine weitere Klimaverbesserung für das Verkehrsmittel Fahrrad in unserem Land erreichen. In zehn Punkten sehen wir konkrete Handlungsmög- lichkeiten. Dazu gehört unter andem die Schaffung eines bundesweiten Radwegenetzes, also Ausweisung von Bundes-Radtouren, wie sie in der Schweiz als so genannte nationale Routen mit Erfolg praktiziert werden, um den touristischen Aspekt zu verstärken. Weiter halten wir auch die Optimierung des Dienstleistungsangebotes der Bahn für Fahrrad-Reisende für erforderlich. Noch wenig berücksichtigt bleibt bei der Bundesre- gierung derzeit der Tatbestand, dass das Unfallrisiko von Radfahrern mehr als doppelt so hoch wie bei PKW-Fahrern und Fußgängern ist. Radfahrer haben keine Knautschzone. Je mehr wir die Sicherheit für sie verbes- sern, umso größer ist die Bereitschaft, auf das Rad umzu- steigen. Deshalb plädieren wir mit Nachdruck für die An- hebung der Mittel für die Verkehrssicherheit, die gegenüber 1999 durch die rot-grüne Regierung gekürzt wurden. Wer für mehr Rad ist, der zeigt durch sein Ab- stimmungsverhalten heute, ob er es auch ernst meint mit der Förderung des Fahrradverkehrs, der sagt Ja zu unse- rem Antrag. Völlig unberücksichtigt bleibt bei der Regierung der Sachverhalt, dass es zu circa 420 000 Fahrraddiebstählen pro Jahr in unserem Land kommt – bei einer Auf- klärungsquote von 9 Prozent und einem Versicherungs- schaden, den wir alle zu tragen haben, in Höhe von circa 130 Millionen DM jährlich, legt man einen Fahrradwert von nur 300 DM zugrunde. Wenn Jahr für Jahr fast eine halbe Millionen Menschen bittere Erfahrungen mit dem Fahrradklau machen, fördert das nicht die Attraktivität dieses Verkehrsmittels. Erfreulich an den vorgelegten Fahrradinitiativen ist die weitgehende Übereinstimmung über alle Fraktionen hin- weg. Erfreulich ist auch, dass immer mehr unserer eigenen Kollegen als Radfahrer in Berlin und zu Hause unterwegs sind und gute Beispiele geben. Wenig hilfreich jedoch ist die Ausrichtung von Bundes- kanzler Schröder in Wort und Tat, allein dem Auto offen- sichtlich Vorrang einzuräumen. Das gilt auch für den Frak- tionsvorsitzenden der Bündnisgrünen, Rezzo Schlauch, in seiner kürzlich erfolgten von vielen Radfahrerinnen und Radfahrern als provozierend empfundenen Porsche-Prä- sentation. Peinlich muss diese Aktion auch auf die Mitglie- der seiner Fraktion wirken, die sich seit Jahren um Pedes und nicht um Porsche bemüht haben. Nein, wer so um das Auto buhlt, der hat seine Glaubwürdigkeit als Radfahrer- Partei verloren. Wir von der Union stehen für ein ganzheitliches Ver- kehrskonzept, das alle Verkehrsträger berücksichtigt. Es geht von den Fragen aus: Wie sichere ich das Mobi- litätsbedürfnis der Bürgerinnen und Bürger? Was ist öko- logisch und ökonomisch vertretbar? Das Fahrrad stellt im Kurzstreckenbereich durchaus eine Alternative zum Auto dar, nicht nur der ÖPNV. Fast 50 Prozent aller PKW-Fahr- ten liegen unterhalb der 5-Kilometer-Grenze. Wenn Städte wie Münster und Erlangen es erreichen, dass der Anteil der Fahrräder am Gesamtverkehr bei 40 Prozent Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12289 (C) (D) (A) (B) liegt, dann sollten andere Kommunen, auch wenn deren Landschaftsstruktur nicht so ideal ist, zumindest ein 25-Prozent-Ziel anpeilen – bei systematischer Förderung des Fahrradverkehrs ein durchaus erreichbares Resultat, wenn die Infrastruktur um das Rad, angefangen von sicheren Parkhäusern, mit beachtet wird. Vergessen wir bei unserer Absicht zu mehr Fahrradför- derung nicht den Tatbestand, dass ein neues Verkehrsmit- tel auch im Alltag – nicht nur im Freizeitverkehr – im Kommen ist: die Inline-Skater. Auch hier sollte gelten, die begonnene Initiative zu stärken, sie in das Gesamtver- kehrssystem einzubinden. Wir erwarten als Grundlage dafür einen Bericht der Bundesregierung. Wie beim Fahr- rad geht es auch hier um ein umweltschonendes, gesund- heitsförderndes und energiesparendes Verkehrsmittel, und beiden ist eigen: Sie bereiten Vergnügen. Zu Dank verpflichtet ist der Deutsche Bundestag all denen, die auch beim Fahrradverkehr kompetent und ve- rantwortungsbewusst mit Rat und Tat der Politik zur Seite stehen, vom Deutschen Verkehrssicherheitsrat über den ADFC, die Verkehrswacht und weiteren Verkehrssicher- heitsverbänden bis hin zur Polizei und den Fachkräften in den Schulen. Sie alle, die oft ehrenamtlich tätig sind, sor- gen mit für ein konstruktives Klima zur Förderung des Fahrrades. Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN):Lange Zeit wurde Radfahren von der Politik über- sehen und unterschätzt, zumindest von der Politik auf Bundesebene. Das Fahrrad war allenfalls ein Thema der Kommunalpolitik, wenn überhaupt. Dort wurde das An- liegen nach Jahrzehnten der Missachtung in den vergan- genen zwei Dekaden zunehmend entdeckt. Ja, man kann sagen, Radfahren erlebte eine erfreuliche Wiederent- deckung und -nutzung. Viele umweltbewusste Kommu- nen haben inzwischen eine Radverkehrskonzeption und fördern Radfahren auf vielfältige Art. Auch einzelne Bun- desländer, allen voran das rot-grün regierte Nordrhein- Westfalen, fördern Radfahren landesweit durch Radwege und Zuschüsse für zum Beispiel Radstationen. Die För- derung des Radfahrens wird allgemein als Chance gese- hen, die Verkehrsprobleme in den Städten zu mildern und mit wenig Mitteln ein umweltfreundliches Verkehrsmittel voranzubringen. Meine Fraktion, die zu Recht den Ruf hat, eine fahr- radfreundliche zu sein – darüber können die Ausflüge unseres Vorsitzenden im Sportwagen nicht hinwegtäu- schen –, begrüßt es gewissermaßen mit freundlichem Radklingeln, dass sich der Bundestag mit Radfahren be- fasst. Der erste Radbericht einer deutschen Bundesregie- rung, eine wirklich interessante Drucksache mit vielen in- teressanten Informationen und Daten, liegt vor. Meine Fraktion hat diese Woche bereits eine Anhörung im Reichstag veranstaltet mit erfreulicher Resonanz und guten Impulsen für ein fahrradfreundliches Land. Der Verkehrsausschuss wird im Januar 2001 eine große An- hörung zum Radfahren machen. Das alles sind Zeichen dafür, dass sich nun auch die Bundespolitik dem Rad zu- wendet. Ich freue mich, dass sich auch die CDU/CSU- Fraktion mit dem vorliegenden Antrag klar zu einer fahr- radfreundlichen Politik bekennt. Radfahren, das zeigen die unterschiedlichen Untersu- chungen, Modelle und die Erfahrungen in verschiedenen Ländern und Kommunen wie auch Beispiele im europä- ischen Ausland, ist nicht so sehr abhängig von der Zahl der Berge, sondern von der Politik und der Kultur eines Landes, einer Stadt oder einer Region. Die Schweiz, wahrlich nicht so flach wie Norddeutschland oder die Niederlande, führt uns vor, wie man durch eine gut auf- einander abgestimmte Politik Radfahren im Alltag wie auch in der Freizeit und im Urlaub fördern kann. Die Schweiz gilt inzwischen als Velo-Musterland neben den Niederlanden. Dort gibt es nicht nur eine lange Radfahr- tradition, sondern auch eine strategisch abgestimmte Po- litik, die mit einem Masterplan FIETS (RAD) das Rad- fahren systematisch gefördert hat. Man hatte aber auch den Mut, das Autofahren in den Innenstädten einzu- schränken. Die deutlich höheren Radverkehrsanteile in Holland wie in einzelnen deutschen Städten wie bei- spielsweise Troisdorf, Münster, Erlangen, Freiburg oder in meiner Wahlkreisstadt Tübingen zeigen, dass man mit engagierter Politik in wenigen Jahren viel erreichen kann. Rund 30 Prozent Anteil Radverkehr in diesen positiven Beispielen, aber 5 Prozent und weniger in anderen Kom- munen, leider vor allem in den neuen Bundesländern. Die Hälfte aller Autofahrten haben eine Entfernung un- ter 6 Kilometer. Das ist die ideale Distanz fürs Rad. In die- sem Fall ist das Rad meistens das schnellste Transport- mittel. Wenn wir es schaffen könnten, von diesen Kurzfahrten einen größeren Anteil aufs Rad zu verlagern, hätten wir viel fürs Klima und die Luftreinhaltung getan. Berechnungen des Umweltbundesamtes belegen, dass bis zu 7 Millionen Tonnen C02-Minderung pro Jahr zu erzie-len wäre, wenn 30 Prozent dieses Autoverkehrs aufs Rad verlagert werden könnten, oder bar bis zu 13 Millionen Tonnen, wenn wir 30 Prozent des Autoverkehrs bis 10 Ki- lometer umschichten könnten. Diese Mengen erreicht man sonst nur mit massiven Eingriffen in die Wirtschaft oder in den Autoverkehr mit einem Tempolimit. Die spannende Frage ist: Warum wird trotz so vieler Vorzüge so wenig Rad gefahren, im Durchschnitt in Deutschland West circa 12 Prozent, in Deutschland Ost 9 Prozent? Es gibt leider noch zahlreiche Barrieren auf den Straßen, in den Köpfen und in den Körpern. Es gibt trotz eines massiven Ausbaus zu wenig Radwege bzw. si- chere Wege und Straßen zum Radfahren. Es muss nicht immer der teure separate Radweg auf dem Gehweg sein mit Kanten und Absätzen, eng und zugeparkt. Oft ist ein Sicherheitsstreifen als Fahrspur am Rande der Straße bes- ser und billiger. Es gibt noch immer viel zu wenige sichere Abstellplätze und es gibt nach wie vor keine wirklich gute Mitnahmebedingungen bei öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Bahn hat eigens eingerichtete Fahrradabteile, eigent- lich ein Fortschritt gegenüber früher. Gleichzeitig sind bei manchen Wagentypen die Türen zu eng und Treppen zu steil für passables Einsteigen. Man muss fast ein Balan- cekünstler sein beim Ein- und Aussteigen. Ich führe dies hier so aus, weil das Beispiel veranschaulicht, dass die Konstrukteure und Planer die Radmitnahme nicht wirk- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012290 (C) (D) (A) (B) lich im Kopf haben. Es mangelt an einer Kultur des Rad- fahrens. Das muss sich ändern. Was ist zu tun? Zunächst muss der Bund seine Verant- wortung wahrnehmen, sich auch fürs Radfahren und den Radwegebau zuständig zu fühlen. Ich sehe mit Freude, dass alle Fraktionen in diese Richtung denken. Wir schla- gen vor, dass das Verkehrsministerium alle Beteiligten einlädt zu einem Runden Tisch Rad. Dies könnte der erste Schritt zu einem Masterplan RAD sein, den wir wie der VCD und der ADFC und andere Umweltorganisationen fordern. Ein Masterplan RAD müsste Ziele, Maßnahmen und Schritte, möglichst im breiten Konsens aller Betrof- fenen und Verantwortlichen aller politischen Ebenen, festlegen und eine gemeinsame Strategie beinhalten. Ein Masterplan müsste aufzeigen, wie Deutschland zum fahr- radfreundlichen Land gemacht werden kann. Dieser Plan muss vor allem ein kommunikativer Prozess sein und mit einer Kampagne „FahrRad“ verbunden werden, damit wir es schaffen, in den nächsten 10 Jahren den Anteil des Rad- verkehrs zu verdoppeln oder wenigstens auf 20 Prozent zu steigern. Die Anhörung im Januar wird uns hierzu sicher noch weitere Anregungen geben. Wir Grünen werden dazu gerne in Kooperation mit unserem Koalitionspartner ei- nen Antrag erarbeiten. Ich könnte mir sogar vorstellen, wenn ich mir die Forderungen des vorliegenden CDU/CSU-Antrages betrachte, dass wir ein fraktions- übergreifendes Bündnis „ProRad“ zustande bekommen. Wir sollten es versuchen. Die Radfahrerinnen und Rad- fahrer würden sich freuen. Hans-Michael Goldmann (F.D.P.): Radfahren macht Spaß! Außerdem ist es gesund, leise, schnell, flexibel, sportlich, ökologisch und kostengünstig. Kein Wunder, dass sich inzwischen die unterschiedlichsten Interessen- gruppen für den Radverkehr stark machen. So ist es gut, dass wir im Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungs- wesen beschlossen haben, am 24. Januar 2001 eine An- hörung zum Radverkehr durchzuführen. Schon heute gibt mir der Tagesordnungspunkt „Für ein fahrradfreundliches Deutschland“ Gelegenheit, mich als absoluter Fahrradfan zu outen. Nicht nur in meiner Jugend war ich mit meiner guten alten Rixe in Deutschland unterwegs, sondern auch heute trägt mich meine Gazelle an vielen Wochenenden durch die fahrradfreundliche Landschaft des Emslandes und Ostfrieslands. Fahrradfahren hat eine echte Renaissance in Deutsch- land erlebt. So kommt es auch, dass bereits zum zweiten Mal in Folge in Deutschland die Fahrradproduktionszah- len deutlich gestiegen sind. 1999 kletterte die Zahl der bei uns gefertigten Fahrräder auf 3,2 Millionen, das sind noch einmal 2 Prozent mehr als im Jahr zuvor, und das sichert viele Arbeitsplätze in einer äußerst innovativen Branche. Gestiegen sind die Durchschnittsqualitäten, und das aus gutem Grunde, denn die Kunden legen immer mehr Wert auf eine hervorragende Ausstattung ihrer Fahrräder. So sind komfortable Federungssysteme, zupackende Brem- sen und leistungsfähige Lichtanlagen für den echten Bi- ker heute eine absolute Notwendigkeit. Die Modelle, die von der Fahrradindustrie angeboten werden, decken den Tourenradbereich, das Trekking-Cross oder das MTB- Sportive-Bike ab. Ja, sogar Rennmaschinen haben Kon- junktur, nachdem sich auch sportliche Erfolge in diesem Bereich eingestellt haben. Millionen einzelne Verkehrsteilnehmer haben sich längst für das Rad entschieden, da es auf unvergleichliche Art Sport, Spaß und Schnelligkeit in den Alltag integriert. Das Fahrrad ist gerade in den Städten und dicht besiedel- ten Gegenden ein optimales Verkehrsmittel und natürlich im Bereich des Fremdenverkehrs ein ernst zu nehmender wirtschaftlicher Faktor. Seitens des Bundes, der Länder und der Gemeinden sind große Anstrengungen unternom- men worden, ein gutes Radverkehrsnetz aufzubauen. Durch die grundlegende Novellierung der Straßenver- kehrsordnung im Jahre 1997 sind sehr konkrete Verbesse- rungen von der Radwegebenutzungspflicht, der Radfahr- straße oder der Einbahnstraßenregelung für den Radfahrer erreicht worden. Diese Schritte waren notwendig, denn der Fahrradfahrer, der Radler ist im Konflikt mit dem mo- torisierten Verkehr immer der Schwächere. Wenn auch insgesamt ein positives Resümee in Bezug auf das Fahrradfahren in Deutschland zu ziehen ist, so kann doch nicht abgestritten werden, dass es noch Hand- lungsbedarf gibt. Die Niederländer haben es uns vorge- macht. Ihr Masterplan Fiets schreibt Ziele fest, die wir in Deutschland ganz einfach übernehmen sollten: Imagever- besserung fürs Fahrrad, Diebstahlprävention, Radrouten- netze, Fahrradabstellanlagen an Haltestellen und Bahnhö- fen sowie die Fahrradnutzung in der Freizeit. Was der Masterplan Fiets für die Niederländer ist, muss der Fahrrad-Masterplan für Deutschland sein. Mit diesem Plan verknüpft die F.D.P. folgende Ziele: Erstens. Umstieg vom Auto auf das Fahrrad in Verbin- dung mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Zweitens. Sicherheit für Radfahrer, Fahrradparkplätze und Diebstahlprävention. Drittens. Vernetzung des Radverkehrs mit den Ver- kehrs- und Transportplänen des Bundes, der Länder und Gemeinden. Viertens. Nutzung des Wirtschaftsfaktors Fahrrad im Hinblick auf Herstellung, Handel, Dienstleistung und Tourismus. Weil wir möchten, dass immer mehr Menschen im All- tag, im Beruf und in der Freizeit auf das Rad setzen, wer- den wir aktiv dazu beitragen, den Radverkehr als Ge- samtsystem zu fördern. Der VCD, der Verkehrsclub Deutschlands hat eine breite Palette von Handlungsan- weisungen für die Akteure aufgelistet, die am Gesamtsys- tem Radverkehr positiv mitwirken wollen. Sie reicht vom Bund, den Ländern und Kommunen über die Betriebe, die Verkehrsunternehmen und Krankenkassen, die Fahrrad- branche, die Eltern, Kindergärten und Schulen bis hin zu den Einzelhändlern und Werbegemeinschaften sowie den Architekten und Wohnungswirtschaftsunternehmen. Aber auch die Tourismusbranche und die Medien werden als wichtige Akteure richtigerweise genannt. Radfahren macht Spaß – schon jetzt und zukünftig noch mehr, weil wir sicherlich im Rahmen der Anhörung Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12291 (C) (D) (A) (B) zum Fahrradverkehr in Deutschland wertvolle Anregun- gen bekommen werden, die uns politisch so handeln lassen werden, dass sich der Spaß und die Qualität des Radfahrens noch steigern werden, und wir einen ent- scheidenden Schritt zum Fahrrad-Masterplan gehen wer- den. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden Zur Beratung der Anträge: – Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses – Arbeitsweise der Expertenkommission His- torische Mitte (Tagesordnungspunkt 14 und Zusatztagesord- nungspunkt 12) Monika Griefahn (SPD): Seit 1992 wird nun über die Gestaltung des Schlossplatzes in der Berliner Mitte disku- tiert. Ohne Zweifel ist dieser Ort ein besonderer Ort in der Hauptstadt und verdient deshalb besondere Beachtung. Schon in preußischer Zeit hatte er eine Strahlkraft über Berlin hinaus und das Gesamtensemble der Berliner Mitte – Museumsinsel, die Linden, der Pariser Platz und das Brandenburger Tor – unterstützte diese Wirkung noch. Seit dem Ende des Krieges, spätestens aber seit der Sprengung des Stadtschlosses ist diese Wirkung dahin. Erst die Zerstörung durch Bomben, dann die teilweise Neubebauung und -gestaltung der Mitte vom Alexander- platz zum Brandenburger Tor veränderten das Bild völlig. Wir haben es also mit einer städtebaulichen Umwälzung zu tun, die sowohl unter historischen als auch unter archi- tektonischen Gesichtspunkten nicht ignoriert werden kann. Natürlich lädt der verwaiste Schlossplatz geradezu ein, sich Gedanken über dessen Gestaltung zu machen. Des- halb haben wir heute diese Debatte. Aber es kann doch nicht im Ernst darum gehen, mit historisierenden Kon- zepten an alten Glanz und Gloria anknüpfen zu wollen. Das hieße, die architektonischen Realitäten der letzten 50 Jahre nicht zur Kenntnis zu nehmen. Ob man nun den Palast der Republik oder den Marx-Engels-Platz mag oder nicht: Sie gehören zur Geschichte der Stadt. Sie sind Ausdruck der politischen Geschichte, dieses Landes und sind insofern nicht weg zu diskutieren. Das heißt aber: Wenn man sich Gedanken über die Ge- staltung des Schlossplatzes macht, dann ist das gesamte Umfeld dieses Geländes in die Überlegungen mit einzu- beziehen. Nur so kann man der Geschichte der Berliner Mitte gerecht werden. Und nur so ist es gewährleistet, das die zukünftige Gestaltung des Schlossplatzes von der Be- völkerung auch angenommen wird. Die alleinige Rekon- struktion der historischen Kubatur mit ihrer historischen Fassade ist die falsche Lösung. Sie passt nicht mehr auf den Schlossplatz und schon gar nicht in die heutige Zeit. Der Schlossplatz in seiner jetzigen Gestalt bietet alle Chancen und Möglichkeiten einer Gestaltung, die sich an den Gegebenheiten und Erfordernissen unserer zukünfti- gen Lebenswelt orientiert. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich stelle nicht die große baukulturelle Bedeutung des ehemaligen Stadt- schlosses infrage. Der Schlossplatz soll auch ein Ort der Erinnerung an die Geschichte sein. Aber gerade deshalb kann es nicht darum gehen, die Historie einfach architek- tonisch wieder zu beleben. Das würde weder dem Ort noch der Zeit gerecht werden. Die Gestaltung kann nur im Rahmen einer Gesamtkonzeption geplant werden, die dem gesamten Umfeld des Platzes – historisch und städ- tebaulich – gerecht wird. Dieser Ort kann daher nur öf- fentlich, demokratisch und vor allem bürgernah gestaltet werden. Nach meiner Auffassung widerspricht dies auch einer rein privaten Finanzierung. Dann wäre die Gefahr einer ausschließlich kommerziellen Nutzung viel zu groß. Die Expertenkommission „Historische Mitte Berlins“, die das Bundeskabinett bald einsetzen wird, wird darüber zu befinden haben, wie der Platz genutzt werden soll, wie welcher Bau auf der Kubatur des alten Schlosses ausse- hen kann und welche Finanzierungskonzepte möglich sind. Daneben soll ein städtebauliches Gesamtkonzept für die Umgebung erstellt werden. Diese Vorgehensweise halte ich für angemessen. Der Kommission soll deshalb auch genug Zeit für ihre Bera- tungen eingeräumt werden. Es wäre fatal, wenn aus Zeit- mangel oder wegen Zeitdrucks an dieser herausragenden Stelle in der Berliner Mitte etwas entstehen würde, das nicht im Geringsten der Bedeutung des Ortes gerecht würde. Wir dürfen uns bei der Gestaltung des Schlossplatzes nicht unter Druck setzen lassen. Wir haben es hier mit ei- nem politischen und kulturellen Raum im humboldt- schen Sinne zu tun, der die Elemente von Museumsinsel, Oper und Universität ergänzen muss. Der Aspekt der Zen- tralität dieses Ortes und die Einbeziehung dieser Idee müssen meiner Auffassung nach die bestimmenden Ele- mente bei der Gestaltung und Planung sein. Deshalb muss meiner Ansicht nach zuerst die Nutzung bestimmt werden, denn die Nutzung bestimmt auch die anschließende Architektur. Bei der Nutzung möchte die SPD-Fraktion eine vorwiegend öffentliche Nutzung errei- chen. Für die öffentliche Nutzung könnte zum Beispiel eine internationale Organisation, die den Gegensatz zwi- schen Ost und West verbindet und in die Zukunft weist, wie zum Beispiel die UNESCO, eine gute Institution sein. Ein anderer interessanter Vorschlag ist der von Profes- sor Lehmann gemachte, die Museumsinhalte aus Dahlem als Ergänzung zur Museumsinsel für die nichteuropäische Kulturgeschichte auf das Gelände in ein Nachfolgege- bäude des Schlosses unterzubringen. Dieses bedeutet aber, dass es öffentliche Nutzungen sind, die zum Teil auch durch die öffentliche Hand mitfinanziert werden. Interessant ist dabei auch die Auffassung von Professor Lehmahn, dass eben auch die Dahlemer Gebäude reno- vierungsbedürftig wären und der Mitfinanzierung bedürf- ten, sodass diese Gelder eingespart werden könnten und Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012292 (C) (D) (A) (B) als öffentliche Gelder mit in die Erstellung eines Gebäu- des im Schlossareal einfließen könnten. Die zweite Überlegung gilt der Gestaltung des Gebäu- des und der Frage der Einbeziehung der Volkskammer. Ich habe großen Respekt vor der Geschichte der Men- schen in der DDR und vor denkmalgeschützten Gebäude- teilen, die historische Bedeutung haben, nämlich des Volkskammersaals. So gehört der Volkskammersaal si- cherlich als ein Element mit in die Überlegung, ihn in ein wie auch immer gestaltetes Gebäude am Schlossplatz zu integrieren. Schwierigkeiten wird es sicherlich dabei ge- ben, die Kubatur des Schlosses zu erhalten und trotzdem den Volkskammersaal zu integrieren. Aber auch das ist si- cherlich architektonisch möglich, wie wir am Potsdamer Platz gesehen haben. Die dritte Frage, die sich dann stellt, ist: Soll es ein mo- dernes Gebäude oder der Wiederaufbau des Schlosses sein? Für beides gibt es gute Argumente, Ein Wiederauf- bau des Schlosses würde an die Tradition anschließen und würde das Ensemble der Museumsinsel, der Humboldt- Universität und der Oper ergänzen. Ein modernes Ge- bäude, das zukunftsweisend ist und sich vielleicht auch nicht architektonisch zum Beispiel an die Architektur des Potsdamer Platzes anschließt, sondern neue Wege geht, würde wiederum einen Blick in die Zukunft gestatten. Sozialdemokraten sind ja auch immer gut für Kompro- misse. Ich kann mir durchaus eine Kombination von bei- dem vorstellen: einen Teil des Schlosses im Bauhüttever- fahren aufzubauen, einen Teil mit der Integration des Volkskammersaales modern zu gestalten, also eine inno- vative Lösung für den Gesamtkomplex auf dem Schloss- areal zu finden. Wie gesagt, ich empfinde die Debatte heute nur als An- regung für die Arbeitsgruppe, für die Expertenkommis- sion, die jetzt eingerichtet werden soll. Sie wird begleitet werden von einer Moderatorengruppe, die Regierung und Parlamente der Bundesrepublik und des Landes Berlin vertritt. Wir werden in den Ausschüssen – und ich bin si- cher, dass das der Bauausschuss genauso machen wird wie der Ausschuss für Kultur und Medien – die oder den Vorsitzenden oder auch einzelne Mitglieder der Experten- kommission einladen, ihre Vorstellung und die Diskus- sion in der Expertengruppe zu hören und zu bewerten. Klar ist, dass sich das Parlament letztendlich hinterher ein eigenes Bild machen muss und entscheiden muss, wie auch immer die Vorschläge aus der Expertengruppe sein werden. In diesem Sinne werden wir auch die bestehen- den Anträge der F.D.P., der schon eingebracht ist, und der CDU diskutieren. Ansonsten warten wir gespannt auf die Arbeit der Kommission und die Dynamik, die sich durch die vielschichtigen Persönlichkeiten ergibt. Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): Der Wiederauf- bau des Berliner Stadtschlosses ist heute weder ab- schließend noch vom Bundestag allein zu entscheiden. Mit der Einsetzung einer gemeinsamen Expertenkommis- sion haben Bundesregierung und Berliner Senat aller- dings deutlich gemacht, dass für den Bund und die Haupt- stadt eine Entscheidung bedarf, die wegen vieler mit dem Stadtschloss direkt und indirekt verbundener Aspekte nicht beliebig ausgesetzt werden kann. Die CDU-Fraktion will mit ihrem Antrag ein Votum des Bundestages für den notwendigen Abstimmungs- und Entscheidungsprozess zwischen Bund und Berlin herbei- führen: Das Stadtschloss hat eine politische und historische Bedeutung, die über seine offensichtliche städtebauliche Relevanz hinausweist. Nur eine weitgehend öffentliche Nutzung des künftigen Gebäudes an dieser prominenten Stelle unbeschadet möglicher Beteiligung privater Inves- toren wird dieser überragenden Bedeutung gerecht. Eine kostenfreie Bereitstellung des Grundstückes durch den Bund kann nur unter der Bedingung des Nachweises einer solchen dauerhaften öffentlichen Nutzung erfolgen. Es gibt beachtliche Argumente für eine vorrangige Nutzung dieses Gebäudes auf diesem Gelände in unmittelbarer Nachbarschaft zur Museumsinsel zugunsten der außer- europäischen Sammlungen der Stiftung Preußischer Kul- turbesitz. Eine weitgehende Wiederherstellung der alten Fassaden sowie des Schlüter-Innenhofes des Stadtschlos- ses würde den historischen, städtebaulichen und funktio- nellen Verbund zur Museumsinsel besonders deutlich zum Ausdruck bringen. Der Beschluss des Bundestages soll zugleich eine Ori- entierung für die von Bund und Land eingesetzte Kom- mission sein, deren Beratungen und Vorschläge den Bun- destag in seiner abschließenden Meinungsbildung nicht präjudizieren können. Dr.-Ing. Dietmar Kansy (CDU/CSU): Es ist schon viel pro und contra Wiederaufbau des Berliner Stadt- schlosses gesagt und geschrieben worden, teils in Respekt vor der anderen Meinung, teils hochnäsig mit Unfehlbar- keitsanspruch, zum Beispiel Befürworter des Wiederauf- baus in die Walt-Disney-Welt stellend oder diejenigen mit Totschlagsargumenten wie „Bilderstürmer“ belegend, die der Wiederherstellung des Palastes der Republik skep- tisch gegenüberstehen. Deshalb meine erste Bitte: Sach- lichkeit in der Diskussion. Meine zweite Bitte geht an die Fachleute aus den Be- reichen Denkmalspflege Städtebau und Architektur. Natürlich braucht die Gesellschaft deren Rat; die zwi- schen der Bundesregierung und dem Berliner Senat ver- einbarte Bildung einer Expertenkommission zeigt dies ja deutlich. Dennoch sollte man die Meinung von Millionen Nichtfachleuten nicht einfach zur Seite schieben. Was für konservative Denkmalschützer – ich meine das hier nicht parteipolitisch – Todsünden sind, ist für viele Millionen Menschen ein Grund zur Freude, zum Beispiel das Kno- chenhauer-Amtshaus in Hildesheim, das schon völlig ver- schwunden war, die Wiederherstellung des städtebauli- chen Ensembles in Münster, das Leibnizhaus in Hannover, der Frankfurter Römer und – besser noch – das Goethehaus sowie vieles andere. Also messen wir uns beispielsweise beim Ringen um die Zukunft des Berliner Stadtschlosses an der Streitkul- tur von Goerd Peschken für und Wolfgang Pehen gegen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12293 (C) (D) (A) (B) die Wiederherstellung des Schlosses in der ersten emoti- onsgeladenen Diskussionsrunde Anfang der 90er-Jahre. Die CDU/CSU-Fraktion plädiert in ihrem Antrag für den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses, weil es nach unserer Auffassung zunächst einmal ein bedeutendes Zeugnis nicht nur der Berliner und der preußischen, son- dern auch der gesamten deutschen Geschichte ist. Dies mag in manchen deutschen „Political-correctness-Ohren“ vielleicht anstößig klingen. In Warschau war das nicht so und auch in Paris würde es nicht so sein. Insbesondere – aber nicht nur – ist festzustellen: Der städtebauliche Ideenwettbewerb „Spreeinsel“ hat gezeigt, dass bei allem Respekt vor moderner Stadtplanung und moderner Architektur die entsetzliche städtebauliche Wunde, die die Kommunisten 1950 zur Schaffung eines Paradeplatzes der Berliner Mitte schlugen, am besten durch die Kubatur des alten Schlosses geheilt werden kann. Dies bedeutet natürlich noch nicht automatisch Ar- chitektur des Schlosses. Aber bietet es sich nicht geradezu an, wenigstens die historischen Fassaden weitgehend wie- der herzustellen? Das klassische Berlin westlich des Stadtschlossareals ist doch in DDR-Zeiten im erheblichen Umfang rekon- struiert worden: Gendarmenmarkt, Forum Friedericia- num, Museumsinsel oder der Bereich Singakademie, Neue Wache und Zeughaus. Wie das Kronprinzenpalais, die Staatsoper oder die Hedwigskathedrale waren sie zwar im Gegensatz zum Stadtschloss nicht völlig aus dem Stadtbild verschwunden. Aber sind es nicht im Sinne kon- servativer Denkmalspflege auch „nur“ Kopien? Nachdem die Wiederherstellung der schinkelschen Bauakademie und des Kommandantenhauses dieses Ensemble komplet- tieren wird, ist zu fragen: Warum befürworten einige Kri- tiker des Stadtschlosswiederaufbaus den Wiederaufbau der Bauakademie, die auch völlig verschwunden war? Bleibt die Diskussion über die Nutzung oder, besser gesagt, über die Aufgabe. Da wird argumentiert, der Wie- deraufbau leite sich aus keiner realen Aufgabe her und sei auch deswegen abzulehnen. Für uns setzt der Wiederauf- bau ein Nutzungskonzept und eine gestalterische Lösung voraus, die der überragenden Bedeutung des Areals und dem großen öffentlichen Interesse an seiner Gestaltung gerecht wird. Finanzierungsmodelle unter wesentlicher Beteiligung privaten Engagements sind unverzichtbar, müssen aber eine maßgeblich öffentliche Nutzung er- möglichen, zum Beispiel – aber nicht zwangsläufig – ent- sprechend den Vorschlägen des Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion erwartet von der Bundesregierung, jetzt endlich einen offiziellen Bericht über den aktuellen Stand der Gespräche und Verhandlun- gen, insbesondere im Hinblick auf die Expertenkommis- sion, vorzulegen. Diese Kommission wird zwar, wie schon gesagt, „nur“ beraten und nicht entscheiden; aber die Zusammensetzung dürfte doch das Ergebnis wesent- lich mitbestimmen! Deshalb meine dritte und letzte Bitte, diesmal an die Koalitionsfraktionen und an die Bundesre- gierung: Wenn Informationen zutreffen, dass für den Bund in dieser Kommission nicht nur zwei Bundesminis- ter und der sozialdemokratische Bundestagspräsident, sondern auch noch eine weitere Koalitionsabgeordnete vorgesehen sind, ist dies keine seriöse Behandlung der Opposition, die früher als Regierungsfraktion in allen ver- gleichbaren Fällen immer dafür gesorgt hat, dass mindes- tens ein Oppositionsabgeordneter – meistens war es Peter Conradi – beteiligt war. Denken Sie bitte noch einmal da- rüber nach, bevor Sie in Kürze darüber entscheiden wer- den. Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bislang beschränkt sich die Diskussion über die Zukunft des Berliner Schlossplatzareals weitgehend auf die Erörterung der Frage, ob das Stadtschloss rekon- struiert oder der Palast der Republik erhalten werden soll. Die Verengung der Diskussion auf Gestaltungsfragen wird allerdings der Bedeutung dieses Areals als Aus- gangspunkt der historischen und städtebaulichen Ent- wicklung der Stadt nicht gerecht. Die Frage, welchen Stel- lenwert wir der Nutzung und Gestaltung der Berliner Mitte zukünftig zumessen wollen, aber auch die nach un- serem Umgang mit der deutschen Geschichte, dem kultu- rellem Erbe Preußens und der Geschichte der DDR, las- sen sich aber nicht allein mit Gestaltungsfragen beantworten. Von daher begrüßen wir die Entscheidung der Bundesregierung, eine Expertenkommission einzu- setzen, die Konzepte für die städtebauliche Entwicklung, Nutzung und Bebauung der historischen Mitte Berlins er- arbeiten soll – und zwar nicht nur für den Bereich von Pa- last und Schlossplatz, sondern auch für das gesamte Um- feld. Wir wünschen der Kommission viel Erfolg bei der Arbeit. Der Schlossplatz braucht eine Nutzung, die ihn zum zentralen öffentlichen Ort mit einer demokratischen, bür- gernahen Funktion macht. Es sollte ein Ort werden, der nicht nur Vergangenheit repräsentiert, sondern sich be- wusst der Lebenswelt des 21. Jahrhunderts öffnet. Der Vorschlag des Präsidenten der Stiftung Preußischer Kul- turbesitz, das Museum für außereuropäische Kunst am Schlossplatz anzusiedeln, findet unsere uneingeschränkte Zustimmung. Denkbar sind aber auch die Realisierung ei- ner modernen Bibliothek des Landes Berlin zusammen mit einem Medienkulturzentrum oder die Ansiedlung ei- ner hochrangigen europäischen Organisation als Zeichen der Integration von West- und Mittelosteuropa. Diese Vor- schläge sind geeignet, an diesem Ort Landes-, Bundes- und Europafunktionen gleichermaßen zur Geltung zu bringen. Der Schlossplatz muss ein öffentlicher Ort blei- ben. Er darf nicht privatisiert werden. Von einem Verkauf oder einer Überlassung der Grundstücke an Private halte ich von daher gar nichts. Wenn für die Nutzungsziele ein stimmiges Konzept er- arbeitet ist, kann auf tragfähiger Basis über die Gestaltung neu nachgedacht und ein Architekturwettbewerb durch- geführt werden. Dieser sollte ebenso offen sein für eine Modernisierung von Teilen des Palastes wie für eine Teil- rekonstruktion des Schlosses. Die vielen Entwürfe, die es bereits gibt, zeigen, dass die Gestaltung immer dann an Spannung gewinnt, wenn den Brüchen der Vergangenheit Reverenz erwiesen und gleichzeitig Raum für Zukunft geöffnet wird. Ich will der Arbeit der Schlossplatzkom- mission nicht vorgreifen: Aber ich denke, eine Architek- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012294 (C) (D) (A) (B) tur und eine Gestaltung des öffentlichen Raumes, der es gelingt, die preußische Geschichte und die DDR-Ge- schichte sichtbar werden zu lassen, ohne sie nur nachzu- bauen und die gleichzeitig eine neue, zeitgemäße Gestal- tung und Nutzung für diesen zentralen Ort der Stadt Berlin findet, ist eine Herausforderung, der sich Politik, Bürger und Architektur stellen sollten. Wenn Teile des Schlosses rekonstruiert werden sollen, dann muss sich unsere Gesellschaft – und insbesondere die Berliner Stadtgesellschaft – dieser schwierigen Auf- gabe in würdiger Weise stellen. Es darf nicht um auf Be- ton geschraubten Kulissenbau über der Tiefgarage gehen. Dann müssen nach dem Vorbild der Dresdner Frauenkir- che eine Stiftung gegründet werden und eine Bauhütte ge- gründet werden, die die verschüttete Baukultur und das verlernte Kunsthandwerk in seinen vielen Facetten neu belebt. Dafür müssen dann sicher auch in großem Umfang Spenden geworben werden, eine Art neues „Mäzenaten- tum“ begründet werden. Wir sollten es uns selbst nicht zu einfach machen – es geht nicht um Fassaden; es geht um eine lebendige und würdige Nutzung; es geht um eine Gestaltung, die der Ge- schichte des Ortes gerecht wird, ohne Brüche zu übertün- chen, und nicht zuletzt um Wege, wie sich die Stadtge- sellschaft diesen Ort wieder aneignet. Dr. Günter Rexrodt (F.D.P.): Die F.D.P.-Bundestags- fraktion begrüßt es außerordentlich, wenn sich die Kolle- gen von CDU/CSU unserem Antrag zum Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses heute offiziell anschließen. Sie alle wissen, dass der F.D.P.-Antrag zur Rekon- struktion des Hohenzollernschlosses schon seit dem Herbst des vergangenen Jahres dem Parlament bzw. dem Kulturausschuss zur Diskussion vorliegt. Seither ist leider so gut wie nichts geschehen. Zwar ha- ben mittlerweile Bündnis 90/Die Grünen in Gestalt Frau Vollmers in dankenswerter Weise das Vorhaben der Libe- ralen, die alte Mitte Berlins wiedererstehen zu lassen, be- fürwortet. Doch von der SPD-Fraktion ist nichts zu hören. Wie es diesem Kanzler und dieser Regierung eigen ist und ihr Tun hauptsächlich charakterisiert, hat Herr Schröder – im Schlepptau: Staatsminister Naumann – wieder einmal eine Kommission eingesetzt. Richtiger- weise müsste ich sagen: Er hat beschlossen, eine Kom- mission einzusetzen – und das übrigens bereits im Früh- jahr dieses Jahres. Die Umsetzung dieses Beschlusses steht allerdings noch aus. Das wenige, was man dazu aus dem Bundesbauminis- terium, das sich in dieser Angelegenheit als wenig koope- rativ erweist, hört, ist erschreckend: In nahezu entwürdi- gender Weise wird um die zu berufenden Personen politisch geschachert. Da soll beispielsweise die Frauen- quote wichtiger sein als Sachkenntnis. Da werden Namen von Personen in den Medien genannt, die zuvor überhaupt nicht gefragt worden sind und deshalb jetzt dankend ab- lehnen. Ich frage hier öffentlich: Ist das Verzö- gerungstaktik oder Dilettantismus? Die F.D.P.-Bundestagsfraktion war von Anfang an ge- gen die Berufung dieser Kommission. Sie ist weder sinn- voll noch zielführend. Denn am Ende wird sie weder das Recht noch die Pflicht haben, die Entscheidung über den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses zu treffen. Diese Entscheidung ist einzig und allein Sache des Parla- ments. Sie, meine Damen und Herrn auf den Regierungs- bänken, können eine Kommission nach der anderen ein- setzen. Das Entscheidungsrecht werden Sie deshalb nicht an sich ziehen können. In dieser so wichtigen Frage müs- sen die Abgeordneten selbst Farbe bekennen. Denn es geht um nicht weniger als um ein Bekenntnis des Deut- schen Bundestages zur deutschen Geschichte im Be- wusstsein der Herausforderung der Zukunft. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit der Wirtschaftsprüfer (Wirtschaftsprüferord- nungs-Änderungsgesetz – WPOÄG) (Zusatzta- gesordnungspunkt 13) Dr. Rainer Wend (SPD): Wir beraten heute über das Gesetz zur Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit der Wirtschaftsprüfer, das nicht nur von den Fachverbän- den begrüßt wurde, sondern auch im Ausschuss für Wirt- schaft und Technologie einstimmig beschlossen wurde. Damit tragen wir der Internationalisierung der Märkte in sinnvoller Weise Rechnung und etablieren internationale Standards. Insgesamt wurde die Wirtschaftsprüferord- nung durchforstet, um sie an die Erfordernisse einer sich verändernden Realität anzupassen. Zudem bedarf die Ein- führung des Euro einer Regelung. Kernpunkt des Änderungsgesetzes ist die dringend notwendige Sicherung von Qualitätsstandards deutscher Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, um die internationale Konkurrenzfähigkeit dieser Gesellschaften noch weiter zu stärken. Die Internationalisierung der Märkte macht auch und gerade vor den Wirtschaftsprüfern in Deutsch- land nicht Halt. Qualitätssicherung ist hier ein wichtiges Stichwort. In den USAbereits seit Jahren praktiziert, wur- den ähnliche Instrumente auch in vielen europäischen Ländern bereits etabliert. In Deutschland fehlte bisher ein adäquates Instrument. Im Rahmen der Verflechtung der Kapitalmärkte ist die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaftsprüfergesellschaften immer un- erlässlicher. Mit dem vorliegenden Gesetz wird das Berufsrecht der Wirtschaftsprüfer und der vereidigten Buchprüfer in die- sem Sinne weiterentwickelt. So wird eine obligatorische Qualitätskontrolle für alle Berufsangehörigen eingeführt, die gesetzliche Abschlussprüfungen durchführen. Die vorgesehene externe Qualitätskontrolle, die so genannte Peer Review, basiert auf der regelmäßig, alle drei Jahre durchgeführten Kontrolle der Praxis durch einen anderen, unabhängigen Wirtschaftsprüfer. Bei Beanstandungen kann zukünftig ein Qualitätskontrollbeirat der Wirt- schaftsprüferkammer Maßnahmen ergreifen, wie zum Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12295 (C) (D) (A) (B) Beispiel Sonderprüfungen. Dies Vorgehen entspricht in- ternationalen Standards und erhöht damit die Konkur- renzfähigkeit der deutschen Wirtschaftsprüfergesell- schaften deutlich. Um die Notwendigkeit der Anpassung an internatio- nale Gegebenheiten nochmals zu verdeutlichen: Auch deutsche Unternehmen nutzen zunehmend Finanzierungs- möglichkeiten internationaler, insbesondere US-amerika- nischer Kapitalmärkte. Die amerikanische Börsenaufsicht akzeptiert aber Abschlussprüfer nur dann, wenn sie an ei- nem anerkannten System der Qualitätskontrolle teilneh- men. Das hat bisher durchaus zu Problemen für deutsche Wirtschaftsprüfergesellschaften geführt. Nicht wenige haben Klienten an größere Gesellschaften, die internatio- nale Standards adaptiert hatten, verloren. Die Novelle soll auch einen Beitrag zur Verschlankung der staatlichen Verwaltung leisten. Bürokratie soll, wo sinnvoll, abgebaut werden. Das Gesetz sieht dementspre- chend eine Übertragung von Zulassungsaufgaben sowie die Aufsicht über die Berufsangehörigen und Berufsge- sellschaften von den obersten Landesbehörden auf die Wirtschaftsprüferkammer vor. Hierdurch wird ein Beitrag zum Abbau von Bürokratie und zur Straffung von Ver- waltungsverfahren geleistet. Doppelzuständigkeiten ent- fallen. Zeitgleich bedeutet die Verantwortungsübergabe an die Selbstverwaltungsorgane der Wirtschaftsprüfer eine Stärkung ihrer Stellung. Nach dem Grundsatz der Verantwortungsdelegation sollen die Länder die Möglich- keit haben, für sich Regelungen zu finden, die im Ein- klang mit ihren Verwaltungsmodernisierungen stehen; denn auch hier soll der sinnvolle Abbau von Bürokratie unterstützt werden, um Spielraum für moderne, flexiblere Verwaltungsapparate zu lassen. Zusammenfassend sei festgestellt, dass eine längst überfällige Reform des Berufsrechts der Wirtschaftsprü- fer von der neuen Koalition endlich angepackt wurde. Wir freuen uns über die Unterstützung der Oppositionspar- teien und sind überzeugt, dass wir damit einen wichtigen Berufsstand unseres Landes in einer globalisierten Wirt- schaft deutlich gestärkt haben. Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Der vorliegende Gesetzentwurf soll das Berufsrecht der Wirtschaftsprüfer und der vereidigten Buchprüfer an die Veränderungen im beruflichen Umfeld anpassen. Die massiven und schnel- len Veränderungen in der Wirtschaft in Zeiten der Globa- lisierung machen dies erforderlich. Oberstes Ziel muss dabei sein, die Qualität der Berufsausübung und die Wett- bewerbsfähigkeit des Berufsstandes zu erhalten und wei- ter zu stärken. Dies wird durch die Einführung einer Qua- litätskontrolle, wie es sie seit vielen Jahren in den USA und zwischenzeitlich auch in den meisten europäischen Staaten gibt, erreicht. Die beim Vollzug der Wirtschaftsprüferordnung beste- henden Doppelzuständigkeiten von obersten Landes- behörden für Wirtschaft und der Wirtschaftsprüferkam- mern werden beseitigt und das Verwaltungsverfahren vereinfacht. Als Beitrag zur Entbürokratisierung ist dies ein begrüßenswerter Ansatz. Der Gesetzentwurf wurde im Bund-Länder-Ausschuss „Wirtschaftliches Prüfungs- und Beratungswesen“ ohne Differenzpunkte beraten. Der Bundesrat hat die Bundes- regierung aufgefordert, auch im Hinblick auf das genos- senschaftliche Prüfungssystem eine obligatorische Kon- trolle einzuführen. Hierzu laufen bereits konsensuale Gespräche zwischen dem Bundesministerium der Justiz und dem Genossenschaftsverband, sodass diese Punkte im Zuge der Novelle des Genossenschaftsgesetzes umge- setzt werden können. Die Haltung der Betroffenen zum vorliegenden Ge- setzentwurf ist eindeutig: Die Berufsverbände und die Wirtschaftsprüferkammer sind mit einer berufsständi- schen gegenüber einer staatlichen Qualitätskontrolle ein- verstanden. Das neue System stärkt das Vertrauen der Öf- fentlichkeit in ihre Arbeit. Die Übertragung der Zuständigkeit für die Bestellung von Wirtschaftsprüfern und der Aner- kennung von Wirtschaftsprüfungsgesellschaften auf die Kammer entspricht ebenfalls einem bereits seit langem geäußerten Wunsch. Die Einführung der obligatorischen Qualitätskontrolle im Rahmen dieser 4. WPO-Novelle ist aus wirtschaftspo- litischer Sicht dringend geboten gewesen. Die rasante Globalisierung der Wirtschaft und die damit einherge- hende Internationalisierung des Prüfungsmarktes erzeu- gen einen Harmonisierungsdruck hin zu international gül- tigen Qualitätsstandards für Prüfungsgesellschaften, denen sich Deutschland nicht länger entziehen konnte. Die amerikanischen Börsen verlangen von den bei ihnen notierten Unternehmen ein entsprechendes System der Qualitätskontrolle. Ohne es können deutsche Unterneh- men die Möglichkeiten der Kapitalbeschaffung auf den US-Finanzmärkten schwerer nutzen. Der internationale Berufsverband und nicht zuletzt die entsprechenden Gre- mien der Europäischen Kommission drängen seit langem darauf. Die Union begrüßt daher ausdrücklich den vorlie- genden Gesetzentwurf als Beitrag zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Abschließend einige kritische Anmerkungen zum Ge- setzgebungsverfahren in Richtung der Regierungskoali- tion; dies ist gerade vor dem Hintergrund eines übergrei- fenden fachlichen Konsenses in der Sache selbst aus unserer Sicht ärgerlich und unschön. Ich meine dabei nicht redaktionelle Änderungen, für die wir alle vollstes Verständnis haben. Es stimmt aber bedenklich, wenn die rot-grüne Fraktion im Stile einer Überrumpelungstaktik durch plötzliche Tischvorlagen im Wirtschaftsausschuss Änderungen herbeiführt, mit denen sie im Vorfeld auf Länderseite mehrfach gescheitert ist. Ich meine die Dele- gationsermächtigung. Dieses alleinige Anliegen des Lan- des Nordrhein-Westfalen ist zuvor in allen Gremien stets zurückgewiesen worden, zuletzt im Wirtschaftsausschuss des Bundesrates. Zur Begründung wurde jeweils ange- führt, dass die Frage einer Delegation der Prüfungszu- ständigkeit zusammen mit der Neuordnung der Wirt- schaftsprüferprüfung in einer 5. WPO-Novelle geregelt und die gegenwärtige Novelle nicht mit dieser strittigen Frage belastet werden sollte. Das Inkrafttreten der 4. WPO-Novelle, das wegen der Einführung des Peer Re- view eilbedürftig ist, sollte im Hinblick auf eventuelle Einwendungen des Bundesrates in dieser Frage nicht ver- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012296 (C) (D) (A) (B) zögert werden. Schließlich wendet sich auch der Berufs- stand, also Wirtschaftsprüferkammer und IDW, bisher massiv gegen die Delegationsklausel. Nun ist diese Än- derung doch noch durch taktisches Spiel gegen den er- klärten Willen des Berufsstandes und ohne eingehende Diskussion quasi hinter unserem Rücken erfolgt, mit dem sich wohl erfüllenden Kalkül, dass die Länder deshalb jetzt nicht noch den Vermittlungsausschuss anrufen wer- den. Auch die in einem Schnellschuss eines Kollegen der SPD-Fraktion fast eingebrachte 16-Stunden-Regelung stieß nur bei einem Teil des Berufsstandes auf Zustim- mung und ist nun wieder vom Tisch. Das hat uns bei ei- nem eilbedürftigen Gesetz zwei Wochen Verzögerung ge- kostet. Dies ist unnötig und vermeidbar. Ein solches Vorgehen ist ein unschöner Beigeschmack, auf den wir gerne verzichtet hätten. Mehr Geradlinigkeit, einen aus- reichenden Vorlauf bei substanziellen Änderungsanträgen und rechtzeitige fachliche Klärung mit den Betroffenen auch in Einzelfragen würden wir in Zukunft sehr be- grüßen. Dem Gesetzentwurf der Bundesregierung in der Fas- sung der vorgelegten Änderungsanträge der Koalitions- fraktionen stimmen wir zu. Margareta Wolf (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit dem hier zur Beratung vorliegenden Ge- setz zur Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit der Wirtschaftsprüfer erhöhen wir die Qualität der Berufsaus- übung und stärken das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Arbeit der Wirtschaftsprüfer. Wir verfolgen dabei insbesondere folgende drei Ziele: Erstens: Verbesserung des Systems der Qualitätskon- trolle vor dem Hintergrund der Diskussion über eine ver- besserte Unternehmensaufsicht, der so genannten Cor- porate Governance. Die Rolle der Wirtschaftsprüfer im Fall Holzmann macht die Notwendigkeit einer weiteren Reform deutlich. Zweitens: Angleichung an die Vorschriften der USA, um Wettbewerbsnachteile deutscher Wirtschaftsprüfer aufzuheben. Die rasche Einführung einer Qualitätskon- trolle ist notwendig, denn deutsche Unternehmen nutzen zunehmend die Finanzierungsmöglichkeiten internatio- naler, vor allem US-amerikanischer, Kapitalmärkte. Ab- schlussprüfer werden beispielsweise von der amerikani- schen Börsenaufsichtsbehörde aber nur dann akzeptiert, wenn sie an einem anerkannten System der Qualitäts- kontrolle teilnehmen. Drittens: Straffung des Vollzugs der Wirtschaftsprüfer- ordnung zwischen Landesbehörden und Kammern. Die herausragendste Änderung ist die Einführung einer externen Qualitätskontrolle. Wirtschaftsprüfer, die ge- setzliche Abschlussprüfungen durchführen, müssen nun ihre Praxis alle drei Jahre durch einen anderen unab- hängigen Wirtschaftsprüfer prüfen lassen. Dieses ist die so genannte Peer Review. Bei Beanstandungen kann ein Qualitätskontrollbeirat der Wirtschaftsprüferkammer Maßnahmen ergreifen, beispielsweise eine Sonderprü- fung anordnen oder Auflagen zur Mängelbeseitigung er- teilen. Das Gesetz sieht ferner die Übertragung von Zu- lassungsaufgaben von den obersten Landesbehörden auf die Wirtschaftsprüferkammer vor. Hierdurch werden Ver- waltungsverfahren gestrafft und ein Beitrag zum Abbau von Bürokratie geleistet. Die einstimmige Zustimmung aller Parteien im Aus- schuss beweist die Richtigkeit dieses Gesetzesvorhabens. Trotzdem gibt es noch viel zu tun. Es bedarf in Bezug auf die Zielsetzung der Verbesserung der Corporate Gover- nance noch weiterer Änderungen, die im Rahmen der Kommission „Corporate Government“ beim Kanzleramt diskutiert werden müssen. Hier gibt es beispielsweise Forderungen, eine nach britischem Vorbild vom Peer-Re- view-System getrennte Instanz – ein so genanntes Board – einzurichten, die sich in Trägerschaft der Wirt- schaftsprüferkammer befindet und durch Berufsange- hörige und sachverständige Dritte besetzt sein und auf Antrag oder bei öffentlicher Diskussion tätig werden sollte. Nicht zuletzt der Fall Holzmann hat deutlich gemacht: Die Corporate Governance, die Unternehmensaufsicht, in Deutschland ist nicht ausreichend. Im Rahmen der Cor- porate Governance haben die Wirtschaftsprüfer eine wichtige Funktion. Von ihrer Arbeit hängt beispielweise die Wirksamkeit der Arbeit des Aufsichtsrates ab. Die Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten von Aufsichtsräten sind bisher aber zu gering und wurden in einzelnen Fällen sträflich vernachlässigt. Um die Kontrollmöglichkeiten zu verbessern, sind einschneidende Änderungen erforder- lich, denn die Forderungen nach ausreichender Kontrolle durch Aufsichtsrat und Hauptversammlung sind wesentli- che Voraussetzungen für die Schaffung einer neuen Akti- enkultur in Deutschland. Anleger müssen sich an den Wertpapiermärkten in einem fairen, sicheren und durch- schaubaren Umfeld engagieren können. Unter dem Druck der internationalen Kapitalmärkte müssen deutsche Un- ternehmen die Qualität ihrer Corporate Governance, das Zusammenspiel von Gesetzen, Verordnungen und freiwil- ligen Praktiken, verbessern. Wirksame Corporate Governance zeichnet sich aus durch Transparenz über wichtige Finanz- und Betriebs- informationen, den Schutz und die Durchsetzbarkeit der Rechte aller Shareholder und Aufsichtsgremien, die fähig sind, Unternehmensstrategien ebenso wie wichtige Ge- schäftspläne und -entscheidungen unabhängig zu ge- nehmigen, Gremien, die weiter in der Lage sind, das nach objektiven Kriterien ausgewählte Management selbst- ständig einzustellen, dessen Performance und Integrität zu überwachen und allenfalls die Mitglieder der Unter- nehmensleitung zu ersetzen. Zweifellos stehen das Ver- trauen der Arbeitnehmer und der Investoren sowie der Ruf der einzelnen Unternehmen in engem Zusammenhang mit den Corporate-Governance-Praktiken. Ebenso wichtig für das Vertrauen der Investoren in die Aktienmärkte, auf denen sich die Unternehmen mit Kapi- tal versorgen, ist jedoch die Qualität des wirtschaftlichen und politischen Umfeldes und das im jeweiligen Land üb- liche Regelwerk der Corporate Governance. Verbesserte Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12297 (C) (D) (A) (B) Corporate Governance in Deutschland schafft die Vo- raussetzungen zum Erhalt von Arbeitsplätzen im welt- weiten Wettbewerb durch eine Stärkung des Vertrauens der Investoren, Förderung der Kapitalbildung und der Entwicklung aktiver Aktienmärkte sowie Erleichterung des Zugangs der Unternehmen zu Kapital zu weltweit wettbewerbsfähigen Bedingungen. Rainer Funke (F.D.P.): Der vorliegende Entwurf des Wirtschaftsprüfer-Änderungsgesetzes beweist einmal wieder, dass auch Gesetze wie guter Wein reifen müssen. Als wir noch zu den Beratungen des KonTraG einen Peer- review vorsehen wollten, wurde dies von den Berufsver- bänden der Wirtschaftsprüfer entschieden abgelehnt, weil sie der Auffassung waren, dass durch interne Qualitäts- sicherungen der Wirtschaftsprüfergesellschaften eine ausreichende Qualitätskontrolle gesichert werden könne. Ich war schon damals sehr skeptisch, aber solche Bestim- mungen der Qualitätssicherungen gegen den Berufsstand durchzusetzen, ist auch nicht hilfreich. Ich begrüße es da- her sehr, dass die Wirtschaftsprüferverbände inzwischen dem vorliegenden Gesetz zustimmen. Zwischenzeitlich hat sich auch international die Erkenntnis durchgesetzt, dass die traditionellen Qualitätssicherungsmaßnahmen durch eine externe Qualitätskontrolle zu ergänzen sind. Ich begrüße auch, dass die Qualitätskontrolle durch die Wirtschaftsprüferkammern vorgenommen wird, dies ent- spricht unseren grundsätzlichen Bemühungen, das Subsi- diaritätsprinzip einzuhalten. Damit zeigen auch die freien Berufe, insbesondere in ihren verkammerten Bereich, dass sie ihre eigenen Angelegenheiten auch in die eigenen Hände nehmen können. Der Staat soll nur das an Aufga- ben übernehmen, was die Kammern nicht erledigen kön- nen. Mit dieser Qualitätskontrolle wird man sicherlich präventiv viel erreichen können. Aber sicherlich nicht, dass Insolvenzen und betrügerische Bilanzmanipulatio- nen verschwinden. Zur Aufdeckung solcher Manipulatio- nen muss auch wegen der Globalisierung unserer Wirt- schaft das Auge des eigentlichen Wirtschaftsprüfers noch stärker geschärft werden, deswegen muss das Ziel für den wirtschaftsprüfenden Bereich die erstklassige Ausbildung und die ständige Fortbildung der Wirtschaftsprüfer sein. Nur so werden wir auch weltweit einen angesehenen Stan- dard halten können. Rolf Kutzmutz (PDS): Die PDS stimmt dem Gesetz- entwurf insbesondere aus vier Gründen zu: Erstens. Erstmals wird in Deutschland die externe „Qualitätsprüfung“ von Wirtschaftsprüfern vorgeschrie- ben – in der EU gab es das ansonsten nur noch in Öster- reich nicht. Zweitens. Diese Qualitätsprüfung – ebenso wie nun auch die Zulassungsprüfung – wird zumindest mittelfris- tig den bestehenden Wirtschaftsprüferkammern adminis- trativ zugeordnet. Drittens. Die Transparenz des Berufsregisters wird ver- bessert, indem dort mehr aussagefähige Angaben zu den Wirtschaftsprüfern als bisher aufgenommen werden. Viertens. Das Berufsrecht soll in aus unserer Sicht durchaus sinnvoller Weise gelockert werden, indem Rechtsanwälte qua Gesetz – bisher mit Ausnahmegeneh- migung – Chefs von Wirtschaftsprüfungsfirmen sein dürfen, ausländische Rechts-/Patentanwälte und Steuer- berater mit Ausnahmegenehmigung Chefs von Wirt- schaftsprüfungsfirmen sein sollen, ausländische Wirt- schaftsprüfer etc. Gesellschafter in deutschen Firmen werden können. Insbesondere die beiden erstgenannten Ziele korres- pondieren mit PDS-Grundpositionen: Eine externe Qua- litätsprüfung – wenngleich sie zunächst nur für Prüfer börsennotierter Unternehmen bindend sein soll – er- scheint angesichts der Vielzahl auch für die öffentliche Hand teuren Wirtschaftsskandale – von Vulkan bis Holz- mann –, an denen stets falsche oder zumindest missver- ständliche Testate von Wirtschaftsprüfern beteiligt waren, überfällig. Ob sich die vorgesehene Lösung bewährt, kann natürlich erst die Praxis zeigen. Das Prüfinstrumentarium über die Kammern erscheint keineswegs missbrauchsan- fälliger, als es zum Beispiel eine Prüfung durch staatliche Stellen wäre. Zugleich wird damit der aus unserer Sicht richtige Weg fortgesetzt, Aufgaben in die Hände der Selbstverwaltungsorganisation der Betroffenen zu legen und damit auch die Legitimität von Pflichtmitglied- schafts-Organisationen der Wirtschaft zu stärken. Gleichzeitig möchten wir der Bundesregierung ans Herz legen, den Vorschlag des Bundesrates bald umzuset- zen, auch für genossenschaftliche Wirtschaftsprüfungs- verbände ein System obligatorischer Qualitätskontrolle einzuführen. Schließlich ist es in der Wirkung nun egal, wo ein Wirtschaftsprüfer angebunden ist, wenn er „pfuscht“. Siegmar Mosdorf, Parl. Staatssekretär beim Bundes- minister für Wirtschaft und Technologie: Die Bundesre- gierung hat am 12. April dieses Jahres das Gesetz zur Än- derung von Vorschriften über die Tätigkeit der Wirtschaftsprüfer beschlossen, mit dem entscheidende Weichen für die Zukunftsfähigkeit des Berufsstands ge- stellt werden. Wesentliche Neuerung ist die Einführung einer obliga- torischen Qualitätskontrolle für alle Wirtschaftsprüfer, die die gesetzlich vorgeschriebene Abschlussprüfung durch- führen. Das neue System, das internationalem Standard voll entspricht, wird die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaftsprüfer und das Vertrauen der Öffentlich- keit in ihre Arbeit stärken. Wie sehr wir mit diesem Gesetz am Puls der Zeit liegen, zeigt die überwältigende Zustimmung, die der Gesetzent- wurf über alle Parteigrenzen hinweg im Wirtschaftsaus- schuss erfahren hat. Kernstück des Gesetzentwurfs ist die Einführung einer externen Qualitätskontrolle für Wirtschaftsprüfer und ver- eidigte Buchprüfer, die den internationalen Anforderun- gen entspricht. Bereits 1997/98 bei den Beratungen zum Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unterneh- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012298 (C) (D) (A) (B) mensbereich war diese Forderung vereinzelt erhoben, von der damaligen Regierung aber nicht aufgegriffen worden. Heute sind wir uns in allen Parteien, aber auch mit dem Berufsstand und den Ländern einig, dass es dieser Ergän- zung des Berufsrechts dringend bedarf, und zwar zu- nächst, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Berufsstands und der Wirtschaft insgesamt zu sichern. In vielen westlichen Industrienationen sind in den letz- ten Jahren Systeme einer externen Qualitätskontrolle für Wirtschaftsprüfer eingeführt worden. Die wichtigen ame- rikanischen Börsen schreiben mittlerweile vor, dass der Abschlussprüfer eines bei ihnen notierten Unternehmens einem entsprechenden System der Qualitätskontrolle un- terliegen muss. Damit deutsche Unternehmen die Mög- lichkeiten der Kapitalbeschaffung in den USA nutzen können, ist die Einführung der Qualitätskontrolle erfor- derlich. Auch die Europäische Kommission ist der Auffassung, dass eine Qualitätskontrolle bei Wirtschaftsprüfern der Sicherung einer hochwertigen Berufsausübung dient. Sie wird daher in Kürze den Mitgliedstaaten die zügige Ein- führung derartiger Konzepte empfehlen und schließt mit- telfristig den Erlass einer entsprechenden Richtlinie nicht mehr aus. Mit unserer Initiative greifen wir diese Ent- wicklungen frühzeitig auf. Die Qualitätskontrolle wird aber auch dazu beitragen, das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Arbeit der Wirt- schaftsprüfer zu festigen. Sie ist ein erster und wichtiger Schritt zur Verbesserung der Unternehmenskontrolle. Darüber hinaus hat der Bundeskanzler zu Fragen der Corporate Governance eine hochrangige Expertenkom- mission berufen, die ein umfassendes Konzept vorlegen soll. Hierzu werden bald konkrete Vorschläge vorliegen, die dann von der Bundesregierung zu bewerten und gege- benenfalls umzusetzen sind. In das neue System der Qualitätskontrolle werden alle Wirtschaftsprüfer einbezogen, die gesetzliche Abschluss- prüfungen durchführen. Die Einbeziehung aller gesetzli- chen Abschlussprüfungen in die Qualitätskontrolle ist aus Sicht der Bundesregierung erforderlich, um die Wettbe- werbsfähigkeit, gerade des Mittelstandes, zu erhalten. Um den Wirtschaftsprüfungspraxen die notwendige Umstellung zu ermöglichen, erfolgt die Einführung in mehreren Stufen: Praxen mit börsennotierten Mandanten müssen eine erste Prüfung bis Ende 2002 durchgeführt haben. Für alle anderen Praxen besteht eine Über- gangsfrist bis Ende 2005. Parallel dazu steht die freiwil- lige Teilnahme am System jedem Berufsangehörigen of- fen. Zwei weitere wichtige Neuerungen des Gesetz- entwurfs möchte ich noch kurz erwähnen: zum einen die Übertragung von Aufgaben im Bereich der Berufszulas- sung von den Landesbehörden auf die Wirtschaftsprüfer- kammer. Derzeit bestehen bei der Bestellung von Wirt- schaftsprüfern und der Anerkennung von Wirtschaftsprü- fungsgesellschaften sowie bei ihrer Überwachung paral- lele Zuständigkeiten von Landesministerien und der Wirtschaftsprüferkammer. Die Straffung des Verwaltungs- verfahrens und die Übertragung von Aufgaben werden zu einer erheblichen Entlastung bei der Landesverwaltung führen und bedeuten einen weiteren Schritt zum Abbau von Bürokratie. Dies liegt auf der Linie des kürzlich von Bundestag und Bundesrat beschlossenen 7. Steuerberatungsänderungs- gesetzes, mit dem ebenfalls Aufgaben der Berufszulas- sung auf Selbstverwaltungsorgane übertragen wurden. Zum anderen haben die Bundestagsausschüsse be- schlossen, die praktischen Ausbildungszeiten zum Wirt- schaftsprüfer um ein Jahr zu verkürzen. Die Bundesregie- rung begrüßt dies ausdrücklich. Mit dieser Straffung der Ausbildungsdauer wird ein wesentliches Hindernis bei der Gewinnung von Nachwuchs im Berufsstand beseitigt. Zudem wird damit – unter Wahrung des hohen Qualitäts- niveaus der Ausbildung – eine Angleichung der Ausbil- dungsdauer an das international übliche Maß erreicht. Auch dies wird die Position der deutschen Wirtschafts- prüfungsgesellschaften im internationalen Wettbewerb festigen. Die Förderung der internationalen Wettbewerbsfähig- keit, die Sicherung eines hohen Qualitätsniveaus und die Stärkung der Selbstverwaltung sind für mich Kernbe- standteile einer innovativen Mittelstands- und Freiberufs- politik. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sind wir auf einem guten Weg. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Ziele für die Qua- litätssteigerung in der Diabetes-Versorgung (Ta- gesordnungspunkt 16) Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD): Es ist heut- zutage selten, dass man für ein gesundheitspolitisches Projekt Lob bekommt. Es ist noch seltener, dass man für das gleiche Projekt Lob von allen Seiten erhält. Umso be- dauerlicher ist es, dass in der parlamentarischen Arbeit der Stellenwert des Zukunftsprojektes Diabetes noch nicht so erkannt worden ist. Dies sieht man an dem zweistelligen Tagesordnungspunkt. Umso beachtlicher ist es, wenn der wissenschaftliche Leiter des Deutschen Diabetes-Forschungszentrums, der Vertreter der St.-Vincent-Initiative der WHO und der In- ternationalen Diabetes-Federation, die ja Laien mit einschließt, Herr Prof. Dr. Werner Scherbaum, mir und der SPD gratuliert, dass es zu dem Projekt gekommen ist, dieses Papier aufzustellen, das er mit allem Nachdruck von fachlich-inhaltlicher Seite unterstützt. Noch gewich- tiger ist das Lob aus dem Kreis der Betroffenen, von dem stellvertretenden Vorsitzenden der größten deutschen Be- troffenenorganisation, dem Deutschen Diabetiker-Bund, Volker Krempel, der die Initiative nicht nur befürwortet, sondern nachdrücklich unterstützt. Aber nicht nur Ärzteschaft und Betroffene sehen das so, auch aus dem Kreis der gesetzlichen Krankenversi- cherung äußert sich Herr Dr. Rolf Hoberg, der stellvertre- tende Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes: Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12299 (C) (D) (A) (B) Wir stehen jetzt vor dem Durchbruch. Darum begrüßen wir diese Initiative sehr, die hier von der SPD und von Herrn Schmidbauer ergriffen worden ist, dass wir hin- kommen zu einer leitlinienorientierten Versorgung von Diabeteskranken, und dieses flächendeckend. Ich zitiere auch Prof. Dr. Karl Lauterbach, Mitglied des Sachverständigenrates des BMG: Der Sachverständigen- rat begrüßt ausdrücklich die heute vorgetragene Initiative. Sie entspricht Forderungen, die vom Sachverständigenrat immer wieder gestellt werden, die aber bisher trotz stän- diger Wiederholungen wenig – in den letzten zehn Jahren im Prinzip – Beachtung gefunden haben. Dies betrifft zum einen die Definition ganz konkreter Versorgungs- ziele, indikationsspezifischer, konkreter Versorgungs- ziele, wie es hier geleistet wird. Zum Zweiten wird von uns die leitlinienkonforme Therapie gefordert. Evidenz- basierte Leitlinien sollen im Vordergrund stehen, weil de- ren Wirksamkeit für die Verbesserung der Versorgung be- legt ist. Das Lob tut gut, aber entscheidend ist das Ziel, das wir mit der Qualitätssteigerung in der Diabetes-Versorgung erreichen wollen und erreichen werden. Mit dem auf die- sen Zielen aufbauenden Nationalen Aktionsplan Diabetes wollen wir ein rasches Ende der Leidensgeschichte von Diabetikern erreichen. Ich sage deswegen „Leidensge- schichte“, weil wir heute wissen, dass die durchschnittli- che Lebenserwartung von nicht gut eingestellten oder nicht eingestellten oder behandelten Diabetikerinnen und Diabetikern rund sieben Jahre niedriger ist. Mit den „Zielen für die Qualitätssteigerung in der Dia- betes-Versorgung“ wollen wir einen doppelten Paradig- menwechsel in Deutschland einleiten. Es ist ein doppelter Paradigmenwechsel, weil erstmals durch den Bundestag für eine Gruppe chronisch Kranker ein Rechtsanspruch auf eine patientenorientierte und qualitätsgesicherte Ver- sorgung eingefordert wird. Diesen Stellenwert haben die 6 Millionen Betroffenen verdient, die Betroffenen der größten Volkskrankheit. Ich gehe davon aus, dass der Bundestag einhellig für diesen Rechtsanspruch auf eine patientenorientierte, qualitätsgesicherte Versorgung für chronisch kranke Menschen votiert. Der zweite Paradigmenwechsel, den wir damit in Deutschland einleiten, ist, dass der Bundestag erstmals in seiner Geschichte ein gesundheitspolitisches Ziel festlegt. Ein vorrangiges gesundheitspolitisches Ziel wird die Qualitätssteigerung in der Diabetes-Versorgung sein. Da- mit wird der Diabetes eine Pionierrolle bei der Versorgung chronisch kranker Menschen eingeräumt. Wenn dieses Zukunftsprojekt, dieser Nationale Akti- onsplan Diabetes, für die Betroffenen in die Tat umgesetzt wird, dann wird das eine Vorbildfunktion auch für andere Gruppen chronisch Kranker in der Bevölkerung haben. Die Zeit der bekennenden Sprechblasen zum Problem der Volkskrankheiten ist nicht mehr gefragt. Gefragt ist kon- kretes und verbindliches Handeln im Interesse 6 Milli- onen betroffener Bürgerinnen und Bürger. Die Ernsthaf- tigkeit unseres Zukunftsprojektes wird in der Koalition durch entsprechend verbindliches Handeln unterlegt oder bestätigt. Es genügt nicht, alleine ein Gesundheitsziel, ein vorrangiges Gesundheitsziel im Bundestag festzulegen. Das wird nur dann glaubwürdig, wenn damit verbindli- ches Handeln der Verantwortlichen und der Betroffenen verbunden wird. Ich möchte unser Zukunftsprojekt anhand von vier Punkten beschreiben. Erstens. Die klare Zielvorgabe wird Bestandteil der Beschlussfassung des Deutschen Bundestages. Dieses Ziel orientiert sich an der St.-Vincent-Deklaration, die elf Jahre alt ist. Die darin enthaltenen Ziele sind die Amputa- tionsrate bei Diabetes-Kranken um die Hälfte zu reduzie- ren, die Erblindungen um ein Drittel zurückzuführen, Nierenversagen um ein Drittel zu reduzieren – um nur ei- nige der wichtigsten Ziele zu nennen. Zweitens. Der Plan sorgt für die Bündelung, das Zu- sammenführen von Fachleuten und aller Kräfte. Im Ge- gensatz zu der Versorgungslage bei den Betroffenen ist die wissenschaftliche Basis in Deutschland sehr gut. Wir können im internationalen Konzert sehr gut mitspielen. Deswegen können wir auf einem profunden Fachwissen aufbauen. Diese Fülle von Fachwissen gilt es, jetzt zu- sammenzufassen, zu bewerten und daraus ein ganzheitli- ches Konzept zu machen. Deshalb ist es wichtig, dass eine Bündelung dieser Kräfte stattfindet und dass wir das Ver- zetteln, das Nebeneinanderher-Arbeiten in verschiedenen Aufgabenfeldern überwinden. Drittens. Dazu brauchen wir eine Moderatorenrolle, die Moderatorenrolle der Bundesregierung. Es freut mich ganz besonders, dass Frau Bundesministerin Andrea Fischer und auch Frau Staatssekretärin Christa Nickels aktiv die Rolle der Moderation in dieser Aufgabe über- nehmen. Diese Moderatorenrolle der Bundesregierung wird von allen Beteiligten gewünscht, weil ohne sie das Ziel nicht oder nur schwer erreichbar ist. Wir bedürfen also einer Moderationsaufgabe. Ohne diese Moderation werden wir in Deutschland nicht den Erfolg haben. Der vierte Punkt könnte überschrieben werden mit: „Glaubwürdigkeit durch klare Terminvorgaben“. Mit dem Antrag wird klar vorgegeben, welche Schritte bis zu welchem Zeitpunkt zu geschehen haben: Bis Ende 2000 ist eine Kommission mit medizinischem Fachpersonal, Vertretern der Kostenträger, der Selbsthilfegruppen und Patientenverbände einzusetzen, deren Aufgabe es ist, die Ziele des Programms zu erarbeiten und deren weitere Umsetzung zu begleiten. Bis Anfang 2001 sollen die Rah- menbedingungen für eine verbesserte Diabetiker-Ver- sorgung auf dem Tisch liegen. Dabei geht es auch um eine einheitliche Dokumentation. Bis Mitte 2001 wird von der Kommission ein Bericht mit Versorgungszielen und Vorschlägen für notwendige Gesetzesänderungen er- wartet. Bis Ende 2001 soll der Medizinische Dienst der Spitzenverbände ein weiteres Kompetenz-Evaluations- zentrum schaffen, das die Rahmenbedingungen für die Versorgungsqualität weiterentwickelt und Struktur- forschung veranlasst. Bis Ende 2002 soll unter Modera- tion der Bundesregierung in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten im Gesundheitswesen ein Maßnahmenkatalog erarbeitet und dem Bundestag als Basis für einen Na- tionalen Aktionsplan Diabetes vorgelegt werden. Die Verbindlichkeit müssen wir auf alle Fälle gewährleisten, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012300 (C) (D) (A) (B) sonst wird aus dem Zukunftsprojekt nicht die geforderte Realität. Wir wissen, was in Deutschland für Diabetiker notwendig ist, um gleiche Lebenserwartung und gleiche Lebensqualität zu erreichen. Wir haben in Deutschland viele große und kleine Inseln, wo es in der Zwischenzeit eine zielorientierte qualitätsgesicherte Versorgung gibt oder in nächster Zeit geben kann. Wir haben uns in Deutschland genügend Kenntnisse und Qualifikationen durch wissenschaftliche Arbeiten und erfolgreiche Mo- dellvorhaben erarbeitet und erworben. Wir können auf dieser Basis unseres Zukunftsprojektes sehr gut aufset- zen. Die Versorgung nach Wohnortprinzip hat keine Zukunft. Deshalb muss die Diabetes-Versorgung zu der flächendeckenden Regelversorgung werden. Sollte es jetzt immer noch jemanden geben, der die Dramatik des Versorgungsauftrages nicht sieht, sollte dieser zum Abschluss unter dem Licht der aktuellen Daten seinen Offenbarungseid leisten. Das sind Daten, die jeden Verantwortlichen aufschrecken lassen: Die Schlaganfall- rate bei Diabetikern ist doppelt so hoch, zwei von drei Amputationen sind diabetesbedingt, 40 Prozent der Dia- lysezugänge kommen aus dem Diabetikerbereich, 30 Prozent aller Neuerblindungen, also jede dritte Neuerblindung, sind diabetesbedingt. Wenn wir für diesen Zustand der Reparatur von Fol- gekrankheiten rund 20 Milliarden DM im Jahr ausgeben, können Sie sich denken, was wir damit alles an Präven- tion machen könnten. Es ist eigentlich gerade zu him- melschreiend, dass wir wahnsinnige Beträge dafür aus- geben, dass die Betroffenen in ein dunkles Loch fallen und dann irgendwo und irgendwann aus diesem Loch wieder herausgezogen werden müssen. Deshalb will ich abschließend auf den großen Wert der Prävention hin- weisen. Wir haben eine Steigerung der Kosten und des Leids, des menschlichen Leids durch Diabetes zu erwarten, weil die Alterskohorte der von Diabetes Betroffenen wächst und weil auch die Risikofaktoren steigen, insbesondere das Übergewicht und die Bewegungsarmut. Wir müssen davon ausgehen, dass sich in den nächsten 30 Jahren, wenn nichts unternommen wird, die Zahl der Diabetiker verdoppeln wird. Allerdings ist diese Verdoppelung nicht schicksalsgegeben, sondern kann vermieden werden. Würden wir jetzt systematisch in die Prävention in- vestieren, könnten wir die Kosten nicht nur stabilisieren, sondern möglicherweise sogar senken. Es ist also aus meiner Sicht notwendig, jetzt in die Prävention zu in- vestieren, um in zehn Jahren – gute Präventionspro- gramme brauchen so viel Vorlaufzeit – entsprechend die Früchte zu ernten und eine Stabilisierung der so genann- ten Neuerkrankungen an Diabetes zu bewirken. Mit Hilfe der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und durch die Selbsthilfeorganisationen und -gruppen, die durch das Gesundheitsreformgesetz finanziell gefördert werden, müssen wir allen Menschen mit Diabetes klar- machen, dass sie die Verantwortung für ihre Therapie in die eigenen Hände nehmen müssen und ihre Verantwor- tung nicht quasi mit der Chipkarte an der Theke beim Arzt abgeben können. Wir sind zuversichtlich, dass die heute vorgelegte Initiative die Rahmenbedingungen für eine Quali- tätsverbesserung in der Diabetes-Versorgung verändern und ein Umdenken in den Köpfen bewirken wird. Wir verpflichten uns, im Interesse der Betroffenen und ihrer Angehörigen jetzt die richtigen Schritte einzuleiten. Wir wollen heute mit unserem Antrag „Ziele für die, Qual- itätssteigerung in der Diabetes-Versorgung“ vor dem Weltdiabetestag am 14. November dieses Zeichen setzen. Es schafft Glaubwürdigkeit, wenn dieser mit der Regie- rung abgestimmte Antrag – parallel zur Schirmherrschaft von Frau Bundesministerin Fischer am 14. November in Berlin – vom Bundestag beschlossen wird. Ich möchte an die Kolleginnen und Kollegen der an- deren Fraktionen appellieren: Helfen Sie mit, dass die Fol- gen der Volkskrankheit Diabetes nicht weiter auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen werden. Das Zukunfts- projekt Diabetes verlangt keine parteipolitischen Brillen. Dr. Harald Kahl (CDU/CSU): Der Diabetes mellitus, die Zuckerkrankheit, und die damit in Zusammenhang stehenden Folgeerkrankungen stellen angesichts ihrer Häufigkeit eine Volkskrankheit dar, die zu einer empfind- lichen Reduzierung von Leistungsfähigkeit und Lebens- erwartung der Betroffenen führen kann. Nicht selten sind Herzinfarkte, Nierenversagen oder Erblindung die dra- matischen Folgen dieser Erkrankung. Allein in Deutsch- land geht man von geschätzten 5 Millionen Menschen mit Diabetes aus, deren Behandlung circa 10 Prozent der Ge- samtausgaben für das Gesundheitswesen ausmacht. Da- mit werden die gesetzlichen Krankenversicherungen und unsere Volkswirtschaft insgesamt enorm belastet. Initiiert durch die europäische Sektion der WHO und die Internationale Diabetes Federation wurde deshalb be- reits im Jahre 1989 im italienischen St.Vincent durch Ärzte, Wissenschaftler, Politiker und Menschen mit Dia- betes ein wichtiger Anstoß zur besseren medizinischen Betreuung von Diabetikern gegeben. Die so genannte St. Vincent-Deklaration setzte dabei europaweit so ehr- geizige Ziele wie „Reduzierung der Anzahl an Amputa- tionen, Erblindung und Nierenversagen“ um jeweils ein Drittel durch ein Bündel von qualitätssichernden Maß- nahmen fest. Eben dieses Maßnahmepaket findet sich zum großen Teil im Antrag der SPD und Bündnis 90/Die Grünen wieder, den wir hier beraten. Wenn die Koalition heute beklagt, die alte Bundesregierung habe bei der Um- setzung der Deklaration versagt, so verschweigt sie, dass bisher kein europäisches Land diese Ziele erreicht hat. Das macht deutlich, dass dieses Problem nicht kurzfristig und schon gar nicht allein von der Politik gelöst werden kann. In Deutschland ist es originäre Aufgabe der Selbst- verwaltung und der Länder, Prävention, Diagnostik und Therapie in einem Bündel qualitätssichernder Maßnah- men umzusetzen. Im Sinne einer integrierten Versorgung von Diabetikern ist das nur unter Einbeziehung der Hausärzte, der ambulanten Schwerpunktpraxen stationä- rer Einrichtungen, Krankenkassen und nicht zuletzt unter besonderer Einbeziehung der Diabetiker selbst zu leisten. Als beispielgebend kann auf diesem Gebiet der Frei- staat Thüringen angesehen werden. Bereits 1995 wurden Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12301 (C) (D) (A) (B) aufbauend auf den epidemiologischen Erkenntnissen der früher in der ehemaligen DDR praktizierten Dispen- saire – Betreuung von Diabetikern neue Wege der Be- handlung eingeschlagen. Im April 1998 wurde letztlich ein Vertragswerk der AOK und der Kassenärztlichen Ver- einigung Thüringens unter finanzieller Beteiligung der al- ten Bundesregierung als Modellvorhaben abgeschlossen. So sorgen heute in Thüringen landesweit erfahrene Dia- betikologen in derzeit 35 ambulanten Schwerpunktpraxen gemeinsam mit über 200 Hausärzten sowie mit diabetolo- gisch spezialisierten Kliniken und Rehabilitationszentren für eine qualitativ hochwertige Versorgung von Patienten mit Diabetes mellitus. Charakteristisch hierfür sind Be- handlungskorridore zwischen Hausarzt und Schwer- punktpraxis, die nach Qualitätskriterien regeln, wann ein Patient vom Hausarzt an die Schwerpunktpraxis und von da aus wieder zurück an den Hausarzt überwiesen wird. Als Grundlage für eine wissenschaftlich fundierte Do- kumentation über den Umfang der Behandlung dient hierzu der Diabetes-Pass der Deutschen Diabetesgesell- schaft. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Qua- litätsmanagement zu. Behandlungsziele werden dabei mit den Behandlungsergebnissen verglichen und wissen- schaftlich vom Institut für medizinische Informatik und Biometrie der TU Dresden kontrolliert und evaluiert. Ein ganz wesentliches Element des Modellvorhabens ist eine Ziel-Anreizvergütung. Dabei ist eine Zusatzver- gütung der am System beteiligten Leistungserbringer an die Erfüllung von Versorgungs- und Schulungsaufträgen sowie an die Vollständigkeit der entsprechenden Doku- mentation gebunden. Hiermit wird eine Vergütungsge- rechtigkeit erzielt, die sich nicht an der Menge, sondern an der Qualität der erbrachten Leistung orientiert. Ein ent- scheidender Qualitätssprung konnte auch bei der Erbrin- gung von Schulungsleistungen erzielt werden. Prävention und Aufklärung spielen hierbei eine entscheidende Rolle. Landesweit sind allein 40 regionale Selbsthilfegruppen tätig und sowohl 1990 als auch im Jahre 2000 konnten mit dem Infomobil „Diabetes und Hochdruck“ in insgesamt 90 Orten wichtige Informationen zur Gestaltung gesund- heitsbewussten Verhaltens und über die Risikofaktoren Übergewicht und Bewegungsarmut vermittelt werden. Das Thüringer Beispiel steht jedoch nicht allein. Ähn- lich erfolgreiche Programme sind bereits im Freistaat Bayern, in Baden-Württemberg und in anderen Bundes- ländern angelaufen. Wir brauchen also in Deutschland keine neue Kommission, die Versorgungsziele definiert. Es ist vielmehr Aufgabe der Länder, diese positiven Er- fahrungen gemeinsam mit der Selbstverwaltung umzuset- zen. Wir brauchen keine neuen zentralistischen Vorgaben, sondern Freiräume für die Selbstverwaltung. Deshalb sollte sich der Antrag auch an die Akteure richten, die diese Forderung konkret umsetzen müssen, und er sollte die Frage beantworten, wer das Ganze eigentlich bezahlt. Die Tatsache, dass die Regierungskoalition erst zwei Jahre nach der Regierungsübernahme durch Rot-Grün diesen Antrag einbringt, macht deutlich, dass sie selber nicht an erfolgversprechende Eingriffsmöglichkeiten des Bundes glaubt. Warum sonst das lange Warten? Man ge- winnt vielmehr den Eindruck, dass nichts anderes als blin- der Aktionismus hierbei die Feder geführt hat und damit der Öffentlichkeit angesichts des bevorstehenden Welt- diabetestages das besondere Engagement von Rot-Grün für eine bessere Betreuung von Diabetikern vorgegaukelt werden soll. Gerade die chronische Krankheit Diabetes mellitus ist ein Beispiel dafür, wie durch ein effektives Zusammen- wirken aller Leistungserbringer die Zahl der stationär zu behandelnden Diabetesfälle signifikant gesenkt und einer ambulanten Behandlung zugeführt werden kann. Das kann jedoch nur dann funktionieren, wenn das Geld auch der Leistung folgt und Vergütungsstrukturen geschaffen werden, die Qualität mit finanziellen Anreizen belohnen. Es ist ein Irrglaube, wenn man einerseits meint, eine im- mer bessere Betreuungsqualität unter anderem auch mit der Einbeziehung der Fußpflege, mit mehr Schulung und Information der Patientinnen und Patienten zu erreichen, wenn man andererseits mit der Budgetierung immer mehr finanzielle Hürden dafür aufbaut. Das Ergebnis ist eine Rationierung von Leistung gerade bei chronisch Kranken. Bezeichnenderweise steht in dem Antrag kein Wort zur Finanzierung der durchaus wünschenswerten Aufgaben. Dabei ist es unstrittig, dass eine qualitativ höherwertige Versorgung primär erst einmal mehr Geld kostet, zum Beispiel durch mehr Prävention, durch umfangreichere und qualitativ verbesserte Diagnosen und Therapien. Es ist aber auch unstrittig, dass dieses zusätzliche Geld, wenn es zeitig genug ausgegeben wird, ein großes Einsparpo- tenzial beinhaltet, weil Krankheitsverläufe und Folgeer- krankungen vermieden oder aber gemindert werden. Ein Budget verhindert das nicht nur, sondern trägt – wie viele Beispiele in den letzten Tagen zeigen – zu einer Rationie- rung und damit Verschlechterung der medizinischen Ver- sorgung chronisch Kranker bei. Wer heute Diabetikern sogar die Erstattung der so wichtigen Blutzuckerselbst- kontrolle mittels Teststreifen nicht mehr gewährt, kann nicht für sich in Anspruch nehmen, Sachwalter der Pro- bleme von Diabetikern zu sein. Und wer den Patientinnen und Patienten glaubhaft ma- chen will, dass sie in Zukunft eine hoch qualifizierte Ver- sorgung unter einem gedeckelten Budget erwarten kön- nen, belügt sie damit nicht nur, sondern koppelt das deutsche Gesundheitswesen von der internationalen Ent- wicklung ab. Detlef Parr (F.D.P.):Der Antrag der SPD und der Grü- nen zur Qualitätsverbesserung in der Diabetes-Versor- gung beleuchtet ein wichtiges Thema, das eine ein- gehende Diskussion verdient. Im Jahre 1998 waren 4,1 Millionen Diabetiker in Deutschland behandlungsbe- dürftig, mit steigender Tendenz. Die Gesamtkosten der Versorgung betragen dabei pro Jahr nach Schätzungen etwa 15 bis 25 Milliarden DM. Manche Experten spre- chen sogar von 30 Milliarden DM. Das verdeutlicht die fi- nanzielle Dimension, die dieses Thema neben der menschlichen Dimension für die Betroffenen hat. Ich teile allerdings nicht den Grundtenor des Antrages, dass in den letzten Jahren nichts geschehen sei. Zahlrei- che Projekte und Ansätze sind entstanden, die dazu bei- tragen, die Situation der Diabetiker zu verbessern. Es gibt Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012302 (C) (D) (A) (B) heute etwa 1 500 Diabetologen in Deutschland. Ihre Zahl ist von 1993 bis 1998 um jährlich 60 Prozent gestiegen. Die Diabetes-Gesellschaft hat regelungsbedürftige Ver- tragsinhalte von Diabetesvereinbarungen herausgegeben, die eine gute Grundlage für Vereinbarungen der Kosten- träger mit den Ärzten darstellen. In München ist man im städtischen Krankenhaus Schwabing unter der Leitung des Diabetologen und Chefarztes Professor Eberhard Standel jetzt neue Wege in Richtung teilstationärer Ver- sorgung gegangen. Entstanden ist eine spezielle Tag- Nacht-Klinik, die die Zeit, die Diabetespatienten ande- renfalls im Krankenhaus liegen müssten, fast um die Hälfte verringert. Tagespatienten schlafen daheim und kommen nach dem Frühstück fünf Tage lang in die Klinik bis zum späten Nachmittag. Umgekehrt gehen Nachtpati- enten nachmittags bis nach dem Frühstück am folgenden Tag in die Klinik. Die Barmer-Ersatzkasse hat mit der KV-Westfalen-Lippe einen Diabetesvertrag geschlossen, der eine ergebnisorientierte Vergütung vorsieht. In Wolfs- burg gab es ein Modellprojekt zwischen der BKK-Volks- wagen und der Kassenärztlichen Vereinigung Nieder- sachsen zur Früherkennung von Folgeschäden bei Patienten mit Diabetes mellitus. Dieser „Diabetes-TÜV“ ist bei Ärzten und Patienten auf große Resonanz gestoßen. Bereits im Jahre 1997 haben die Ersatzkassenverbände und die Kassenärztliche Bundesvereinigung eine Diabe- tesvereinbarung geschlossen, die insbesondere auch die Diabetikerschulung in den Vordergrund stellt. Die Liste der Vereinbarungen könnte ich noch deutlich verlängern. Allerdings, auch das muss man zugeben, ist aus diesen hoffnungsvollen Ansätzen bisher keine umfassende, flächendeckende Optimierung der Versorgung geworden. Die Zahl der Amputationen ist mit ca. 25 000 pro Jahr viel zu hoch. Mit 4 00 Patienten jährlich ist die Zahl derjeni- gen, bei denen mit der Dialyse begonnen werden muss, ebenfalls erschreckend hoch. Gleiches gilt für die Rate von 7 000 Diabetikern, die jährlich erblinden. Ihren An- trag begreifen wir deshalb als Herausforderung, uns im Gesundheitsausschuss eingehend damit zu beschäftigen, wo heute noch im Einzelnen die Defizite liegen und wie man sie in den Griff bekommen kann. Katrin-Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Trotz medizinischer Behandlungsmöglich- keiten bedeutet die Erkrankung an Diabetes eine erhebli- che Einschränkung der Lebensqualität. Obwohl die Leis- tungsfähigkeit eines Diabetikers gleich der eines Gesunden ist, erfordert ein Leben mit Diabetes viel Dis- ziplin und eine gute und richtige medizinische Behand- lung. Diabetes ist bisher nicht heilbar, Ärzte können den Menschen mit medizinischen Mitteln eine höhere Le- bensqualität geben und Spätfolgen oder zu befürchtende Komplikationen lindern. Optimal werden die mehr als 4 Millionen Diabetiker hierzulande nicht behandelt. Eine bundesweite Untersuchung hat gezeigt, dass bei circa 40 Prozent der über 50-jährigen Diabetiker die Stoff- wechseleinstellung nicht akzeptabel ist, ein Grund, warum es zu Diabetes-Folgeerkrankungen wie Erblinden, Nierenversagen und Amputationen kommt. Nach wie vor betreffen seit 1990 zwei Drittel aller in Deutschland durchgeführten Amputationen Diabetiker, jeder zweite neudialysierte Patient und jeder dritte Neuerblindete ist ein Diabetiker. Nur durch eine rechtzeitige und intensive Betreuung der Patienten kann dieser Missstand behoben werden. Die Versorgung der heute rund 4 Millionen an Diabetes erkrankten Menschen in der Bundesrepublik hat sich unter der alten Bundesregierung nicht verbessert, sondern im Gegenteil eher verschlechtert. Die Diskrepanz zwischen den neuen medizinisch- wissenschaftlichen Kenntnissen und deren Umsetzung in der Praxis ist weiter gewachsen. In den Niederlanden sind aufgrund einer besseren Diabetesbehandlung nur 13 Pro- zent der Dialysen durch Diabetes bedingt. Auch die bis- her größte Studie zu Diabetes, die Ende 1998 veröffent- lichte United Kingdom Prospective Diabetes Study (UKPDS) bietet den Beleg, dass Diabetesfolge- erkrankungen verhindert werden können, je intensiver Diabetiker behandelt werden. Sie gibt die absolute Ge- wissheit, dass eine strenge Blutzucker- und Blutdruck- kontrolle das Risiko diabetischer Folgeerkrankungen ver- mindert. Britische Wissenschaftler haben rund 20 Jahre lang mehrere tausend Diabetiker mit verschiedenen The- rapieformen behandelt und den unterschiedlichen Erfolg dokumentiert. Dieses weist darauf hin, dass die Diabe- testherapie in der Bundesrepublik Deutschland dem aktu- ellen medizinischen Wissen hinterherhinkt und eine aus- reichende sachgerechte Versorgung nicht gewährleistet ist. Das ist nicht nur verantwortungslos gegenüber den Kranken, sondern auch unvertretbar im Hinblick auf die unnötig hohen Ausgaben für die Krankenkassen. Eine mangelhafte Versorgung führt zu höheren Kosten, die – wie eine bereits im Jahr 1979 in Schweden vorgelegte Studie zeigt – bei früh erkannten und gut eingestellten Diabetikern nur einen Bruchteil betragen würden. Ob- wohl dies schon lange bekannt ist, hat die alte Bundesre- gierung nicht gehandelt. Sie trägt damit die Verantwor- tung für eine nicht ausreichende Versorgung von Diabetes-Patienten. Vielleicht hätten einige Folgeerkran- kungen verhindert werden können. Ich möchte eigentlich nicht mit den unnötig verursach- ten Kosten argumentieren, die ein unzureichend oder schlecht behandelter Patient verursacht. Denn es geht hier um Menschen, die schlicht „besser“ und unter Umständen auch länger leben können mit der geeigneten medizini- schen Versorgung. Aber lassen sie mich an einem Beispiel verdeutlichen, wie sinnvoll es ist, in einer frühen Phase der Erkrankung in eine intensive Behandlung zu investie- ren. Die Kosten für einen gut eingestellten Typ II Diabe- tiker betragen 1 000 bis 1 200 DM, während ein schlecht eingestellter Diabetiker vom Typ II 11 000 bis 13 500 DM an Kosten verursacht. Von den Kosten für Folgeerkran- kungen sei hier noch abstrahiert. An diesem Beispiel wird sichtbar: Steigerungen der Qualität gehen oft mit lang- fristigen Kostensenkungen einher. Deshalb beschreiten wir diesen Weg schon seit der Gesundheitsreform 2000. Die gesundheitspolitische Bedeutung von Diabetes ist enorm. Mit mehr als 4 Millionen Erkrankten ist Diabetes zu einer Volkskrankheit geworden. Die Wahrscheinlich- keit, an Diabetes zu erkranken, ist damit insgesamt hoch und nimmt mit steigendem Alter rapide zu. Frauen sind im Übrigen besonders von dieser Krankheit betroffen. Die Tatsache, dass unsere Gesellschaft altert, zeigt, dass die Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12303 (C) (D) (A) (B) Bedeutung dieser Krankheit in Zukunft noch weiter zu- nehmen wird. Wir haben bereits mit der Gesundheitsreform 2000 we- sentliche Schritte unternommen, um die Versorgung von chronisch Kranken wie Diabetespatienten zu verbessern, zum Beispiel mit der Aufnahme der Patientenschulung als ergänzende Leistung zur Rehabilitation, mit den Rege- lungen für eine integrierte Versorgung und mit der Ein- führung von Qualitätssicherungsmaßnahmen. Wir fordern in unserem Antrag, dass die Verbesserung der Diabetes-Versorgung von der Bundesregierung als vorrangiges Gesundheitsziel erklärt wird und konkrete Versorgungsziele definiert werden gemäß der St. Vicent- Deklaration von 1989, die bis 2005 umgesetzt werden soll. Die Ziele orientieren sich an der Vermeidung der Fol- geerkrankungen. Zur Umsetzung dieser Ziele soll daher bis Ende 2000 eine Kommission eingesetzt werden, die einen konkreten Maßnahmenkatalog als Basis zum „Na- tionalen Aktionsplan Diabetes“ bis Ende 2002 erarbeiten soll. Wir werden an der Kommission medizinisches Fach- personal aus dem Bereich der Diabetesbehandlung, Ver- treter der Kostenträger, der Selbsthilfegruppen und der Patientenverbände beteiligen. Die neu zu schaffende Kommission fordern wir auf, bis spätestens 2001 einen Bericht über den anzustrebenden Versorgungszustand vorzulegen. Wir haben bereits mit der Gesundheitsreform 2000 mit dem § 43 Abs. 3 SGB V einen erweiterten rechtlichen Rahmen für die Krankenkassen geschaffen, Patienten- schulungsmaßnahmen bedarfsgerecht anzubieten. Wir wollen daher auf die Krankenkassen einwirken, diese Schulungen auch tatsächlich anzubieten. Diese Schu- lungsangebote, die den Umgang mit der Krankheit und das Wissen darüber vermitteln, tragen wesentlich zu einer besseren Bewältigung der Krankheit und damit zu einer höheren Lebensqualität des Kranken bei. Wir wollen ferner, dass auf die Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen eingewirkt wird, damit die Fußpflege für Diabetiker in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen wird. Der mit der Gesundheitsreform eingeschlagene Weg der integrierten Versorgung ist auch hier fruchtbar. Wir wollen dafür sorgen, dass innerhalb einer integrierten Ver- sorgung von Haus- und Fachärzten sowie Kliniken auch zum Beispiel medizinische Fußpfleger oder Ernährungs- berater miteinander kooperieren und so eine bessere Ver- sorgung von Diabeteskranken und eine bessere Präven- tion von Folgekrankheiten stattfinden kann. Der häufigen Forderung von Diabetikerverbänden, dass der Staat eine Diabetes-Kampagne startet, tragen wir mit unserem Antrag Rechnung. Sofern die dazu benö- tigten Haushaltsmittel bereitgestellt werden können, wol- len wir eine breit angelegte Aufklärung starten. Eine Auf- klärungskampagne macht Sinn, denn für die Entstehung von Diabetes mellitus Typ II, die so genannte Altersdia- betes, sind zum Teil vermeidbare Risikofaktoren aus- schlaggebend: Neben der erblichen Vorbelastung stehen vor allem Übergewicht und Bewegungsmangel im Vordergrund. Auf Ärzte und Krankenkassen soll einge- wirkt werden, die medizinische Fußpflege für Diabetiker in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkasse aufzunehmen. Eine Verbesserung der Diabetes-Versorgung ist längst überfällig. Im Sinne der Patienten bitte ich Sie daher, die- sem Antrag zuzustimmen. Dr. Ruth Fuchs (PDS): Der Antrag der Koalitions- fraktionen zielt auf die Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung diabeteskranker Menschen und verdient nach unserer Auffassung in seinen Grundintensionen volle Un- terstützung. Ich sage dies auch in Kenntnis des Gesund- heitswesens der DDR, in dem es gerade für die Diabetiker eine qualitativ hoch entwickelte Betreuung gab. Sie wäre nicht denkbar gewesen, ohne klar definierte gesundheits- politische Ziele und ohne ein gut koordiniertes und ge- steuertes Handeln aller Akteure. Die Zuckerkrankheit ist seit längerem in den ent- wickelten Ländern eines der großen gesundheitlichen Probleme und besonders in den höheren Altersgruppen sind wachsende Anteile der Bevölkerung betroffen. Eine Besonderheit besteht darin, dass Diabetes zwar nicht heil- bar, aber im Gegensatz zu anderen chronischen Krank- heiten sehr erfolgreich behandelbar ist. Akut auftretende und oft lebensbedrohliche Komplikationen durch ent- gleiste Blutzuckerwerte lassen sich heute durch engma- schige diagnostische Kontrollen sowie gute therapeuti- sche Führung weitgehend vermeiden. Ebenso wichtig sind intensive Schulungsmaßnahmen für die Patienten, mit deren Hilfe das erforderliche Ernährungsverhalten und der richtige Umgang mit Medikamenten vermittelt wird. Selten ist gutes Selbstmanagement der Patienten so bedeutsam, wie bei der Zuckerkrankheit. Aber auch die gefürchteten Folgeerkrankungen, die im Ergebnis fortschreitender Gefäß- und Nervenschädigun- gen vor allem zu Erblindungen, Nierenversagen und erns- ten Herz-Kreislauf-Komplikationen führen, können heute durch sorgfältige Stoffelwechseleinstellung, Blutdruck- kontrollen und anderes mehr zum großen Teil vermieden bzw. zeitlich weit hinausgeschoben werden. Allerdings gelingt es bisher im eigenen Lande nicht ausreichend, die vorhandenen medizinischen Möglich- keiten und die gute infrastrukturelle Basis unseres Ge- sundheitssystems so zur Wirkung zu bringen, dass für die Patienten eine höchstmögliche Behandlungsqualität re- sultiert. Noch immer werden Krankheiten zu häufig nicht rechtzeitig erkannt und Patienten nicht engmaschig be- treut. Vor allem aber mangelt es am Wichtigsten: An einer bewusst organisierten und reibungslosen Kooperation zwischen Hausärzten und diabetologisch spezialisierten Ärztinnen und Ärzten. Wie kann also die Diskrepanz zwischen möglicher und tatsächlicher Qualität der Versorgung flächendeckend überwunden werden und was kann die Politik dazu bei- tragen? Der zur Debatte stehende Antrag ist bestrebt da- rauf Antworten zu geben und schon das halten wir für ver- dienstvoll. Will man wirklich weiterkommen, muss man unseres Erachtens allerdings die Ursachen für die bestehenden Defizite klarer benennen. Expertenmeinungen, Studien, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012304 (C) (D) (A) (B) aber auch Erfahrungen aus Modellprojekten verweisen immer wieder auf ein gleiches Ergebnis: Bei isoliert ar- beitenden Einzelpraxen, Einzelleistungsvergütung, zu- nehmenden innerärztlichen Verteilungskämpfen und da- mit verbundener Sorge, Patienten durch Überweisung zu verlieren, sind es die Strukturen und Anreize des Versor- gungssystems, die die notwendige, auf gemeinsame Ziele gerichtete kooperative Arbeit beeinträchtigen. Im Gegensatz zur Bewertung im vorliegenden Antrag hat hier auch die Gesundheitsreform 2000 keineswegs günstigere Voraussetzungen geschaffen. Im Gegenteil: Zurzeit erleben wir vorwiegend negative Wirkungen auch auf die Versorgungsqualität der Diabetiker. Gerade weil bei ihnen oft mehrere Krankheiten gleichzeitig vorliegen, stößt ihre Behandlung unter den gegebenen Budgets nicht selten auf finanzielle Grenzen. Unserer Meinung nach ist damit ein Grundproblem des Antrages angesprochen. Letztlich zielt er darauf, zeit- gemäße medizinische Arbeitsformen in einem Versor- gungssystem zu verankern, dessen grundlegende Struktu- ren darauf nicht nur nicht vorbereitet sind, sondern ihnen häufig entgegenstehen. Auch am Beispiel der Diabetiker-Versorgung bestätigt sich: Für notwendige Verbesserungen sind weiter rei- chende Strukturreformen im Gesundheitswesen erforder- lich. Zum anderen benötigen Ärzte und Patienten finanzi- elle Rahmenbedingungen, die für alle eine Behandlung entsprechend dem heutigen medizinischen Erkenntnis- stand und unabhängig vom Geldbeutel ermöglichen. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der EU-Richtlinie über das Folge- recht des Urhebers des Originals eines Kunst- werkes (Folgerechtsanpassungsgesetz) (Tages- ordnungspunkt 23) Dirk Manzewski (SPD): Am heutigen Tag debattieren wir hier im Deutschen Bundestag über den Entwurf eines so genannten Folgerechtsanpassungsgesetzes, den die Fraktion der FDP eingebracht hat. Bei dem Thema „Folgerecht“ handelt es sich um eine urheberrechtliche Spezialproblematik. Gegenstand des in § 26 Urhebergesetz normierten Folgerechts ist es, dass der Urheber einen Anteil des Veräußerungserlöses erhalten muss, wenn das Original seines Werkes durch einen Kunsthändler, Versteigerer, Erwerber, Veräußerer oder Vermittler veräußert wird. Diese Regelung dient der Stär- kung der Rechtsposition der Urheber. Ein solcher wie im deutschen Recht ausgestalteter urheberrechtlicher An- spruch existiert in den anderen europäischen Ländern nicht überall. Zu Recht weist der Gesetzesentwurf der F.D.P. deshalb darauf hin, dass es hierdurch in der Ver- gangenheit im Kunsthandel zu erheblichen Wettbewerbs- verzerrungen in Europa – vor allem zum Nachteil Deutschlands – gekommen ist. Die weitaus größte Menge von Kunstverkäufen findet nicht zuletzt deshalb auch in London statt. Die Bundesregierung hat sich aus diesem Grunde ins- besondere während ihrer EU-Präsidentschaft im 1. Halb- jahr 1999 intensiv für die Harmonisierung des Folge- rechts eingesetzt und setzt sich im Übrigen auch weiterhin vehement dafür ein. Die nicht nur zuungunsten Deutsch- lands bestehenden Wettbewerbsverzerrungen auf dem eu- ropäischen Kunstmarkt müssen endlich beseitigt werden. So grundsätzlich wir daher einerseits das Grundanlie- gen der F.D.P. teilen, so müssen wir andererseits zum ge- genwärtigen Zeitpunkt gleichwohl deren Gesetzesent- wurf ablehnen, zum einen deshalb, weil meiner Kenntnis nach – entgegen der Behauptung der F.D.P. – nicht die Richtlinie selbst, sondern lediglich der so genannte ge- meinsame Standpunkt des Europäischen Parlaments ver- abschiedet worden ist. Es erscheint deshalb nicht un- wahrscheinlich, dass das Europäische Parlament noch Änderungen im Sinne einer urheberfreundlicheren Aus- gestaltung der Richtlinie beschließt. Ich könnte mir vor- stellen, dass dies im Übrigen auch für die von der F.D.P. monierten langen Übergangsfristen gilt. Meiner Informa- tion nach soll der Richtlinienvorschlag noch in der zwei- ten Dezemberhälfte im Europäischen Parlament ab- schließend beraten werden. Diesen Termin sollten wir zwingend abwarten. Ein Vorgriff darauf würde vermutlich ansonsten unnötigerweise Korrekturbedarf nach sich zie- hen. Zum anderen lehnen wir den Gesetzentwurf der F.D.P. deshalb ab, weil er in Teilbereichen entweder erheblich von der Richtlinie des Europäischen Parlaments abweicht oder aber den dort eröffneten Spielraum der einzelnen Mitgliedstaaten einseitig zum Nachteil der Urheber aus- schöpft. So soll nach den Vorstellungen der F.D.P. zum Beispiel das Folgerecht erst bei einer Veräußerung ab 4 000 Euro einsetzen. Die Richtlinie eröffnet dies aber schon bei geringeren Veräußerungserlösen. Auch soll das Folgerecht nur bei Veräußerungen mit Gewinn eintreten. Dies ist weder in der Richtlinie vorgesehen noch sonst verständlich. Diese Aushöhlung der Schutzrechte von Urhebern hal- ten wir nicht für akzeptabel. Dementsprechend können wir dem auch nicht folgen. Die SPD wird sich – wie be- reits in der Vergangenheit – auch zukünftig dafür einset- zen, die Rechte der Urheber, wo dies berechtigt erscheint, zu stärken. Nicht nachvollziehbar ist für uns deshalb auch, warum die erste Weiterveräußerung durch eine Galerie nach den Vorstellungen der F.D.P. vom Folgerecht ausgenommen werden sollte. Eine schlüssige Begründung hierzu findet sich im Gesetzesentwurf der F.D.P. nicht. Ich gehe davon aus, dass man hier einfach die konträre Auffassung des Rates hierzu übernommen hat, die für Kunstgalerien eine besondere Situation annimmt, weil diese oft unmittelbar von unbekannten Künstlern Kunstwerke kaufen. Dies überzeugt mich jedoch nicht, da das Gleiche auch oft für Kunsthändler gilt. Worin ein Unterschied zwischen dem Verkauf durch eine Galerie und dem durch einen Kunst- händler liegt, der dies rechtfertigt, ist für mich derzeit nicht ersichtlich. Eine Besserstellung des Galeristen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12305 (C) (D) (A) (B) gegenüber dem Kunsthändler erscheint mir deshalb zu- mindest derzeit nicht sachgerecht. Hinzu kommt, dass die F.D.P. die Einschränkung der Auffassung des Rates, der diese Ausnahme nur gelten lassen will, wenn der erzielte Preis bei der Weiterveräußerung 10 000 Euro nicht über- steigt, nicht berücksichtigt. Die verschärfte Verjährungsregelung kann ebenfalls nicht unsere Zustimmung finden. Die Begründung der F.D.P. hierzu ist für uns genauso wenig nachvollziehbar. Bei jedem Verkauf von Werken ist in diesem Zusammen- hang der Folgerechtsanspruch schon von vornherein zu berücksichtigen. Der Veräußerer muss von Anfang an mit Forderungen des Urhebers rechnen. Eine Rechtsun- sicherheit kann also allenfalls darin liegen, dass sich gegebenenfalls die dies ohnehin einkalkulierende Er- tragserwartung – folgt man dem F.D.P.-Entwurf, die Ge- winnerwartung – erst später bestätigt. Wenn dies als Rechtsunsicherheit angesehen wird, so kann man meiner Auffassung nach durchaus damit leben, zumal eine abso- lute Höchstgrenze des Folgerechts von 12 500 Euro fest- geschrieben worden ist Norbert Röttgen (CDU/CSU): „Entwurf eines Geset- zes zur Umsetzung der EU-Richtlinie über das Folgerecht des Urhebers des Originals eines Kunstwerks“ hat die F.D.P.-Bundestagsfraktion ihren Gesetzentwurf genannt. „Die Folgerechtsrichtlinie wird ohne Übergangsfristen in nationales Recht umgesetzt“, heißt es weiter. Das Grundproblem, auf das der Gesetzentwurf der F.D.P. trifft, besteht darin, dass er eine europäische Richt- linie umsetzen möchte, die es überhaupt noch gar nicht gibt und mit dem von der F.D.P. unterstellten Inhalt höchstwahrscheinlich auch niemals geben wird. Das zeigt der aktuelle Beratungsstand. Es gibt einen Gemeinsamen Standpunkt des Rates, dessen Inhalt dem des Gesetzent- wurfes der F.D.P. nahe kommt, der aber von der Kom- mission abgelehnt wird. Die Beratungen des Rechtsaus- schusses des Europäischen Parlaments sind noch nicht abgeschlossen, die Behandlung im Europäischen Parla- ment selbst ist für Dezember 2000 vorgesehen. Fest steht allerdings, das auch das Europäische Parlament dem Ge- meinsamen Standpunkt des Rates skeptisch gegenüber- steht. Der Gesetzentwurf der F.D.P.- Bundestagsfraktion ist deshalb zumindest verfrüht, wenn nicht gar schädlich. Es ist nach Auffassung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion unerlässlich, das endgültige Ergebnis der Beratungen ab- zuwarten, statt jetzt vorschnell das Urheberrechtsgesetz zu ändern, um dann möglicherweise Anfang 2001 – im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie – eine erneute Kor- rektur vornehmen zu müssen. Damit würden Rechtsunsi- cherheiten geschaffen, die für das berechtigte Anliegen der Künstler und Galeristen in Deutschland kontrapro- duktiv wären. Eine Harmonisierung des Urheberrechts im nationalen Alleingang ist ein Widerspruch in sich. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hätte es sich aller- dings gewünscht, bereits heute über die Umsetzung der Folgerechtsrichtlinie in deutsches Recht sprechen zu kön- nen. Wenn dies nicht der Fall ist, liegt das in erster Linie an der zögerlichen Haltung der rot-grünen Bundesregie- rung. Ihre eigene Zielsetzung für die deutsche Ratspräsi- dentschaft im ersten Halbjahr 1999 war die Verabschie- dung eines Gemeinsamen Standpunktes; erreicht hat sie eine Vertagung. Nachvollziehbare Gründe hierfür konnte sie auf Nachfrage unserer Fraktion nicht vorbringen. Da- bei drängten bereits damals die zulasten der deutschen Künstler und Galeristen bestehenden Wettbewerbsnach- teile nach einer schnellen und effektiven Lösung. Die Harmonisierung der bereits in 11 EU-Mitgliedstaaten be- stehenden Reglungen zum Folgerecht im Kunsthandel tat und tut Not. Die durch die Verzögerung für den Kunst- standort Deutschland entstehenden Schäden werden mit jedem Tag größer. Mit den zurzeit in Rede stehenden Übergangsfristen für die Umsetzung der zu erwartenden Richtlinie würden die bestehenden Wettbewerbsnachteile zementiert. Wir fordern die Bundesregierung daher auf, sich end- lich nachdrücklich auf EU-Ebene für den schnellen Erlass einer Folgerechtsrichtlinie einzusetzen. Diese muss aber die Bedürfnisse des Kunststandortes Deutschland auch hinreichend berücksichtigen. Ein Kompromiss auf Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners kann nicht das Ziel sein. So lehnt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion eine willkürliche optionale Untergrenze von 4 000 Euro für das Anfallen eines Folgerechtsbeitrages ab. Auch die Festset- zung eine absoluten Obergrenze für den zu leistenden Folgerechtsbeitrag in Höhe von 12 500 Euro ist aus unse- rer Sicht nicht begründbar. Es ist nicht einzusehen, warum der Urheber auf diese Weise von der Teilhabe am wirt- schaftlichen Erfolg ausgeschlossen werden soll. Lassen Sie uns gemeinsam an einer europäischen Lö- sung arbeiten, die den Kunststandort Deutschland und ebenso eine faire Teilhabe der Kunst Schaffenden am wirtschaftlichen Erfolg sichert. Der Gesetzentwurf, über den wir heute sprechen, kann dies nicht leisten. Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zum gegenwärtigen Zeitpunkt lehnen wir den Entwurf der F.D.P. ab, und zwar aus folgendem Grund: Aufgrund der schlecht zu vermittelnden Positionen der einzelnen Länder ist es in Brüssel bisher noch zu keiner endgültigen Einigung zur Folgerechtsrichtlinie gekommen. Es macht also gar keinen Sinn, eine noch nicht beschlossene EU-Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Vielmehr ist erst einmal abzuwarten, in welcher Form und mit welchem Inhalt die Richtlinie in der EU letztendlich beschlossen wird. Alles andere wäre Zeit- und Energie- verschwendung. Das Folgerecht, so wie es derzeit in Deutschland und in den meisten EU-Mitgliedstaaten existiert und gehand- habt wird, gewährleistet den bildenden Künstlern und ihren Erben eine Beteiligung an den Einnahmen bei Wei- terverkäufen ihrer Werke und somit an deren Wert- steigerung. Die Problematik um das Folgerechtsgesetz besteht vor allem darin, dass nicht alle EU-Staaten eine solche Regelung haben. Im Sinne einer Gleichstellung der Künstler in Europa ist eine Harmonisierung anzustreben. Komponisten und Autoren sind durch Tantiemen selbst- verständlich an allen Veräußerungen ihrer Werke betei- ligt. Im Gegensatz dazu sind bildende Künstler beim Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012306 (C) (D) (A) (B) Weiterverkauf in einigen Ländern nicht an den Einnah- men beteiligt. So gehen beispielsweise Maler, deren Bilder auf dem Kunstmarkt in London – dem größten in Europa – weiterverkauft werden, leer aus; denn Groß- britannien hat bisher kein Folgerecht eingeführt. Dasselbe gilt für Irland, die Niederlande und Österreich. Die EU arbeitet seit langem an einer europaweiten Har- monisierung des Folgerechts, um Benachteiligungen in einzelnen Staaten innerhalb der Europäischen Union auszuschalten. Die Bundesregierung unterstützt dieses Vorhaben tatkräftig und strebt darüber hinaus eine erwei- terte internationale Harmonisierung über die Grenzen Eu- ropas hinaus an. Eine Übernahme einer EU-Folgerechts- richtlinie in nationales Recht ist für die Bundesrepublik derzeit nicht so dringlich, wie deren Übernahme in Staaten, die im Gegensatz zur Mehrheit der EU-Mitglied- staaten noch gar kein Folgerecht haben. Weiterhin sind auch zusätzliche Regelungen innerhalb des Folgerechts, das wie gesagt in Deutschland schon praktiziert wird, genau zu untersuchen und auf ihre Akzeptierbarkeit zu überprüfen. Eine Absenkung der Beteiligung der Künstler von derzeit 5 Prozent auf 3 Prozent, wie in der EU-Richtlinie geplant, wird wohl durch die Aufnahme des Folgerechts in allen Staaten der EU ausgeglichen. Jedoch sind andere Punkte zu bedenken: Über die Eingangssumme, also über den minimalen Preis eines Werkes, bei dem das Fol- gerecht greifen soll, muss diskutiert werden. Besonders ist aber auch über die vorgesehene Deckelung, also die feste Obergrenze für durch Folgerecht erzielte Einnahmen der Künstler, zu diskutieren; denn sie stellen einen sys- tematischen Widerspruch zum Urheberrecht dar. Die F.D.P. handelt mit diesem Antrag voreilig. Die Einigung in Brüssel ist frühestens im Dezember dieses Jahres zu erwarten. Sprechen wir dann darüber! Rainer Funke (F.D.P.) Seit langem ist der deutsche gegenüber dem internationalen Kunstmarkt unter Wettbe- werbsgesichtspunkten extrem benachteiligt. Lediglich in Schweden existiert ein derartig wettbewerbsfeindliches Folgerecht wie in Deutschland. Ein Teil der Staaten, zum Beispiel Frankreich, kennt das Folgerecht nur für Kunstversteigerer, andere Länder, insbesondere Großbritannien, kennen es gar nicht. Der daraus resultierende Wettbewerbsnachteil für die mit dem Folgerecht belasteten Kunstmärkte führte dazu, dass sich dieser in den EU-Staaten auf London konzentriert. Rund 80 Prozent des gesamten Kunsthandels innerhalb der EU-Staaten werden dort abgewickelt. Trotz jahrelanger Diskussionen – nicht zuletzt immer wieder hinausgezögert durch den Widerstand einiger Mit- gliedstaaten – ist es der EU-Kommission bisher nicht ge- lungen, die Regelungen über das Urheberrecht an Kunst- werken europaweit zu harmonisieren und damit auf dem europäischen Kunstmarkt einheitliche Wettbewerbsbe- dingungen zu schaffen. Die Bundesregierung hat nichts unternommen, um die Angelegenheit zu befördern. Im Gegenteil: Der Bundes- kanzler hat die bereits im vergangenen Jahr verabschie- dungsreife Folgerechtsrichtlinie auf dem Altar der Au- toindustrie geopfert und damit die Zustimmung der briti- schen Regierung zur Verhinderung der Altautoverord- nung erkauft. Dies ging nicht nur zum Nachteil Herrn Trittins, sondern auch der Künstler und Verwerter. Denn genau diese brauchen ein einheitliches Folgerecht in Eu- ropa, wenn junge deutsche Kunst auf dem deutschen und europäischen Kunstmarkt eine Chance haben soll. Zwar liegt seit März 2000 die „Richtlinie über das Fol- gerecht des Urhebers des Originals eines Kunstwerkes“ vor; seitdem verheddert sich die Folgerechtsrichtlinie aber im Gestrüpp der europäischen Institutionen. Mit un- serem Gesetzentwurf für ein Folgerechtsanpassungsge- setz wollen wir diesem Zustand der Lähmung entgegen- wirken und dem Europäischen Parlament Beine machen. Wir Liberalen halten es für nicht länger hinnehmbar, dass der Gesetzgebungsprozess in Brüssel weiterhin die Entwicklung des Kunstmarkts in Deutschland beeinträch- tigt. Wir wollen § 26 des Urheberrechtsgesetzes ändern und an die wettbewerbsrechtlichen Bedingungen in anderen EU-Staaten schnellstmöglich anpassen. Die Folgerechts- richtlinie der EU wollen wir daher ohne Übergangsfristen in nationales Recht umsetzen. Die bisher vorgesehenen langen Übergangsfristen – von zum Teil bis zu 15 Jah- ren – würden nämlich aus dem vorgesehenen Harmoni- sierungsbeschluss ein stumpfes Schwert machen. Damit würde kein fairer Wettbewerb hergestellt, vielmehr würde der gegenwärtige, den Kunstmarkt in Deutschland be- nachteiligende Rechtszustand aufrechterhalten. Der F.D.P.-Bundestagsfraktion geht es aber auch da- rum, andere den Wettbewerb im Kunsthandel beeinträch- tigende Regelungen zu ändern: Erstens. Für den Weiterverkauf von Originalen von Kunstwerken gelten in Abhängigkeit vom Verkaufspreis gestaffelte Abgabesätze. Die Abgabe beginnt bei 4 000 Eu- ro und beträgt höchsten 12 500 Euro. Zweitens. Das Folgerecht fällt erstmals nach der ersten Veräußerung durch den Urheber an. Der bisherige Rechts- zustand, nach dem bereits der erste Verkauf durch den Künstler selbst folgerechtspflichtig war, hat gerade jun- gen, noch unbekannten Künstlern in besonderer Weise ge- schadet und die Verbreitung ihrer Werke auf dem Kunst- markt beeinträchtigt. Drittens. Die Folgerechtsabgabe wird nur dann fällig, wenn die Veräußerung mit Gewinn erfolgt. Eine Abgabe- pflicht hinsichtlich der Weiterveräußerung, die keinen Gewinn für den Weiterveräußerer enthält, ist volkswirt- schaftlich unsinnig. Sie belastet einseitig den Verwerter ohne erkennbare Gründe und hemmt die Verbreitung noch nicht etablierter und damit riskanter Kunstwerke zusätz- lich. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion will auch die Ver- jährungsfristen für den Folgerechtsanspruch neu regeln. Die bisherige zehnjährige Verjährungsfrist führte zu erheblicher Rechtsunsicherheit, gerade wenn viele Künst- ler ihr Folgerecht nicht wahrnehmen. Deshalb haben wir die Geltendmachung des Abgaberechts auf ein Jahr ab Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12307 (C) (D) (A) (B) Kenntnis der das Abgaberecht auslösenden Tatsachen fi- xiert. Nach unserer Ansicht sollte – ohne diese Kenntnis- nahme – der Folgerechtsanspruch generell nach fünf Jah- ren verjähren. Diese Verjährungsvorschriften stehen im Einklang mit den generell vom Bürgerlichen Gesetzbuch vorgesehenen Verjährungsfristen für die Geltendmachung von Ansprüchen, deren wesentlicher Zweck die Schaf- fung von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit im Rechts- verkehr ist. Die Kritik, die an unserem Gesetzentwurf bereits im Vorfeld der ersten Lesung vereinzelt geübt wurde, weise ich im Namen meiner Fraktion entschieden zurück. Ich frage diese Kritiker: Glauben Sie ernsthaft, an den beste- henden Strukturen zum Nachteil der Verwerter und der Künstler festhalten zu können? Verwerter und Künstler – das möchte ich betonen: beide! – werden von der unsererseits vorgeschlagenen Neugestaltung profitieren: denn sie ist ausgewogen und berücksichtigt die Interessen gerade junger Künstler und Verwerter. Die jetzigen Regelungen hingegen bevorzugen einseitig und in wettbewerbswidriger Weise die etablier- ten Künstler und deren Erben. Wir schlagen Ihnen, meine Damen und Herren von den anderen Fraktionen, vor, auf der Grundlage unseres Ge- setzentwurfes das Folgerecht neu zu regeln und dem Kunstmarkt in Deutschland neuen Schwung zu geben. Dr. Heinrich Fink (PDS): Im vorliegenden Gesetzent- wurf der F.D.P. erkenne ich das berechtigte Anliegen, den augenblicklichen Wettbewerbsnachteil des deutschen Kunstmarktes gegenüber den Ländern, in denen es kein Folgerecht gibt, abzumildern. Den für die Verwirklichung dieses Anliegens vorgeschlagenen Weg halte ich aller- dings unter anderem aus drei Gründen für problematisch. Zum Ersten: Die heutige Debatte über den Gesetzent- wurf fällt gerade in die Endphase der langjährigen Bemühungen um eine Harmonisierung des Folgerechts im Rahmen der Europäischen Union. Vor wenigen Tagen wurde im Vorfeld der zweiten Lesung im zuständigen Un- terausschuss des Europäischen Parlaments ein entspre- chender Richtlinienvorschlag des Ministerrats beraten und dabei wurden auch einige Änderungen vorgeschla- gen. Deshalb wäre es gewiss sinnvoll, vor einer jeglichen nationalen Initiative das endgültige Ergebnis des Harmo- nisierungsprozesses abzuwarten, um dann die EU-Richt- linie möglichst zielgenau in nationales Recht umzusetzen. Zweifellos wäre die bevorstehende fünfte Novellierung des Urheberrechts dafür die passende Gelegenheit. Zum Zweiten: Ich halte es für sehr wünschenswert, wenn Veränderungen in unserem Folgerecht im Einver- nehmen zwischen Künstlern und Kunsthändlern erfolgen würden. Dies ist im vorliegenden Gesetzentwurf offen- sichtlich nicht der Fall. Und auch bei der zukünftigen Um- setzung der EU-Richtlinie sollten wir nicht vorschnell eine Position festschreiben, mit der die eine oder die an- dere Seite „nicht leben“ kann. Immerhin gibt es ja einen gemeinsamen Anknüpfungspunkt: Sowohl die Künstler- organisationen als auch der Kunsthandel haben sich für die europäische Harmonisierung des Folgerechts einge- setzt. Aus deutscher Sicht galt es dabei zwei Gewich- tungen auszutarieren: einerseits den bildenden Künstle- rinnen und Künstlern bzw. ihren Erben eine angemessene Beteiligung an den Wertsteigerungen der von ihnen ge- schaffenen Kunstwerke zu sichern und andererseits die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Kunstmarktes zu- mindest in Europa zu gewährleisten. Der Gesetzentwurf der F.D.P. – und damit bin ich beim dritten Grund meines Vorbehalts – wird diesem Interes- senausgleich zwischen Künstlern und Kunsthandel nicht gerecht. Der Vorschlag zielt darauf, sich bisher abzeich- nende wichtige Punkte der EU-Richtlinie ohne die vorge- sehenen Übergangsfristen, mit denen vor allem Großbri- tanniens Zustimmung zur Harmonisierung erreicht wurde, ins deutsche Urheberrecht zu übertragen. Zweifel- los würde die damit vorgesehene Absenkung des Abgabe- satzes von 5 auf durchschnittlich 3 Prozent unserem Kunsthandel, an dessen Florieren natürlich auch die Künstler ein Interesse haben, sofort zugute kommen. Den Künstlern würde allerdings auf diese Weise für längere Zeit das Äquivalent fehlen, mit dem die Absenkung des Abgabesatzes ausgeglichen werden würde, nämlich die Möglichkeit, auch an den Weiterverkäufen ihrer Werke in London oder Wien beteiligt zu sein. Denn es ist ja wohl davon auszugehen, dass Großbritannien und Österreich die ihnen zugestandenen Einführungsfristen ausschöpfen werden. Die Hoffnung, dass die Absenkung der Abgabe- sätze zu mehr Weiterverkäufen innerhalb Deutschlands führen würde, ist mehr als vage. Zudem stünde dieser er- hofften Ausweitung des Anspruchs auf das Folgerecht die im Gesetzentwurf vorgesehene Festlegung entgegen, das Folgerecht erst bei einem Weiterverkaufserlös von 4 000 Euro einsetzen zu lassen. Fazit: Der deutsche Kunsthandel würde zwar sofort von der vorgeschlagenen Regelung profitieren, dies jedoch für einige Jahre auf Kosten der anspruchsberechtigten Künstler und ihrer Fa- milien. Ich plädiere also für eine Weiterbehandlung des The- mas dann, wenn die europäische Harmonisierungs- richtlinie tatsächlich verabschiedet ist und wenn auf die- ser Grundlage den beiden betroffenen Seiten hin- reichende Gelegenheit gegeben worden ist, einen Aus- gleich ihrer Interessen bei der Umsetzung in unser Urhe- berrecht zu finden. In der Zwischenzeit hätten wir mit dem Urheberver- tragsrecht, der Novellierung des Künstlersozialversiche- rungsgesetzes und mit den Ausstellungshonoraren Ge- genstände voranzubringen, die von ungleich größerer Reichweite, Gewichtung und Dringlichkeit als eine iso- lierte Neuregelung des Folgerechts sind. Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin der Justiz: Mit dem vorliegenden Gesetz- entwurf soll eine EU-Richtlinie umgesetzt werden, die den gesetzlichen Anspruch des Urhebers harmonisiert, ei- nen Anteil an dem Erlös aus der Weiterveräußerung sei- nes Werkes zu erhalten – das so genannte Folgerecht des Urhebers. Der Gesetzentwurf geht davon aus, dass die Richtlinie bereits in Kraft getreten ist. Das ist aber nicht richtig. Denn das Europäische Parlament bereitet gegen- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012308 (C) (D) (A) (B) wärtig erst noch in zweiter Lesung seine Stellungnahme vor. Damit ist auch noch offen, ob diese Richtlinie nicht in wesentlichen Punkten verändert und urheberfreund- licher gestaltet wird. Natürlich hindert uns das nicht, bereits jetzt darüber nachzudenken, wie wir diese Richtlinie umsetzen wollen. Denn auch sonst warten wir nicht auf Europa, wenn wir einen dringenden Regelungsbedarf sehen. Aber ganz so, wie Sie, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P.-Fraktion, sich das vorstellen, wird die Richt- linie von dieser Bundesregierung nicht umgesetzt werden. Ihr Entwurf enthält eine Reihe von Regelungen, die für die Urheber Nachteile bringen. Lassen Sie mich dies im Einzelnen erläutern: Erstens. Die Umsetzung der Richtlinie wird zu einer Absenkung des nationalen Vergütungsaufkommens füh- ren. Das geltende Recht sieht in § 26 Urheberrechtsgesetz bei der Veräußerung eines Werks der bildenden Künste vor, dass dann, wenn ein Kunsthändler an der Veräuße- rung beteiligt ist, der Urheber einen Anspruch auf 5 Pro- zent des Verkaufspreises hat. Demgegenüber sieht die Richtlinie mit zunehmender Höhe des Verkaufspreises sinkende Prozentsätze für eine Beteiligung des Urhe- bers vor. Außerdem wird eine absolute Obergrenze von 12 500 Euro eingeführt, bis zu der ein Urheber an dem Verkaufspreis beteiligt wird. Zwar wird mit der Umset- zung der Richtlinie ein Folgerecht in anderen Mitglied- staaten der Europäischen Union begründet, die dies bis- lang nicht gekannt haben. Dementsprechend kann man sich insgesamt gleichwohl nach Umsetzung der Richtlinie in allen Mitgliedstaaten eine Erhöhung des Vergütungs- aufkommens erhoffen. Die Staaten, in denen es jetzt noch kein Folgerecht gibt, werden die Frist zur Umsetzung der Richtlinie voraussichtlich voll ausschöpfen. Damit wird auch erst am Ende der Frist insgesamt für deutsche Ur- heber eine Erhöhung des Vergütungsaufkommens spürbar werden. Zweitens. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass ein Folge- recht des Urhebers erst bei einem Mindestverkaufserlös von 4 000 Euro einsetzt, dem Betrag, bei dem nach dem Entwurf der Richtlinie ein Folgerecht einsetzen muss. In Deutschland gilt gegenwärtig eine Untergrenze von 100 DM. Wenn über eine Erhöhung dieser Untergrenze nachgedacht werden soll, darf der neue Wert sicher nicht der in der Richtlinie genannte sein. Auch bei weniger teu- ren Kunstwerken soll weiterhin in Deutschland ein Fol- gerecht bestehen. Der durch die Richtlinie eröffnete Handlungsspielraum soll im Interesse der Urheber ge- nutzt werden. Drittens. Wir werden auch von der Möglichkeit Ge- brauch machen, für die erste „Tranche“, das heißt bei Ver- kaufspreisen von 4 000 bis 50 000 Euro, einen Folge- rechtssatz von 5 Prozent – und nicht von 4 Prozent wie in dem Entwurf vorgesehen – festzuschreiben, und insoweit bei der geltenden deutschen Regelung bleiben. Dies sind bereits gewichtige Gründe, den Entwurf der F.D.P.-Fraktion abzulehnen. Darüber hinaus enthält der Entwurf aber auch Regelungen, die mit dem Richtlinien- text in seiner jetzigen Fassung nicht zu vereinbaren sind und schon deswegen nicht befürwortet werden können. Der erste Punkt betrifft die Regelung der Voraussetzun- gen des Folgerechts. Nach der Richtlinie in ihrer jetzigen Fassung ist das Folgerecht unabhängig davon, ob bei der Veräußerung ein Gewinn erzielt wird. Der Urheber hat also in jedem Fall Anspruch auf seinen Anteil am Erlös der Weiterveräußerung. Nach dem Gesetzentwurf soll demgegenüber ein Folgerecht nur bei einer Veräußerung mit Gewinn bestehen. Das ist mit der Richtlinie nicht zu vereinbaren. Sie stellt deswegen nicht auf den Gewinn ab, weil sich dann die Frage stellen würde, wie denn der Ge- winn zu berechnen wäre. Und darüber kann man lange streiten. Ein weiterer Punkt betrifft die Regelung der Folge- rechtsfreiheit. Nach der Richtlinie in ihrer jetzigen Fas- sung können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass Weiter- veräußerungen in den ersten drei Jahren nach Erwerb unmittelbar vom Urheber folgerechtsfrei bleiben, wenn der bei der Weiterveräußerung erzielte Preis 10 000 Euro nicht übersteigt. Der Vorschlag des Entwurfs, stattdessen eine vollständige Folgerechtsfreiheit auch bei einer Wei- terveräußerung durch eine Galerie zu gewähren, ist eben- falls nicht mit dem Richtlinienvorschlag vereinbar. Im Übrigen ist meiner Meinung nach auch noch zu prüfen, ob von der Regelung in der Richtlinie – wenn es denn dabei bleibt – überhaupt Gebrauch gemacht werden sollte. Lassen Sie uns also erst einmal abwarten, wie der Text der Richtlinie endgültig aussehen wird. Und wenn dies feststeht, sollte gemeinsam mit allen beteiligten Kreisen – den Urhebern, der VG Bild-Kunst, den Galerien und Auktionshäusern – darüber nachgedacht werden, wie wir denn die Richtlinie gemeinsam umsetzen wollen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12309 (C) (D) (A) (B) Druck: MuK. Medien-und Kommunikations GmbH, Berlin
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412700000
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

Der ehemalige Kollege Klaus Wolfgang Müller (Kiel)

ist aus dem Programmbeirat für die Sonderpostwertzei-
chen ausgeschieden. Die Fraktion der SPD schlägt die
Kollegin Christa Nickels als ordentliches Mitglied für
den Programmbeirat vor. Sind Sie damit einverstanden? –
Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist die Kollegin
Nickels als ordentliches Mitglied im Programmbeirat be-
nannt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:

1. Erste Beratung des von den Fraktionen von SPD, CDU/CSU,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 12 a)

– Drucksache 14/4380 – (siehe 126. Sitzung)

Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

2.a) Vereinbarte Debatte zur aktuellen Situation in Nahost
b)Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut
Haussmann, Günther Friedrich Nolting, Ulrich Irmer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Für eine Konferenz
für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten

(KSZNO) – Drucksache 14/4392 – (siehe 126. Sitzung)

Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss

3. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:

(siehe 126. Sitzung)


4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger,
Marita Sehn, Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.: Börsenhandel mit Emissionszertifikaten
in Deutschland konkret vorbereiten – Drucksache 14/4395 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen


(Ergänzung zu TOP 25)

Beratung des Antrags der Fraktionen von SPD und BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN: Weiterentwicklung der sozialen Pfle-
geversicherung – Drucksache 14/4391 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Haushaltsausschuss

6. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.: Hal-
tung der Bundesregierung zur Forderung von Bundesver-
kehrsminister Klimmt, die Ökosteuer im Jahr 2003 zu be-
enden

7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Adam, Ilse
Aigner, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU: Verfassungsklage der Bundesregierung ge-
gen das Land Nordrhein-Westfalen wegen der Verletzung
seiner verfassungsmäßigen Pflichten gegenüber dem Bund
im Verfahren zur Aufhebung der Immunität des Abgeord-
neten Ronald Pofalla – Drucksache 14/4244 –


(Bayreuth)

weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Wettbe-
werbsnachteile für deutsches Güterkraftverkehrsgewerbe
beseitigen – Drucksache 14/4396 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Fischer

(Hamburg), Dr.-Ing. Diemar Kansy, Eduard Oswald, weiterer

Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Weißbuch
über Harmonisierungsdefizite bei Verkehrsdienstleistun-
gen – Drucksache 14/4378 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

10. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu der Streitsache vor dem
Bundesverfassungsgericht 2 BvF1/00 – Drucksache 14/4354 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Rupert Scholz

11. Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Heinrich
L. Kolb, Dr. Irmgard Schwaetzer, Rainer Funke, weiteren Ab-
geordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs

12123


(C)



(D)



(A)



(B)


127. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000

Beginn: 9.00 Uhr

eines Gesetzes zur Intensivierung der Beschäftigungsförde-
rung – Drucksache 14/4103 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus

12. Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Pau, Heinrich
Fink, Roland Claus und der Fraktion der PDS: Arbeitsweise
der Expertenkommission Historische Mitte – Drucksache
14/4402 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus

13. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von

(Wirtschaftsprüferordnungs-Änderungsgesetz – WPOÄG)

sache 14/3649 – (Erste Beratung 114. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirt-
schaft und Technologie (9. Ausschuss) – Drucksache 14/4262 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Rainer Wend

14. Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Joachim
Fuchtel, Gunnar Uldall, Karl-Josef Laumann, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Arbeitslosenversi-
cherungsbeitrag senken – Drucksache 14/4377 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

15. Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen von SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grund-
gesetzes (Art. 12 a) – Drucksache 14/4380 – (Erste Beratung
126. Sitzung)
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses

(6. Ausschuss) – Drucksache 14/4420 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Anni Brandt-Elsweier
Volker Beck (Köln)

Jörg van Essen
Sabine Jünger

16. – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen von
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Eigenheim-
zulagengesetzes und anderer Gesetze – Drucksache
14/4130 – (Erste Beratung 121. Sitzung)


– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Dietmar Kansy, Dirk Fischer (Hamburg), Eduard
Oswald, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Eigenheimzulagengesetzes – Drucksache
14/4131 – (Erste Beratung 121. Sitzung)


– Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses

(7. Ausschuss) – Drucksache 14/4422 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Schild
Elke Wülfing

17. Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine Ostrowski,
Heidemarie Ehlert, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der PDS: Vorlage einer Verordnung zur

Umsetzung des § 6 a des Zweiten Gesetzes zur Änderung
des Altschuldenhilfe-Gesetzes – Drucksache 14/4399 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Finanzausschuss
Haushaltsausschuss

18. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Haltung
der Bundesregierung zu den arbeitsmarktpolitischen Aus-
wirkungen der angekündigten Schließung von Bahnwerken
durch die Deutsche Bahn AG

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.

Außerdem soll die erste Beratung des Gesetzentwurfs
zur Änderung des Grundgesetzes in Verbindung mit dem
Gesetzentwurf zur Änderung des Abgeordnetengesetzes
– Tagesordnungspunkt 7 a und b – vor der Beratung der
Vorlagen zum Güterkraftverkehrsgewerbe unter Tages-
ordnungspunkt 6 aufgerufen werden.

Die ursprünglich für Freitag vorgesehene erste Bera-
tung des Folgerechtsanpassungsgesetzes – Tagesord-
nungspunkt 23 – soll bereits heute als letzter Tagesord-
nungspunkt aufgerufen werden.

Ferner soll Tagesordnungspunkt 24 a und b abgesetzt
werden.

Weiterhin mache ich auf nachträgliche Überweisungen
im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:

Die in der 124. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesenen nachfolgenden Anträge sollen zusätzlich
dem Auswärtigen Ausschuss zur Mitberatung überwie-
sen werden.

Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bosbach,
Peter Hintze, Norbert Geis, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU: Entwurf der
Charta der Grundrechte der Europäischen
Union – Drucksache 14/4246 –
überwiesen:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Antrag der Abgeordneten Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger, Ina Albowitz, Hildebrecht Braun

(Augsburg), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion der F.D.P.: Europäische Grundrechte-Charta
als Eckstein einer europäischen Verfassung
– Drucksache 14/4253 –
überwiesen:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit




Präsident Wolfgang Thierse
12124


(C)



(D)



(A)



(B)


Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien

Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis c auf:
a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zum

50. Jahrestag der Europäischen Menschen-
rechtskonvention

b) Beratung des Antrags der Fraktionen von SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
F.D.P. 50 Jahre Europäische Menschenrechts-
konvention
– Drucksache 14/4390 –

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Eu-
ropäischen Übereinkommen vom 5. März 1996
über die an Verfahren vor dem Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte teilnehmen-
den Personen
– Drucksache 14/4298 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe

Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS
zur Regierungserklärung vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wi-
derspruch. Dann ist es so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundesministerin der Justiz, Herta Däubler-Gmelin.

Dr. Herta Däubler-Gmelin,Bundesministerin der Jus-
tiz: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
50 Jahren ist die Europäische Menschenrechtskonvention
unterzeichnet worden. Jener Tag der Unterzeichnung war
ein wichtiger Tag nicht nur in der Geschichte der Men-
schenrechtspolitik, sondern auch für die Bundesrepublik
Deutschland.

Erinnern wir uns: Schon im Mai 1948 waren mehr als
1 000 Delegierte aus 20 Ländern Europas in Den Haag zu-
sammengekommen. Sie verfolgten das Ziel, ein Europa
wieder aufzubauen, das damals, nach dem Untergang von
Nazi-Deutschland, nach Völkermord und Krieg, noch
durch schreckliches Elend und furchtbare Verwüstungen
gekennzeichnet war. Europa sollte – dazu waren sie ent-
schlossen – zu einer Region des Friedens, der Gerech-
tigkeit und der Menschenrechte werden. Außerdem woll-
ten sie eine wirtschaftliche und politische Union schaffen,
die auf gemeinsamen Grund- und Menschenrechten auf-
bauen sollte.

Unter dem Einfluss der am 10. Dezember 1948 durch
die Generalversammlung der Vereinten Nationen be-
schlossenen Allgemeinen Erklärung der Menschen-

rechte gingen jene verantwortungsbewussten und enga-
gierten Europäer ans Werk, um gemeinsam eine beson-
dere europäische Charta der Menschenrechte zu formu-
lieren. Das gelang auch. Sie konnte am 4. November 1950
unterzeichnet werden. Neben den damals zehn Mitglied-
staaten des Europarates wurde auch die junge Bundesre-
publik Deutschland zum Kreis der ersten Unterzeichner
zugelassen. Das war so kurze Zeit nach dem Ende des
Zweiten Weltkrieges sehr ungewöhnlich. Wenige Monate
zuvor war die Bundesrepublik als assoziiertes Mitglied in
den Europarat aufgenommen worden. Dieser Schritt
brachte, wie Helmut Schmidt es einmal ausdrückte, den
Deutschen „die doppelte Hoffnung auf europäische Part-
nerschaft und Demokratie“ und die Rückkehr in die Ge-
meinschaft rechtsstaatlicher Demokratien.

Mit seiner Einladung zur Mitwirkung beim Wiederauf-
bau Europas und zur Schaffung eines stabilen europä-
ischen Fundaments gemeinsamer Grund- und Menschen-
rechte brachte Europa damals der Bundesrepublik
Deutschland großes Vertrauen entgegen. Das hat uns
Deutschen ganz ohne Zweifel sehr dabei geholfen, unsere
stabile rechtsstaatliche und soziale Demokratie aufzu-
bauen und die Grund- und Menschenrechte in unserem
Land zu verankern. Dieser damalige Vorschuss an Ver-
trauen verpflichtet uns auch heute zu einer besonders
wirksamen Politik in Bezug auf Menschenrechte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)

Nach 50 Jahren können wir die Rolle und die Bedeu-

tung der Europäischen Menschenrechtskonvention in die-
sem Prozess in vollem Umfang würdigen. Die Europä-
ische Menschenrechtskonvention ist heute ganz ohne
Zweifel zum umfassendsten und zum effektivsten regio-
nalen Menschenrechtssystem geworden, das gegenwärtig
auf der Welt existiert. Es ist gelungen, den Schutz der
Menschenrechte trotz aller Schwierigkeiten in bemer-
kenswerter Weise voranzubringen. Auch wegen der Euro-
päischen Menschenrechtskonvention ist Europa – bei al-
len Schwierigkeiten und bei all dem, was noch verbessert
werden muss – zu dem Kontinent geworden, in dem Men-
schenrechte und Menschenrechtsschutz einen hervorra-
genden Platz einnehmen. Allerdings galt das während des
Kalten Krieges und der Teilung Europas freilich
zunächst nur für den westlichen Teil.

Nach der Überwindung von Mauern und Stachel-
drahtzäunen bemühen sich heute alle 41 Mitgliedstaaten
des Europarates, Menschenrechte und Menschenrechts-
schutz in ganz Europa zu verankern. Dabei ist die Euro-
päische Menschenrechtskonvention zur Eintrittskarte in
ein Europa der Menschenrechte, des Friedens, der Frei-
heit, der Sicherheit und des Rechts – man spricht auch
vom Dreiklang von Demokratie, Menschenrechten und
Rechtsstaat – geworden. Damit wiederholt sich nach der
Überwindung der Spaltung Europas das, was wir Deut-
sche in der jungen Bundesrepublik Deutschland nach dem
Krieg vor 50 Jahren erleben durften: der Aufbau Europas
durch Schaffung einer – jetzt größeren – Gemeinschaft
demokratischer Rechtsstaaten.




Präsident Wolfgang Thierse

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Worin liegen nun die Besonderheit und die Bedeutung
der EMRK? Der Präsident des Europäischen Men-
schenrechtsgerichtshofs in Straßburg, Luzius Wildhaber,
hat die Entwicklung einmal so zusammengefasst: Nach
50 Jahren

wissen wir: Die Konvention war ihrer Anlage nach
von Anfang an ein Text, der geeignet war, auf die
Rechtsordnungen der Vertragsstaaten einschneidend
und entscheidend zu wirken. Mit ihrem Vertrauen in
die Europäische Menschenrechtskommission und in
den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
waren es die Bürger, die mit ihrem Gang nach Straß-
burg den Konventionsorganen die Möglichkeit ga-
ben, die Rechte und Freiheiten der Konvention zur
Wirkung zu bringen.

In der Tat waren die Auswirkungen jener Konvention
tief greifend. Allerdings waren sie bei uns in der Bundes-
republik Deutschland national weit weniger spürbar als in
den anderen Mitgliedstaaten. Das ist leicht zu erklären,
weil die einklagbaren Grund- und Freiheitsrechte der
EMRK, also das Recht auf Leben, das Verbot von Folter,
Sklaverei und Zwangsarbeit, das Recht auf Freiheit, auf
Sicherheit, auf wirksame Beschwerde, auf ein faires Ver-
fahren, auf Achtung des Privat- und Familienlebens und
auf Eheschließung, die Gedanken-, Gewissens- und Reli-
gionsfreiheit, die Freiheit der Meinungsäußerung, die
Versammlungs- und Vereinsfreiheit, das Diskriminie-
rungsverbot und der wichtige Grundsatz, dass keine
Strafe ohne geltende Gesetze ausgesprochen und verhängt
werden darf, in unserer nationalen Grundrechteordnung
verankert sind. Zudem sind diese Rechte im Grundgesetz
präziser formuliert und in einigen Teilen gehen sie weit
über die Europäische Menschenrechtskonvention hinaus.

Lediglich – auch das soll erwähnt werden – der Grund-
satz der Versammlungsfreiheit und der Vereinigungsfrei-
heit ist in der Europäischen Menschenrechtskonvention
als Jedermannsrecht verankert und damit weiter ausge-
staltet als in der Bundesrepublik Deutschland.

Hinzu kommt, dass bei uns die Individualbeschwerde
zum Europäischen Gerichtshof im Bewusstsein unserer
Bevölkerung durch unsere außerordentlich bedeutungs-
volle und auch weit reichende nationale Verfassungsbe-
schwerde zum Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe et-
was verdrängt oder zumindest zurückgedrängt wurde.

Dennoch können und wollen wir festhalten, dass die
Einführung der Individualbeschwerde, die nun neben der
Staatenbeschwerde besteht, ein absolutes Novum im Völ-
kerrecht darstellt und einen wichtigen Meilenstein mar-
kiert, und zwar sowohl auf europäischer Ebene als auch
– das sollten wir nicht vergessen – in jenen Mitgliedstaa-
ten, die weniger wirksame Systeme des gerichtlichen
Grundrechtschutzes kannten oder kennen als wir in der
Bundesrepublik Deutschland. Dort hat sie große Wirkung
gezeigt und – genau wie die Verfassungsbeschwerde in
Deutschland – ganz entscheidend dazu beigetragen,
Grund- und Menschenrechte durchzusetzen und sie für
die Bürgerinnen und Bürger in der Praxis erfahrbar zu
machen. Damit hat die Individualbeschwerde die Grund-
und Menschenrechte nicht nur zum gesicherten Bestand
der europäischen Rechtskultur werden lassen, sondern

auch zu deren Verankerung im Bewusstsein der Menschen
beigetragen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie des Abg. Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU])


Insgesamt besitzt heute die Europäische Menschen-
rechtskonvention – auch das kann festgestellt werden –
ihre besondere Bedeutung deshalb, weil sie einen gesamt-
europäischen Mindeststandard an Grund- und Men-
schenrechten enthält und damit – dies gilt auch für die
Rechtsprechung des Europäischen Menschenrechts-
gerichtshofes – nicht allein die Tradition eines Landes re-
präsentiert und in die Rechtsprechung einbringt, sondern
die ganz unterschiedlichen Rechtstraditionen, Befindlich-
keiten und Zustände der 41 verschiedenen Mitgliedstaa-
ten des Europarates.

Sie gilt heute – das macht ebenfalls ihre Bedeutung aus –
für mehr als 800 Millionen Menschen und sichert für sie
alle einen Mindeststandard an Grund- und Menschen-
rechten. Das sucht auf der Welt seinesgleichen.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einiges zur
Geschichte und zu den Auswirkungen der Europäischen
Menschenrechtskonvention in den letzten 50 Jahren in Er-
innerung rufen: Bekanntlich wurde die EMRK durch elf
präzisierende Zusatzprotokolle ergänzt, die teilweise
selbst Bestandteil der EMRK geworden sind. Nächste
Woche wollen wir im Rahmen des Festaktes in Rom das
12. Zusatzprotokoll unterzeichnen. In ihm geht es darum,
auch auf gesamteuropäischer Ebene den Schutz vor Dis-
kriminierungen auszubauen.

Eines dieser Protokolle, nämlich das 6. Zusatzproto-
koll zur Abschaffung der Todesstrafe, möchte ich we-
gen seiner besonderen Bedeutung erwähnen. Wir haben
auf nationaler Ebene in unserem Grundgesetz die Ab-
schaffung der Todesstrafe längst festgeschrieben. Das ist
gut so. Der Grund dafür liegt vor allem in unseren Erfah-
rungen mit der Nazidiktatur, in der aufgrund der damals
bestehenden Rechtlosigkeit ungehemmt auch Gerichte als
Mordinstrumente eingesetzt wurden und massenhaft töd-
licher Machtmissbrauch getrieben wurde. Solche Erfah-
rungen, die Erfahrungen anderer Länder mit Machtmiss-
brauch und nicht mehr korrigierbaren gerichtlichen
Fehlurteilen, aber auch die gültigen Gründe der Moral,
der Menschlichkeit und der Rechtskultur sowie daneben
ganz praktische Erwägungen darüber, was eine wirksame
rechtsstaatliche Kriminalpolitik verlangt, all das ist in das
6. Zusatzprotokoll eingeflossen.

Dieses Zusatzprotokoll hatte große Wirkungen: Es hat
geholfen, die Todesstrafe in Europa Schritt für Schritt
zurückzudrängen. Nur ein einziges Europaratsmitglied,
nämlich die Türkei, hat dieses Zusatzprotokoll bisher
nicht unterzeichnet. Das und andere Probleme im Men-
schenrechtsbereich weisen darauf hin, wie viel noch zu
tun ist. Aufforderungen zu Wandel und effizienter Men-
schenrechtspolitik sind gerade deshalb nicht allein Teil
der Politik des Europarates gegenüber der Türkei, sondern
auch Teil unserer Politik im Rahmen unserer zwi-
schenstaatlichen Beziehungen.

Polen und Russland haben das Zusatzprotokoll noch
nicht ratifiziert. Dennoch ist Europa – das lässt sich heute




Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
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mit großer Genugtuung feststellen – zu einer Region na-
hezu ohne Todesstrafe geworden.

Jetzt zu einem anderen Punkt: Ich möchte darauf
zurückkommen, dass der Präsident des Europäischen
Menschenrechtsgerichtshofes das Vertrauen der Bürge-
rinnen und Bürger in den Menschenrechtsgerichtshof als
Teil der Erfolgsgeschichte der Europäischen Menschen-
rechtskonvention gewürdigt hat. Er hat dies zu Recht
getan. Denn in der Tat, wenden sich der immer mehr
Menschen mit einer Individualbeschwerde an den Men-
schenrechtsgerichtshof in Straßburg, der seit zwei Jahren
als ständiges Gericht mit je einem hauptamtlichen Richter
pro Mitgliedstaat arbeitet. Wir wissen, dass seine Urteile
jene von nationalen Gerichten nicht aufheben können,
auch keine Verwaltungsakte und keine nationalen Ge-
setze. Auch können sie einen Staat nicht zu Gesetzen oder
Verwaltungsakten verpflichten.

Dennoch entfalten seine Entscheidungen große Wir-
kungen, und zwar aus folgenden Gründen: Zum Ersten
gibt es nationale Vorkehrungen wie bei uns in Deutsch-
land. Wir haben zum Beispiel mit der Möglichkeit zur
strafverfahrensrechtlichen Wiederaufnahme eine die-
ser Wirkungen in Gang gesetzt. Zum Zweiten ist aber
auch die Zuerkennung von Entschädigungen für den in
seinen Menschenrechten verletzten Kläger eine wirksame
Maßnahme. Die Mitgliedstaaten müssen diese Entschädi-
gungen bezahlen. Sie sind durchaus spürbar. Zum Dritten
wirkt sich auch die Erwartung der europäischen Rechts-
gemeinschaft sehr deutlich dahin aus, dass nationale Ge-
setze, die der Europäischen Menschenrechtskonvention
nicht entsprechen, zügig geändert werden. Das wird durch
das Ministerkomitee des Europarates kontrolliert.

Lassen Sie mich noch hinzufügen: Weil mit den Ver-
fahren in Straßburg häufig allgemeine Missstände der
Menschenrechtspraxis in einem Land deutlich und damit
publik gemacht werden, beschränken sich die Auswir-
kungen eines Urteils – ganz ungeachtet seiner begrenzten
juristischen Bindungswirkung – keineswegs auf Einzel-
fälle. All das zusammen ergibt den derzeitigen wirksamen
Menschenrechtsschutz.

In diesem Jahr sind bisher 15 000 Verfahren in Straß-
burg registriert und geprüft worden. Das bedeutet gegen-
über dem letzten Jahr einen Anstieg um 22 Prozent. Bis
Ende des Jahres rechnet man mit 16 000 bis 17 000 Ver-
fahren.

Aus welchen Staaten kommen denn nun die Be-
schwerdeführer? Die Antwort auf diese Frage gibt uns
Hinweise darauf, wo bestimmte Menschenrechtsfragen
nicht in Ordnung sind. Auch das muss öffentlich bespro-
chen und diskutiert werden: im Europarat, aber auch zwi-
schen den Staaten sowie zwischen dem Gerichtshof und
den Staaten selbst. Wiederum steht die Türkei mit etwa
2 500 Verfahren an der Spitze. Das ist einerseits ein Zei-
chen des zunehmenden Vertrauens der türkischen Bürge-
rinnen und Bürger in die EMRK und in den Menschen-
rechtsgerichtshof. Es zeigt aber andererseits, dass hier
noch viel zu tun ist.

Nehmen wir ein anderes Land. Aus Italien kommen
2 000 Verfahren. Dort steht in aller Regel – deswegen be-

tone ich das – die Überlänge von gerichtlichen Verfahren
im Vordergrund, die ebenfalls den Grundsatz des fairen
Verfahrens verletzen und damit Menschenrechte beein-
trächtigen können. Auch hier wird ständig auf Abände-
rung der Gesetze und der Verfahren gedrängt.

Aber auch die Bundesrepublik Deutschland hat keinen
Grund, in irgendeiner Weise überheblich zu sein. Aus un-
serem Land kommen noch immer 400 bis 500 Beschwer-
den nach Straßburg. Wir sind hier voll eingebunden. Ganz
offensichtlich gibt es einen Bedarf.

Insgesamt aber – das zeigt eine neue, sehr interessante
Entwicklung – kommt im Jahr 2000 zum ersten Mal die
Mehrzahl aller Beschwerden aus den 17 neuen Mitglied-
staaten Mittel- und Osteuropas, die dem Europarat und
der Europäischen Menschenrechtskonvention vor einigen
Jahren beigetreten sind. Das heißt, auch in diesem Teil Eu-
ropas nehmen das Bewusstsein und die Kenntnis der
Menschenrechte und – lassen Sie mich das wiederholen –
das Vertrauen in das europäische Menschenrechtschutz-
system zu.

Aus Russland kommen über 1 000 Beschwerden. Ein
erheblicher Teil bezieht sich übrigens auf den Tschetsche-
nien-Krieg.

Diese Zahlen zeigen nicht nur die Wirksamkeit und das
Vertrauen in diesen Schutz der Menschenrechte, sondern
sie weisen natürlich auch auf einen Problembereich hin,
der ebenfalls besprochen werden muss: auf die Gefahr,
dass der Menschenrechtsgerichtshof zum Opfer seines ei-
genen Erfolgs wird, weil er mit Beschwerdeverfahren
überschwemmt wird. Hier beginnt die Verpflichtung der
Bundesrepublik Deutschland – von der ich vorher ge-
sprochen habe – Abhilfe zu schaffen. Ich erkläre an dieser
Stelle: Die Bundesregierung bejaht ihre Verantwortung.
Wir werden alles in unseren Kräften Stehende tun, um die
Arbeitsfähigkeit des Menschenrechtsgerichtshofes zu er-
halten.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie der Abg. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [F.D.P.])


Das bedeutet nicht nur, dass man die Arbeitsweise un-
terstützt oder mit finanziellen und praktischen Mitteln
hilft, sondern das kann auch bedeuten, dass man dafür
sorgt, die Entscheidungen dieses Gerichtshofs durch
Übersetzungen in allen Sprachen der Mitgliedstaaten be-
kannt zu machen. Bisher gibt es zwei Amtssprachen.
Natürlich ist die weitergehende Übersetzung ein teueres
und lästiges Geschäft; das ist gar keine Frage. Aber die
Entscheidungen von europäischen Gerichten können nur
dann in den jeweiligen Nationalstaaten zur Kenntnis ge-
nommen, rezipiert und dann dort in ihrer Vorbildfunktion
beachtet werden, wenn sie in der jeweiligen Landesspra-
che zur Verfügung stehen. Das sehen wir an der Wirk-
samkeit der Urteile des Europäischen Gerichtshofs in
Luxemburg, wo das ja so ist. Es ist aber doppelt so not-
wendig für den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof
und seine Aufgabe, für 41 ganz unterschiedliche Staaten
einen gemeinsamen Bestand an Grund- und Menschen-
rechten zu sichern. Ich glaube, auch hier kann die Bun-
desrepublik Deutschland helfen.




Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin

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Neben den juristischen Instrumenten der Staaten und
der Individualbeschwerde gibt es eine Menge politischer
Instrumente, die ihre Wirksamkeit sehr deutlich bewiesen
haben. Lassen Sie mich zwei nennen, die präventiv wir-
ken: den 1987 durch das Europäische Übereinkommen
zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder er-
niedrigender Behandlung oder Strafe geschaffenen Anti-
Folter-Ausschuss, der die Aufgabe hat, in den Mitglied-
staaten die Rechte gerade jener Menschen zu sichern,
denen die Freiheit entzogen wurde, und die 1993 durch
den Wiener Gipfel der Staats- und Regierungschefs ein-
gesetzten so genannten Country-by-country-Gruppen
der Europäischen Kommission gegen Rassismus und In-
toleranz, ECRI. Auch die Bundesrepublik Deutschland ist
in diese politischen Instrumente eingebunden.

Der Ausschuss zur Verhütung von Folter und un-
menschlicher Behandlung geht nicht nur in anderen Län-
dern, sondern auch bei uns in psychiatrische Anstalten,
Haftanstalten und Einrichtungen, in denen Asylsuchende
festgehalten werden. Findet er Mängel oder Beanstan-
dungen, fasst er diese in einem Bericht zusammen und
legt sie der internationalen Gemeinschaft, aber auch der
Bundesrepublik Deutschland vor; er gibt konkrete Emp-
fehlungen und drängt darauf, dass abgeholfen wird.

Die Country-by-country-Gruppen untersuchen, was
Mitgliedstaaten gegen Rassismus und Intoleranz in ihrem
jeweiligen Staat tun; gerade in dieser Woche ist eine De-
legation in der Bundesrepublik Deutschland. Wir werden
ihr eine Menge zu erklären haben – ich denke, das können
wir auch tun –: nicht nur, dass die Bundesrepublik, und
zwar auf allen Ebenen, mit Polizei und Justiz gegen Ge-
walt, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit vorgeht, son-
dern dass wir alle auch deutlich auf die Zivilcourage der
Bürgerinnen und Bürger, auf ihren Anstand und auf ihr
Engagement zur Durchsetzung der Menschenrechte in
diesem Bereich setzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute gilt die Euro-
päische Menschenrechtskonvention für 800 Millionen
Menschen. Aber der Beitritt zu dieser Konvention – wie
auch der Beitritt zum Europarat – bedeutet noch mehr: Er
stellt politisch einen wichtigen Schritt zum EU-Beitritt
dar. Aktive Mitarbeit in der Menschenrechtspolitik ist ein
Vorbereitungsschritt für einen späteren Beitritt zur Euro-
päischen Union. Über Art. 49 und Art. 6 des EU-Vertra-
ges ist die Europäische Menschenrechtskonvention prak-
tisch Teil des Gemeinschaftsacquis. Die Bundesrepublik
unterstützt bekanntlich Staaten in Mittel- und Osteuropa
auf ihrem Weg zum demokratischen Rechtsstaat. Mit die-
ser Hilfe beim Aufbau geben wir das Vertrauen weiter, das
wir selber nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten haben.

Lassen Sie mich zum Schluss noch auf einen anderen
wichtigen Punkt hinweisen. Vor kurzer Zeit hat der Deut-
sche Bundestag den Text der neu erarbeiteten Europä-
ischen Grundrechte-Charta der Europäischen Union
diskutiert und ausdrücklich begrüßt, dass es gelungen ist,
die Europäische Menschenrechtskonvention, den Bestand
an nationalen Grundrechten in den Mitgliedstaaten und
die Grundrechterechtsprechung des Europäischen Ge-

richtshofs in Luxemburg sowie auch die nationalen
Grundrechteordnungen zu dieser gemeinschaftlichen,
modernen Charta weiterzuentwickeln.

Das Verhältnis zwischen dieser Grundrechte-Charta
und der EMRK ist klar und durch die Charta selbst gere-
gelt; Konflikte sind deshalb ausgeschlossen. Die Konven-
tion ist wichtige Quelle, eine Art von Mindestgarantie.
Die Europäische Grundrechte-Charta trägt dazu bei, den
europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des
Rechtes im Bereich der EU auszubauen und zu festigen.
Sie ist präziser, umgreift ein höheres Schutzniveau und ist
insgesamt moderner. Ich stelle das fest, weil ich glaube,
dass die Charta uns weiterbringt, und weil die Grund-
rechte-Charta vielleicht auch als ein Vorbild für die Wei-
terentwicklung der Europäischen Menschenrechtskon-
vention dienen kann, die vor 50 Jahren sozusagen als
erstes europäisches Gesetz in schwieriger Zeit den Boden
dafür bereitet hat, auf dem wir heute weiterarbeiten kön-
nen.

Die Bundesregierung und der Bundestag haben die
Menschenrechtspolitik zu einem ihrer wichtigen Schwer-
punkte erklärt. Wir kommen voran. Die Arbeit des
Menschenrechtsausschusses und der erweiterte Men-
schenrechtsbericht, der auch eine Übersicht über das ent-
hält, was wir in unserem eigenen Land erreicht haben und
was wir noch tun müssen, zeigen das ebenso wie das
beabsichtigte eigenständige und unabhängige Men-
schenrechtsinstitut.Wir betonen die Menschenrechtspo-
litik auch auf internationaler Ebene und führen Rechts-
staatsdialoge. Morgen werden wir voraussichtlich die
Voraussetzungen zur Ratifizierung des Statuts des Inter-
nationalen Strafgerichtshofs durch die Bundesrepublik
Deutschland schaffen können. Das alles ist gut für die
Menschenrechte und ihren Schutz.

Der große Europäer Carlo Schmid hat in der Debatte
des Deutschen Bundestages über den Beitritt zur EMRK
erklärt, es gehe darum,

die Verteidigung der Sache der Freiheit des Einzel-
menschen aus der bloßen Sphäre der nationalstaatli-
chen Jurisdiktion herauszunehmen und zu einer in-
ternationalen Angelegenheit, zu einem Anliegen der
Völker, zu machen.

Das ist gelungen und diesen Weg werden wir fortset-
zen.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412700100
Ich erteile dem Kolle-
gen Christian Schwarz-Schilling, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.


Dr. Christian Schwarz-Schilling (CDU):
Rede ID: ID1412700200
Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Immanuel Kant hat von den universellen Menschenrech-
ten gesprochen und sie als Ausprägungen der gleichen
Freiheit eines jeden Menschen nach seiner Natur inter-




Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
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pretiert. Aber unsere historische Erfahrung zeigt, dass die
Umsetzung dieser Rechte und dieses Menschenbildes in
die Politik und in die Strukturen unserer gesellschaftli-
chen Situation ein ganz mühsamer Prozess ist, der ständi-
ges Argumentieren, Diskutieren und Appellieren an die
Vernunft sowie das Wegräumen von Barrieren auch aus
früheren Zeiten erfordert.

Die Macht von Diktatoren in totalitären Staaten wird
nicht von einem Tag auf den anderen gebrochen; es dau-
ert manchmal lange, zu lange. Das zeigen die Leiden der
Menschen, wie wir sie auch heute sehen können. Der
Weg, den Jugoslawien genommen hat, bietet ein gutes
Beispiel dafür, wie lange es dauert, welche Kernerarbeit
geleistet werden muss und wie sehr diejenigen, die eine
solche Charta vereinbart und verabschiedet haben, in der
aktiven politischen Handlung versagen, wenn es darauf
ankommt. Wir können nur bestehen, wenn wir das, was
wir in dieser Charta festgelegt haben, jeden Tag wieder
mit neuem Leben erfüllen.

Es ist kein Zufall, dass nach 1945, in der Zeit nach dem
Zweiten Weltkrieg, als wir auf dem Scherbenhaufen un-
serer Geschichte standen, eine ganze Reihe von solchen
Dokumenten entstanden ist: 1945 die sehr beachtliche
Gründungsentschließung der Vereinten Nationen, 1948
die Charta der Menschenrechte der Vereinten Nationen,
die allerdings keine völkerrechtlichen Bindungen ermög-
lichte, und dann 1950 die Europäische Menschenrechte-
Charta; die am 4. November feierlich unterzeichnet
wurde – ein Dokument von ganz besonderer Bedeutung
des 1949 gegründeten Europarates und wahrscheinlich
das gewichtigste Dokument, das dieser Europarat als eine
gewaltige Perspektive der Zukunft hervorgebracht hat.

Europa ist aus dem Schatten herausgetreten. Wir haben
weiß Gott viele, zu viele Ideologien um die Welt ge-
schickt, die viele Katastrophen und Leiden angerichtet ha-
ben. Aber die Europäische Menschenrechte-Charta ist ein
Dokument, das um die Welt gegangen ist und auf das wir
stolz sein können. Auch das gehört zu Europa, ich möchte
fast sagen: Das ist in Wirklichkeit Europa.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen nur an die großen geistigen Entwicklungen
und Ideen denken, angefangen von der Stoa von 300 vor
Christus, in der bereits das Schaffen von Recht und Ge-
setz als die wichtigste Aufgabe der menschlichen Natur
bezeichnet wurde, über die – im Mittelalter – Magna
Charta von 1215, in der Gruppen und Korporationen der
Gesellschaft die Möglichkeit eingeräumt wurde, sich ei-
gene Rechte gegenüber dem Staat zu sichern, über die Ha-
beas-Corpus-Akte von 1679, in der bereits das Individu-
alrecht, der Schutz des Individuums vor staatlichen
Übergriffen, niedergelegt wurde, bis hin zu den Bill of
Rights von 1776 und der Französischen Revolution von
1789, in der gefordert wurde, dass es natürliche Rechte
des Menschen gibt und dass diese nur durch die Rechte
anderer Menschen eingeschränkt werden dürfen.

Die Europäische Menschenrechtskonvention ist – das
wurde eben schon von der Frau Justizministerin gesagt –
damals etwas Einzigartiges und etwas Wegweisendes ge-

wesen. Sie hat sich dazu verstanden, ein bindender
völkerrechtlicher Vertrag mit der Verpflichtung für alle
Vertragspartner zu sein, allen Bürgern, die der Hoheitsge-
walt der Vertragspartner unterworfen sind, grundlegende
Menschenrechte einzuräumen und eine Überwachung der
Einhaltung dieser Menschenrechte in ihrem Hoheitsbe-
reich zuzulassen. Auch das ist vollkommen neu. Des Wei-
teren sind Urteile des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte rechtsverbindlich für alle Partnerstaaten.
Das hat es bisher nicht gegeben. Hier zeigt sich die Fan-
tasie Europas, die sich aus der Tradition entwickelt hat,
die ich eben aufzuzeigen versucht habe.

Nach der Unterzeichnung des 11. Zusatzprotokolls im
Mai 1994, das am 1. November 1998 in Kraft trat, ist
keine gesonderte Unterwerfungserklärung der Staaten
mehr erforderlich, um den Urteilen des Europäischen Ge-
richtshofs für Menschenrechte Rechtsgültigkeit zu verlei-
hen; denn die Mitglieder der Europäischen Union sind
nach dem In-Kraft-Setzen des 11. Zusatzprotokolls auto-
matisch der Rechtsprechung dieses Gerichtshofs unter-
worfen. Darüber kann es keine Diskussion mehr geben.
Zu dieser Unterwerfung haben wir uns alle verpflichtet.

Außerdem wurden hauptamtlich tätige Richter ein-
gesetzt. Auch das ist ein wesentlicher Punkt; denn bis in
die 80er-Jahre hinein wurden die Sitzungen des Europä-
ischen Gerichtshofs für Menschenrechte nur von neben-
amtlich tätigen Richtern geleitet, die zwar – sehr konzen-
triert – einige Male pro Jahr tagten, dann aber nicht mehr.
Auf diese Weise konnten gerade einmal sieben Urteile pro
Jahr gefällt werden. Das ist nun vorbei. Im Mai dieses Jah-
res waren beim Europäischen Gerichtshof für Menschen-
rechte 13 771 Verfahren anhängig, von denen 10 000 noch
nicht einmal geprüft worden waren. Deswegen müssen
wir dafür sorgen, dass der Gerichtshof angemessen aus-
gestattet wird – daran sollten wir immer denken –, um die
Prozesse nicht zu bürokratisch und damit wirkungslos
werden zu lassen. Die Gefahr, dass das geschieht, ist mo-
mentan sehr groß. Schließlich ist ein völkerrechtlich ver-
ankertes Individualrecht auf Beschwerde ebenfalls etwas
Neues in unserer Welt.

Die Europäische Menschenrechtskonvention gilt – das
ist großartig; daran kann man sich berauschen – mittler-
weile für 800 Millionen Menschen in Europa, von Island
bis zum Gelben Meer. Aber wir müssen hier im Kernbe-
reich Europas gewissermaßen ein Nukleus sein, um die
Kompetenz, die erforderlich ist, um das, was damit ge-
schaffen wurde, mit Leben zu erfüllen, auch sichtbar zu
machen. Der Bund hat in diesem Bereich große Aufgaben
übernommen. Ich sage deshalb an die Adresse des Außen-
ministers: Uns fällt eine große Verantwortung bei der
Beurteilung menschenrechtlicher Tatbestände im Ausland
zu, weil diese Beurteilungen in unsere innerdeutsche
Rechtsprechung einfließen werden und sie für die Men-
schen, die sich in Deutschland in einem Asyl- oder Bür-
gerkriegsflüchtlingsverfahren befinden, Leben oder Tod
bedeuten können, in jedem Fall schicksalsentscheidend
sind. Das ist eine unglaubliche Verantwortung, der wir
uns offensichtlich – ich muss sagen: jedenfalls manch-
mal – nur sehr zögerlich bewusst werden.

Auch die deutschen Bundesländer stehen in der Ver-
antwortung; denn hinsichtlich dessen, was nach dem




Dr. Christian Schwarz-Schilling

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Grundgesetz in ihre Zuständigkeit fällt, ist noch viel an-
zupacken. Ein positiver Beitrag der Bundesländer zu die-
sem dynamischen Prozess im 21. Jahrhundert ist sehr er-
wünscht. Auch da muss man die Dinge neu prüfen und
genau sehen, was die Anforderungen sind, die über diese
europäische Konvention an unsere Zuständigkeiten ge-
stellt werden. Dieses Bewusstsein ist noch sehr schwach
ausgebildet. Das muss ich einmal deutlich sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Meine Damen und Herren, vergessen wir auch nicht
die großen Leistungen, die uns die Nichtregierungsorga-
nisationen auf diesem Feld vormachen. Was würde alles
unter den Teppich gekehrt, wenn wir die nicht hätten! Was
würde alles gar nicht erscheinen!


(Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Diesen Organisationen kann man nur danken. Ich rate all
denen, die es auch bei uns gibt, ihre Arroganz gegenüber
diesen Organisationen mehr und mehr abzustreifen, denn
sie sind die wahren Wahrer europäischer Tradition und
europäischer Kultur, ob man das jetzt „Leitkultur“ nennt
oder nicht. Das, meine Damen und Herren, sind die Fra-
gen, die Europa ausmachen, und das ist auch die deutsche
Verfassungskultur, die in Deutschland das Grundgesetz
ausmacht. Wenn wir uns darauf verstehen, braucht man
auch nicht mehr darüber zu streiten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Lassen Sie mich zum Schluss Folgendes sagen: Der
große Völkerrechtler Hugo Grotius, der im Übrigen fast
sein ganzes Leben im Exil leben musste, auch damals in
Europa, hat schon im 16. Jahrhundert gesagt: Wir müs-
sen uns mit allen unseren Kräften –„omnibus viribus“ –
jetzt und jederzeit gegen das Herabfließen der Dinge
wehren. – Das heißt, er hat erkannt, dass die Natur des
Menschen es leider zulässt, dass ein erreichter Stand ganz
schnell wieder hinunterfließen kann.

Das kann uns hier ganz genauso passieren. Was haben
wir nicht schon alles auch vor den 30er-Jahren an Errun-
genschaften gehabt, und dennoch müssen wir feststellen,
dass der Barbarei, die dann gekommen ist, kein energi-
scher Widerstand entgegengesetzt wurde, trotz schon da-
mals bestehender Verpflichtungen.

Nein, auf diesem Feld müssen wir die Dinge, die vor
uns liegen, anpacken und jede Generation muss wenigs-
tens ein sichtbares Stück auf diesem beschwerlichen Weg
weiter nach oben gehen. Das ist politische Arbeit und
gleichzeitig Arbeit an unserer Kultur. Daran wird sich
auch entscheiden, nach welchem Leitbild die junge Ge-
neration ihren Beitrag leisten wird.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412700300
Ich erteile dem Kolle-
gen Rudolf Bindig, SPD-Fraktion, das Wort.


Rudolf Bindig (SPD):
Rede ID: ID1412700400
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! In der Tat ist mit der Europäischen
Menschenrechtskonvention ein einzigartiges System zum
Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten geschaf-
fen worden. Die Frau Ministerin und mein Vorredner
haben dies bereits gewürdigt, und ich kann mich dieser
Würdigung anschließen. Ich kann deshalb meine Aus-
führungen auf drei Bereiche konzentrieren, in denen es in
einem gewissen Sinne Probleme gibt, die beachtet werden
müssen, damit wir dieses wertvolle Schutzsystem erhal-
ten können. Es geht um die Arbeitsfähigkeit des Europä-
ischen Gerichtshofes für Menschenrechte, es geht um die
Probleme bei der Umsetzung der Urteile und um das Ver-
hältnis der Europäischen Menschenrechtskonvention zur
Europäischen Grundrechte-Charta.

Herzstück des gesamten Systems ist der Gerichtshof.
Es muss ihm ermöglicht werden, dass er zeitgerecht qua-
litativ hochwertige Urteile fällt. Der Europäische Ge-
richtshof für Menschenrechte sieht sich einer dramatisch
wachsenden Zahl von Fällen ausgesetzt. Einige Zahlen
sind genannt worden. Ich will das noch einmal in die
Reihe bringen.

Während sich die Zahl der jährlich registrierten Be-
schwerden von 404 im Jahre 1980 auf 2 037 im Jahre
1993 verfünffacht hat, hat sich diese Zahl nach der Er-
weiterung in Richtung Osteuropa bis 1997 nochmals auf
4 750 verdoppelt. Von 1997 bis 1999 gab es erneut eine
Zunahme um 77 Prozent. Diese Tendenz wird sich weiter
fortsetzen. Nach realistischen Schätzungen des Präsi-
denten des Europäischen Gerichtshofes für Menschen-
rechte, des Schweizers Luzius Wildhaber, muss bei der-
zeit 41 und künftig 43 Mitgliedstaaten und 800 Millionen
Beschwerdeberechtigten mit circa 20 000 Beschwerden
pro Jahr gerechnet werden. Dies kann mit der derzeitigen
Ausstattung nicht bewältigt werden. Der Gerichtshof wird
schon in diesem Jahr, aber auch, wenn sich daran nichts
ändert, im Laufe der nächsten Jahre einen erheblichen
Rückstand aufbauen und den Erwartungen, die die Men-
schen in Europa diesem Rechtsschutzsystem entgegen-
bringen, nicht mehr voll gerecht werden können. Eine re-
striktive Budgetpolitik auf der Grundlage eines so
genannten realen Nullwachstums bei den Mitteln für den
Europarat, wie es von den so genannten großen Beitrags-
zahlern, darunter auch Deutschland, betrieben wird, passt
mit einem drastischen Wachstum der Fälle einfach nicht
zusammen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der PDS und der Abg. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [F.D.P.])


Es wird sonst zu einem K.o. kommen. Der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte wird genau jenes Pro-
blem haben, welches er selber in Urteilen oft verurteilt,
nämlich dass es überlange Verfahrensdauern gibt.

Dem Gerichtshof geht es dabei ähnlich wie den ande-
ren Institutionen des Europarates. Der Präsident der Par-




Dr. Christian Schwarz-Schilling
12130


(C)



(D)



(A)



(B)


lamentarischen Versammlung, Lord Russell-Johnston, hat
das neulich etwas verbittert wie folgt ausgedrückt: Re-
gelmäßig kommen zum Europarat Staats- und Regie-
rungschefs, halten in der Versammlung eine Rede, loben
und preisen den Europarat und seine Institutionen und
würdigen den Beitrag des Europarates zum Schutz der
Menschenrechte, zur Förderung von Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit und gehen, ohne zu beachten, dass
gute Arbeit auch ihren Preis hat. Man könne, so Lord
Russell-Johnston, auch nicht in ein gutes Restaurant ge-
hen, hervorragend speisen und gut trinken und dann glau-
ben, dafür müsse man keinen angemessenen Preis zahlen
oder man bekomme dies zu einem Preis für ein Kantinen-
essen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Präsident Wildhaber – ich habe ihn danach gefragt –
schätzt, dass das Problem von allen Mitgliedsländern mit
etwa 3 Millionen Euro gelöst werden könne. Nach dem
üblichen Schlüssel wären das für Deutschland
450 000Euro. Es müsste doch möglich sein, dies aufzu-
bringen.


(Beifall im ganzen Hause)

Ein weiterer Problemkreis ist die Umsetzung der Ur-

teile. Die Staaten müssen einmal die Urteile in den Fällen
umsetzen, an denen sie selbst beteiligt sind. Die Staaten
müssen aber auch beachten, dass andere Fallentscheidun-
gen Auswirkungen auf das eigene Rechtssystem und die
eigene Rechtspraxis haben. Es ist die Aufgabe des Minis-
terkomitees, die Ausführung der Urteile zu überwachen.
Die Konvention sieht jedoch keine Sanktionen vor, wenn
ein Staat die Urteile des Gerichtshofes nicht ausführt. Hier
gibt es Anlass zu wachsender Sorge. Es gibt bisher –
Gott sei Dank – nur einige wenige Fälle, in denen die be-
troffenen Staaten die Urteile nicht oder nur unzureichend
umgesetzt haben. Es kann aber auch sein, dass sie nicht
die notwendigen Reformen vornehmen, die sie eigent-
lich vornehmen müssten, um weitere Verletzungen zu
vermeiden. Die Gründe dafür mögen vielfältig sein:
Schwierigkeiten bei der Interpretation der Urteile, politi-
sche Gründe, finanzielle Gründe, Schwierigkeiten, dies
vor der öffentlichen Meinung im Lande umzusetzen.
Trotzdem ist es äußerst wichtig, dass darauf geachtet
wird, dass die Urteile wirklich ausgeführt werden. Damit
steht und fällt das ganze System. Es besteht sonst die Ge-
fahr, dass all das unterminiert wird, was in 40 Jahren seit
Bestehen der Maschinerie aufgebaut und an Vertrauen ge-
schaffen worden ist.

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates
hat sich mit dieser Problematik befasst und hat vorge-
schlagen, dass einige Änderungen vorgenommen werden
sollten. Dem Ministerkomitee müssen erweiterte Kompe-
tenzen zur Überwachung der Einhaltung der Urteile zu-
geteilt werden. Es muss sogar daran gedacht werden, ein
System, gegebenenfalls ein Strafgeldsystem, für diejeni-
gen Staaten zu schaffen, die sich hartnäckig weigern, die
Urteile umzusetzen.

Obwohl es nur wenige solche Fälle gibt, muss dies be-
reits heute sehr ernsthaft diskutiert werden; denn es ist zu
befürchten, dass das Problem mit der anwachsenden Zahl

der Fälle, die aus den neuen Beitrittsländern kommen, an
Bedeutung zunehmen wird und dass die Bereitschaft zur
Umsetzung der Urteile eher abnehmen wird. Deshalb
muss im heutigen Stadium den Anfängen gewehrt und ge-
gengearbeitet werden.

Als dritten Problemkreis möchte ich das Verhältnis der
Europäischen Menschenrechtskonvention zur Europä-
ischen Grundrechte-Charta anschneiden. Der Grundge-
danke der Europäischen Menschenrechtskonvention ist ja
folgender: Man hat einerseits ein in sich geschlossenes
Rechtssystem, in unserem Staat zum Beispiel das Grund-
gesetz als Maßstab für die nationale Gesetzgebung, dann
die einzelnen Gesetze und zur Überprüfung die obersten
Bundesgerichte oder das Bundesverfassungsgericht. Die
Idee der Europäischen Menschenrechtskonvention ist
nun, dass man eine Kontrollmöglichkeit von außen hat,
um dieses System gegebenenfalls zu überprüfen. Das
macht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.
Übertragen wir das auf die europäische Ebene, dann ha-
ben wir jetzt die europäische Grundrechte-Charta als
Grundlage des Gemeinschaftsrechts, dann das Gemein-
schaftsrecht und den Europäischen Gerichtshof. Auch
dieses System könnte eine Überprüfung von außen ge-
brauchen. Eine solche Überprüfung könnte nur dadurch
erfolgen, dass die Europäische Union der Europäischen
Menschenrechtskonvention beitritt.


(Beifall der Abg. Sabine LeutheusserSchnarrenberger [F.D.P.])


Dann bestünde die Möglichkeit, auch dieses System über
den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof zu über-
prüfen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Diejenigen hier im Deutschen Bundestag, die im Euro-
parat aktiv sind, haben sich dafür eingesetzt, dass die Ver-
sammlung diese Forderung erhebt. Es gibt hierzu eine
breite Unterstützung. Ich fordere hier die Regierung auf,
im Ministerkomitee und in der Europäischen Union die
Arbeit aufzunehmen. In beiden Institutionen müssen Än-
derungen vorgenommen werden, damit die Europäische
Union der Europäischen Menschenrechtskonvention bei-
treten kann.

Das waren drei Problemkreise, die, aufbauend auf dem
so hervorragenden System, in die Zukunft weisen. Ich
hoffe, dass es gelingen wird, einiges davon umzusetzen,
damit dieses System erhalten und gestärkt werden kann.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412700500
Ich erteile der Kolle-
gin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, F.D.P.-Frak-
tion, das Wort.


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Rede ID: ID1412700600

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!




Rudolf Bindig

12131


(C)



(D)



(A)



(B)


Zu Recht befasst sich der Deutsche Bundestag heute zur
besten Sendezeit mit der Europäischen Menschenrechts-
konvention. Sie wurde vor 50 Jahren als europäische Ant-
wort auf die menschenverachtende Ideologie des Natio-
nalsozialismus, auf Rassismus und Fremdenfeindlichkeit
und auf die mit dieser Überzeugung begangenen unge-
heuerlichen Verbrechen formuliert und in nur 15Monaten
Vorbereitungszeit als erste Konvention des Europarates
erarbeitet. Heute gibt es 173 Konventionen und Ver-
tragswerke des Europarates. Rassenhass, Ausländerhass,
Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit wird mit der
Europäischen Menschenrechtskonvention die Unantast-
barkeit der Würde eines jeden Menschen unabhängig
von seiner Herkunft, seiner Abstammung, seinem Glau-
ben und seiner politischen Überzeugung entgegengestellt.
Das soll die europäische identitätsstiftende Wertordnung
sein, ja, das ist prägend für die Kultur des europäischen
Abendlandes. Die Vielfalt der Kulturen, der Religionen,
der Abstammungen und der politischen Überzeugungen
sollen rassistischer Diskriminierung keinen Raum lassen.
Das muss auch für uns Orientierungsmaßstab sein.


(Beifall im ganzen Hause)

Mit der EuropäischenMenschenrechtskonventionwur-

de die beginnende europäische Einigung von vornherein
auf ein aus damaliger Sicht solides Fundament des Men-
schenrechtsschutzes und der Grundfreiheiten gestellt.
Dies beruhte auf der Erkenntnis, dass es ohne Menschen-
rechte und ohne die Anerkennung der menschlichen
Würde keine Freiheit, keine Gerechtigkeit und keinen
Frieden gibt.

Lassen Sie mich an dieser Stelle etwas eigentlich
Selbstverständliches betonen: Die Kodifizierung von
Menschenrechten schafft nicht neue Rechte. Jeder
Mensch besitzt von Geburt an unantastbare, unveräußer-
liche Rechte und Freiheiten. Niemand kann sie ihm geben
oder gewähren; sie können nur durch staatliches oder
auch nicht staatliches Handeln eingeschränkt oder ent-
zogen werden. Das ist nicht nur europäisch-abendländi-
sche Ansicht, sondern kann universelle Geltung bean-
spruchen. Spätestens seit der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 ist das
klar. Aber wie schwer die Durchsetzung der Menschen-
rechte ist, lesen wir jeden Tag in der Zeitung und können
wir jeden Abend den Nachrichten entnehmen.

Es ist schon betont worden, dass im Gegensatz zu an-
deren internationalen Menschenrechtspakten gerade die
Europäische Menschenrechtskonvention einen wirksa-
men Mechanismus zur Durchsetzung der gewährleiste-
ten Rechte besitzt. Das gilt besonders für das 11. Zusatz-
protokoll, das die heutige Handlungsfähigkeit des
Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes erst geschaf-
fen hat. Er ist zu Recht von allen Vorrednern gerühmt und
hervorgehoben worden. Ich kann nur sagen: Wir müssen
alles tun, auch in dem eigentlich eher unbedeutenden Teil
der finanziellen Unterstützung, um die Arbeit des Euro-
päischen Menschenrechtsgerichtshofes für die Zukunft zu
sichern. Denn wenn er nicht arbeiten kann und nicht dem
gerecht wird, was die 800 Millionen Bürger erwarten, die
in den Mitgliedstaaten des Europarates leben, dann wird

diesen das Fundament des europäischen Menschenrechts-
schutzes genommen werden.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der PDS)


Deshalb fordern wir in unserem Antrag alle gemeinsam
unter anderem die entsprechende finanzielle Ausstattung.

Aber lassen Sie mich auch einen Blick auf die Auswir-
kungen der Europäischen Menschenrechtskonvention auf
die deutsche Rechtsprechung werfen. Die in ihr enthalte-
nen Verfahrensgarantien gehen zum Teil über die
Gewährleistungen des Grundgesetzes und der Strafpro-
zessordnung hinaus und harren noch der Entdeckung
durch kreative Verteidigung. Lassen Sie mich nur zwei
Beispiele nennen.

Erstens. Die in Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Men-
schenrechtskonvention ausgesprochene Unschuldsver-
mutung und deren Auslegung durch den Europäischen
Menschenrechtsgerichtshof hat das Bundesverfassungs-
gericht 1987 dazu veranlasst, deutlich zu machen, dass
die Garantien unserer Verfassung – dazu gehört die Un-
schuldsvermutung – im Lichte der Europäischen Men-
schenrechtskonvention und deren Interpretation durch
den Straßburger Gerichtshof auszulegen sind. Damit ha-
ben wir in diesem Punkt eine unmittelbare Wirkung der
Rechtsprechung des Gerichtshofes auf unsere Auslegung
von Gesetzen.

Das gilt zweitens für den Grundsatz des fairen Ver-
fahrens, der Waffengleichheit zwischen Ankläger und
Angeklagtem, der dem Gedanken des Art. 6 Abs. 1 der
Europäischen Menschenrechtskonvention entnommen
worden ist. Wie sich die Rechtsprechung in dieser Hin-
sicht noch entwickeln wird, zum Beispiel im Blick auf
den „agent provocateur“, kann man heute noch gar nicht
absehen.

Aber diese Beispiele zeigen, dass der häufig verbrei-
tete, beruhigende Befund, dass die Europäische Men-
schenrechtskonvention nichts enthalte, was in Deutsch-
land nicht ohnehin durch die Grundrechte in der
Verfassung oder zumindest durch die Strafprozessord-
nung garantiert sei, eine glatte Fehldiagnose ist.

In dem gemeinsamen Antrag, der der heutigen Bera-
tung zugrunde liegt, fordern wir die Bundesregierung auf,
sich dafür einzusetzen, dass die Urteile des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte strikt befolgt werden.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf
Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention
– Schutz vor Folter und unmenschlicher, erniedrigender
Behandlung – hinweisen. Denn dieser Artikel hat eine ent-
scheidende Auswirkung auf das Ausländerrecht und die
Abschiebepraxis.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof leitet daraus
einen Abschiebeschutz ab, wenn im Empfängerstaat Fol-
ter oder unmenschliche und erniedrigende Behandlung
droht, und zwar auch, wenn es um Verfolgung vonseiten
nicht staatlicher Organisationen geht.




Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
12132


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir haben das gestern im Menschenrechtsausschuss
mit Ihnen, Frau Ministerin, erörtern können. Wir waren
uns einig, dass die jüngste Rechtsprechung des Bundes-
verfassungsgerichts als positiv anzusehen ist, und haben
uns überlegt, wie dem in unserer Rechtsordnung noch
stärker zum Durchbruch verholfen werden kann. Sie wol-
len mit dem Innenminister über dieses schwierige Thema
sprechen. Aber nehmen wir doch einfach die Rechtspre-
chung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs
auf! Ergänzen wir, Frau Ausländerbeauftragte, § 53 Abs. 4
des Ausländergesetzes und nehmen wir neben der Euro-
päischen Menschenrechtskonvention auch auf die Recht-
sprechung Bezug! Ich glaube, dann hätten wir mit einer
einfachen Änderung deutlich gemacht, wie ernst wir nach
50 Jahren Europäischer Menschenrechtskonvention und
Rechtsprechung des Gerichtshofes die Auswirkungen auf
unsere nationale Rechtsordnung nehmen.


(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der PDS)


Lassen Sie mich zum Schluss nur einige wenige Be-
merkungen zu den entscheidenden Impulsen der Europä-
ischen Menschenrechtskonvention auf die Erarbeitung
der Europäischen Grundrechte-Charta machen. Die
ersten 18 Artikel der EMRK finden sich in einer moder-
neren Formulierung in der Europäischen Grundrechte-
Charta wieder. Das brauchen wir dringend, weil die Euro-
päische Union und die Europäischen Gemeinschaften
nicht Mitglied der Europäischen Menschenrechtskonven-
tion sind. Deshalb setzt sich die F.D.P.-Bundestagsfrak-
tion seit den Beratungen zur Europäischen Grundrechte-
Charta für eine kleine technische Änderung des
Vertragswerks durch den Vertrag von Nizza ein, die den
Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen
Menschenrechtskonvention ermöglicht. Das steht in allen
unseren Anträgen. Denn bis die Europäische Grund-
rechte-Charta in den Verträgen enthalten und verbindlich
sein wird, wird es, vorsichtig geschätzt, noch einmal min-
destens vier Jahre brauchen.

Auf diese Weise könnten wir eine Spaltung des Rechts-
schutzes in Europa verhindern. Gerade sie, Herr Bindig,
wollen wir mit der Europäischen Grundrechte-Charta
nicht erreichen. Vielmehr wollen wir ein möglichst ge-
sichertes und hohes Schutzniveau, sodass es in Europa
keine Bürger zweiter Klasse gibt.

Vielen Dank.

(Beifall im ganzen Hause)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412700700
Ich erteile das Wort
dem Bundesminister Joseph Fischer.


Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412700800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 50 Jahre Eu-
ropäische Menschenrechtskonvention – das bedeutet vor
allem einen großen Erfolg der Lehren, die Europa aus der
Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, aus den furchtbaren
Verbrechen des Deutschen Reiches gezogen hat. Ich
denke, es ist gerade aktuell sehr, sehr wichtig, dass man
daran erinnert, dass es nicht nur außen- und sicherheits-
politische Konsequenzen gegeben hat, dass Demokrati-

sierung nicht nur eine Frage im Innern Deutschlands war,
sondern auch eine Verrechtlichung der Beziehungen zwi-
schen den Staaten und vor allen Dingen einen grenzüber-
schreitenden Grundrechtsschutz für die Bürgerinnen und
Bürger als Antwort auf dieses Zeitalter der europäischen
Diktaturen bedeutet hat.

Dieser historische Ansatz setzt sich von der Missach-
tung der Menschenwürde, der Herabwürdigung von Mit-
menschen und der perversen Rassenideologie, die damals
am Anfang des deutschen Abstiegs ins Verbrechen ge-
standen haben, klar ab. Deutschland hat daraus im ersten
Artikel des Grundgesetzes die Konsequenz gezogen, die
Menschenwürde für unantastbar zu erklären. Dieser his-
torische Ansatz ist heute aktueller denn je.

Wir sehen, dass die Verrechtlichung des Grund-
rechtsschutzes, der über die Grenzen hinweg reicht
– dazu gehört, dass Diktatoren, Folterknechte und all jene,
die sich schwerster Menschenrechtsverbrechen schuldig
gemacht haben, zur Verantwortung gezogen werden –, im
internationalen Staatensystem mehr und mehr um sich
greift.

Der VN-Gerichtshof für das ehemalige Jugoslawien
und der Internationale Strafgerichtshof, der jetzt zur Ahn-
dung solcher Verbrechen eingesetzt wird, sind die Konse-
quenzen aus jener historischen Erfahrung. Am heutigen
Tag, an dem wir den 50. Jahrestag der Europäischen
Menschenrechtskonvention begehen und an dem wir über
sie diskutieren, ist es wichtig, an diese Wurzeln zu erin-
nern. Es ist aber auch wichtig, dass wir die Konsequenzen
aus Erfahrungen der Gegenwart hinsichtlich schwerster
Menschenrechtsverletzungen ziehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Schon bei ihrer Unterzeichnung in Rom im November
1950 ging die Europäische Menschenrechtskonvention
einen entscheidenden Schritt weiter als die Allgemeine
Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen
vom Dezember 1948: Sie war ein bindender völker-
rechtlicher Vertrag; sie schuf einen Gerichtshof, dem sich
die Mitgliedstaaten des Europarates zu unterwerfen hat-
ten; sie eröffnete allen Bürgern den damals bahnbrechen-
den Weg, ihre Rechte individuell einzuklagen. Das war
ein Meilenstein in der Konstitutionalisierung der Völker-
rechtsordnung.

Die Europäische Menschenrechtskonvention ist seit
50 Jahren der ethische und rechtliche Kern der europä-
ischen Wertegemeinschaft, die weit über die Europä-
ische Union hinausreicht. Nahezu 800 Millionen Men-
schen in 41 Staaten können sich heute auf die verbrieften
Grundrechte berufen. Die Bedeutung, dass sich die
Bürger von 41 Staaten auf diesen verbrieften Grund-
rechtsschutz beziehen können, wird deutlich, wenn man
sich bei den Vereinten Nationen umschaut: Diese Rechte
wirken auch über Europa hinaus.

Seit der schnellen Aufnahme der jungen Demokratien
Mittel- und Osteuropas haben der Europarat und die
EMRK wichtige Beiträge zur Förderung von Demokratie
und Menschenrechten in unseren Nachbarstaaten geleis-
tet. Nehmen wir nur das Beispiel der Demokratisierung




Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

12133


(C)



(D)



(A)



(B)


in Jugoslawien. Die Konsequenz daraus wird sein, dass
sich auch diese Region in Richtung eines Beitritts zum
Europarat entwickeln wird. Mit dem Beitritt zum Eu-
roparat würde dann auch dort der individuelle Grund-
rechtsschutz wirken. Neben der Arbeit des UN-Kriegsver-
brechertribunals wird dies ein ganz wichtiger Schritt sein,
mit dem die Bürger eines demokratischen Jugoslawiens in
Kürze in den Schutz der Europäischen Menschenrechts-
konvention einbezogen werden können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [F.D.P.])


Wir reden gerne über das Europa der variablen Geome-
trie; auch der Europarat gehört dazu. Gerade bei der Auf-
arbeitung des furchtbaren Krieges und der schwersten
Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien hat
der Europarat gezeigt, dass er ein wichtiges Instrument
ist, um Russland zur Einhaltung seiner menschen-
rechtlichen Verpflichtungen zu bewegen. Die Parla-
mentarische Versammlung des Europarates hat ihre Rolle
als „demokratisches Gewissen“ Europas beispielhaft
wahrgenommen. Vor dem Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte sind Hunderte von Verfahren anhängig.
Die in Straßburg noch zu fällenden Urteile werden auch
die russische Regierung binden.

Der Menschenrechtsschutz in Europa setzt bis heute in-
ternational hohe Maßstäbe. Aber er ist nichts Statisches.
Die klassischen Grundrechte – das Recht auf Leben, das
Verbot der Folter und der Sklaverei, die Gedanken-, Ge-
wissens- und Religionsfreiheit und andere mehr – sind bei
uns, Gott sei Dank, selbstverständlich. Aber denken wir
einmal 60 Jahre zurück. Damals waren diese Rechte bei
uns alles andere als selbstverständlich. In vielen Gegen-
den der Welt sind diese elementaren und individuellen
Grundrechte noch immer mitnichten eine Selbstver-
ständlichkeit. Diese Rechte wurden über die Jahre durch
Zusatzprotokolle um wichtige Grundrechte ergänzt.

Ich will nur das Protokoll Nr. 6 nennen: die Abschaf-
fung der Todesstrafe. Hier hat Europa meines Erachtens
eine überragende Bedeutung. Im weltweiten Kampf
gegen die Todesstrafe sind Europa, die Europäische
Menschenrechtskonvention, der Europarat und die EU ein
Leuchtturm. Alle Gegner der Todesstrafe, dieser inhuma-
nen Strafe, orientieren sich an Europa. Es gehört für mich
zu den merkwürdigsten Erfahrungen – ich nehme an, Kol-
lege Kinkel, Ihnen wird es genauso gegangen sein –:
Unter den Vertretern der USA, Kubas oder Chinas gibt es
immer dann ein hohes Maß an Übereinstimmung, wenn
man auf die Todesstrafe zu sprechen kommt.

Man muss sich einmal vor Augen führen, welche Be-
deutung die Todesstrafe sogar in der jüngeren europä-
ischen Geschichte, in der Geschichte des 20. Jahrhun-
derts, hatte. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass
aufgrund von Taxifahrermorden und ähnlichen furcht-
baren Verbrechen noch in den 70er-Jahren auch bei uns
immer wieder der Ruf nach der Wiedereinführung der To-
desstrafe laut wurde. In wichtigen europäischen Partner-
ländern ist die Todesstrafe erst in den 70er- und 80er-
Jahren abgeschafft worden. Wenn man sich angesichts
dessen heute die europäische Realität anschaut, nämlich

dass die Todesstrafe in keinem politischen Lager allen
Ernstes mehr zur Debatte steht, wird deutlich, dass es hin-
sichtlich des Grundrechtsschutzes und der Zivilisierung
in diesem Bereich einen echten Fortschritt gibt. Ich denke,
die Europäer haben Grund, darauf stolz zu sein.

Es wurde hier von der Leitkultur gesprochen. Mit der
europäischen Leitkultur sind wir heute ein Stück wei-
tergekommen, Herr Kollege Schwarz-Schilling. Dazu
können wir uns klar bekennen und dafür möchte ich mich
bedanken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das hätten Sie gestern schon bei mir nachlesen können, Herr Fischer!)


– Ich finde es gut, Herr Merz, dass Sie jetzt über den Um-
weg „Leitkultur“ beim Verfassungspatriotismus von
Jürgen Habermas gelandet sind. Ich kann nur sagen: Herz-
lich willkommen! Das hätten Sie aber auch direkt haben
können.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das hat auch nichts mit Parteipolitik zu tun. Ich bin viel-
mehr der Meinung, dass dies die solide Grundlage der
deutschen Demokratie ist. Dabei sollten wir es auch be-
wenden lassen.

Menschenrechtsschutz in Europa braucht auch in
Zukunft starke und durchsetzungsfähige Instrumente.
Dazu gehört eine angemessene Ausstattung des Gerichts-
hofs angesichts der dramatisch steigenden Zahl der Ver-
fahren; denn sonst steht bereits Erreichtes auf dem Spiel.
Das sollten wir alle gemeinsam dem Finanzminister mit-
teilen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Die praktische Wirkung der EMRK steht und fällt mit der
Durchsetzung der Urteile des Gerichtshofes. Da stim-
me ich allen Vorrednerinnen und Vorrednern, auch der
Kollegin Justizministerin und Frau Leutheusser-
Schnarrenberger, die dies gesagt haben, zu. Wir müssen
den Anfängen wehren, was die Umsetzung dieser Urteile
anbetrifft. Es darf nicht dazu kommen, dass Urteile erge-
hen, die nicht umgesetzt werden. Eine solche Rückent-
wicklung hinsichtlich des individuellen Grundrechts-
schutzes darf es nicht geben.

Wir sollten uns aber auch immer wieder selbstkritisch
fragen, inwieweit wir in Deutschland den Maßstäben der
EMRK gerecht werden. Dazu gehört die Frage nach der
Achtung der Menschenrechte in Deutschland ebenso wie
die angemessene Beachtung der Rechtsprechung des Eu-
ropäischen Gerichtshofes für Menschenrechte durch
deutsche Gerichte.

Der Grundrechtsschutz hat nichts von seiner Aktualität
eingebüßt. Im Gegenteil: Die Europäische Union hat auf
der Grundlage der Menschenrechtskonvention eine
Grundrechte-Charta ausgearbeitet – unter aktiver Mit-
wirkung der Kollegen des Bundestages und des Bun-
desrates im Konvent –, die in diesem Haus breite Unter-




Bundesminister Joseph Fischer
12134


(C)



(D)



(A)



(B)


stützung gefunden hat und in Biarritz von den Staats- und
Regierungschefs angenommen wurde. Diese Charta wird
zum Kern einer europäischen Verfassung. Sie baut auf den
Erfahrungen der Konvention von 1950 auf, nimmt zu-
gleich neue Entwicklungen auf und schließt Menschen-
rechte der so genannten dritten Generation, das heißt,
soziale und wirtschaftliche Grundrechte, ein. Jetzt geht es
darum, den gemeinsamen Rechtsraum zu entwickeln und
gleichzeitig die Verbindung zwischen diesen beiden Kon-
ventionen so zu gestalten, dass sich alle Mitgliedstaaten
der Europäischen Union darin wiederfinden können und
dass es ein Maximum an Grundrechtsschutz gibt.

Meine Damen und Herren, die Achtung der Menschen-
rechte sowie die Durchsetzung von Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit, der Dreiklang des Europarates also,
werden weit über Europa hinaus immer mehr zur Kern-
frage gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Moderni-
sierung. Ja, ich behaupte: Die Frage der Demokratie und
des Rechtsstaates wird zu der zentralen Frage des
internationalen politischen Systems des 21. Jahrhunderts
werden.

Überall auf dieser Welt, wohin wir auch schauen: An
der Frage der Herrschaft des Rechtsmacht sich nicht nur
die Gerechtigkeit fest, nicht nur der individuelle Grund-
rechtsschutz; daran machen sich natürlich auch die
Lebenschancen der Individuen einer Nation fest. Nur eine
offene, flexible und durch die Herrschaft des Rechts
geprägte Gesellschaft kann an den Chancen der Globa-
lisierung erfolgreich partizipieren und zugleich ihre Ver-
werfungen bewältigen. Die Prinzipien der Europäischen
Menschenrechtskonvention werden in Zukunft deshalb
eher noch wichtiger, als sie es in den zurückliegenden
50 Jahren zweifellos schon waren – nicht nur ethisch-
moralisch, sondern auch politisch und im Sinne einer
wirksamen Krisenprävention. Wenn wir zurückblicken,
können wir sagen: Die Europäische Menschenrechtskon-
vention war ein großer Erfolg. Dieser Erfolg verpflichtet.

Ich möchte damit schließen, allen Mitgliedern des
Hauses, die sich in der Parlamentarischen Versammlung
des Europarats eingesetzt und eine sehr wichtige Arbeit
geleistet haben, genauso herzlich zu danken wie den
zahllosen Aktivistinnen und Aktivisten der Nichtregie-
rungsorganisationen, die ebenfalls unerlässlich sind für
das Gelingen des Grundrechtsschutzes.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [F.D.P.] und des Abg. Wolfgang Gehrcke [PDS] – Joseph Fischer, Bundesminister, zur CDU/CSU gewandt: Das Wort des Aktivisten lässt Sie erschaudern! – Gegenruf des Abg. Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Das können wir unter „Leitkultur“ subsumieren!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412700900
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Carsten Hübner, PDS-Fraktion.


Carsten Hübner (PDS):
Rede ID: ID1412701000
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Es sind bedauerlicherweise vor al-

lem Jubiläen und Festtage, an denen der Debatte über das
Thema Menschenrechte hier eine so komfortable Tages-
zeit eingeräumt wird. Ansonsten – ähnlich wie bei der
Entwicklungspolitik – findet eine solche Debatte
eher in den Nachtstunden statt, fristet dieses Thema im
Hierarchiegefälle politischer Bedeutsamkeit trotz aller
Sonntagsreden eher ein Schattendasein. Auch das muss
anlässlich einer Debatte wie heute gesagt werden, weil
diese Realität, diese Praxis den Menschenrechten und ih-
rer konsequenten Durchsetzung einen Bärendienst er-
weist. Ich frage Sie, wie wir gerade vor dem Hintergrund
der virulenten rassistischen und fremdenfeindlichen Ge-
walt auf deutschen Straßen den Bürgerinnen und Bürgern
glaubhaft nahe bringen wollen, wie existenziell Men-
schen-, Freiheits- und Bürgerrechte sind, wenn wir es
selbst immer wieder zulassen, dass sie instrumentalisiert
werden, dass sie anderen Interessen untergeordnet werden
oder dass sie im parlamentarischen Tagesgeschäft viel-
fach als politische Kür und nicht als Pflicht betrachtet
werden.

Ich als Fachpolitiker kann nur dringlich an die Innen-
politik, die Außenpolitik, die Verteidigungs- und die
Wirtschaftspolitik appellieren, hier endlich umzudenken
und eine gewisse Abgehobenheit abzulegen.


(Beifall bei der PDS)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Unterzeichnung

der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der
Grundfreiheiten am 4. November 1950 in Rom war ein
bedeutender Schritt hin zu einem internationalen System
des Schutzes von Menschen-, Bürger- und Freiheits-
rechten. Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben da-
rauf bereits ausführlich verwiesen. Wahr ist, dass die
besondere Qualität dieses Vertragswerkes und seiner
Zusatzprotokolle darin liegt, dass mit ihm ein System
etabliert wurde, das diese Rechte einklagbar gemacht hat.

Das 11. Zusatzprotokoll von 1992 und die damit ver-
bundene Schaffung eines hauptamtlich besetzten Euro-
päischen Gerichtshofes für Menschenrechte hat diesen
Ansatz unterstrichen und im Sinne der Bürgerinnen und
Bürger weiter operationalisiert.

Dass nun ausgerechnet dieser Gerichtshof als eine tra-
gende Säule zur Umsetzung der Konvention über Mittel-
und Personalknappheit klagen muss, dadurch her-
vorgerufen unter der Last der eingehenden Beschwerden
zusammenzubrechen droht, halte ich – gelinde gesagt –
für ein ernsthaftes Problem.

Ohne dabei noch einmal ausdrücklich an meine einlei-
tenden Worte über den allgemeinen Stellenwert der Men-
schenrechte im tagespolitischen Diskurs erinnern zu
wollen, gilt es doch festzuhalten, dass, während wir hier
die Konvention und ihre Instrumente zu Recht würdigen,
die Arbeit im Gerichtshof für Menschenrechte unter Be-
dingungen abläuft, die mit unserer artikulierten Wert-
schätzung kaum in Einklang zu bringen sind.

Worten, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen Taten
und Finanzen folgen. Nur so wird in der Politik aus Pa-
pieren auch wirklich ein Schuh.


(Beifall bei der PDS)





Bundesminister Joseph Fischer

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(C)



(D)



(A)



(B)


Gestatten Sie mir, im Folgenden noch einige Fra-
genkomplexe anzureißen, die mir im Kontext dieses Ju-
biläums und dieser Debatte bedeutsam erscheinen. Zum
einen geht es mir um die Umsetzung der Konvention in
der Bundesrepublik selbst. Denn auch wir müssen uns
fragen, fragen lassen, ob es mit Blick auf die Konvention
und ihren Geist Defizite gibt. Dabei sage ich deutlich,
dass Bezugspunkt unserer Debatte nicht etwa die extreme
Dehnfähigkeit bestimmter Artikel sein sollte, sondern der
Geist der Konvention, wie es sich für ein Land mit unserer
Vergangenheit und unserem aktuellen ökonomisch wie
gesellschaftlich vergleichsweise komfortablen und sta-
bilen Status quo gehört.

Ich sage dies ausdrücklich vor dem Hintergrund einer
repressiven Migrations- und Flüchtlingspolitik in diesem
Land, vor dem Hintergrund der Residenzpflicht für
Flüchtlinge und Asylbewerber, vor dem Hintergrund des
auch international kritisierten so genannten Flughafen-
verfahrens, vor dem Hintergrund einer Rechtsprechung,
die nicht staatliche Verfolgung bis heute nicht als Asyl-
grund anerkennt, vor dem Hintergrund einer ausufernden
Praxis des Abschiebegewahrsams und der Abschiebung in
Länder, die selbst rudimentäre Menschenrechte unter-
laufen.

Dazu gehört auch, dass selbst für langjährig in der Bun-
desrepublik lebende Migrantinnen und Migranten noch
immer eine gleichberechtigte politische Partizipation erst
nach einem entwürdigenden Hürdenlauf möglich ist,
wenn überhaupt.

Es muss aber auch die Frage gestellt werden, inwieweit
in diesem Land Bürgerrechte überhaupt, wenn auch
schleichend, zur Disposition gestellt werden. Die
Friedrich-Ebert-Stiftung hat dazu erst vor wenigen Tagen
eine interessante Veranstaltung durchgeführt. Ich nenne
nur Stichpunkte: Video-Überwachung öffentlicher Stra-
ßen und Plätze, ereignis- und verdachtsunabhängige Kon-
trollen, die wahllose Verhängung von Platzverweisen bei
Demonstrationen, Unterbindungsgewahrsam, Schnell-
prozesse usw. Mehr und mehr hält eine orwellsche Logik
in die innenpolitische Diskussion Einzug, nach der nicht
mehr der Staat begründen muss, warum er welche Ein-
griffe in die Bürgerrechte vornimmt, sondern der Bürger,
warum er das nicht will; das ist natürlich immer von dem
unterschwelligen Vorwurf begleitet, er habe wohl etwas
zu verbergen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, da meine Redezeit zu
Ende geht, nur noch eins: Im Antrag wird die Vorbild-
wirkung der Konvention für ähnliche Verträge in anderen
Regionen der Welt gelobt, aus meiner Sicht zu Recht.
Aber wenn wir das hier schon hervorheben, dann muss
damit auch die Frage verbunden werden, ob wir uns hin-
sichtlich anderer Teile der Welt auch an die Maximen hal-
ten, die wir uns für unsere Länder gegeben haben. Da habe
ich leider erhebliche Zweifel.

Weiterhin bleiben entschlossene Schritte der Mitglied-
staaten gegen die Türkei, die ebenfalls Mitgliedstaat ist
und sogar Erstunterzeichner war, aus, obwohl die Men-
schenrechtssituation dort zum Himmel schreit: sei es in
den Kurdenregionen, sei es in den Gefängnissen, sei es im
Sektor der Presse, der politischen und kulturellen Betäti-

gung oder – besonders – in der Frage der Folter. Statt-
dessen liefern wir eine Munitionsfabrik, machen die
Türkei bei der so genannten humanitären Intervention im
Kosovo zum Alliierten und verleihen ihr ohne jede men-
schenrechtsrelevante Vorleistung den Status eines EU-
Beitrittskandidaten.

Ein anderes Beispiel sind die Kleinwaffenexporte:
Die Staaten des Europarats sind der dominierende Liefe-
rant von Kleinwaffen in alle Krisenregionen der Welt.
Eng verbunden mit der Kleinwaffenfrage ist das Pro-
blem des Unwesens von Kindersoldaten; das wissen wir
alle. Europa liefert aber nicht nur Kleinwaffen, sondern
auch alles andere – ganz nach ökonomischer und strate-
gischer Interessenlage, nicht etwa nach der Menschen-
rechtslage. Auch das muss an einem Tag wie heute
gesagt werden.

Das Gleiche gilt für die Tatsache, dass es die Koali-
tions- ebenso wie die anderen Oppositionsfraktionen
nicht fertig gebracht haben, sich im Parlament – der Fall
Mumia Abu Jamal hätte ein Anlass sein können – laut und
deutlich gegen die Todesstrafe in den USA zu stellen, weil
dort gerade Präsidentschaftswahlkampf ist.


(Beifall bei der PDS)

Dass einer der Präsidentschaftskandidaten mit einer Hin-
richtungskampagne geradezu Wahlkampf macht, wird
nicht etwa als Grund zu einer dringlichen Positionierung
begriffen, sondern man hält sich heraus, bis alles vorbei
ist. Mit solch einer Praxis, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, kommen wir nicht weit. Wir machen uns schlicht un-
glaubwürdig.

Die PDS-Fraktion wird dem interfraktionellen Antrag
zustimmen. Gleichzeitig bitten wir um Zustimmung zu
unserem Entschließungsantrag, in dem wir nötige Ent-
wicklungstendenzen und Schritte zur Umsetzung der
Konvention aufgezeigt haben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der PDS – Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Werden wir nicht tun!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412701100
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Dieter Schloten, SPD-Fraktion.


Dieter Schloten (SPD):
Rede ID: ID1412701200
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Lieber Kollege Hübner, es ist gut,
dass Sie einmal auf Probleme hingewiesen haben, die wir
auch in unserem Lande mit dem Thema Menschenrechte
haben. Allerdings sind Sie an dem Punkt, an dem Sie den
Abgeordneten und damit uns allen hier Abgehobenheit
unterstellen, ein wenig über das Ziel hinaus geschossen.


(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Er hat gar nicht gewusst, wovon er redet!)


Ich sage das ganz vorsichtig. Sie wollten hier provozieren;
das ist gut so und regt uns zum Nachdenken an.


(Carsten Hübner [PDS]: Das wäre doch schon mal was!)





Carsten Hübner
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(C)



(D)



(A)



(B)


Wir sollten aber bei der Sache bleiben. Wenn Sie sich ein-
mal die Zustände außerhalb der Mitgliedsländer des Eu-
roparates anschauen


(Carsten Hübner [PDS]: Häufig entstanden mit europäischer Verantwortung!)


und sie mit denen in den Mitgliedsländern des Europara-
tes vergleichen, dann würden auch Sie zu anderen Be-
wertungen kommen.

Ich möchte jetzt nichts von dem wiederholen, was
meine Vorredner gesagt haben, sondern gleich an dem
Punkt ansetzen, dass die Menschrechtskonvention nicht
perfekt umgesetzt worden ist. Das war von Anfang an so.
Ich möchte einmal daran erinnern, dass die Schweiz 1963
dem Europarat beigetreten ist, ohne dass das Frauen-
wahlrecht bei allen Wahlen im ganzen Land garantiert
gewesen wäre. Frankreich ließ erst 1974 die In-
dividualbeschwerde bei Menschenrechtsverletzungen zu.
Die Bundesrepublik Deutschland war in den 70er-Jahren
kritischen Fragen in der Parlamentarischen Versammlung
zum Radikalenerlass ausgesetzt, der so genannte Extre-
misten vom öffentlichen Dienst ausschließen wollte.
Mehrfach – das ist schon erwähnt worden – war die
Türkei aufgrund ihrer Menschenrechtssituation Gegen-
stand harscher Kritik. Großbritannien hat erst kürzlich die
Europäische Menschenrechtskonvention zum Bestandteil
seines innerstaatlichen Rechtes gemacht.

Der Garant der Bürger zum Schutz vor Verletzungen
der Menschenrechte sind der Europarat und mit ihm der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in
Straßburg. In jüngster Zeit wird er mit Beschwerden aus
den neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas geradezu
überhäuft. Jahrzehnte polizeistaatlicher Gewöhnung in
den neuen Mitgliedstaaten sind mit hohen Menschen-
rechtsstandards konfrontiert, welche die Straßburger
Rechtsprechung und die westeuropäische Praxis über
Jahrzehnte entwickelt haben.

Verbal wird allseits versichert, die in der Straßburger
Judikatur anerkannten Maßstäbe müssten generell gelten.
Abstriche seien unzulässig. Wenn das in allen Staaten für
die Zustände in Gefängnissen und in der Untersuchungs-
haft gelten soll, für die Unabhängigkeit und Unpartei-
lichkeit der Gerichte, für die Fairness von Gerichtsver-
fahren, für das Verhalten der Polizei und der Behörden
allgemein, dann ist noch unendlich viel zu tun.

Es ist anzunehmen, dass Tausende von Beschwerden,
insbesondere aus mittel- und osteuropäischen Staaten, bei
näherer Prüfung nicht nur zulässig, sondern auch begrün-
det sind. Neben der mehrfach erwähnten besseren
Ausstattung des Gerichtshofes sollte die Zeit genutzt wer-
den, den neuen Mitgliedstaaten bei der Reform ihrer in-
nerstaatlichen Ordnung zu helfen, sodass die interna-
tionalen Verfahren in Straßburg weniger häufig anfallen.

Die erste Beschwerde aus Tschetschenien in Straßburg
vom April dieses Jahres gibt mir Anlass, darauf hinzu-
weisen, dass russische Amtsträger oftmals völliges
Unverständnis für die mit der Ratifizierung der Europä-
ischen Menschenrechtskonvention eingegangenen Ver-
pflichtungen erkennen lassen. Wir hören, dass die west-
europäische Kritik teils auf ungenügender Information,

teils auf unlauteren Motiven beruhe und dass es sich auch
um einen unzulässigen Eingriff in innere Angelegenheiten
handele. Die Kritik der Parlamentarischen Versammlung
des Europarats an den Menschenrechtsverletzungen, ins-
besondere in Tschetschenien, wird vehement zurück-
gewiesen. Wir Parlamentarier müssen der Gefahr entge-
gentreten, dass aus politischen Gründen ganz auf
Sanktionen verzichtet wird.

Lassen Sie mich noch einige Gedanken zum Verhältnis
von Menschenrechten und Demokratie äußern. Es über-
rascht, dass im Statut des Europarats von 1949 nur ein
einziges Mal das Wort „Demokratie“ auftaucht, und zwar
in der Präambel, in der Europäischen Menschenrechts-
konvention gar nicht. Auf Drängen der Parlamentarischen
Versammlung hat der Europarat inzwischen Präzisierun-
gen im Bereich Demokratie vorgenommen, von dem Er-
fordernis freier Wahlen bis hin zur lokalen Demokratie.
Ich erinnere an die Charta der kommunalen Selbstverwal-
tung von 1985. Der Europarat hat auch Programme zur
Stärkung der Demokratie und demokratischer rechts-
staatlicher Institutionen, besonders in den mittel- und ost-
europäischen Ländern, aufgelegt.

In der Wiener Erklärung der Staats- und Regierungs-
chefs des Europarats von 1993 heißt es, „dass das Antrag-
stellerland seine Institutionen und sein Rechtssystem mit
den grundlegenden Prinzipien der Demokratie, Rechts-
staatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte in Ein-
klang gebracht“ haben muss. Außerdem müssen die
Volksvertreter „in freien und fairen Wahlen auf der
Grundlage des allgemeinen Wahlrechts gewählt worden
sein“. Darüber hinaus müssen Kriterien für die Bewertung
jedes Antrags auf Mitgliedschaft „die Gewährleistung
der Meinungsfreiheit und insbesondere der Freiheit der
Medien, der Schutz nationaler Minderheiten sowie die
Einhaltung des Prinzips des Völkerrechts“ bleiben. Aller-
dings gibt es bis heute noch keine verbindliche zusam-
menfassende Konvention zur Demokratie in Europa, wie
sie – bislang einmalig in der Welt – die Interparlamen-
tarische Union in ihrer universellen Demokratie-Er-
klärung in Kairo 1997 beschlossen hat.

Lassen Sie mich noch auf einen wichtigen Aspekt
der Europäischen Menschenrechtskonvention eingehen,
nämlich auf ihre weltweiten Auswirkungen. Zunächst
möchte ich darauf hinweisen, dass die UNO-Menschen-
rechtspakete von 1966 und insbesondere das Beschwer-
deverfahren nach dem Fakultativprotokoll zum Pakt über
die bürgerlichen und politischen Rechte von der Eu-
ropäischen Menschenrechtskonvention beeinflusst wor-
den sind, ebenso wie die interamerikanische Menschen-
rechtskonvention von 1968 und – in geringerem Maße –
die afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte
der Völker von 1982.

Ein besonders aktives, weltweit wirkendes Organ zur
Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen ist der
Ausschuss für die Menschenrechte von Parlamentariern
in der IPU. Sein regelmäßiger Bericht auf den zweimal
jährlich stattfindenden Konferenzen des Interparlamen-
tarischen Rates enthält alle bekannt gewordenen Fälle von
Menschenrechtsverletzungen an Parlamentariern. Am
21. Oktober dieses Jahres wurde in Jakarta erneut ein




Dieter Schloten

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(A)



(B)


solcher Bericht vorgelegt. Er listet 93 aktuelle Fälle auf,
33 davon allein in Myanmar. Uns allen ist der Fall der
Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi bekannt,
die seit Jahren in Hausarrest leben muss.

Erwähnen möchte ich auch den Fall des Abgeordneten
Alpha Condé aus Guinea. Er war 1998 Präsidentschafts-
kandidat seiner Partei. Am 15. Dezember 1998, kurz vor
der Bekanntgabe der Wahlergebnisse, wurde er verhaftet.
Im Januar 1999 wurde er des Hochverrats angeklagt und
am 11. September dieses Jahres zu fünf Jahren Haft
verurteilt. Die Umstände seines Prozesses genügen nicht
einmal den Mindestanforderungen eines rechtsstaatlichen
Verfahrens. So wurde zum Beispiel seine parlamen-
tarische Immunität bis heute nicht aufgehoben. Ich
möchte der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass sich un-
sere Regierung dieses Falles in guter Zusammenarbeit mit
dem französischen Partner, der hier viel Einfluss hat, an-
nimmt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)


Aber nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb Eu-
ropas treten gravierende Menschenrechtsverletzungen
auf. Ich erinnere an zurzeit vier bekannte Fälle in
Weißrussland und acht in der Türkei. Die türkischen
Fälle sind beim Menschenrechtsgerichtshof anhängig. In
der vergangenen Woche wurde auf der IPU-Versammlung
in Jakarta die Türkei eindringlich ermahnt, rechts-
staatliche Prinzipien zur Anwendung zu bringen und die
betroffenen ehemaligen Abgeordneten zu amnestieren.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das 50-jährige
Bestehen der Europäischen Menschenrechtskonvention
ist nicht nur ein Anlass zum Feiern – da gebe ich meinen
Vorrednern vollkommen Recht –, sondern auch ein Anlass
zu kritischer Selbstbetrachtung. Die Glaubwürdigkeit des
Europarates als Garant für Demokratie, Rechtsstaat-
lichkeit und Menschenrechte hängt von der Einhaltung
und Umsetzung dieser Prinzipien in seinen Mitglied-
staaten ab. Aber der Europarat hat auch über seine Mit-
gliedstaaten hinaus eine Verpflichtung, Gesamtverant-
wortung sowie eine weltweite Mitverantwortung. Ich
möchte uns alle auffordern mitzuhelfen, dass er dieser
Verantwortung im Interesse der Achtung der Menschen-
rechte und der weltweiten Demokratisierung gerecht wer-
den kann.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412701300
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Karl-Heinz Hornhues, CDU/CSU-Frak-
tion.


Dr. Karl-Heinz Hornhues (CDU):
Rede ID: ID1412701400
Sehr geehr-
ter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kol-
legen! Über die Bedeutung der Menschenrechtskon-
vention ist so viel Schönes, Gutes und auch Richtiges ge-

sagt worden, dass ich nur einen Satz hinzufügen möchte:
Ich unterstreiche dies alles vollinhaltlich, nachdrücklich
und stelle fest: Ja, das ist wahr. Es ist richtig und wichtig,
dass wir die Europäische Menschenrechtskonvention ha-
ben. Wenn wir sie nicht hätten, hätte sie längst erfunden
werden müssen.

Dies gesagt habend, möchte ich mich allerdings in
diesem Zusammenhang einigen anderen Punkten zuwen-
den, die noch nicht angesprochen worden sind, die aber
auch in das Protokoll gehören sollten.

Punkt eins. Wenn das alles so bedeutend und so wichtig
ist, dann hätte ich die herzliche Bitte an die Bun-
desregierung, wenigstens im Kleinen dem gerecht zu
werden, was im Großen gesagt worden ist. Dazu gehört
die Tatsache, dass wir gleich den Entwurf eines Gesetzes
bezüglich des Europäischen Gerichtshofes für Menschen-
rechte an bestimmte Ausschüsse überweisen und in den
nächsten Wochen auch ratifizieren sollen. Unterzeichnet
wurde die dafür zugrunde liegende Vereinbarung am
23. Oktober 1996. Heute, am 26. Oktober 2000, beginnen
wir mit der Ratifizierung. Meine dringende, herzliche
Bitte ist – dies betrifft vermutlich eher den Minister des
Auswärtigen –: Man sollte, wenn dieser Gerichtshof eine
solch wichtige Bedeutung hat, dafür sorgen, dass die
nächste in diesem Zusammenhang erforderliche Rati-
fizierung zeitlich gerechter erfolgen kann und wir uns
nicht fragen lassen müssen, wie wir einerseits große Re-
den halten können und andererseits im Kleinen mit un-
seren Beschlüssen nicht herüberkommen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der PDS)


Punkt zwei. Frau Ministerin, ich bitte um Nachsicht,
Folgendes ist nicht böse gemeint; aber es ist schon ein
bisschen peinlich: Herr Kollege Bindig hat klargemacht,
es gehe im Zusammenhang mit der anstehenden Entschei-
dung zum Europäischen Gerichtshof für Menschen-
rechte um eine halbe Million Euro. Zwei leibhaftige
Minister halten hier heute Morgen große Reden und
müssen gestehen, dass sie bei aller Bedeutung des
Gerichtshofes – das wird unterstrichen – nichts dagegen
machen können, dass der Gerichtshof in seiner Aufgabe
quasi ertrinkt. Er kann sie nicht mehr bewältigen. Deswe-
gen wendet sich der Außenminister an uns, ihm bei der
Beschaffung von Geld zu helfen. Bitte ersparen Sie uns
solche Peinlichkeiten. Das ist weder für Sie noch für uns
gut. Mir wäre es lieber gewesen, Sie hätten heute Morgen
Konkretes gesagt. So viel zu diesem Punkt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Europäische Gerichtshof braucht dringend Unter-

stützung. Das ist wichtig und notwendig. Das will ich
noch einmal unterstreichen.

Ich möchte mich jetzt einem Thema zuwenden, das
hier schon anklang. Der Außenminister hat es in seinem
Schlusssatz erwähnt, als er den Kollegen der Parlamen-
tarischen Versammlung des Europarates gedankt hat.
Ich glaube, hier ist Folgendes zu kurz gekommen. Ich sel-
ber bin erst seit zwei Jahren Mitglied der Delegation. Des-
wegen kann ich in diesem Zusammenhang mit Gelassen-
heit über andere reden.




Dieter Schloten
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(C)



(D)



(A)



(B)


Ich möchte nämlich den Kollegen aus unserer Mitte
herzlich danken, die viele Jahre lang in der Parlamentari-
schen Versammlung des Europarates die konkrete Last
der Arbeit getragen und Erhebliches dazu beigetragen ha-
ben, dass solche Festreden wie heute überhaupt gehalten
werden können. Ich nenne hier aus früheren Tagen Karl
Ahrens, später wirkte Leni Fischer als Präsidentin der
Parlamentarischen Versammlung und auch die Kollegen
Antretter und Reddemann haben über Jahre hinweg ihre
Arbeit gemacht. Die gegenwärtigen Akteure will ich nicht
aufzählen. Das erspare ich mir, weil wir uns alle kennen.
Jeder weiß, was hier geleistet wird.

Wenn es zutrifft, dass die Europäische Menschen-
rechtskonvention für die neu hinzugekommenen Länder
in der Runde der 41 Mitgliedstaaten der Leuchtturm ist,
von dem der Außenminister gesprochen hat, dann verdie-
nen es hier die Kollegen – die knochenhart daran arbeiten,
dass sich etwa die Situation in der Türkei verbessert –,
dass ihre Leistung anerkannt wird. Aus unserer Runde
kümmert sich der Kollege Benno Zierer darum. Andere
arbeiten daran, dass sich in Russland endlich etwas än-
dert.

Ich habe eben schon gesagt – das stimmt –: Der viel-
leicht bekannteste SPD-Politiker in Moskau ist – das wird
Sie vielleicht verblüffen – der Kollege Bindig. Er ist dort
wegen seines Nachfragens gefürchtet, wie etwa: Wie er-
füllt ihr die Verträge? Ich möchte die Bundesregierung
bitten, ab und zu die Vorlagen des Kollegen Bindig in
ihren Besprechungen und Beratungen zu berücksichtigen.
Das könnte uns gemeinsam weiterbringen. Herzlichen
Dank an den Kollegen!


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Die Rolle der Parlamentarischen Versammlung, dieses
Monitoring-Komitees ist für Länder von entscheidender
Bedeutung, die sich in dem Status befinden – das ist heute
beschrieben worden –, den wir hatten, als wir beitraten.
Die erste Delegation der Parlamentarischen Versammlung
des Europarates – wir müssen nachlesen, wer alles dabei
war – war eine unglaubliche Truppe. Alles, was in diesem
Parlament Rang und Namen hatte, ist nach Straßburg ge-
fahren. So wie es bei uns am Anfang war, ist es heute bei
den Ländern, die dazugekommen sind. Deswegen ist es an
uns, die Bedeutung dieses Gremiums, dieser europä-
ischen Versammlung in Straßburg zu vermitteln, eine Ar-
beit, die über das hinausgeht, was bisher von uns geleistet
wird.

Ich möchte Ihnen dezidiert widersprechen, Frau Mi-
nisterin. Sie haben gesagt, die Mitgliedschaft im Europa-
rat sei der erste Schritt zur EU-Mitgliedschaft.


(Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin: Das war nicht richtig zitiert!)


– Es war aber sinngemäß richtig. Nebenbei bemerkt den-
ken so nicht nur Sie, sondern auch viele Kollegen aus mei-
nen Reihen. Das weiß ich.

Für viele Länder mag es zutreffen, dass sie die Mit-
gliedschaft im Europarat und in der Parlamentarischen
Versammlung als eine Vorstufe zur EU-Mitgliedschaft

auffassen. Wer diese Auffassung vertritt, übersieht aber,
dass es von der Struktur her Länder geben wird, die ver-
mutlich niemals der Europäischen Union angehören wer-
den. Island mag uns noch kalt lassen. Die Norweger wer-
den es ebenfalls nicht schaffen. Auch die Schweizer haben
ihre Probleme. Das berührt uns aber weniger. Wenn wir
jedoch über Georgien, Aserbaidschan und Armenien, spä-
testens aber dann, wenn wir über die Ukraine und Russ-
land reden, stellt sich die Frage, wie bedeutsam der Euro-
parat und die Parlamentarische Versammlung für uns
sind. Auf lange Sicht sind sie etwas anderes als nur der
Vorhof zur Europäischen Union.

Deswegen bitte ich darum, sich zu bemühen, dies an-
deren hinreichend deutlich zu machen, die vielleicht nie
die Chance haben wollen oder werden, in die Europäische
Union aufgenommen zu werden, die aber mit uns in einem
gemeinsamen Europa der Werte leben möchten, wie sie
die Menschenrechtskonvention in allen ihren Facetten
verkörpert. Wir müssen ihnen das Gefühl geben, dass
diese Einrichtung für uns keine zweit- oder drittklassige
Einrichtung ist, die nur anlässlich seines 50-jährigen Ju-
biläums oder eines 75-jährigen Jubiläums zu so überra-
gender Bedeutung gelangt, dass wir sie in der Kernzeit des
Deutschen Bundestages erörtern.

Ich habe heute Morgen viele Sätze gehört, die mir sehr
gut gefallen haben. Ich hoffe, dass wir es gemeinsam
schaffen, konkrete Schritte im Detail weiterzuentwickeln.
Der wichtigste Schritt wird sein, dass wir als der Deutsche
Bundestag unsere Regierung bewegen, das, was Parla-
mentarier tun, ein wenig ernster zu nehmen.

Ich war nicht der Auffassung anderer Kollegen, als wir
in der Parlamentarischen Versammlung den russischen
Kollegen nicht das Stimmrecht gegeben haben. Nur, die
Art und Weise, die Schnodderigkeit – so will ich es nicht
sagen, aber es kommt dem ungefähr nahe –, mit der der
Ministerrat dieses Petitum der Parlamentarischen Ver-
sammlung als nicht passend zurückgewiesen hat, ähnelten
dem Verspielen einer Steilvorlage – so würde man im
Fußball sagen –, die zu einem guten Tor und zu einem bes-
seren Ergebnis hätte führen können.

Gerade als Europarat haben wir die Chance – und als
Parlamentarische Versammlung versuchen wir, sie mit
größter Intensität zu nutzen –, auf die Kollegen und die
Parlamente in anderen Ländern, inklusive Russlands, ein-
zuwirken. In Russland sind Dinge gelungen, die ohne die-
ses Bemühen nicht zustande gekommen wären. Dass
heute Beobachter des Europarates die einzigen internatio-
nalen Vertreter in Tschetschenien sind, mag nicht befrie-
digen und hat die Probleme nicht gelöst; es macht aber
deutlich, welche Chancen es gibt. Ich wäre dankbar, wenn
wir, Parlamente und Regierung – ich beziehe das nicht nur
auf uns, sondern auch auf andere Regierungen –, intensi-
ver und besser zusammenarbeiten könnten.

Mein Petitum ist, dass wir in diesem Bereich besser
werden und uns gemeinsam versprechen, das Beste aus
der Sache zu machen. Denken wir nicht immer nur an uns,
sondern auch an die anderen. Vergessen wir bei der heuti-
gen 50-Jahr-Feier nicht, wie glücklich unsere politischen
Väter und Mütter waren, als sie damals in die Mitte der
europäischen Länder aufgenommen wurden. Die anderen




Dr. Karl-Heinz Hornhues

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(C)



(D)



(A)



(B)


sehen das heute auch so. Die Frage, wie ernst sie genom-
men werden und wie sehr sie sich bei uns aufgehoben
fühlen, hängt davon ab, wie ernst wir sie nehmen. Das
sollten wir im eigenen Interesse nicht vergessen. Alles
Gute!

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412701500
Ich erteile dem Kolle-
gen Helmut Lippelt, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.


Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412701600

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Lassen
Sie mich eingangs mit einigen laienhaften Bemerkun-
gen – ich bin kein Jurist – zu dem vom Kollegen Bindig
und von Frau Leutheusser-Schnarrenberger Vorgetra-
genen zur Wirkung der Menschenrechtskonvention be-
ginnen.

Bei Lektüre der Ratifizierungsdebatte im Bundestag
von 1952 stellt man fest, mit welcher Emphase damals
betont worden ist, dass man erstmalig ein europäisches
Gesetz beschließe und es damit in die nationale Gesetzes-
systematik einführe. Es ist keine Frage: Der Menschen-
rechtsgerichtshof und der EuGH – wenn die Grundrechte-
Charta rechtskräftig wird – werden ihre Arbeit schon gut
koordinieren und ihre Tätigkeitsbereiche abgrenzen.
Trotzdem denke ich: Solange die EU der Konvention
nicht als juristische Person beitreten kann, wird sie bei
Überschneidungsfällen, die es immer geben wird, im Pro-
zess selber nicht als beteiligte Partei auftreten können und
es werden sich – so sehr man es auch verhindern will – un-
terschiedliche Traditionen von Rechtssprechung ent-
wickeln. Gerade deshalb sollten wir massiv darauf drän-
gen, dass die EU endlich juristische Person wird und
beitreten kann, sodass wir diese – nicht schlimme, aber
auf mittlere Sicht immerhin gegebene – Konfusion ver-
hindern können.

Es ist genug zur Geschichte und zur Bedeutung der
Konvention gesagt worden. Die Konvention ist – wenn
man sich ihr Zustandekommen 1950 genau anschaut –
eng mit der Entstehungsgeschichte der Bundesrepublik
und ihrer europäischen Einbindung verbunden. Sie ist
ein Grunddokument von ähnlichem Rang wie das Grund-
gesetz selbst. Wenn man nachliest, wird man merken: Sie
ist zugleich inhaltlicher Bestimmungspunkt des damali-
gen welthistorischen Gegensatzes gewesen. Das wird bei-
spielsweise aus der Begründung des damaligen Kollegen
Becker, F.D.P., deutlich: Er brauche nur über die Grenze
zu schauen, wo Dörfer geräumt würden, dann wisse er,
warum er das Gesetz mittrage. Dies wird auch aus dem
Zuruf des damaligen KPD-Abgeordneten Heinz Renner
deutlich, der dazu aufforderte, nach den Menschenrechten
in Korea zu fragen.

Dieser Zuruf stand stellvertretend für die Haltung der
Sowjetunion. Sie war dem Europarat nicht beigetreten
und hätte dies auch nicht tun können. Erst nach dem Zer-
fall der Sowjetunion entwickelte die Konvention eine

große Anziehungskraft für Länder in ihrem ehemaligen
Einflussbereich, aber auch für die GUS-Staaten selbst.
Der Beitritt zur Konvention ist im Zusammenhang mit
ihrem Beitritt zum Europarat obligatorisch und ist für sie
das entscheidende Mittel, um sich zu europäischen Wer-
ten und Normen zu bekennen. Mit diesem Prozess der
Osterweiterung – der Kollege Hornhues hat es eben an-
gesprochen – wird Europa früher und geographisch weit
umfassender wiederhergestellt als durch die EU-Ost-
erweiterung selbst.

Aber auch dieser Prozess ist konfliktreich. Nicht zufäl-
lig gibt es wegen des Tschetschenienkrieges einen Kon-
flikt zwischen Russland und der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates. Ein ähnlicher Konflikt bahnt
sich mit dem von der Parlamentarischen Versammlung
zur Aufnahme vorgeschlagenen Aserbaidschan über die
– entgegen den gemachten Zusagen – nicht verbesserte
Situation der politischen Häftlinge dort an. Die Aufnahme
von Belarus wurde wegen der dortigen Menschenrechts-
verletzungen suspendiert.

Das bedeutet: Die Funktion des Europarates und seines
wichtigsten Instruments, der Konvention, hat sich geän-
dert. War früher die Zugehörigkeit die Bestätigung des
stattgefundenen Wandels zur Demokratie – trotz aller
Hinweise von Ihnen, dass in den Ländern selbst damals
viel verbesserungsbedürftig war –, ist heute die Aufnah-
meprozedur mit ihren Stadien – Antrag, gründliche Über-
prüfung der verfassungsrechtlichen und verfassungspoli-
tischen Situation des Landes, Aufnahme mit Auflagen,
Monitoring der Erfüllung der Auflagen – zu einem Mittel
zur Bewertung des demokratischen Wandels im Land
selbst geworden. Sergej Kowaljow hat sich im Europarat
nachdrücklich für die Aufnahme Russlands in den Euro-
parat eingesetzt, wobei er nicht verschwiegen hat, dass
Russland noch keine Demokratie nach europäischen Nor-
men ist. Russland bedarf nach seiner Meinung des Dia-
logs. Er sagte damals: Ihr habt Russland aufgenommen
und damit Verantwortung übernommen. Nun werdet dem
gerecht, indem ihr den Konflikt führt, der geführt werden
muss.

Wir erwarten nach den Wahlen in Jugoslawien nun
auch dessen Aufnahmeantrag, damit wir auch dieses Land
auf dem Weg in eine Demokratie nach europäischen Nor-
men unterstützen können. Zugleich freuen wir uns da-
rüber, dass nach den letzten Wahlen in Kroatien die Par-
lamentarische Versammlung des Europarates die Proze-
dur des Monitoring für Kroatien beenden konnte. Dies
stelle ich mit großer Freude gerade heute fest, da der Prä-
sident dieses Landes hier in Berlin unser Gast ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412701700
Ich erteile dem Kolle-
gen Peter Altmaier, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


Peter Altmaier (CDU):
Rede ID: ID1412701800
Herr Präsident! Damen
und Herren! Wir haben alle gemeinsam die Bedeutung der
Menschenrechtskonvention nachdrücklich gewürdigt. Ich




Dr. Karl-Heinz Hornhues
12140


(C)



(D)



(A)



(B)


finde aber, dass wir es uns zu einfach machen, wenn wir
nur in Nebensätzen auf die unglaublich schlechte Aus-
stattung des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte mit Sach- und Personalmitteln eingehen.


(Rudolf Bindig [SPD]: Bei mir war es ein Hauptpunkt!)


– Bei Ihnen, Herr Kollege Bindig, war es ein Hauptpunkt.
Das erkenne ich ausdrücklich an.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
und die Europäische Menschenrechtskonvention erleben
derzeit eine Renaissance, die niemand vor dem Fall der
Mauer und dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs für
möglich gehalten hätte. Wir hatten im letzten Jahr insge-
samt 20 000 Beschwerden, von denen immerhin 8 000 re-
gistriert wurden. Der Gerichtshof hat nicht einmal im An-
satz die personellen und sachlichen Mittel, um diese
Beschwerden in angemessener Zeit aufzuarbeiten. Das
hat Konsequenzen: Es führt nicht nur dazu, dass die
Frage, welche innerstaatlichen Gesetze und Akte mit den
entscheidenden Prinzipien der Menschenrechtskonven-
tion unvereinbar sind, oftmals jahrelang unbeantwortet
bleibt. Es führt auch dazu, dass die Bürger, die vor dem
Gerichtshof ihre Beschwerden, gestützt auf die Europä-
ische Menschenrechtskonvention, einreichen können,
nicht nur eine Engelsgeduld haben müssen, sondern auch
extrem langlebig sein müssen, wenn sie den Abschluss ih-
res Verfahrens noch erleben wollen. Das darf nicht sein.
Deshalb müssen wir uns dafür einsetzen, dass dieses Defi-
zit behoben wird.


(Beifall des Abg. Rudolf Bindig [SPD])

Frau Ministerin, auf eines möchte ich in aller Deut-

lichkeit hinweisen: Wir haben zwar Ihnen applaudiert, als
Sie gesagt haben: Wir müssen das ändern. – Aber es ist ein
offenes Geheimnis im Straßburger Gerichtshof, „dans les
couloirs de la cour“, dass die Bundesrepublik Deutsch-
land im Ministerkomitee ausgerechnet dasjenige Land
war, das am wenigsten für die Aufstockung des Personals
getan hat, übrigens in trauter Einmütigkeit mit Frank-
reich. Das heißt, wenigstens in diesem Bereich funktio-
niert der deutsch-französische Motor, aber leider Gottes
nur im Rückwärtsgang. Das ist nicht ausreichend. Das
müssen wir in den nächsten Jahren ändern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Es ist viel über die Bedeutung der Europäischen
Menschenrechtskonvention gesagt worden. Sie ist vor al-
lem für den Einzelnen bedeutsam, für den der Gang nach
Straßburg oftmals die letzte Hoffnung ist, trotz inner-
staatlicher Willkür von Behörden und Gerichten Recht zu
bekommen. Das gilt übrigens nicht nur für die osteu-
ropäischen Staaten und für die Türkei, sondern auch für
die Staaten, die traditionelle Beitrittsstaaten der Men-
schenrechtskonvention sind. Niemand hätte es im Jahre
1950 für möglich gehalten, dass auch Staaten mit ent-
wickelten Grundrechtskatalogen und mit langer rechts-
staatlicher Tradition wie Großbritannien, Frankreich und
Deutschland vom Straßburger Menschengerichtshof im-

mer wieder verurteilt werden, weil sie entscheidende
Grundsätze der Europäischen Menschenrechtskonvention
nicht beachten.


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Berufsverbot!)

Das eigentliche Geheimnis des Mechanismus der

Menschenrechtskonvention ist nicht nur ihre Rechtsver-
bindlichkeit, sondern auch die in ihr enthaltene Möglich-
keit, dass die Einhaltung der Grundrechte von einem
unabhängigen internationalen Gerichtshof durchgesetzt
wird. Weil das so ist, ist es wichtig, dass wir die Europä-
ische Grundrechte-Charta, die wir in Nizza feierlich pro-
klamieren werden, nicht nur verbindlich machen; viel-
mehr müssen wir auch dafür sorgen, dass der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte auf absehbare Zeit die
Kompetenz bekommt, die Einhaltung der Grundrechte,
die in der Charta niedergelegt sind, in der Praxis zu über-
wachen. Wenn das nicht geschieht, ist diese Charta das
Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)


Der entscheidende Punkt ist – dieser ist auch schon von
Christian Schwarz-Schilling angesprochen worden –: Mit
der Festlegung der Grundrechte in einer Charta und mit
der Installation eines unabhängigen Gerichtshofes ist zum
ersten Mal anerkannt worden, dass die Frage der Einhal-
tung und Umsetzung von Grund- und Menschenrechten
eben nicht nur eine innere Angelegenheit der einzelnen
Mitgliedstaaten und Nationalstaaten ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Carsten Hübner [PDS])


Dem Prinzip der universellen Geltung der Menschen-
rechte ist 1950 zum ersten Mal zum Durchbruch verhol-
fen worden. Von da an lässt sich eine lange Entwicklung
verfolgen, die bis hin zu der Debatte über die Frage geht,
wann und unter welchen Umständen humanitäre Inter-
ventionen zulässig und möglich sind; denn es ist nicht
hinnehmbar, dass die Menschen von den Staaten zu Ob-
jekten gemacht werden. Nein, die Menschen sind die Sub-
jekte.

Deshalb, Herr Kollege Hübner, finde ich es nicht in
Ordnung, wenn Sie so tun, als ob das Instrument der hu-
manitären Intervention im Grunde nichts anderes sei als
eine Verlängerung imperialistischer Aspirationen der
westlichen Staatengemeinschaft. Die humanitäre Inter-
vention ist tatsächlich eine große Errungenschaft des Völ-
kerrechtes.


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Das hat mit Menschenrechten überhaupt nichts zu tun!)


Das Problem besteht vor allen Dingen darin, dass wir die
Menschenrechte zu zögerlich umgesetzt haben, und nicht
darin, dass wir zu oft reagiert haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es ist in den letzten Wochen oft befürchtet worden,

dass die Ausarbeitung der Europäischen Grundrechte-
Charta zu einer Schwächung des Mechanismus der Eu-
ropäischen Menschenrechtskonvention führen könnte.




Peter Altmaier

12141


(C)



(D)



(A)



(B)


Das dürfen wir gemeinsam nicht zulassen. Wir müssen
gemeinsam dafür sorgen, dass die Bedeutung der Europä-
ischen Menschenrechtskonvention durch das Zustande-
kommen dieses neuen und großartigen Instruments des
europäischen Menschenrechtsschutzes gestärkt wird. Ich
glaube, dass dies auch möglich ist, und zwar aus zwei
Gründen.

Erstens. Die Europäische Menschenrechtskonvention
hat bei der Ausarbeitung der Grundrechte-Charta Pate ge-
standen. Wir haben die Europäische Grundrechte-
Charta – ich war für dieses Hohe Haus im Konvent an der
Ausarbeitung beteiligt – überall dort, wo es vergleichbare
Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention
gab, fast wortwörtlich so formuliert, wie es in der Euro-
päischen Menschenrechtskonvention steht. Wir haben si-
chergestellt, dass keine Bestimmung der Grundrechte-
Charta so ausgelegt werden kann, dass das Schutzgebot
der Europäischen Menschenrechtskonvention unter-
schritten wird.

Es gibt einen zweiten Grund: die unterschiedlichen An-
wendungsbereiche beider Instrumente. Die Europäische
Menschenrechtskonvention gilt für das Handeln der Mit-
gliedstaaten bei der Umsetzung nationalen Rechts und die
Europäische Grundrechte-Charta gilt für das Handeln der
europäischen Institutionen bei der Umsetzung und An-
wendung europäischen Rechts. Damit füllen wir eine
Lücke, die die EMRK bisher eben nicht füllen konnte,
weil wir nur über die Hilfskonstruktion von Art. 6 der Eu-
ropäischen Grundrechte-Charta imstande waren, ihrem
Inhalt in die Rechtsprechung des Europäischen Gerichts-
hofes einfließen zu lassen. Ich bin überzeugt, dass zwi-
schen dem Europäischen Gerichtshof und dem Europä-
ischen Gerichtshof für Menschenrechte eben keine
Konkurrenzsituation entstehen wird, sondern dass beide
gemeinsam dazu beitragen werden, dass der Grundrechts-
schutz in Europa weiterentwickelt wird.

Lassen Sie mich ein Wort sagen zur Frage des Beitritts
der Europäischen Union zur EMRK. Ich weiß, dass
diese Forderung von vielen Kolleginnen und Kollegen
aus der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
erhoben wird. Ich befürchte nur, dass die positive Beant-
wortung dieser Frage zum jetzigen Zeitpunkt Wasser auf
die Mühlen all derer wäre, die sagen: Dann können wir
uns ja die rechtlich verbindliche Aufnahme der Grund-
rechte-Charta in die EU-Verträge sparen. – Deshalb meine
herzliche Bitte: Wir sollten diese Frage dann entscheiden,
wenn sie ansteht, wenn es nämlich darum geht, in der
großen Regierungskonferenz 2004 mit der Kompetenzab-
grenzung, mit der Reform der Institutionen und mit der
Aufnahme der Grundrechte-Charta einen ersten Schritt zu
einem europäischen Verfassungsvertrag zu tun.

Wir haben in den letzten Jahren viel erreicht, was die
effektive Durchsetzung von Menschenrechten nicht nur in
Europa, sondern auch darüber hinaus angeht. Wir müssen
jetzt dafür sorgen, dass der Druck aus dem Kessel nicht
entweicht, wir müssen über diese Fragen diskutieren und
wir müssen unsere nationalen Verantwortlichen, die Jus-
tizministerin, den Außenminister und vor allen Dingen
den Finanzminister, immer wieder damit quälen, dass wir
sie auch öffentlich fragen: Was tut ihr dafür, dass eure

Sonntagsreden endlich auch zu den notwendigen prakti-
schen Konsequenzen führen?

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412701900
Ich erteile der Kolle-
gin Hedi Wegener, SPD-Fraktion, das Wort.


Hedi Wegener (SPD):
Rede ID: ID1412702000
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Ich versuche, mich in die Situation
der Männer und Frauen hineinzuversetzen, die vor 50 Jah-
ren, nach dem Ende des Krieges, bereit waren, die Kon-
vention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfrei-
heiten zu erarbeiten. Das Gewissen Europas war nach
zwei Katastrophen wieder präsent und handlungsfähig.
Und nicht nur das! Der alte Kontinent erhob Anspruch auf
eine weltweite Führungsrolle in der Frage der Menschen-
rechte. Es gab auch ein Vorbild: die UN-Charta.

Die Europäische Menschenrechtskonvention geht aber
teilweise weiter als die Allgemeine Erklärung der Men-
schenrechte der Vereinten Nationen. Ihre Bestimmungen
sind bei Missachtung und Verstößen vor dem Europä-
ischen Gerichtshof für Menschenrechte einklagbar.

Die Ministerin hat es schon gesagt: Für mehr als
800 Millionen Menschen in mittlerweile 41 Staaten Euro-
pas ist die Europäische Menschenrechtskonvention zu ei-
nem Schutzsystem von unschätzbarem Wert geworden.

Ein Katalog der Grundfreiheiten war also gerade
nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges in Europa
unverzichtbar geworden. Aber fast ganz Europa unter ein
Wertesystem zu subsummieren hat auch Grenzen und be-
gegnet Schwierigkeiten. Mit der Konvention in Europa ist
ein wichtiger Schritt gemacht worden in einer Welt, die
annähernd gleiche Wertesysteme hat. In den meisten eu-
ropäischen Verfassungen, soweit die Länder eine haben,
sind diese Grundrechte verankert. Die Diskussion um die
EU-Grundrechte-Charta, die jetzt vorliegt, zeigt aber
auch, dass die EMRK inhaltlich nicht ausreichend ist für
eine Europäische Union als Wertegemeinschaft.

Wir in Deutschland haben auch positive Beispiele für
den Umgang mit Rechten von Minderheiten. Dänen sind
im Landtag von Schleswig-Holstein vertreten; ebenso
werden die Minderheitsrechte der Deutschen in Däne-
mark gewahrt. Auf beiden Seiten haben sie jeweils das
Recht, ihre Kultur zu leben: in Schulen, in ihrer Sprache,
in Bibliotheken, Sportvereinen. Das ist Alltag hier wie
dort. Die Sorben sind ein weiteres Beispiel in Deutschland
für eine geglückte Verankerung von Minderheitsrechten.
Schauen Sie einmal über die Grenzen nach Europa. Ich
nenne den Konflikt der Korsen in Frankreich, der Basken
in Nordspanien, der Katalanen in Südspanien, der ka-
tholischen Iren in Irland, der Bretonen in Frankreich, der
Südtiroler in Italien bis zur heutigen Zeit noch –, der un-
garischen Minderheiten in Slowenien und der Slowakei,
der Russen im Baltikum. Die Probleme sind eigentlich
überall gelöst – theoretisch. Aber wie ist es in der Praxis?
Es zeigt sich in Deutschland wie auch im übrigen Europa,
dass es Akzeptanz in den Herzen und in den Köpfen ge-
ben muss.




Peter Altmaier
12142


(C)



(D)



(A)



(B)


Herr Präsident, Sie haben vor einigen Tagen hier ge-
sagt: Wir müssen das Anderssein akzeptieren lernen.
Deutschland beweist seine Größe, wenn es die Selbstbe-
stimmung aller und eigene Identitäten zulässt. Es gibt
Menschengruppen, die dazu nur begrenzte Möglichkeiten
haben.

Trotz der Fortschritte sind die Menschenrechte für
Mädchen und Frauen immer noch nicht gesichert. Welt-
weit werden Frauen geschlagen, vergewaltigt, ver-
schleppt oder verstümmelt. Hinzu kommen Men-
schenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und
Kindern, die sich immer mehr durch die internationale
organisierte Kriminalität verfestigen. Mehr als 1 000 Op-
fer von Menschenhandel pro Jahr haben wir allein in
Deutschland. Das sind nur die ermittelten Fälle. Die
Dunkelziffer ist vermutlich viel größer. Statistische Er-
hebungen belegen, dass sich das Delikt in Deutschland
etabliert hat. Das ist organisierte Kriminalität. Hohe Ge-
winne bei relativ geringem Risiko sind ein starker Anreiz
für die Täter. Die Umsätze allein im deutschen Rotlicht-
milieu werden auf eine zweistellige Milliardenhöhe ge-
schätzt. Frauenrechte werden demnach sehr oft nicht als
Menschenrechte anerkannt. Ein grundlegendes Umden-
ken ist nur in Ansätzen spürbar.

Noch ein Beispiel: Nach wie vor werden weltweit pro
Jahr etwa 2 Millionen Mädchen an ihren Geschlechtsor-
ganen verstümmelt. Insgesamt sind davon 130 Millionen
Frauen in der Welt betroffen. Wenn wir auch sagen, dass
das Länder sind, die weit weg sind, so betrifft uns das
Thema doch in einer Welt, die immer mehr zusammen-
rückt, in einem Deutschland, in einem Europa, das offen
sein will für alle Menschen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Selbst der Tod dieser Frauen – die Todesrate liegt bei
30 Prozent – wird um der Tradition und der Menschenehre
willen einkalkuliert. Trotzdem wird Genitalverstümme-
lung in Deutschland nicht als Asylgrund anerkannt, weil
die deutsche Rechtsprechung gesellschaftlich bedingte
Gewalt nicht als staatliche Verfolgung und damit nicht als
asylrelevant einstuft. Wie ist das möglich angesichts der
hohen Qualität der Europäischen Menschenrechtskon-
vention, angesichts der vielen Bekenntnisse zur Notwen-
digkeit des Schutzes der Menschenrechte? Wie ist es
möglich, dass sich erst in den letzten Jahren das Bewusst-
sein und die Wahrnehmung für Frauenrechte verstärken?
Apropos Menschenbild: Die Behandlung des Themas Ab-
schiebehaft und Flughafenasyl steht demnächst auf unse-
rer Tagesordnung. In dieser Debatte steht aber schon fest:
So können wir mit Menschen nicht weiter umgehen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Auch wenn sie ihre Situation zum Teil selbst mit ver-
schulden, muss die Unterbringung menschenwürdig sein;
zumutbar reicht für mich nicht aus. Erst recht darf sie für
die allein reisenden Kinder nicht noch zusätzlich trauma-
tisierend sein. Todesfälle bei ihnen – das sind in Deutsch-
land immerhin über 20 im Jahr – dürfen einfach nicht hin-
genommen werden.


(Beifall bei der SPD und der PDS)


Auch dürfen keine Übergriffe von Menschen erfolgen, die
Staatsgewalt ausüben.


( V o r s i t z : Vizepräsidentin Anke Fuchs)

Neben den klassischen Rechten Verbot von Folter und

unmenschlicher Behandlung, Freiheit der Meinungsäuße-
rung, Versammlungsfreiheit und Diskriminierungsverbot
sind die Rechte in den letzten Jahren durch Zusatzproto-
kolle verändert worden. Vor 50 Jahren gab es zum Art. 2
noch folgende Ausführungen:

Niemand darf absichtlich getötet werden außer durch
die Vollstreckung eines Todesurteils, das ein Gericht
wegen eines Verbrechens verhängt hat, für das die
Todesstrafe gesetzlich vorgeschrieben ist.

Die Zeiten sind Gott sei Dank vorbei.

(Beifall bei der SPD)


Die Konvention hat in den letzten Jahrzehnten für ähn-
liche Abkommen in anderen Teilen der Welt Pate gestan-
den. Die Schaffung einer faktisch todesstrafenfreien Zone
in allen Mitgliedsländern des Europarates ist durch das
6. Zusatzprotokoll Wirklichkeit. Aber gerade dieses Pro-
tokoll wirft Fragen auf: Fragen nach der Interpretation der
Norm ebenso wie nach nationenübergreifenden Kompro-
missen, die auch wir eingehen müssen.

Die Abschaffung der Todesstrafe war vor 50 Jahren
noch nicht möglich. Es wird aber deutlich, dass es unter-
schiedliche Wertesysteme gibt, die eine generelle Ab-
schaffung der Todesstrafe verhindern. Zumindest für
mich ist es eine besondere Härte, mit einem Land freund-
schaftliche Beziehungen zu pflegen, in dem die Todes-
strafe eine akzeptierte Sanktion darstellt. Die Vereinigten
Staaten von Amerika, eines der Mutterländer der Demo-
kratie, geben meines Erachtens Anlass zur Besorgnis.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Seit dort 1977 die Todesstrafe wieder zugelassen worden
ist, wurden 653 Menschen hingerichtet. Seit Beginn der
90er-Jahre ist ein enormer Anstieg der Zahl der Hinrich-
tungen festzustellen. So wurden seit 1993 nicht weniger
als 450 Todesurteile vollstreckt. Mehr als 3 000 Gefange-
nen droht in den USA die Hinrichtung. Amnesty Interna-
tional ist kein anderes Land bekannt, in dem so viele
Todesstrafenkandidaten in den Gefängnissen sitzen. An-
gesichts dieser Fakten ist der Anspruch der USA, den
Menschenrechten, der Demokratie und der Rechtsstaat-
lichkeit weltweit zum Durchbruch zu verhelfen, kritisch
zu hinterfragen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412702100
Ich schließe die Aus-
sprache. Wir kommen zur Abstimmung.

Zunächst lasse ich über den Entschließungsantrag der
Fraktion der PDS auf Drucksache 14/4403 abstimmen.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Bei Zustimmung




Hedi Wegener

12143


(C)



(D)



(A)



(B)


der PDS und im Übrigen Ablehnung ist der Ent-
schließungsantrag abgelehnt.

Ich lasse über den Antrag der Fraktionen von SPD,
CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. mit dem
Titel „50 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention“
abstimmen. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksa-
che 14/4390? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Antrag ist einstimmig angenommen.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4298 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 e so-
wie Zusatzpunkt 4 auf:

a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- re-
gierung
Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats
Bodenschutz beim Bundesministerium für Um-
welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Wege zum vorsorgenden Bodenschutz
Fachliche Grundlagen und konzeptionelle
Schritte für eine erweiterte Bodenvorsorge
– Drucksache 14/2834 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht der Bundesregierung zum Jahresgut-
achten 1998 „Welt im Wandel – Strategien zur
Bewältigung globaler Umweltrisiken“ des Wis-
senschaftlichen Beirats der Bundesregierung
Globale Umweltänderungen
– Drucksache 14/3285 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

(f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus

c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Umweltgutachten 2000 des Rates von Sach-
verständigen für Umweltfragen
Schritte ins nächste Jahrtausend
– Drucksache 14/3363 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit

(Bayreuth)

F.D.P.
Novellierung der Verpackungsverordnung und
Flexibilisierung der Mehrwegquote
– Drucksache 14/3814 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten

e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Fraktionen von SPD und
BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
Grenzüberschreitende Zusammenarbeit zur
Stärkung des Schutzes der Böden
– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach,
Birgit Homburger, Hildebrecht Braun (Augsburg),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Erarbeitung einer internationalen Boden-
schutzkonvention
– Drucksachen 14/2567, 14/983, 14/3711 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Wieczorek (Böhlen)

Christa Reichard (Dresden)

Winfried Hermann
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Marita Sehn, Ulrike Flach, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Börsenhandel mit Emissionszertifikaten in
Deutschland konkret vorbereiten
– Drucksache 14/4395 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Marion Caspers-Merk, SPD-Fraktion.


Marion Caspers-Merk (SPD):
Rede ID: ID1412702200
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Schritte ins nächste
Jahrtausend“ hat der Rat von Sachverständigen für Um-
weltfragen sein Umweltgutachten genannt und damit die
Erwartungen an die Bundesregierung hinsichtlich der Ge-
staltung der Umweltpolitik in den nächsten Jahren formu-
liert.




Vizepräsidentin Anke Fuchs
12144


(C)



(D)



(A)



(B)


Betrachtet man die einzelnen Punkte des Gutachtens,
stellt man fest, dass sich nach den letzten zwei Jahren
niemand verstecken muss. Sehen wir uns zunächst das
Thema Nachhaltigkeit an. Hier hat die Enquete-Kom-
mission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ eine ein-
malige Wirkungsgeschichte. Noch nie wurden Forderun-
gen politisch so zeitnah aufgegriffen, noch nie ist es
gelungen, ein Thema in der Politik so dauerhaft zu veran-
kern, und noch nie hat eine Bundesregierung Empfehlun-
gen einer Enquete-Kommission dermaßen deutlich in
ihren Koalitionsvertrag übernommen.

Bislang mussten sich die Mitglieder von Enquete-
Kommissionen bewusst sein, dass ihre Arbeitsergebnisse
erst mit einer großen zeitlichen Verzögerung wahrgenom-
men und vor allem umgesetzt werden. So hatte beispiels-
weise die Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmo-
sphäre“ eigentlich alle grundsätzlichen Linien der
Klimaschutzpolitik zu einem frühen Zeitpunkt, nämlich
in der 12. Legislaturperiode, erarbeitet. Aber es dauerte ei-
nige Jahre, bis sich die Bundesregierung die Klima-
schutzziele zu Eigen gemacht hat. Wir sind noch immer
dabei, die Forderungen umzusetzen; denn ein umweltpo-
litisches Ziel ist schnell formuliert, aber die Umsetzung
wichtiger Schritte dauert. Ich bin sehr froh, dass die Bun-
desregierung bei diesem Thema nun mit ihrem Klima-
schutzprogramm Ernst gemacht hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Im Umweltgutachten wird gefordert, eine nationale
Nachhaltigkeitsstrategie zu erarbeiten. Auch dazu gab es
in diesem Sommer einen Kabinettsbeschluss der Bundes-
regierung. Ebenso gibt es beim Zukunftsinvestitionspro-
gramm einige Punkte, in denen Forderungen der Enquete-
Kommission aufgegriffen worden sind. Ich erinnere in
diesem Zusammenhang an die Themen flächensparendes
Bauen, Altbausanierung und Biotopverbundsysteme, al-
les Forderungen der Enquete-Kommission, die sich jetzt
in konkretem Handeln wieder finden.

Ich finde, es ist ein enormer Fortschritt – gerade in
einer Zeit, in der die Baukonjunktur weggebrochen ist –,
dass wir 400 Millionen DM in die Altbausanierung in-
vestieren und damit einen deutlichen Impuls Richtung
Nachhaltigkeit geben. Es ist ökologisch vernünftig, dass
Altbauten vernünftig gedämmt und nicht nur pinselsaniert
werden; es ist ökonomisch vernünftig, hier ein Anreizpro-
gramm zu schaffen, um Investitionen vor allem beim Mit-
telstand zu bewirken; und es ist sozial vernünftig, gerade
in einer Zeit, in der Bauarbeiter arbeitslos werden, ein
deutliches Zeichen zu setzen. Sie sehen also: Es wurden
nicht nur Forderungen gestellt, sondern mit dem Zukunfts-
investitionsprogramm ist es uns jetzt gelungen, in die
richtige Richtung zu gehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zu einem weiteren wichtigen Punkt, der Abfallwirt-
schaft, finden sich in dem Umweltgutachten zwei Forde-
rungen, die wir heute ganz aktuell aufgreifen können: eine
Änderung der TA Siedlungsabfall und eine Novelle der
Verpackungsverordnung. In beiden Bereichen sind wir

einen guten Schritt weitergekommen. Die TASi ist vonsei-
ten der Bundesregierung bereits beschlossen worden; das
Thema liegt jetzt im Bundesrat. Nach jahrelangem Streit
um die beste Art der Abfallbeseitigung – Müllverbrennung
oder biologisch-mechanische Verfahren – haben wir hier
zu einer Entscheidungsfindung beigetragen, indem wir bei
der TASi hohe Standards eingeführt und gleichzeitig den
Kommunen gesagt haben: Wer diese Standards erfüllt, hat
die Chance, selbst zu entscheiden, mit welcher Technik er
dieses Thema angeht. So heben wir den jahrelangen Inves-
titionsstau durch konsequentes Handeln auf und schaffen
es, den alten Streit zwischen Verbrennern und Kompostie-
rern ein Stück weit zu befrieden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Auch mit der Novelle der Verpackungsverordnung
sind wir seit gestern Abend einen guten Schritt weiter. Wir
haben es beim Thema Abfallpolitik immer mit 80 Milli-
onen Expertinnen und Experten zu tun. Das macht das
Thema so spannend: Beim Thema Mülltrennung kann je-
der mitreden. Die positiven Ansätze in der Abfallpolitik
– dass Abfälle vermieden werden – wollen wir in eine zu-
kunftsfähige Verpackungspolitik übertragen, die ökolo-
gisch vorteilhafte Verpackungen stützt und ökologisch
eindeutig nachteilige Verpackungen diskriminiert. Das ist
ein Punkt, bei dem das UBA-II-Gutachten, das in diesem
Sommer vorgelegt wurde, Klarheit gebracht hat. Denn
schon zum zweiten Mal hat eine Ökobilanz klar gemacht,
welche Verpackungen ökologisch vorteilhaft und welche
Verpackungen ökologisch eindeutig nachteilig sind.

Wie haben Handel und Industrie auf diese beiden Gut-
achten reagiert? Wir mussten eine dramatische Dosenflut
zur Kenntnis nehmen. Hatten Dosen 1991 noch einen An-
teil von 12 Prozent am Biermarkt, so liegen sie heute bei
über 20 Prozent. Die Zahlen, die bei einer Anhörung der
SPD-Bundestagsfraktion Anfang dieser Woche genannt
wurden, zeigen in eine noch dramatischere Richtung. Die
Mehrwegquote wird schon zum zweiten Mal deutlich ver-
fehlt.

Heute liegt auch ein Antrag der F.D.P. zum Thema
Verpackungsverordnung vor. Frau Kollegin Homburger,
ich bin mir sicher, dass Sie diesen Antrag im mittelstän-
disch geprägten Baden-Württemberg nicht vorzeigen
können. Denn Sie fordern eine Flexibilisierung der Mehr-
wegquote; Sie sagen aber nicht, wohin Sie wollen. Sie for-
dern, kein Pfand einzuführen; Sie bieten aber keine Alter-
native, wie die Mehrwegquote gestützt werden kann. Ich
kann mir vorstellen, wie diese Politik bei den vielen mit-
telständischen Brauereien und Mineralbrunnen ankommt.
Was haben Sie eigentlich bei der ganzen Debatte um die
Verpackungsverordnung gelernt?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Birgit Homburger [F.D.P.]: Gelassenheit und Sachverstand!)


Wenn jetzt schon zum zweiten Mal eine Ökobilanz deut-
lich macht, dass es ökologisch klar vorteilhafte und öko-
logisch klar nachteilige Verpackungen gibt, dann ist die
Politik zum Handeln aufgefordert.

Wir haben eine weitere Entwicklung zu berücksichti-
gen: das neue „working paper“ der EU-Kommission. Sie




Marion Caspers-Merk

12145


(C)



(D)



(A)



(B)


stimmt mit uns darin überein, dass in Europa anspruchs-
vollere Verwertungsquoten und darüber hinaus eine
Mindestmehrwegquote vorgeschrieben werden müssen.
Da kann man nun argumentieren: In dem Papier ist erst
einmal von 20 Prozent die Rede; das ist doch sehr we-
nig; wir sind bei 70 Prozent. – Man muss aber sagen,
dass damit in fünf europäischen Staaten erstmals Mehr-
wegsysteme vorgeschrieben würden. Wir sehen doch,
dass wir mit unserer Politik, eine anspruchsvolle Ver-
packungsverordnung zu machen und den Schutz der
Mehrwegquoten durchzusetzen, in die richtige Rich-
tung gegangen sind. Europa zeichnet unseren Weg nun
ein Stück weit nach.

Ich bin sehr froh, dass die Umweltminister der Länder
sich gestern auf eine deutliche Empfehlung geeinigt ha-
ben – lediglich ein Bundesland hat nicht zugestimmt –,
eine Pfandpflicht für ökologisch nachteilige Verpackun-
gen einzuführen und den Grundsatz „Mehrweg ist besser
als Einweg“ da, wo wir es nachweisen können, in politi-
sches Handeln umzusetzen. Ich glaube, dass damit ein
monatelanger Streit richtig beendet wurde.

Frau Homburger, eines kann ich nicht begreifen. Wenn
wir Umweltpolitik nach Ihrem Motto machen würden,
was würde das für andere Politikfelder bedeuten? Wenn
eine Quote nicht erreicht wird, dann ändern wir sie. Über-
legen Sie einmal, was das zum Beispiel im Immissions-
schutz bedeuten würde! Wenn ein Grenzwert überschrit-
ten wird, dann erhöhen wir ihn. Damit verabschiedet sich
die Umweltpolitik völlig. Ich muss sagen, ich war eini-
germaßen entsetzt, als ich Ihren Antrag gelesen habe.
Denn ich weiß, dass Sie eine solche Umweltpolitik nicht
im Ernst fordern können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die SPD-Bundestagsfraktion muss nach der Anhörung
und der Erklärung der Umweltminister drei Dinge deut-
lich herausstellen: Erstens. Wir werden die Verpackungs-
verordnung novellieren. Zweitens. Wir werden eine
Pfandpflicht für ökologisch nachteilige Verpackungen
einführen. Drittens. Das Pfand bleibt bestehen.

Frau Merkel ist bei der letzten Novelle 1998 bei der
Pfandpflicht geblieben. Ich bin einmal gespannt, wie
sich die Kollegen der Union zu unserem Vorschlag ver-
halten werden. Es ist in diesem Zusammenhang interes-
sant, dass auch die B-Länder, also auch Bayern und Ba-
den-Württemberg, gestern der Pfandpflicht zugestimmt
haben. Es wäre aber nicht das erste Mal, dass sich Frau
Merkel von einmal gefundenen Instrumenten in der Um-
weltpolitik verabschiedet. Deswegen sind wir sehr ge-
spannt, wie Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, auf diesen Vorschlag
reagieren werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Für uns gilt es, den Pfad der Zukunftsfähigkeit weiter
zu gehen. Ich glaube, dass wir im Bereich der Abfallpoli-
tik die Vorstellungen, die der Rat von Sachverständigen
für Umweltfragen geäußert hat, schon ein ganzes Stück
umgesetzt haben. Auch bei der Nachhaltigkeit sind wir

auf einem guten Weg; ein Kabinettsbeschluss dazu und
das Klimaschutzprogramm liegen bereits vor. Man muss
zwar zugeben, dass wir noch nicht alles erreicht haben.
Aber es gilt auch: Nachhaltigkeit erreichen wir nicht über
Nacht, sondern Schritt für Schritt durch konsequentes
Handeln.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412702300
Ich erteile nun dem
Kollegen Dr. Klaus Lippold, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.


Dr. Klaus W. Lippold (CDU):
Rede ID: ID1412702400
Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Wir haben jetzt Halbzeit der rot-grünen Regierung. Die
rot-grüne Koalition ist vor zwei Jahren mit der Aussage
angetreten:

Die ökologische Modernisierung ist die große
Chance, um die natürlichen Lebensgrundlagen zu
schützen und mehr Arbeit zu schaffen. Die neue
Bundesregierung wird dafür sorgen, dass unser Land
hierbei eine Vorreiterrolle einnimmt.

Das war die Ankündigung in der Koalitionsvereinbarung.

(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Sehr gut!)


Heute können wir festhalten, dass dieses Ziel nicht er-
reicht worden ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Sachverständigenrat bringt ganz deutlich zum

Ausdruck, dass mit Ihrer Koalition in diesem Bereich
hoch gesteckte Erwartungen verbunden waren, die sich
schlicht und einfach nicht erfüllt haben. Sie hatten den
Mund zu voll genommen und haben hinterher nicht sehr
viel Konkretes vorgelegt. Zu dem, was Sie konkret vor-
gelegt haben, nimmt der Sachverständigenrat deutlich
Stellung.

Ich komme jetzt auf ein Thema zu sprechen, das wir in
der letzten Zeit häufiger hier diskutiert haben: die so ge-
nannte Ökosteuer.Dies ist meines Erachtens zu Recht ge-
schehen, weil die Ökosteuer der falscheste Weg ist, den
man gehen kann. Der Sachverständigenrat sagt hierzu – er
bestätigt damit unsere Auffassung, dass Sie mit diesem In-
strument keine Lenkungswirkung erreichen –:

Welche Umweltinanspruchnahme durch das Gesetz
in erster Linie vermieden werden soll, geht aus der
Zielsetzung nicht hervor.

Damit wird hier in Abrede gestellt, dass Sie mit diesem In-
strument eine Umweltschutzfunktion erreichen können.

Es wird auch gesagt, dass es andere Instrumente gibt,
die wesentlich besser geeignet wären, dieses Ziel zu er-
reichen, als es eine Ökosteuer – zumal diese vermeintli-
che Ökosteuer – vermag.


(Beifall bei der CDU/CSU)





Marion Caspers-Merk
12146


(C)



(D)



(A)



(B)


Warum verfolgt die Bundesregierung nicht, wie der Sach-
verständigenrat sagt, den konsequenten Weg, Zertifikate
in die Überlegung mit einzubeziehen und dazu zumindest
Lösungsansätze zu formulieren? Im Umweltgutachten
heißt es:

Das System handelbarer CO2-Lizenzen bzw. ver-gleichbare Lösungen für andere klimarelevante Gase
stellt die ökologisch und ökonomisch überlegene Lö-
sung dar.

Ich sage ganz deutlich: Der Weg ist falsch und das Ziel
ist nicht bekannt. Trotzdem halten Sie stur an Ihrem Vor-
haben fest, weil dies ein Kernstück so genannter rot-grü-
ner Umweltschutzpolitik sein soll. Dies geschieht zulas-
ten der Menschen, die Sie damit abstrafen, ohne dass für
den Umweltschutz etwas erreicht wird. Sie belasten die
sozial Schwachen und gefährden Arbeitsplätze. Trotzdem
negieren Sie diese negativen Auswirkungen und sagen:
Die Menschen werden das schon irgendwie regeln. Diese
sträfliche Arroganz lassen wir Ihnen nicht durchgehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Hier sitzen wir! Sie gucken immer nur nach rechts!)


– Herr Müller, bei Ihnen findet doch in letzter Zeit die
Umweltdiskussion kaum statt. Also muss ich schon ein-
mal zu Herrn Trittin herüberschauen.

Ich komme zum nächsten Punkt, nämlich zur pau-
schalen Stromsteuer. Der Sachverständigenrat sagt:

Der Wirtschaft und den Haushalten wird mit der pau-
schalen Strombesteuerung eine unnötige Zusatzlast
auferlegt.

Wann äußern sich Wissenschaftler gegenüber einer Bun-
desregierung eigentlich so offen und kritisch? – Sehr sel-
ten. Wenn sich der Sachverständigenrat gezwungen sieht,
mit dieser Bundesregierung so Klartext zu sprechen, dann
müssten Sie doch endlich einmal ins Nachdenken kom-
men, von Ihrer ideologischen Verbiesterung abgehen und
die Dinge anders betrachten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Dies sind schließlich keine Zitate aus einer Pressemittei-
lung der CDU/CSU, sondern Zitate aus dem Gutachten
des Sachverständigenrates.

Ich komme zu einem Kernpunkt der Ökologie, einem
Punkt, den auch Herr Loske verschiedentlich angemahnt
hat: Naturschutz. Sie haben versprochen, dieses Thema
mit größter Intensität anzugehen. Aber nach zwei Jahren
rot-grüner Regierung liegt noch immer kein Gesetzent-
wurf vor. Es erfolgt eine Ankündigung nach der anderen,
aber im Kabinett wird nicht gehandelt. Lassen Sie doch
die Politik der Ankündigungen und tun Sie einmal etwas!
Legen Sie eine Novelle zum Bundesnaturschutzgesetz auf
den Tisch, damit wir darüber diskutieren und im Natur-
schutzbereich etwas verbessern können.


(Marion Caspers-Merk [SPD]: Machen wir!)

Bislang waren von Ihnen zu verschiedenen Bereichen
– ich nenne nur die Biotopnetze – lediglich vollmundige
Ankündigungen zu hören. Geschehen aber ist hier nichts.

Nichts als Ankündigungen! Sie lassen in dieser Frage
– das wird aus Gesprächen mit den Naturschutzverbänden
erkennbar – die Naturschützer im Stich.

Ich sage es ganz deutlich: Wir wollen Naturschutz und
wir wollen mehr Naturschutz, aber nicht gegen die Land-
wirtschaft, wie Sie es tun, sondern mit der Landwirtschaft.
An die Spitze stellen wollen wir dabei den Vertragsnatur-
schutz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Da könnten Sie endlich einmal in Bewegung kommen, an-
statt in Ihrer verbohrten Situation, in der Sie sich befin-
den, zu verbleiben.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Sie kritisieren dauernd die CDU!)


Ich komme zu einem weiteren Punkt. Der Sachver-
ständigenrat stellt völlig zu Recht fest, dass Deutschland
beim Klimaschutz im internationalen Vergleich zurück-
gefallen ist; wir haben die Vorreiterrolle eingebüßt. Wir
haben in diesem Hause schon mehrfach deutlich gemacht,
dass Sie hier nicht innovativ sind. Was Sie tun, ist, die
Maßnahmen, die wir auf den Weg gebracht haben, fortzu-
führen.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

Sie haben das IMA-Programm verspätet vorgelegt; wir

werden dies hier hoffentlich einmal ausführlich diskutie-
ren. Aber auch darin haben Sie lediglich Ziele formuliert;
alle Vorstellungen, Vorschriften, Erlasse, Verordnungen
und Vereinbarungen sind nur Ziele. Konkretisieren Sie
dies doch einmal! Sagen Sie, wie Sie diese Ziele umset-
zen wollen!

Sie haben offensichtlich – das ist neu – die Praxis der
Selbstverpflichtungserklärungen mit der Wirtschaft
fortgeschrieben. Das ist etwas, was wir schon lange ge-
fordert haben. Heute aber werden Selbstverpflichtungen
nicht mehr festgeschrieben. Es wird vorsichtigerweise nur
etwas paraphiert, wie zum Beispiel der Konsensvertrag
mit der Wirtschaft. Was ist das eigentlich für eine neue
Form? Gibt es jetzt noch nicht einmal mehr klare Verein-
barungen? Sie paraphieren, weil Sie sich schlussendlich
doch nicht vollends einig sind. Lassen Sie das und legen
Sie eine wirkliche Selbstverpflichtung vor, damit wir da-
rüber sprechen können! Das alles aber tun Sie nicht. Da-
mit erfolgt Entscheidendes zu spät.

Es gibt eine Reihe anderer Punkte in diesem Bereich,
die moniert werden müssen. Wie gehen Sie eigentlich in
die internationalen Verhandlungen? Wie gehen Sie in die
nächste Klimaschutzkonferenz? Vor einigen Wochen ha-
ben Sie, Herr Trittin, mit dem englischen Umweltminister
einen wunderschönen Zeitungsartikel zustande gebracht,
in dem steht, was man alles machen müsste, was man
alles machen sollte. Nur, Sie haben nichts gemacht. Es
gibt kein strategisches Papier, kein operatives Programm
von Ihnen, das einmal diskutiert worden wäre. Ganz im
Gegenteil: Sie stolpern in die Verhandlungen mit den
USA, die klare Vorstellungen haben. Obwohl wir Ihnen
das schon zu Kioto ins Stammbuch geschrieben haben,
dass wir sofort über eine Strategie nachdenken müssen




Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach)


12147


(C)



(D)



(A)



(B)


– damals hat das Frau Merkel noch auf den Weg ge-
bracht –, haben Sie das über zweieinhalb Jahre ver-
schlampt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wenn man mit zuständigen Wissenschaftlern spricht,

sagen die: Auf diesem Ohr ist der Minister taub. Was ist
denn heute mit Treibhausgasemissionen? Wie soll das
konkret aussehen? Wie sollen die Zertifikate gehandelt
werden? Wie stehen Sie zur Senke? Die Frage ist nicht,
worüber Sie noch einmal nachdenken müssten. Nein, in
ein paar Wochen ist diese Klimakonferenz und von Ihnen
liegt nichts vor außer warme Luft. Das können wir Ihnen
so nicht durchgehen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich könnte

jetzt noch auf verschiedenes anderes aufmerksam ma-
chen: dass Sie keine ausgewogene Energiekonzeption ha-
ben, die langfristig abgestimmt und strategisch auf Um-
weltschutz hin orientiert ist – auch das schreibt Ihnen der
Sachverständigenrat ins Stammbuch –, dass Sie in ver-
schiedenen anderen Bereichen, zum Beispiel dem Öko-
audit, total versagen.

Sie wollen, dass die Wirtschaft mehr in Sachen Öko-
audit unternimmt. Seit fünf Jahren wird darüber gespro-
chen – noch unter der alten Bundesregierung, die dies
wollte –, dass für die Betriebe, die Ökoaudit machen, ein
Anreiz geschaffen wird. Das haben Sie auf Eis gelegt. Da-
von haben Sie sich verabschiedet. Jetzt müssen Sie fest-
stellen, dass Ihnen der Sachverständigenrat ins Stamm-
buch schreibt: Hier passiert nichts mehr, obwohl sich die
ISO 14 000 längst weiterentwickelt. Sie führen „Ökoau-
dit“ zwar immer noch im Munde, aber Sie tun nichts, um
das Interesse der kleinen und mittleren Unternehmen da-
ran zu wecken und es entsprechend umzusetzen. Ganz im
Gegenteil!

Das sind Schwachpunkte, Herr Trittin. Das sind Kern-
punkte, die wir Ihnen so einfach nicht durchgehen lassen
können. Es wäre viel besser, Sie hätten eine Vision, Sie
hätten einen strategischen Ansatz und entwickelten da-
raus operativ etwas. Genau das – sagt der Sachverstän-
digenrat – ist bei Ihnen nicht der Fall. Wir bedauern das.
So kommen wir mit der Umweltpolitik in der Bundesre-
publik Deutschland nicht weiter.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie wollen sie doch immer weiter behindern! Sie sammeln doch nur Unterschriften, um Umweltpolitik kaputtzumachen!)


Dass die Jugendlichen langsam desinteressiert werden,
liegt nicht zuletzt daran, dass Sie eine solche Bilanz vor-
legen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412702500
Jetzt hat der Bundes-
minister Jürgen Trittin das Wort.

Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit: Frau Präsidentin! Meine

Damen und Herren! Gelegentlich habe ich mich gefragt,
warum die Beifallsfreudigkeit bei der Union so groß ist.
Ich habe heute eine Erklärung dafür gefunden. Weil Sie
immer den gleichen Text vortragen, wissen die Kollegen
schon genau, wann sie klatschen müssen. Insofern brau-
chen sie nicht zuzuhören.


(Lachen und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Wenn Sie immer denselben Mist machen, müssen wir dieselben Argumente vortragen!)


Im Ernst: Ich habe diese Rede von Herrn Lippold in
diesem Hause schon mindestens zehn Mal gehört. Sie be-
steht im Wesentlichen darin, uns mitzuteilen: Herr
Lippold ist gegen eine Ökologisierung des Steuersystems.
Herr Lippold ist gegen die Kernenergie.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Dafür!)

– Entschuldigung! Jetzt habe ich ihn in Verdacht gebracht.
Er ist natürlich dafür. Ich bitte um Nachsicht, Herr Kol-
lege.

Abschließend informiert er uns darüber, dass er von
den strategischen Vorstellungen der Bundesregierung
zum Klimaschutz keine Ahnung hat. Sehen Sie, ich bin ja
für vieles zuständig, lieber Kollege Lippold. Aber für Ihre
eigene Ahnungslosigkeit und die Unfähigkeit oder den
Unwillen zu lesen, dafür bin ich nicht verantwortlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn Sie sich auf den Sachverständigenrat für Um-
weltfragen berufen, rate ich dringend dazu,


(Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mal zu lesen!)


das Gutachten einmal in Gänze zu lesen,

(Birgit Homburger [F.D.P.]: Das machen Sie mal!)

einmal zu lesen, was er über die Notwendigkeit des Aus-
stiegs aus der Atomenergie schreibt: Die Frage der Endla-
gerung von Atommüll ist von denjenigen, die den Einstieg
in diese Technologie zu verantworten haben, nie gelöst
worden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist wahr!)


Ich rate Ihnen auch dringend, mit Ihren vollmundigen
Erklärungen zum Naturschutz sehr zurückhaltend zu sein.
Zu dem, was die Sachverständigen dort einklagen und von
uns erwarten,


(Zuruf von der CDU/CSU: Da läuft doch nichts!)


haben wir einen Referentenentwurf vorgelegt. Hingegen
wird in allen CDU-Landesverbänden und deren befreun-
deten Organisationen massiv gegen eine Verbesserung
des Naturschutzes mobil gemacht.


(Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Hier tun sie so, als wären sie die obersten Naturschützer!)





Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach)

12148


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich fürchte, Sie werden an dieser Stelle enden wie an
anderen: dass Sie hier im Bundestag lautstark etwas for-
dern, was Sie zunächst in den Ländern und schließlich
gemeinsam bekämpfen. Das ist das umweltpolitische Pro-
fil der Union.


(Beifall bei der SPD – Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das ist ein Schmarren!)


– Von wegen „Schmarren!“, Herr Kollege – das soll ja ein
freundliches bayerisches Wort sein, habe ich als Fisch-
kopf mir sagen lassen –, ich kann es Ihnen durchdeklinie-
ren.


(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Ja, das stimmt!)


Sie haben jahrelang gefordert – auch das steht im Gut-
achten des Sachverständigenrates –, wir sollten verhin-
dern, dass es Scheinverwertung gibt und dass, wie es bis-
her der Fall ist, immer noch mehr als 50 Prozent des
Abfalls ohne Vorbehandlung auf einer Deponie landen.

Die Bundesregierung hat jetzt einen Verordnungsent-
wurf verabschiedet und vorgelegt, der ein Versäumnis von
Ihnen beseitigt und ein Verbot der Ablagerung nicht vor-
behandelter Abfälle auf Deponien zum Ziel hat. Das ge-
schieht nicht in Form einer technischen Anleitung, son-
dern in Form einer bußgeldbewehrten Verordnung, auf
deren Grundlage jeder Bürger und jeder Anlieger einer
Deponie klagen kann. Was höre ich aus dem Lande Ba-
den-Württemberg als erstes Echo darauf? – Wir sind dage-
gen! Wir sind dagegen, sagen sie, obwohl wir sehr genau
wissen, dass unsere Gemeinden unter Scheinverwertung
und dem Entzug von Gewerbemüll leiden.

Sie selber haben einmal die Durchsetzung der TASied-
lungsabfall und damit die Beendigung der Deponierung
auf niedrigen Standards zum Jahre 2005 gefordert. In dem
Moment, da wir das machen, sind Sie aber dagegen und
versuchen, dieses im Bundesrat zu blockieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das ist Ihre Logik und entspricht der Art und Weise, wie
Sie Umweltpolitik machen. Entsprechend verhalten Sie
sich auch gegenüber den Gemeinden in der Frage von Pla-
nungssicherheit und Ökologie beispielsweise im Abfall-
sektor.

Ich möchte es an dieser Stelle bei diesem Hinweis be-
lassen und nur noch eine Anmerkung zum Thema Klima-
schutz machen. Sie können uns natürlich vorhalten, wir
hätten nur Ziele vorgelegt. Aber anders als Sie haben wir
nicht ein Globalziel genannt, sondern erstmalig den pri-
vaten Haushalten, dem Verkehr und der Industrie kon-
krete Reduktionsziele vorgegeben und außerdem den Un-
ternehmen zur Erreichung dieser Reduktionsziele, zum
Beispiel bei der Gebäudesanierung oder bei der Verlage-
rung von Gütern auf die Bahn, konkret Geld zur Verfü-
gung gestellt. Wir haben Instrumente wie zum Beispiel
die entfernungsabhängige Autobahngebühr für LKWs be-
nannt. Wir haben diese Instrumente auch implementiert,
zum Beispiel in Form der Ökosteuer, die einen Anreiz
zum Energiesparen darstellt. Wenn Sie aber gegen diese
Instrumente sind, dann sagen Sie das und behaupten bitte

nicht, wir hätten lediglich Ziele vorgelegt. In der Tat ha-
ben wir diese Ziele sektoral sehr präzise bestimmt und mit
entsprechenden Instrumenten versehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich bin jetzt sehr gespannt, wie sich die beiden Frak-
tionen CDU/CSU und F.D.P. in der aktuellen politischen
Debatte etwa zu der Frage verhalten werden, wie wir
künftig damit umgehen, dass ökologisch unverträglichere
Verpackungen, zum Beispiel für Getränke, im Vor-
marsch sind. Sie müssen es sich einmal klar machen: In
diesem Lande wurden in diesem Jahr 183 Millionen Bier-
dosen mehr als im Jahre zuvor verkauft; und das bei sta-
gnierendem Bierabsatz. Das hat auch Auswirkungen in-
nerhalb der Wirtschaft, zum Beispiel auf das Verhältnis
zwischen kleinen und großen Brauereien.


(Beifall der Abg. Eva Bulling-Schröter [PDS])

Große Brauereien können beides anbieten, kleine Braue-
reien müssen sich entscheiden. Kleine Brauereien haben
sich auf die Verpackungsverordnung des Herrn Töpfer,
die Frau Merkel mit der F.D.P. erst 1998 verändert hat,
verlassen und haben in Mehrwegsysteme investiert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Sie erwarten von dieser Bundesregierung, vom Bundestag
und vom Bundesrat, dass dieses Vertrauen in die Rechts-
ordnung nicht enttäuscht wird.

Sie haben gute Gründe dafür, denn auch die zweite
Ökobilanz für Getränkeverpackungen hat zu dem eindeu-
tigen Ergebnis geführt, dass Dosen und Einwegglas öko-
logisch nachteilig sind. Wir sollten daraus gemeinsam die
Konsequenz ziehen und uns von einer Verordnung vom
Anfang der 90er-Jahre, deren Kompromisscharakter un-
übersehbar ist und die an einigen Stellen unlogisch ist
– wenn sie zum Beispiel jetzt so in Kraft treten würde,
würde Pfand auf die Dose Bier erhoben, aber auf die Dose
Cola nicht –, zugunsten einer einfachen und klaren Rege-
lung verabschieden. Egal, wie man zur Frage „Dose oder
Einwegglas“ steht, Tatsache ist: Ökologisch auch nur in
die Nähe des Vertretbaren kommen diese Verpackungen
nur dann, wenn sie tatsächlich verwertet werden. Damit
sie verwertet werden, ist das Pfand unzweifelhaft ein ver-
nünftiges Instrument.

Ich bin völlig gegen dieses Gerede vom „Zwangs-
pfand“, das man von Herrn Henkel und anderen hört. Ist
denn jemand gezwungen, seine Dose in die Landschaft
oder auf die Straße zu werfen? Niemand zwingt ihn dazu!
Jeder kann seine Dose zurückbringen und bekommt sein
Pfandgeld.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Ich freue mich, dass die Umweltminister aller Länder
unabhängig von der Parteizugehörigkeit – bei der TA
Siedlungsabfall haben wir andere Erfahrungen gemacht;
ich habe das zu Beginn meiner Rede beschrieben – zu der
von mir vorgeschlagenen einfachen Regelung – weg von




Bundesminister Jürgen Trittin

12149


(C)



(D)



(A)



(B)


dem ganzen Quotengerede hin zu einer künftigen Unter-
werfung aller ökologisch nachteiligen Verpackungen un-
ter eine Pfandpflicht, um ihre Verwertung sicherzustel-
len – Ja gesagt haben. Dies wird für die Getränkewirt-
schaft in diesem Lande Folgen haben.

Dieser Vorschlag wird vom Städte- und Gemeinde-
bund, vom Deutschen Landkreistag, vom Städtetag, von
den mittelständischen Brauereien in diesem Lande und
vom Getränkefachhandel unterstützt. Wir haben es mit
einer sehr breiten Koalition, gerade was die Wirtschaft an-
geht, zu tun – sofern man die Aussagen der Wirtschaft
nicht mit dem ideologischen Gerede des BDI-Präsidenten
verwechselt.

An dieser Stelle muss ich Ihnen auch im Hinblick auf
den Antrag der F.D.P. eines sagen: Wettbewerb und Öko-
logie stellen uns die klare Aufgabe, dass wir aus ökologi-
schen und ökonomischen Gründen nicht zulassen dürfen,
dass mithilfe von Einweg kleine ortsnahe Unternehmen
mit ihren ökologisch vorteilhaften Verpackungen von
großen Brauereien und Brunnen vom Markt gefegt wer-
den. Wer dabei tatenlos zuschaut, der kann für sich nicht
in Anspruch nehmen, für den Mittelstand in diesem Lande
zu sprechen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich füge eines hinzu: Von der CDU ist der unselige Be-
griff der „deutschen Leitkultur“ in den Raum gestellt wor-
den.


(Widerspruch bei der CDU/CSU – Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Was hat denn das jetzt mit Umweltpolitik zu tun?)


– Das sage ich Ihnen gleich. – Wenn sich dieser Trend hin
zu immer mehr großen Brauereien und zur Verdrängung
von kleinen Brauereien fortsetzt, dann würde das in der
Tat einen Teil unserer Kultur – in Deutschland gibt es eine
vielfältige Bierkultur: von Weizen bis Pils, von Kölsch bis
Alt – zerstören. Deswegen freue ich mich, dass Schwarze,
Rote und Grüne anders als die Blau-Gelben dafür sind,
dass wir diesen Teil unserer vielfältigen Kultur gemein-
sam erhalten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412702600
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich dem Kollegen Lippold das Wort.


Dr. Klaus W. Lippold (CDU):
Rede ID: ID1412702700
Frau
Präsidentin! Herr Minister, ich möchte einige wenige An-
merkungen machen. Der vermeintliche Vorwurf, hier
werde immer wieder das Gleiche erzählt, trifft uns nicht.
Solange Sie mit Ihren Defiziten nicht aufräumen, werden
wir den Finger immer wieder in die Wunde legen und sa-
gen, was Sie nicht tun. Sie haben sich gerade wieder zu
den wesentlichen Punkten, die wir vorher angesprochen
haben – strategisches internationales Vorgehen beim Kli-
maschutz –, völlig ausgeschwiegen.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Herr Lippold, Sie wissen einfach nicht mehr!)


Es muss angesprochen werden, dass Sie auf diesem Ge-
biet ein absoluter Versager sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Bei Ihnen langt es gerade dazu, einen Artikel zusammen
mit einem Umweltminister einer anderen Nation zu
schreiben. Sie sind aber nicht in der Lage, strategisch und
operativ zu arbeiten, wie es zum Beispiel die USA tun.

Herr Trittin, ich komme zur Kernkraft. Dass sich die-
jenigen, die Endlagerprojekte verhindern, hier hinstellen
und sagen: „Da passiert nichts“, ist – das sage ich so deut-
lich – wirklich eine große Unverschämtheit. Sie tun alles,
damit eine geordnete Endlagerung nicht möglich ist, und
dann berufen Sie sich darauf, dass es in Deutschland zur-
zeit keine gesicherte Endlagerung gebe. Setzen Sie doch
einmal den Weg fort, den Sie mittlerweile koalitionär ver-
einbart haben! Denken Sie auch daran, dass Sie noch
einen Konsensvertrag zu erfüllen haben!

Herr Trittin, bei bestimmten Dingen wird immer wie-
der deutlich, dass Sie in der langen Kette der Umweltmi-
nister derjenige sind, der am wenigsten Detailkenntnisse
besitzt. Sie haben gerade zu Baden-Württemberg gesagt,
das Land akzeptiere keine Vorbehandlungen. Das ist völ-
lig falsch. Wir haben erst gestern Gespräche mit Vertre-
tern dieses Landes geführt. Dabei ist sehr deutlich gewor-
den, dass man von der Grenzlinie 2005 nicht abweichen
will. Sie sollten sich besser informieren. Sie sollten nicht
bei Ihren Kernthemen – sie sind falsch, siehe Ökosteuer –
bleiben und Sie sollten nicht so dummes Zeug reden, wie
Sie es gerade gemacht haben. Das können wir Ihnen nicht
durchgehen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Herr Trittin, zur Gebäudesanierung. Das, was an Ih-

rer Politik gut ist, kommt von uns. Die KfW-Programme
zur Gebäudesanierung haben die unionsgeführten Par-
teien gemeinschaftlich mit der F.D.P. auf den Weg ge-
bracht. Sie führen das fort. Wir haben Ihr Vorhaben übri-
gens nicht kritisiert, weil wir im Gegensatz zu Ihnen das,
was vernünftig ist, akzeptieren und nicht aus ideologi-
scher Verbohrtheit sagen: Weil es von Trittin kommt, ist
es schlecht.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

Das haben wir nicht nötig. Wo Sie ausnahmsweise einmal
sachlich gut sind, akzeptieren wir das. Nur, bedauer-
licherweise ist das der Ausnahmefall.

In diesem Bereich sind Sie nicht kreativ. Wir wollen
weitergehen, Herr Trittin: Wir wollen neben der Zinsbe-
zuschussung auch noch eine steuerliche Förderung. Ich
hoffe, dass Sie diesen Weg mitgehen, damit wir wesent-
lich mehr Erfolg haben als in der Vergangenheit. Hier gibt
es weite Bereiche, die noch angegangen und aufgearbei-
tet werden müssen.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412702800
Herr Kollege, kom-
men Sie bitte zum Schluss.


Dr. Klaus W. Lippold (CDU):
Rede ID: ID1412702900
Ein
letzter Punkt. Wenn Ihnen die Verlagerung des Verkehrs




Bundesminister Jürgen Trittin
12150


(C)



(D)



(A)



(B)


von der Straße auf die Schiene so wichtig ist, was sagen
Sie dann zu Herrn Mehdorn, der jetzt permanent Vorstel-
lungen in den Raum stellt, wie das Schienennetz ausge-
dünnt und zusammengestrichen werden soll, und der die
Initiative, das Netz und den Betrieb zu trennen, was er-
möglichen würde, mehr Verkehr auf die Schiene zu brin-
gen, ablehnt, sodass die alte Blockadepolitik bestehen
bleibt? Herr Trittin, darauf müssen Sie Antworten finden.
Es wäre gut, Sie täten es.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412703000
Meine Damen und
Herren, dies war ein typischer Fall einer Nichtinterven-
tion. Der Kollege Lippold ist zwar angegriffen worden, er
hat aber im Grunde nicht auf das repliziert, was der
Bundesminister gesagt hat. Ich sage das allen, um daran
zu erinnern, dass wir uns an die Spielregeln halten sollten.

Ich finde, der Begriff „Quatsch“ ist nicht parlamenta-
risch. „Schmarren“ ist die freundliche Umschreibung des-
sen. „Dummes Zeug“ zu sagen ist auch nicht gerade eine
elegante Art. Die Bayern finden zwar den Begriff
„Schmarren“ gut; aber wir sollten schon ein bisschen auf-
passen, dass wir einigermaßen parlamentarisch miteinan-
der umgehen.


(Georg Girisch [CDU/CSU]: Der Minister hat von Ahnungslosigkeit gesprochen! Das ist auch nicht gut!)


Jetzt kann der Herr Bundesminister erwidern. – Bitte
sehr.

Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit: Frau Präsidentin! Lieber
Herr Lippold, eigentlich verbäte es sich angesichts der
Tonalität, die Sie angeschlagen haben, Ihnen zu antwor-
ten. Ich will deswegen nur auf zwei Punkte hinweisen:

Erstens. Das Land Baden-Württemberg hat heute
Morgen durch seinen verantwortlichen Umweltminister
auf der Umweltministerkonferenz angekündigt – das hat
er auch gestern getan –, dem Entwurf der Ablagerungs-
verordnung zu widersprechen, ihm also nicht zuzustim-
men. Mehr habe ich hier nicht benannt.

Ich habe darauf verwiesen, dass es eine Doppelzüngig-
keit ist, auf der einen Seite im Zuge des Landtagswahl-
kampfes zu beklagen, dass aufgrund der Dumpingpreise
auf zugelassenen Deponien in anderen Bundesländern,
also solchen außerhalb Baden-Württembergs, anspruchs-
volle Entsorgungseinrichtungen nicht ausgelastet sind,
und sich gleichzeitig dem Instrument, das 80 Prozent die-
ser Scheinverwertung unterbinden würde, zu verweigern.

Aus dieser Klemme kommen Sie auch nicht mit dem
Gerede über Verbesserungen und Ähnliches heraus. Ich
hoffe nicht, dass die B-Länder insgesamt diese Haltung
einnehmen. Ich bin relativ zuversichtlich, dass wir diesen
wahlkampfbedingten Ausreißer in Baden-Württemberg
angesichts des bestehenden großen Konsenses in den
Griff bekommen. Nur, Sie sollten sich schon gefallen las-
sen, dass Sie am tatsächlichen Verhalten Ihrer Partei-

freunde dort, wo sie Verantwortung tragen, gemessen
werden.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Mit Wahlkampf hat das wenig zu tun, Herr Trittin!)


Zweitens. Ich freue mich, dass Sie meinen zusammen
mit Michael Meacher verfassten Artikel gelesen haben.
Ich bin gerne bereit, Ihnen die hinter diesem Artikel ste-
henden umfangreichen Strategiepapiere zur Verfügung zu
stellen, auch wenn ich gelegentlich der Auffassung bin,
dies könnte bedeuten, Perlen vor die Säue zu werfen.
– Frau Präsidentin, entschuldigen Sie, ich meinte das im
übertragenen Sinne.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412703100
Das hoffe ich.

Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit: Ich will noch auf eines hin-
weisen: Dass Sie uns nun die Klimaschutzpolitik der USA
zum Vorbild machen wollen, verwundert mich sehr. Bis-
her habe ich mich in dieser Hinsicht eher als derjenige ge-
sehen, der in der Tradition zum Beispiel von Klaus Töpfer
dafür Sorge zu tragen hat, dass die Industrieländer ihrer
Verantwortung, die CO2-Emissionen auch tatsächlich sel-ber zu reduzieren und keine neuen Schlupflöcher zu
schaffen, gerecht werden. Das ist die Linie, auf der wir in
Den Haag verhandeln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412703200
Nun hat die Kollegin
Birgit Homburger, F.D.P.-Fraktion, das Wort.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Sagen Sie einmal etwas zu Baden-Württemberg! Von wegen Wahlkampf!)



Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1412703300
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Wir haben heute drei wissenschaftli-
che Gutachten und vier Anträge vorliegen, die wir beraten
sollen. Das bietet den Anlass für eine Bilanz der Umwelt-
politik innerhalb von 90 Minuten. Man könnte sich fra-
gen: Geht das überhaupt? Selbstverständlich geht das. Wir
können uns kurz fassen, weil der Blick, Herr Minister, in
die umweltpolitische Landschaft der 14. Legislaturperi-
ode ins Leere geht.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Oder um den Sachverständigenrat zu zitieren:

Die Erwartungen an die Umweltpolitik sind nach
dem Regierungswechsel im Jahre 1998 und der
Übernahme des Umweltministeriums durch Bünd-
nis 90/Die Grünen besonders hoch. Die Vorstellung,
dass damit die Umweltpolitik wieder eine Aufwer-
tung erfahren würde, war sicherlich von vornherein
überzogen.

Wir stehen zwei Jahre, nachdem die rot-grüne Regie-
rung angetreten ist, auf dem Stand von vor zweieinhalb
Jahren plus der so genannten Ökosteuer und dem, was Sie




Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach)


12151


(C)



(D)



(A)



(B)


einen Atomausstieg nennen. Es bleibt nur noch zu erwäh-
nen, was Bundesverkehrsminister Klimmt – im Übrigen
ohne Widerspruch von Bundeskanzler Schröder – in Vor-
bereitung der nächsten Bundestagswahl zum Thema Öko-
steuer erklärt hat: 2003 muss damit Schluss sein. Es bleibt
wirklich nichts mehr übrig, worüber man reden könnte.

Deshalb will ich mich auf das konzentrieren, was der-
zeit aktuell ist: Klimaschutz und Zwangspfand. Sie haben
es angesprochen. Es hat nicht viel gefehlt und Sie wären
beim Klimaschutz mit völlig leeren Händen dagestan-
den. Nun haben Sie uns noch schnell ein Klimaschutzpa-
ket präsentiert. Aber welches ist das zentrale Element?
Das staunende Publikum stellt fest: eine Selbstverpflich-
tung.


(Marita Sehn [F.D.P.]: Schön!)

Die Industrie verpflichtet sich, ihre CO2-Emissionenbis 2005 gegenüber 1990 um 28 Prozent statt, wie bisher

zugesagt, um 20 Prozent und bis 2012 gegenüber 1990 um
35 Prozent zu senken. Wir haben gar nichts dagegen. Aber
ich kann über die wundersame Wandlung des grünen Um-
weltministers zum Freund der Selbstverpflichtung nur
staunen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Die F.D.P. setzt in der Umweltpolitik seit jeher auf

Selbstverpflichtungen und freiwillige Vereinbarungen.
Beifall haben wir dazu von der grünen Seite im Übrigen
überhaupt noch nicht gehört.


(Marita Sehn [F.D.P.]: Im Gegenteil!)

Stattdessen wurden Skepsis geäußert und der mahnende
Zeigefinger erhoben. Es hat immer geheißen, Selbstver-
pflichtung ohne den Knüppel des Ordnungsrechts sei Teu-
felszeug.

Nun, Herr Trittin, wurden Sie im Kanzleramt offen-
sichtlich wieder einmal eines Besseren belehrt. Ausge-
rechnet die Selbstverpflichtung ist das zentrale Element
im Klimaschutzpaket der Bundesregierung: kein binden-
der Vertrag, kein Ordnungsrecht, keine verpflichtenden
Zielvorgaben für einzelne Branchen oder Unternehmen
und keine Sanktionen. Alles das, was die Grünen in den
letzten zehn Jahren verteufelt haben, wird jetzt von einem
grünen Minister gemacht. Das zeigt: keine Linie, kein
Rückgrat, keine Durchsetzungsfähigkeit, Herr Trittin.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Im Verkehrsbereich gilt das „Prinzip Hoffnung“. Diese

Bezeichnung stammt nicht von mir, sondern vom Bund
für Umwelt und Naturschutz Deutschland. Im Gebäu-
debereich gibt es nur altbackene Subventionsprogramme.
In der Summe ist es eine Fragmentensammlung, ein
Stückwerk, eine Klimapolitik ohne Vision und ohne ganz-
heitliches Konzept.

Schauen wir uns einmal an, was Sie vor zweieinhalb
bzw. zwei Jahren im Wahlkampf und zu Beginn der Le-
gislaturperiode gesagt haben. Wenn ich das mit dem ver-
gleiche, wie Sie sich jetzt benehmen, dann kann ich nur
sagen: Sie laufen wie ein stolzer Hahn herum


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Wie ein Gockel!)


– Gockel ist der baden-württembergische Ausdruck,
danke, Herr Repnik –, gehen als solcher ins Bundeskanz-
leramt hinein und kommen jedes Mal als gerupftes Fe-
dervieh wieder heraus.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Georg Girisch [CDU/CSU]: Gerupfte Henne!)


Wenn man mit all den Federn, die Sie in den letzten zwei
Jahren lassen mussten, Betten füllen wollte, könnte man
ganze Legionen versorgen.


(Beifall bei der F.D.P.)

An dieser Selbstverpflichtung ist noch etwas bemer-

kenswert; nämlich die Gegenleistungen, die die Bundes-
regierung der Industrie zugesichert hat: Die Bundesregie-
rung verzichtet auf ordnungsrechtliche Vorgaben zur
Durchführung der Klimaziele. Sie verzichtet auf die Ein-
führung eines verbindlichen Energie-Audits. Eine zwin-
gende Implementierung der Kioto-Mechanismen wird es
in Deutschland nicht geben. Das ist ein hoher Preis, Herr
Minister Trittin, um klimapolitisch nicht mit leeren Hän-
den dazustehen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wäre eine solche Vereinbarung unter Beteiligung der

F.D.P. zustande gekommen, hätte es einen grünen Auf-
schrei und einen öffentlichen Aufstand gegeben. Die Li-
beralen haben trotzdem immer zu ihrer Linie gestanden.
Wir haben uns seit Jahren konsequent für Zertifikate und
einen möglichst effizienten Klimaschutz eingesetzt.
Dafür sind wir von Ihnen massiv diffamiert worden. An-
gesichts dessen, was Sie vorweisen können, wäre ich an
Ihrer Stelle zukünftig leiser. Sie werfen alle grünen
Grundsätze Stück für Stück über Bord. Das ist eine Poli-
tik der Beliebigkeit und es geht um reinen Machterhalt.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Und das von der F.D.P.!)


Das, was Sie betreiben, war im Übrigen der endgültige
grußlose Abschied von der internationalen Klimapolitik
und von einer aktiv gestaltenden Teilnahme. Dies ist ein
ungutes Vorzeichen für die Klimakonferenz in Den Haag.
Die frühere Regierung hat am Erfolg von Kioto einen
maßgeblichen Anteil gehabt. Jetzt finden wir international
nicht mehr statt; das wundert mich auch überhaupt nicht.
Sie werden nämlich international schlichtweg nicht ernst
genommen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Das zeigt die Debatte der letzten Woche über die Rück-
führung des Atommülls aus La Hague nach Deutschland.
In Frankreich werden Sie als Gesprächspartner nicht mehr
akzeptiert. Das, was zwischen Unternehmen vertraglich
– abgesichert durch einen Notenwechsel von Staaten –
festgelegt ist, wird zur Chefsache erklärt, die der Bundes-
kanzler verhandeln muss, weil man mit Ihnen nicht mehr
reden will.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412703400
Frau Kollegin, gestat-
ten Sie eine kleine Unterbrechung? – Leider ist die An-




Birgit Homburger
12152


(C)



(D)



(A)



(B)


zeige für die Redezeit kaputt. Ich möchte Sie nicht unter
Druck setzen, aber jetzt ist ungefähr die Hälfte Ihrer Re-
dezeit um.


(Dr. Karlheinz Guttmacher [F.D.P.]: Das ist so gut, das kann man noch länger hören! – Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Die redet doch erst seit einer Minute!)



Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1412703500
Vielen Dank. – Das alles
zeigt symptomatisch, wo wir international stehen, und es
ist für die demnächst in Den Haag stattfindende interna-
tionale Klimakonferenz ein schlechtes Zeichen.

Die Herausforderung besteht darin, konzeptionelle Im-
pulse für eine wirksame Klimapolitik auf nationaler und
internationaler Ebene zu geben. Dass Sie jetzt schriftlich
dokumentiert haben, dass Sie die Kioto-Mechanismen
nicht umsetzen und weiter untätig sein wollen, wird fatale
Konsequenzen haben: Statt in Deutschland werden die
Standorte für Klimabörsen im Ausland eingerichtet;
Spielregeln für internationale Klimatransaktionen werden
ohne Einflussnahme Deutschlands ausgehandelt.

Andere Länder in der Europäische Union haben den
Börsenhandel mit Emissionsrechten längst vorbereitet.
Diese Woche Dienstag hat der britische Premierminister
Blair in einer Grundsatzrede erklärt, dass Großbritannien
nächstes Frühjahr in den Zertifikathandel einsteigen wird.
Das ist Fakt. Bei uns: Fehlanzeige auf der ganzen Linie.
Die Industrie wird keine Schwierigkeiten haben. Sie weiß
im Zweifel auch ausländische Klimabörsen zu nutzen. Al-
lein gelassen darf sich wieder einmal der Mittelstand
fühlen. Kleine und mittlere Unternehmen werden um die
Chance gebracht, den modernen Klimaschutz beizeiten
wirtschaftlich zu nutzen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Es bleibt festzustellen: Rot-Grün reicht der klimapoli-

tische „big deal“ mit der Großindustrie. Das ist alles an-
dere als verantwortliche und vorausschauende Klimapoli-
tik für die Bundesrepublik Deutschland.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Deswegen fordern wir Sie in dem Antrag, den wir ein-

gereicht haben und der heute zur Debatte steht, auf, sich
für die Einführung eines Börsenhandels mit Emissions-
zertifikaten in Deutschland einzusetzen. Auch der deut-
sche Mittelstand muss rechtzeitig die Gelegenheit zur
Teilnahme am internationalen Handel mit Klimazertifika-
ten haben, sodass er die damit verbundenen Wettbe-
werbsvorteile nutzen kann.

Im Übrigen hat auch der Sachverständigenrat die Be-
deutung von Zertifikaten betont. Der Sachverständigenrat
soll laut Erlass über seine Einrichtung mit seinen Gutach-
ten die umweltpolitische Willensbildung des Parlaments
erleichtern und den Diskurs über die Umweltpolitik wis-
senschaftlich fundieren. Ich zitiere aus dem Gutachten:

Der Umweltrat ist der Ansicht, dass das Instrument
der handelbaren Emissionsrechte aufgrund seiner
Überlegenheit, insbesondere bezüglich der ökologi-
schen Treffsicherheit, der ökonomischen Effizienz

und der globalen Einsatzfähigkeit, nicht leicht sub-
stituiert werden kann.

Aber auch solcher wissenschaftlicher Rat schert Sie of-
fensichtlich wenig. Sie haben ja schon reagiert und den
Sachverständigenrat nahezu komplett abgelöst.

Nun zur Verpackungsverordnung und zum Thema
„Zwangspfand“: Frau Kollegin Caspers-Merk, Ihr Vor-
wurf läuft ins Leere. Auch das, was der Minister gesagt
hat, ist eine Unverschämtheit. Was er den Baden-Würt-
tembergern unterstellt, stimmt nicht. Sie haben im Zu-
sammenhang mit der TASi gesagt, den Gemeinden würde
der Gewerbemüll entzogen und einer Scheinverwertung
zugeführt. Sie haben das lapidar in einem Nebensatz da-
hingesagt. Das ist eine unglaubliche Beschuldigung des
Handwerks und entbehrt jeglicher Grundlage.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Die Prognos AG hat zu Beginn der Woche in einer An-

hörung Ihrer Fraktion, Frau Kollegin Caspers-Merk, be-
stätigt:

Der Marktanteil von ökologisch vorteilhaften
Verpackungen ist seit 1991 per saldo gestiegen, nicht
hingegen gesunken. Die Inkraftsetzung einer Sank-
tion ist vor diesem Hintergrund problematisch.

(Marion Caspers-Merk [SPD]: Aber nicht pro Kopf!)

Sie scheinen bei der Veranstaltung Ihrer Fraktion nicht da-
bei gewesen zu sein.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Marion Caspers-Merk [SPD]: Ich habe sie sogar geleitet, Frau Kollegin!)


– Wenn Sie sie sogar geleitet haben, ist es umso schlim-
mer, wenn Sie nicht mehr wissen, was dort gesprochen
wurde.

Ich will ganz klar sagen: Wenn Sie uns vorwerfen, die
Quote sei nicht erreichbar und deswegen wollten wir die
Quote beseitigen, ist das falsch. Es ist vielmehr so, dass
uns die UBA-II-Studie deutlich gezeigt hat, dass nicht al-
lein Mehrweg ökologisch vorteilhaft ist, sondern dass es
vielmehr inzwischen Einwegverpackungen gibt, die aus
ökologischer Sicht den Mehrwegverpackungen gleich-
zusetzen sind.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn das so ist, ist die Quote in ihrer bisherigen Ausprä-
gung schlichtweg überholt. Wir müssen das zur Kenntnis
nehmen und reagieren. Wir müssen dabei bereit sein, eine
Diskussion zu führen und den Menschen zu sagen, es
habe sich im Verpackungsbereich aufgrund der Politik der
alten Bundesregierung Gott sei Dank einiges getan. Wir
müssen neue Wege gehen. Insofern ist der Antrag der
F.D.P. nicht nur vertretbar, sondern das Gebot der Stunde.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich kann nur sagen: Entwickeln Sie endlich ein klares,
verlässliches und umfassendes Handlungsprofil für die




Vizepräsidentin Anke Fuchs

12153


(C)



(D)



(A)



(B)


deutsche Umweltpolitik, Herr Minister Trittin, sonst wird
es in zwei Jahren heißen: außer Spesen nichts gewesen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412703600
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich der Kollegin Caspers-Merk das Wort.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Darauf kann die Birgit dann aber antworten!)


– Ja, darauf kann sie dann antworten. – Frau Kollegin,
bitte sehr.


Marion Caspers-Merk (SPD):
Rede ID: ID1412703700
Frau Kollegin
Homburger, Sie haben mich direkt auf die von uns durch-
geführte Anhörung zum Thema Verpackungsverordnung
angesprochen. Ich habe diese Anhörung gemeinsam mit
der Kollegin Mehl durchgeführt, weil wir alle Marktbe-
teiligten hören wollten. Meiner Zusammenfassung ist von
keiner Seite widersprochen worden. Wir konnten gemein-
sam feststellen:

Erstens. Die Zeit zum Handeln ist reif, weil der Anteil
der Mehrwegverpackungen noch nie so dramatisch abge-
stürzt ist wie in den ersten Monaten dieses Jahres.

Zweitens. Alle Anwesenden waren sich darin einig,
dass der Verzicht auf eine Sanktion die Mehrwegsysteme
ökonomisch an die Wand fahren lässt.

Drittens. Alle Beteiligten waren sich auch darin einig,
dass eine Pfandregelung, mit der ein umweltbewusstes
Verhalten der Bürger belohnt wird, da bei einer Rückgabe
der Verpackung das Pfand vollständig zurückgegeben
wird, das Instrument mit der höchsten Akzeptanz ist und
gleichzeitig die angestrebten Ziele am besten erreicht.

Sie haben aus der Stellungnahme der Prognos AG aus
dem Zusammenhang gerissen zitiert. Auf Nachfrage hat
der Gutachter bestätigt, dass man die Pfandregelung ent-
sprechend umsetzen kann und er hat auch deutlich ge-
macht, dass Interpretationen, wie sie beispielsweise der
BDI hinterher in die Welt gesetzt hat – er hat gesagt, man
könne in der Ökobilanz nicht erkennen, was vorteilhaft
und was nicht vorteilhaft sei –, nicht zutreffen.


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Er hat mündlich etwas anderes vorgetragen!)


Nehmen Sie auch das bitte zur Kenntnis. Es ist immer
schlecht, wenn man sich auf Dinge vom Hörensagen ver-
lässt, ohne selbst dabei gewesen zu sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412703800
Nun möchte die Kol-
legin Homburger antworten. Bitte sehr.


Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1412703900
Frau Kollegin Caspers-
Merk, ich habe es nicht nötig, mich auf das Hörensagen
zu verlassen. Mir liegt die Stellungnahme der Prognos
AG, die sie bei Ihnen schriftlich abgeliefert hat, vor. Ich
kann Ihnen nur sagen: Ich verlasse mich lieber auf das,

was in der schriftlichen Stellungnahme steht, als auf Ihre
Interpretation, die einfach nur dem angepasst wird, was
Sie gerade brauchen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich möchte zwei Punkte aufgreifen, die so, wie Sie sie

dargestellt haben, nicht stimmen. Sie sagen: Die Zeit zum
Handeln ist reif. Genau dasselbe sage ich auch, und zwar
seit einer ganzen Weile. Aber es blieb bisher ungehört. Sie
sagen, der Anteil der Mehrwegverpackungen sei regel-
recht abgestürzt. Sie sollten jetzt endlich einmal redlich
sein und nicht für eine solche Begriffsverwirrung sorgen,
wie Sie es im Augenblick tun. Sie reden auf der einen
Seite immer von Mehrwegverpackungen und neuerdings
auf der anderen Seite – weil auch Sie akzeptieren müssen,
dass sich da etwas verändert hat – von ökologisch vorteil-
haften Verpackungen. Wenn Sie von ökologisch vorteil-
haften Verpackungen reden, dann müssen Sie klar sagen,
dass auch bestimmte Einwegverpackungen ökologisch
sinnvoll sein können. Das wird in der Studie eindeutig
festgestellt. Wenn Sie sagen, der Anteil der Mehrwegver-
packungen sei abgestürzt, dann müssen Sie auch akzep-
tieren, dass Einwegverpackungen unter Umständen öko-
logisch sinnvoll sein können, und dann müssen Sie auch
zur Kenntnis nehmen, dass die Gesamtquote des ökolo-
gisch Sinnvollen seit 1991 nicht gesunken ist, sondern
dass sie sich erhöht hat.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


Ein letzter Punkt: Sie haben behauptet, das Zwangs-
pfand stoße auf größte Akzeptanz. Ich finde es ungeheu-
erlich, dass Sie immer wieder auf die Pfandpflicht zurück-
kommen und nicht akzeptieren, dass auch darüber längst
entsprechende Erkenntnisse vorliegen. Sie nehmen mit
der Einführung des Zwangspfandes in Kauf, dass der
Handel reagieren muss, das heißt, dass er mit einem
Zwangspfand belegte Einwegverpackungen zurückneh-
men muss. Um das bewerkstelligen zu können, muss der
Handel – das ist schon angekündigt worden – vermutlich
Rieseninvestitionen in Höhe von 3,5 bis 5 Milliarden DM
für Rücknahmeautomaten tätigen. Wenn der Handel erst
einmal solche Investitionen getätigt hat, dann wird er auf
die Abschaffung der Mehrwegverpackungen drängen.
Wenn Sie diesem Drängen nachgeben würden, würden
Sie das Mehrwegsystem auch dort kaputtmachen, wo es
ökologisch sinnvoll ist. Deswegen ist das, was wir for-
dern, ökologisch sinnvoll und nicht das, was Sie im Mo-
ment unter ideologischen Gesichtspunkten machen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412704000
Jetzt hat das Wort die
Kollegin Eva Bulling-Schröter, PDS-Fraktion.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412704100
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Trittin, der Aus-
druck „Schmackes“ ist eindeutig kein bayerisches Wort,
nur zu Ihrer Information.


(Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schmarren!)





Birgit Homburger
12154


(C)



(D)



(A)



(B)


– „Schmarren“ ja!

(Zuruf von der CDU/CSU: Klar!)


Wir reden heute über mehrere Anträge und eine ganze
Reihe von Umweltgutachten. Schade, dass wir über sie
alle gemeinsam diskutieren müssen, aber es ist offen-
sichtlich nicht anders machbar. Auch ich muss mich auf
ein paar Schwerpunkte der Umweltpolitik beschränken,
die aus der Sicht der PDS-Fraktion sehr wichtig sind, un-
ter anderem deshalb, weil sich ein Bericht mit den globa-
len Umweltrisiken und ein Gutachten mit den Schritten
ins nächste Jahrtausend beschäftigt. Zudem steht die Kli-
makonferenz in Den Haag vor der Tür. Damit möchte ich
auch beginnen.

Für den Klimaschutz sind Energie- und Verkehrspo-
litik die zentralen Regler, mit denen die Senkung des
CO2-Ausstoßes angeregt werden kann. Sicherlich hat dieBundesregierung mit ihrem Erneuerbare-Energien-Ge-
setz Impulse für die Entwicklung und den Ausbau rege-
nerativer Energien gesetzt. Das ist eine schlüssige Fort-
entwicklung des Stromeinspeisungsgesetzes, allerdings
unter ansonsten beklagenswerten energiepolitischen Rah-
menbedingungen.

Die überstürzte und kopflose Liberalisierung der Ener-
giemärkte und der verhinderte Atomausstieg – ich betone:
der verhinderte; wenn man vom Atomausstieg spricht,
darf man nicht vergessen, dass man über sehr lange Zeit-
räume redet; daran gibt es nichts zu deuteln, selbst wenn
Sie das kritisieren; aber Sie sind sowieso gegen den Atom-
ausstieg; wieso Sie ihn überhaupt kritisieren, wenn er
doch nicht stattfindet, verstehe ich auch nicht –


(Beifall bei der PDS – Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Weil es Schmarren ist!)


haben einen Aufschwung des fossil-atomaren Billig-
stroms zur Folge. Dies wiederum kann – vom unverant-
wortlichen atomaren Risiko und von der ungelösten End-
lagerfrage einmal ganz abgesehen – den Übergang zu
einer solaren Energiewirtschaft nur behindern. Tatsäch-
lich wurden schon etliche Forschungsvorhaben auf dem
Gebiet der Energieeinsparung eingestellt, weil sie sich un-
ter den Bedingungen sinkender Strompreise nicht mehr
rechneten.

In dieser Situation wurde Rot-Grün umweltpolitisch
von den Erdöl exportierenden Staaten und Erdölkonzer-
nen beschenkt: Die Ölpreise wurden drastisch erhöht. Ein
Geschenk ist das deshalb, weil die Bundesregierung den
sinkenden Kraftstoffverbrauch in diesem Jahr als um-
weltpolitischen Erfolg ihrer so genannten Ökosteuer ver-
kauft. Sie will damit verschleiern, dass die Konstruktion
dieser Steuer und die Verwendung des Aufkommens öko-
logisch weitgehend wirkungslos und zudem sozial zu-
tiefst ungerecht sind.


(Beifall bei der PDS)

Überdeutlich wurde bei der Debatte über die Ökosteuer

auch, dass die Bundesregierung im Bereich der Mobilität
nichts, aber auch gar nichts an umweltfreundlichen Al-
ternativen zu bieten hat. Womit soll der Pendler oder die
Pendlerin zur Arbeit fahren, wie sollen sich Menschen in
der Freizeit ökologisch bewegen, wenn Buslinien immer

weiter ausgedünnt werden, die Interregios zur Disposition
stehen und die Fahrpreise immer weiter steigen? Ich rate
Ihnen, weiter mit dem Zug zu fahren; dann werden Sie
merken, es wird immer mehr ausgedünnt, Nachtzüge wer-
den gestrichen. So kann es nicht sein.

Ich halte das für verhängnisvoll; denn nach der Ener-
gieerzeugung und -umwandlung ist der Verkehr Haupt-
emittent von Klimagasen. Laut einer Studie des Wupper-
tal-Instituts wird ohne Gegenmaßnahmen das Wachstum
des Verkehrs bis zum Jahre 2020 sämtliche Einsparun-
gen von Klimagasen in den anderen Bereichen zunichte
machen. Allein die LKW-Emissionen werden drastisch
um 38 Prozent wachsen, und mit einem Anstieg von
120 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent wird der Flugver-kehr im Jahre 2020 das Klima genauso stark belasten wie
der PKW-Verkehr. Schon jetzt betragen die CO2-äquiva-lenten Belastungen aus dem deutschen Flugverkehr jähr-
lich 37,6 Millionen Tonnen. Das sind rund 25 Prozent der
Gesamtbelastungen aus dem Verkehrssektor.

Ihnen von der rechten Opposition kann ich nur sagen:
Ich verstehe Ihre Kritik an der Umweltpolitik nicht. Sie
haben diese Verkehrspolitik begonnen, und wenn wir jetzt
nicht aufpassen, führt die neue Regierung sie einfach so
fort.


(Beifall bei der PDS)

Sie haben also überhaupt keinen Grund, sich dauernd auf-
zuregen.

Es kommt weder ein Ja zu Tempo 130 auf den Auto-
bahnen noch kommen Impulse zur Reduzierung der
Frachtfliegerei. Es sollen auch noch Flughäfen ausgebaut
werden, siehe den Flughafen in Frankfurt. Ob die Schwer-
lastabgabe greifen wird, bleibt fraglich.

Wenn wir den Gehalt der Aussagen zum Verkehr im ge-
rade verabschiedeten Klimaschutzprogramm der Bundes-
regierung prüfen, finden wir da zwar einige zu unterstüt-
zende Maßnahmen; allerdings sind sie nichts weiter als
Absichtserklärungen ohne konkrete Termine und ohne
Kennziffern, sie sind Prosa.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe es schon
angedeutet: Wir haben es in Deutschland mit einem ge-
spaltenen Energiemarkt zu tun – einerseits erhöhte
Preise für Mineralöl und Erdgas, andererseits stark ge-
sunkene Preise für Strom, insbesondere für Industriekun-
den, infolge der Strommarktliberalisierung. Damit sind
die ökonomischen Rahmenbedingungen auch für die öko-
logisch sehr sinnvolle Kraft-Wärme-Kopplung schlech-
ter, als sie sein könnten. Durch die hohen Öl- und Gas-
preise bei gleichzeitigem Strompreisverfall geraten sie
finanziell weiter unter Druck. Hier muss eine Quotenre-
gelung, wie sie die PDS schon lange vorgeschlagen hat,
die gegenwärtige Bonusregelung schnellstens ersetzen.
Das erwarten wir.

Die hohen Öl- und Gaspreise haben auch etwas Gutes:
Sie machen die Nutzung der Solarthermie, also der Solar-
wärmenutzung, schlagartig wirtschaftlich. Auch Wind-
energie und andere Formen alternativer Energien profi-
tieren in dieser Richtung, wenn auch nur eingeschränkt,
denn der gefährliche Atomstrom bleibt uns ja dank Rot-
Grün noch lange erhalten.




Eva Bulling-Schröter

12155


(C)



(D)



(A)



(B)


Die PDS fordert von der Bundesregierung eine umfas-
sende öffentliche Kampagne für Alternativen zum beste-
henden fossil-atomaren Energiesystem. Die Mittel für den
Umbau müssen jetzt und nicht erst morgen bereit gestellt
werden. Das Aufkommen aus einer reformierten Öko-
steuer – wir hoffen, dass sie reformiert wird –


(Georg Girisch [CDU/CSU]: Abschaffen!)

ist eine Finanzierungsquelle dafür. Wir wollen die Gelder
für den ökologischen Umbau.


(Beifall bei der PDS)

Das ist eine andere Intention, denn Sie wollen sie ab-
schaffen, Sie wollen sie überhaupt nicht.


(Georg Girisch [CDU/CSU]: Richtig!)

– Jetzt geben Sie es endlich einmal zu.


(Georg Girisch [CDU/CSU]: Das haben wir schon immer gesagt!)


Nur so können auch die Klimaschutzziele der Bundes-
regierung erreicht und außerdem viele neue Arbeitsplätze
geschaffen werden. Daran sollten Sie auch Interesse ha-
ben. Das bestätigen im Übrigen auch die führenden Wirt-
schaftsforschungsinstitute in ihrem Herbstgutachten. We-
nigstens das sollte Sie interessieren.

Zum Antrag der F.D.P. wäre zu sagen, dass die
Wunschliste der Liberalen bezüglich des Handels mit
Emissionszertifikaten, den so genannten Verschmut-
zungszertifikaten, einigermaßen an der Realität vorbei-
geht. Ich möchte einmal wissen, welche Antworten Sie
auf die vielen offenen und ungelösten Fragen des Grün-
buchs der Kommission zu diesem Thema haben. Es
drängt sich der Verdacht auf, dass hier nur ein Tor zur Um-
gehung des tatsächlichen Klimaschutzes aufgestoßen
werden soll. So kann es nicht sein.

Ich könnte jetzt noch einiges zur Versiegelung der
Landschaft sagen. Mit circa 120 Hektar pro Tag geht sie
ungehindert weiter. Dazu höre ich sehr wenig in diesem
Haus. Es gibt Konzepte und Alternativen. Diese müssen
aber konsequent durchgezogen werden.

Leider komme ich auch nicht mehr dazu, über das
Thema der Übertragung und Privatisierung ostdeutscher
Naturschutzflächen – ein Trauerspiel – zu reden.


(Beifall bei der PDS)

Hier gibt es noch einen sehr großen Handlungsbedarf. Ich
wünsche mir, dass es nicht so kommt, dass von den
100 000 Hektar nicht einmal 50 000 Hektar an Natur-
schutzverbände bzw. an die Länder fallen, weil es nicht
möglich ist. Ich meine, dass hier das Tafelsilber der deut-
schen Einheit wirklich verschleudert worden ist. Das
finde ich sehr schade.

Ich bin am Ende meiner Rede. Deshalb nur noch ganz
kurz: Wir warten auf das Bundesnaturschutzgesetz. Ich
freue mich auf die Diskussion zu diesem Thema.

Weil Frau Homburger einen schönen Spruch gesagt
hat, möchte ich ebenfalls einen sagen. Er stammt von
Franz Beckenbauer: Schau‘n wir mal, dann seh‘n wir
schon. Wir aber sollten in Sachen Ökologie weiter ge-

meinsam diskutieren, und vor allem brauchen wir jetzt Ta-
ten.


(Beifall bei der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412704200
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt Ulrich Kelber.


Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1412704300
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Die Bilder von den Hochwasserka-
tastrophen in Vietnam und Norditalien sind noch frisch in
Erinnerung. Diese Ereignisse waren klare Folgen der
Klimaveränderung, also eines der beschriebenen globalen
Umweltrisiken.

Als ich mich auf diese Rede vorbereitet habe, habe ich
mich an eine andere Umweltkatastrophe erinnert. Als Stu-
dent konnte ich 1991 die Region nördlich von Tscherno-
byl besuchen. Ich habe mich wieder an leer stehende Häu-
ser, an gesperrte Gebiete und an den Besuch in einem
Krankenhaus mit leukämiekranken Kindern erinnert.

Dies sind für mich Beispiele globaler Umweltverän-
derungen und Umweltrisiken, die deutlich machen,
warum die SPD den Bericht der Bundesregierung und das
Jahresgutachten 1998 „Welt im Wandel – Strategien zur
Bewältigung globaler Umweltrisiken“ begrüßt. Es ist
richtig, wenn die Bundesregierung schreibt: Die Unter-
stützung, die dieses Gutachten für den rationalen und
nachvollziehbaren Umgang mit globalen Umweltrisiken
liefert, ist wichtig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine persönliche Ergänzung: Dieses Gutachten for-
dert auch ein konsequentes Vorgehen ein. Das sage ich
auch nach den Erfahrungen, die ich in meinen ersten Wo-
chen im Bundestag sammeln konnte, gerade auch nach
den Vorträgen von Herrn Lippold und Frau Homburger.
Hören Sie aufseiten von CDU und F.D.P. auf, sich den
Umweltdebatten zu verweigern! Helfen Sie mit, dass wir
diese Schritte gehen können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bericht und Jahresgutachten ermuntern zu verstärkter
internationaler Zusammenarbeit. Es ist gut und wichtig,
dass in der Europäischen Union die Idee von Risiko- und
Umweltvorsorge immer mehr Platz einnimmt. Der Erfolg,
dass „Umwelt“ ein Thema bei den GATT-Verhandlungen
wird, ist ein Beispiel dafür. Es zahlt sich aus, dass wir, von
allen Parteien getragen, unsere osteuropäischen Nachbarn
im Transformationsprozess begleitet haben. Hier gibt es
erste Ergebnisse. Auch in den Vereinten Nationen ist diese
Debatte wichtiger geworden. Gerade die Arbeit an der
Konvention für das Verbot oder eine starke Reduktion
dauerhafter organischer Schadstoffe ist dafür ein Zeichen.
Als letztes Beispiel könnte man die immer stärkere Inte-
gration der Umweltpolitik in die deutsche Entwicklungs-
zusammenarbeit nennen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Aber Bericht und Jahresgutachten ermahnen auch zu

nationaler Verantwortung und Handeln. Dies möchte ich




Eva Bulling-Schröter
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(D)



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(B)


am Beispiel von Klima- und Energiepolitik noch einmal
deutlich machen. Die Jahre 1990 bis 1998, die zweite
Hälfte der Regierung Kohl – Frau Homburger, ich habe
gerade noch einmal nachgeschaut, Sie waren auch zu die-
ser Zeit schon Abgeordnete –, sind im Zusammenhang
von Klima- und Energiepolitik völlig verlorene Jahre ge-
wesen.


(Beifall bei der SPD – Hans-Peter Repnik [CDU/ CSU]: Sagen Sie einmal etwas zu Rio!)


Die Einsparung der klimawirksamen Gase stammt voll-
ständig aus dem Zusammenbruch der Industrie der fünf
neuen Länder.


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Das stimmt nicht!)

Im Westen – das können Sie in den Quellen, die Sie heute
selber genannt haben, nachlesen – hat der CO2-Ausstoß indieser Zeit noch zugenommen. Ich habe mich, ehrlich ge-
sagt, gewundert, dass der Sachverständigenrat diese ein-
fachen Zahlen in seiner Wertung übersehen hat.


(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Wir wundern uns auch!)


Wenn ich gerade beim Sachverständigenrat und seinem
Umweltgutachten bin, das viele wichtige Anregungen und
auch Kritik enthält, über die man reden kann, dann muss
man aber auch sagen, dass es nicht nachvollziehbare Min-
derheitsmeinungen enthält. Ich denke hier etwa an die
reine Ideologie, dass man keine direkten Zuschüsse für
erneuerbare Energien zahlen solle. Leider findet man
diese Grundhaltung auch bei CDU und F.D.P.


(Beifall bei der SPD)

Vertrauen auf den Markt reicht in dieser wichtigen Frage
nicht aus. Die großen Stromkonzerne bauen Kapazitäten
ab und wollen das Geld mit den Anlagen verdienen, in die
sie bereits vor vielen Jahren investiert haben. Engagement
für erneuerbare Energien ist nicht da. Daher brauchen wir
Markteinführungsprogramme – ein wichtiges Versäumnis
von CDU und F.D.P. bis zuletzt.

Ich möchte Ihnen das an einem Beispiel deutlich ma-
chen. Es gab das so genannte 1 000-Dächer-Programm.
Ich hatte immer eher das Gefühl, es sei ein 1 000-Beamte-
Programm, weil es so kompliziert war und es so lange
dauerte, bis ein Zuschuss kam. Wir haben in einer kleinen
Kommune namens Bonn ein lokales Programm aufgelegt
und in einem einzigen Jahr mehr Photovoltaik auf die
Dächer bekommen als Sie mit Ihrem 1 000-Dächer-Pro-
gramm bundesweit in zwei Jahren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


So kann man handeln, wenn man möchte.

(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: So setzt man aufs falsche Pferd! Herzlichen Glückwunsch!)


Der Umgang mit globalen Umweltrisiken wird zuneh-
mend auch eine wirtschaftliche Frage: nicht nur wegen
der Kosten für mögliche Umweltkatastrophen, sondern
weil eine Politik zur Vermeidung globaler Umweltrisiken
auch eine Politik der Nachhaltigkeit ist, also eine Politik
zur Erhaltung von Wohlstand und zur Ermöglichung von
Entwicklung.

Lassen Sie mich auch das am Beispiel der Energie-
preise erläutern: Die Abhängigkeit von fossilen Energie-
trägern, insbesondere von Öl, ist nicht nur ein globales
Umweltrisiko wegen der Klimaveränderungen und der
Möglichkeit des Zusammenbruchs ozeanischer Zirkula-
tion, sondern die Abhängigkeit von fossilen Energieträ-
gern ist eine direkte Gefahr für den Wohlstand im Norden
und für die Entwicklung im Süden. Wer es wissen wollte,
weiß es seit Jahren: Die Zeit billigen Öls geht zu Ende,
weil das Öl zu Ende geht. Ein neues Gutachten der Bun-
desregierung, aber auch die Expertise der zweitgrößten
kanadischen Bank CIBC zeigen ganz klar: Wir stehen nur
noch wenige Jahre vor den ersten ernst zu nehmenden und
dann auch nicht mehr zu behebenden Versorgungseng-
pässen beim Öl. Die Folge wird ein Ölpreisschock sein,
der die von Mitte der 70er- und 80er-Jahre und auch die
Entwicklung der letzten Monate weit in den Schatten
stellt. Deswegen müssen wir weg von der Abhängigkeit
vom Öl, schnell und konsequent.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Winfried Wolf [PDS])


Wenn wir weg von der Abhängigkeit von Öl wollen,
dann müssen wir natürlich wegen der bekannten globalen
Umweltrisiken hinein in Energieeffizienz und erneuer-
bare Energien. Da kann man etwas tun, und die Koali-
tion und die Bundesregierung handeln auch. Ein Beispiel
ist das Programm für die Wärmesanierung von Altbauten.
Die zinsvergünstigten Kredite im Rahmen dieses Pro-
gramms werden in den nächsten drei Jahren ein Volumen
von 6 Milliarden DM haben. Frau Homburger, das kön-
nen Sie nicht einfach als altbekannt abtun. Ich möchte ein-
mal sehen, ob Sie, wenn dann Zehntausende neuer
Arbeitsplätze entstehen, den dort Beschäftigten sagen, sie
hätten ihren Arbeitsplatz nur durch ein altbekanntes Pro-
gramm bekommen.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Das ist doch das Erbe von uns, nicht eine neue Idee von Ihnen!)


Ein 100 000-Dächer-Programm, das so erfolgreich ist,
dass man bereits die Fördermechanismen anpassen muss,
die Markteinführung von erneuerbaren Energien und auch
die Förderung von Kraft-Wärme-Kopplung nenne ich als
Beispiele für unsere Politik. Sie hat in meiner Heimatstadt
zu dem schönen Ergebnis geführt, dass die CDU-Stadt-
ratsmehrheit jetzt die Gelder aus der Förderung der Kraft-
Wärme-Kopplung vereinnahmen kann.

Die Bürger erkennen zunehmend globale Umweltrisi-
ken und sind auch bereit, eine vorsorgende Politik zu ak-
zeptieren. Vor diesem Hintergrund sind die platten
Sprüche von CDU und F.D.P. zu den Energiepreisen ab-
solut unverantwortlich.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aus rein parteipolitischen Gründen wollen sie den Bür-
gern weismachen, die Probleme durch die Senkung von
Energiesteuern lösen zu können. Das ist falsch und wi-
derspricht übrigens auch dem Rat der Wirtschaftsweisen.




Ulrich Kelber

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(D)



(A)



(B)


Das Gegenteil würde eintreten: Würden wir die Energie-
steuern senken, würde die Abhängigkeit vom Öl konser-
viert.


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Es geht um eine Umsteuerung!)


– Würden wir diesem gefährlichen Unsinn folgen, Frau
Homburger, müssten die Bürger schon in wenigen Jahren
die Zeche für eine solche Politik von CDU und F.D.P. zah-
len. Würde dann nämlich das Öl knapp und unbezahlbar
und wir wären dann immer noch vom Öl abhängig, be-
deutete dies einen Wohlstands- und Jobverlust für Milli-
onen Menschen in unserem Land.

Wenn wir jetzt handeln, mag es unbequem sein. Wir
müssen manche Diskussion aushalten, weil es natürlich
schwierig ist, gegen platte Sprüche mit Argumenten an-
zugehen. Das ist immer schwierig.


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Das kennen wir!)

Aber wenn wir jetzt handeln, erreichen wir drei Dinge:
Wir sichern erstens Wohlstand und Arbeitsplätze in unse-
rem Land dauerhaft,


(Zuruf von der CDU/CSU: Ach Gott!)

wir ermöglichen zweitens die Entwicklung in ärmeren
Ländern und wir verringern drittens die beängstigende
Gefahr globaler Umweltrisiken.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412704400
Herr Kollege Kelber,
Sie sind seit dem 1. September dieses Jahres Mitglied die-
ses Hauses und haben heute Ihre erste Rede gehalten. Ich
beglückwünsche Sie dazu im Namen des ganzen Hauses.


(Beifall)

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Christa

Reichard, CDU/CSU-Fraktion.


Christa Reichard (CDU):
Rede ID: ID1412704500
Frau Prä-
sidentin! Meine Damen und Herren! Acht Jahre sind seit
der Konferenz in Rio vergangen, doch die Tropenwälder
werden ungebremst abgeholzt, zunehmende Wüstenbil-
dung und ein rapider Schwund der Artenvielfalt gehen da-
mit einher. Nach Aussagen von Wissenschaftlern ist die
Veränderungsrate der Böden sogar noch dramatischer als
die des Klimas. Alle fruchtbaren Böden dieser Erde wer-
den bereits heute genutzt. Doch durch das Anwachsen der
Weltbevölkerung auf jetzt schon über 6 Milliarden wird
der Druck gerade auf die Ressource Boden immer größer
und das Thema Bodendegradation weltweit immer wich-
tiger. Deshalb möchte ich mich im Rahmen der Debatte
auf dieses Thema beschränken.

Die Bewirtschaftung durch den Menschen ist zumeist
Ursache für die Degradierung von Böden. Entwaldung,
Überweidung, landwirtschaftliches Missmanagement
und Übernutzung, aber auch Industrialisierung und
Urbanisierung führen zu Erosionsprozessen durch Wind,
Wasser, Nährstoffverluste, Versalzung und Versauerung

von Böden. Durch Versiegelung werden ständig weitere
Flächen der nutzbaren Böden entnommen. Nach Aussa-
gen des Umweltsekretariats der Vereinten Nationen
musste allein in den vergangenen 40 Jahren eine Fläche
von der Größe Chinas zusätzlich als „mäßig degradiert“
eingeordnet werden. 15 Prozent der eisfreien Landfläche
der Erde gelten als durch den Menschen zerstört. Mit
60 Prozent Flächenanteil sind Afrika und Asien am stärks-
ten betroffen. Es folgen Europa mit 11 Prozent und
Nordamerika mit 8 Prozent.

Bodendegradation ist kein regionales, kein Nord-Süd-,
sondern ein globales Problem. Die Landwirtschaft in vie-
len Regionen der Erde ist außerstande, regelmäßig auf-
kommende Hungerkatastrophen zu verhindern. Die Zahl
der Umweltflüchtlinge, die aufgrund sinkender landwirt-
schaftlicher Produktivität in die Städte ziehen, steigt.

Handlungsbedarf sehe ich sowohl in der Forschung als
auch in der Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Eine der vordringlichsten Aufgaben der Forschung hin-
sichtlich einer nachhaltigen Bodenbewirtschaftung ist,
ein besseres Verständnis für das Belastungspotenzial und
die Pufferkapazitäten der verschiedenen Bodentypen zu
gewinnen. Insbesondere bei der Kohlenstoffspeicherung
im Boden sind noch viele Fragen offen. Beispielsweise ist
in Böden weltweit fünfmal mehr Kohlenstoff gebunden
als in der Vegetation. Die Auswirkungen auf das Klima
sind noch nicht hinreichend untersucht.

Die Erkenntnisse der Bodenforschung müssen in einen
größeren Rahmen gebracht und für die Verwendung in an-
deren Politikbereichen übersichtlicher gestaltet werden.

Warum bestand und besteht am Thema Bodenschutz
bisher nur so geringes politisches Interesse? Warum agie-
ren Bodenschützer weltweit wie die sprichwörtlichen Ru-
fer in der Wüste? In der Agenda 21 wurden Bodenerhal-
tung und Bodendegradation zwar thematisiert, aber sie
sind kein eigenständiger Komplex. Einer der Gründe
dafür mag sein, dass Boden- und Landfragen sehr großes
Konfliktpotenzial beinhalten. Sie betreffen Arme und
Reiche, Städter und Landbevölkerung und haben damit
eine enorme soziale, wirtschaftliche und politische Be-
deutung – im Guten wie im Schlechten.

Was ist jetzt die Aufgabe der internationalen Politik
und damit auch unsere Aufgabe? Es mangelt nicht an Vor-
schlägen, in Ergänzung zu bereits existierenden Umwelt-
konventionen eine Bodenkonvention zu schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Doch auch eine Ausweitung der Konvention zur Bekämp-
fung der Wüstenbildung als globale Landnutzungs- und
Bodenkonvention wird in diesem Zusammenhang oft ge-
nannt.

Nach zahlreichen Gesprächen mit Experten, unter an-
derem mit Klaus Töpfer, bin ich zu der Überzeugung ge-
kommen, dass ohne die erfolgreiche Umsetzung der Kon-
vention zur Bekämpfung der Wüstenbildung eine weiter
gehende Konvention zum Bodenschutz eher kontrapro-




Ulrich Kelber
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(D)



(A)



(B)


duktiv ist. Es muss gelingen, den Bodenschutz im Rah-
men der bestehenden Abkommen durchzusetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Aus diesem Grunde hat meine Fraktion in einem Ände-
rungsantrag die Nennung aller dieser Konventionen unter
dem Dach der Agenda 21 gefordert.

Weiterhin scheint mir der Austausch mit anderen Par-
lamenten wichtig, so auch die Teilnahme von Parlamen-
tariern an der Konferenz zur Konvention zur Bekämp-
fung derWüstenbildung im Dezember dieses Jahres.

Bei einer Expertenanhörung von CDU und F.D.P. zum
internationalen Bodenschutz war Konsens, dass auch die
Nichtregierungsorganisationen weltweit gezielt ange-
sprochen werden müssen. Ich vermisse dort Initiativen.
Diese NGOs könnten durch Druck auf ihre Parlamente
und Regierungen die Prioritäten für die Rio-plus-10-Kon-
ferenz beeinflussen. So habe ich mich persönlich mit ei-
nem Aufruf an zahlreiche internationale Organisationen
gewandt. Ich bin erstaunt über die große Resonanz, aber
auch darüber, dass ein großer Informationsbedarf besteht.

An dieser Stelle sei allen gedankt, die sich seit Jahren
bemüht haben, die Öffentlichkeit für den Boden zu sensi-
bilisieren. Beispielhaft nenne ich nur den Wissenschaftli-
chen Beirat Globale Umweltveränderungen, die Tutzin-
ger Initiative, den Wissenschaftlichen Beirat Bodenschutz
und die Bundesvereinigung Boden und Altlasten.


(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Bundesregierung sollte den bereits von Klaus
Töpfer und Angela Merkel eingeschlagenen Weg beim
europäischen und internationalen Bodenschutz konse-
quent fortsetzen und hierzu in regelmäßigen Abständen
Bericht erstatten. Sie sollte dies nicht in die nächste Le-
gislaturperiode verschieben, wie im Antrag von SPD und
Grünen geplant. Somit könnte noch vor der nächsten Kon-
ferenz über das weitere Vorgehen zum Thema beraten
werden.

Im Übrigen sollten wir darüber nachdenken, dieser
Konferenz einen eigenständigen Namen zu geben. Denn
mit dem Arbeitstitel „Rio plus 10“ kann kaum jemand was
anfangen.

Wenn die Änderungsanträge meiner Fraktion Zustim-
mung finden, werden wir den Koalitionsantrag unterstüt-
zen und den Antrag der F.D.P. ablehnen, da dieser den
zweiten Schritt vor dem ersten geht. Ich bedaure ab-
schließend, dass uns in dieser wichtigen internationalen
Frage kein gemeinsamer Antrag gelungen ist.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412704600
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Reinhard Loske, Bündnis 90/Die Grünen.


Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412704700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will mich auf den Bericht des Sachverständigenrates für

Umweltfragen konzentrieren. An dieser Stelle möchte ich
mindestens im Namen meiner Fraktion, aber, wie ich
denke, auch im Namen des ganzen Hauses dem jetzt
scheidenden Sachverständigenrat für Umweltfragen für
seine Arbeit danken. Wenn man seine Meinung auch nicht
immer im Detail geteilt hat, waren seine Gutachten doch
immer lesenswert und ein Gewinn.


(Beifall im ganzen Hause)

Ich werde mich in meinem Beitrag auf die Themen Kli-

maschutz, Naturschutz und Nachhaltigkeitsstrategie kon-
zentrieren. Dabei will ich auf das rekurrieren, was der
Sachverständigenrat empfiehlt. Der Bericht des Sachver-
ständigenrates ist im Januar 2000 verabschiedet worden.

In diesem Gutachten empfiehlt der Sachverständigen-
rat zum Thema Klimaschutz Folgendes: Er plädiert für
eine Vorreiterrolle in der internationalen Klimapolitik. Er
nennt die Priorität für nationale Anstrengungen insbeson-
dere in den Bereichen Energieeffizienz, Energieeinspa-
rung und erneuerbare Energien. Er begrüßt die freiwilli-
gen Selbstverpflichtungen der Industrie, weist aber auf
die Gefahr hin, dass dort nur das versprochen wird, was
ohnehin geschieht. Er mahnt an, nicht nur zu spezifischen,
sondern zu absoluten Reduktionszielen zu kommen, das
heißt sie nicht nur auf die Wertschöpfungseinheit, sondern
auf den tatsächlichen Ausstoß zu beziehen. Um den ehe-
maligen Kanzler zu zitieren: Entscheidend ist, was hinten
rauskommt. Der Sachverständigenrat hält den Atomaus-
stieg für mit dem Klimaschutz vereinbar.


(Beifall des Abg. Helmut Wilhelm [Amberg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Der Sachverständigenrat mahnt eine Weiterentwicklung
der ökologischen Steuerreform und eine Umwandlung der
Kilometerpauschale in eine verkehrsmittelunabhängige
Entfernungspauschale an. Er bezieht sich, wie Sie zu
Recht sagen, sehr positiv auf mengenbezogene Instru-
mente wie Emissionsobergrenzen und den Emissionshan-
del. Das ist es, was der Sachverständigenrat im Januar
empfohlen hat.

Jetzt komme ich zu dem, was die Regierung und die
Koalitionsfraktionen schon geleistet haben. Bezogen auf
das Klimaschutzprogramm sind wir der Meinung, dass
unsere Glaubwürdigkeit auf dem internationalen Parkett
bei den Klimaverhandlungen entscheidend davon ab-
hängt, was wir zu Hause tun. Wir müssen bei uns unter
Beweis stellen, dass ökologischer Strukturwandel und
wirtschaftliche Prosperität zusammengehen können und
dass dies ein Erfolgsmodell sein kann. Deshalb haben wir
in der letzten Woche im Kabinett das Klimaschutzpro-
gramm verabschiedet. Das ist ein sehr wichtiger Schritt in
die richtige Richtung, mit dem wir unsere Glaubwürdig-
keit in Den Haag ganz entscheidend stärken.

Das Problem der alten Regierung war, dass sie sich zu
Hause zwar anspruchsvolle Ziele gesetzt hat, dass sie aber
wenig zu ihrer Umsetzung getan hat. Dadurch wurde die
Glaubwürdigkeit Deutschlands in den Klimaverhandlun-
gen entscheidend geschwächt. Das ist nicht mehr der Fall.


(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Herr Loske, das ist doch ein Schmarren!)





Christa Reichard (Dresden)


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(B)


Zu den Inhalten des Programms: Es ist ein sektorbezo-
genes Programm – das hat Minister Trittin zu Recht ge-
sagt – und ein Programm, das konkrete Maßnahmen zur
Kraft-Wärme-Kopplung, zur Altbausanierung, zur Ener-
gieeinsparung, zur Verlagerung des Schwerlastverkehrs
von der Straße auf die Schiene und besonders zur Förde-
rung der erneuerbaren Energien enthält.

Ich will einen Unterschied klar machen – ich glaube,
Herr Lippold, Sie haben diesen Punkt angesprochen –: Es
ist ziemlich krass, wenn Sie sagen, das KfW-Förderpro-
gramm sei eine bloße Weiterentwicklung dessen, was Sie
gemacht haben. Wissen Sie, worin der entscheidende Un-
terschied liegt? Sie haben im Bundeshaushalt 16 bis
20Millionen DM pro Jahr eingestellt; wir stellen 400Mil-
lionen DM ein. Das ist eine Erhöhung der Mittel um den
Faktor 20 und genau darin liegt der Unterschied in der
Qualität zwischen der Umweltpolitik dieser Bundesregie-
rung und der der alten Regierung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Zu der Forderung des Sachverständigenrates, die frei-
willige Selbstverpflichtung sollte sich nicht nur auf spe-
zifische Ziele, sondern auch auf absolute Ziele beziehen,
kann ich sagen, dass die Weiterentwicklung, die wohl in
den nächsten Wochen der Öffentlichkeit präsentiert wird,
ein echter Fortschritt ist; denn sie schreibt absolute Emis-
sionsminderungsziele fest: bis zum Jahr 2005 zusätzlich
10Millionen Tonnen CO2 weniger – das war bislang nichtvorgesehen – und bis zum Jahr 2010 zusätzlich 20 Mil-
lionen Tonnen CO2-Äquivalent weniger; darunter fallendie anderen Gase, deren Emissionen im Kioto-Protokoll
geregelt werden. Der entscheidende Unterschied zwi-
schen Ihrer und unserer Politik ist also, dass Sie bei der
freiwilligen Selbstverpflichtung der Industrie nur das
verlangt haben, was sie ohnehin selber gemacht hätte,
während wir etwas fordern und im Gegenzug offensicht-
lich auch schon bekommen haben.

Zur Forderung des Sachverständigenrates bezüglich
der Umwandlung der Kilometerpauschale in eine ver-
kehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale: Es ist
Ihnen ja bekannt, dass wir diese vor wenigen Wochen
beschlossen haben. Sie ist auf jeden Fall ein Schritt in die
richtige Richtung und wird zu einer Verlagerung im Ver-
kehrsbereich hin zu öffentlichen und zu nicht motori-
sierten Verkehrsmitteln führen. Auch das ist Ihnen nicht
gelungen. Wir befinden uns hier in Übereinstimmung mit
den Empfehlungen des Sachverständigenrates.

Zum Emissionshandel, auf den positiv Bezug genom-
men wird: Wenn man über Emissionshandel redet, muss
man zunächst einmal eines klarstellen: Der Emissions-
handel ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere und
viel entscheidendere Seite der Medaille ist die, dass wir
uns absolute Emissionsminderungsziele setzen. Der
Emissionshandel ist also nur ein Mittel und kein Ziel. Das
ist der entscheidende Unterschied.

Ich selber stehe diesem Instrument sehr aufgeschlossen
gegenüber. Wir sollten versuchen, dieses Instrument in
den verschiedenen Bereichen anzuwenden. Aber wenn
ich mir den Antrag der F.D.P. anschaue, Frau Homburger,

dann wird offenkundig, dass er eine maßlose Übertrei-
bung enthält. Es ist nämlich die Rede von Emissionszer-
tifikaten als Inbegriff der modernen Klimapolitik. Dieser
Satz aus Ihrem Antrag ist besonders schön:

Beim internationalen Klimaschutz geht es vordring-
lich nur noch um die Frage, welche der unterschied-
lichen Varianten globaler Zertifikatsmodelle ... ein-
gesetzt werden.

Dazu will ich Ihnen sagen: Beim Klimaschutz geht es
um etwas ganz anderes. Es geht nämlich darum, dass
Emissionen gemindert werden, und zwar dort, wo die Ver-
antwortung liegt, also bei uns.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Birgit Homburger [F.D.P.]: Bei den internationalen Beratungen geht es genau um diese Fragen!)


Sie schießen maßlos über das Ziel hinaus.
Sie sind auch nicht auf dem neuesten Stand, Frau

Homburger. Zum einen gibt es bei der Deutschen Börse in
Frankfurt schon eine Arbeitsgruppe zum Börsenhandel
mit Emissionszertifikaten. Es ist also nicht so, dass wir
pennen, während die anderen die Meriten einstreichen,
wie Sie dem Minister vorgeworfen haben. Die Wahrheit
ist, dass wir bei diesem Thema ganz vorne sind.


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Oh! – Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das ist mir neu!)


Zum anderen gibt es im Umweltministerium eine Ar-
beitsgruppe zum Thema Emissionshandel, an der auch die
Industrie beteiligt ist. Dass Sie das nicht wissen, ist Ihr
und nicht unser Problem.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Birgit Homburger [F.D.P.]: Jetzt schießen Sie aber über das Ziel hinaus!)


Zum Thema Naturschutz: Der Sachverständigenrat
stellt zum Thema Naturschutz fest, dass die Lage von Na-
tur und Umwelt nach wie vor besorgniserregend ist. Wir
haben ein hohes Maß an Landschaftszerstörung und ein
hohes Maß an Schadstoff- und Nährstoffeinträgen und
einen großen Rückgang an biologischer Vielfalt. Der
Sachverständigenrat formuliert folgende Ziele: erstens
Ökosystemschutz, zweitens Schutz der biologischen Viel-
falt und drittens nachhaltige Nutzung der Natur, also Na-
turschutz durch eine angemessene Naturnutzung und
nicht Naturschutz gegen Naturnutzung.

Die beiden wichtigsten Eckpfeiler, die der Sachver-
ständigenrat nennt, sind erstens die Einräumung von 10
bis 15 Prozent an Vorrangflächen für den Naturschutz und
zweitens Qualitätsstandards für die Nutzung auf der
Gesamtfläche. Genau das ist die Strategie, die die Koali-
tionsfraktionen und die Bundesregierung verfolgen. Wir
haben erst einmal – das ist Ihnen zu Ihrer Zeit nicht ge-
lungen – 100 000 Hektar der BVVG-Flächen aus der pri-
vaten Nutzung herausgenommen und sie so dauerhaft ge-
sichert. Das ist ein ganz wichtiger Schritt für den
Naturschutz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Die Hälfte, Herr Loske!)





Dr. Reinhard Loske
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Zudem wird es bei der Deutschen Bundesstiftung
Umwelt eine Mittelumwidmung zugunsten des Natur-
schutzes geben. Das ist zwar ein bescheidener Beitrag,
aber ein wichtiger.

Wir ermutigen auch die Länder, vor allen Dingen die
von der Union regierten, bei der Ausweisung von FFH-
Flächen endlich konsequent voranzuschreiten. Auf die-
sem Gebiet hinken wir hoffnungslos hinterher.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen sehr bald eine Novelle des Bundesnatur-
schutzgesetzes vorlegen; sie befindet sich in der Abstim-
mung. Mit dieser Novelle wird erstmals der Versuch un-
ternommen, eine ordnungsgemäße Landwirtschaft zu
qualifizieren. Jeder, der Augen hat zu sehen, wird fest-
stellen, dass die heutige Form der Landwirtschaft mit
großen Umweltproblemen behaftet ist. Der Versuch, eine
ordnungsgemäße Landwirtschaft, eine gute fachliche Pra-
xis zu qualifizieren, ist eine unabdingbare Voraussetzung
dafür, den Naturschutz und die Nutzung der Natur gut zu-
sammenzubringen. Auf diesem Wege sind wir.

Ich komme zum letzten Punkt, zur Nachhaltigkeits-
strategie. Hierzu sagt der Sachverständigenrat für Um-
weltfragen: Wir brauchen klare, wissenschaftlich begrün-
dete Umweltziele. Wir brauchen einen integrativen
Ansatz; das heißt: Nicht nur der Umweltminister ist ver-
antwortlich, sondern das gesamte Kabinett, alle Ressorts.
Wir brauchen eine Konzentration auf bestimmte Bereiche
und wir brauchen einen Nachhaltigkeitsrat,


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Wo bleibt er denn?)


aber nicht als zusätzliches Beratungsorgan, sondern als
eine Einrichtung, die vorab klärend arbeitet und die Kon-
sensbildung betreibt.

Was ist jetzt vom Kabinett beschlossen worden? Ers-
tens. Wir werden einen Nachhaltigkeitsrat bekommen. Er
wird mit Personen des öffentlichen Lebens besetzt werden
und der Öffentlichkeit in den nächsten Wochen vorge-
stellt. Zweitens. Wir haben einen „grünen Staatssekretärs-
ausschuss“, der dem Prinzip der Integration genügt, da
alle Staatssekretäre aus den beteiligten Häusern darin ver-
treten sind. Drittens werden wir im Wissenschaftszentrum
Berlin ein Sekretariat für diesen Nachhaltigkeitsrat be-
kommen. – Hinsichtlich der Nachhaltigkeitsstrategie sind
wir also auf einem guten Weg.

Ich möchte nur auf ein kleines Problem hinweisen, das
uns als Parlamentarier alle angeht. Es gibt seit langem die
Tendenz, dass Absprachen außerhalb des Parlaments
stattfinden: sei es im Bündnis für Arbeit, sei es bei den
Energiekonsensgesprächen, sei es durch die freiwilligen
Selbstverpflichtungen, sei es beim Nachhaltigkeitsrat.
Das sind gute Instrumente und wir brauchen sie als Kom-
plementärinstrumente zum Parlament. Es kann aber
natürlich nicht angehen, dass dem Parlament nur noch ein
Beobachterstatus eingeräumt wird. Es muss sichergestellt
werden – das müssen wir als Parlament insgesamt verlan-
gen –, dass es, bezogen auf die Ergebnisse des Nachhal-
tigkeitsrates und der „grünen Staatssekretärsrunde“, eine

Rückkopplung mit dem Parlament gibt. Es kann nicht
sein, dass Absprachen getroffen werden, die das Hoheits-
recht des Parlamentes einschränken.


(Beifall des Abg. Michael Müller [Düsseldorf] [SPD])


Summa summarum: Das, was die Bundesregierung in
der ersten Halbzeit ihrer Regierungstätigkeit im Bereich
der Umweltpolitik gemacht hat, kann sich sehen lassen,
ist international vorzeigbar und stellt einen guten Schritt
in die richtige Richtung dar.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412704800
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Werner Wittlich.


Werner Wittlich (CDU):
Rede ID: ID1412704900
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Deutschen
sind vom Volk der Jäger und Sammler zum Volk der
Sammler und Sortierer mutiert.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Liebevoll trennen sie, was vorher zusammengehörte. Ob
Bierflasche oder Geschenkpapier, Joghurtbecher oder
Küchenabfall – alles wird getrennt, gesammelt und sor-
tiert.

Wie eine Allensbach-Studie herausfand, trennen
91Prozent der Deutschen nach ihren eigenen Angaben
ihren Abfall; in den Vorjahren lag dieser Wert noch bei
86 Prozent. Diesen Bewusstseinswandel hat die 1991 von
der früheren Bundesregierung unter dem Aspekt des
damals dramatischen Müllnotstandes erlassene Ver-
packungsverordnung ganz maßgeblich gefördert. Ge-
gen den Widerstand der damaligen Opposition in vielen
Bereichen zu diesem Problem hat die von der Union
geführte Bundesregierung das Abfallmengenproblem
gelöst und den Einstieg in das Reststoffmanagement orga-
nisiert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die deutsche Vorreiterrolle in der Abfallpolitik hat in ganz
Europa einen gewaltigen Innovationsschub ausgelöst.


(Zuruf von der SPD: Da hat er Recht!)

Dennoch wurde in den Jahren 1997, 1998 und aller

Voraussicht nach auch 1999 die vorgeschriebene Mehr-
wegquote unterschritten. Dies hängt entscheidend mit den
veränderten Rahmenbedingungen zusammen. Denn seit
Erlass der Verpackungsverordnung im Jahr 1991 ist schon
bis 1997 erstens der Verpackungsverbrauch von 7,6 Mil-
lionen Tonnen auf 6,3 Millionen Tonnen gesunken, zwei-
tens die Menge verwerteter Verpackungsabfälle von
920 000 Tonnen auf 5,4 Millionen Tonnen gestiegen und
drittens das Volumen in Mehrweg abgefüllter Getränke
um 2,9 Milliarden Liter auf jetzt 22,8 Milliarden Liter ge-
stiegen. Ferner geraten traditionelle Mehrwegsysteme
durch demographische Veränderungen, zum Beispiel die
Zunahme von Singlehaushalten, und veränderte Ge-
brauchsgewohnheiten unter Druck.




Dr. Reinhard Loske

12161


(C)



(D)



(A)



(B)


Gesetze dürfen nicht statisch verstanden werden. Sie
sollen und müssen an veränderte Rahmenbedingungen
angepasst werden, um ihrem Zweck auch in Zukunft ge-
recht zu werden. Dies erfordert ein hohes Maß an Flexi-
bilität und die Bereitschaft, neue Wege zu gehen, wenn es
nötig ist. Das damalige Problem des Müllnotstandes ist
heute gelöst. Die Geschäftsgrundlage für die 1991 erlas-
sene Verpackungsverordnung, die damals richtig war, ist
heute weggefallen.

Inzwischen sieht die Umweltministerkonferenz dies
genauso. Sogar Herr Trittin hat mittlerweile eingelenkt.
Das ist schön. Er hat sich nämlich bisher immer nur stur
an die rechtlichen Vorgaben gehalten und zeigt erst jetzt
die Bereitschaft zu einer gewissen Flexibilität.


(Horst Kubatschka [SPD]: Muss sich ein Minister nicht an Gesetze halten? – Weiterer Zuruf von der SPD: Es ist nicht gesagt, er müsste sich an eure Gesetze halten!)


– Wenn gebellt wird, weiß man hier vorn, dass man Recht
hat.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Dass man Unsinn erzählt!)


Entscheidend für die künftige Politik darf nicht die
Beibehaltung einer 1991 unter ganz anderen Rahmenbe-
dingungen festgesetzten Quote sein. Neue Erkenntnisse
aus Forschung und Technik im Bereich der Getränkever-
packung müssen zeitnah Eingang in die Gesetzgebung
finden.

Glas ist gut, Plastik, Aluminium und Weißblech sind
schlecht – mit solchen Lehren ist die Ökogemeinde he-
rangewachsen. Aber es zeigt sich immer wieder, dass das
Leben komplizierter ist und mithin auch die Ökologie.

Die Grenze zwischen ökologisch vorteilhaften Ge-
tränkeverpackungen, deren Verwendung gefördert wer-
den soll, und sonstigen Getränkeverpackungen muss neu
gezogen werden. Diesem Gedanken trägt auch die vom
Umweltbundesamt zu den Getränkeverpackungen vorge-
legte Ökobilanz Rechnung. Sie bescheinigt dem Mehr-
weg klare Vorteile und bestätigt damit die Entscheidung
der früheren Bundesregierung für den Mehrweg.

Gleichzeitig erkennt die Bilanz aber auch an, dass
diese Trennlinie heute nicht mehr ganz lupenrein verläuft;


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

denn die Mehrwegglasflasche und der Einweggetränke-
karton werden als ökologisch gleichwertig betrachtet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Aufgrund der UBA-Studie plädiert die CDU/CSU-

Fraktion im Deutschen Bundestag deshalb für eine
Neuausrichtung der Verpackungspolitik auf Basis der
aktuellen ökologischen und ökonomischen Fakten. Eine
solche Ausrichtung könnte zum Beispiel darin liegen,
künftig zwischen ökologisch vorteilhaften und ökolo-
gisch nachteiligen Verpackungsarten zu unterscheiden.
Maßstab für die zukünftige Getränkeverpackung muss
noch mehr als bisher ihre ökologische Verträglichkeit
sein. Beispielsweise könnten die PET-Flasche und der

dem Mehrweg gegenüber als gleichwertig eingestufte
Einweggetränkekarton auf die Mehrwegquote angerech-
net werden. Möglicherweise könnte sich ein solches auch
für die noch nicht untersuchte PET-Einwegflasche mit
Rücklauf ergeben.

Wie der heutigen Presse und den Agenturmeldungen zu
entnehmen ist, haben sich die Umweltminister der Länder
gestern auf einer Konferenz in Berlin auf die Erhebung
von Pfand auf ökologisch nachteilige Verpackungs-
arten geeinigt. Gleichzeitig wurde von den Umweltmi-
nistern festgehalten, dass bis zur Erhebung die unter-
schiedlichsten Parameter geprüft und einer eingehenden
Bewertung unterzogen werden müssen. Kein Pfand wird
den Angaben zufolge auf Kartonverpackungen für Ge-
tränke erhoben, weil ihre Umweltschädlichkeit aufgrund
verschiedener Gutachten nicht nachgewiesen ist.

Die bisherige Ungleichbehandlung nach der alten Ver-
packungsverordnung für Getränkedosen, nach der Bier
bepfandet werden sollte und zum Beispiel Cola nicht,
wird beseitigt. Gleichzeitig wird eine Technologieklausel
eingeführt, durch die mögliche Entwicklungen von öko-
logisch nachteiligen zu ökologisch vorteilhaften Verpa-
ckungen berücksichtigt werden können. Außerdem fällt
der erhebliche bürokratische Aufwand für die Erfassung
und für die Erhebung der so genannten Quote weg.

Meine Damen und Herren, ich will nochmals kurz dar-
stellen, warum wir Bedenken gegen die Einführung eines
so genannten pauschalen Zwangspfandes hatten: Die
Einführung eines Zwangspfandes hätte den Handel Mil-
liardenbeträge gekostet. Hiervon wäre insbesondere der
Mittelstand betroffen gewesen. Der aber hat sich aber
noch nicht richtig von der Keule des 630-DM-Gesetzes


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


und der „Nicht überall, wo Öko draufsteht, ist auch
tatsächlich Öko drin“-Steuer erholt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Da die Flächen nicht unbegrenzt erweiterbar sind, hätte
der Handel außerdem seine Ladenflächen neu organisie-
ren müssen. Letztlich wäre das bewährte Mehrwegsystem
aus Kosten- und Platzgründen gekippt – ein klassischer
Bumerangeffekt.

Für die betroffenen Unternehmen und für die Verbrau-
cher sind Klarheit und rechtliche Planungssicherheit auf
diesem komplexen Gebiet dringend erforderlich. Herr
Trittin, Sie hätten schon viel früher einen klaren Vorschlag
auf den Tisch legen müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Ulrich Kelber [SPD]: Am besten schon vor 1998!)


Stattdessen sind Sie seit Monaten vor einer Entscheidung
zurückgeschreckt und haben sich lieber von Gutachten zu
Gutachten gehangelt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ihr Treffen mit Vertretern von Industrie, Handel und Um-
weltverbänden mit dem Ziel einer Einigung ist kläglich




WernerWittlich
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(D)



(A)



(B)


gescheitert. Dies einzig und allein den Wirtschafts-
verbänden anzulasten zeugt von einem hohen Maß an
Borniertheit und ideologischer Verblendung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Nur die ständige Kommunikation mit allen Betroffenen
kann letztlich zu einer zeitnahen Entscheidung führen.

Die CDU/CSU-Fraktion fordert daher die Bundesre-
gierung auf, bei den weiteren Schritten den Dialog sowohl
mit Handel und Industrie als auch mit den Umwelt- und
Verbraucherverbänden wieder aufzunehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ob eine Selbstverpflichtung durch die Wirtschaft oder an-
dere Instrumente zielführend sind, sollten Sie offen und
ideologiefrei mit allen Beteiligten diskutieren.


(Zuruf von der SPD: Das fällt Ihnen aber schwer!)


Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412705000
Jetzt erteile ich das
Wort dem Kollegen Jürgen Wieczorek, SPD-Fraktion.


Jürgen Wieczorek (SPD):
Rede ID: ID1412705100
Frau Präsiden-
tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ökosteuer und
Atomausstieg sind wichtige und unverzichtbare Projekte
der rot-grünen Umweltpolitik. Sie absorbieren viel Auf-
merksamkeit und an ihnen entzünden sich die Gemüter.
Man kann aber nun wirklich nicht behaupten, dass sich
unsere Umweltpolitik auf diese zwei Projekte reduziert.
Seit 1998 haben wir viele beachtliche Maßnahmen im
Bereich des Umweltschutzes getreu unserer Orientierung
am Leitbild der Nachhaltigkeit in Angriff genommen.
Wichtige Gesetze und Programme haben wir beschlos-
sen. Hier möchte ich nur einige beispielhaft nennen: das
100 000-Dächer-Programm, das Erneuerbare-Energien-
Gesetz und das jetzt vom Bundeskabinett verabschiedete
nationale Klimaschutzprogramm.

Ein weiterer wichtiger Bereich, in dem wir aktiv sind,
ist der Bodenschutz. Auch hier war 1998 Nachholbedarf
festzustellen. Es ist bezeichnend, dass die Vorgängerre-
gierung das Bundes-Bodenschutzgesetz so lange hinaus-
gezögert hat, dass es erst im März 1999 in Kraft treten
konnte. Damit war aber immerhin ein Anfang geschaffen.
Die Wirkung des Gesetzes wird sich erst in drei bis fünf
Jahren objektiv bewerten lassen. Ausgebaut und konkre-
tisiert hat die rot-grüne Bundesregierung das Bundes-Bo-
denschutzgesetz durch die Bundes-Bodenschutz- und Alt-
lastenverordnung im Juli 1999. Auf der Grundlage dieser
Verordnung wird der Inanspruchnahme unverbrauchter
Böden entgegengesteuert. Das war und ist leider noch ein
gravierendes Problem. Bundesweit werden täglich circa
120 Hektar Boden neu versiegelt.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Viel zu viel!)


Hauptverantwortlich für den enormen Anstieg des Bo-
denverbrauchs ist übrigens die alte Bundesregierung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Mit ihrem großzügigen Abschreibungsgesetz für alle
Neubauten im Zusammenhang mit der deutschen Einheit
– vom Grundanliegen her war es sicherlich sinnvoll, aber
es war zu pauschal anwendbar und damit ausnutzbar; in
Anbetracht der sichtbaren Fehlentwicklungen hätte es
viel früher gebremst werden müssen – hat sie zu Investi-
tionen auf der grünen Wiese und damit zur allgemeinen
Zersiedelung und besonders zur Forcierung von Versiege-
lungen beigetragen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Rainer Brinkmann [Detmold] [SPD]: Hören Sie gut zu!)


Mit der Verordnung können nun gering belastete
Grundstücke rasch aus dem Altlastenverdacht entlassen
werden und somit ehemalige Industrieflächen quasi recy-
celt werden. Das ist ein wichtiger Beitrag, um den Trend
zu einer immer stärkeren Flächeninanspruchnahme auf-
zuhalten.

Es ist aber sicherlich auch richtig, dass das Bundes-
Bodenschutzgesetz in vielen anderen Bereichen noch
nachgebessert und weiterentwickelt werden muss. Hierzu
hat das BMU eine Reihe wichtiger Forschungsaufträge
vergeben. Außerdem hat der Umweltminister in diesem
Sommer einen Fachbeirat „Bodenschutz“ einberufen, der
Defizite im Bereich der Methodik des Bodenschutzes auf-
arbeiten soll.

Eines hat uns von Anfang an am Bodenschutzgesetz
nicht gefallen: Die alte Bundesregierung hat den Akzent
fast ausschließlich auf die Beseitigung von Bodenbelas-
tungen und -schäden gesetzt. Die Verhinderung von Ein-
griffen und Beeinträchtigungen, die zu weiteren künftigen
Altlasten führen, kommt zu kurz. Kritiker sprechen des-
halb nicht ganz zu Unrecht von einem Altlastensanie-
rungsgesetz statt von einem Bodenschutzgesetz.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir hingegen setzen uns dafür ein, dass der Vorsorgege-
danke im Bodenschutz ein wesentlich stärkeres Gewicht
erhält; denn konsequente Vorsorge lässt oft gar keine Alt-
lasten entstehen bzw. dämmt deren Entstehung ein.

Bereits im Dezember 1998 hat der Bundesumweltmi-
nister den Wissenschaftlichen Beirat „Bodenschutz“ ein-
berufen und mit einem Gutachten zur Ausgestaltung der
Vorsorgepolitik beauftragt. Dieses Gutachten zum vorsor-
genden Bodenschutz liegt uns nun seit einigen Monaten
vor. Es enthält sinnvolle Anregungen, wie man Bodenbe-
lastungen in Zukunft vermeiden kann. Zurzeit werden
diese Vorschläge im BMU ausgewertet. Viele dieser Vor-
schläge reichen auch in die Geschäftsbereiche des BML,
des BMBau und weiterer Ressorts hinein. Es ist unsere
erklärte Absicht, den Bodenschutz in andere Politikberei-
che zu integrieren; denn nur so ist ein effektiver Boden-
schutz überhaupt möglich.


(Beifall bei der SPD)

Gleichzeitig ist es uns außerordentlich wichtig, durch

gezielte Öffentlichkeitsarbeit das Bewusstsein der Men-
schen für die große Bedeutung intakter Böden im Sinne
der Nachhaltigkeit zu schärfen. Ein verantwortungsvoller




WernerWittlich

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(D)



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(B)


Umgang mit der Ressource Boden muss für jeden zur
Selbstverständlichkeit werden.

Was für den Umweltschutz allgemein gilt – dass er
nicht nur als nationale Aufgabe begriffen wird, sondern
der internationalen Zusammenarbeit bedarf –, gilt ganz
besonders für den Bodenschutz. Zunächst müssen wir
natürlich auf die Kooperation mit unseren europäischen
Nachbarn setzen. Nachdem Fragen des Bodenschutzes
lange Zeit auf der europäischen Ebene weniger Beach-
tung gefunden haben, wurden die Anstrengungen in den
letzten Jahren intensiviert. Es gibt zahlreiche EU-Richtli-
nien, zum Beispiel zum Gewässer- und Luftschutz, die
auch dem Bodenschutz zugute kommen. Ein Defizit ist
sicherlich das Fehlen einer spezifischen EU-Richtlinie
zum Bodenschutz. Die Bundesregierung hat den Hand-
lungsbedarf erkannt und unterstützt die europäischen
Bemühungen um den Bodenschutz.

Im Dezember 1998 hat das BMU unter der Schirm-
herrschaft von Bundesumweltminister Trittin einen
Workshop zum Thema Bodenschutz durchgeführt. Als
Ergebnis fand Ende 1999 auf Einladung der Bundesregie-
rung in Berlin das erste Treffen des Europäischen Bo-
denforums – es wird in Zukunft regelmäßig zusammen-
kommen – statt. Ziel dieses Forums ist es, wichtige
Grundlagenarbeit zu leisten, bevor Indikatoren, Messme-
thoden und Parameter innerhalb der EU harmonisiert wer-
den können. Ein weiteres wichtiges Anliegen des Euro-
päischen Bodenforums ist es, dem Vorsorgegedanken
beim Bodenschutz mehr Beachtung zu verschaffen.

Mit unserem Antrag treten wir auch für eine Verstär-
kung der internationalen Zusammenarbeit über den euro-
päischen Rahmen hinaus ein. Wir berufen uns dabei auf
zahlreiche internationale Vereinbarungen, zum Beispiel
auf das Bodenkapitel in der Agenda 21, auf die Ergebnisse
der UN-Konferenz Habitat II, auf das Biodiversitätsab-
kommen oder auf die so genannte Wüstenkonvention
von 1996. Es gilt, diese internationalen Abkommen tat-
kräftig zu unterstützen und mit Nachdruck auf deren kon-
sequente Umsetzung zu drängen. Wo nötig, muss die Ini-
tiative ergriffen werden, die vorhandenen Bestimmungen
auszubauen.


(Beifall bei der SPD)

Hierzu möchte ich Ihnen ein Beispiel nennen: Die

Wüstenkonvention wird weiterentwickelt. Wenn sich im
Dezember dieses Jahres die Vertragsstaaten der Wüsten-
konvention in Bonn treffen, soll ein neuer Anhang für den
Erosionsschutz in Mittel- und Osteuropa beschlossen
werden. Diese Forderung wird im Übrigen besonders von
deutscher Seite erhoben.

Sie sehen also, es gibt genug internationale Vereinba-
rungen und Gremien, die sich mit dem Thema Boden-
schutz beschäftigen. Diese Vereinbarungen müssen aller-
dings mit Leben erfüllt, die Diskussionsforen müssen zu
substanziellen Ergebnissen geführt und die vorhandenen
Instrumente müssen entschlossen angewandt werden. Die
Bundesregierung wird durch unseren Antrag darin unter-
stützt, sich für die Ausschöpfung der vorhandenen
organisatorischen Strukturen weiter einzusetzen.

Was wir für die nächste Zeit allerdings nicht brauchen
– damit komme ich zum Antrag der F.D.P. –, ist eine neue
internationale Vereinbarung, die Sie mit Ihrem Ruf nach
einer internationalen Bodenschutzkonvention fordern.
Die bestehenden Regelungen müssen erst einmal umge-
setzt werden. Die Forderung nach einer internationalen
Bodenschutzkonvention würde nur bedeuten, dass sich
die UN-Staaten wieder um einen großen Tisch versam-
meln, um in langwierigen und mühseligen Prozessen ein
solches Papier zu erarbeiten. Wir brauchen aber kein
neues Stück Papier, sondern die tatkräftige Umsetzung
der vorhandenen Vereinbarungen.


(Beifall bei der SPD)

Dafür setzen wir uns mit unserem Antrag ein. Frau

Reichard von der CDU/CSU hat ihre Meinung dazu hier
schon kundgetan. Wir haben die Änderungsvorschläge
der CDU/CSU-Fraktion aufgegriffen. Ich denke, dass wir
so zu einem guten Ergebnis kommen.

Auch am Beispiel des Bodenschutzes können Sie also
sehen, dass wir nicht nur im nationalen, sondern auch im
europäischen und im internationalen Rahmen eine gute
Umweltpolitik leisten.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412705200
Herr Kollege
Wieczorek, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bun-
destag. Ich beglückwünsche Sie im Namen des ganzen
Hauses.


(Beifall)

Als Letztem in dieser Debatte erteile ich das Wort dem

Kollegen Dr. Christian Ruck, CDU/CSU-Fraktion.

(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Jetzt geht ein Ruck durch das Land! – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Jetzt hören wir etwas Gutes!)


– Also, Herr Kollege Hinsken, den ganzen Morgen nicht
anwesend sein und dann so etwas dazwischenrufen, das
ist nicht in Ordnung!


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ich war schon früher da als Sie, Frau Präsidentin!)



Dr. Christian Ruck (CSU):
Rede ID: ID1412705300
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst
möchte ich meine leise Bewunderung für die Redner der
Koalition dafür zum Ausdruck bringen, dass sie es verste-
hen, aus Taubendreck Vanillepudding zu machen, indem
sie Fortschritte herbeireden, die so ja wirklich nicht zu
sehen sind; das gilt auch für Sie, Herr Dzembritzki.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wir haben bereits vor einem halben Jahr in einer Aktu-
ellen Stunde über das Umweltgutachten 2000 gesprochen.
Schon damals haben selbst die Redner der Koalition zu-
gegeben, dass dieses Gutachten kein Ruhmesblatt für die




Jürgen Wieczorek (Böhlen)

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bisherige rot-grüne Umweltpolitik ist und dass es zahlrei-
che Versäumnisse und Fehler gibt.


(V o r s i t z: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Heute, ein halbes Jahr später, muss man feststellen,
dass sich daran kaum etwas verbessert hat. Sie haben sich
endgültig von der Schaffung eines Umweltgesetzbuches
verabschiedet. Die vollmundigen Ankündigungen einer
Nachhaltigkeitsstrategie – dies wollte ich eigentlich dem
Kollegen Loske sagen; jetzt ist er leider nicht mehr anwe-
send – sind zumindest bis heute im luftleeren Raum ver-
pufft.

Auch in der Abfallpolitik kann ich keinen Fortschritt
in dem Versuch erkennen, die Kriterien zur Behandlung
von Siedlungsabfällen aufzuweichen. Was die Novellie-
rung des Bundesnaturschutzgesetzes anbelangt, ist die
Karre offensichtlich im Dreck. Sie sind hierbei wieder
nach dem Motto verfahren: Wie schaffe ich mir für eine
an sich gute Sache wie den Naturschutz möglichst viele
Feinde? Durch Ihr Vorgehen haben Sie sich Feinde bei
den Ländern geschaffen, die für den Naturschutz zustän-
dig sind.


(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die CDU-Länder sind nicht sehr kooperativ!)


Wenn die Koalition reklamieren sollte, dass die Bun-
desstiftung Umwelt auch für Naturschutzzwecke Geld zur
Verfügung stellt, dann kann ich nur sagen, dass dies zu-
mindest ein gemeinsames Anliegen ist. Jedenfalls ist dies
eine alte CSU-Idee. Ich begrüße es, dass sie endlich auf-
gegriffen wurde.


(Horst Kubatschka [SPD]: Sehen Sie, dazu ist ein Regierungswechsel notwendig!)


Aber das wird die Probleme im Naturschutz insgesamt
nicht lösen.

Die Energieeinsparverordnung wird uns alle halbe Jah-
re wieder für das nächste halbe Jahr angekündigt. Ich bin
gespannt, ob diese Ankündigung im Herbst nun tatsäch-
lich umgesetzt wird.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Zum Zwangspfand: Ich finde es gut, dass der Bund

und die Länder bei dieser schwierigen Angelegenheit fle-
xibel waren. Aber diese Flexibilität wird man vielleicht
insbesondere dann benötigen, wenn es sich herausstellen
sollte, dass das Zwangspfand ein Schuss nach hinten wer-
den kann. Der Zweck, für den es eigentlich gedacht war,
bestand darin, ökologisch unverträgliche Materialien zu
vermeiden. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass das
Zwangspfand das Gegenteil bewirkt. Das trifft dann auch
die kleineren und mittelständischen Brauereien, die zum
Beispiel uns Wahlkreisabgeordneten aus Bayern heilig
sind.

Jetzt haben Sie voller Stolz darauf hingewiesen, dass
Sie am 18. Oktober dieses Jahres ein Klimaschutzpro-
gramm verabschiedet haben. Wir werden – das nehme ich
an – in zwei Wochen eine Debatte über den Klimaschutz
führen. Dabei können wir uns dann eingehend über das
Für und Wider unterhalten.

Es gibt durchaus Punkte – das haben wir schon in einer
Presseerklärung verkündet –, die vor allem deshalb gut
sind, weil die ursprüngliche Idee von uns stammt. Aber es
gibt auch Instrumente und eine Mittelausstattung, die
meiner Ansicht nach vollkommen in die falsche Richtung
gehen, zum Beispiel eine Verdoppelung des KWK-Ein-
satzes. Dieser Ansatz klingt zwar gut, ist aber von der Sa-
che her völliger Schwachsinn.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Bayer!)

Mit dieser Festschreibung tun Sie dieser Technologie kei-
nen Gefallen. Wir sind der Meinung, dass man die KWK
dann fördern sollte, wenn es wirklich sinnvoll ist, und
man nicht einfach pauschal vorgehen sollte. Das wird an-
sonsten genau so wie das EEG enden, nämlich mit einer
gigantischen Verheizung von Steuerzahlergeldern ohne
großen ökologischen Effekt. Insgesamt befürchten wir,
dass es mit dem Klimaschutzprogramm nicht gelingen
wird, die Klimaschutzverpflichtungen Deutschlands zu
erfüllen. Das schwächt unsere Position in der internatio-
nalen Politik.

Das Gutachten über die globalen Umweltrisiken – Frau
Reichard hat schon darauf hingewiesen – rückt die Maß-
stäbe wieder ein wenig zurecht. Wir haben in den letzten
Jahren und Jahrzehnten in Deutschland mit einer guten
Umweltpolitik die größten Probleme gerade im Bereich
von Luft und Wasser vom Tisch bekommen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412705400
Herr Kol-
lege Ruck, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Bulling-Schröter?


Dr. Christian Ruck (CSU):
Rede ID: ID1412705500
Jawohl.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412705600
Bitte
schön, Frau Bulling-Schröter.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412705700
Sie haben gerade aus-
geführt, dass Sie die Förderung der KWK nicht für sinn-
voll, sondern, im Gegenteil, für schädlich halten. Mich in-
teressiert jetzt im Detail, wieso. Ich habe das nicht
verstanden. Die KWK ist eine Brückentechnologie. Sie
wird technologisch gefördert. Sie ist effizient. Die Um-
weltverbände sprechen sich für KWK aus.


(Ulrich Kelber [SPD]: Arbeitsplätze!)

– Ja, sie schafft auch Arbeitsplätze. Wir sind uns in vielen
Punkten einig.

Ich verstehe Ihre Argumente nicht, Herr Ruck; denn die
Alternative ist sicherlich billiger Atomstrom. Ich denke,
dass auch bei der KWK durch die Fernwärme ökologische
Aspekte wirklich sehr gefördert werden.


Dr. Christian Ruck (CSU):
Rede ID: ID1412705800
Ich gebe Ihnen
Recht, dass sich SPD und PDS in diesem Punkt nahtlos
ergänzen.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)





Dr. Christian Ruck

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(A)



(B)


Ich habe nur sieben Minuten Zeit; deswegen bin ich dank-
bar, dass ich jetzt die Gelegenheit habe, das Ganze ein
bisschen näher auszuführen.

Kraft-Wärme-Kopplung ist nur dann sinnvoll, wenn
die Wärme auch abgenommen wird und der Strom keine
Überkapazitäten auf dem Markt bewirkt. Sie haben das
Stichwort Eon genannt. Wir haben auf dem Stromsektor
im Moment wirklich Überkapazitäten


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Warum denn?)


und haben im Wärmebereich große KWK-Anlagen, die
völlig für die Katz arbeiten.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Wo im privaten Bereich?)


– Herr Müller, Moment! – Deswegen sind wir dafür
– auch das können wir in zwei Wochen noch vertiefen –,
KWK dort zu fördern, wo wir die Einführung von Inno-
vationen bewirken,


(Monika Ganseforth [SPD]: Das ist doch eine Ausrede!)


die neue Technologie vorwärts bringen können

(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Also nie! Sie haben keine Ahnung!)

– Herr Müller, Sie haben keine Ahnung – und eine Situa-
tion haben, in der die Wärmeerzeugung sinnvoll abge-
nommen werden kann. Es ist doch völlig sinnlos, neue
Technologien zu fördern, wenn die Wärme in den Äther
verpufft.


(Horst Kubatschka [SPD]: Davon redet doch keiner! Noch immer dünne Luft! „Energien sinnlos verpuffen lassen“! – Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Gehen Sie erst einmal lernen!)


– Herr Müller und Herr Kubatschka, in zwei Wochen
sprechen wir uns wieder.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Gern! Lernen Sie bis dahin!)


Ich will nur verhindern, dass wir mit einer technolo-
gisch vollkommen überflüssigen Förderungsaktion das-
selbe erleben wie zum Beispiel bei der Photovoltaik, wo
wir Milliarden Steuer- und Stromgelder der Bürger sinn-
los verschleudern, – einfach für die Katz.


(Horst Kubatschka [SPD]: Sie verwechseln das mit Kernenergie! – Monika Ganseforth [SPD]: Jetzt sind Sie auch noch gegen die Photovoltaik! – Michael Müller Was redet der für einen Quatsch!)


Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auf den in-
ternationalen Bereich zurückkommen. Die Vielfalt der
Schöpfung ist auf dramatische Weise bedroht; darauf hat
Frau Reichard schon hingewiesen. In dieser Situation, die
wesentlich dramatischer ist als unsere Umweltprobleme
in Deutschland, gibt es eigentlich nur eine Gegenstrate-
gie, nämlich mit Entschlossenheit und überzeugenden
Konzepten etwas zu bewegen.

Ich möchte einem Eindruck widersprechen, der besagt,
die früheren Bundesregierungen hätten in dieser Hinsicht
nichts getan. Das Gegenteil ist der Fall. Früher – unter
Bundeskanzler Kohl und seinen Umwelt- und Entwick-
lungsministern – war genau dieser Bereich Chefsache. Er
wurde in die Machtzentren der internationalen Politik ein-
geführt,


(Ulrich Kelber [SPD]: Aber nur verbal!)

sehr zur Verblüffung unserer damaligen Verbündeten
bzw. unserer damaligen G-7-Partner, die sich gewundert
haben, was Tropenwaldschutz und Treibhauseffekt be-
deuten. Es waren der damalige Bundeskanzler und die
damaligen Kabinettsmitglieder, die diesen Themen erst
zum Durchbruch verholfen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Monika Ganseforth [SPD]: Das war die Klimaschutz-Enquete-Kommission und nicht der Bundeskanzler!)


Jetzt hat sich ausgerechnet die rot-grüne Bundesregie-
rung von der Ökologisierung der internationalen Politik
verabschiedet. Für Kanzler Schröder und den grünen
Außenminister Fischer ist die weltweite Erhaltung der
Schöpfung doch längst kein Thema mehr; nicht einmal
mehr für die eigenen Umwelt- und Entwicklungsprojekte,
die im Feuer stehen, gibt es Rückendeckung von oben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412705900
Herr Kol-
lege, kommen Sie bitte zum Schluss.


Dr. Christian Ruck (CSU):
Rede ID: ID1412706000
Jawohl.
Entgegen allen Lippenbekenntnissen wurde der Ent-

wicklungshaushalt, der als Einziger etwas bewegen kann,
um inzwischen fast 1 Milliarde DM abgemeiert. Gerade
der Umwelt- und Ressourcenschutz wird weiter zusam-
mengestrichen. Das ist die Realität rot-grüner Politik.

Im Zusammenhang mit Ökosteuer oder EEG betreiben
Sie eine Umweltpolitik, die mit dem geringsten ökologi-
schen Effekt und den höchsten ökonomischen Kosten die
Menschen am meisten ärgert. Das ist das Ergebnis von
zwei Jahren rot-grüner Umweltpolitik: Wir spielen inter-
national keine Rolle; Umweltschutz wird national zum
Ärgernis. Das ist genau das Gegenteil einer guten Um-
weltpolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412706100
Ich
schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/2834, 14/3285, 14/3363 und
14/3814 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? –
Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 4 e, Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit auf Drucksache 14/3711. Der Aus-




Dr. Christian Ruck
12166


(C)



(D)



(A)



(B)


schuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung,
den Antrag der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grü-
nen zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zur Stär-
kung des Schutzes der Böden auf Drucksache 14/2567 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Enthaltungen? – Gegenstim-
men? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
aller Fraktionen mit Ausnahme der F.D.P.-Fraktion ange-
nommen.

Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschluss-
empfehlung, den Antrag der Fraktion der F.D.P. zur Erar-
beitung einer internationalen Bodenschutzkonvention auf
Drucksache 14/983 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der SPD, der CDU/CSU und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der F.D.P.-Fraktion
und Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.

Zusatztagesordnungspunkt 4:
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 14/4395 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 e sowie den
Zusatzpunkt 5 auf:
Überweisungen im vereinfachten Verfahren

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ein-
führung des Euro im Sozial- und Arbeitsrecht
sowie zur Änderung anderer Vorschriften

(4. Euro-Einführungsgesetz)

– Drucksachen 14/4375, 14/4388 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes zur Verbesserung der
betrieblichen Altersversorgung
– Drucksache 14/4363 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Übereinkommens zum Schutz
der Meeresumwelt des Nordostatlantiks

(OSPAR-Übereinkommen)

– Drucksache 14/3949 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

d) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Christina Schenk, Christine Ostrowski, Monika

Balt, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der PDS eingebrachten Entwurfs eines ... Geset-
zes zur Änderung des Dritten Buches Sozial-

(... SGB III – Änderungsgesetz – ... SGB III ÄndG)

– Drucksache 14/3227 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Hildebrecht Braun (Augsburg), Rainer Brüderle,
Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der F.D.P.
Für eine vertiefte Partnerschaft zwischenRussland und der EU
– Drucksache 14/811 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 5 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-
fahren
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Weiterentwicklung der sozialen Pflegeversi-cherung
– Drucksache 14/4391 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Haushaltsausschuss

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 14/4388 soll an
dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksa-
che 14/4375 überwiesen werden. Sind Sie damit einver-
standen? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen
so beschlossen.

Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 26 a
bis 26 h. Dabei handelt es sich um die Beschlussfassung
zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 a auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 7. Sep-
tember 1999 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Usbekistan zur
Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem
Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen
– Drucksache 14/3465 –

(Erste Beratung 111. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)

– Drucksache 14/4207 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Jochen-Konrad Fromme




Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

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(D)



(A)



(B)


Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache
14/4207, den Gesetzentwurf anzunehmen. Wir kommen
zur

zweiten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist
damit einstimmig angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 b auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

Hildebrecht Braun (Augsburg), Rainer Brüderle,
Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Für eine sofortige Verhängung umfassender
Handelssanktionen gegen Jugoslawien
– Drucksachen 14/793, 14/4205 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Eberhard Brecht
Erich G. Fritz
Rita Grießhaber
Ulrich Irmer
Wolfgang Gehrcke

Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksa-
che 14/793 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist damit einstim-
mig angenommen.

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Peti-
tionsausschusses.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 c auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 201 zu Petitionen
– Drucksache 14/4278 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 201 ist einstimmig ange-
nommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 d auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 202 zu Petitionen
– Drucksache 14/4279 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 202 ist mit den Stimmen
aller Fraktionen mit Ausnahme der PDS-Fraktion, die sich
enthalten hat, angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 e auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 203 zu Petitionen
– Drucksache 14/4280 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Sammelübersicht 203 ist mit dem gleichen
Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 f auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 204 zu Petitionen
– Drucksache 14/4281 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Sammelübersicht 204 ist mit den Stimmen der
Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der
F.D.P. und der PDS bei Gegenstimmen der CDU/CSU-
Fraktion angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 g auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 205 zu Petitionen
– Drucksache 14/4282 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Sammelübersicht 205 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der PDS bei Gegenstimmen von
CDU/CSU und F.D.P. angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 h auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 206 zu Petitionen
– Drucksache 14/4283 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Sammelübersicht 206 ist mit den Stimmen
aller Fraktionen bei Enthaltung der PDS angenommen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.
Haltung der Bundesregierung zur Forderung
von Bundesverkehrsminister Klimmt, die Öko-
steuer im Jahr 2003 zu beenden

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Jürgen Koppelin von der F.D.P.-Fraktion.


Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1412706200
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! In wenigen Wochen, im Januar
2001, wird die Ökosteuer erneut angehoben. Dann wird
sich das Mineralöl erneut verteuern und die Energiekosten
werden wieder steigen und das alles staatlich verordnet.
Da die Bürgerinnen und Bürger bereits jetzt die Belastun-
gen durch die Ökosteuer kaum noch tragen können und
das Abkassieren der rot-grünen Koalition kaum noch er-
tragen können – gestern sind die Mineralölpreise wegen




Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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(D)



(A)



(B)


des niedrigen Euro noch einmal um 4 Pfennig gestie-
gen –, war es nach meiner Meinung gut, dass sich der
Bundesverkehrsminister zu Wort gemeldet hat, und zwar
sehr eindeutig. Ich bedaure ausdrücklich, dass der Bun-
desverkehrsminister an der heutigen Debatte anscheinend
nicht teilnimmt. Ich muss deshalb davon ausgehen, dass
ihm inzwischen ein Redeverbot erteilt worden ist; denn
ansonsten würde er sich eine solche Gelegenheit doch
nicht entgehen lassen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Für diejenigen, die nicht mitbekommen haben, was der
Bundesverkehrsminister gesagt hat, möchte ich es gern
wiederholen. Der Bundesverkehrsminister Klimmt sagte,
wenn es nach ihm ginge, wäre es mit der Ökosteuer im
Jahre 2003 Sense. Dann legt er nach und sagt wörtlich:

Im Januar 2003 haben wir dann den Benzinpreis
fünfmal um 6 Pfennig verteuert. Damit ist der Punkt
erreicht, an dem Schluss sein muss.

Damit hat er noch niedrig gestapelt; denn er hat die Mehr-
wertsteuer, die jedesmal hinzukommt, noch gar nicht
berücksichtigt. Aber er hat Recht: Es muss endlich
Schluss mit den Verteuerungen sein.


(Ludwig Eich [SPD]: Um wieviel haben Sie die Mineralölsteuer erhöht?)


– Hören Sie mir doch zu! Sie haben später noch Gelegen-
heit, etwas zu sagen. Ich kann Ihnen auch sagen, was wir
für die Bahn getan haben. Das ist doch Ihre alte Leier.

Er fügte ausdrücklich hinzu, dies sei nicht nur seine
persönliche, sondern auch die offizielle Meinung des
Bundesverkehrsministers. Ich würde gern wissen, was der
Bundeskanzler dazu sagt, wenn sich ein Minister seines
Kabinetts öffentlich so äußert!


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das Gegenteil!)


Auf die Frage der Zeitung, ob er für seine Haltung auch
eine Mehrheit innerhalb der SPD habe, antwortete der
Bundesverkehrsminister wörtlich:

Ich habe den Eindruck, dass ich vielen in der SPD-
Fraktion aus dem Herzen gesprochen habe.

Die Reaktion aus der Koalition kam prompt. SPD-
Fraktionschef Struck sagte, über die Fortsetzung und über
das Ende der Ökosteuer werde die SPD bei der Erarbei-
tung ihres Wahlprogramms entscheiden. Fraktionsvize
Müller kritisierte den Bundesverkehrsminister mit den
Worten, es sei völlig überflüssig, jetzt eine Diskussion
über die Ökosteuer zu beginnen. Was lernt die deutsche
Bevölkerung daraus? Es darf in der Politik nicht sein, was
nicht vorher im SPD-Programm festgelegt worden ist. Die
Konsequenz daraus ist: Alle müssen so lange warten, bis
die SPD ihr Programm fertig hat. Dass die Grünen
entsprechend reagiert haben, weil sie sowieso für das Ab-
kassieren sind, sei hier nur am Rande erwähnt.


(Beifall bei der F.D.P.)


Wir Freien Demokraten unterstützen den Bundesver-
kehrsminister in seiner Aussage


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

– da Sie so laut sind, wiederhole ich sie gern –: Mit der
Ökosteuer muss Sense sein!

Allerdings sagen wir dem Bundesverkehrsminister, der
– ich sage es noch einmal – leider an der Debatte heute
nicht teilnimmt – ich weiß nicht, warum er kneift –: Nicht
im Jahre 2003 muss Schluss sein, sondern jetzt und sofort.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Ökosteuer, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein
Drama der Unvernunft. Sie sieht so aus: Erstens. Wirkli-
che Energiegroßverbraucher bleiben verschont. Zweitens.
Die Ökosteuer sorgt für eine bescheidene Senkung der
Rentenversicherungsbeiträge, aber dafür zahlen Rentner,
Arbeitslose, Azubis, Studenten, Freiberufler, Landwirte
erheblich drauf, obwohl sie überhaupt nicht entlastet wer-
den, nicht davon profitieren.


(Ludwig Eich [SPD]: Wir senken die Lohnnebenkosten!)


Und wie erklärt die Koalition eine Ökosteuer, bei der
umweltschädliche Energieträger wie Kohle Ökosteuer-
freiheit genießen? Das haben Sie uns bisher noch nicht er-
klärt. Sie haben auch nicht erklärt, warum Sie die Berufs-
pendler besonders bestrafen. Auch das alles haben Sie uns
nicht erklärt.

Die Logik der rot-grünen Koalition lautet: Je mehr
Energie verbraucht wird, vor allem Benzin, umso besser
für die Rente. Das ist Ihre Logik. Zu Recht haben in
diesen Tagen die sechs führenden deutschen Wirt-
schaftsinstitute erklärt, dass das Konzept der Koalition,
die Einnahmen aus der Ökosteuer zur Senkung der Ren-
tenbeiträge zu nutzen, falsch sei. Sehr richtig, können wir
da nur sagen.


(Joachim Poß [SPD]: Aber die Ökosteuer wird begrüßt!)


– Entschuldigung, aber Ihr Konzept ist total falsch. Sie
kleben irgendwo das Schild „Ökosteuer“ drauf und sagen,
das, was Sie machen, sei toll.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Über die Ökosteuer kann man sich ja unterhalten.


(Monika Ganseforth [SPD]: Aha!)

– Natürlich, das haben wir doch immer gesagt. Lesen Sie
doch die Programme nach! – Aber Ihr Konzept ist doch
total falsch.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wir können die Aussagen des Bundesverkehrsmini-

sters gut verstehen; denn er will sich endlich aus dem Joch
der Grünen – der „ergrauten“ Grünen, muss man ja sa-
gen – befreien.

„Ich habe den Eindruck, dass ich vielen aus der SPD-
Bundestagsfraktion aus dem Herzen gesprochen habe“,
hat der Bundesverkehrsminister gesagt. Liebe Kollegin-
nen und Kollegen aus der SPD, lassen Sie nicht nur die




Jürgen Koppelin

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(C)



(D)



(A)



(B)


Herzen sprechen, lassen Sie endlich einmal den Verstand
sprechen und schaffen Sie die Ökosteuer in der Form, wie
Sie sie geschaffen haben, ab! Die Bürger würden es Ihnen
danken.

Sie haben eine Wagenburgmentalität, indem Sie zur
Ökosteuer stehen, sie mit Zähnen und Klauen verteidigen.
Aber Sie wissen ganz genau, dass Sie das nicht durchhal-
ten.

Bundesverkehrsminister Klimmt hat gesagt, die Öko-
steuer müsse im Jahre 2003 abgeschafft werden. Wir sa-
gen: Nicht 2003, jetzt muss Schluss sein! Die Belastung
der Bürger ist zu groß, sie ist nicht mehr zu tragen.

Vielen Dank für Ihre Geduld.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412706300
Das Wort
hat jetzt der Kollege Ludwig Eich von der SPD-Fraktion.


Ludwig Eich (SPD):
Rede ID: ID1412706400
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Herr Kollege Koppelin, ich würde gern eine
Tickermeldung zitieren, die ganz frisch hereingekommen
ist. Dort heißt es:

Der frühere Bundesumweltminister Klaus Töpfer,
CDU, erneuerte seine Kritik an der CDU-Kampagne
gegen die Ökosteuer.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es sei nicht sinnvoll, die Ökosteuer als K.-o.-Steuer
zu bezeichnen, sagte der Exekutivdirektor des Um-
weltprogramms der Vereinten Nationen der Ham-
burger Wochenzeitschrift „Die Zeit“.

Ich denke, einen unverdächtigeren Zeugen kann man
nicht nennen. Das, was Sie tun, ist bloße Polemik und hat
mit Sachargumentation nichts zu tun.

Die Bürgerinnen und Bürger kennen die Gründe für die
hohen Benzinpreise. In erster Linie sind sie durch die
stark gestiegenen Rohölpreise begründet.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch ein Schmarren!)


Das wissen Sie auch, aber dennoch bemühen Sie sich, ei-
nen anderen, einen völlig falschen Eindruck zu vermit-
teln. Sie wollten eine Volksfront gegen die Ökosteuer or-
ganisieren,


(Widerspruch bei der CDU/CSU)

ohne Visionen und ohne jedes Konzept. Das ist wirklich
danebengegangen. Die Zustimmung für Rot-Grün wächst.
Das ist das Ergebnis.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Obwohl die Mineralölsteuer nie stärker angehoben

wurde als durch Union und F.D.P., polemisieren Sie gegen
sie. Gegenläufige Effekte, zum Beispiel Senkung der
Beiträge für die Rente, ignorieren Sie völlig. Allein die
Senkung der Lohnnebenkosten entlastet Arbeitnehmer
und Arbeitgeber enorm und die Entlastung ist in vielen

Fällen viel größer als das, was an Belastung auftritt. Sie
von Union und F.D.P. haben die Lohnnebenkosten in den
90er-Jahren sträflich nach oben wachsen lassen und Sie
haben damit der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen
Wirtschaft geschadet.


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Sie wissen doch selbst, warum! Deutsche Einheit!)


Das muss man Ihnen doch einmal sagen.
Sie haben über den Wirtschaftsstandort Deutschland

nur geredet, nein, Sie haben ihn schlecht geredet. Das sind
die Fakten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir, Rot-Grün, machen Politik für den Standort Deutsch-
land. Dazu gehört eben auch, die Lohnnebenkosten zu
senken.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wo liegen die denn?)


Viel schlimmer ist es aber, dass Sie die Menschen glau-
ben machen wollen, man könne vor der Verknappung der
Ölvorkommen einfach die Augen zumachen. Sie er-
wecken den Eindruck, man müsse den Treibhauseffekt
nur lange genug ignorieren, dann würde er von selber ver-
schwinden. Sie suggerieren, es gebe ein Grundrecht auf
billige Energie oder subventionierte Mobilität. Ihre Bot-
schaft ist: weniger Verantwortung und mehr Vollgas.


(Beifall bei der SPD)

In welchem Kontrast steht das alles zur Forderung von

Frau Merkel, den Spritpreis jedes Jahr um 5 Pfennig zu er-
höhen! Im Jahr 1998 sagte Frau Merkel im Bundestag: Ich
will ganz klar sagen, Deutschland bleibt bei seinem na-
tionalen 25-prozentigen Minderungsziel für Kohlendio-
xid zwischen 1990 und 2005. Frau Merkel hat natürlich
Recht. Aber warum polemisiert sie gegen die Ökosteuer?
Wo bleibt die ökologische Verantwortung, die sie als Um-
weltministerin hatte? Die Ökosteuer ist ein wichtiges Ziel
zur Reduzierung von CO2. Wir müssen das einlösen, wasFrau Merkel unterschrieben hat. Das ist der Fakt. Mit Ih-
rer Verdummungsstrategie zeigen Sie jedenfalls wenig
Verantwortung für Natur und Umwelt. Sie sind die Ben-
zinpreispopulisten dieses Landes. Sie spielen den Öl-
multis in die Hände. Das ist die Politik, die Sie heute dar-
stellen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Statt mitzuhelfen, unabhängiger vom Öl zu werden,
werfen Sie dieser Regierung, die große Anstrengungen im
Bereich der Energiepolitik macht, Knüppel zwischen die
Beine. Was haben Sie denn als Politik „weg vom Öl“ ge-
leistet? Wo ist Ihr 100 000-Dächer-Programm gewesen?
Fehlanzeige! Rot-Grün macht eine Politik „weg vom Öl“
erst möglich. Die Ökosteuer ist dabei ein Fortschritt.

Der Chef der Deutschen Bahn AG, Herr Mehdorn, sagt,
der Ansatz der Ökosteuer ist richtig. Der Chefvolkswirt
der Deutschen Bank, Herr Walter, ist für eine schrittweise
Anhebung der Benzinpreise. Die Wirtschaftsweisen sa-




Jürgen Koppelin
12170


(C)



(D)



(A)



(B)


gen in ihrem Gutachten, dass die Ökosteuer beibehalten
werden soll.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Und was sagen sie noch?)


Viele europäische Staaten gehen den gleichen Weg. Die
Zeitschrift „max“, Herr Kollege Koppelin, hat den Sinn
der Ökosteuer einfach vorgerechnet: Wer 1000 Kilometer
im Monat fährt und im Schnitt 8 Liter braucht, zahlt an der
Tankstelle 11,20 DM mehr. Das heißt, er braucht nur zwei
Kilometer weniger zu fahren und hat die Kosten der Öko-
steuer wieder heraus. Das ist das einfache Konzept der
Ökosteuer.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das will der Finanzminister ja nicht!)


Meine Damen und Herren, die Wahrheit ist, die Öko-
steuer schafft Arbeitsplätze, sie senkt die Rentenbeiträge
und damit die Lohnnebenkosten, und sie hilft langfristig
der Umwelt. Das macht uns in Deutschland zukunfts-
fähig. Das macht uns alle – das ist wichtig – zu Gewin-
nern, vor allem macht sie unsere Kinder und Kindeskin-
der zu Gewinnern.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412706500
Herr Kol-
lege Eich, kommen Sie bitte zum Schluss.


Ludwig Eich (SPD):
Rede ID: ID1412706600
Ich komme zum Schluss, Herr
Präsident! Rot-Grün macht diese Politik, weil wir nicht
vergessen haben, dass auch nach uns noch Menschen le-
ben wollen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412706700
Als
nächster Redner hat der Kollege Hans Michelbach von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1412706800
Sehr geehrter Herr
Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es
wird immer wahrer: Das rot-grüne Ökosteuermärchen hat
wirklich kein Happy End. Das unlogische Abkassiermo-
dell ist überall gescheitert. Die Verbraucher empfinden es
als preistreibend und unsozial, die Wirtschaft empfindet
es als wettbewerbsverzerrend, ungerecht und kostenbe-
lastend. Das rot-grüne Ökosteuermärchen ist damit ein
Preistreibermodell, eine finanzpolitische Missgeburt und
letzten Endes auch ein Arbeitsplatzvernichtungspro-
gramm. Dies haben wohl auch die SPD-Minister Eichel
und Klimmt nach zugegebenermaßen längerer Lernphase
bemerkt.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Besser als gar nicht!)


Herr Eichel sieht jetzt die Verbindung von Ökosteuer
und Rentenversicherung als Fehler an. Herr Klimmt
möchte ab 2003 mit der Ökosteuer Schluss machen. An-
schließend pfiff der Kanzler seinen Minister wieder
zurück. Er sagte: „Es bleibt bei dem, was wir vereinbart
haben.“ Die Antwort aus dem Finanzministerium: „Ein

gravierender strategischer Fehler des Kanzlers.“ Herr
Klimmt hat jetzt völliges Redeverbot.

Meine Damen und Herren, die rot-grüne Koalition will
also mit Durchhalteparolen am Ökosteuermärchen fest-
halten. Das zeigen das steuerpolitische Chaos und die lee-
ren Versprechungen der rot-grünen Bundesregierung. Wie
bei dem Rentenversprechen des Jahres 1998 ist Bundes-
kanzler Schröder auch bei der so genannten Ökosteuer
wortbrüchig geworden.
Ich zitiere wörtlich aus dem „Spiegel“ vom 26. Oktober
1998:

Ich bedauere auch, dass der eine oder andere zehn
Mark im Monat mehr fürs Autofahren, fürs Heizen,
fürs Gas zu zahlen hat. Aber mehr sind es dann auch
nicht im ungünstigsten Fall. Bei sechs Pfennig ist
Ende der Fahnenstange.

Schröder weiter:
Wir wollen auch aus Gründen der Wettbewerbs-
fähigkeit die Energiebesteuerung nicht im nationalen
Alleingang machen.

Meine Damen und Herren, die Widersprüchlichkeit
zwischen Worten und Taten zeigt doch deutlich auf, dass
ein Bundeskanzler zum Ökosteuer-Märchenerzähler
wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Dies geht nach der Devise: Das arme, Ökosteuer zahlende
Volk wird zum Narren gehalten. Oder nach der neuen De-
vise: Gas geben für die Rente. Hier gibt es keine Volks-
front, allenfalls eine gegen Narretei und politischen Un-
fug. Deswegen müssen wird deutlich machen, dass die
Ökosteuer gescheitert ist, dass sie unlogisch ist und letz-
ten Endes einen falschen Weg weist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, folgende Fakten sind fest-

zuhalten: Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Rea-
lität bei der Ökosteuer wird immer größer. Die ökologi-
sche Erneuerung und Entlastung der Arbeit haben Sie sich
großsprecherisch auf die Fahne geschrieben. Steigende
Energiekosten sollten zu mehr Umweltschutz und zur
Verbilligung der Arbeit führen. Realität aber ist, dass kei-
nes der Ziele erreicht wird: weder Umweltschutz noch
wesentliche Lohnnebenkostensenkungen oder gar posi-
tive Arbeitsplatzeffekte. Stattdessen wirkt sich die Öko-
steuer nachteilig für Wachstum und Beschäftigung aus.


(Monika Ganseforth [SPD]: Sie sehen die Realität überhaupt nicht mehr!)


Der Spielraum für Umweltinvestitionen der Wirtschaft
wird dadurch weiter eingeschränkt.

Faktum ist: Die so genannte Ökosteuer ist kein geeig-
netes Mittel, um die strukturellen Finanzierungsprobleme
der gesetzlichen Rentenversicherung dauerhaft zu lösen.
Trotz Einführung der so genannten Ökosteuer, die auch
diejenigen belastet, die nicht an der Beitragssenkung teil-
haben können, und zugleich die Wettbewerbsfähigkeit
des Standortes Deutschland beschädigt, belaufen sich die
Sozialversicherungsbeiträge im Jahr 2000 auf über




Ludwig Eich

12171


(C)



(D)



(A)



(B)


41 Prozent. Vom Ziel 38 Prozent sind Sie meilenweit ent-
fernt.


(Ludwig Eich [SPD]: Wer hat uns denn über 41 Prozent gebracht? Das war doch Ihre Politik!)


Dies wird umso dramatischer bei zunehmend stärker stei-
genden Ölpreisen und abgeschwächter Konjunktur.

Meine Damen und Herren, obwohl diese Rahmenbe-
dingungen gegen Steuererhöhungen sprechen, damit die
Binnenkonjunktur nicht abgewürgt wird, stehen aufgrund
der Beschlüsse der rot-grünen Koalition den Bürgern und
der Wirtschaft weitere Steuererhöhungen bevor.


(Ludwig Eich [SPD]: Wir senken die Steuern, Herr Kollege! Auch für den Mittelstand!)


Die Wachstumspotenziale werden durch den Kaufkraft-
schwund weiter bedroht. In acht Wochen sollen weitere
7 Pfennig Benzinverteuerung pro Liter hinzukommen.
Anderenfalls, so sagen Sie, findet eine Mehrwertsteuerer-
höhung statt, über die in Ihren Kreisen im Moment ja be-
sonders nachgedacht wird. Sagen Sie hier deutlich, ob Sie
die Ökosteuer weiter erhöhen oder ob Sie im Bereich der
Mehrwertsteuer eine neue Steuererhöhungsvariante ins
Auge fassen. Letzten Endes hat diese rot-grüne Koalition
immer an der Steuerschraube gedreht.


(Joachim Poß [SPD]: Sie müssen das gerade sagen!)


Unter dem Strich haben wir jetzt eine Steuerquote von
22,6 Prozent. Wir haben in diesem Land nicht weniger
Steuerbelastung, sondern mehr Steuerbelastung. Das ist
nicht zuletzt auf Ihre Ökosteuer zurückzuführen, die ge-
gen Wachstum und Beschäftigung gerichtet ist.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412706900
Als
nächster Redner hat der Kollege Albert Schmidt vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Ich muss ehrlich sagen: Mir fällt in dieser Debatte
nicht mehr viel ein. Sie ödet nur noch an.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Barbara Höll [PDS]: Genau!)


Es ödet an, welchen Klamauk Sie veranstalten und mit
welcher Verantwortungslosigkeit Sie über ein Thema wie
die Zukunft unserer Energieversorgung und die adäquaten
steuerpolitischen Instrumente reden, die diese Zukunft si-
chern sollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Wir reden über die Aussage von Herrn Klimmt! Bisher hat die SPD nichts dazu gesagt!)


Nun haben Sie endlich wieder einen Strohhalm gefun-
den, der Ihnen einen Vorwand zur x-ten Neuauflage die-
ser Debatte liefert.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Aber Herr Klimmt ist doch kein Strohhalm!)


– Doch, der Strohhalm heißt in diesem Fall Reinhard
Klimmt.


(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Das ist eine Beleidigung! So schlecht ist er auch nicht!)


– Ich habe nicht gesagt, er ist ein Strohmann, sondern ich
habe gesagt, er ist ein Strohhalm.

Herr Klimmt soll gesagt haben – Herr Koppelin hat es
eben am Ende seiner Rede behauptet –, man solle, so sinn-
gemäß, die Ökosteuer ab 2003 abschaffen. Lieber Herr
Koppelin, das hat er nicht gesagt.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Was hat er denn gesagt?)


Herr Kollege Klimmt hat gesagt, er sei der Meinung, dass
es ab 2003 keine weiteren Erhöhungsschritte geben solle.
Das ist eine andere inhaltliche Aussage und das möchte
ich richtig stellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Vertreten Sie Herrn Klimmt hier? Darf er nicht selber reden?)


– Ich vertrete die Bundesregierung nicht; die Bundesre-
gierung wird das Wort nachher selbst ergreifen.

Jetzt stellt sich die Frage: Ist es richtig oder falsch,
Ende des Jahres 2000 eine solche Aussage zu treffen? Ers-
tens ist es gefährlich, sich als Minister – er hat nämlich ge-
sagt, dann sei Sense mit weiteren Erhöhungen – zum Sen-
senmann zu machen; darüber kann man böse stolpern.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: „Sense“ hat er gesagt!)


– Sense, Sensenmann. Deswegen sage ich nicht „Stroh-
mann“, sondern „Sensenmann“. – Zweitens halte ich es
für falsch, sich die Frage zu stellen, wie die Ausgestaltung
des Instrumentes Ökosteuer nach 2003 aussehen soll. Das
ist deshalb unsinnig, weil niemand von uns, weder Sie
noch ich, heute wissen kann,


(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Wer da regiert!)


wie dann die Preise am Markt aussehen, wie die wirt-
schaftliche Lage aussieht oder wie sich die Energiewirt-
schaft exakt entwickelt. Darüber sollte sinnvollerweise
dann gesprochen werden,


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Wenn man weiß, wer regiert!)


wenn es aktuell ist.
Eines aber wissen wir sehr gut: Der Grundsatz, die

Energiekosten planvoll und berechenbar zu erhöhen und
die Arbeitskosten ebenso planvoll und berechenbar zu




Hans Michelbach
12172


(C)



(D)



(A)



(B)


senken, ist heute richtig und selbstverständlich auch nach
2003 noch richtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das Langzeitexperiment mit niedrigen Energiekosten und
hohen Sozialabgaben ist in den 16 Jahren Ihrer Regie-
rungszeit gelaufen. Die niedrigen Energiekosten haben zu
Energieverschwendung geführt, die hohen, zuletzt er-
drückend hohen, Sozialabgaben – sie wurden während der
Amtszeit von Kohl um 10 Prozentpunkte erhöht – haben
zu stagnierenden Nettolöhnen und mehr Arbeitslosigkeit
geführt. Dieses Experiment ist in diesem Land ausrei-
chend lange exerziert worden;


(Joachim Poß [SPD]: Genau!)

das Ergebnis kennen wir alle.

Jetzt machen wir es einmal andersrum. Jetzt sollen die
Energiekosten planvoll und berechenbar steigen und die
Arbeitskosten auf niedrigem Niveau stabilisiert werden.
Dafür werden wir sorgen. Das bedeutet auch, dass sich die
Perspektive, die Chancen für die effizienten und erneuer-
baren Energien zu verbessern und eine Markteinführung
dieser Techniken zu beschleunigen, die sich schon heute
abzeichnet, in den nächsten Jahren weiter verstärken wird
und dass zugleich die Arbeitslosigkeit sinken wird. Dieser
Grundsatz ist und bleibt richtig.

Wenn Sie hier eine instrumentenfixierte Debatte
führen, die allmählich an psychopathologische Zwangs-
fixierungen erinnert,


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD)


dann zeigt das nur, dass Sie bis zum heutigen Tag über-
haupt nicht begriffen haben, um was es geht. Sie dekla-
rieren das Ganze immer nur als ein Belastungsszenario.
Begreifen Sie um Himmels willen endlich: Die Schwan-
kungen der Ölpreise, zuletzt die Entwicklung der letzten
Tage in der Folge des Nahost-Konfliktes, sind eine unge-
heure Chance! Das ist die Jahrhundertchance, jetzt end-
lich mit einer Energiewirtschaft Ernst zu machen, die vom
Öl, von den fossilen Brennstoffen weg und hin zu der
ganzen Palette der erneuerbaren Energien führt.

Wir haben die ersten Schritte auf diesem Weg umge-
setzt. Sie haben regelmäßig dagegen gestimmt, ob es das
Programm für die erneuerbaren Energien, das 100 000-
Dächer-Programm, das Erneuerbare-Energien-Gesetz,
die ökologische Steuerreform oder die verkehrsmittelun-
abhängige Entfernungspauschale war. Begreifen Sie end-
lich: Das sind alles Instrumente! Das Ziel ist etwas ande-
res. Das Ziel ist, unsere Energiewirtschaft endlich
zukunftsfähig zu machen. Wenn Sie nur einen Bruchteil
dessen, was wir schon nach zwei Jahren auf den Weg ge-
bracht haben, in 16 Jahren wenigstens angefangen hätten,
würden wir heute über die Preiserhöhung um 4 Pfennig
von gestern nur müde lächeln, weil wir sie gar nicht
spüren würden, weil wir nämlich mit weniger Treibstoff
viel weiter fahren könnten.

Dass wir unser Ziel erreichen – dafür werden wir sor-
gen. Sie können weiter in Ihren Schützengräben bleiben.

Ich wünsche Ihnen dabei viel Vergnügen. Aber verscho-
nen Sie uns bitte künftig mit diesem öden Klamauk!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412707000
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Barbara Höll von
der PDS-Fraktion das Wort.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412707100
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Ich muss sagen: Der Politikstil,
Herr Koppelin, den die F.D.P. hier an den Tag legt, der
nervt einfach.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Ihr Kommentar ist nicht nötig!)


Seit drei Wochen in jeder Sitzungswoche eine Debatte zur
Ökosteuer –


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Bis sie abgeschafft ist!)


und wir haben sowohl von Ihnen als auch von den Christ-
demokraten nichts anderes gehört als: nein, nein, nein!


(Beifall bei der PDS – Zuruf von der SPD: Wenn sie nichts anderes auf der Pfanne haben, kein Wunder!)


Ich denke, Politik sollte doch einen gewissen Output
produzieren, politische Diskussion als Wettstreit von ver-
schiedenen Möglichkeiten zur Lösung anstehender ge-
sellschaftlicher Probleme, zur Lösung der Probleme von
Bürgerinnen und Bürgern.

Wir haben ein Grundproblem in dieser unserer heuti-
gen Zeit: dass die Ressourcen tatsächlich immer knapper
werden und die Bürgerinnen und Bürger dafür auch ein
Verständnis entwickelt haben. Die Frage ist aber: Wie
kann man dieses Problem lösen – sozial gerecht und
tatsächlich ökologisch wirksam?

Eine billige Stimmungsmache, die nur dazu dienen
soll, die Ökosteuer, den richtigen Gedanken des ökologi-
schen Umsteuerns zu diskreditieren, das ist wirklich ein-
fach billig und steht unserem Hohen Hause nicht an. Da-
mit verweigern Sie sich auch der Lösung von Problemen.
Sie bringen hier keinen einzigen konzeptionellen Ansatz.


(Beifall bei der PDS und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Letztlich ist das nur eine Frage der Fortsetzung von
16 Jahren Regierungspolitik: „weiter so“, „weiter so“,
„weiter so“. Was schert uns die internationale Verpflich-
tung, die die Bundesregierung eingegangen ist, den
CO2-Ausstoß zu verringern? Was schert es uns, dass dieIndustrie alles andere als gewillt ist umzusteuern? Ich
muss fragen, Herr Schmidt: Was schert es uns eigentlich
auch, dass sich das Leben immer so weiterentwickelt? Ich
will in fünf Jahren nicht unbedingt für weniger Geld wei-
ter fahren können. Ich will, dass Wohn- und Arbeitsort
wieder zusammengeführt werden,


(Beifall bei der PDS)





Albert Schmidt (Hitzhofen)


12173


(C)



(D)



(A)



(B)


und ich will im öffentlichen Nahverkehr Angebote haben,
die ich benutzen kann, damit ich nicht auf mein Auto an-
gewiesen bin, wenn ich zum Beispiel auf dem Dorf
wohne.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Sie kennen das Thema der Aktuellen Stunde?)


Das sind die Fragen, die anstehen.
Richtigerweise muss ich aber natürlich auch sagen: Die

Vorlage für Ihre Kampagne hat Ihnen leider die rot-grüne
Regierungskoalition geboten, indem sie eine schlechte
Ökosteuer vorgelegt hat, die wirklich weder ökologisch
wirksam ist noch sozial gerecht.


(Beifall bei der PDS – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wo ist denn Ihr Konzept?)


Wenn man ein ökologisches Umsteuern tatsächlich
will, kann man nicht einfach nur eine Verbrauchsteuerer-
höhung durchführen und dieser Erhöhung das Etikett auf-
kleben: „Das ist jetzt ökologisch“.

Wenn ich die Bevölkerung dafür gewinnen will, dass
sie mitgeht, dann ist zumindest Voraussetzung, dass das
Geld tatsächlich zum ökologischen Umbau eingesetzt
wird. Die Probleme stehen doch an: Wir diskutieren hier
über die Ökosteuer und gleichzeitig verkündet Herr
Mehdorn, dass er die Interregio-Strecken einfach
schließen will bzw. diese Strecken locker in die Ver-
antwortung der Länder übergibt. Sollen sie doch sehen,
wie sie damit zurechtkommen.


(Beifall bei der PDS)

Sie können keine Verteuerung des Umweltverbrauchs

angehen, ohne den Bürgerinnen und Bürgern gleichzeitig
machbare Alternativen anzubieten. So herum muss der
Weg gehen. Dann hat auch eine billige Kampagne von der
rechten Seite dieses Hauses keine Chance auf Verwirkli-
chung.


(Joachim Poß [SPD]: Aber Ihre Kampagne auch nicht!)


Ich muss auch sagen: Es ist notwendig, so etwas von
Anfang an sozial gerecht zu machen.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Aha!)

Die CDU hat in der vorigen Woche ganz klar gesagt,

dass sie gar gegen die Verkehrsmittelunabhängigkeit der
Entfernungspauschale ist. Es ist ja ein erster kleiner
Schritt, dass wir das nun hier im Haus beschließen wer-
den.


(Joachim Poß [SPD]: Die CDU ist doch auch dafür!)


Aber es geht nicht an, dass man bei einer Ökosteuer
insbesondere die Konzerne netto noch um 2,2 Mil-
liarden DM entlastet, die Großverbraucher von Energie.
Das kann ja wohl nicht angehen!


(Joachim Poß [SPD]: Klar, wir wollen Arbeitsplätze sichern!)


Denn dieses Geld wird ja letztlich von den Bürgerinnen
und Bürgern geholt – und auch von Arbeitslosen, von
Rentnerinnen und Rentnern, von Studentinnen und Stu-
denten, die nicht einmal die kleinste Gegenfinanzierung
durch die Senkung der Rentenbeiträge haben. Das ist
nicht schlüssig, das kann nicht funktionieren und dies er-
zeugt zu Recht großen Unwillen in der Bevölkerung.


(Beifall bei der PDS)

Wir haben als Demokratische Sozialistinnen und So-

zialisten von Anfang an dafür gestritten, dass es notwen-
dig ist, den Umweltverbrauch zu verteuern, dass hierfür
aber an der Ursache angeknüpft werden muss, das heißt
an der Energieerzeugung, und dass bei der weiteren Um-
setzung das Geld, das durch eine weitere Verteuerung ein-
genommen wird, zielgerichtet für einen strukturellen Um-
bau in der gesamten Gesellschaft verwendet wird –
sowohl was die Wirtschaft betrifft als auch was die Mög-
lichkeiten von Bürgerinnen und Bürgern betrifft, ihr per-
sönliches Verhalten grundlegend zu ändern.

In diesem Sinne wünsche ich mir, dass Ihre Kampagne
keinen Erfolg hat, sondern dass die gesellschaftliche Dis-
kussion, die tatsächlich losgegangen ist und bei der man
auch viele Beispiele dafür bringen kann


(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Was wollen Sie eigentlich? – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Sie müssen einmal sagen, was Sie selber wollen!)


– diese wurden hier auch schon aufgeführt –, dass es
tatsächlich ein Verständnis in der Bevölkerung für ihre
Notwendigkeit gibt, diese Gedanken aufgreift.

Ich wünsche mir, dass der Verkehrsminister das Rück-
grat besitzt und nicht bis zum Jahre 2003 wartet, sondern
schon vorher eine vernünftige Ökosteuer auf den Tisch
legt. Das heißt, wir sagen Nein zu dieser Ökosteuer und
fordern, sie sofort durch ein machbares, sozial gerechtes
und ökologisch wirksames Konzept zu ersetzen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS – Joachim Poß [SPD]: Die PDS sieht der F.D.P. inzwischen zum Verwechseln ähnlich!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412707200
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Monika Ganseforth von der SPD-
Fraktion.


Prof. Monika Ganseforth (SPD):
Rede ID: ID1412707300
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die von Ihnen beantragte De-
batte zeigt,


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Dass der Verkehrsminister nicht da ist!)


dass Sie davon ausgehen, dass im Jahr 2003 die Regie-
rung wieder von uns gestellt wird. Ich finde es gut, dass
wir uns über diesen Punkt einig sind und dass wir darüber
diskutieren, was dann passiert.


(Beifall bei der SPD)





Dr. Barbara Höll
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(C)



(D)



(A)



(B)


Ich kann Ihnen nur raten, sich geeignetere Themen zur
Profilierung zu suchen; denn dieses Thema ist inzwischen
langweilig geworden.


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Es ist sehr spannend! – Hans Michelbach [CDU/ CSU]: Fragen Sie die Leute, ob sie es langweilig finden, wie sie zahlen müssen!)


Auch die Bürgerinnen und Bürger wissen inzwischen,
dass dieselben Debatten Woche für Woche nichts Neues
bringen. Wenn Sie davon überzeugt sind, dass dies Sinn
macht, können wir noch mehrere dieser Debatten führen.
Aber ich sage Ihnen: Das ist das falsche Thema.

Nicht nur die CDU, sondern auch die F.D.P. hat früher
die Ökosteuer gefordert. Ich erinnere mich noch sehr gut
an die Diskussionen in der Enquete-Kommission mit
Ihrem Herrn Grüner, der hinsichtlich der Ökosteuer ein
Vorreiter war. Jetzt soll das auf einmal alles nicht mehr
richtig sein.

(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Aber doch nicht so ein Unsinn!)

Was ist das Prinzip der Ökosteuer? Die Energie soll

schrittweise in kalkulierbaren kleinen Schritten verteuert
werden und die Arbeit soll entsprechend billiger gemacht
werden, um das Energiesparen voranzubringen und die
Arbeitslosigkeit zu verringern. Es geht dabei nicht darum,
wie Sie sagen, dass der Finanzminister mehr einnimmt,
wenn viel Energie verbraucht wird.


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Nur darum geht es! – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Gas geben für die Rente!)


– Hören Sie einmal zu! Sie haben es nämlich noch nicht
begriffen. – Es geht vielmehr darum, technische Entwick-
lungen zum Beispiel hin zum Dreiliterauto und zum Ein-
literauto auf den Weg zu bringen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Mit der Verteuerung der Energie sollen Investitions-

entscheidungen und Produktionsprozesse beeinflusst
werden. Es geht darum, Kaufgewohnheiten und Kaufent-
scheidungen entsprechend zu beeinflussen. Beim Kauf
der nächsten Waschmaschine und des nächsten Kühl-
schranks soll der Energieverbrauch beachtet werden.
Häuser sollen besser gebaut werden und bei Sanierungen
sollen Energiesparmaßnahmen mit berücksichtigt wer-
den. Dieser Effekt wird sich erst mittel- und langfristig
einstellen. Das Ganze ist ein marktwirtschaftliches In-
strument, um Energieeffizienz voranzubringen.

Wir haben über dieses Thema schon oft diskutiert. Im
Bundestag werden seit zehn Jahren die verschiedensten
Modelle zur Ökosteuer von allen Seiten vorgestellt.

(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Gescheiter seid ihr nicht geworden!)

Ich erinnere mich an diverse Anhörungen, die wir in

der Vergangenheit durchgeführt haben. Es gibt keine ein-
heitliche Auffassung darüber – weder in der Wissenschaft

und bei den Sachverständigen noch in der Politik –, wel-
ches das ideale Instrument ist.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Manche Leute können nie dazulernen!)


Wenn Sie zum Beispiel nur beim CO2-Ausstoß anset-zen, dann haben Sie den Methan-Ausstoß nicht berück-
sichtigt: Durch die Braunkohleverbrennung entsteht kein
Methan, aber viel CO2; durch die Gasverbrennung ent-steht Methan, aber wenig CO2.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Reden Sie doch einmal von der Kohle! Wie viel Ökosteuer hat die Kohle?)


Wie wollen Sie die Atomenergie einbeziehen? Jedes Kon-
zept hat Vor- und Nachteile.

Die EU hatte vor zehn Jahren im Vorfeld des Rio-Pro-
zesses die CO2-/Energiesteuer diskutiert. Aber all dieseDiskussionen haben nicht dazu geführt, dass etwas getan
und vorangebracht worden ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Aber seit wir an der Regierung sind, wurde gehandelt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben den Reformstau aufgelöst, ein praktikables
Modell entworfen und die Ökosteuer eingeführt. Ich weiß
gar nicht, was Sie auf der linken Seite und Sie auf der
rechten Seite dieses Hauses eigentlich wollen. Wollen Sie
überhaupt keine Ökosteuer? Welches Modell wollen Sie
denn haben?


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Sagen Sie mal was zu Klimmt!)


Wenn es nach Ihnen ginge, würden wir noch immer über
das beste Modell diskutieren.

Nun komme ich zum Thema. Jede Reform, jedes Mo-
dell hat positive und negative Wirkungen.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ihres hat nur negative!)


Es ist richtig, dass man, wenn man ein neues Instrument
einführt, nach einer Weile prüfen muss, wie es weiterge-
hen soll – zum Beispiel ob man das Modell zuspitzen
muss.


(Zurufe von der CDU/CSU: Aha!)

– Das ist doch ganz selbstverständlich. – Dieser Aufgabe
werden wir uns zu gegebener Zeit stellen. Es ist aber viel
zu früh, heute zu sagen, was, wenn überhaupt, geändert
werden muss.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Reden Sie doch einmal mit Klimmt!)


Wie gesagt: In der nächsten Legislaturperiode, am Ende
des Prozesses, der ja Investitionsentscheidungen initiie-
ren soll, werden wir überlegen, wie dieses Instrument
weiterhin aussehen soll.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das ist ja eine Drohung!)





Monika Ganseforth

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(A)



(B)


Das Prinzip ist – das habe ich schon zu Beginn meiner
Rede gesagt –, die Arbeit billiger und den Energiever-
brauch teurer zu machen. Es war auch bisher nicht um-
stritten, die Umweltbelastungen zu internalisieren, sie im
Preis widerspiegeln zu lassen. Die Preise sollen also, wie
man es so schön ausdrückt, die Wahrheit sagen. Dieser
Prozess wird weitergehen und er muss weitergehen – ge-
nau darum geht es –, nach einer Zeit des Ausprobierens,
nach einer Zeit der Bewährung, aber nicht nach einer Zeit
der Diskussion, wie wir es mit Ihnen zehn Jahre lang er-
lebt haben. Wir sind diejenigen, die gehandelt haben. Die
Wirkungen erweisen sich als positiv.

Wir können diese Debatte jede Sitzungswoche wieder-
holen.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Bis ihr sie abschafft!)


Die Menschen wissen, dass die Maßnahmen, die wir er-
griffen haben, richtig sind.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das sehen Sie jeden Tag an der Tankstelle!)


Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412707400
Als
nächster Redner hat der Kollege Dirk Fischer von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Dirk Fischer (CDU):
Rede ID: ID1412707500
Herr Präsi-
dent! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Jetzt
reden wir einmal wieder über Klimmt.


(Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.])

Klimmt ist ein Minister, der viel verspricht und alles
bricht: Mitte September hat er der Bahn zusätzliche
25 Milliarden DM versprochen. Ende Oktober hat er das
Wort gebrochen.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: So ist es!)

Er hat dem deutschen Transportgewerbe versprochen, in
Brüssel dafür Sorge zu tragen, dass es keine weiteren Ge-
nehmigungen für Subventionen anderer Länder seitens
der EU gibt. Auch dieses Versprechen hat er nicht einge-
löst. Seine rot-grüne Koalition hat gerade gestern wieder
– wettbewerbsverzerrend wirkende – Subventionen für
Italien gebilligt und unseren Antrag, dies nicht zu tun, ab-
gelehnt.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: So ist es!)

Also, liebe Bürger, lasst euch nicht täuschen: Auch das
Versprechen, die Ökosteuer im Jahr 2003 zurückzuneh-
men, wird Klimmt brechen. Darauf kann man sich ziem-
lich sicher verlassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Und was ist mit den Bürgerinnen?)


Diese ökonomisch unsinnige K.-o.-Steuer ohne ökolo-
gische Lenkungswirkung – das ist ja unser Vorwurf –


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Jetzt wird es richtig niveauvoll!)


muss sofort abgeschafft werden; daran führt kein Weg
vorbei. Das einzig Positive, das ich der Klimmt-Äußerung
entnehmen kann, ist das Eingeständnis, dass auch er die
Ökosteuer für unsinnig hält. Das sollte man festhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Eine Kompensation erhalten nur diejenigen, die in ei-

nem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsver-
hältnis stehen. Rentner, Arbeitslose, Sozialhilfeemp-
fänger, Beamte, Selbstständige, nicht berufstätige Frauen,
Studenten, Schüler, ehrenamtlich Tätige – sie alle gehen
leer aus. Sie zahlen, zahlen, zahlen und erhalten keine
Kompensation.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Peter Dreßen [SPD]: Ach, Herr Fischer, das, was Sie erzählen, glauben Sie doch selber nicht!)


Doppelt schlimm ist die Einführung einer allgemeinen
Entfernungspauschale: Diese würde ganz überraschend
Fußgängern und Radfahrern, die keinen nennenswerten
Kostenaufwand haben, viel Geld einbringen, die eben
aufgezählten Bevölkerungsgruppen aber ein zweites Mal
diskriminieren, da sie wieder einmal keine Entlastung er-
führen. Dies ist meiner Meinung nach keine Ausgleichs-
maßnahme, sondern Pfuscherei am Flickwerk. Dies kön-
nen wir nicht akzeptieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Die Ökosteuer ist auch eine wirtschaftsfeindliche
Steuer; sie ist eine Vernichtungssteuer. Die Widersprüche
sind hier schon angeführt worden: Diejenigen Unterneh-
men, die für die Produktion die meiste Energie verbrau-
chen, bekommen eine Entlastung, andere aber, zum Bei-
spiel im Transportgewerbe, werden vernichtet. EU-Staaten,
die mit uns im Wettbewerb stehen, beweisen, dass sie et-
was für ihr nationales Transportgewerbe tun. Schauen Sie
nur einmal nach Frankreich, Italien, Belgien oder in die
Niederlande! In Deutschland aber gibt es keine Entlas-
tung. Klimmt produziert nur heiße Luft und treibt das
deutsche Transportgewerbe in den Ruin. Betriebe werden
zerstört oder zur Ausflaggung ins Ausland getrieben.
Hunderttausend Arbeitsplätze in deutschen Führerhäu-
sern, Bussen und Taxen werden vernichtet. Dies hat Rot-
Grün zu verantworten, sonst niemand.


(Peter Dreßen [SPD]: Wer hat denn das Sozialdumping zugelassen?)


Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Meine Fraktion
wird die Zerstörung des deutschen Transportgewerbes
nicht widerspruchslos hinnehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Wir diskutieren die Anliegen und Interessen unserer Bür-
ger, die Themen, die für sie wichtig sind. Wir diskutieren




Monika Ganseforth
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(C)



(D)



(A)



(B)


nicht, was Herr Schröder wünscht, das wir diskutieren,
oder was die SPD-Fraktion uns erlaubt zu diskutieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir sind autonom und werden keinerlei Tabuisierung,
egal in welche Richtung, akzeptieren.

Demgegenüber muss umweltfreundliches Verhalten so
anerkannt werden, dass es sich für die Menschen lohnt
und auszahlt. Verkehrsminister Wissmann hat es seiner-
zeit vorgemacht: höhere Kfz-Steuer für nicht abgasgerei-
nigte Fahrzeuge, entsprechende Begünstigung, Entlas-
tung für Autos mit Katalysatortechnik.


(Ludwig Eich [SPD]: Belastung 2,5 Milliarden DM!)


Das war ökologische Besteuerung, die vom Bürger einge-
sehen und mitvollzogen wurde.


(Monika Ganseforth [SPD]: Das hat man den Haushalten auch angesehen! Alles in die Verschuldung gegangen!)


Ganz anders heute. Beim Nahverkehr werden über
600 Millionen DM Ökosteuer draufgesattelt. Folge: stei-
gende Tarife und damit kein Anreiz, auf öffentliche Ver-
kehrsmittel umzusteigen.

Der Benzinverbrauch beim Auto wird deutlich sinken.
Klar, Gott sei Dank; wir freuen uns. Wir haben das poli-
tisch in diese Richtung bewegt. Nur, in den Brieftaschen
der Bürger bleibt alles beim Alten. Denn das Geld für den
Liter, das eingespart wird, Frau Ganseforth, wird morgen
durch Ihre Steuerpolitik wieder einkassiert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Deswegen haben die Leute nichts davon, deswegen gibt
es keine Akzeptanz.

Das heißt, eine Einsparung bei den Kraftfahrzeugkos-
ten ist gar nicht vorgesehen; denn die Steuermehreinnah-
men sind bei Ihnen schon längst fest verplant. Keine Mark
zusätzlich für die Verkehrsinfrastruktur, obwohl der Au-
tofahrer immer häufiger im Stau steht! Keine Förderung
alternativer Energien! Der Wortbestandteil „Öko“ ist
Deckmantel für bewusstes Abkassieren. Die wirklich be-
dauerliche, fatale Konsequenz ist, dass notwendige, sinn-
volle Umweltpolitik beim Bürger immer mehr in Miss-
kredit gerät. Das ist das Traurige, das wir nicht haben
wollen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bun-
desregierung ist mit dem Missbrauch des Begriffes
„Ökosteuer“ für ein reines Abkassiermodell gescheitert.
Sie ist bei der Bevölkerung durchgefallen. Hätte diese Re-
gierung Charakter, würde sie dieses Gesetz umgehend
außer Kraft setzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Lachen bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412707600
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Reinhard Loske vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412707700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Fischer, das, was Sie hier machen, ist nicht nur billigster
Klamauk. Ihnen sind wirklich alle Maßstäbe abhanden
gekommen. Das stelle ich fest, wenn ich Ihre Sprache
höre: Vernichtung, Zerstörung, die Menschen leiden. Was
ist das eigentlich für eine Sprache? Nehmen Sie die Rea-
lität überhaupt noch zur Kenntnis?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)


Manchmal glaubt man, man müsste immer wieder bei
Adam und Eva anfangen.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Die brauchten keine Ökosteuer zu bezahlen!)


Man muss den Kolleginnen und Kollegen der Union und
der F.D.P. den Gedanken der ökologischen Steuerreform
noch einmal darlegen.


(Joachim Poß [SPD]: Der PDS auch!)

Es geht darum, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schla-
gen, nämlich dadurch, dass man Energie schrittweise und
maßvoll verteuert, Anreize zur Energieeinsparung gibt,
und das Aufkommen aus dieser Steuer verwendet, um
Lohnnebenkosten zu senken und damit Arbeitsplätze zu
schaffen. Begreifen Sie das doch endlich einmal!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist doch gescheitert! – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das ist doch gescheitert!)


Es war so, dass auch Ihre Leute das immer wussten, die
Ökologen wie die Ökonomen. Ich will aus der CDU nur
Töpfer, Repnik und den ehemaligen Fraktionsvorsitzen-
den Schäuble nennen. Zur F.D.P., die diese Aktuelle
Stunde beantragt hat: Es ist wirklich beschämend. Sie ha-
ben Leute wie Maihofer und Baum gehabt. Das sind
Leute, die in Deutschland Umweltpolitik gemacht haben.
Heute gibt es nur noch „Spaß mit Container-Guido“. Das
ist Ihr Niveau.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Ihr wollt abkassieren!)


Das ist unter aller Sau. Das muss ich wirklich einmal sa-
gen, auch wenn es kein parlamentarischer Begriff ist, Ent-
schuldigung.

Zu den Fakten. Der Energieverbrauch in Deutschland
ist in der ersten Jahreshälfte 2000 um 4,2 Prozent zurück-
gegangen.


(Monika Ganseforth [SPD]: Davon hätten Sie geträumt!)


Das hat mit den Energiepreisen zu tun; das ist vollkom-
men klar. Im Gegenzug sind die Lohnnebenkosten im
Rentenversicherungsbereich von 20,3 Prozent, als wir an
die Regierung kamen, auf 19,3 Prozent gesunken.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie sind immer noch bei 41! – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das stimmt doch gar nicht!)





Dirk Fischer (Hamburg)


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(C)



(D)



(A)



(B)


Das alles sind Realitäten, die Sie nicht einfach ignorieren
können. Nehmen Sie bitte zumindest die Wahrheit zur
Kenntnis.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das ist nicht die Wahrheit!)


Das ist das Mindeste, was ich erwarte.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Kommen Sie noch auf Herrn Klimmt?)


Weitere Fakten, die man als aufmerksamer Zeitungsle-
ser – das reicht ja schon aus – zur Kenntnis nehmen kann.

In der Kreisstadt Uelzen, woher bekanntermaßen der
Fraktionsvorsitzende der SPD kommt, hat die Kreishand-
werkerschaft auf dem Höhepunkt der Energiekontroverse
ganzseitige Anzeigen geschaltet. Sie haben obendrüber
geschrieben: Sie müssen nicht demonstrieren, kommen
Sie zu uns, wir halbieren Ihre Energierechnung sofort. –
Ja, die Heizungsanlagenbauer und andere mehr haben es
verstanden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Anderes Beispiel: In der Autoindustrie ist jetzt ein in-
teressanter Streit darüber ausgebrochen, ob das Einliter-
auto, wie VW findet, oder das Wasserstoffauto, wie BMW
und Daimler finden, das bessere Modell ist. Da kann ich
doch nur sagen: ein wunderbarer Streit. Das ist genau der
Streit, den wir wollen. Da lehnen wir uns bequem zurück
und schauen zu.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Monika Ganseforth [SPD]: Den hätten wir vor zehn Jahren gebraucht! – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Kommen Sie noch auf Herrn Klimmt?)


Jetzt komme ich zunächst einmal auf den Kollegen
Töpfer zu sprechen. Das kann ich Ihnen einfach nicht er-
sparen. Distanzieren Sie sich von seinen Ideen oder ste-
hen Sie dazu? Die Aussage von Herrn Töpfer ist ganz ein-
deutig:

Die Grundüberlegung einer Ökosteuer kann man
nicht ablehnen. Für meine Begriffe ist diese Steuer
keine K.-o.-Steuer.

Ihre primitive Polemik kann man ja wirklich kaum noch
ertragen.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Sagen Sie etwas zu Klimmt!)


Ein weiterer Punkt. Die Wirtschaftsforschungsinstitute
haben ihr Gutachten vorgelegt. Ich zitiere daraus wört-
lich:

Die Regierung sollte an dem Ökosteuergesetz fest-
halten.

Eine Senkung der Mineralölsteuer
würde lediglich bedeuten, dass der Staat die Belas-
tung von Ölverbrauchern auf die Allgemeinheit ver-
schiebt.

Die Entlastung käme also nicht beim Verbraucher an, son-
dern nutzte nur den Ölstaaten bzw. den Mineralölkonzer-
nen.


(Monika Ganseforth [SPD], an die CDU/CSU gewandt: Aber das wollen Sie vielleicht!)


Das sind die Fakten, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Nächstes Beispiel: Der vor wenigen Tagen zu Ende ge-

gangene Deutsche Juristentag hat folgenden Beschluss
gefasst:

Der Deutsche Juristentag begrüßt den Einbau
ökologischer Elemente in das Abgabensystem. Er
sieht in der Ökosteuer einen geeigneten Weg, um
Umweltziele zu verfolgen.

Die Versicherungswirtschaft hat vor wenigen Tagen
mitgeteilt, dass die Schäden infolge von Umweltkatastro-
phen, die im letzten Jahr ein Rekordhoch erreicht haben,
kaum noch versicherbar sind. Deswegen sind sie der Mei-
nung – ich zitiere wörtlich –:

Wir brauchen die Ökosteuer. Doch man muss den
Leuten klarmachen, worum es eigentlich geht.

Nämlich darum,
Klimaschutz zu betreiben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Da können wir noch besser werden. Das ist überhaupt
keine Frage. Das haben wir in der Vergangenheit offenbar
nicht gut genug erklärt.

Letztes Beispiel: Es gibt seit wenigen Wochen auch
eine Künstlerinitiative um Günter Grass und andere, die
diese absolut rabiate Verweigerung von Zukunftsverant-
wortung, die Sie hier exerzieren, nicht mehr ertragen
konnte. Das ist nicht mehr zu akzeptieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie können dieses Thema meinetwegen jede Woche

einbringen, Sie bekommen jede Woche die richtige Ant-
wort.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412707800
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Gisela Frick von der F.D.P.-Frak-
tion.


Prof. Gisela Frick (FDP):
Rede ID: ID1412707900
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Zu dem, was ich von den Rednern der Koali-
tion hören musste, kann ich nur sagen: Thema total ver-
fehlt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)





Dr. Reinhard Loske
12178


(C)



(D)



(A)



(B)


Es geht aus Ihrer Sicht nicht um die Rechtfertigung dieser
total missglückten Ökosteuer – der so genannten, wie ich
immer sage, denn es ist ja keine Ökosteuer –,


(Ludwig Eich [SPD]: Die Zustimmung wächst! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Die so genannte F.D.P.! Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen!)


sondern es geht ausdrücklich – so lautet die Überschrift
des Tagesordnungspunktes – um die „Haltung der Bun-
desregierung zur Forderung von Bundesverkehrsminister
Klimmt, die Ökosteuer im Jahre 2003“ abzuschaffen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Das ist das Thema.


(Monika Ganseforth [SPD]: Haben Sie nicht zugehört? Das hat er gar nicht gesagt! – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Nicht einmal lesen können sie!)


– Doch, das hat er gesagt. Er hat zwar nicht „abschaffen“
gesagt, sondern er hat gesagt: Dann muss damit Sense
sein. – Da sich dieser Ausdruck sprachlich für die Formu-
lierung eines Tagesordnungspunktes nicht so eignet, ha-
ben wir – –


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Frau Professor, selber lesen müsste man können! – Weitere Zurufe von der SPD)


– „Sense sein“ heißt nichts anderes als abschaffen.

(Monika Ganseforth [SPD]: Nein, heißt es nicht! Thema verfehlt!)

– Doch!

Auf Ihren Vorwurf, dass es langweilig ist, wenn wir
jede Woche mit diesem Thema kommen, kann ich Ihnen
nur antworten: So, wie Sie hier die Debatte führen, wird
sie natürlich langweilig.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist aber nicht das Thema. Ich glaube auch nicht, dass
der Endverbraucher, der seine Heizkostenrechnung oder
seine Tankrechnung sieht, es langweilig findet, dass wir
dieses hier sehr regelmäßig und immer wieder zum
Thema machen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Heizölrechnung hat doch mit der Ökosteuer nichts zu tun! – Zuruf von der SPD: 4 DM bei 60 DM!)


Wenn Herr Klimmt – wir haben zwar heute von Herrn
Schmidt gehört, das sei ein Strohhalm, aber er ist immer-
hin Mitglied dieser Bundesregierung – sagt: „Wir wollen,
dass ab 2003 mit der Ökosteuer Sense ist, dann geht er von
der falschen Vorstellung aus, dass dann noch die rot-grüne
Regierung im Amt ist.


(Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.])

Ich muss Ihnen da widersprechen, Frau Ganseforth. Da-
mit rechnen wir nicht. Aber immerhin ist das Eingeständ-
nis richtig, dass dieses Konzept der Ökosteuer total ver-

fehlt und danebengegangen ist und damit überhaupt kein
Blumentopf zu gewinnen ist, insbesondere nicht die so ge-
nannte doppelte Dividende, von der die Grünen immer
wieder sprechen.

Sie haben heute nur sehr vorsichtig – Herr Eich, Sie
waren der Einzige – auf das Gutachten der Wirtschafts-
forschungsinstitute hingewiesen. Hierin ist ein Totalver-
riss der Ökosteuer enthalten,


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

gerade auch unter dem Gesichtspunkt doppelte Divi-
dende.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie haben nichts mitbekommen! – Monika Ganseforth [SPD]: Sie nehmen aber sehr selektiv wahr!)


Dort steht, gerade die Verzahnung von Umweltschutz und
Rentenfinanzierung sei ungeheuer problematisch – in der
Sprache sind die Wirtschaftsweisen ja vorsichtig. Mit al-
len Argumenten – sie liegen schon lange auf dem Tisch –
wird also ganz deutlich gesagt, dass das alles nichts
bringt.

Ein weiteres Thema könnte sein – im Moment debat-
tieren wir auch darüber –, dass gerade die Trostpflaster,
die jetzt in Form der Anhebung einer Entfernungspau-
schale und eines einmaligen Heizölkostenzuschusses ver-
teilt werden, die sowieso schon geringen Lenkungswir-
kungen der Ökosteuer noch weiter verwässern.


(Ludwig Eich [SPD]: Sie würden 35 Pfennig auf die Kfz-Steuer draufschlagen! Die KfzSteuer! 35 Pfennig! Ihr Vorschlag!)


Das heißt, Sie stehen überhaupt nicht mehr zu Ihrem Kon-
zept. Ich glaube, dass wir von der Regierung, vertreten
durch die Staatssekretärin Hendricks, nachher nichts an-
deres als die Aussage hören werden, dass Sie bei dieser
Steuer bleiben, egal, wie viele in Ihren Reihen einsehen,
dass das falsch ist. Der Kollege Koppelin hat schon darauf
hingewiesen, dass der Bundesverkehrsminister – das hat
er selber gesagt – mit seiner Auffassung nur einer von vie-
len ist. Ihnen allen spricht er aus dem Herzen. Das gilt
auch für den Autokanzler Schröder. Das sollte man dabei
nicht vergessen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ludwig Eich [SPD]: Woher kennen Sie das Herz des Kanzlers?)


– Das kennen viele, Herr Eich. Es gibt genug Äußerungen,
aus denen man auf den Herzenszustand schließen kann.
Das ist gar kein Problem.

Mit anderen Worten: Wenn die Regierung wider besse-
res Wissen an dieser Ökosteuer festhält, dann sind wir un-
serem Ziel, Sie im Jahre 2002 abzulösen, ein ganzes Stück
näher. Insofern kann ich gar nicht sagen, dass es in den
Ohren der Opposition wie Kakophonie klingt, was aus der
Regierung kommt – der eine so, der andere anders; Herr
Eichel ist heute schon zitiert worden –, während die Ge-
nerallinie noch immer in einer Wagenburgmentalität be-
steht. Wenn Sie sich so uneinig sind und überhaupt nicht




Gisela Frick

12179


(C)



(D)



(A)



(B)


wissen, was Sache ist, dann ist das für uns eigentlich Mu-
sik in den Ohren, und es zeigt nur, dass Ihre Konzepte, an
denen Sie wider besseres Wissen festhalten, total verfehlt
sind.

Wir fordern Sie noch einmal auf: Folgen Sie Ihrem
Herzen und erst recht Ihrem Verstand! Geben Sie zu, dass
die Ökosteuer ein Schuss in den Ofen war, und zwar in
den Kohleofen, dessen Betrieb nicht besteuert wird. Ma-
chen Sie Schluss mit dieser Politik!


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster [SPD]: Schön, dass Sie Schluss gemacht haben!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412708000
Für die
Bundesregierung spricht jetzt die Parlamentarische
Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks.

D
Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1412708100
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Herr Koppelin, Frau Kollegin Frick, Sie
mussten so lange warten, bis mir das Wort erteilt wurde,
damit ich die Haltung der Bundesregierung zu den Äuße-
rungen von Herrn Klimmt darstellen kann.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Wo ist Klimmt? Wo ist er?)


Ich möchte Sie auf Folgendes aufmerksam machen:
Um die Haltung der Bundesregierung zu erfahren, ist eine
Aktuelle Stunde ihrer Definition nach eigentlich ungeeig-
net. Natürlich könnten wir eine Aktuelle Stunde mit zwölf
Parlamentarischen Staatssekretären bestreiten; aber dann
könnten Sie alle nicht mehr reden. Wenn Sie also die Hal-
tung der Bundesregierung erfahren möchten, dann müs-
sen Sie warten, bis einem Vertreter der Bundesregierung
das Wort erteilt wird.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Wenn ein Minister Gegenstand der Debatte ist, dann hat er hier zu erscheinen! Das ist unser Parlamentsverständnis!)


Andernfalls müssen Sie Ihre Frage in der Regierungsbe-
fragung am Mittwoch stellen. Dann bekommen Sie eine
Antwort von der Bundesregierung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie können nicht erwarten, dass jeder Redner der Koali-
tion die Haltung der Bundesregierung vertritt. Das muss
dann schon die Bundesregierung machen.


(Zuruf des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.] – Jetzt spreche ich also und ich hoffe, das trägt zu Ihrer Beruhigung bei, Herr Koppelin. (Joachim Poß [SPD]: Der Container-F.D.P. geht es doch nur um Klamauk! – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist eine Missachtung des Parlaments!)


Ich will ganz kurz auf Herrn Fischer eingehen. Herr
Kollege Fischer, ich will nicht ausführlich auf Ihre wirk-

lich ausufernde Polemik antworten. Sie haben gesagt, der
Bundesverkehrsminister habe schon jetzt sein Wort ge-
brochen, welches er im September gegeben habe.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wo ist er denn? Wo ist er?)


Der Bundesverkehrsminister hat zu den notwendigen In-
vestitionen der Bahn gesagt, dass die Bahn in den nächs-
ten 10 bis 15 Jahren ein zusätzliches Investitionsvolumen
von 25 Milliarden DM brauchen wird.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Jährlich 2 bis 2,5 und nach drei Jahren ist Schluss!)


– Nun hören Sie doch einmal zu! –

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Der fischt wieder im Trüben!)

Herr Kollege Fischer, wir haben ein Zukunftsinvesti-

tionsprogramm aufgelegt, das für die nächsten drei Jahre
pro Jahr zusätzlich 2 Milliarden DM für Investitionen in
die Schiene vorsieht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Pro Jahr und dann ist Schluss! – Gegenruf des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]: Erzählen Sie doch nicht so viel Mist!)


– Herr Kollege Fischer, es besteht doch die Möglichkeit,
jedes Jahr die mittelfristige Finanzplanung zu erneuern.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Sie haben Schluss gemacht! So sieht das aus!)


– Herr Kollege Fischer, wir werden auch in Zukunft jedes
Jahr mit haushaltswirtschaftlicher Verantwortung die mit-
telfristige Finanzplanung im Lichte der Einnahmen des
Staates überprüfen können.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Sie haben das nicht entschieden!)


– Jedes Jahr, Herr Kollege Fischer, wird über die mittel-
fristige Finanzplanung neu entschieden.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Ja, aber für einen Zeitraum von mehr als drei Jahren!)


– Herr Kollege Fischer, in den nächsten drei Jahren gibt
es zusätzlich jeweils 2 Milliarden DM für Schieneninves-
titionen. Wir lösen den Stau auf, den Sie zu verantworten
haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Dann ist Schluss!)


Diese 25 Milliarden DM, die zusätzlich nötig sind, haben
doch Sie, der hervorragende Herr Ludewig und all die an-
deren Herren – wie auch immer sie heißen – zu verant-
worten, die keine Ahnung hatten, wie man ein Unterneh-
men führt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Dann ist Schluss!)





Gisela Frick
12180


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412708200
Herr Kol-
lege Fischer, die Frau Staatssekretärin hat das Wort und
nicht Sie. Es wäre gut, wenn Sie ihr zuhören würden.

D
Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1412708300
Jetzt komme ich auf das ei-
gentliche Thema zurück. In ihrem Herbstgutachten haben
die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute positiv her-
vorgehoben, dass die Bundesregierung trotz des großen
politischen Drucks, der ja auch von den unvernünftigen
Reihen dort rechts kommt, an der Ökosteuer festgehalten
hat.

Es wird zum Beispiel kritisch angemerkt, dass wir
Ausnahmetatbestände zurückführen sollen. Dies würde,
wenn man einmal ein bisschen logisch denkt, dazu
führen, dass die Einnahmen aus der Ökosteuer höher und
nicht niedriger sein würden. In dieser Hinsicht könnten
Sie uns ja einmal Vorschläge machen. Aber Ausnahme-
tatbestände zugunsten des produzierenden Gewerbes
führen dazu, dass wir einen Einnahmeverzicht üben, also
über weniger Einnahmen aus der Ökosteuer verfügen, als
es anderenfalls möglich wäre. Das bestätigen die Sach-
verständigen.

Jetzt fragt die F.D.P., wie es mit der Ökosteuer weiter-
gehen soll.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Wie es mit Klimmt weitergeht!)


Dazu kann ich ganz klar sagen: Der Zeitplan steht. Bis
zum Jahre 2003 ist gesetzlich verankert, dass der Ener-
gieverbrauch von Jahr zu Jahr maßvoll verteuert wird. Wir
werden die daraus entstehenden Einnahmen auch in Zu-
kunft dazu verwenden, die Rentenversicherungsbeiträge
zu stabilisieren.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Ist dann Sense oder nicht?)


Die Ökosteuer wird auch nach 2003 nicht zurückge-
nommen. Der Staat wird den Energieverbrauch in
Deutschland nicht durch eine sinkende Mineralölsteuer
beschleunigen.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist das Gegenteil von Sense!)


Unser Ziel bleibt klar: Wir müssen die Abhängigkeit der
deutschen Wirtschaft vom Erdöl reduzieren. Neuerdings
ist ja auch klar geworden, dass das Wirtschaftswachstum
nicht mit einem höheren Energieverbrauch einhergehen
muss. Diese Entkoppelung wollen wir verstärken.


(Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir werden diesen erkennbaren Trend durch die Be-
reitstellung von mehr Mitteln zur Erforschung regenerati-
ver Energien und mit Förderprogrammen zur Energie-
einsparung unterstützen. So haben wir erst jüngst in
unserem Zukunftsinvestitionsprogramm beschlossen, ein
Altbausanierungsprogramm zu finanzieren und umfang-
reiche Mittel für die Energieforschung zur Verfügung zu
stellen, in allen Bereichen weniger Energie zu verbrau-

chen und dabei weg vom Öl zu kommen. Das ist die Zu-
kunft; die haben Sie verschlafen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Was nach Ablauf der jetzigen Planung geschieht, steht
noch nicht fest. Ob es zu weiteren Schritten im Rahmen
der Ökosteuerreform kommt und wie mögliche zusätzli-
che Einnahmen eingesetzt werden, lässt sich heute noch
nicht entscheiden. Das ist aber auch wirklich nicht nötig.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Erst die Wahlen und dann zahlen!)


Erst muss die konkrete Situation abgewartet werden. Wir
müssen die Entwicklung im Umweltbereich abschätzen,
aber natürlich auch die Wirtschaftslage genau analysie-
ren. Es gibt Aspekte, die gegen weitere Schritte im Rah-
men der Ökosteuerreform sprechen; Bundesverkehrsmi-
nister Klimmt hat darauf hingewiesen.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist Verdunkelung statt Klarheit!)


Es gibt andere Aspekte, die dafür sprechen. Welche Argu-
mente schwerer wiegen, lässt sich aus der heutigen zeitli-
chen Distanz nicht entscheiden. Wir werden das entschei-
den, wenn die Lage klar und die Entscheidung notwendig
ist.


(Monika Ganseforth [SPD]: Ohne Druck! – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist Wackelpudding!)


Es gibt keinen Grund, jetzt zu entscheiden. Ich weiß, das
macht der Opposition die Arbeit nicht leichter. Aber dies
ist ja auch nicht unsere Aufgabe.


(Beifall bei der SPD)

Der Einstieg in die Ökosteuerreform war richtig. Ganz

bewusst haben wir ein schrittweises Vorgehen gewählt.
Der Vorteil für die Bürger liegt in den maßvollen Er-
höhungsschritten.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Bis sie merken, dass Sie abkassieren!)


Man hat den Vorteil, die Folgen der einzelnen Schritte
besser abschätzen zu können als bei einer schockartigen
Steuererhöhung, wie Sie sie in Ihrer Regierungszeit zu
verantworten hatten.


(Beifall bei der SPD – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Der Schock reicht den Leuten! – Ludwig Eich [SPD]: Richtig, um 50 Pfennig haben Sie erhöht!)


Es bleibt dabei: Die Ökosteuer ist ein wichtiger Beitrag
für eine Ökologisierung unserer Volkswirtschaft sowie für
beschäftigungsintensives Wachstum. Diese Einsicht ist
nicht neu. Ich werde sie Ihnen von der Opposition aber
immer wieder aktuell mitteilen, wenn Sie – möglicher-
weise jede Sitzungswoche – mit solchen Anträgen kom-
men.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412708400
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Otto Bernhardt
von der CDU/CSU-Fraktion.


Otto Bernhardt (CDU):
Rede ID: ID1412708500
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Im Mittelpunkt dieser Sitzung steht
die Aussage des Bundesverkehrsministers.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sollte sie stehen!)


Ich finde es traurig, dass der direkt Angesprochene nicht
anwesend ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Feigheit vor dem Feind!)


Ich habe soeben gehört, dass Herr Klimmt zum jetzigen
Zeitpunkt, zu dem wir über seine Aussagen diskutieren,
eine Pressekonferenz gibt. Ich glaube, das ist ein falsches
Parlamentsverständnis.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist eine Unverschämtheit, eine Missachtung des Parlaments!)


Natürlich eignet sich eine Aktuelle Stunde nicht, um
grundsätzliche Aussagen zur Ökosteuer zu machen. Nur,
damit kein falscher Eindruck entsteht: Der Grundgedanke
der Ökosteuer, Verteuerung der Energie und Entlastung
des Produktionsfaktors Arbeit, ist ein Gedanke, über den
man mit uns diskutieren kann


(Monika Ganseforth [SPD]: 16 Jahre haben wir darüber diskutiert! )


und den wir für gar nicht schlecht halten. Aber wir und
auch alle, die Sie zitiert haben, haben immer gesagt: So et-
was kann man aus Wettbewerbsgründen nur auf der euro-
päischen Ebene lösen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Auch wenn es verschiedene Redner schon gesagt ha-

ben, will ich es noch einmal betonen: Ihre Ökosteuer ver-
dient den Namen nicht. Eine richtige Ökosteuer müsste
doch bei den Schadstoffemissionen ansetzen. Eine rich-
tige Ökosteuer müsste doch dazu führen, dass die Ein-
nahmen aus dieser Steuer immer weniger werden, weil
man damit eine marktwirtschaftlich vernünftige Len-
kungsfunktion verbindet. Das ist bei Ihnen nicht vorgese-
hen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Monika Ganseforth [SPD]: Doch! – Ludwig Eich [SPD]: Das ist doch gewünscht!)


Wie kann man eine Steuer Ökosteuer nennen, die das
saubere Erdgas belastet und die Umwelt verschmutzende
Kohle ausnimmt? Das ist keine Ökosteuer.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zurufe von der SPD)


Natürlich wissen wir, dass die Energiepreiserhöhungen
nicht nur auf die Steuererhöhungen zurückzuführen sind.
Natürlich kennen wir die Entwicklung der Rohölpreise.


(Ludwig Eich [SPD]: Natürlich ist die Erhöhung der Mineralölpreise der wesentliche Grund!)


Aber auf die Rohölpreise haben wir keinen Einfluss.
Natürlich kennen wir auch die Folgen der Euro-
Schwäche.


(Ludwig Eich [SPD]: Sehen Sie!)

Da hätte die Bundesregierung ein wenig mehr Einfluss,
aber die Chance nutzt sie nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wir diskutieren jetzt über den dritten Verteuerungsfak-
tor: die Steuern. Das ist der Faktor, den wir im deutschen
Parlament ganz alleine bestimmen können. Ich nenne ein-
mal die Größenordnung, weil ich den Eindruck habe, hier
werden die Relationen verwechselt. Von 2 DM, die wir an
der Tankstelle bezahlen müssen – inzwischen sind es ein
paar Pfennige mehr –, bekommt der Staat zwei Drittel,
also 1,30 DM.


(Zuruf von der SPD: Wie viel geht auf Ihre Entscheidung, auf Ihre Regierung zurück?)


– Auch wir haben die Steuer erhöht. Das ist klar.

(Monika Ganseforth [SPD]: Sie kommt von Ihnen!)

Nur das letzte Drittel bekommen die von Ihnen so hart ge-
scholtenen Ölscheichs und -konzerne. Wenn es keine
Steuer gäbe, dann würde der Liter Benzin in Deutschland
70 Pfennige kosten.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Nun seien Sie doch nicht so pharisäerhaft!)


Sie können nicht behaupten, dass die anderen die Preis-
treiber sind. Nein, die öffentliche Hand ist der Preistrei-
ber: 1,30 DM von 2 DM sind Steuern.


(Beifall bei der CDU/CSU – Monika Ganseforth [SPD]: Ihre Regierung war das! – Dr. Uwe Küster [SPD]: 50 Pfennige in einem Jahr!)


Die Folgen steigender Energiepreise können wir jeden
Tag beobachten. Zehntausende mittelständische Existen-
zen sind in Gefahr. Ich glaube, die „Berliner Zeitung“ hat
Recht, wenn sie schreibt: Die Regierung wird jetzt ner-
vös. – Warum Sie nervös werden, ist klar. Schauen Sie
einmal in die „FAZ“ vom 18. Oktober 2000. Darin stehen
die neuesten Meinungsumfragen. Wenn wir über die Öko-
steuer eine Volksabstimmung durchführen würden, wür-
den fast 90 Prozent dagegen und nur gut 10 Prozent dafür
stimmen. Interessant ist: Zwei Drittel der Bevölkerung
machen die Bundesregierung für die steigenden Energie-
preise verantwortlich. Daher rührt Ihre Nervosität.

Deshalb kann ich abschließend nur sagen: Warten Sie
nicht bis zum Jahr 2003, auch wenn es richtig ist, wie die
Kollegin Professor Frick sagt, dass wir dann größere
Wahlchancen hätten. Es gibt zu dieser so genannten Öko-
steuer nur eine Alternative. Das ist der Gesetzentwurf der
CDU/CSU, in dem gefordert wird, diese Steuer ab dem






(C)



(D)



(A)



(B)


1. Januar des kommenden Jahres abzuschaffen. Stimmen
Sie unserem Antrag zu!

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412708600
Als
nächster Redner hat der Kollege Lothar Binding von der
SPD-Fraktion das Wort.


Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1412708700
Sehr geehrter
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mehr
Arbeit, stabile Renten, besserer Umweltschutz: Die Öko-
steuer löst gleich drei Aufgaben auf einmal. Das ist okay.
Ich glaube, dass Sie die Genialität dieses Konzepts so un-
heimlich ärgert, dass Sie keine Woche darauf verzichten
können, über dieses Thema zu reden.


(Beifall bei der SPD)

Eben haben wir etwas über Größenordnungen gehört.


(Zuruf von der F.D.P.: Ist das Feuerholz oder was!)


– Der naive Zugang ist nicht immer der richtige.
Zur Demonstration habe ich nämlich einige Holzklötze

mitgebracht. Ich will einmal auf die Größenordnungen
eingehen. Dieser kleine Holzklotz stellt den Benzinpreis
dar. Der Preis beträgt etwas über 2,05 DM. Hinzu kommt
der Rohölpreis. Er war vor kurzem – also noch zur Zeit
der Regierung Kohl – so hoch wie der andere Holzklotz.
Der Preis ist jetzt um zwei Drittel gestiegen.

Dann haben wir die Marge der Tankstellen: ungefähr 8
Pfennig von 2 DM; das ist auch nicht sehr viel, aber viel-
leicht bringt es die Menge, um die Erträge der Tankstellen
zu sichern.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Was sagt uns das?)


Dann haben wir die Erdölbevorratungsverbandsabgabe;
sie ist relativ niedrig. Dann haben wir eine Mineralöl-
steuer, die sich in zwei Teile aufteilt. Der eine Teil belief
sich von Adenauer bis Schmidt auf ungefähr 48 Pfennig.
Dann gibt es eine Mineralölsteuer von Kohl bis Kohl, also
von 1984 bis 1994; ihre Erhöhung betrug auch ungefähr
50 Pfennig. Dann kommt die Mehrwertsteuer. Dann
kommt die Ökosteuer I; es kommt die Ökosteuer II und es
folgen noch zwei Ökosteuern.


(Zuruf von der CDU: Warum haben Sie denn das nicht mitgebracht?)


Jetzt schauen wir uns einmal die Problemlösungs-
ansätze der CDU an:


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Michelbach macht dicke Backen, aber mehr auch nicht!)


Sie sagen: Die bisherigen Erhöhungen der Mineralöl-
steuer und der Stromsteuer müssen rückgängig gemacht
werden, weil die für die Jahre 2001 bis 2003 vorgesehe-
nen Steuererhöhungen eine Gefahr für das Wirtschafts-
wachstum in Deutschland darstellen und die Bürger be-

lasten und die Betriebe in unverantwortlicher Weise in
den Ruin treiben würden.

Wir haben vorhin gehört, das Gewerbe würde vernich-
tet. Ich will das alles jetzt einmal anhand der Klötzchen
verdeutlichen. Dieser Teil hat der Wirtschaft nicht ge-
schadet; er hat niemanden überproportional belastet. Er
diente dem Stopfen der Haushaltslöcher und der Finan-
zierung von Fördergebietsgesetzen. Er war dazu da, den
reichen Leuten Geld zu geben.


(Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Der andere Teil der Klötzchen ruiniert die Wirtschaft
und bringt ganze Gewerbe in Gefahr; das ist ganz drama-
tisch.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Aber dieser Teil macht praktisch gar nichts. Zu der
Zeit, als man das betrieben hat, hatten Repnik, Merkel und
andere die Idee, diesen Teil noch hinzuzufügen, und zwar
mit dem Argument, Arbeitsplätze zu schaffen, die Umwelt
zu schonen und soziale Nebenkosten zu senken, damit die
Nettolöhne steigen. Das war eigentlich ein gutes Konzept.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Reden Sie einmal zu Herrn Klimmt!)


Insofern habe ich heute nicht verstanden, wie jemand
sagen kann, die SPD habe Wortbruch begangen.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Aber selbstverständlich!)


Ich will es einmal so formulieren: Jemand, der sich von
einem Kanzler wie dem Ihrigen damals nicht distanziert,


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Herr Schröder hat gesagt: 6 Pfennig, das ist das Ende!)


und Personen, die wie Merkel, Repnik oder Töpfer einen
Eierkurs in der beschriebenen Weise fahren, können uns
an dieser Stelle nicht belehren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Lernen Sie die Grundkapitel von Moral und Ethik! Di-
stanzieren Sie sich von Ihrem Kanzler und von anderen
Gaunern in Ihrer Partei!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch von der CDU/CSU)


Dann können wir darüber reden, ob die SPD ein Gesetz,
das für alle Zukunft gilt, macht.

Zum inhaltlichen Hintergrund vielleicht noch so viel:
Die Ursache für diese Aktuelle Stunde ist, dass jemand ge-
sagt hat: Wenn sich in Zukunft etwas ändert, ändert sich
etwas in der Zukunft. Aber so etwas mit einer tief grei-
fenden Logik kann die F.D.P. natürlich nicht jede Woche
wiederholen. Ich glaube, die Bürger merken, dass das
Spektakel der ausschließlichen Medienwirksamkeit ohne
Substanz ihnen nicht hilft.


(Beifall bei der SPD)





Otto Bernhardt

12183


(C)



(D)



(A)



(B)


Die Probleme, die wir eben beschrieben haben, sind:
mehr Arbeit, stabile Rente, besserer Umweltschutz. Die
CDU will sie übrigens so lösen, wie ich gelesen habe:
Ökosteuer abschaffen. – Konstruktives Konzept? – Fehl-
anzeige! Alternativen zum Gesetz der CDU? – Keine! Das
haben wir extra einmal behandelt; Jörg-Otto Spiller hat
uns darauf hingewiesen. Das heißt: Sie haben, abgesehen
von der Ablehnung des Gesetzes, überhaupt keine Alter-
native. Wo ist dann das konstruktive Moment, das man je-
des Mal in dieser Debatte einklagen sollte?

Jetzt kommt etwas besonders Schönes: die sonstigen
Kosten. Sie schreiben: Durch die Senkung der Mineralöl-
steuer werden die Energiepreise steuerbedingt sinken.
Woher wissen Sie eigentlich, dass es in dieser Hinsicht
überhaupt eine Steuerelastizität gibt? Sie wissen sehr
wohl, dass die Preise nicht sinken, wenn man die Steuern
um diesen Betrag senkt; denn sonst müssten Sie beweisen
können, wieso der Heizölpreis um 100 Prozent gestiegen
ist, obwohl das Heizöl von der Ökosteuer in diesem Jahr
überhaupt nicht betroffen ist. Diese Logik müssten Sie
uns bzw. dem Bürger erläutern, anstatt ihn hinters Licht zu
führen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/ CSU]: Das ist die Holzkopfrede!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412708800
Herr Kol-
lege Binding, Sie müssen zum Schluss kommen.


Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1412708900
Ich glaube, Ih-
nen fällt nichts Intelligentes ein, das sich über das Niveau
Ihrer Gesetzesvorlage hinaushebt. Deshalb lehnen wir
diese ab.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412709000
Das Wort
hat jetzt der Kollege Klaus-Peter Willsch von der
CDU/CSU-Fraktion.


Klaus-Peter Willsch (CDU):
Rede ID: ID1412709100
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir ein-
mal auf die Zeit zurückblenden, in der dieses unsägliche
Ökosteuergesetz verabschiedet wurde, müssen wir uns
daran erinnern, dass damals viel von „doppelter Divi-
dende“ oder Ähnlichem geschwärmt wurde. Heute höre
ich kein Schwärmen mehr, sondern sehe bei der Regie-
rung nur noch ein Flattern. Ein Minister nach dem ande-
ren behauptet, nun sei das Ende der Fahnenstange er-
reicht. Hier gibt es mittlerweile ein heilloses Flattern
wegen der berechtigten Proteste der Bevölkerung.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es war nicht nur Herr Klimmt, der heute wohl lieber nicht
dabei sein wollte, wir haben Ähnliches von Herrn Riester
und Herrn Eichel gehört. Wir hören zwar immer wieder
Dementis, merken aber, dass Absetzbewegungen gemacht

werden. Ihnen fehlt der Mut, diesen Schritt zu gehen.
Wir müssen uns überlegen – wir hatten gerade von

Herrn Binding eine eindrucksvolle Demonstration mit
Holzspielzeug –,


(Beifall bei der CDU/CSU)

weshalb der Spritpreis heute auf der Höhe ist, die wir be-
klagen, die zumindest ich beklage. Sie beklagen die Höhe
des Spritpreises nicht: Die Grünen wollen ja einen Sprit-
preis von 5 DM je Liter und auch Sie von der SPD wollen
einen höheren Preis als heute.


(Joachim Poß [SPD]: Sie sind nicht auf der Höhe der Zeit! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie sind daneben!)


Sie reden sich in den Wahlkreisen immer damit heraus,
dass Sie nur für eine Erhöhung von 14 Pfennig verant-
wortlich seien. Sie haben aber noch weitere Erhöhungen
in drei Stufen beschlossen, die kommen werden.


(Joachim Poß [SPD]: Er hält eine „LeitRede“!)


Aber Sie sind natürlich auch für den Anteil mitverant-
wortlich, der auf der schlechten Performance des Euro ba-
siert. Der schwache Außenwert des Euro hat etwas mit der
Wirtschaftspolitik zu tun, die in der Leitvolkswirtschaft
des Euro-Raums gemacht wird.


(Joachim Poß [SPD]: Wieder das Wort „Leit“!)

Wenn Sie sich diesen Umstand vor Augen führen und

überlegen, wie internationale Finanzmärkte zu einer Be-
wertung einer Währung kommen, werden Sie das leicht
nachvollziehen können. Beim Start des Euro haben all
diejenigen, die im internationalen Rahmen die Wirtschaft
beobachten, gesagt, der Euro-Raum sei ein guter Wirt-
schaftsraum mit guten Chancen auf Wachstum. Es gibt an
zwei Punkten Probleme:


(Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hören Sie doch auf zu zündeln! Das ist beim Euro unheimlich gefährlich!)


Die Sozialversicherungssysteme müssen in Richtung auf
eine höhere Eigenverantwortung umgebaut werden und
der Arbeitsmarkt muss von rigiden Regelungen befreit
werden. Hier wurde Reformbedarf angemahnt.

Schauen Sie sich einmal an, was Sie in diesem Bereich
in den letzten zwei Jahren getan haben: Sie haben die Re-
gelungsdichte auf dem Arbeitsmarkt verschärft. Ich nenne
als Beispiele das 630 DM-Gesetz und das sogenannte
Scheinselbstständigengesetz. Sie haben die erforderliche
Sanierung der Sozialversicherungssysteme ausgesetzt
und teilweise bisher getroffene Regelungen zurück-
gefahren. Bis heute liegt von Ihnen nichts auf dem Tisch.
Sie haben die Reformen in der Rentenversicherung zwar
ausgesetzt, aber bis heute keinen Gesetzentwurf, sondern
nur ein Arbeitspapier auf den Tisch gelegt. Sie haben also
genau in den Bereichen, in denen die internationale Fi-
nanzwelt erwartet hat, dass sich etwas tut, nichts voran-
gebracht.


(Ludwig Eich [SPD]: Alle loben uns, dass wir was tun!)





Lothar Binding (Heidelberg)

12184


(C)



(D)



(A)



(B)


Solange dieser Reformbedarf besteht, wird auch das Ver-
trauen in den Euro nicht steigen.

Ich will Ihnen einmal Folgendes vorrechnen: Wir sind
mit einem Euro-Kurs von 1,18 US-Dollar gestartet und
sind heute bei 82 US-Cent gelandet.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist der Schröder-Effekt!)


Das bedeutet für einen Barrel mit einem Preis von 35 US-
Dollar eine Preissteigerung von 60 DM auf 84 DM. Pro-
zentual ist das eine Steigerung um 40 Prozent – aufgrund
der schlechten Wirtschaftspolitik, die hier gemacht wor-
den ist.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ludwig Eich [SPD]: Das glaubt selbst in der CSU niemand!)


Dazu kommt, dass der Weltstaatsmann – ich glaube,

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Keine Neidhamme lei!)

so lautete der Titel – nicht weiß, wie man sich in
Währungsfragen verhalten muss. Man kann eben nicht sa-
gen: Es gibt welche, die die Euro-Schwäche gut finden;
andere finden sie schlecht. Ich dagegen finde sie gut, weil
sie gut für die Wirtschaft ist. – So schafft man kein Ver-
trauen in die Währung. Das hat gezeigt, dass er davon
nichts versteht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ludwig Eich [SPD]: Das sehen die Institute anders!)


Die Ökosteuer ist eine reine Abzocksteuer.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie schädigt den Standort Deutschland. Sie ist sozial un-
gerecht. Schaffen Sie die Ökosteuer ab! Stimmen Sie un-
serem Antrag auf Abschaffung der Ökosteuer zu.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412709200
Als letz-
ter Redner in der Aktuellen Stunde hat nun das Wort der
Kollege Peter Danckert von der SPD-Fraktion.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Er wird jetzt etwas zu Klimmt sagen! – Dirk Niebel [F.D.P.]: Wer ist Klimmt?)



Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1412709300
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Aktuelle
Stunde, die Sie beantragt haben, ist durch den Beitrag des
Kollegen Lothar Binding – ich sehe Sie sprachlos – flugs
zu einer Nachhilfestunde geworden, die Sie allerdings
auch dringend notwendig haben.


(Beifall bei der SPD – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Ich habe „Klimmt“ gesagt!)


– Ich rede jetzt zu Klimmt und über den Anlass für diese
Aktuelle Stunde. Die Überschrift des Interviews mit dem
Bundesverkehrsminister Klimmt lautet: „Nach 2003

steigt die Ökosteuer nicht weiter“. Das ist auch der Inhalt
seiner Aussage. Aber was machen Sie daraus? Der Titel
der von Ihnen beantragten Aktuellen Stunde lautet: „Hal-
tung der Bundesregierung zur Forderung von Bundes-
verkehrsminister Klimmt, die Ökosteuer im Jahr 2003 zu
beenden“. Das zeigt die Art und Weise, wie Sie mit die-
sem Thema hier umgehen. Ich bin deshalb froh, dass es
eine breite Öffentlichkeit gibt.

Klimmt spricht in dem Interview davon, dass die Öko-
steuer nach 2003 nicht weiter angehoben werden muss.
Das ist seine Meinung zu dem Thema. Und Sie machen
daraus, er habe gesagt, die Ökosteuer solle beendet wer-
den. Das zeigt die Art und Weise, wie Sie hier die Fakten
verdrehen.


(Beifall bei der SPD – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Warum ist er nicht da?)


– Das ist doch eine ganz andere Frage; darum geht es doch
gar nicht. Angesichts der Art und Weise, mit der Sie die-
ses Thema angehen, muss er auch nicht da sein. Es wäre
für ihn doch schade um die Zeit, wenn er hier wäre.


(Beifall bei der SPD)

Sein Fernbleiben hat doch nichts mit Missachtung des
Parlaments zu tun. Sie wollen uns für dumm verkaufen,
und er soll seine Zeit opfern. Das ist Fakt.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Was haben Sie denn für ein Parlamentsverständnis? Arroganz!)


Jetzt zu Ihnen, meine Damen und Herren von der
CDU/CSU: Eine Tickermeldung von heute – mir liegt
eine Kopie der Originalmeldung vor – trägt als Über-
schrift eine Aussage Ihres ehemaligen Umweltministers
Töpfer. Sie lautet – das haben wir schon gehört –: „Die
Ökosteuer ist keine K.-o.-Steuer“. Dies ist die klare fach-
liche Aussage eines Mannes, der nicht der Parteidisziplin
unterliegt. An dieser Stelle möchte ich noch eines bemer-
ken – das ist offensichtlich auch der Grund, weshalb Frau
Merkel, die die Nachfolgerin von Herrn Töpfer im Amt
des Bundesministers war, Herrn Polenz als Generalse-
kretär entlassen hat –: Die Kampagne gegen die Öko-
steuer – die einzige, die ihr Generalsekretär innerhalb von
sechs Monaten auf den Weg gebracht hat – war ganz of-
fensichtlich ein Flop. Sie wollte ihm offensichtlich zuvor-
kommen, weil ihr Herr Töpfer die Wahrheit über die Öko-
steuer gesagt hat. Das sind die Fakten.


(Beifall bei der SPD – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Warten wir den 1. Januar ab!)


– Ja, wir werden den 1. Januar abwarten.
Angesichts dessen, was Sie hier schon alles behauptet

haben, möchte ich mich schlicht an die Fakten halten. Wir
brauchen die Ökosteuer, um den Energieverbrauch zu re-
duzieren. Das ist die Lenkungswirkung. Wir hätten aller-
dings ein Problem, wenn die Verbraucher auf die Belas-
tungen durch die Ökosteuer entsprechend reagieren
würden, weil uns dann die erwarteten Mehreinnahmen
fehlen würden. Aber offensichtlich wirkt die Ökosteuer
nicht so, wie Sie sich das vorstellen und das durch Ihre
Kampagne einer erstaunten Öffentlichkeit klarzumachen
versuchen.




Klaus-PeterWillsch

12185


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir brauchen die Mehreinnahmen – das ist auch ganz
klar; da beißt die Maus keinen Faden ab –, damit der Staat
weiterhin einen wesentlichen Beitrag zur Rentenversiche-
rung leisten kann, nämlich bisher 17,5 Milliarden DM.
Wenn uns die Mehreinnahmen aus der Ökosteuer nicht
zur Verfügung stehen würden, dann hätten wir nur drei
Möglichkeiten – das wissen Sie auch; das ist das Ein-
maleins –: Wir könnten die Beiträge zur Rentenversiche-
rung anheben. Das wollen wir nicht. Wir könnten auch
den Zuschuss des Staates zur Rentenversicherung er-
höhen, was wir zum Beispiel durch die Anhebung der
Mehrwertsteuer finanzieren könnten. Auch das wollen
wir nicht. Selbstverständlich wollen wir die Zuwachsra-
ten bei den Renten auch nicht so niedrig halten, dass die
Rentner an den Steigerungen der Nettolöhne überhaupt
nicht mehr teilhaben. Aus diesen drei Gründen muss es
eine Ökosteuer geben.

Es ist ja im Übrigen nicht so, dass wir nicht auf der
Höhe der Zeit wären. Frau Merkel, die das Thema Öko-
steuer auf gewisse Weise schon sehr früh angesprochen
hat – heute darf sie das nicht mehr laut sagen –, hat damals
gesagt – ich zitiere aus der „FAZ“ vom 23. März 1995 –:

Als Umweltministerin halte ich es für erforderlich,
die Energiepreise schrittweise anzuheben und so ein
deutliches Signal zum Energiesparen zu geben.

Genau das haben wir gemacht.

(Beifall bei der SPD)


Wir haben das in unserer Koalitionsvereinbarung verfei-
nert und ausgearbeitet und in einen richtigen Zusammen-
hang gestellt.

Nun noch etwas anderes: Sie von der CDU haben doch
auch einmal so etwas wie ein Zukunftsprogramm aufge-
legt.


(Zuruf des Abg. Hans Michelbach [CDU/CSU])


– Nein, nur die CDU. Die CSU hat da offensichtlich ein
bisschen anders formuliert. Ich zitiere also aus dem Zu-
kunftsprogramm der CDU 1998:

Unser Steuer- und Abgabensystem macht gerade das
besonders teuer, was wir am dringendsten brauchen:
Arbeitsplätze. Dagegen ist das, woran wir sparen
müssen, eher zu billig zu haben: Energie- und Roh-
stoffeinsatz.

(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Weiter lesen, dann kommt Europa!)

Genau das, was Sie damals gesagt haben, ist im Rah-

men dieser Koalitionsvereinbarung formuliert und mit der
Ökosteuer umgesetzt worden. Nur weil Sie nicht mehr an
der Regierung sind, wollen Sie es nicht mehr wahrhaben,
dass das die richtige Politik ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie können an dieser Stelle noch hundert Aktuelle Stun-
den beantragen, wir werden Ihnen jedes Mal dasselbe
sage: Die Ökosteuer ist richtig! Es ist ja auch schon darauf
hingewiesen worden, dass die namhaftesten Wirtschafts-

forschungsinstitute dieser Republik die Richtigkeit der
Ökosteuer bestätigt haben.


(Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Das ist nicht wahr!)


Da können Sie reden, wie Sie wollen, das sind die Fakten
und deshalb halten wir uns daran. Jeder Sach- und Fach-
verstand sagt uns, dass wir an dieser Stelle richtig liegen.

Ich als Bundestagsabgeordneter aus einem der neuen
Bundesländer bin auch davon überzeugt, dass das, was
Sie, Herr Koppelin, in Ihrem Antrag „Ökosteuer zurück-
nehmen“ gesagt haben, dass nämlich die Ökosteuer für
den Aufbau Ost gefährlich sei, so populistisch und so po-
lemisch ist, dass Sie das doch wohl nicht im Ernst glau-
ben. Die Bürger in den neuen Ländern haben begriffen,
dass der Beitrag, der durch die Ökosteuer zum Rentensys-
tem geleistet wird, richtig und notwendig ist. Dabei bleibt
es, denn das ist die Wahrheit.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412709400
Die Aktu-
elle Stunde ist beendet.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf.
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(12. Ausschuss)

auftragte Jahresbericht 1999 (41. Bericht)

– Drucksachen 14/2900, 14/4204 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Uwe Göllner
Werner Siemann

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Wehrbe-
auftragte des Deutschen Bundestages, unser früherer Kol-
lege Dr. Willfried Penner.

Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deut-
schen Bundestages: Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Der Bundesminister der Verteidigung hat sich
eingehend, ernsthaft und verantwortungsbewusst mit den
Feststellungen des Jahresberichts 1999 befasst. Grund-
sätzlich teilt er die im Bericht dargestellten Sorgen und
Nöte der Soldaten.

Darüber hinaus bleibt Anlass und Notwendigkeit für
ergänzende Bemerkungen aus meiner Sicht. Ich nenne
folgende:

Die vorgesehene neue Bundeswehrstruktur kann
nicht ohne Mittun der Soldaten greifen. Bisher ist bei der
Truppe eher eine abwartende Haltung auszumachen; die
Mitte dieses Jahres verlautbarten Eckpunkte und auch die
jetzt veröffentlichte „Grobausplanung“, wie es heißt, sind
noch zu abstrakt, als dass sie schon konkrete Auswirkun-




Dr. Peter Danckert
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(C)



(D)



(A)



(B)


gen für den Einzelnen erkennen ließen. Das wird sich mit
fortschreitender Implementierung des Veränderungspro-
zesses wandeln; spätestens mit dem Wegfall von Standor-
ten wird es für die Betroffenen ganz konkret.

In deren Interesse, aber auch zur Vermeidung von Rei-
bungsverlusten sonst, ist es geboten, den vorgesehenen
Zeitplan für das Weitere einzuhalten und so die erforder-
liche Planungssicherheit für die Soldaten und ihre Fami-
lien zu ermöglichen. Natürlich ist dafür unverzichtbar,
dass das Konzept in sich stimmig ist und insbesondere die
Finanzierung klappt.

Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Aus-
landseinsätze in jüngster Zeit kennzeichnen das geän-
derte Aufgabenfeld der Bundeswehr mit direkten Konse-
quenzen für die Soldaten. Der Einsatz selbst unter
besonderen Umständen der Gefährdung ist nicht mehr
fern liegende, eher unwahrscheinliche Möglichkeit. Ganz
im Gegenteil wird dies für zunehmend mehr Soldaten
schon über Verwendungen bei KFOR und SFOR die Re-
gel werden. Soldatendasein wird also ganz konkret ge-
fährlicher werden können, mobiler überdies, und die Fa-
milien werden davon nachhaltig betroffen sein. Die
Fürsorgepflicht des Dienstherrn gebietet begleitende
Maßnahmen für Soldaten, vor und nach dem Einsatz, für
die Familien Unterstützung während der Einsatzzeit.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dazu sage ich ergänzend: Eine noch stärkere Professio-
nalisierung bei der psychischen Hilfe ist unverzichtbar,
weil die bisherigen rühmenswerten Möglichkeiten der Ei-
genhilfe einfach nicht reichen können.

Ganz wichtig ist das Vertrauen der Soldaten in die Fes-
tigkeit gemachter Zusagen. Ob die Zusage eingehalten
werden kann, im Anschluss an die auf sechs Monate er-
weiterte Einsatzdauer grundsätzlich eine einsatzfreie Zeit
von zwei Jahren zu garantieren, muss nach jüngsten Er-
kenntnissen anlässlich meiner Informationstagung in der
vergangenen Woche stark in Zweifel gezogen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dabei ist bekannt, dass mit der Zeit von Vor- und Nach-
bereitung eher acht bis neun Monate zusammenkommen.

Nicht hinnehmbar ist, dass die Soldaten auf dem Bal-
kan immer noch nicht ausreichend mit Tropenkleidung
ausgestattet sind, wo doch die einschlägigen Erfahrungen
mit dem Bundeswehreinsatz in Somalia – auch einer
heißen Region – immerhin schon acht Jahre zurückliegen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Noch eines: Die Möglichkeit für Soldaten im Einsatz,
Urlaub in zwei Zeitabschnitten zu nehmen, würde gewiss
Druck von den Soldaten nehmen. Dem Vernehmen nach
halten es andere Staaten auch so.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Im Übrigen würde es sicher sehr hilfreich sein, wenn
die üblichen Möglichkeiten der Heimflüge durch die Ein-

beziehung ziviler Fluglinien ergänzt und damit mancher
unnötige zusätzliche Zeitaufwand zulasten der Soldaten
vermieden werden könnte.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mehr und verbesserte Möglichkeiten für Heimflüge wär-
en schon erstrebenswert – dies umso mehr, als die deut-
schen Soldaten dort erstklassigen Dienst leisten unter den
besonderen Bedingungen abgrundtiefen Hasses der dort
lebenden Ethnien untereinander. Dies ist ein Grund mehr,
dass die politisch und militärisch Verantwortlichen für die
Bundeswehr sich alle erdenkliche Mühe geben müssen,
diesen schwierigen Dienst durch flankierende Maßnah-
men zu erleichtern.


(Beifall der Abg. Ingrid Holzhüter [SPD])

Herr Präsident, meine Damen und Herren, nach mei-

nen bisherigen Eindrücken kann das Sanitätswesen ein
zentrales, wenn nicht d a s Thema für die Bundeswehr in
den kommenden Jahren werden. Bei den Gesprächen mit
den Vertrauensleuten wurde kaum ein Thema so intensiv
und von so vielen behandelt. Umso skeptischer muss man
sein, ob die Zusage des BMVg auf Prüfung seit Jahren be-
kannter Mängel ausreicht, wie sich das in schöner Offen-
heit bei der Stellungnahme zur einschlägigen Mängelliste
des Wehrberichts 1999 offenbart. Es geht in der Sache um
Handfestes: Die Soldaten wollen nicht stunden- oder ta-
gelang auf ärztliche Behandlung warten müssen. Sie wol-
len es nicht hinnehmen, dass mehrfach zeitlich genau
fixierte Arzttermine aufgehoben werden, weil die Kapa-
zitäten der Sanitätseinrichtungen in der Bundeswehr nicht
ausreichen. Und selbst bei Verwendungen im westlichen
Ausland kommen viele mit dem Sanitätswesen auch aus
Partnerländern nicht zurecht: mal ist es die unterschiedli-
che Behandlungsphilosophie, mal nur die Unfähigkeit,
sich sprachlich differenziert genug zur eigenen Erkran-
kung äußern zu können usw. Dies ist meiner Meinung
nach also ein großes Thema für die Bundeswehr und die
politisch Verantwortlichen.

Einige Bemerkungen noch zum Thema Frauen in die
und in der Bundeswehr. Dieses Thema wird die Armee
und in Sonderheit das Heer auch organisatorisch noch
lange Zeit beschäftigen, angefangen von der nötigen
Infrastruktur bis hin zur Bekleidung. Es ist nach meiner
Überzeugung richtig, dass der Einsatzvorbehalt für
Frauen in der entsprechenden Gesetzesvorlage nicht mehr
enthalten ist. Er wäre mit deutschem Verfassungsrecht
kaum zu vereinbaren gewesen.


(Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Aus meiner Sicht ist die jetzt vorgesehene Verfassungsän-
derung zur erweiterten Verwendung von Frauen in der
Bundeswehr nur zu begrüßen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Paul Breuer [CDU/CSU])


Unabhängig davon möchte ich dafür werben, in der er-
weiterten Verwendungsmöglichkeit für Frauen eine
Chance für die Bundeswehr zu sehen. Keinesfalls sollte




Dr. Willfried Penner

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(C)



(D)



(A)



(B)


die Veränderung, die ja ohnehin kommt, durch defensives
Bedenken- und Verweigerungsgerede zusätzlich belastet
werden.

Im Übrigen gilt: Das neue Recht kann nur die Voraus-
setzungen für die Frauen verändern; die gesellschaftliche
Durchsetzung, aber auch die Anpassung an die Besonder-
heiten des Soldatenberufs sind eine andere Sache und
werden Zeit brauchen.

Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Bundes-
regierung ist für die Beibehaltung der Wehrpflicht, die
große Mehrheit im Parlament auch. Die Vorteile sind: die
Verwurzelung der Armee in der deutschen Gesellschaft,
das Lebendighalten der Bundeswehr und die Sicherung
einer Nachwuchsgewinnung aus der Breite der Gesell-
schaft. Nicht zu leugnen ist auch, dass die Entscheidung
für die Wehrpflicht der Bundeswehr den Soldaten und den
jungen Jahrgängen Orientierung gibt.

Aber ein Wetterleuchten in dieser Frage ist nicht zu
übersehen: „Ist eine Freiwilligenarmee nicht die gemäßere
Antwort auf die erweiterte Aufgabenstellung der Bundes-
wehr?“, so wird man sich fragen müssen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Müssen die Wehrpflicht und die damit verbundenen mög-
lichen Folgen für die jungen Soldaten ausschließlich auf
den Zweck der Landesverteidigung beschränkt sein? Und
kann von der allgemeinen Wehrpflicht überhaupt noch ge-
sprochen werden, wo doch der immer größere Teil eines
Jahrgangs gar nicht eingezogen wird


(Beifall bei der F.D.P.)

und die mit der Wehrpflicht erwarteten positiven gesell-
schaftlichen Auswirkungen eben dadurch auch geschmälert
werden?


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Wehrungerechtigkeit!)

Schließlich: Zerbröckelt nicht das politische Fundament
für Wehrpflicht, wenn Wehrgerechtigkeit Schaden nimmt,
weil zunehmend weniger der Wehrpflicht nachkommen
müssen?

Meiner Überzeugung nach entspricht es nicht dem
Nachlaufen des viel zitierten Zeitgeistes, dass auch im
Bundestag vertretene Parteien sich von der Wehrpflicht zu
lösen beginnen. Auf keinen Fall sollte dem entgegenge-
halten werden, dass im demokratisch verfassten Staat nur
die Wehrpflichtarmee ihren Platz haben könne.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der F.D.P.)


Richtig ist: Die Wehrpflicht war für die Verankerung der
Bundeswehr im demokratisch verfassten Staat für die
junge Bundesrepublik Deutschland sehr wichtig, viel-
leicht sogar unverzichtbar. Aber es ist nicht die einzige
Möglichkeit, eine Armee für die Demokratie zu sichern,
wie benachbarte und befreundete Staaten mit langer Tra-
dition und ihrer Entscheidung für die Freiwilligenarmee
– zuletzt Italien – beweisen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie der Abg. Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Herr Präsident, meine Damen und Herren, bei der Aus-
einandersetzung mit dem Rechtsextremismus darf und
wird die Bundeswehr nicht abseits stehen. Der Untersu-
chungsausschuss der 13. Periode hat dazu wichtige Er-
kenntnisse gebracht. Auffällig war und ist eine politische
Neigung, im Falle eines Falles die Bundeswehr insgesamt
vor dem Verdacht, rechtsextremistisch anfällig zu sein, re-
flexartig in Schutz zu nehmen, wo die Anlässe hierzu doch
durchweg nur Einzelfälle sind.

Viel wichtiger als Einzelvorkommnisse und Statisti-
ken, soweit diese überhaupt aussagekräftig sind, ist die
Erkenntnis, dass das Militärische generell mit seiner hie-
rarchischen Struktur, der Uniformierung und der Vermitt-
lung des Umgangs mit Gewalt und Waffen natürliche Be-
gehrlichkeiten beim Rechtsextremismus auslöst. Hinzu
kommt Patriotismus als die ideologische Unterfütterung
für Landesverteidigung. Da ist ständige Aufmerksamkeit
geboten, dass die Brandmauer zum Chauvinismus, zur
Fremdenfeindlichkeit und zum Rassismus stabil bleibt
und nicht löchrig wird.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie des Abg. Paul Breuer [CDU/CSU])


Die Voraussetzungen dafür sind gut: Die Struktur der
Bundeswehr ist in Ordnung. Im Übrigen: Verteidigungs-
politik und Bundeswehr sind im Nachkriegsdeutschland
international angelegt; das verhindert nationale Eigenbrö-
teleien oder gar Verbissenheit, ohne Patriotismus zu ver-
drängen. Aber eine Armee ist nicht per se demokratisch.
Die Strukturen für Demokratie müssen stimmen.

Der Staatsbürger in Uniform ist nach meiner Überzeu-
gung der wirksamste Schutz für eine demokratische Be-
schaffenheit der Armee. Eine kritische Fußnote muss sein:
Ein guter, ein förderungsgeeigneter Soldat kann nicht
sein, wer sich rechtsextremistisch verhält, auch wenn
seine soldatischen Leistungen sonst tadelfrei sind.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)


Die unterschiedliche Besoldung der Soldaten – 86,5 Pro-
zent bzw. demnächst etwas mehr für die ostdeutschen,
100 Prozent für die westdeutschen – muss ein Ende finden.


(Beifall im ganzen Hause)

Gewiss hatte die im Einigungsvertrag auch für Soldaten
festgeschriebene Unterschiedlichkeit ihre nachvollzieh-
baren Gründe. Und auch das bestehende Besoldungs- und
Vergütungsgefälle zwischen Ost und West im gesamten
öffentlichen Dienst ist nicht willkürlich zustande gekom-
men und wird nicht willkürlich beibehalten, sondern ist
durch die auch heute noch maßgebliche Finanzlage der
öffentlichen Hände diktiert.

Letzteres darf aber für den Bund kein Argument sein,
die Besoldungsunterschiede zwischen Ost und West für
die Armee festzuschreiben.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)





Dr. Willfried Penner
12188


(C)



(D)



(A)



(B)


Die Bundeswehr kann nicht auf Dauer mit solchen Diffe-
renzen leben; sie bedeuten im Ergebnis nicht aushaltbare
Spannungen und Konflikte für die unverzichtbare Einheit
und Geschlossenheit der Armee.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Schließlich sind der Auftrag und das Handeln der Bun-
deswehr nicht aufteilbar nach Ost und West; die Soldaten
im Einsatz auf dem Balkan machen dies besonders sinn-
fällig. Es lindert diesen Mangel nicht – ganz im Gegenteil,
er wird dadurch erweitert und vertieft –, dass Offiziere,
auch proportional, weit weniger von diesen Unterschie-
den betroffen sind als Mannschaften und Unteroffiziere.

Das Finanzierungsvolumen macht dem Vernehmen
nach um die 100 Millionen DM aus, also eine für den
Bund verkraftbare Größe. Wenn die Regierung, aus wel-
chen Gründen und in welcher Zusammensetzung auch
immer, es nicht auf den Weg bringen kann, dann sei daran
erinnert, dass für Besoldungsfragen grundsätzlich das
Parlament zuständig ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Dabei hilft es wenig, dass sich diejenigen, die jetzt in der
Minderheit sind, mit diesbezüglichen Anträgen leichter
tun als diejenigen, die jetzt in der Mehrheit sind und so die
manchmal nötigende Wucht der Argumente der Finanz-
bürokratie auszuhalten haben.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mein Appell gilt dem Parlament insgesamt, seiner
Pflicht gegenüber der ständig reklamierten Parlamentsar-
mee zu genügen und das Erforderliche zu tun.

Schönen Dank für die Geduld.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412709500
Ich danke
dem Wehrbeauftragten im Namen des Hauses für diesen
ausführlichen Bericht.

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,
möchte ich im Namen des Hauses der ehemaligen Wehr-
beauftragten, Frau Claire Marienfeld, sowie ihren Mitar-
beiterinnen und Mitarbeitern für die Vorlage des Jahres-
berichts 1999 danken.


(Beifall im ganzen Hause)

Das Wort hat jetzt der Kollege Uwe Göllner von der

SPD-Fraktion.


Uwe Göllner (SPD):
Rede ID: ID1412709600
Sehr geehrter Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Herr Breuer, ich möchte, be-
vor ich zum Thema rede, meiner ehrlichen Freude darü-
ber Ausdruck geben, dass Sie nach Ihrer schweren Opera-
tion gesund wieder hier sind.


(Beifall)


Ich hoffe, dass Ihre Genesung so schnell voranschreitet,
dass Sie künftig auch in den langen Ausschusssitzungen
wieder sitzen können.

Der Wehrbeauftragte hat gerade vor allem in die Zu-
kunft geschaut. Wir diskutieren heute aber den Bericht für
das Jahr 1999, den fünften und letzten Bericht der Wehr-
beauftragten Claire Marienfeld. Ich will mich auf wenige
Punkte beschränken, die der ausgeschiedenen Frau Wehr-
beauftragten im Verlauf ihrer fünfjährigen Amtszeit nach
meinen Beobachtungen immer wichtig waren.

Im Berichtszeitraum hatte Frau Marienfeld etwas mehr
als 5 800 Eingaben zu bearbeiten. Dabei gab es natürlich
eine gewisse Rangfolge. Was sich wie ein roter Faden
durch die Eingaben zieht, ist die Belastung der Soldaten
durch die Auslandseinsätze. Der Wehrbeauftragte hat ge-
rade darauf hingewiesen, dass wir in allen Bereichen, auf
die wir Einfluss haben, dafür sorgen müssen, dass die Be-
lastung so gering wie möglich ist.

Dass die Belastung einen gewissen Punkt erreicht, ist
unvermeidbar. Wir haben uns im Ausschuss bei der Frage
nicht leicht getan, ob die Soldaten vier oder sechs Monate
auf dem Balkan bleiben sollen. Die Ausführungen der
Frau Wehrbeauftragten und der militärische Sachverstand
haben am Ende dazu geführt, dass die Politiker sich dem
Vorschlag von sechs Monaten angeschlossen haben.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Wir nicht!)

– Herr Niebel, ich gestehe Ihnen zu: Sie nicht.

Ich denke, dass dann, wenn die neue Struktur in der
Bundeswehr langsam aufwachsen wird, die Probleme,
die mit der Verlängerung der Einsatzdauer auf sechs Mo-
nate verbunden sind, auch gemildert werden. Der Wehr-
beauftragte hat ja gerade darauf hingewiesen, dass in be-
stimmten Bereichen die versprochenen zwei Jahre nicht
gehalten werden können, nämlich da, wo es sich um Spe-
zialisten handelt. Wir hoffen, dass das in der Zukunft bes-
ser wird.

Frau Marienfeld hat in allen ihren fünf Berichten im-
mer wieder darauf hingewiesen, dass sie mit dem Grad
unzufrieden war, den die politische Bildung in der Bun-
deswehr eingenommen hat. Es ist sicherlich eine bekla-
genswerte Sache, dass dies in jedem Bericht wieder auf-
geführt werden muss. Man muss allerdings hinzufügen:
Selbst dann, wenn der politischen Bildung der Stand zu-
kommt, der vorgesehen ist, kann in zehn Monaten Bun-
deswehr nicht das ersetzt werden, was wir als Eltern oder
was die Schulen versäumen. Hier müssen wir realistisch
sein. Dennoch, dieser Hinweis der Wehrbeauftragten soll
und wird aufgenommen werden, damit wenigstens das,
was vorgegeben ist, in der Bundeswehr gewährleistet ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der Rechtsradikalismus war in der Vergangenheit
ein stärkeres Thema, als es das heute zu sein scheint. Der
Wehrbeauftragte hat vorhin darauf hingewiesen, dass die
zurückgehende Zahl der Vorkommnisse nun aber kein
Grund sein kann, sich zurückzulehnen. An den Vor-
kommnissen, die im Berichtszeitraum zu vermelden wa-
ren, waren ein Offizier, elf Unteroffiziere und 111 Mann-
schaftsdienstgrade beteiligt. Das zeigt, dass dieses




Dr. Willfried Penner

12189


(C)



(D)



(A)



(B)


gesellschaftliche Problem im Wesentlichen über die
Wehrpflichtigen in die Bundeswehr hineinkommt. Das ist
allerdings kein Argument gegen die Wehrpflicht.

Auch Frau Marienfeld hat in allen ihren Berichten an
der Wehrpflicht festgehalten und immer wieder darauf
hingewiesen, wie wichtig aus ihrer Sicht die Wehrpflicht
für den ständigen Gedankenaustausch mit jungen Män-
nern in der Bundeswehr ist. Zudem hat es sich ja keiner
derer leicht gemacht, die in ihren Parteien für die Wehr-
pflicht gestimmt haben. Die einzige Partei, die einmal auf
einem Parteitag versucht hat, die Wehrpflicht abzuschaf-
fen, ist gerade nicht anwesend,


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


aber diejenigen, die sich in den anderen Parteien für die
Wehpflicht ausgesprochen haben, haben ja nicht etwa
Angst davor, dass die Bundeswehr dann, wenn sie denn
keine Wehrpflichtarmee mehr wäre, zum Staat im Staate
werden würde. Unser Vertrauen in die Bundeswehr ist
zwischenzeitlich bei allen so groß geworden, dass wir
diese Befürchtung nicht haben. Aber es gibt eben ganz
gute Gründe dafür, weshalb wir uns bislang mehrheitlich
in den beiden großen Parteien für die Wehrpflicht aus-
sprechen. Aus meiner Sicht sage ich jedenfalls: Ich hoffe,
dass dies auch noch eine ganze Weile so bleibt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will am Ende denjenigen danken, die sich um Mil-
derung der Belastung, die durch die Auslandseinsätze im
Berichtszeitraum zu sehen war, bemüht haben. Das waren
diejenigen, die sich um die zu Hause gebliebenen Fami-
lien gekümmert haben; das waren diejenigen, die sich vor
Ort in der Militärseelsorge – sei es bei den Katholischen,
sei es bei den Evangelischen – in, wie ich finde, hervor-
ragender Weise und weit über das hinaus, was sie dienst-
lich hätten tun müssen, um die Soldaten gekümmert ha-
ben. Wir haben im laufenden Jahr auf katholischer Seite
einen neuen Militärbischof bekommen; er wird auch ei-
nen neuen Militärdekan ernennen. Ich will mich bei dem
bisherigen Dekan ausdrücklich für seine Arbeit bedanken.
Ich habe ganz gern mit ihm zusammengearbeitet. Ich
hoffe, das Verhältnis zum neuen wird ähnlich gut werden.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412709700
Ausweis-
lich des Protokolls über die eben beendete Aktuelle
Stunde hat der Kollege Lothar Binding, an die Opposition
gewandt, die Worte gewählt: „Distanzieren Sie sich von
Ihrem Kanzler und von anderen Gaunern in Ihrer Partei!“
Dies ist als unparlamentarischer Sprachgebrauch zu rü-
gen.


(Beifall bei der F.D.P. – Zuruf von der CDU/CSU: Unmöglich ist das!)


Als nächster Redner hat der Kollege Bernd Siebert von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Bernd Siebert (CDU):
Rede ID: ID1412709800
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich
am Anfang meiner Rede darauf hinweisen, dass einige
Soldaten der Bundeswehr auf der Tribüne anwesend sind.
Das ist gut und wir freuen uns, dass sie dieser Debatte fol-
gen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Der ehemaligen Wehrbeauftragten des Deutschen Bun-
destages, Frau Claire Marienfeld, und all ihren Mitarbei-
terinnen und Mitarbeitern danke ich für diesen umfang-
reichen und detaillierten Bericht über den Zustand unserer
Streitkräfte sowie insgesamt für die engagierte und erfolg-
reiche Arbeit in den vergangenen Jahren gerade zum Wohl
unserer Streitkräfte.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Dieser Dank gilt nicht nur diesem Bericht – ihrem letz-
ten Bericht –, sondern auch den Berichten der letzten
Jahre, ihrer Arbeit insgesamt, ihrem beeindruckenden
Engagement für die Soldatinnen und Soldaten, aber auch
ihrer Überparteilichkeit; diesem ganzen Hause verpflich-
tet. Sie war die erste Frau in diesem Amt und sie hat ihren
Mann gestanden. Frau Marienfeld hat in den vergangenen
Jahren auf viele Problemkreise hingewiesen und hat
durch kontinuierliches Darumkümmern viele Entschei-
dungen des Ministeriums zum Wohle der Soldatinnen und
Soldaten beeinflusst und herbeigeführt.

Dem neuen Wehrbeauftragten, Willfried Penner, der
nun schon einige Monate im Amt ist, wünsche ich die
gleiche glückliche Hand, das gleiche Engagement und die
gleiche Überparteilichkeit, die Frau Marienfeld ausge-
zeichnet haben.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Seine Rede vorhin lässt uns guten Mutes sein. An unserer
Unterstützung für Ihre Arbeit wird es nicht mangeln, Herr
Penner.

Viele Probleme sind noch nicht gelöst; neue werden
entstehen. Eigentlich hätten wir jetzt die Chance, vieles
zu verändern und mit den anstehenden Strukturreformen
einen deutlichen Schritt nach vorne zu gehen. Wir werden
sehen, ob diese Chancen genutzt werden.

Die Neuausrichtung der Bundeswehr hat weitrei-
chende Auswirkungen auf das Schicksal vieler Bundes-
wehrangehörigerer und ihrer Familien. Daher wird die In-
stitution des Wehrbeauftragten noch mehr als zuvor zum
Seismograph für die Stimmung in der Truppe werden.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

Das Jahr 1999 war für die Bundeswehr durch den ers-

ten größeren bewaffneten Kampfeinsatz – man muss so-
gar sagen: Kriegseinsatz – im ehemaligen Jugoslawien
geprägt. Es ist für uns im Deutschen Bundestag doch
beruhigend zu erfahren, dass aus Sicht der Wehrbeauf-




Uwe Göllner
12190


(C)



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(B)


tragten „unsere Soldaten gut ausgebildet und beispielhaft
vorbereitet in den Einsatz gegangen sind“. Die Bundes-
wehr leistet ausgezeichnete Arbeit. Unsere Soldaten ge-
nießen auch international ob ihrer Professionalität und
ihrer Einsatzbereitschaft hohes Ansehen. Auf sie ist in der
Heimat, aber auch im Einsatz, Verlass. Wir schulden ih-
nen daher hohen Respekt für ihre ausgezeichnete Pflicht-
erfüllung.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Auch unter erschwerten Bedingungen, zu denen sicher-
lich viele Struktur-, Ausrüstungs- und Finanzdefizite zäh-
len – der Wehrbeauftragte hat eben in seiner Rede auf ei-
nige hingewiesen –, haben sie ihren Dienst getan. Es war
richtig, dass wir uns seit Jahren um eine solide Ausbil-
dung gekümmert haben. Deshalb muss an dieser Stelle
den Ausbildenden und denjenigen, die die politischen
Rahmenbedingungen hierzu gesetzt haben – das ist die
alte Bundesregierung mit dem Verteidigungsminister
Volker Rühe gewesen –, gedankt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

In diesem Zusammenhang möchte ich auf ein Pro-

blemfeld eingehen, welches auch in dem Bericht der
Wehrbeauftragten als Schwerpunkt deutlich geworden ist.
Es geht um die Erhöhung der Stehzeit bei Auslands-
einsätzen von vier auf sechs Monate. Sowohl bei den Sol-
daten als auch bei deren Familien stößt diese Regelung
ganz überwiegend auf Ablehnung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dabei wird immer wieder auf die negativen Auswirkun-
gen der langen Abwesenheitsdauer insbesondere bei Fa-
milien mit kleinen Kindern hingewiesen,


(Beifall des Abg. Dirk Niebel [F.D.P.])

die sich natürlich durch die Ausbildungszeit – Herr
Penner hat schon darauf hingewiesen – noch über den
Zeitraum von sechs Monaten hinaus verlängert.

Wir alle wissen, dass Ursache für die Einführung die-
ser Verlängerung im Jahre 1999 war, dass die Finanzmit-
tel, die notwendig waren, um mehr Soldaten ausbilden zu
können, nicht vorhanden waren. Deshalb ist die Auswei-
tung auf sechs Monate erfolgt. Weder Bundeskanzler
Schröder noch Finanzminister Eichel waren bereit, zu-
sätzliches Geld für diese Aufgaben zur Verfügung zu stel-
len. Die Bundesregierung hat deshalb entschieden, die
Stehzeit von vier auf sechs Monate zu erhöhen.

Ich muss in aller Deutlichkeit sagen: Es kann und darf
nicht sein, dass Verteidigungsminister Scharping das Spa-
ren auf dem Rücken unserer Soldaten und deren Familien
austrägt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Deshalb müssen wir jetzt unsere Chance ergreifen, dies
wieder zu ändern. Wenn es kein reines Lippenbekenntnis
ist, dass die Menschen in unseren Streitkräften das höchs-
te Gut der Bundeswehr darstellen, dann müssen wir im

Rahmen der Strukturreform zu der alten Regelung einer
viermonatigen Stehzeit zurückfinden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

An vielen Stellen des vorgelegten Berichtes finden wir

Aussagen, die uns nachdenklich stimmen und uns zu-
gleich an unsere Verantwortung gegenüber den Soldatin-
nen und Soldaten, den zivilen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern und insbesondere deren Familien erinnern
sollten: Es ist von Verunsicherung und Frustration die
Rede, von der schlechten Stimmung in der Truppe. Es
werden Motivationsprobleme aufgeführt und von man-
gelnden Perspektiven wird berichtet. Das muss von uns
sehr ernst genommen und bei den Entscheidungen der Zu-
kunft berücksichtigt werden.

In der Stellungnahme des Verteidigungsministeriums
zu dem Bericht heißt es, dass den Soldaten in einer Phase
der Überlegungen zur Wehrdienstdauer – das scheint jetzt
geregelt zu sein, aber wer weiß –, der Überlegungen zur
Wehrdienstform – auch dies scheint geregelt zu sein, aber
wer weiß –, der Überlegungen zu Auftrag und Aufgaben
und der Überlegungen zu Umfang und Ausrüstung keine
absolute Sicherheit zum Standorterhalt, keine absolute
Sicherheit zu zukünftiger regionaler und funktionaler Ver-
wendung und keine Sicherheit für die persönliche Lauf-
bahnentwicklung gegeben werden kann. Das ist die Basis
der Verunsicherungen innerhalb der Bundeswehr, nichts
anderes. Dies müssen wir bei unserem zukünftigen Han-
deln berücksichtigen.

Die Strukturreform der Bundeswehr führt zu einer
deutlichen Verringerung der Zahl der Soldatinnen und
Soldaten und zu einer noch deutlicheren Verringerung der
Zahl der zivilen Mitarbeiter. Trotzdem erklärt Bundes-
minister Scharping bei seinen Bundeswehrstandort-
besuchen allerorten: Dieser Standort ist sicher und bleibt
erhalten. – In meiner nordhessischen Heimat konnte ich
Minister Scharping einige Male bei diesen Besuchen be-
gleiten und ebenso wie die Öffentlichkeit mit Überra-
schung zur Kenntnis nehmen, dass wir zwar die Bun-
deswehr verkleinern, aber trotzdem jeder dieser Standorte
sicher ist und bestehen bleibt.

Diese Erklärungen werden sicherlich von der Realität
eingeholt werden. Das bestätigt uns auch der grüne Koali-
tionspartner, der inzwischen öffentlich vorträgt – so auch
in der letzten Bundestagssitzung zu diesem Thema vor
14 Tagen –, dass die Grundrechenarten auch an dieser
Bundesregierung nicht vorbeigehen können und es des-
wegen zu Standortschließungen kommen wird – auch
wenn Sie im Moment nicht bereit sind, dies so zu sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Was ist mit dem Bericht?)


Die als Beruhigungspille gedachten Äußerungen ha-
ben das genaue Gegenteil bewirkt, weil die Soldaten die
Grundrechenarten beherrschen.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann können Sie ja mit Ihrer Standortkampagne Schluss machen!)


Ich stimme der Wehrbeauftragten ausdrücklich zu, wenn
sie in ihrem Bericht auf diese Verunsicherung und Moti-
vationsreduzierung hinweist. Der Minister ist nicht da; er




Bernd Siebert

12191


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(B)


hat sicherlich einen anderen, wichtigeren Termin. Herr
Staatssekretär Kolbow, ich kann Sie nur auffordern
– diese Forderung hat auch Frau Beer für die Grünen for-
muliert; deswegen fühle ich mich hier in sehr guter
Gesellschaft –:


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU)


Stellen Sie schnell öffentlich klar, welche Standorte er-
halten bleiben können und welche nicht! Dann werden
wir den Soldaten auch eine entsprechende Sicherheit für
die Zukunft geben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf von der SPD: Das ist doch unsere Forderung!)


– Sie sagen, das sei Ihre Forderung. Ich will Ihnen einmal
ein Beispiel nennen. Insofern passt Ihr Zwischenruf ganz
gut.

Am 14. Juni, zufälligerweise zwei Tage, bevor meine
Kollegin Hannelore Rönsch und ich die Wehrbe-
reichsverwaltung IV in Wiesbaden besuchen wollten,
erklärte die dortige Wahlkreisabgeordnete Heidemarie
Wieczorek-Zeul im „Wiesbadener Kurier“ unter Beru-
fung auf den Verteidigungsminister, die Erhaltung aller
800 Arbeitsplätze bei der Wehrbereichsverwaltung IV in
Wiesbaden sei gesichert. Am 28. Juni, also ganze 14 Tage
s
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412709900


Dass die Abgeordnete von Wiesbaden, die zufällig
auch noch Ministerin ist, diese Behauptung aufge-
stellt hat, höre ich von Ihnen.

Damit meinte sie den Fragesteller.
Sie hat es uns weder in irgendeiner Weise mitgeteilt
noch gibt es irgendwelche ernst zu nehmenden Über-
legungen. Wir sind zu diesem Zeitpunkt wirklich
noch nicht so weit.

In Wiesbaden aber erklärte die Abgeordnete, es bleibe al-
les wie bisher.

Meine Damen und Herren, Sie müssen dafür Sorge tra-
gen, die Verunsicherung der Menschen, die in der Bun-
deswehr tätig sind, zu beseitigen und nicht zu verstärken.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der CDU: So ist es! – Zurufe von der SPD: Sie verunsichern sie doch nur! – Haltet den Dieb!)


Offenheit und klare Information, wie sie von der Wehrbe-
auftragten gefordert sind, verringern die Unsicherheit.

Wir wissen längst, was wir von Versprechungen seitens
dieser Bundesregierung zu halten haben. Ich persönlich
empfinde es als nahezu menschenverachtend, wie Sie die
Zivilbediensteten der Wehrbereichsverwaltung IV in
Wiesbaden in den letzten Wochen mit widersprüchlichen
Aussagen hinters Licht geführt haben. Sie sollten relativ
bald sagen, welche zivilen Bediensteten schon bald ihren
Dienst anderenorts versehen oder gehen müssen. Das gilt
übrigens gleichermaßen für die militärischen Standorte.


(Zuruf von der SPD: Feinausplanung!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe schon mehr-
fach angesprochen, dass die Verunsicherung dadurch ver-
ringert wird, dass man mit offenen Karten spielt. Nur eine
solide Information des Parlaments, der betroffenen Bun-
deswehrangehörigen und der Öffentlichkeit ist die Basis
für eine offene Diskussion.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir debattieren den Bericht der Wehrbeauftragten!)


Eine offene Diskussion lässt klare Entscheidungen zu und
reduziert Unsicherheit. In einer Demokratie mit einer Par-
lamentsarmee gehört dies zur Voraussetzung. Dieser In-
formation und Diskussion entzieht sich Bundesminister
Scharping seit Monaten.


(Zuruf von der SPD: Na, na!)

Wir fühlen uns über viele Entscheidungen dieser Re-

gierung, die Bundeswehr betreffend, nicht solide infor-
miert.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Wir wissen, dass solche Vorwürfe auch in den Regie-
rungsfraktionen vorgetragen werden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Mit gezinkten Karten! – Zuruf von der SPD: Nein!)


Wir sind uns einig: Zu keiner Zeit in der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland fühlten sich die Abgeord-
neten dieses Hauses über die Entwicklung der Bundes-
wehr in der Zukunft so schlecht informiert wie gegen-
wärtig.


(Beifall bei der CDU/CSU – Paul Breuer [CDU/CSU]: Leider wahr!)


Deswegen bitte ich an dieser Stelle den Wehrbeauf-
tragten, darauf zu achten, dass die vorhandenen Tenden-
zen, sich weg von einer Parlamentsarmee hin zu einer
Regierungsarmee zu entwickeln, nicht Realität werden.
Ich bitte Sie, wenn Sie weitere deutliche Tendenzen er-
kennen, diese in Ihren nächsten Bericht aufzunehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412710000
Herr Kollege,
das wäre ein schöner Schlusssatz. Den müssten Sie jetzt
auch finden.


Bernd Siebert (CDU):
Rede ID: ID1412710100
Frau Präsidentin, dann
will ich auch gleich zum Ende kommen.

Eine Umstrukturierung unserer Streitkräfte ist unum-
gänglich. Da stimmen wir mit Ihnen überein. Aber dafür,
wie Sie sie in Gang gesetzt haben und wie sie im Bericht
der Wehrbeauftragten sichtbar gemacht wird, können Sie
von uns keine Unterstützung bekommen.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Es muss etwas geschehen, aber es darf nichts passieren!)


Ich hoffe, dass wir in einem Jahr über einen positiveren
Bericht debattieren können.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)





Bernd Siebert
12192


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(A)



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Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412710200
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Winfried Nachtwei.


(Werner Siemann [CDU/CSU]: Schön den Bernd Siebert loben!)



Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412710300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Penner, ich danke Ihnen ausdrücklich für Ihren – ja, das
war es schon – ersten Zwischenbericht als Wehrbeauf-
tragter, der durch seine Offenheit und den frischen Wind
auffiel. Das ist für mich ein Beleg dafür, dass man, um fri-
schen Wind zu machen, nicht unbedingt Wehrpflichtiger
sein muss.


(Heiterkeit bei der SPD)

In den letzten Monaten standen die künftigen Bundes-

wehrstrukturen und ihre Finanzierung im Mittelpunkt der
sicherheitspolitischen Debatte. Die abschließende Bera-
tung des Berichts der Wehrbeauftragten 1999 ist für mich
eine gute Gelegenheit, nun einmal so genannte weichere,
aber nichtsdestoweniger genauso wichtige Themen anzu-
sprechen, nämlich das Selbstverständnis der Soldaten und
ihre Stellung in der demokratischen Gesellschaft.

Gestern führten der Innenausschuss und der Jugend-
ausschuss eine Anhörung zum Thema „Rechtsextremis-
mus“ durch. In dieser Anhörung wurde unter anderem
festgestellt, dass rechtsextreme Alltagskulturen an vielen
Orten stark verwurzelt seien und dass Institutionen oft
nichts dagegen unternähmen. Gefordert wurde, anknüp-
fend an das Wort von Bundeskanzler Schröder vom
„Aufstand der Anständigen“, der „Anstand der Zuständi-
gen“.

1997 wurde vermehrt über Vorfälle unter Bundes-
wehrsoldaten mit rechtsextremem Hintergrund berichtet.
Damals reagierte die Bundeswehrführung schnell und mit
einem umfassenden Maßnahmenkatalog. Mir sind keine
Großinstitution und kein gesellschaftlicher Bereich be-
kannt, in denen gegenüber rechtsextremistischen Vor-
kommnissen so sehr das Hinsehen geübt und der Blick ge-
schärft worden wäre.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Das ist richtig!)

Nach allem, was wir wissen, zeigte dies auch Wirkung.
Allerdings wissen wir nicht, wie tief und nachhaltig diese
Maßnahmen wirken, ob sie „nur“ abschreckend wirken
oder auch zu einer Veränderung der Einstellung beitragen.

Vor einigen Jahren schon, also 1997/98, hatten die
Fraktionen von SPD sowie von Bündnis 90/Die Grünen
umfassendere sozialwissenschaftliche Untersuchungen
gefordert, um herauszufinden, wie es mit Einstellungen,
Veränderung von Einstellungen und den Möglichkeiten,
Einstellungen in und außerhalb der Bundeswehr zu be-
einflussen, aussieht. Wir begrüßen jetzt außerordentlich,
dass das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr
mit einer solchen systematischen und empirischen Unter-
suchung beginnt. Die Erkenntnisse aus solchen empiri-
schen Untersuchungen sind eben eine entscheidende Vo-
raussetzung dafür, dass wir auch in Zukunft in der Lage
sind, diese Brandmauer gegen Rechtsextremismus und

Minderheitenfeindschaft bei der Bundeswehr aufrecht zu
erhalten.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Bundeswehr hat längst eine eigene gewachsene
Tradition. Mit der Teilnahme an friedensbewahrenden
Einsätzen auf dem Balkan steht sie – das muss man im-
mer wieder sagen –, in einem diametralen Gegensatz zu
dem, was die Wehrmacht vor mehr als 50 Jahren auf dem
Balkan getan hat. In der Vergangenheit hatten wir immer
mal wieder über Zeichen von vordemokratischem Tradi-
tionsverständnis bei einem Teil der aktiven und ehemali-
gen Soldaten zu sprechen. Das traf auch auf die Benen-
nung von Kasernen zu.

Bekannt ist, dass eine verklärende Haltung zurWehr-
macht eine Schlüsselfunktion hinsichtlich der Ausbil-
dung rechtskonservativer und vor allem rechtsextremer
Ideologen ist und sozusagen eine ideologische Brücke
darstellt, um auf Soldaten zu wirken. Daher ist das Zei-
chen umso wichtiger, das Bundesminister Scharping am
8.Mai dieses Jahres setzte, indem er in Flensburg eine Ka-
serne, die bis dahin nach einem Wehrmachtsgeneral be-
nannt war, nach dem Feldwebel Anton Schmid umbe-
nannte, einem einfachen Soldaten in der Wehrmacht, der
aber enorm mutig war bei seinem Einsatz für verfolgte
Menschen und dabei auch umgebracht wurde. Dies ist
wirklich ein vorzügliches Zeichen. Ich gehe davon aus,
dass diese auch international hoch anerkannte Kasernen-
umbenennung keine Eintagsfliege ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wehrbeauftragte wie Ministerium bekräftigen ihre
positive Haltung gegenüber der Wehrpflicht. Zugleich
stellte die Wehrbeauftragte in ihrem Bericht aber auch
fest, es werde

immer schwieriger, den jungen Männern den Sinn
der Wehrpflicht und damit die Bereitschaft zur
Wehrdienstleistung nahe zu bringen.

Diese Schwierigkeiten werden künftig angesichts der
geplanten Reduzierung und Flexibilisierung der Wehr-
pflicht wohl nicht geringer. Denn wenn ein sinkender An-
teil der mindestens 150 000 zur Verfügung stehenden
Wehrpflichtigen einberufen wird, liegt zumindest der
Eindruck nahe, es handele sich um eine selektive Wehr-
pflicht. Daher wäre es angebracht, im Rahmen einer vor-
läufig fortbestehenden Wehrpflicht vermehrt Rücksicht
auf beginnende Berufsausbildung und auf Unterneh-
mensgründungen zu nehmen und zum Beispiel die Ver-
fügbarkeitszeiten von Wehrpflichtigen abzusenken.

Auf jeden Fall müssen Dienstungerechtigkeiten zwi-
schen Wehrdienst- und Zivildienstleistenden vermieden
werden.


(Beifall der Abg. Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wenn nämlich nur ein Teil der zur Verfügung stehenden
Wehrpflichtigen einberufen würde, aber alle jungen Män-
ner, die den Dienst an der Waffe verweigert haben, zur






(C)



(D)



(A)



(B)


Leistung des Zivildienstes verpflichtet würden, dann wäre
das ein Beispiel für eine solche Dienstungerechtigkeit. Zu
dieser darf es auf keinen Fall kommen.

1999 war das Jahr – das ist heute Morgen schon mehr-
fach angesprochen worden –, in dem das demokratische
Deutschland und die Bundeswehr zum ersten Mal über-
haupt an einem Krieg beteiligt waren. Die Wehrbeauf-
tragte stellte in ihrem Jahresbericht fest – dieser Satz ist,
wie ich glaube, in der Regel überlesen worden –:

Es wäre ein Gebot der Inneren Führung gewesen, ei-
nen militärischen Einsatz dieser Art frühzeitig und
rechtlich klar zu begründen.

Das Verteidigungsministerium fordert in seiner Stel-
lungnahme zum Bericht der Wehrbeauftragten von den
militärischen Vorgesetzten neben professionellem Kön-
nen auch Wertekompetenz. An dieser kritischen Feststel-
lung, die sich auch an die Wehrbeauftragte richtet, wird
die gestiegene Anforderung an Politiker und militärische
Vorgesetzte formuliert, Bundeswehreinsätze rechtlich,
politisch und ethisch klar zu begründen und darzustellen.

Vor vier Wochen legten die deutschen katholischen
Bischöfe ihr neues Friedenswort „Gerechter Friede“ vor.
An die Stelle des Motivs vom gerechten Krieg, das uns
seit Jahrhunderten bekannt ist, setzen die Bischöfe nun
das Leitbild vom gerechten Frieden: Wer den Frieden
will, bereite den Frieden vor. Sie gehen ausdrücklich von
einer Ethik der Gewaltfreiheit aus und übersetzen sie in
dieser gewaltträchtigen Welt in die Gebote „Gewaltmin-
derung“ und „Gewaltverhütung“.

Die Bischöfe verkennen nicht, dass sich gerade ange-
sichts der Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit – er-
innert sei allein an das letzte Jahrzehnt – immer wieder
Konflikte zwischen dem Gebot der Gewaltfreiheit und der
staatlichen Verpflichtung zum Schutz der eigenen Bürger
und zum Schutz vor schwersten Menschenrechtsverlet-
zungen ergeben können. Die Tatsache, dass der Einsatz
militärischer Gewalt notwendig werden kann, lässt die
Bischöfe aber nicht die Tücken eines Gewalteinsatzes
verkennen, der nach Feststellung der Bischöfe trotz
Rechtfertigung immer ein Übel bleiben würde. Das Bi-
schofswort benennt deshalb klare und enge Kriterien für
humanitäre Einsätze. Es widersetzt sich eindeutig dem
propagandistischem Missbrauch des Begriffs „huma-
nitäre Einsätze“ für partikulare Interessen.

Das Friedenswort der katholischen Bischöfe, das, so
ist mein Eindruck, in der Öffentlichkeit bisher kaum
wahrgenommen wurde – wenn, dann wurde es ganz
schnell zu Tode gelobt –, ist für die Debatte, die wir im
Kontext der Bundeswehrreform und der europäischen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik viel intensiver füh-
ren sollten, eine große Hilfe. Es ist zur Steigerung
unseres Verantwortungsbewusstseins und zur Steigerung
unserer Verantwortungsfähigkeit im Hinblick auf einen
gerechten Frieden und die damit verbundene Rolle von
Bundeswehrsoldaten hilfreich.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412710400
Das Wort hat
jetzt der Kollege Hildebrecht Braun.


Hildebrecht Braun (FDP):
Rede ID: ID1412710500
Frau Präsi-
dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Anhand
vieler Einzelfälle im vorliegenden Bericht der Wehrbe-
auftragten mit den Anmerkungen des Bundesverteidi-
gungsministeriums wird deutlich, wo die Soldaten der
Schuh drückt und wie die Bundeswehrführung darauf zu
reagieren gedenkt. Der Bericht wird in der Truppe und
weit darüber hinaus verbreitet und er wird hier, im deut-
schen Parlament, diskutiert. Wir Abgeordnete nehmen ihn
sehr ernst; denn dieser Bericht macht auch deutlich, dass
wir eine Parlamentsarmee haben, auf die wir stolz sind.

Seit über 40 Jahren kann jeder deutsche Soldat eine Be-
schwerde an den Wehrbeauftragten und damit an das deut-
sche Parlament richten. Er muss nicht den Dienstweg ein-
halten. Das ist sehr wichtig. Denn der Dienstweg ist, wie
wir wissen, nicht nur der längste Weg; vielmehr würde
auch die Beschwerde durch die Kommentierung von all
den dazwischengeschalteten Vorgesetzten – jeder Vorge-
setzte würde versuchen, seine eigene Sicht der Dinge
einzubringen und sein eigenes Verhalten und das seines
Truppenteils so positiv wie möglich darzustellen – ange-
reichert. Durch unser System der Beschwerden bekom-
men wir ein ungeschminktes Bild von der Realität in der
Truppe. Zugleich ist dies ein Frühwarnsystem über even-
tuell negative Entwicklungen.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Das ist das System der Eingabe!)


Weil jeder Vorgesetzte weiß, dass sich seine Untergebe-
nen direkt an den Wehrbeauftragten wenden können, wird
er in seinem Bemühen gestärkt, nicht nur korrektes Ver-
halten, sondern auch das Prinzip der Kameradschaft und
das Konzept des Staatsbürgers in Uniform in allen Berei-
chen zu beachten und zu fördern. Gleiches gilt für das Mi-
nisterium, das nicht wegen Nichtbeachtung der Wehrbe-
auftragten vom bzw. im Parlament vorgeführt werden
will.

In diesem Zusammenhang möchte ich ein Kompliment
an den Vertreter des Bundesverteidigungsministeriums
richten: Ihre Anmerkungen zu dem Bericht der Wehrbe-
auftragten sind präzise und sensibel. Sie gehen auf alle
wichtigen Fragen ein. Sie sorgen in Ihrem Bericht für eine
Darstellung, die sehr leicht lesbar ist und deswegen sehr
viel mehr Wirkung entfaltet, als wenn diese Darstellung in
einem separaten Papier verbreitet werden würde.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich kann nur sagen: Wenn die Anmerkungen des Bundes-
rechnungshofs immer so ernst genommen würden wie der
Bericht der Wehrbeauftragten, dann wäre die Präsidentin
des Rechnungshofs sehr glücklich.


(Beifall bei der F.D.P.)

Nun zu einigen speziellen Themen, insbesondere zur

politischen Bildung der Soldaten. Wie wichtig dieser
Bereich ist, ist uns allen natürlich klar. In früheren Jahren
war es immer wieder schwierig, gerade jungen Soldaten
deutlich zu machen, was es bedeutet, die Freiheit zu ver-




Winfried Nachtwei
12194


(C)



(D)



(A)



(B)


teidigen. Sicherlich, Wehrpflichtige werden auch jetzt
nicht in Gebiete wie das Kosovo oder nach Bosnien bzw.
Mazedonien geschickt. Aber sie haben in der Regel Aus-
bilder, die dort bereits gedient haben und die ihnen aus
eigenem Erleben heraus schildern können, was es be-
deuten würde, wenn unsere deutschen Soldaten dort nicht
dafür sorgen würden, dass die einen vor den anderen,
beispielsweise die Gruppe der Moslems vor den Serben,
geschützt würden. Es ist ein ganz wichtiger Punkt, dass
aus persönlichem Erfahren heraus geschildert werden
kann, was es bedeutet, frei zu sein und vor Unfreiheit zu
schützen. Denn mit der Freiheit ist es im Grunde genom-
men genauso wie mit der Gesundheit: Wenn man die Frei-
heit nicht hat, weiß man, wie wertvoll die Freiheit ist.
Wenn man krank ist, weiß man die Gesundheit ganz an-
ders zu würdigen. Denn wenn man gesund ist, nimmt man
sie normalerweise als selbstverständlich hin.

Meine Damen und Herren, in der Bundeswehr besteht
die besondere Chance, unseren jungen Menschen nahe
zu bringen, wie dümmlich die Thesen der Rechtsextre-
misten sind, denen sie zu Hause oft ausgesetzt sind. In der
Bundeswehr leben unsere jungen Männer mit anderen zu-
sammen, die in irgendeiner Weise fremd sind, die einen
anderen Dialekt sprechen oder einen anderen Glauben
haben, die vielleicht in Russland oder in der Türkei gebo-
ren sind und von denen zu Hause oft Feindbilder existie-
ren.

Sie leben bei der Bundeswehr gemeinsam in einer
Stube und erleben, wie die anderen für einen selbst
Verantwortung übernehmen und sie gemeinsam einen
Auftrag erfüllen. Sie erleben, dass nicht die Vorbildung,
Abitur oder Hauptschulabschluss, oder die Tatsache, ob
jemand reich oder arm ist, wichtig dafür sind, dass jemand
ein Freund sein kann. Vielmehr erleben sie die Eigen-
schaften, die Freundschaft wirklich ausmachen, nämlich
Verlässlichkeit und Kameradschaft.


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Uwe Göllner [SPD] und des Abg. Paul Breuer [CDU/CSU])


Ich glaube, dadurch trägt die Bundeswehr in besonderem
Maße dazu bei, dass junge Menschen gegen die Gefahren
des Rechtsextremismus gefeit werden.

Ich möchte einen Punkt aufgreifen, an dem mir die
Stellungnahme des Verteidigungsministeriums nicht ge-
fällt. Claire Marienfeld hat Ihnen natürlich eine Steilvor-
lage geliefert, als sie sagte: Teilzeitarbeit kommt für Sol-
datinnen auch in Zukunft nicht in Frage. Ich bin nicht
darüber verwundert, dass das Ministerium diese Äuße-
rung gerne aufgegriffen und gesagt hat: Na gut, dann soll-
ten wir diese Möglichkeit auch gar nicht eröffnen.

Ich bin da ganz anderer Meinung. Wir werden in Zu-
kunft viele junge Frauen in der Bundeswehr haben. Das
wollen mittlerweile auch alle in diesem Parlament. Da-
runter werden auch viele junge Mütter sein. Es muss völ-
lig klar sein, dass sich die Bundeswehr auch in diesem Be-
reich nicht vom Rest der Gesellschaft absetzt, sondern
dass wir junge Soldatinnen sehr wohl unterstützen, wenn
sie Mutter werden wollen, und wir ihnen dort, wo es
machbar ist, Teilzeit zu arbeiten, im Interesse dieser jun-

gen Familien, speziell der Kinder, eine solche Chance ge-
ben. Lassen Sie mich das als früherer Vorsitzender der
Kinderkommission im Bundestag sagen.


(Beifall bei der F.D.P. – Paul Breuer [CDU/CSU]: Darüber muss man nachdenken! – Werner Siemann [CDU/CSU]: Das ist nicht praktikabel!)


Hier muss auch das Verteidigungsministerium hinzu-
lernen. Wir können nicht nur immer die Flexibilität der
Soldaten im Einsatz loben und dann, wenn neue Aufga-
benstellungen, neue Probleme auf das Ministerium zu-
kommen, sagen: Wir machen es so wie bisher, als wir eine
reine Männerarmee hatten. – Nein, wir müssen umden-
ken.

Ich finde die Äußerungen zum Thema „Tragen von
Schmuck“ bei Frauen in der Bundeswehr nachgerade
lächerlich. Es sind doch Peanuts, ob sich Frauen in der
Bundeswehr ein wenig mehr als die Männer schmücken
können oder nicht. Dass wir dazu eine eigene ZDV-Num-
mer haben, 37/10, ist doch wirklich überflüssig. Gehen
wir damit doch locker und vernünftig um, wie wir es von
den Vorgesetzten erwarten.

Insgesamt ist das heutige Thema eines, bei dem wir die
Dinge in großer Übereinstimmung erörtern können. Ich
halte das für gut. Die Bundeswehr ist eine gemeinsame
Aufgabe des gesamten Parlaments.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412710600
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Winfried Wolf.


Dr. Winfried Wolf (PDS):
Rede ID: ID1412710700
Sehr geehrte Präsidentin!
Werte Kolleginnen und Kollegen! Der hier diskutierte Be-
richt wird in einem Punkt immer von allen Parteien im
Bundestag gelobt. In dem Bericht finden sich einiger-
maßen objektiv die Zustände in der Bundeswehr be-
schrieben, zum Beispiel auch Zustände wie sie im Ab-
schnitt „Verletzung der Menschenwürde bei Ausbil-
dungsvorhaben“ zusammengefasst sind. Dort heißt es als
Teil einer Auflistung von mehreren Vorfällen:

Ein Maat richtete als Gruppenführer in der Grund-
ausbildung ein ungeladenes Gewehr mit der Mün-
dung nacheinander auf drei Rekruten, um diese mit
Nachdruck zu gesteigerter Konzentration anzuhal-
ten.

Oder weiter:
In einem anderen Fall mussten

– in einer Übung –
„gefangene“ Soldaten ihre komplette Bekleidung bis
auf die Unterhose an „gegnerische Kräfte“ abgeben.

Zu solchen Fällen vermerkt die Wehrbeauftragte richtig:
Es handelt sich hier um Grundrechtsverletzungen.

Der Bericht enthält ein weiteres Mal einen Abschnitt
zum Thema „Entwicklung von Fremdenfeindlichkeit und




Hildebrecht Braun (Augsburg)


12195


(C)



(D)



(A)



(B)


Rechtsextremismus in der Bundeswehr“. Darin wird be-
tont, der Rückgang entsprechender Vorgänge in der Bun-
deswehr sei kein Signal zur Entwarnung. Auch das findet
unsere Zustimmung, zumal jüngste Berichte wieder von
einem Anstieg von Rassismus und Rechtsextremismus
in der Bundeswehr sprechen.

An die Wurzel dieses zuletzt genannten Problems wird
man im Übrigen nur dann stoßen, wenn man sich intensiv
mit dem Thema Traditionspflege beschäftigt. Wir erin-
nern hier ein weiteres Mal daran: Vor knapp zwei Jahren
kündigte der hier im Saal anwesende Staatsminister
Naumann an, dass es in zwei Jahren keine Kasernenna-
men mehr geben werde, die an Nazi-Generale oder an
grausame Kolonialoffiziere erinnern. Doch es gibt sie bis
zum heutigen Tag.

Das Mindeste, was wir von der SPD und den Grünen
verlangen dürfen, ist: Tilgt endgültig diese Kasernenna-
men!


(Beifall bei der PDS)

Wir wollen nie mehr Namen wie Lettow-Vorbeck – ein
grausamer Kolonialoffizier – oder Mölder – ein Kampf-
flieger der Nazis, der unter anderem in der „Legion Kon-
dor“ gegen die spanische Republik im Einsatz war. Es ist
wahr: Scharping hat einige richtige Schritte gemacht.
Aber Scharping hat mit seiner Personalpolitik genau bei
diesem Thema auch Zeugnis für die Doppelbödigkeit sei-
ner Politik abgelegt. Er persönlich brachte den General
Gudera in eine Spitzenverwendung im Verteidigungsmi-
nisterium. Er wurde stellvertretender Inspekteur des Hee-
res. Derselbe General hat unter anderem die Wehrmachts-
ausstellung als „infam“ bezeichnet.


(Zurufe von der CDU/CSU: Das war sie auch! – Eine Fälschung!)


Er hat in der „Rheinischen Post“ vom 6. November 1999
ausgeführt: Die Soldaten der Wehrmacht sind während
des Krieges politisch missbraucht worden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Stimmt doch!)

Sie haben das Höchste gegeben, was ein Soldat geben
kann, ihr Leben.

Der Bericht der Wehrbeauftragten ist in einem zentra-
len Punkt widersprüchlich. Die im Bericht vielfach be-
zeugte Sensibilität für die Grundrechte der Soldaten steht
in einem krassen Gegensatz zum NATO-Krieg gegen
Jugoslawien und zu der Art und Weise, wie dieser Krieg
in dem Bericht reflektiert wird. Dort heißt es zum Beispiel
auf Seite 7 – der Bericht ist immerhin Anfang des Jahres
2000 verfasst –, die Verhandlungen vom Rambouillet hät-
ten das Ziel gehabt, dass „die territoriale Integrität der Re-
publik Jugoslawien gewährleistet werden“ sollte; als ob in
der Zwischenzeit nicht Annex B des Rambouillet-Ver-
trags bekannt geworden wäre, in dem die faktische Auf-
hebung der Integrität Jugoslawiens verlangt wurde.

An anderer Stelle wird der Krieg, der am 24. März
1999 von der NATO begonnen wurde, als „humanitäre In-
tervention“ bezeichnet; als ob nicht spätestens seit dem
Frühjahr 2000 bekannt wäre, wie von NATO-Geheim-
diensten manipuliert wurde, um den Krieg als eine solche
humanitäre Aktion darzustellen; als ob es nicht der ehe-

malige Bundeswehr-Brigadegeneral Loquai gewesen
wäre, der enthüllte, dass sogar der so genannte Hufeisen-
plan eine Fälschung war. Es gab keinen nachweisbaren
Plan serbischer Militärs dieser Art.


(Paul Breuer [CDU/CSU] : Sie sind immer noch das fünfte Rad am Wagen von Milosevic!)


Aber, Herr Breuer, es gab eine generalstabsmäßige Vor-
bereitung der NATO, den Angriffskrieg in dieser Art und
Weise zu führen. Die Frage ist: Was hat Loquai bekom-
men – vielleicht das Bundesverdienstkreuz? Nein. Viel-
mehr wurde die Verlängerung seines Jobs bei der OSZE
auf Intervention von Herrn Scharping gestoppt.


(Zuruf von der SPD: Also, der Ursprung Ihrer Partei ist Ihnen wohl nicht bekannt?)


Werte Kolleginnen und Kollegen, es ist traurig, aber
wahr, dass sich der tiefe Einschnitt, den dieser Krieg für
unser Land und für die Bundeswehr darstellt, auch im Be-
richt, den wir hier diskutieren, niederschlägt und dass in
diesem Bericht die entsprechenden Passagen in den
Dienst der Politik gestellt werden und nicht mehr in den
Dienst der Neutralität, die dieses Amt verdient.

Ich schließe meine Ausführungen und sage bei allem
Respekt vor der früheren Wehrbeauftragten und vor dem
neuen Wehrbeauftragten, dass wir diese Entwicklung zu-
tiefst bedauern und hoffen, dass in Zukunft die gebotene
Neutralität des Amtes des Wehrbeauftragten wieder ernst
genommen wird.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412710800
Das Wort hat
jetzt der Herr Parlamentarische Staatssekretär Walter
Kolbow.

W
Walter Kolbow (SPD):
Rede ID: ID1412710900
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Herr Wehrbeauftragter! Zu Beginn
meiner Ausführungen möchte auch ich wie schon Herr
Bundesminister Scharping anlässlich der Parlamentsde-
batte am 6. April 2000 der inzwischen aus dem Amt ge-
schiedenen Wehrbeauftragten des Deutschen Bundesta-
ges, Frau Marienfeld, für deren stets sehr engagierte,
hilfreiche und vertrauensvolle Zusammenarbeit danken.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)


Ich freue mich auch seitens des Bundesministeriums
der Verteidigung, dass Herr Kollege Breuer wieder unter
uns ist, und hoffe, dass das auf Dauer so bleibt.


(Zurufe von der CDU/CSU: Das hoffen wir auch! – Er ist unsere Speerspitze!)


Ich will sehr deutlich machen, dass der Jahresbericht
1999 der Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages
in der Tat profunde Kenntnisse der Streitkräfte und der in
ihnen dienenden Menschen unter Beweis stellt. Dass das
auch aus unseren Stellungnahmen einigermaßen hervor-
geht, Herr Kollege Braun, haben Sie zum Ausdruck ge-




Dr. Winfried Wolf
12196


(C)



(D)



(A)



(B)


bracht, und – das wollen wir nicht verhehlen – es freut uns
selbstverständlich. Wir werden uns Mühe geben, dies
auch weiterhin so zu tun, um dann möglicherweise auch
breiteres Lob einholen zu können. Von der PDS erwarte
ich das nicht und will es auch nicht.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Jahresbericht stimmt in seinen Inhalten mit der
Bundesregierung und deren Beurteilung ausdrücklich
darin überein, dass die Menschen, die in der Bundeswehr
ihren Dienst leisten, deren größtes Kapital sind. Sie sind
gut motiviert, hervorragend ausgebildet und leisten im
Auslandseinsatz wie im Inland Außergewöhnliches. Die
hier auf der Tribüne anwesenden Soldaten dürfen dies mit
Stolz für die Kameraden zu Hause entgegennehmen und
weitergeben.

Der Jahresbericht, den wir heute miteinander debattie-
ren, stellt heraus, dass die Angehörigen der Bundeswehr
für ihren Dienst klare politische Vorgaben, den Rückhalt
sowie die Achtung der Bürgerinnen und Bürger brauchen.
Das ist heute angesichts der Veränderungen, die mit der
Erneuerung der Streitkräfte einhergehen, notwendiger
denn je. Denn die Bundesregierung hat die einschnei-
dendste Reform seit Bestehen der Bundeswehr auf den
Weg gebracht. Mit dieser Reform wollen wir moderne,
gut ausgebildete bündnis- und zukunftsfähige Streitkräfte
schaffen. Wir wollen selbstverständlich, Herr Kollege
Siebert, und wir werden den Zeitplan dieser Reformüber-
legungen einhalten und die Reform zeitgerecht umsetzen.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Welcher gilt denn jetzt?)


Die Beteiligung der Betroffenen ist sichergestellt, und Sie
dürfen auch von unverzüglichen Entscheidungen in den
Standortfragen ausgehen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Hauptsache, wir werden auch beteiligt!)


Zeitweise auftauchenden Unsicherheits- und Verunsiche-
rungskampagnen von interessierter politischer Seite
werden wir mit größter Transparenz und zeitnahester In-
formation entgegentreten, und werden sie in sich zusam-
menstürzen lassen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich an dieser Stelle sagen, dass wir in die-
sem Hause mit Vokabeln wie „menschenverachtend“,
Herr Kollege Siebert, doch sorgfältiger umgehen sollten.
In dieser Bundesregierung ist niemand menschenverach-
tend und in der Bundeswehr ist es auch niemand.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412711000
Herr Staatsse-
kretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Braun?

W
Walter Kolbow (SPD):
Rede ID: ID1412711100
Gerne.


Hildebrecht Braun (FDP):
Rede ID: ID1412711200
Herr Staats-
sekretär Kolbow, wir haben vorhin gehört, dass Frau
Wieczorek-Zeul, Ihre Kollegin in der Bundesregierung,
der Wehrbereichsverwaltung bei einem Treffen in Mainz
Zusagen gemacht hat. Hat mittlerweile die Bundeswehr
die Vorschläge der Kollegin aus dem Ministerium für
wirtschaftliche Zusammenarbeit nachvollzogen und kann
sie bestätigen, dass diese Aussage von Frau Wieczorek-
Zeul richtig war?

W
Walter Kolbow (SPD):
Rede ID: ID1412711300
Die Entscheidungen über die
Bundeswehr und die damit verbundenen Strukturvorha-
ben trifft der Bundesminister der Verteidigung nach sei-
nen Feststellungen im Verteidigungsausschuss und vor
diesem Parlament auf der Grundlage einer bereits abge-
schlossenen Grobplanung und einer daraus jetzt zu ent-
wickelnden Feinplanung. Deswegen sage ich Ihnen: Eine
solche Feinplanung ist noch nicht beendet, und damit
kann nicht verbindlich und abschließend über irgendeinen
Standort in der Bundeswehr irgendetwas gesagt werden.


(Peter Zumkley [SPD]: Sehr richtig!)

Ich will auch darauf hinweisen, dass die Erneuerung

der Bundeswehr mit einem umfangreichen Paket von
Maßnahmen einhergehen wird, das wesentlich zur Er-
höhung der Attraktivität des Dienstes in den Streit-
kräften beitragen soll und sich damit auch durchaus in
Übereinstimmung mit dem zu diskutierenden aktuellen
Bericht der Wehrbeauftragten sowie mit früheren Darle-
gungen durch ihre Vorgänger befindet. Das Vorhaben
deckt sich auch mit dem, was Herr Penner, der neue Wehr-
beauftragte, heute vorgetragen hat. Auf die Zusammen-
arbeit mit ihm freuen wir uns, sie läuft sehr gut, und zwar
– was auch für unsere Entscheidungen sehr gut ist, denn
nichts ist so gut, als dass es nicht noch besser werden
könnte – in kritischem Dialog.

So sollen die Soldatinnen und Soldaten, die bereits mit
einer beruflichen Qualifikation in die Streitkräfte kom-
men, künftig die Möglichkeit erhalten, ihre Qualifikation
während der Dienstzeit zu erweitern; das heißt, Aktuali-
sierung des Berufsförderungsdienstes, Neuordnung der
Unteroffizierslaufbahn, eine spürbare Anhebung der Ein-
gangsbesoldung – dies wird immer wieder in den Be-
richten unserer Wehrbeauftragten angesprochen – und die
Öffnung der Bundeswehr in ihrer ganzen Vielfalt für den
freiwilligen Dienst von Frauen.

Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie einen Punkt ange-
sprochen haben, über den nicht einfach zu entscheiden
sein wird, nämlich die Teilzeitarbeit.Wir sind in diesem
Bereich zu einem Dialog bereit, wenn es darum geht, Ge-
setze, die allgemein für Frauen geschaffen wurden, für
Frauen in den Streitkräften anwendbar zu machen. Wir
werden im Zusammenhang mit den Frauen, die zuneh-
mend in die Streitkräfte kommen werden, durchaus ein
Spannungsfeld zu lösen haben. Ich denke aber, wir wer-
den das in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Bundes-
tag schaffen können.

Es ist von verschiedenen Rednern in dieser Debatte
sehr nachdrücklich darauf hingewiesen worden, dass die




Parl. StaatssekretärWalter Kolbow

12197


(C)



(D)



(A)



(B)


Stehzeit von sechs Monaten für Auslandskontingente
die Bundeswehr beschwert. Wir betreiben die Umgliede-
rung der Streitkräfte – das wissen Sie – von der Verteidi-
gungsarmee zu einer Einsatzarmee unter der Personalvor-
gabe von ungefähr 150 000 Soldatinnen und Soldaten
auch deshalb, um vom Anspruch her einen Zeitraum von
zwei Jahren „auslandsfreier“ Zeit sicherstellen zu können.
Wir sind guter Hoffnung, dass wir auch in diesem Zu-
sammenhang genug intelligente Lösungen anbieten kön-
nen, die einen solchen Zeitrahmen auch für den unzwei-
felhaft nicht einfachen Bereich von Spezialisten in
unseren Streitkräften sicherstellen.


(Beifall bei der SPD)

Ich darf Ihnen sagen, dass bis zur endgültigen Verab-

schiedung der Reform Gerüchte, falsche Meldungen und
Arbeitsergebnisse, die es wert sind, diskutiert zu werden,
aber auch solche, die man nicht zu diskutieren braucht,
immer wieder das Licht der interessierten Öffentlichkeit
erblicken werden. Der Bundesverteidigungsminister hat
sofort erklärt, dass Wehrdienstausnahmen für verhei-
ratete Wehrpflichtige nicht geeignet sind, die Wehrge-
rechtigkeit herzustellen, und hat damit aufkommende
Gerüchte rasch beseitigt. Wir werden Ihnen ein Konzept
vorschlagen und Sie im Verteidigungsausschuss zur Dis-
kussion darüber einladen, mit welchen Maßnahmen die
Wehrgerechtigkeit im Zusammenhang mit einer Dienst-
gerechtigkeit aufrechterhalten werden kann. Dies muss
auch im Hinblick auf eine Akzeptanz der Wehrpflicht ge-
sehen werden.

Das Amt des Wehrbeauftragten trägt maßgeblich dazu
bei, den Geist der Demokratie und der demokratischen
Kontrolle in den Streitkräften erlebbar zu machen. Gerade
für die jungen Grundwehrdienst leistenden Soldaten ist es
unverzichtbar, zu erfahren, dass die Demokratie nicht am
Kasernentor endet, sondern Bestandteil unserer Wehrver-
fassung ist. Nur wer Demokratie im Alltag erlebt, wird die
Bereitschaft mitbringen, diese auch für andere zu schüt-
zen und im Rahmen des erweiterten Aufgabenspektrums
der Bundeswehr dem Wohle und dem Schutz bedrohter
Menschen zu dienen.

Ich unterstreiche deutlich das, was der Wehrbeauf-
tragte gesagt hat: Das Leitbild des Staatsbürgers in Uni-
form und die Prinzipien der inneren Führung werden es
uns nach wie vor ermöglichen, die vorhandenen Mängel
in den Streitkräften, die immer wieder aufgezeigt werden
müssen, so klein wie nur irgendwie möglich zu halten und
insbesondere das Menschenbild unserer Streitkräfte so zu
erhalten, wie es seit Gründung der Bundeswehr bestanden
hat, nämlich ein demokratisch geprägtes Menschenbild
mit dem Respekt voreinander und mit Verantwortung für-
einander, auch in einer Armee im Auslandseinsatz.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412711400
Zu einer Kurz-
intervention erhält die Kollegin Angelika Beer das Wort.


Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412711500

Danke, Frau Präsidentin.

Es ist sehr positiv zu bewerten, dass das Parlament, das
sonst sehr strittig über Verteidigungsangelegenheiten
diskutiert, heute über den Bericht der Wehrbeauftragten
so sachlich debattiert, was selten genug geschieht. Weil
Si
Walter Kolbow (SPD):
Rede ID: ID1412711600
Ich hatte den neuen Wehrbeauftrag-
ten, Herrn Penner, so verstanden, dass es keineswegs da-
rum geht – ich glaube, hier gibt es ein Missverständnis –,
die Stehzeit generell auf vier Monate zu reduzieren. Die
Erfahrungen – das kann ich aufgrund meiner Eindrücke,
die ich bei Gesprächen mit Soldaten, die in Bosnien und
im Kosovo eingesetzt waren, gesammelt habe, nur unter-
stützen – legen eher eine Flexibilisierung der jetzigen Re-
gelungen nahe:

Erstens. Es kann für die Soldaten sinnvoll sein, ihren
Urlaub splitten zu können; denn gerade für junge Ehe-
paare bzw. Beziehungen ist es schwierig, sechs Monate
voneinander getrennt zu leben.

Zweitens. Auch der Rücktransport und kommerzielle
Urlaubsflüge aus den Einsatzgebieten müssen un-
konventioneller gehandhabt werden, damit Flexibilität
gewährleistet wird.

Drittens. Mein Eindruck ist, dass man bei den sechs
Monaten aufpassen muss, welche Bereiche sich für
flexible Regelungen eignen. Es gibt durchaus Einsatzge-
biete, in denen nach vier Monaten ein Wechsel vorge-
nommen werden kann. Aber es kann aufgrund der Erfah-
rungen vor Ort auch sinnvoll sein, wenn Führungskräfte
die Bereitschaft mitbringen, länger als sechs Monate
Dienst im Einsatzgebiet zu tun.

Trotz aller Flexibilisierung sollte die Zusage des Ver-
teidigungsministers, dass zwei Jahre zwischen jedem
Auslandseinsatz liegen werden, eingehalten werden.
Wenn darüber Konsens besteht, bin ich froh. Ich hatte ge-
rade den Eindruck, dass die Opposition das missverstan-
den hatte. Es kann, wie gesagt, nicht das Ziel sein, die Ein-
satzdauer wieder auf vier Monate zu reduzieren. Das
würde auch nicht dem Bedarf der Truppe entsprechen.
Aber wir sollten uns weiter für eine Flexibilisierung der
Regelungen, die für die sechs Monate dauernden Einsätze
gelten, einsetzen.

Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412711700
Als Nächster er-
hält in der Debatte das Wort der Kollege Hans Raidel.


Hans Raidel (CSU):
Rede ID: ID1412711800
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Dieser Bericht 1999
gibt auch mir die Gelegenheit, unserer Wehrbeauftragten
Frau Marienfeld noch einmal herzlich für ihre Arbeit zu
danken. Und ich darf die Gelegenheit nehmen, dem neuen
Wehrbeauftragten Herrn Penner viel Glück und Erfolg bei




Parl. StaatssekretärWalter Kolbow
12198


(C)



(D)



(A)



(B)


seiner Arbeit für die Bundeswehr und damit für uns alle
zu wünschen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist hier von verschiedener Seite die Frage des
Rechtsextremismus in der Bundeswehr angesprochen
worden. Auch im Bericht ist dazu eine Stellungnahme ab-
gegeben worden. Meine Damen und Herren, das ist ein
Thema, das die Gesellschaft gerade in diesen Tagen
berührt, aber ich möchte doch darauf hinweisen, dass zu
Zeiten unserer Koalition durch Minister Rühe die not-
wendigen Maßnahmen konsequent und angemessen an-
gesetzt und durchgeführt worden sind


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist das!)

und dass der Verteidigungsausschuss gerade unter der
Führung des Vorsitzenden Kurt Rossmanith dieses Thema
in einer sehr guten Art und Weise aufgezeigt und bewäl-
tigt hat. Auf den Grundlagen, die damals geschaffen wor-
den sind, kann die heutige Regierung, kann der heutige
Ausschuss aufbauen und dieses Thema auch entsprechend
gut bewältigen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich glaube, das sollte für die heutige Arbeit auch einmal
klar anerkennend gesagt werden. Sie hatten damals diesen
Ausschuss aus ganz anderen Überlegungen eingesetzt,


(Peter Zumkley [SPD]: Nein, nein!)

sodass ich glaube, dass wir mit dem, was ich eben darge-
stellt habe, dieses Thema richtig angegangen sind.

In der Bewertung, dass wir alle gemeinsam, meine Da-
men und Herren, gegen Gewalt, gegen Rassismus, gegen
Fremdenfeindlichkeit in der Gesellschaft vorgehen müs-
sen, sind wir uns einig.


(Zuruf von der SPD: Jawohl!)

Wie schwierig das im Einzelfall sein kann, zeigt die not-
wendige Debatte über ein NPD-Verbot in diesen Tagen.

Alle diejenigen, die es mit der Bundeswehr gut meinen,
müssen hier an einem Strang ziehen. Ich teile auch die
Auffassung des Herrn Staatssekretärs, dass man sich mit
manchen Äußerungen überhaupt nicht erst auseinander
setzen sollte, weil sie wirklich am Thema vorbeigehen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Be-
richt 1999 befasst sich in gewohnt sorgfältiger Weise mit
dem gesamten Innenleben der Bundeswehr. Mängel wer-
den aufgedeckt, Hinweise zur Beseitigung gegeben. Es
wird aber auch positiv bescheinigt, dass sich im Bereich
der Fürsorge vieles getan hat.

Wir müssen ja die Unterschiede zwischen der früheren
Bundeswehr und der Bundeswehr im Bereich der neuen
Einsätze feststellen. Hier war völlig neues Denken, völlig
neues Überlegen gefordert, seitens des Ministeriums, aber
insbesondere in der fürsorglichen Begleitung durch uns,
durch das Parlament. Dabei sind wir schrittweise zu ei-
nem Standard gekommen, der allseits gelobt wird.

Wenn der Ausschuss nächste Woche wieder im Kosovo
sein und das Gespräch mit den beteiligten Soldaten führen

wird, bin ich überzeugt, dass die Grundtendenz stimmt.
Selbstverständlich gibt es viele Einzelfragen, Einzelfälle,
die bedacht werden müssen, wo Familienschicksale an-
ders bewertet werden müssen als 08/15.

Ich fordere auch hier ein, dass zum Beispiel im Bereich
der inneren Führung nicht diese Verbürokratisierung
fortschreitet, wie wir sie bei Einzelfällen beobachten müs-
sen. Das ist ein Hauptargument, warum hier und da Un-
zufriedenheit vorhanden ist, sodass es überhaupt zu Be-
schwerden bei der Wehrbeauftragten – früher – und beim
Wehrbeauftragten – jetzt – kommen kann.

Wenn nämlich die Vorgesetzten oder diejenigen, die
sich mit den persönlichen Fällen auseinander zu setzen
haben, den Menschen etwas mehr im Mittelpunkt sehen
würden und nicht nur die Vorschrift, wenn sie sich ver-
nünftig zusammensetzen würden,


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Mit zur Verantwortung!)


um im Einzelfall das Problem lösen zu können, wäre das
besser, als wenn jedes Mal auf die Vorschrift X verwiesen
würde. Immer dann, wenn dem Vorgesetzten die Argu-
mente ausgehen – das habe ich beim Nachprüfen oft er-
fahren –, wird auf den Dienstrang gezeigt, also quasi der
Ober sticht den Unter.

Ich habe nichts gegen das Prinzip Befehl und Gehor-
sam, das muss sein, das gehört dazu, aber es kommt auf
die Ausformung und darauf an, wie man innerhalb der
Truppe, innerhalb der Aufgabenerledigung miteinander
umgeht. Ich glaube, dass ich in diesem Zusammenhang
keine Einzelfälle anführen muss, obwohl ich das tun
könnte.

Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, dass die innere
Führung im Lichte der neuen Aufgaben, im Lichte der
neuen Organisation weiter entwickelt werden muss. Das
ist ein Hauptpunkt unserer Thematik insgesamt. Das ist
eine Hauptforderung, die wir als CDU/CSU immer schon
begleitend mit eingebracht haben. Ich bitte Sie, das neue
Konzept der inneren Führung möglichst schnell zur Dis-
kussion vorzulegen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Wehrbeauftragter, Sie haben das Thema Wehr-

pflicht beleuchtet. Sie haben von verschiedenen Spektren
gesprochen. Es muss möglich sein, an das eine zu denken
und das andere zu bedenken. Aber wir sollten uns doch ei-
nig darüber sein, dass die Wehrpflicht ein entscheidender
Bestandteil unserer Bundeswehr, ein entscheidender Be-
standteil unserer Landes- und Bündnisverteidigung ist
und dies auch bleibt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Deswegen habe ich die große Bitte, dass wir in einen
Wettbewerb der Ideen eintreten, dass transparent gemacht
wird, was für das Land und für das Bündnis gut ist und
welche Wehrform die geeigneteste ist, um die Aufga-
benerfüllung gewährleisten zu können. Schablonenhaftes
Denken in diesem Bereich muss passé sein. In einer mo-
dernen Struktur muss zuerst die Begründung erfolgen,




Hans Raidel

12199


(C)



(D)



(A)



(B)


warum wir junge Menschen zu dieser Pflichtaufgabe
heranziehen. Man kann nicht einfach sagen, so ist es und
so bleibt es. Insoweit will ich Ihnen gerne folgen. Ich will
Ihnen aber nicht folgen, wenn die Konsequenz Ihrer Aus-
sage gewesen sein sollte, dass die Wehrpflicht abgeschafft
werden soll. Ich begrüße ausdrücklich Flexibilität. Dass
das aber als Einstieg in den Ausstieg gewertet wird, das
kann nicht der Sinn und der Zweck sein. Ich möchte eine
Debatte über die Bewertung. Zum Schluss können wir die
notwendige Konsequenz daraus ziehen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, insgesamt
glaube ich, dass wir viel zu wenig in der Öffentlichkeit
und mit der Öffentlichkeit über Sicherheitsfragen, über
die Bundeswehr diskutieren. Das ist das große Manko,
das große Defizit. Das möchte ich der Regierung mit auf
den Weg geben. Wenn ich Sie, Herr Staatssekretär, richtig
verstanden habe, so haben Sie in einem Nebensatz gesagt,
Sie laden uns zu Debatten ein. Warum haben Sie das dann
in verschiedenen Bereichen bisher nicht forciert und in
der Öffentlichkeit über die Bundeswehr gesprochen?
Manche Missverständnisse wären dann aufgelöst worden.
Manches könnte dann gemeinsam in die richtige Richtung
gebracht werden. Ich will umgekehrt davon ausgehen und
Sie zu einem Wettbewerb der guten Ideen für eine gute
Bundeswehr einladen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412711900
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ulrike Merten.


Ulrike Merten (SPD):
Rede ID: ID1412712000
Frau Präsidentin! Verehrte Kol-
leginnen und Kollegen! Herr Kollege Siebert, ich will
mich zunächst an Sie wenden. Es steht mir eigentlich
nicht zu, über Aufbau und Inhalt Ihrer Rede zu urteilen.
Ich muss aber deutlich sagen, dass Sie heute das Thema
verfehlt haben.


(Beifall bei der SPD)

Eines möchte ich noch anfügen. Den Vorwurf, der
Bundesverteidigungsminister fördere die Entwicklung
der Bundeswehr hin zu einer Regierungsarmee und weg
von einer Parlamentsarmee, finde ich ungeheuerlich.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zu
Beginn meiner Ausführungen noch einmal der Frau Wehr-
beauftragten und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
für ihren Bericht danken.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das haben wir doch nun schon alles gemacht!)


Dieser Bericht, der 1999 entstanden ist, ging noch da-
von aus, dass Frauen, die in der Bundeswehr Dienst tun
wollten, auf den Sanitäts- und Militärmusikdienst be-
schränkt waren. Dies ist inzwischen durch das Urteil des
Europäischen Gerichtshofes korrigiert worden. Jetzt sol-
len alle Laufbahnen in der Bundeswehr für Frauen geöff-
net werden; die entsprechenden Änderungen des Solda-
tengesetzes stehen an.

Die ersten Bewerberinnen haben sich in den vergange-
nen Monaten den notwendigen Tests unterzogen. Auch
wenn ein Riesenansturm, wie nicht anders zu erwarten,
ausgeblieben ist, dürfen wir doch davon ausgehen, dass
das Bild und damit der Alltag der Bundeswehr stärker als
bisher von Frauen geprägt sein wird.

Der 99er-Bericht beschreibt sehr eindrucksvoll die Pro-
bleme von Soldatinnen im Truppenalltag. Auch wenn es
sich um einzelne und Gott sei Dank nicht um generelle Er-
scheinungsformen handelt, tun wir im Hinblick auf die in
Zukunft wachsende Zahl von Frauen bei der Bundes-
wehr gut daran, schon jetzt sehr genau hinzusehen.

Lassen Sie mich einige Beispiele nennen: Einzelne
Soldatinnen haben sich über ungerechte und schikanöse
Behandlung, verbale Erniedrigungen sowie verschiedene
Formen sexueller Belästigung beklagt. So drang ein
Hauptfeldwebel sowohl in den abgetrennten Wohnbe-
reich von Unteroffizierinnen als auch in den Duschbe-
reich des Sanitätstrakts ein. Sein Verhalten ahndete das
Truppengericht mit einer empfindlichen Disziplinarmaß-
nahme. Ich finde, derartiges Fehlverhalten muss durch die
im Soldatengesetz geregelte Pflicht zur Kameradschaft
mit dienstrechtlichen Sanktionen bestraft werden.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Da kann ich der Wehrbeauftragten nur voll und ganz zu-
stimmen. Es darf unter keinen Umständen der Eindruck
entstehen, derartige Dinge würden unter den Teppich ge-
kehrt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Paul Breuer [CDU/CSU])


Liebe Kolleginnen und Kollegen, es stimmt zuver-
sichtlich, im Bericht zu lesen, dass die jungen Frauen in-
zwischen in der Regel so selbstbewusst sind, dass sie in
problematischen Situationen ihren männlichen Kollegen
angemessen und mit der nötigen Deutlichkeit begegnen.
Dass sie sich gegebenenfalls zusätzlich an ihre Vorgesetz-
ten und Kameraden wenden, hat nichts mit Hilflosigkeit
zu tun. Es ist vielmehr konsequent und zeugt von Zivil-
courage, Fehlverhalten, gleich um welches es geht, öf-
fentlich zu machen.

In anderen Fällen geht es nicht um besonders rüdes
bzw. schikanöses Verhalten, über das die Frauen zu kla-
gen hatten, sondern mehr um ihre Sorge, von ihren Vor-
gesetzten besonders fürsorglich und zuvorkommend be-
handelt zu werden. Machten diese Beispiele Schule,
würde das nicht dazu beitragen, die Akzeptanz bei ihren
männlichen Kollegen zu steigern. Die Kehrseite der Me-
daille zu den von der Frau Wehrbeauftragten geschilder-
ten Entgleisungen scheint nämlich zu sein, dass manche
männliche Vorgesetzte den unverkrampften Umgang mit
weiblichen Soldaten scheuen. Ganz offensichtlich haben
sie Sorge, als frauenfeindlich zu gelten.

Der Bericht weist noch einmal darauf hin – das ist mir
in vielen Gesprächen immer wieder gesagt worden –, dass
Frauen in der Bundeswehr Teilzeitarbeit wünschen. Ich
stimme der Wehrbeauftragten zu, wenn sie sagt, der
Dienst in der Bundeswehr unterscheide sich von Tätig-




Hans Raidel
12200


(C)



(D)



(A)



(B)


keiten in Zivilberufen; Teilzeitarbeit, die gleichberechtigt
auch männlichen Soldaten zugestanden werden müsste,
sei für die Truppe nicht ohne weiteres umsetzbar. Die
Wehrbeauftragte spricht sogar von Unannehmbarkeit.


(Beifall bei der SPD)

Darauf sollten wir die jungen Frauen deutlich hinwei-

sen. Ich wundere mich schon sehr, dass nun der Bundes-
wehrverband zur Speerspitze der Bewegung wird und
ausgerechnet in den Streitkräften das Prinzip der Verein-
barkeit von Beruf und Familie verwirklichen will.


(Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Was heißt „ausgerechnet“? Das ist ein Prinzip, das quer durch Staat und Gesellschaft geht!)


– Ausgerechnet in den Streitkräften.
Aber zurück zum Problem. Die jungen Frauen müssen

sich auch unter dem Aspekt, Familie und Beruf vereinba-
ren zu wollen, gut überlegen, ob die Streitkräfte wirklich
der richtige Arbeitsplatz für sie sind. Das hat nichts damit
zu tun, dass wir den Frauen nicht hinreichend Mut machen
wollen. Das hat etwas mit Verantwortlichkeit zu tun. Wir
müssen ihnen die Möglichkeit geben, sich das vorher sehr
genau zu überlegen. Sie müssen wissen, dass die Erhal-
tung der Einsatzfähigkeit maßgeblich für die Gestaltung
des Dienstes bleiben muss.


(Beifall bei der SPD)

Lassen Sie mich zum Abschluss noch eine Bemerkung

zur Änderung des Grundgesetzes machen. Ich glaube, es
entspricht dem Respekt gegenüber unserer Verfassung,
wenn wir jetzt zur Öffnung der Bundeswehr für Frauen
eine entsprechende Klarstellung im Grundgesetz vorneh-
men und damit eine eindeutige verfassungsrechtliche
Grundlage schaffen.

Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412712100
Als Letzter in
der Debatte hat der Abgeordnete Robert Leidinger das
Wort.


Robert Leidinger (SPD):
Rede ID: ID1412712200
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Wehrbeauftragter, wir
haben mit großer Aufmerksamkeit gehört, was Sie gesagt
haben. Sie haben viele Punkte angesprochen, die seit lan-
gem im Argen liegen, Stichwort: Bekleidung, Betreuung,
Heimflüge und Sanitätsversorgung. Wir wissen das. Wir
werden das in der richtigen Weise mit Ihnen, mit Ihrem
Hause, aber natürlich auch parlamentarisch beraten. Die
Bekleidung ist ein Problem, das die deutsche Armee – –


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412712300
Herr Kollege,
darf ich Sie einen kleinen Moment unterbrechen. Ich je-
denfalls kann Sie kaum verstehen. Ich bitte die Technik,
das Mikrofon etwas lauter zu stellen. Und Sie müssen
mehr zum Saal gewandt sprechen, auch wenn Sie mit dem
Wehrbeauftragten reden wollen; dann sind Sie besser zu
verstehen.


Robert Leidinger (SPD):
Rede ID: ID1412712400
Ich habe mich zu dem
Wehrbeauftragten umgedreht. – Ich bedanke mich, Frau
Präsidentin.

Zu dem Kollegen Siebert möchte ich jetzt keine Be-
merkung machen; da sind schon einige Worte gesagt wor-
den und das muss ausreichen.

Aber lassen Sie mich bitte eine Frage stellen: Trotz
Friede, Freude, Eierkuchen möchte ich einmal wissen,
warum immer wir Sozialdemokraten diejenigen sein müs-
sen, die die Schutthaufen von Reformstaus der Politik
der Konservativen wegräumen müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


– Da brauchen Sie gar nicht zu lachen! Das war schon
1969 so. Damals mussten Helmut Schmidt, Schorsch
Leber und Hans Apel nach einer langen Regierungszeit
der Konservativen die gleiche Arbeit machen, die heute
Rudolf Scharping machen muss.


(Beifall bei der SPD)

Wir stellen uns dieser Aufgabe gern; allerdings möchte

ich nicht immer wieder Ihr Gejammere hören. Wir können
uns parlamentarisch über alles unterhalten; aber man kann
doch nicht so herumjammern, wenn man 16 Jahre Regie-
rungszeit hinter sich hat


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wir jammern doch nicht!)


und einen Haufen Arbeit nicht erledigt hat. Da frage ich
Sie, Kollege Breuer, oder Ihre Kolleginnen und Kollegen:
Warum haben Sie die Dinge, die Sie heute beklagen, da-
mals nicht gemacht?


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Ein Taschentuch für den Redner, bitte!)


Ich erinnere mich sehr gut an die Debatte heute vor
14 Tagen in diesem Hause. Da ging es um die Zukunft der
Bundeswehr. Auch unser Kollege Herr Polenz hat damals
zu diesem Thema gesprochen. Die Rede war ein Armuts-
zeugnis; im Hinblick auf die Zukunftsfragen – Fehlan-
zeige. Die Opposition hat die Chance vertan, nach einer
Orientierungspause dazu ein Wort zu sagen.

Sie reden immer davon, dass Sie mit dieser Union den
Konsens in Bezug auf die Streitkräfte fortsetzen und un-
terstützen wollen. Sie sagen das dem Minister und Sie
sagen das bei allen möglichen Gelegenheiten. Aber Sie
tun nichts. Ich glaube, das Parlament muss jetzt seine
Hausaufgaben machen, auch die Hausaufgaben, die Sie
nicht erledigt haben. Wenn wir dabei zusammenarbeiten
können, freue ich mich sehr darüber; dann möchte auch
ich einen Beitrag dazu leisten. Aber das Gejammere sollte
man lassen.

Unsere Armee ist weder eine Scharping-Armee, noch
war sie eine Rühe-Armee. Deshalb ist der Vorwurf, es
gehe um eine Regierungsarmee, den wir hier immer wie-
der hören, falsch. Es ist eine Parlamentsarmee und wir,




Ulrike Merten

12201


(C)



(D)



(A)



(B)


Sozialdemokraten und alle anderen in diesem Hause, wer-
den sorgfältig darauf achten, dass keine Worte in die
falsche Kehle kommen können.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es ist ganz klar, dass hinsichtlich der Auslandsein-
sätze einige Dinge zu regeln sind. Wir wissen auch, dass
Unsicherheiten zu beseitigen sind. Ebenso wollen wir zu-
sätzliche Belastungen vermindern. Wir tun das in einem
ständigen Prozess. Dazu brauchen wir die Unterstützung
des gesamten Parlaments. Auch der Wehrbeauftragte wird
seinen Beitrag leisten. Seine Berichte geben Beispiele
dafür, dass Soldaten in diesem schwierigen neuen Umfeld
ihre Sorgen haben. Wir nehmen diese Sorgen nicht nur
ernst, sondern wir greifen sie auch auf. Wir werden sie
parlamentarisch in der Sache angehen und damit Stück für
Stück Vertrauen und Sicherheit schaffen, auch hinsicht-
lich der schwierigen Aufgaben heute und in der Zukunft.

Ich möchte noch ein Wort zur Tradition und zu dem
Gefühl sagen, das viele Soldaten haben. Ich war selber
lange Zeit Soldat, ich habe viele Tausend Soldaten geführt
und ausgebildet und ich habe immer empfunden, dass sie
sich in ihrer Rolle als Staatsbürger in Uniform wohl-
fühlen, dass sie mit vollem Herzen dabei sind, dass sie
ihre Rolle nicht nur verinnerlicht haben, sondern auch in
ihrer praktischen Arbeit umsetzen. Deswegen bin ich auch
ein so großer Anhänger der Wehrpflichtarmee. Wir ha-
ben mit dieser Form unserer Armee als Wehrpflichtarmee
einen Beitrag geleistet, der beispielhaft ist. Es gibt keine
Berufsarmee, die irgendwo besser sein könnte oder besser
wäre als die Bundeswehr.

Deswegen lassen Sie uns diesen Begriff fortschreiben.
Lassen Sie uns die Bundeswehr zukunftsorientiert gestal-
ten und lassen Sie uns das aufnehmen, was die jungen
Menschen in die Armee hineintragen: ihren Zukunftswil-
len, ihren Optimismus, ihre Leistungsbereitschaft, ihre
persönliche Initiative und auch ihre Hingabe, ihren Wil-
len, einen Beitrag für diese Gesellschaft in unseren Streit-
kräften zu leisten. Der Bürger in Uniform und der Bürger
in der Gesellschaft sind ein und dasselbe.

Diese Armee ist gut,

(Zuruf von der SPD: Jawohl!)


diese Armee ist belastbar.

(Zuruf von der SPD: Jawohl!)


Ich füge auch hinzu: Sie will belastet werden und sie kann
belastet werden. Wir werden ihr den Respekt und die An-
erkennung, die sie verdient, nicht verweigern. Wir werden
sie auch fordern. Wir werden sie aber vor allem so aus-
statten, dass sie ihre schwierigen Aufgaben nach innen
und außen erfüllen kann.

Zum Schluss möchte ich den Dank an die frühere
Wehrbeauftragte, der schon ausgesprochen worden ist,
wiederholen, aber auch dem neuen Wehrbeauftragten
noch einmal sagen: Wir freuen uns auf die Zusammenar-
beit mit Ihnen, wir freuen uns auf Ihre Beiträge; wir wis-
sen, dass die Soldaten bei Ihnen gut aufgehoben sind. Wir
freuen uns auf den konstruktiven Dialog. In diesem Sinne
eine gute Zusammenarbeit!

Danke sehr.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412712500
Ich schließe da-
mit die Aussprache. Wir kommen jetzt zu der Beschluss-
empfehlung des Verteidigungsausschusses zu dem Jah-
resbericht 1999 der Wehrbeauftragten; das sind die
Drucksachen 14/2900 und 14/4204. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gibt es Gegenstimmen oder
Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Die Beschluss-
empfehlung ist damit mit den Stimmen des ganzen Hau-
ses angenommen worden.

Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Adam, Ilse Aigner, Peter Altmaier, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Verfassungsklage der Bundesregierung gegen
das Land Nordrhein-Westfalen wegen der Ver-
letzung seiner verfassungmäßigen Pflichten ge-
genüber dem Bund im Verfahren zur Aufhe-
bung der Immunität des Abgeordneten Ronald
Pofalla
– Drucksache 14/4244 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Eckart von Klaeden.


Eckart von Klaeden (CDU):
Rede ID: ID1412712600
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren Kollegen! Wir sprechen heute
über einen in der jüngeren deutschen Parlamentsge-
schichte einmaligen Skandal: die widerrechtliche und die
verfassungswidrige Aufhebung der Immunität unseres
Kollegen Ronald Pofalla. Dieser Vorgang ist seit der Festi-
gung des Immunitätsrechts in den letzten Jahrzehnten ein-
malig; denn zum ersten Mal ist ein Abgeordneter des
Deutschen Bundestages mit einer falschen Tatsachendar-
stellung um seine Immunität gebracht worden. Dieser
Vorgang ist einzigartig in der Parlamentsgeschichte der
Bundesrepublik Deutschland. Nicht die in unserem An-
trag festgestellten Schlussfolgerungen sind ungeheuer-
lich, sondern der Vorgang selber ist ungeheuerlich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es ist schon ein Justizskandal, wenn man einmal liest,

wie das strafprozessuale Verfahren sein Ende gefunden
hat durch die Anträge des Kollegen Pofalla gegen die
Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse, zu de-
nen das Landgericht Kleve in seinem Beschluss vom
11. August 2000 mit 31-seitiger ausführlicher Begrün-
dung unter anderem feststellt:

Die von der Staatsanwaltschaft vorgelegten
Ermittlungsergebnisse rechtfertigten keine Durchsu-
chungs- oder Beschlagnahmeanordnungen. ... Ein ...
Tatverdacht lag nicht vor. ... Diese Berechnung der
Staatsanwaltschaft beruht auf Annahmen, die ...




Robert Leidinger
12202


(C)



(D)



(A)



(B)


nicht ... belegt sind, sodass es sich um vage Vermu-
tungen handelt, die teilweise auf unzutreffende
Schlussfolgerungen beruhen. ... Die Beschlüsse wa-
ren daher … in diesem Punkte angesichts der fehlen-
den Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen rechtswid-
rig.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Dieser Beschluss alleine ist, was das Strafverfahren an-
geht, eine schallende Ohrfeige für die Justiz in Nordrhein-
Westfalen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Aber die Angelegenheit hat noch eine andere Dimen-

sion, über die wir heute sprechen müssen. Mit dem Ver-
fahren ist nämlich das Immunitätsrecht des Deutschen
Bundestages – nicht nur das eines Abgeordneten – grob
verletzt worden.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Schändlich missbraucht!)


Welche Funktion hat das Immunitätsrecht? Das Immu-
nitätsrecht soll das Parlament vor der tendenziösen oder
willkürlichen Strafverfolgung seiner Mitglieder schützen.
Es soll also die Funktionsfähigkeit des Parlament schüt-
zen.


(Detlev von Larcher [SPD]: Nur das!)

– Deswegen, Herr Kollege von Larcher, klagen wir und
wollen die Rechte des Bundestages geltend gemacht se-
hen. Wir treten nicht einem Organstreitverfahren bei oder
leiten es ein. Wir beantragen aus genau diesen Gründen
die Eröffnung des Bund-Länder-Verfahrens vor dem Ver-
fassungsgericht. Das Immunitätsrecht soll die Funktions-
fähigkeit des Parlaments schützen. Es wird aber in sein
Gegenteil verkehrt, wenn sich nicht das gesamte Parla-
ment angesichts einer solch groben Verletzung gemein-
sam wehrt.

Gab es einen Grund dafür, den Kollegen Pofalla einer
– vielleicht tendenziösen – Strafverfolgung auszusetzen?
Er hat sich im Auftrag der Unionsfraktion bei der Klärung
der so genannten Hausbauaffäre des ehemaligen Staats-
ministers Bodo Hombach engagiert. Er befasste sich mit
den Ungereimtheiten bei Hombachs Tätigkeit als SPD-
Landesgeschäftsführer in Nordrhein-Westfalen. Es kam
zu einer Kleinen Anfrage und zur Befragung des Bundes-
kanzlers durch den Kollegen Pofalla in einer für den Bun-
deskanzler außerordentlich unangenehmen Weise. Sie
können natürlich sagen, diese Untersuchung habe keine
Ergebnisse gebracht. Aber schließlich hat sie dazu ge-
führt, dass der Bundeskanzler seinen – so seine
eigenen Worte – „besten Mann“ auf den Balkan befördert
hat.

Lassen Sie uns auf das Immunitätsverfahren zu spre-
chen kommen. Selbstverständlich ist der Bundestag in
Fällen von Immunitätsaufhebungen von einer angemesse-
nen Kooperation mit denjenigen Einrichtungen abhängig,
die für die Rechtspflege zuständig sind. Das sind vor al-
lem Einrichtungen der Länder wie die Staatsanwaltschaf-
ten und die Gerichte.

Damit der Bundestag interessengerecht die Genehmi-
gung einer Immunitätsaufhebung nach Art. 46 des Grund-
gesetzes beschließen kann, muss sich sowohl der Bun-
destag als auch die betroffene Fraktion darauf verlassen
können, dass die zuständigen Behörden und Gerichte die
Wertungen des Grundgesetzes respektieren und durch
sachgemäße Vorarbeit und Anträge dazu beitragen, dass
der Bundestag sein Recht wahrnehmen und seine Pflicht
gegenüber den Abgeordneten und den parlamentarischen
Gliederungen erfüllen kann. Es besteht die verfassungs-
rechtlich niedergelegte Erwartung einer Kooperation zwi-
schen den Ländern und dem Bund.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Richtig!)


Dieses Kooperationsverhältnis wird zusätzlich verstärkt
durch die in unserer Verfassung angelegte Pflicht der Län-
der zu rechtmäßigem Handeln und zu vertrauensvoller
Zusammenarbeit mit den Organen des Bundes.

Aus beiden resultiert eine besondere Sorgfaltspflicht
der Länder bei der Antragstellung zur Aufhebung der Im-
munität eines Mitgliedes des Deutschen Bundestages.
Dies muss so sein, weil geschäftsordnungsmäßig allein
auf der Grundlage der Anträge der Strafverfolgungs-
behörden entschieden wird. Das ist auch richtig so; denn
nach dem Prinzip der Gewaltenteilung und gemäß unse-
rer Geschäftsordnung treten wir weder im Ausschuss
noch im Plenum in eine eigene Beweiswürdigung oder
gar in eine eigene Ermittlungstätigkeit ein. Das wäre auch
gar nicht zu leisten. Sollen wir etwa eine eigene Ermitt-
lungsbehörde für eine eventuell notwendige Ermittlungs-
arbeit in Berlin vorhalten? Soll sich der Bundestag rich-
terliche Gewalt anmaßen? Sollen wir das Prinzip der
Gewaltenteilung sowohl in horizontaler als auch in verti-
kaler Hinsicht durchbrechen? Nein, um all das zu vermei-
den, sind wir auf die vertrauensvolle Zusammenarbeit und
die Einhaltung der rechtsstaatlichen Maßstäbe durch die
Länder angewiesen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Was sich in Nordrhein-Westfalen ereignet hat, darf sich

nicht wiederholen, weder in Nordrhein-Westfalen noch in
einem anderen Bundesland. Es könnte jeden von uns tref-
fen. Deshalb hat der Bundestag die Pflicht, alles zu unter-
nehmen, um einem solchen Rechtsmissbrauch für die Zu-
kunft einen Riegel vorzuschieben. Wir brauchen die
verfassungsgerichtliche Festlegung der Sorgfaltspflichten
der Länder im Immunitätsverfahren. Das kann nur in ei-
nem Bund-Länder-Streit überprüft werden.

Für ein solches Verfahren ist nach dem Wortlaut des
Bundesverfassungsgerichtsgesetzes allein die Bundesre-
gierung antragsberechtigt. Dazu soll sie mit unserem An-
trag aufgefordert werden. Diese Exklusivität der alleini-
gen Antragsberechtigung der Bundesregierung beruht
wohl auf dem irrtümlichen Eindruck der Grundgesetz-
autoren bzw. der Gesetzgebung im Rahmen des Bundes-
verfassungsgerichtsgesetzes, es handle sich beim Bund-
Länder-Streit immer nur um einen Streit auf dem Gebiet
der Exekutive. Das Immunitätsrecht und unser Fall sind
aber der beste Beweis dafür, dass dem nicht so ist.

Wenn man es nun dabei belässt, dass nur die Bundes-
regierung für den Bund das Verfahren einleiten kann,
dann ist sie jedenfalls in ihrer Disposition nicht frei, das




Eckart von Klaeden

12203


(C)



(D)



(A)



(B)


Verfahren zu unterlassen, wenn sie als Rechte des Bundes
Rechte anderer Verfassungsorgane oder -organteile gel-
tend machen muss. Sie hat eine treuhänderische Pflicht,
den Streit für den Bundestag verfassungsgerichtlich
klären zu lassen. Gegen diese Verfassungsorgantreue ver-
stößt die Bundesregierung, wenn sie die Klage nicht ein-
reicht. Die Bundesregierung kann über die Stellung des
verfahrenseinleitenden Antrages somit nicht mehr frei
disponieren. Diese Pflicht intensiviert sich noch dadurch,
dass die Bundesregierung am Zustandekommen der
Rechtsverletzung beteiligt war, da die beanstandeten An-
träge der Staatsanwaltschaft über den Dienstweg auch
über das Bundesministerium der Justiz an den Deut-
schen Bundestag gelangt sind.

Ich möchte das gesamte Haus ausdrücklich auffordern,
unserer Argumentation zu folgen und unserem Antrag zu-
zustimmen. Es wäre das Ende des Immunitätsverfahrens,
wenn wir im Ausschuss und im Plenum nach parteipoliti-
schen Gesichtspunkten entscheiden würden. Am Erhalt
des Immunitätsrechts und seiner Funktion muss das ge-
samte Parlament ein starkes parteiübergreifendes Inte-
resse haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es geht auch nicht darum, ob die Bundesregierung die

vom Deutschen Bundestag bzw. der CDU/CSU-Fraktion
vorgetragene Rechtsauffassung teilt oder nicht; denn sie
stellt den Antrag für den als solchen nicht prozessfähigen
Bund. Es geht um Rechte des Bundestages und nicht um
eine möglicherweise andere Rechtsauffassung der Bun-
desregierung. Ihre Ansicht müsste die Bundesregierung
vor Gericht loyal zurückstellen. Der Streit besteht zwi-
schen dem Bund und dem Land, nicht zwischen der Bun-
desregierung und der Landesregierung. Dieser Streit be-
darf der Klärung.

Aus der überparteilichen Gemeinsamkeit im Bundes-
tag muss auch die überparteiliche Empörung über die
eklatanten Rechtsverletzungen erwachsen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es besteht schließlich ein überparteiliches Interesse, Kri-
tik zu üben und die Sorgfaltspflichtverletzungen zu
klären.

Dies muss verfassungsgerichtlich geschehen; denn es
geht nicht um einen strafrechtlichen, zivilrechtlichen oder
verwaltungsrechtlichen Streit. Insofern geht die Argu-
mentation der Bundesregierung fehl, Rechtsbeziehungen
zwischen dem Bund und dem antragstellenden Land in
einer Immunitätssache seien nicht dem Verfassungsrecht
zuzuordnen. Eine solche Argumentation ist schlicht ab-
wegig. Wir brauchen eine verfassungsgerichtliche Klä-
rung, weil auch Richter des Landes Nordrhein-Westfalen
an dem Verfahren beteiligt waren.

Ich möchte Sie daher nochmals auffordern: Stimmen
Sie unserem Antrag zu! Sorgen Sie für eine verfassungs-
gerichtliche Klärung dieses Vorganges! In vielen Sonn-
tagsreden wird die Gemeinsamkeit der Demokraten be-
schworen. Halten wir uns daran, auch wenn heute
Donnerstag ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412712700
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Erika Simm.


Erika Simm (SPD):
Rede ID: ID1412712800
Sehr verehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr von Klaeden, wir
werden dem Antrag Ihrer Fraktion nicht zustimmen.


(Zurufe von der CDU/CSU)

Wir werden aus rechtlichen, prozessualen Gründen nicht
zustimmen,


(Zuruf von der F.D.P.: Sie sind doch Parlamentarierin! – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Aus reinen Opportunitätsgründen!)


vor allem aber aus Erwägungen, die mit dem Selbstver-
ständnis


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist eine Schande!)


des Parlaments auch in seiner Beziehung zum Bundes-
verfassungsgericht zu tun haben.

Der Antrag suggeriert, das Bundesverfassungsgericht
müsse eingeschaltet werden, um die Sorgfaltspflichten
eines Landes festlegen zu lassen, die dieses in Verbindung
mit der Aufhebung der Immunität eines Abgeordneten zu
beachten hat.


(Zuruf von der CDU/CSU: So weit ist es schon gekommen!)


Bei dem Klageweg, den die CDU/CSU hierzu be-
schreiten will, sehe ich erhebliche Rechtsprobleme.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja unglaublich! – Schämen Sie sich!)


– Sie haben doch gar nicht zugehört. Woher wollen Sie
denn schon wissen, dass es unglaublich ist?

Ein so genannter Bund-Länder-Streit muss sich auf ein
verfassungsrechtliches Verhältnis beziehen. Es darf nicht
nur um die Anwendung des so genannten einfachen
Rechts gehen.

Hier beim Verfahren Pofalla aber geht es darum, ob die
Strafprozessordnung richtig angewandt wurde, ob gegen
ihn ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden durfte
und ob Wohn- und Büroräume sowie Banken durchsucht
werden durften. Die Staatsanwaltschaft vor Ort hat beides
bejaht. Sie ist hierin auch vom zuständigen Amtsgericht
bestätigt worden. Es hat die geplanten Durchsuchungen
und Beschlagnahmen für zulässig erklärt. Diese gericht-
liche Entscheidung sollte man nicht übersehen. Sie war
auch für uns wichtig. Ich komme noch darauf zurück.

Durch einen Beschluss des Landgerichts Kleve hat der
Vorgang eine andere Wendung genommen. Dieses hat im
Nachhinein die Durchsuchungen für rechtswidrig erklärt
und festgestellt, die strafprozessualen Voraussetzungen
für den Erlass des Durchsuchungs- und Beschlagnah-
mebeschlusses hätten nicht vorgelegen.


(Zuruf von der CDU/CSU: SPD-Justiz!)

Wir bewegen uns folglich immer auf der Ebene der

Strafprozessordnung, also des einfachen Rechts, und




Eckart von Klaeden
12204


(C)



(D)



(A)



(B)


nicht des Verfassungsrechts, wie es für die Zulässigkeit
des beabsichtigten Klageverfahrens notwendig wäre.

Auch was die Beachtung des Immunitätsgrundsatzes
angeht, braucht man nicht nach Karlsruhe zu gehen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wohin denn?)

Ich sehe dafür auch mit Blick auf die persönliche Betrof-
fenheit des Kollegen Pofalla keinen Bedarf. Auf seine Be-
schwerde hat das Landgericht Kleve die Durchsuchungen
als rechtswidrig bezeichnet, die Staatsanwaltschaft hat
das Ermittlungsverfahren offiziell eingestellt und der Jus-
tizminister des Landes Nordrhein-Westfalen hat sich beim
Kollegen Pofalla ausdrücklich und öffentlich entschul-
digt.


(Zurufe von der CDU/CSU: Die Mitteilung ist aber bis heute nicht hier! – Alles nach der Landtagswahl!)


Herr Pofalla ist also in einem guten Sinne rehabilitiert
worden.


(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf von der CDU/CSU: Frechheit!)


Wo da noch ein Rechtsschutzinteresse für eine Klage
vor dem Bundesverfassungsgericht ist, vermag ich nicht
zu erkennen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sie sind Demokraten! Das kann man sagen!)


Die CDU/CSU-Fraktion möchte die Sorgfaltspflichten ei-
nes Landes, konkret: einer Staatsanwaltschaft durch das
Bundesverfassungsgericht geklärt wissen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412712900
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lammert?


Erika Simm (SPD):
Rede ID: ID1412713000
Nein. Bei dieser Stimmung gehe
ich davon aus, dass ich eine sachliche Frage nicht zu er-
warten habe.


(Zuruf von der CDU/CSU: Schämen Sie sich! – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Die Antwort fiele auch so peinlich aus, dass Sie zum Selbstschutz nur verneinen können!)


Die CDU/CSU-Fraktion möchte die Sorgfaltspflichten
eines Landes, konkret also einer Staatsanwaltschaft durch
das Bundesverfassungsgericht geklärt wissen,


(Zuruf von der CDU/CSU: Sie sollen die Interessen der Abgeordneten vertreten! – Zuruf von der CDU/CSU: Parteijustiz! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


auch um für die Zukunft – so sagt sie jedenfalls – insoweit
klare Verhältnisse zu schaffen.

Aber brauchen wir dafür das Bundesverfassungsge-
richt? Als Parlament sind wir sehr sensibel – jedenfalls
sollten wir es sein –, wenn sich ein anderes Verfassungs-
organ


(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf von der CDU/CSU: Wo ist Ihre Sensibilität?)


– Sie lachen immer zu früh –, eine Behörde oder ein Ge-
richt mit Angelegenheiten des Deutschen Bundestages
befasst. Nach unserem Selbstverständnis sehen wir uns
durchaus in der Lage, unsere Angelegenheiten selbst zu
regeln. Das gilt auch für den hier streitigen Vorgang, und
zwar innerparlamentarisch für die Immunität und unsere
diesbezüglichen Verfahren, aber auch für das Vorfeld, also
die Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wie denn?)

Unser Immunitätsrecht und die von uns dafür festge-

legten Regeln liefern keineswegs das einzelne Mitglied
des Bundestages quasi schutzlos den Attacken einer
Staatsanwaltschaft aus.


(Zuruf von der CDU/CSU: Aber der SPD!)

Das sage ich gerade auch für die Kollegen unter uns, die
nicht dem Immunitätsausschuss angehören und mögli-
cherweise aufgrund von Äußerungen einzelner Kollegen
aus der Union in den letzten Monaten den Eindruck ge-
winnen mussten, sie würden gegenüber einer unberech-
tigten Durchsuchung und den daraus resultierenden nega-
tiven Folgen nicht ausreichend geschützt.

Die durch Art. 46 des Grundgesetzes gewährleistete
Immunität des Abgeordneten ist auch in Zeiten eines
gefestigten Rechtsstaates keineswegs ein Anachronismus,
sondern hat ihre Berechtigung. Gleich, worin man heute
ihre Schutzfunktion sieht, ob im Schutz vor tendenziöser
Verfolgung durch die Exekutive oder in der Sicherstel-
lung der Funktionsfähigkeit des Parlamentes oder im
Schutz des Ansehens und der Würde des Bundestages –
jedes dieser Schutzziele richtet sich an eine andere Staats-
gewalt und veranlasst sie zu einem sorgsamen Umgang
mit den Belangen des Parlaments und seiner Mitglieder.
Diese Schutzfunktion wird durch unsere einschlägigen
geschäftsordnungsrechtlichen Regelungen und die stän-
dige Praxis des Immunitätsausschusses durchaus ge-
wahrt.

Allerdings ist es auch seit vielen Jahren Konsens unter
den Abgeordneten des Deutschen Bundestages, dass Sinn
und Zweck der Immunität nicht sein kann, zu verhindern,
dass Abgeordnete strafrechtlich zur Verantwortung gezo-
gen werden können. Wir beanspruchen nach unserem de-
mokratischen Selbstbewusstsein und Selbstverständnis
keine Privilegierung gegenüber dem so genannten nor-
malen Bürger.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Eckart von Klaeden [CDU/CSU])


Wir, das heißt der Immunitätsausschuss, schauen uns
aber die Vorgänge schon genau an.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412713100
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Bachmaier?


Erika Simm (SPD):
Rede ID: ID1412713200
Ich bat gerade darum, keine Zwi-
schenfrage zuzulassen. – Es gibt keinen Automatismus
und kein Abnicken der staatsanwaltschaftlichen Anträge
ohne eigene Prüfungsmöglichkeit.




Erika Simm

12205


(C)



(D)



(A)



(B)


Erlauben Sie mir, kurz unsere beiden wesentlichen
Verfahren zum Beleg dafür darzustellen, dass wir kei-
neswegs das willenlose Werkzeug der Strafver-
folgungsbehörden sind, als das wir im Antrag der
CDU/CSU dargestellt werden.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Stimmt überhaupt nicht!)


Zu Beginn einer neuen Wahlperiode genehmigt das
Plenum generell die Durchführung von Ermittlungsver-
fahren mit Ausnahme solcher, die den Tatbestand der po-
litischen Beleidigung betreffen. 48 Stunden, nachdem die
Staatsanwaltschaft dem Bundestagspräsidenten mitgeteilt
hat, dass sie gegen einen Abgeordneten ein Ermittlungs-
verfahren einzuleiten beabsichtigt, wird diese generelle
Genehmigung wirksam. Dieses Verfahren, das bereits in
der 5. Wahlperiode festgelegt wurde, schützt den Bundes-
tag und das betroffene Mitglied in einem Stadium des Er-
mittlungsverfahrens vor negativer Publizität,


(Lachen bei der CDU/CSU)

wo noch nicht feststeht, ob es überhaupt zu einer Anklage
kommen wird.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ein Zufall! Zwei Tage vor der Wahl!)


Der Ausschuss befasst sich in diesen Fällen stets mit
der Mitteilung der Staatsanwaltschaft. Wir treten zwar
nicht in eine eigene Beweiswürdigung ein, lassen uns
keine Akten vorlegen und vernehmen auch nicht etwa sel-
ber Zeugen, aber wir prüfen, ob die Mitteilung der Staats-
anwaltschaft in sich plausibel und rechtlich nachvollzieh-
bar ist.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Deswegen müssen wir darauf vertrauen können!)


Ergeben sich dabei Zweifel, so gibt es Rückfragen, wer-
den Berichte erbeten oder auch Vertreter der zuständigen
Strafverfolgungsbehörden zur Erörterung der Zweifels-
fragen in den Ausschuss gebeten. Die anwesenden Kolle-
gen aus dem Immunitätsausschuss – auch hier sitzen wel-
che – werden sich erinnern, dass wir in mehreren Fällen
so verfahren sind. Wir nehmen dabei auch Fürsor-
gepflichten unseren Kollegen gegenüber wahr.


(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Das ist ja nicht zu glauben!)


– Wenn Sie das in Zweifel ziehen, dann tun Sie das auch
gegenüber Ihren eigenen Kollegen!

Nach der Verfassung haben wir außerdem die aus-
drückliche Befugnis, die Immunität eines Abgeordneten
wieder herzustellen, wenn wir Zweifel an der Recht-
mäßigkeit eines Ermittlungsverfahrens haben. In der letz-
ten Legislaturperiode haben wir von dieser Möglichkeit
einmal Gebrauch gemacht; Sie wissen, um welches Ver-
fahren es sich handelt.

Neben dieser generellen Genehmigung zur Durch-
führung von Ermittlungsverfahren bedarf die Erhebung
der Anklage oder zum Beispiel eine Durchsuchung der
ausdrücklichen Genehmigung des Deutschen Bundesta-
ges. Auch in diesem Fall läuft ein Antrag der Staatsan-

waltschaft natürlich nicht ungeprüft durch. So ist es seit
Jahren ständige Praxis des Immunitätsausschusses, dass
eine Durchsuchung erst und nur dann genehmigt wird,
wenn ein richterlicher Durchsuchungsbeschluss vorliegt;
das heißt, der Staatsanwalt muss sein Durchsuchungsbe-
gehren vom Richter prüfen und genehmigen lassen.

So geschah es auch im Verfahren gegenüber dem Kol-
legen Pofalla. Der Immunitätsausschuss hat sich bei sei-
ner Entscheidung auf einen zu diesem Zeitpunkt vorlie-
genden gültigen Gerichtsbeschluss gestützt. Eine
eventuell drohende Verjährung spielte für den Immu-
nitätsausschuss dabei keine Rolle.


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Stand aber im Antragstext!)


Insbesondere ist er nicht durch unzutreffende diesbezüg-
liche Angaben zu einer übereilten Entscheidung veran-
lasst worden.

Dass die Durchsuchung drei Tage vor der Landtags-
wahl anstand


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Purer Zufall!)

und dass der Kollege Pofalla für ein Ministeramt in Düs-
seldorf vorgesehen war, wussten die Kollegen im Aus-
schuss. Dieser Aspekt ist durchaus abgewogen worden;
dennoch wurde die Genehmigung der beantragten Durch-
suchungen und Beschlagnahmen durch einstimmigen Be-
schluss des Ausschusses empfohlen.


(Beifall des Abg. Stephan Hilsberg [SPD] – Detlev von Larcher [SPD]: Hört! Hört!)


Dieses Parlament hat den Schutz der Immunität stets
als eigene Angelegenheit und Aufgabe verstanden. Es hat
im breiten Konsens zwischen den Parteien Regeln für das
Immunitätsverfahren beschlossen. Es liegt durchaus in
der Macht und der Zuständigkeit des Parlaments, im
Lichte neuer Erfahrungen die bisherigen Grundsätze in
Immunitätsangelegenheiten zu überdenken und erforder-
lichenfalls auch zu ändern.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das ist ein Skandal, sonst nichts!)


In diesem Fall könnten wir selbstverständlich auch die
staatsanwaltlichen Ermittlungen und die Anträge – –


(Zuruf von der CDU/CSU)

– Ich weiß nicht, was für eine Referendarausbildung Sie
hatten.


(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das können nur Sie wissen.
Wir können in diesem Fall natürlich auch selbst die an

staatsanwaltschaftliche Mitteilungen und Anträge zu stel-
lenden Anforderungen neu bestimmen und eingehendere
Prüfungen festlegen. Ob wir mit diesem Schritt gut bera-
ten wären, das lasse ich dahingestellt.

Der Antrag der CDU/CSU gibt den Anspruch, eigene
Angelegenheiten selbst zu regeln, ohne Not auf. Es be-
steht der Verdacht, dass es sich dabei um eine vorder-




Erika Simm
12206


(C)



(D)



(A)



(B)


gründige, parteipolitischen Zwecken dienende Initiative
handelt. Der Zeitpunkt der Antragstellung spricht dafür.

Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass das Immu-
nitätsrecht ein Recht des ganzen Parlaments ist.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Aha!)

Es muss – bisher war das Konsens – in Zusammenarbeit
aller Fraktionen behandelt und erforderlichenfalls weiter-
entwickelt werden.


(Werner Siemann [CDU/CSU]: Habt ihr keine bessere Vorsitzende?)


Ich bitte Sie dringlich, zu diesen Grundsätzen zurückzu-
finden. Das läge im Interesse des ganzen Hauses.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412713300
Zu einer Kurz-
intervention erhält der Kollege Lammert das Wort.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1412713400
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das, was die Kollegin
Simm gerade offenkundig nicht nur als persönliche Mei-
nung, sondern auch als Auffassung der SPD-Fraktion
vorgetragen hat, gehört für mich als langjährigem Mit-
glied im Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Ge-
schäftsordnung des Deutschen Bundestages zu den depri-
mierendsten Erfahrungen, die ich in 20 Jahren
Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag gemacht habe.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Stephan Hilsberg [SPD]: Sie waren doch nie im Ausschuss!)


– Im Unterschied zu manchen anderen Kollegen bin ich
über viele Jahre hinweg mit manchen Immunitätsverfah-
ren befasst gewesen.


(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Wieso haben Sie dann zugestimmt?)


Ich bilde mir ein, zu wissen, wovon ich spreche.
Es wäre vielleicht stilsicherer gewesen, wenn die SPD-

Fraktion nicht eine Rednerin benannt hätte, die in der glei-
chen Sache als Berichterstatterin tätig und deswegen
möglicherweise auch befangen war.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich bin im Übrigen zu dieser Debatte nicht mit der Ab-

sicht gekommen, mich zu Wort zu melden. Ganz im Ge-
genteil! Aber ich bin fassungslos


(Zurufe von der SPD: Oh!)

angesichts des Hinweises, es gehe beim Immunitätsrecht
im Allgemeinen oder gar bei dem konkreten Fall, über den
wir hier sprechen, nicht um eine Privilegierung von Ab-
geordneten. Größere Selbstverständlichkeiten brauchen
in dieser Debatte sowohl unter rechtlicher als auch unter
politischer Würdigung ganz gewiss nicht mehr vorgetra-
gen zu werden. Worum es hier angesichts der ständigen
Erfahrung, die wir mit dem Immunitätsrecht haben, geht,
ist doch ganz gewiss nicht eine Privilegierung von Abge-
ordneten. Denn allein schon die Notwendigkeit der Auf-

hebung der Immunität führt regelmäßig zu öffentlicher
Aufmerksamkeit, die so gut wie nie – völlig gleichgültig,
wie das Verfahren am Ende ausgeht – eine freundliche,
positive Berichterstattung zugunsten des betroffenen Ab-
geordneten bewirkt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es geht für mich um etwas völlig anderes; Frau Justiz-

ministerin, ich will Sie in diesem Zusammenhang aus-
drücklich ansprechen.


(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Das habe ich mir gedacht! Ihr Verfahren ist unerträglich! – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Wenn ein, wie nun von ordentlichen Gerichten festge-
stellt, „rechtswidriges“ Vorgehen gegen ein Mitglied des
Deutschen Bundestages in dieser Weise möglich ist, dann
hätte ich von Ihnen, Frau Justizministerin, gerne die Frage
beantwortet, wie Sie ausschließen wollen, dass irgendei-
nem unbescholtenen, nicht prominenten und nicht mit öf-
fentlichen Mandaten ausgestatteten Bürger dieses Landes
morgen und übermorgen Ähnliches passiert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich erwarte in dieser Debatte seitens der Bundesregie-

rung – denn das ist vonseiten der SPD-Fraktion nach dem
soeben Vorgetragenen offenkundig nicht zu erwarten –
eine Antwort auf zwei konkrete Fragen: Erstens. Wollen
Sie vor dem Hintergrund des Verfahrens, über das wir hier
verhandeln, ernsthaft die Behauptung aufrechterhalten,
die geltenden Regeln unseres Immunitätsrechts schützten
wirkungsvoll vor negativer Publizität? Zweitens. Wenn
Sie, wenn ich richtig verstanden habe, dem Antrag der
CDU/CSU-Fraktion aus rechtlichen Gründen nicht zu-
stimmen wollen, auf welche andere Weise, bitte schön,
wollen Sie dann in Zukunft ausschließen, dass in ähnli-
cher Weise rechtswidrig gegen Mitglieder des Bundesta-
ges und anderer Körperschaften oder gegen nicht mit öf-
fentlichen Mandaten ausgestattete Bürgerinnen und
Bürger dieses Landes vorgegangen wird?


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Erika Simm (SPD):
Rede ID: ID1412713500
Da ich erst seit dieser Legislatur-
periode Vorsitzende dieses Ausschusses bin, kann ich zu
Ihrer Behauptung, Sie seien seit zehn Jahren Mitglied des
Immunitätsausschusses, wenig sagen.


(Lachen bei der CDU/CSU – Stephan Hilsberg [SPD]: Die letzten zwei Jahre war er nicht da!)


Ich habe Sie allerdings nicht regelmäßig im Immunitäts-
ausschuss gesehen. Aber das ist ja nicht das Entschei-
dende.

Ich möchte noch einmal auf Folgendes hinweisen:
Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Immunitätsaus-
schusses lag ein rechtsgültiger amtsgerichtlicher Be-
schluss vor, der die Durchsuchungen und Beschlagnah-
mungen für zulässig erklärt hat.


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Der war doch aber erkennbar rechtswidrig!)





Erika Simm

12207


(C)



(D)



(A)



(B)


– Entschuldigung, Sie selbst wissen – auch Herr von
Klaeden hat darauf hingewiesen – wir sind kein oberes
Gericht. Dafür gibt es Instanzenwege der Gerichte.


(Beifall bei der SPD – Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Der war doch noch nicht einmal plausibel!)


Unsere Sache ist es nicht, richterliche Beschlüsse auf ihre
Richtigkeit zu überprüfen.


(Werner Siemann [CDU/CSU]: Gehen Sie doch einmal auf Herrn Lammert ein! Der hat doch zwei Fragen gestellt!)


Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass alle
Beschlüsse einstimmig gefasst wurden. Wenn Sie also das
Verfahren und die Anwendung des Verfahrens, das wir
über viele Jahre praktizieren, angreifen, greifen Sie auch
Ihre eigenen Kollegen im Immunitätsausschuss an.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Des Weiteren habe ich versucht, zu erklären, dass wir

rechtlich in der Lage und auch verpflichtet sind, unsere ei-
genen Angelegenheiten selbst zu regeln. Wenn Sie ein Be-
dürfnis dafür sehen, an den bestehenden Regeln etwas zu
ändern, dann ist es Ihnen völlig unbenommen, entspre-
chende Anträge im Immunitätsausschuss einzubringen.
Einen solchen Antrag von der CDU/CSU haben wir bis
heute nicht gesehen.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412713600
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Rainer Funke.


Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1412713700
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Die F.D.P. wird dem Antrag der
CDU/CSU-Fraktion zustimmen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Dem Kollegen Pofalla ist in gravierender Weise Unrecht
geschehen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Mir ist klar, dass das Immunitätsrecht nicht dem Schutz des
Abgeordneten – auch nicht dem des Kollegen Pofalla –
dient, sondern dem Schutz der Arbeitsfähigkeit dieses
Hohen Hauses. Trotzdem kann nicht hingenommen wer-
den, dass aus offensichtlich politischen Gründen versucht
wurde, einem Kollegen dieses Hauses zu schaden, und
zwar nicht nur in seinem politischen Leben, sondern auch
in seiner gesamten bürgerlichen Existenz.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das ist eine Unterstellung!)


Natürlich weiß ich, dass in einem Wahlkampf mit har-
ten Bandagen gekämpft wird. Das wird in den letzten Ta-
gen eines Wahlkampfes immer so sein. Aber dass man
versucht, einen Kollegen niederzumachen, ihm in seiner
bürgerlichen Existenz zu schaden, ist wohl einmalig.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Ich empfinde es als einen Skandal, dass auf der Bun-
desratsbank kein Vertreter des Landes sitzt, das dafür ver-
antwortlich ist.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Diesem Kollegen, der jetzt nicht anwesend ist, müsste
man sagen, dass wir keine politische Justiz wollen. Dies
war politische Justiz!


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Der Kollege Pofalla ist mit dem Antrag der Staatsan-

waltschaft und den zugrunde liegenden Ermittlungsver-
fahren völlig überraschend konfrontiert worden, ohne
dass ihm die Chance eines rechtlichen Gehörs gegeben
worden wäre. Hinzu kommt, dass die rechtlichen Erwä-
gungen hinsichtlich eines möglichen Verjährungseintritts
völlig abwegig gewesen sind. Das hätte man auch im Im-
munitätsausschuss erkennen können.


(Erika Simm [SPD]: Das spielt keine Rolle! Nehmen Sie es bitte zur Kenntnis!)


Eine Eilbedürftigkeit war unter keinem rechtlichen Ge-
sichtspunkt gegeben.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Der Deutsche Bundestag ist insofern selbst betroffen,

weil jeden von uns ein solch überraschendes Vorgehen
treffen könnte, ohne dass wir jemals mit Gesetzen in Kon-
flikt geraten wären. Auch aus diesem Grund muss der
Bundestag ein Zeichen setzen, dass ohne Gewähr des
rechtlichen Gehörs keine Aufhebung der Immunität er-
folgen darf. Rechte, die jeder Bürger hat, nämlich auf
rechtliches Gehör, müssen auch für Bundestagsabgeord-
nete gelten.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Mir ist bewusst, dass es vielerlei rechtliche Möglich-

keiten gibt, um die Rechtswidrigkeit des Verfahrens fest-
zustellen. Vor dem Landgericht Kleve ist dies bereits ge-
schehen. Sicherlich gibt es auch noch andere Wege, um
zum Bundesverfassungsgericht zu kommen, aber wegen
dieser gravierenden Angriffe auf die Rechte und die Ehre
des Kollegen Pofalla sollten alle rechtlichen Wege be-
schritten werden, die möglich sind. Deswegen stimmen
wir dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion zu.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412713800
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Steffi Lemke.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Jetzt kommt die Partei der Bürgerrechtler!)



Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412713900
Werte
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir
befassen uns heute mit dem Antrag der CDU/CSU-Frak-
tion auf Einleitung einer Verfassungsklage der Bundesre-
gierung gegen das Land Nordrhein-Westfalen in der Sa-
che.




Dr. Norbert Lammert
12208


(C)



(D)



(A)



(B)


Nach der erfolgten juristischen Prüfung dieses Antra-
ges lehnt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Forde-
rung der CDU/CSU-Fraktion ab. In dem Antrag der
CDU/CSU-Fraktion wird verlangt, die Bundesregierung
möge ein Bund-Länder-Streitverfahren vor dem Bundes-
verfassungsgericht gegen das Land Nordrhein-Westfalen
einleiten. Die Bundesregierung soll nach Ansicht der
CDU/CSU in diesem Verfahren geltend machen, das Land
Nordrhein-Westfalen habe gegen seine verfassungs-
gemäßen Pflichten gegenüber dem Bund verstoßen,


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Der Antrag liegt vor!)


indem die Staatsanwaltschaft Kleve den Antrag auf Auf-
hebung der Immunität des Abgeordneten Ronald Pofalla
sowie den Antrag auf Genehmigung von Durchsuchungs-
und Beschlagnahmemaßnahmen beim Abgeordneten
Pofalla gestellt habe.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Was mit dem Antrag verlangt wird, kann nach Auffas-

sung meiner Fraktion eindeutig nicht Gegenstand eines
Bund-Länder-Verfahrens sein. Im Bund-Länder-Streit
verfassungsrechtlicher Art kann nur die Verletzung der
dem Land gegenüber dem Bund aufgrund des Grundge-
setzes obliegenden Rechte und Pflichten geltend gemacht
werden. Im vorliegenden Fall handelt es sich jedoch um
eine Verwaltungsmaßnahme der Staatsanwaltschaft eines
Landes. Das verfassungsrechtliche Verhältnis zum Bund
ist nicht berührt.

Verwaltungsmaßnahmen können nicht Gegenstand ei-
ner Bund-Länder-Streitigkeit sein, sondern nur Rechte
und Pflichten, die sich unmittelbar aus den Kompetenz-
normen des Grundgesetzes ergeben. Maßnahmen oder
Unterlassungen innerhalb eines Verwaltungsverfahrens
scheiden aus. – So weit die Erläuterung, warum wir den
vorliegenden Antrag der CDU/CSU-Fraktion nicht unter-
stützen.

Es macht nach unserer Ansicht keinen Sinn, auf die Zu-
ständigkeit der Bundesregierung abzuheben oder einen
Bund-Länder-Streit aufzubauen. Damit wird aus meiner
Sicht von dem tatsächlichen Fehlverhalten sogar eher ab-
gelenkt.

Wir haben im Immunitätsausschuss und auch darüber
hinaus mehrfach die Bereitschaft erklärt, die Vorgänge zu
durchleuchten. Im Immunitätsausschuss ist bereits mehr-
fach über das Verfahren diskutiert worden. Aber die Be-
handlung der Immunitätsangelegenheit des Abgeordneten
Pofalla durch den Deutschen Bundestag ist ordentlich und
entsprechend den von uns selbst aufgestellten Regelun-
gen erfolgt.

Ich möchte daran erinnern, dass der Deutsche Bundes-
tag dazu einen einstimmigen Beschluss gefasst hat. So-
wohl im Immunitätsausschuss als auch hier im Plenum
des Deutschen Bundestages sind Sie, Herr Abgeordneter
von Klaeden und Herr Abgeordneter von Stetten, am Ver-
fahren beteiligt gewesen und haben dem Verfahren, so wie
es durchgeführt worden ist, zugestimmt.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412714000
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen von Klaeden?


Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412714100
Nein,
ich gestatte keine Zwischenfrage.

Das heißt, der Beschluss des Immunitätsausschusses
wurde auf der Grundlage gerichtlicher Anordnungen ge-
troffen, die – wie das Landgericht Kleve inzwischen fest-
gestellt hat – rechtswidrig waren. Aber zum damaligen
Zeitpunkt konnten wir keine andere Entscheidung treffen.
Der Deutsche Bundestag tritt in Immunitätsangelegenhei-
ten in keine eigene Beweiswürdigung ein.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Genau!)

Von daher ist es ein Problem, dass der Abgeordnete

Lammert heute versucht hat, das Immunitätsverfahren im
Deutschen Bundestag, das von allen Fraktionen gemein-
sam getragen worden ist, selber in Zweifel zu ziehen.

Herr Abgeordneter von Stetten und Herr Abgeordneter
von Klaeden, Sie wissen, dass die Eilbedürftigkeit bei un-
serer Entscheidung im Immunitätsausschuss keine Rolle
gespielt hat und dass wir die Tatsache, dass die Landtags-
wahl in Nordrhein-Westfalen kurz bevorsteht, in unserer
Diskussion sehr wohl gewürdigt haben. Wir haben genau
darüber diskutiert und trotzdem einen einstimmigen Be-
schluss mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion gefasst.

Wäre das Immunitätsverfahren im Sinne unserer eige-
nen Regelungen nicht ordentlich verlaufen, hätte mit Si-
cherheit nicht nur die CDU/CSU-Fraktion Widerspruch
eingelegt. Ich denke, dass die Vorgänge in Nordrhein-
Westfalen weiterhin der eingehenden Überprüfung bedür-
fen, um den Abgeordneten Pofalla in den Punkten, in de-
nen ihm Unrecht geschehen ist, zu rehabilitieren und um
das Immunitätsrecht der Abgeordneten des Deutschen
Bundestages gewährleisten zu können.

Die Konstruktion einer nicht gegebenen Bund-Länder-
Streitigkeit halte ich allerdings für den falschen Weg. Der
Abgeordnete von Klaeden wies selber darauf hin, dass
man mit dem von ihm vorgeschlagenen Verfahren juristi-
sches Neuland betreten würde. Ich möchte, dass wir die-
sen Vorgang ernsthaft aufarbeiten, und würde deshalb
vorschlagen, dies in den zuständigen Gremien zu tun und
nicht auf dem Wege, den die CDU/CSU in ihrem Antrag
vorschlägt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412714200
Zu einer Kurz-
intervention gebe ich dem Kollegen von Stetten das Wort.


Dr. Freiherr Wolfgang von Stetten (CDU):
Rede ID: ID1412714300

Ich verstehe nicht, meine sehr verehrten Damen und Her-
ren, dass die SPD diesen Antrag ablehnt. Es geht nicht da-
rum, was die SPD oder die Vorsitzende des Immunitäts-
ausschusses gemacht haben, sondern es geht darum, was
in Nordrhein-Westfalen schief gelaufen ist.


(Zuruf von der SPD: Kurzintervention!)





Steffi Lemke

12209


(C)



(D)



(A)



(B)


Die Vorsitzende des Immunitätsausschusses hat eben
gesagt, Herrn Pofalla sei Unrecht geschehen und das, was
uns von Nordrhein-Westfalen vorgetragen worden sei, sei
rechtswidrig gewesen.


(Erika Simm [SPD]: Ich habe ein Urteil zitiert, ohne es zu bewerten!)


– Ich dachte, Sie hätten es bewertet. Es wäre aber schon
gut gewesen, wenn Sie es für eigene Zwecke gebraucht
hätten.

Ich glaube, es ist nicht in Ordnung, dass die SPD so tut,
als stellten wir über die Behandlung durch die SPD einen
Antrag; wir stellen einen Antrag, das Verfassungsgericht
solle sich mit etwas befassen, was in Nordrhein-Westfalen
schief gelaufen ist. Dort ist vieles schief gelaufen und
nicht umsonst sind mehrere Leute ihrer Ämter enthoben
worden. Es wäre gut gewesen, wenn auch der Justizmi-
nister zurückgetreten wäre. Auf diese Weise hätte er poli-
tische Verantwortung übernommen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Rainer Funke [F.D.P.])


Unabhängig davon ist vielleicht das eine oder andere
im Immunitätsausschuss des Deutschen Bundestages
schief gelaufen. Wir sind schlichtweg darüber getäuscht
worden, was in Nordrhein-Westfalen ermittelt und uns
vorgelegt wurde. Die besondere Eilbedürftigkeit wurde
wegen der angeblich drohenden Verjährung bejaht; das
war mit ein Grund, warum die Sache vor der Wahl und
nicht hinterher entschieden wurde. Auch das war eine
Täuschung und darüber sollte das Bundesverfassungsge-
richt urteilen. Nichts anderes verlangen wir.

Sie täten gut daran, diesem Antrag zuzustimmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412714400
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Sabine Jünger.


Sabine Jünger (PDS):
Rede ID: ID1412714500
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Wir debattieren heute über die Konse-
quenzen der unberechtigten Aufhebung der Immunität
des Kollegen Pofalla. Aber – das will ich deutlich sagen –
ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es in
Wahrheit auch um etwas anderes geht. Es scheint nicht
nur mir so, als ginge es in erster Linie um die Vorführung
der nordrhein-westfälischen Justiz.


(Lachen bei der CDU/CSU – Werner Siemann [CDU/CSU]: Die hat sich selbst blamiert!)


Ich kann mich auch des Eindrucks nicht erwehren, dass
das Parlament für parteipolitische Interessen instrumenta-
lisiert werden soll.

Wenn die CDU/CSU-Fraktion in dieser Angelegenheit
meint, das Bundesverfassungsgericht bemühen zu müs-
sen, muss ich fragen: Warum haben Sie dann nicht selbst
die Initiative ergriffen?


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Haben wir doch!)


Seitdem nunmehr klar ist, dass die Bundesregierung ge-
gen das Land Nordrhein-Westfalen keine Klage einleiten
will und ein Fristablauf droht, geht die CDU/CSU-Frak-
tion selbst nach Karlsruhe.


(V o r s i t z: Vizepräsident Rudolf Seiters)

Das hätten Sie auch gleich tun können. Seit gestern soll
die Bundesregierung durch ein Eilverfahren gezwungen
werden, ein Bund-Länder-Streitverfahren gegen das Land
Nordrhein-Westfalen zu führen.

Eckart von Klaeden meinte auch heute wieder, die Ein-
zigartigkeit dieses Vorganges sei der Grund für den An-
trag seiner Fraktion. Aber es kann doch nicht darum ge-
hen, eine Einzigartigkeit mit einer Einmaligkeit zu
beantworten; denn einmalig wäre es schon, wenn die Bun-
desregierung gegen das Land Nordrhein-Westfalen kla-
gen würde. Auch ich habe ernsthafte Zweifel, ob ein
Bund-Länder-Streit der richtige Weg ist.

Die Immunität – darüber sind wir uns wohl alle
einig – ist ein sehr hohes Gut. Die Verletzung dieser
Schutzvorschrift durch einen rechtswidrigen Akt ist alles
andere als ein Kavaliersdelikt. Bekanntlich wurden des-
wegen in Nordrhein-Westfalen personelle Konsequenzen
gezogen und der nordrhein-westfälische Justizminister
hat sich entschuldigt. Nein, die Sache ist damit nicht aus
der Welt. Weitere sachliche Konsequenzen sind notwen-
dig, um in Zukunft solche Fehlentscheidungen wie im Fall
Pofalla auszuschließen.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Genau!)

Nicht zuletzt deshalb wird der Immunitätsausschuss des
Bundestages aktiv werden müssen.

So sehr der Kollege Pofalla in seiner verfassungsrecht-
lichen Stellung betroffen ist und der Streit um die Aufhe-
bung der Immunität eine verfassungsrechtliche Dimen-
sion hat, so wenig sehe ich die Ursachen für diesen Vorfall
im Verfassungsrecht und in dem Bedarf an einer verfas-
sungsgerichtlichen Klärung. Die Verbesserung des Immu-
nitätsverfahrens scheint eher das Problem zu sein, nicht
die Vorführung eines SPD-Justizministers. Auch deshalb
lehnen wir den vorliegenden Antrag ab.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Rotrote Koalition!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412714600
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Erhebung einer Verfassungs-
klage der Bundesregierung gegen das Land Nordrhein-
Westfalen, Drucksache 14/4244. Wer stimmt für diesen
Antrag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Antrag ist
mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen
und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und
F.D.P. abgelehnt.


(Zurufe von der CDU/CSU: Pfui! – Pfui!)





Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
12210


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten

Dr. Hermann Otto Solms, Jörg van Essen,
Hildebrecht Braun (Augsburg), weiteren Abgeord-
neten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes (Art. 48 Abs. 3)

– Drucksache 14/4127 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Jörg van Essen,
Hildebrecht Braun (Augsburg), weiteren Abgeord-
neten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten
Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des
Abgeordnetengesetzes
– Drucksache 14/4128 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord-
nung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich die Kol-
leginnen und Kollegen, die den weiteren Beratungen im
Plenum nicht folgen möchten, bitten, den Saal – nach
Möglichkeit – zügig zu verlassen. – Es wäre sicherlich an-
gemessen, der Diätendebatte nicht im Stehen, sondern im
Sitzen zu folgen. Ich bitte also die Kolleginnen und Kol-
legen, die der Debatte folgen möchten, Platz zu nehmen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort für die
F.D.P.-Fraktion dem Kollegen Dr. Hermann Otto Solms.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412714700
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das, was wir jetzt zur
Debatte stellen, dient nicht der streitigen Auseinanderset-
zung in diesem Hause, sondern ist der Versuch, Einver-
nehmen über ein Thema zu erzielen, welches uns seit vie-
len Jahren belastet. Sie alle wissen, dass es schwierig ist,
jährlich über die Erhöhung der Diäten zu reden, weil in
der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, dass das Parla-
ment über seine eigenen Einkünfte entscheidet und dass
es deswegen um Selbstbedienung geht.

Seit wir uns zum ersten Mal mit diesem Thema vor
23 Jahren befasst haben – das war 1977, als die Diätenre-
form in Kraft gesetzt wurde –, erleben wir jedes Jahr das
gleiche Phänomen: Es gibt erhebliche Vorbehalte gegen
eine offene Diskussion über eine angemessene Anhebung
der Entschädigung der Abgeordneten, weil eine solche
Diskussion insbesondere von den kritischen Betrachtun-
gen der Boulevardpresse automatisch begleitet werde und
weil dabei niemand politische Erfolge erzielen könne.
Deswegen haben wir uns Gedanken gemacht, wie man
dieses für das Parlament insgesamt und für uns alle

schwierige Verfahren ändern könne in einer Form, die
dies ohne eine negative öffentliche Wirkung gestalten
lässt.

In diesen 23 Jahren ist es elfmal nicht zu Diätener-
höhungen gekommen, obwohl das angemessen gewesen
wäre. Warum? Weil es aufgrund der öffentlichen negati-
ven Wirkung nicht den Mut dazu gegeben hat. Es hat vier
Kommissionen gegeben, die Vorschläge gemacht haben.
Diese Vorschläge sind nicht berücksichtigt worden.
Schließlich hat es im Jahre 1997 im Parlament einen Be-
schluss mit dem Ergebnis einer stufenweisen Anpassung
und einer Angleichung der Diäten etwa an das Niveau des
Richteramtes R 6 oder an das des Amtes eines kommuna-
len Wahlbeamten gegeben.

Wie von der F.D.P. vorausgesagt, ist auch dies nicht
umgesetzt worden. Die stufenweise Anpassung ist viel-
mehr aus den gleichen Gründen – die öffentliche Reso-
nanz – wieder unterbrochen worden. Das wundert mich
auch nicht, weil das Problem auf diese Weise nicht aus der
Welt zu schaffen ist. Wir werden dieses Problem immer
wieder haben.

Auch der Vorschlag, der jetzt von der SPD vorgetragen
wird, nämlich in diesem Jahr eine Erhöhung um 0,6 Pro-
zent vorzunehmen, reicht offenkundig überhaupt nicht
aus. Er wird aber trotzdem vorgetragen, obgleich sich hin-
ter verdeckter Hand die gleichen Abgeordneten, die ihn
unterstützen, wiederum beschweren, dass dies nicht an-
gemessen sei. Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU,
der öffentlich sagt, dies sei nicht angemessen, es müsste
mehr sein, wird gleich wieder entsprechend kritisiert. So
kommen wir aus dem Dilemma nicht heraus.

Ich habe mir seit langem Gedanken gemacht, wie wir
aus diesem Dilemma herauskommen. Dazu hat die F.D.P.
früher den Vorschlag gemacht, den ich heute aber nicht
mehr mache, dass das jeweilige Parlament über die Aus-
stattung des nachfolgenden Parlaments entscheiden solle.
Da sich aber die wirtschaftliche Entwicklung in vier, fünf
Jahren dramatisch ändern kann, ist das kein zufrieden stel-
lender Vorschlag.

Deswegen machen wir jetzt den Vorschlag, dass eine
unabhängige Kommission, beim Bundespräsidenten ein-
gerichtet, über die Diätenerhöhungen entscheidet, also
nicht nur Vorschläge macht, sondern entscheidet. Wir
müssen dazu die Verfassung ändern, nämlich Art. 48
Abs. 3 ergänzen. Dazu haben wir vorgeschlagen, dort fol-
genden Satz 2 einzufügen:

Die Höhe der Entschädigung wird von einer unab-
hängigen, vom Bundespräsidenten einzusetzenden
Sachverständigenkommission festgelegt.


(Beifall bei der F.D.P.)

Es gibt rechtlicherseits Bedenken dahin gehend, dass

dies in den engeren Bereich des demokratischen Prinzips
gehöre und einer verfassungsrechtlichen Änderung nicht
anheim fallen dürfe. Dagegen gibt es wiederum Argu-
mente, die da lauten, dass das bei verfassungssystemati-
scher Betrachtung sehr wohl möglich sei.

Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes dieses
Hauses kommt zu dem Ergebnis, dass eine Änderung




Vizepräsident Rudolf Seiters

12211


(C)



(D)



(A)



(B)


möglich sei, wenn das Ganze durch Gesetz definiert
werde, wenn die Kriterien objektiv festgelegt würden und
wenn es nur um die Erhöhung, die Anpassung anhand ob-
jektiver Kriterien gehe. Entsprechendes schlagen wir vor.
Das würde uns in die Lage versetzen, in Zukunft Diskus-
sionen zu entgehen und zu einer angemessenen Anpas-
sung zu kommen, ohne dass wir über unser Einkommen
selbst beschließen müssten. Seien wir doch ehrlich: Wir
haben doch alle Vorbehalte und innere Widerstände dage-
gen, solche Beschlüsse selbst herbeizuführen.


(Beifall des Abg. Ulrich Heinrich [F.D.P.])

Ich ganz persönlich sehe tatsächlich gar keine andere

Lösung, als einen solchen Weg zu gehen, weil alles andere
nicht nur zu unangenehmen Diskussionen führt, sondern
tatsächlich zu einer Beschädigung des Ansehens dieses
Hauses, was staatspolitisch genauso gefährlich ist wie die
vorgetragenen Bedenken verfassungsrechtlicher Art.

Deswegen bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen aus den großen Fraktionen, diese Vorschläge nicht
gleich vom Tisch zu wischen. Der Antrag wird ja in die
Ausschüsse überwiesen. Dort können wir konstruktiv
über diese Fragen und insbesondere über ihre politischen
Auswirkungen diskutieren. Wenn es bessere Vorschläge
gibt, bin ich gern bereit, denen zu folgen. Da ich diese
Diskussion jedoch seit mittlerweile 25 Jahren verfolge
und kenne, muss ich sagen, dass ich bislang keinen bes-
seren Vorschlag gesehen habe.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412714800
Für die SPD-Frak-
tion spricht der Kollege Dr. Uwe Küster.


Dr. Uwe Küster (SPD):
Rede ID: ID1412714900
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Die Gesetzentwürfe der
F.D.P. haben das Ziel, das Anpassungsverfahren für die
Abgeordnetenentschädigung aus der unsachlichen
öffentlichen Kritik, die wir manchmal erleben, herauszu-
halten. Dieser Absicht stimmen wir ausdrücklich zu. Um
dies zu erreichen – so schlägt die F.D.P. vor –, müsste das
Grundgesetz geändert werden. Die Verfassung gibt uns
gegenwärtig vor, die Höhe der Diäten durch ein Gesetz zu
bestimmen. Diesen Grundsatz hat das Bundesverfas-
sungsgericht vor 25 Jahren eindeutig bestätigt.

Dieses Verfahren hat zur Folge, dass wir in öffentlicher
Sitzung über unser Einkommen selbstständig entscheiden
müssen. Die Verfassungsmütter und -väter wollten damit
Transparenz schaffen. Ich unterstütze ausdrücklich, dass
das Transparenzgebot damals in die Verfassung hinein-
geschrieben wurde. Doch was geschieht durch dieses Ver-
fahren in der Öffentlichkeit? Was wird von diesem kom-
plexen Verfahren überhaupt veröffentlicht? Was geschieht
in den Köpfen der Bürgerinnen und Bürger?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle wissen um
die Macht der Presse, die zum Teil sehr objektiv über un-
sere Arbeit, über unseren demokratischen Streit berichtet,
zum Teil aber auch Sensationshascherei betreibt. Ich
möchte gerade diesen schwierigen Akt der Selbstfindung

in der Diätenfrage aus der Sensationshascherei herausho-
len. Deswegen ist dieser Vorschlag aller Ehre wert.

Der F.D.P.-Entwurf versucht nun, uns als Abgeordne-
ten in Zukunft den Vorwurf der Selbstbedienung zu er-
sparen. Wir sollen demnächst nicht mehr selbst über die
Abgeordnetenentschädigung entscheiden, sondern dies in
die Hand einer Kommission geben. Das wirft natürlich die
Frage auf: Ist dies rechtlich zulässig? Ist dieses Verfahren
machbar?

Wir sind der Ansicht, dass die von der F.D.P. vorge-
schlagene Verfassungsänderung grundsätzlich rechtlich
möglich ist. Diese Ansicht teile ich ausdrücklich. Aus der
Fülle der Elemente des Abgeordnetenrechts könnte die
Höhe der Diäten – und nur diese – aus dem dem Gesetz-
geber vorbehaltenen Bereich herausgelöst und in unab-
hängige Hände gelegt werden.

Ich höre Bedenken der Art, dies verstoße gegen das De-
mokratieprinzip; auch Sie haben es erwähnt. Andererseits
meine ich, dass der Status des Abgeordneten des Deut-
schen Bundestages auch nach dem Entwurf der F.D.P.
nach wie vor in seinen wesentlichen Elementen – das ist
nicht nur eine Frage der Diäten – von der Verfassung und
vom Gesetzgeber bestimmt wird und bestimmt bleibt. Die
Diäten sind letztlich nur eine Detailfrage. Auch wenn es
sich um eine wichtige Detailfrage handelt – im Auge des
öffentlichen Beobachters manchmal die einzige Frage –,
so ist sie doch in einen angemessenen Gesamtzusammen-
hang zu stellen.

Nach einer ersten Sichtung haben wir also gegen Ihren
Entwurf keine grundsätzlichen rechtlichen Bedenken. Al-
lerdings – das möchte ich hier ausdrücklich feststellen –
heißt dies nicht, wir würden dem Entwurf in dieser Form
zustimmen. Wir halten den Vorschlag für diskussionswür-
dig. Wir werden ihn im Rahmen der Ausschusssitzungen
sorgfältig prüfen.

Lassen Sie uns in diesem Zusammenhang einen frühe-
ren Gedanken aufgreifen: Nach einem Gesetzentwurf
vom Sommer 1995 sollte die Diätenhöhe zumindest mit-
telbar an die Bundesrichterbesoldung gekoppelt werden.
Sie erinnern sich an diese Diskussion. Auch diesen Ge-
danken sollten wir im Hinterkopf behalten.

Gleichgültig, wie wir uns letztlich entscheiden: Unser
gemeinsames Ziel muss sein, auch durch die Bestimmung
der Höhe der Diäten das Mandat eines Bundestagsabge-
ordneten attraktiv zu gestalten. Unser Parlament soll für
Mitglieder aller Berufsgruppen, die mit dem hohen po-
litischen Amt eines Bundestagsabgeordneten unser Leben
ausgestalten wollen, attraktiv sein. Das heißt ganz kon-
kret: Wir wollen auch Abgeordnete, die aus der Selbst-
ständigkeit kommen. Wir wollen auch Abgeordnete, die
ihre als Unternehmer gewonnene Kompetenz hier ein-
bringen. Wir wollen auch Abgeordnete mit internationa-
ler beruflicher Erfahrung hier im Parlament haben. Die
Diätenhöhe darf dabei kein Hemmschuh sein.

Lassen Sie mich jetzt konkret auf die Entwürfe einge-
hen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können wir aus drei
Gründen nicht zustimmen.

Erstens bedarf eine weitreichende Grundgesetzände-
rung einer ausführlichen interfraktionellen Diskussion.




Dr. Hermann Otto Solms
12212


(C)



(D)



(A)



(B)


Eine Grundgesetzänderung im Hauruck-Verfahren geht
nicht. Wir brauchen dazu einen Meinungsbildungspro-
zess, der schwierig werden wird.

Zweitens stelle ich mich gegen die Schaffung immer
neuer Kommissionen. Sie selbst schreiben in Ihrem Ent-
wurf, es habe bereits mehrere Kommissionen zum Abge-
ordnetenrecht gegeben. Ich kann mich alleine an drei er-
innern. Zu welchem Ergebnis führten diese hoch
besetzten Gremien? Lassen Sie mich aus Ihrem Gesetz-
entwurf zitieren:

Auswirkungen auf Form und Ausmaß der öffentli-
chen Kritik hat die Einschaltung dieser Gremien aber
kaum gehabt.

Hier sind Sie in der Pflicht, uns nachzuweisen, dass die
von Ihnen vorgeschlagene Kommission anders ist. Wir
sind nicht bereit, der weit verbreiteten Kommissionitis
das Wort zu reden.

Drittens und letztens haben wir bereits einen anderen
Weg gewählt. Wir haben mit unserem Gesetzentwurf
zunächst versucht, die Preissteigerungen der nächsten
Jahre auszugleichen. Das System der Abgeordnetenent-
schädigung wird hierdurch nicht verändert. Das gibt uns
die Freiheit, langfristig Alternativen mit der nötigen
Gründlichkeit zu prüfen.

Die in unserem Gesetzentwurf vorgesehenen geringfü-
gigen Anpassungen bis zum 1. Januar 2003 sind das Er-
gebnis eines Kompromisses. Sie sind für uns auch nicht
verhandelbar. Wie jedem Kompromiss liegt auch diesem
ein schwieriger Meinungsfindungsprozess zugrunde. Wir
wollen die Entschädigung für die letzten sechs Monate
dieses Jahres um 0,6 Prozent und für die Jahre 2001 bis
2003 um jeweils 1,9 Prozent anheben. Diese Erhöhung
entspricht ungefähr der zu erwartenden Preissteigerungs-
rate. Sie führt nicht zu einer materiellen Erhöhung der
Entschädigung.

Unser Entwurf ist – lassen Sie mich das in aller Deut-
lichkeit sagen – ausgewogen. Er passt in die politisch-so-
ziale Landschaft. Die Erhöhung beweist Augenmaß. Wir
zeigen soziale Sensibilität. Ich werbe für unseren Entwurf
um Ihre Zustimmung. Geben auch Sie uns die Zustim-
mung, die wir in der Öffentlichkeit für ihn erfahren haben!

Abschließend appelliere ich an Sie: Missbrauchen Sie
dieses Thema nicht, um einen Schlagabtausch zu veran-
stalten! Das ist ein sensibles Thema; Sie haben das deut-
lich angesprochen. Wir werden Ihren Vorschlag mit der
gebührenden Sachlichkeit prüfen. Ich werbe darum, dass
wir die interfraktionelle Gesprächsfähigkeit aufrechter-
halten.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412715000
Ich gebe das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Dr. Peter
Ramsauer.


Dr. Peter Ramsauer (CSU):
Rede ID: ID1412715100
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Her-

ren! Ich finde, dass wir hier außerordentlich sorgfältig und
objektiv über dieses Thema diskutieren, das uns alle Jahre
wieder beschäftigt. Ich kann dem nur beipflichten, was
der Kollege Küster soeben vorgetragen hat, nicht in dem
Teil, in dem er den Diätenvorschlag der Koalition be-
gründet hat,


(Stephan Hilsberg [SPD]: Aber in der Sache hat er Recht!)


sondern in dem Teil, in dem er für Verständnis geworben
und Respekt für die Entwürfe, die von der F.D.P. vorge-
legt worden sind, geäußert hat. Ich schließe mich diesem
Respekt an.

Die Entwürfe der F.D.P. sind in der Tat ein sehr gut ge-
meinter Versuch, uns vom Vorwurf der Selbstbedienung
freizusprechen. Der Ansatz ist gut, er ist akzeptabel. Aber
meine Befürchtung ist, dass auch dieser Vorschlag uns
nicht vom Vorwurf der Selbstbedienung befreien kann.


(Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Ich möchte klipp und klar sagen: Ich halte den Deutschen
Bundestag nicht für einen Selbstbedienungsladen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Von keinem oder nur den allerwenigsten in diesem
Hause werden dieses Gremium und der Mechanismus, der
uns durch das Bundesverfassungsgerichtsurteil auferlegt
ist, ausgenutzt. Ich möchte keine Richterschelte betrei-
ben, aber das Bundesverfassungsgericht hat uns in der Tat
einen Bärendienst erwiesen. Wir müssen mit diesem Ur-
teil irgendwie leben.

Ich glaube, dass wir uns von dem Vorwurf der Selbst-
bedienung auch mithilfe des F.D.P.-Vorschlages nicht
befreien können. Denn selbst wenn eine unabhängige
Sachverständigenkommission Vorschläge unterbreitet,
werden große Teile der Öffentlichkeit und auch der Me-
dien vom Parlament erwarten – es gibt nie einen geeigne-
ten Zeitpunkt für eine Diätenerhöhung –, dass durch einen
aktiven Schritt Verzicht geübt wird. Ich will überhaupt
nicht bezweifeln, dass durch eine Sachverständigen-
kommission ein vernünftiger, begründeter Vorschlag zu-
stande kommen kann; das steht außer Frage. Aber es gibt
aus der jüngsten Zeit unüberbietbare Beispiele dafür, dass
letztlich doch Verzicht geübt wird.

Herr Kollege Solms, Sie haben in Ihrem Beitrag die Si-
tuation in der letzten Legislaturperiode dargestellt. Wir
haben in der letzten Legislaturperiode ein klares vierstu-
figes Erhöhungsmuster beschlossen. Von diesem vier-
stufigen Erhöhungsmuster kam die erste Stufe zustande.
Bereits die zweite Stufe wurde ausgesetzt, weil der Deut-
sche Bundestag durch eine Änderung des Abgeord-
netengesetzes geltendes Recht aktiv verändert hat.

Ein zweites Beispiel haben wir in dieser Legislaturpe-
riode. Wir hatten aufgrund der Gesetzgebung der letzten
Legislaturperiode die Regelung, dass der Deutsche Bun-
destag in dieser Legislaturperiode innerhalb des ersten
halben Jahres nach seinem Zusammentreten, also bis zum




Dr. Uwe Küster

12213


(C)



(D)



(A)



(B)


26. April des letzten Jahres – gestern vor genau zwei Jah-
ren hat sich der Deutsche Bundestag zur 14. Legislatur-
periode konstituiert –, eine Diätenregelung für diese
Legislaturperiode beschließt – nach wie vor geltendes
Recht. Ganz streng genommen haben wir uns selbst ins
Unrecht gesetzt. Der Deutsche Bundestag, der Ge-
setzgeber, befolgt nicht geltendes Recht, das er selber ge-
setzt hat. Der Präsident des Deutschen Bundestages hat
– fast rechtzeitig – Erhöhungsvorschläge vorgelegt. Der
Deutsche Bundestag ist ihnen nicht gefolgt, hat also wie-
der, in diesem Fall durch passives Handeln, gesetztes
Recht mehr oder weniger nicht beachtet.

Das dritte Beispiel ist zwar nicht aus dem Parlament,
aber es geht in die gleiche Richtung. Die beiden Minis-
terpräsidenten Wolfgang Clement und Edmund Stoiber
haben eine bekannte Wirtschaftsprüfungskanzlei damit
beauftragt, ein Gutachten über die Bemessung von
Minister- und Ministerpräsidentengehältern vorzulegen,
um exzellente Kräfte als Quereinsteiger für Führungs-
positionen in der Politik gewinnen zu können. Als das Er-
gebnis vorlag – ich habe es mir einmal angesehen; das
Gutachten ist von guten Wirtschaftlern sehr plausibel er-
stellt worden –, haben beide sofort erklärt: Um Gottes wil-
len, wenn wir dieses Ergebnis geahnt hätten, hätten wir
ein solches Gutachten gar nicht in Auftrag gegeben. – So
kann das, was dabei herausgekommen ist, niemals Wirk-
samkeit entfalten oder frühestens für die übernächste und
die folgenden Generationen.

Wenn ich das alles zusammennehme, bleibt mir die bit-
tere Erkenntnis, dass sich an dem geltenden Verfahren
letztlich wohl nichts so ändern lassen wird, dass wir uns
des Selbstbedienungsvorwurfs entledigen könnten.

Es wird – ich sage es noch einmal – nie einen günsti-
gen Zeitpunkt geben, zu dem man eine Diätenerhöhung
beschließen kann. Ich habe gestern mit dem Hauptstadt-
korrespondenten einer großen deutschen Zeitung gespro-
chen. Ich habe ihn gefragt: Was würden Sie tun, damit wir
aus dieser Problematik vernünftig herauskommen? Da-
raufhin hat er mir gesagt: Herr Ramsauer, ich sage Ihnen
ganz ehrlich, Sie können machen, was Sie wollen, wir
werden das immer verreißen. – Wenn das schon so ist, was
soll man da noch tun?


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Ein sehr aufbauender Ausspruch!)


– Das ist ein sehr aufbauender Ausspruch.
Natürlich ist es immer schwierig, in eigener Sache zu

befinden, aber ich fürchte, wir kommen davon nicht weg.
Ich glaube aber, dass wir den Vorwurf der Selbstbedie-

nung, wenn wir es richtig und offensiv angehen, trotzdem
entkräften können, indem wir darstellen, was in diesem
Parlament geleistet wird. Wir brauchen uns vor nichts zu
verstecken.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!)

Es gibt eine Umfrage von Forsa, die besagt, dass

55 Prozent der Menschen in unserem Land die Dotierung
von Abgeordneten und Politikern für zu hoch halten. In
vielen Gesprächen, in Versammlungen im Wahlkreis usw.
frage ich die Leute immer: „Was glaubt ihr denn, was Ab-

geordnete verdienen?“ Meine Erfahrungen aus diesen vie-
len Gesprächen sind, dass die Menschen völlig falsche
Vorstellungen über die tatsächlichen Dotierungen haben –
völlig falsche Vorstellungen.

Wenn man dann sagt: „Ein Sparkassendirektor in mei-
nem Wahlkreis lacht einen Abgeordneten aus, wenn man
die Bezüge offen legt“, herrscht helles Staunen. Deswe-
gen müssen wir uns, liebe Kolleginnen und Kollegen,
auch in solchen Debatten – nächste Woche haben wir wie-
der Gelegenheit dazu – ganz offensiv trauen, das darzu-
stellen, was hier geleistet wird. Es geht nicht nur um die
Frage „eigene Sache“, es geht auch darum darzustellen,
dass Dotierungen – egal, wo in unserer Gesellschaft und
in der Wirtschaft – auch dem Kriterium der Leistungsge-
rechtigkeit entsprechen müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Wir brauchen uns mit dem, was wir hier leisten – ich
glaube, dass kann man für alle Fraktionen hier im Hause
sagen –, wirklich nicht zu verstecken.

Über den Inhalt kann man immer geteilter Meinung
sein – das ist im Streit der Politik völlig normal –, aber
nicht über die Leistungsgerechtigkeit als solche.

Ich kenne Briefe von Rentnern und von sozial
schwächer Gestellten. Ich respektiere es, wenn wir von
solchen Menschen Bedenken mitgeteilt bekommen; ich
verstehe diese Bedenken. Ich komme noch zu einem an-
deren ganz wichtigen Punkt, wenn es um die Bemessung
von Dotierungen geht. Es muss uns im Parlament auch da-
rum gehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir für
die Zukunft hervorragendes politisches Personal rekru-
tieren können. Wir brauchen ein Parlament mit exzellen-
ten, guten Köpfen. Das ist auch etwas, was die Öffent-
lichkeit erwartet. Die deutsche Öffentlichkeit will kein
Parlament des Mittelmaßes, sondern ein hervorragend
ausgestattetes Parlament. Es ist nun einmal so, dass für
junge Menschen von 30, 35 oder 40 Jahren, wenn wir sie
für solche Ämter begeistern und gewinnen wollen, natür-
lich nicht mehr allein der politische Idealismus aus-
schlaggebend ist, sondern es werden auch – das ist nun
einmal so – materielle Aspekte herangezogen.

Hier kommt der Vergleich mit der Wirtschaft. Wenn ich
mir – ganz objektiv – ansehe, was in Führungspositionen
der Wirtschaft, beginnend ab dem mittleren Management,
jungen Menschen gezahlt wird, dann können wir bei der
Entwicklung der Diäten, wie sie sich jetzt wieder ab-
zeichnet, auch bei den Vorschlag, der in der nächsten Sit-
zungswoche auf dem Tisch liegt, guten jungen Leuten
keine materiellen Perspektiven bieten.

Ich halte das für die Entwicklung des Parlamentaris-
mus für außerordentlich gefährlich; denn es wäre
schlimm, wenn sich ein immer größerer Teil hier im Bun-
destag aus Abgeordneten zusammensetzte, die ihr Haupt-
einkommen mit anderen Tätigkeiten verdienen würden
– ich möchte jetzt bewusst keine Beispiele nennen –, und
die darüber hinaus sozusagen einen Nebenverdienst mit
einem Sitz im Deutschen Bundestag erzielen. Das wäre
ein großer Schaden für unsere parlamentarische Demo-
kratie. Dazu darf es nicht kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU)





Dr. Peter Ramsauer
12214


(C)



(D)



(A)



(B)


Deswegen meine ich, dass wir hier schon einen richti-
gen Schritt getan haben, indem wir sagen: Die Dotierung
eines Bundestagsabgeordneten muss sich an der Besol-
dung R 6 oder B 6 orientieren, das heißt an der Besoldung
für Bundesrichter oder von Landräten – beispielsweise
kleinerer Landkreise –, denn die Abgeordneten in diesem
Parlament leisten insgesamt weiß Gott nicht weniger
– Stichwort „Leistungsgerechtigkeit“ – als Oberbürger-
meister von Städten oder als Landräte oder Personen in
ähnlich dotierten Positionen im öffentlichen Dienst.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Meine Damen und Herren, ich muss es noch einmal sa-

gen: Der Vorschlag der F.D.P. ist wohlgemeint, ist ein
guter Ansatz, ist auch nicht der erste, der unternommen
wird, um die Probleme zu lösen.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Lass es noch ein bisschen offen! Keine Absage!)


– Nein, ich möchte keine Absage erteilen. – Wir sollten
uns in der Ausschussberatung noch einmal ganz intensiv
mit dieser Frage befassen. Wenn es nach mir und nach
dem Willen der Kolleginnen und Kollegen meiner Frak-
tion ginge, würden wir bestimmt einen gangbaren Weg
wählen, wie wir uns von dem Vorwurf der Selbstbedie-
nung elegant befreien könnten. Aber es bleibt bei meinem
vorgetragenen Einwand, dass nämlich die Lust auf Ver-
zicht


(Zuruf von der PDS: Das ist aber sehr kryptisch!)


in diesem Hause am Ende wieder groß sein wird, weil der
jeweilige Zeitpunkt falsch gewählt ist und der Druck von
Öffentlichkeit und Medien so stark ist, und dass daher von
Vorschlägen der Sachverständigenkommission doch nicht
Gebrauch gemacht wird. Deswegen bleibt uns auf Dauer
nichts anderes übrig, als das, was wir – im wahrsten Sinne
des Wortes – verdienen, immer wieder über die Frakti-
onsgrenzen hinweg glaubwürdig nach außen zu vertreten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412715200
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Cem
Özdemir.


Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412715300
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Die F.D.P.-Fraktion
hat in ihrem Gesetzentwurf zu Recht darauf hingewiesen –
auch alle vorherigen Redner haben dies getan –, dass das
Thema Diäten immer wieder im Mittelpunkt der öffentli-
chen Kritik steht und damit das Ansehen der Abgeordne-
ten berührt.

Wenn man über die Höhe der Diäten diskutiert – nichts
anderes hat Ihr Gesetzentwurf zum Gegenstand –, dann
muss man auch ein Wort der Selbstkritik finden. Es gab
sicherlich berechtigte Kritik der Bevölkerung, weil wir in
der Vergangenheit manchmal in einer Weise gehandelt ha-
ben, die nicht unbedingt das Ansehen der Parlamentarier
und des Parlamentes gemehrt haben.

Man muss aber eines hinzufügen: Wenn man mit den
Menschen spricht, dann kann man erkennen, dass viele

Dinge verwechselt werden. Das ist ja auch nicht so ein-
fach: Übergangsgelder, Doppelalimentierung und Abge-
ordnetendiäten. All diese Themen werden in einen Topf
geworfen und es wird fleißig umgerührt, sodass sozusagen
ein sehr unübersichtlicher Brei dabei herauskommt.
Scherzhaft hat einmal ein Mitglied meiner Fraktion ge-
sagt – ich will den Namen nicht nennen; ich glaube, er
spricht wahrscheinlich im Namen des ganzen Hauses –,
man könne nur wegrennen, wenn es um das Thema Diäten
gehe. Egal, was man in dieser Debatte sage, es sei
immer falsch. Selbst wenn man fordern würde, dass die
Abgeordnetendiäten auf Sozialhilfeniveau abgesenkt wür-
den, dann würden immer noch einige sagen, es sei noch zu
viel, weil die Politik so schlecht sei. Mit dieser Kritik wer-
den wir leben müssen – Deutschland ist kein Einzelfall; in
anderen Ländern gibt es die gleichen Diskussionen –, so-
lange es Parlamente und die parlamentarische Demokratie
gibt.

Unsere Entscheidung, im vergangenen Jahr eine Null-
runde zu machen und in diesem Jahr maßvoll um den In-
flationsausgleich zu erhöhen, war eine angemessene Ant-
wort. Sie zeigt, dass wir uns unserer Verantwortung
bewusst sind, selber über die Höhe unseres Gehaltes ent-
scheiden zu müssen, was im Erwerbsleben nicht gerade
üblich ist. Unsere Entscheidung war daher sehr sinnvoll.

Herr Ramsauer hat darauf hingewiesen, dass sich ein
Manager oder ein Unternehmer weigern würde, für dieses
Gehalt in die Politik zu gehen. Das ist sicherlich ein be-
rechtigtes Argument. Aber ich glaube, Herr Ramsauer, Sie
werden mir zustimmen, dass wir Gehälter in dieser Di-
mension im Rahmen einer Diätenerhöhung nie erreichen
können. Ein Bürger wird auch in Zukunft nicht primär aus
dem Grund in die Politik gehen, um viel Geld zu verdie-
nen – auch Sie haben das vorhin gesagt –, sondern weil es
ihm um die Sache geht. Wir wollen die Menschen so an-
gemessen bezahlen, dass sie für ihre Tätigkeit nicht be-
straft werden. Unsere Gehälter werden aber niemals
– eine solche Diätenerhöhung fordert auch keine Fraktion
in diesem Hause – mit den Gehältern von Managern und
Unternehmern konkurrieren können.

Zu dem F.D.P.-Vorschlag möchte ich nicht viel sagen.
Zu den rechtlichen Aspekten – ich selber bin kein Jurist –
hat sich Herr Küster schon geäußert. Die Expertise des
Bundestages habe ich gelesen; es gibt unterschiedliche
Einschätzungen. Der Vorschlag ist nicht ganz neu. Er ist
schon mehrfach diskutiert, geprüft und mehrfach übrigens
auch verworfen worden.

Ich möchte Ihren Vorschlag unter folgendem Aspekt
behandeln. Ich unterstelle einmal, dass der einzige Grund
für Ihren Vorschlag ist, dass wir uns des Problems entle-
digen können, dass wir uns ständig dem Vorwurf ausge-
setzt sehen, dass wir über unsere Diäten selbst entschei-
den, uns selbst alimentieren und uns damit selbst bedienen
würden.

Hilft uns dieser Vorschlag, der Gefahr des Ansehens-
verlusts entgegenzuwirken? Ich meine, nein. Ich stimme
dem Argument des Herrn Kollegen Ramsauer zu, dass es
der Versuch einer Flucht ist. Dadurch wird nicht eines un-
serer Probleme gelöst. Wenn wir die Entscheidung darü-
ber, wie viel wir an Diäten bekommen sollen, an irgend-
einen Rat der Weisen delegieren, wird das nicht unser




Dr. Peter Ramsauer

12215


(C)



(D)



(A)



(B)


Problem lösen, dass wir anlässlich der Entscheidung über
eine Diätenerhöhung Rechenschaft über unsere Arbeit ab-
legen und Bilanz ziehen müssen.

Darum glaube ich, dass der Vorschlag der F.D.P., auch
wenn er interessant ist und sich charmant anhört, unser
Problem vom Grundsatz her nicht lösen wird.

Wir sind als Abgeordnete in der Lage, unser Gehalt
selbst festzulegen. Das ist Ausfluss des Demokratieprin-
zips des Grundgesetzes. Wir sollten es uns nicht so leicht
machen, diese Entscheidung an Dritte zu delegieren.
– Wie gesagt, auf die rechtlichen Bedenken gehe ich gar
nicht ein.

Ich möchte zum Schluss noch eines sagen: Ich glaube,
dass die Debatte um die Höhe der Diäten verantwor-
tungsvoll zu führen ist. Mann sollte hier weder überziehen
noch sollte man seinen eigenen Beruf schlecht machen,
indem man sagt: Wir Abgeordnete müssen uns für das
schämen, was wir tun. Die Kollegen haben schon darauf
hingewiesen: Wir müssen uns nicht für das schämen, was
wir tun. Jeder hier nimmt seinen Beruf ernst. Jeder tut,
was er kann; jeder setzt sich ein – das war der Grund, dass
wir in die Politik gegangen sind. Darum können wir uns
mit Fug und Recht hinter den Beschluss stellen, den wir
hier präsentieren, dass wir die Diäten um die Inflations-
rate erhöhen. Das ist eine Maßnahme mit Augenmaß, die
nicht überzogen ist.

Danke sehr.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412715400
Das Wort für die
Fraktion der PDS hat nunmehr die Kollegin Dr. Barbara
Höll.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412715500
Herr Präsident! Meine lieben
Kollegen und Kolleginnen! In der bisherigen Debatte wa-
ren eigentlich die Beiträge aller Fraktionen von denselben
Zweifeln und Hoffnungen geprägt.

Der Vorschlag der F.D.P., eine unabhängige Exper-
tenkommission einzusetzen, die die Last von uns nimmt,
durch Entscheidung in eigener Sache für uns selbst be-
stimmen zu dürfen und zu müssen – über die richtige
Höhe der Entschädigung für unsere Tätigkeit, über die Al-
tersversorgung und damit zusammenhängende Fragestel-
lungen –, ist zunächst einmal begrüßenswert. Die Kom-
mission soll uns von der „Plage“ befreien, dass wir uns
selbst Gutes tun. Sie soll uns vom Geruch des Selbstbe-
dienungsladens befreien und die Gefahr des Missbrauchs
unserer Entscheidungskompetenz in eigener Sache besei-
tigen.

Die Hoffnungen, die mit der Übertragung dieser
Entscheidungskompetenz auf die mit diesem Gesetzent-
wurf beantragte Expertenkommission verbunden sind,
mögen nicht trügen. Dennoch habe ich Zweifel, ob sich
die öffentliche Meinung dadurch wesentlich ändern
würde. Denn wer schützt uns vor dem Vorwurf, ob unab-
hängige Experten auch tatsächlich unabhängig ent-
scheiden?

Ich denke, dass wir die Frage grundsätzlicher angehen
müssen. Wir müssen durch mehr Transparenz und durch
unsere Tätigkeit hier das Ansehen des Parlaments erhöhen
und bewirken, dass das Erscheinungsbild des Politikers
und der Politikerin wieder positiv wird.

Unser ehemaliger Kollege Gerhard Zwerenz hat in sei-
nem Buch über den Deutschen Bundestag geschrieben:
Für Menschen, die wenig Geld in diesem Lande verdie-
nen, ist die Abgeordnetenentschädigung sehr hoch. Für
Menschen, die sehr viel verdienen, ist es sie eher niedrig.
Für Menschen mit einem mittleren Einkommen ist sie an-
nehmbar.

Wir sind Vertreterinnen und Vertreter der gesamten Be-
völkerung. Ich denke, wir dürfen in dieser Diskussion
nicht immer den Vergleich mit einem Unternehmensbera-
ter oder Unternehmer heranziehen. Es stellt sich nämlich
die Frage der Bewertung von Arbeit, egal welcher Art. Ich
nehme jetzt bewusst ein extremes Beispiel, nämlich die
Hausfrau, die sechs Kinder erzieht: Sie bekommt kein
Geld dafür, leistet aber unwahrscheinlich viel. – Für die
Festlegung einer Bemessungsgrundlage müssen also viel-
fältige Überlegungen angestellt werden. Ich denke, für die
Bewertung dieser beiden Gesetzentwürfe brauchen wir
eine ausführliche Debatte.

Ich möchte noch einen Punkt herausheben. Logischer-
weise wird von der F.D.P. eine Grundgesetzänderung be-
antragt. Ich habe allerdings Zweifel, ob wir unsere Ge-
setzgebungskompetenz an eine Kommission übertragen
dürfen. Darüber müssen wir noch einmal diskutieren. Das
Parteiengesetz gesteht der unabhängigen Parteienfinan-
zierungskommission in § 18 Abs. 6 und 7 zu, dass sie dem
Bundestag zwar Empfehlungen unterbreiten kann, aber
nicht selbst entscheidet.

Ich denke, dieser Punkt ist sicherlich einer der strittigs-
ten. Ich hoffe, dass wir in gemeinsamer Diskussion hier zu
einem vernünftigen, praktikablen Ergebnis kommen.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der PDS sowie des Abg. Dieter Wiefelspütz [SPD])



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412715600
Als letzter Rednerin
in dieser Debatte gebe ich der Kollegin Anni Brandt-
Elsweier für die SPD-Fraktion das Wort.


Anni Brandt-Elsweier (SPD):
Rede ID: ID1412715700
Sehr geehrter Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Als letzte Rednerin
zu diesem Thema kann man sich im Wesentlichen nur
wiederholen. Aber da müssen wir jetzt gemeinsam durch.

Die Höhe und Ausgestaltung der Abgeordnetenent-
schädigung wird mit schöner Regelmäßigkeit im Bundes-
tag diskutiert. Es ist auch ein Thema, das die Öffentlich-
keit jederzeit mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Denn
es lohnt sich immer wieder für die Heraufbeschwörung
des Bildes des „raffgierigen“ Abgeordneten, der sich
selbst mal wieder ein großes Stück vom Kuchen geneh-
migt, während die Abgeordneten das einfache Volk zum
Sparen auffordern.




Cem Özdemir
12216


(C)



(D)



(A)



(B)


Da erscheint natürlich die Einrichtung einer unabhän-
gigen Kommission, die vom Bundespräsidenten zur Er-
mittlung und Festsetzung der angemessenen Abgeordne-
tenentschädigung eingesetzt werden soll, als die Lösung
aller Probleme.

Diese Lösung – das ist hier schon gesagt worden – ist
ja nicht neu und, wie wir alle wissen, verfassungsrechtlich
problematisch. Führende Verfassungsrechtler vertreten
die Auffassung, dass eine solche Entscheidungsverla-
gerung gegen das Demokratie- und Rechtsstaatsprin-
zip verstoße. Sie argumentieren, die Verantwortung kön-
ne nicht einer Kommission überlassen werden, die einer
demokratischen Legitimation entbehre.

Art. 48 Abs. 3 Satz 3 des Grundgesetzes legt die Rege-
lung der Entschädigung durch Gesetz ja ausdrücklich fest.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner grundlegen-
den Entscheidung von 1975 dazu gesagt – ich zitiere –:

In einer parlamentarischen Demokratie lässt es sich
nicht vermeiden, dass das Parlament in eigener Sache
entscheidet, wenn es um die Festsetzung der Höhe
und um die nähere Ausgestaltung der mit dem
Abgeordnetenstatus verbundenen finanziellen Rege-
lungen geht.

Aber ich gebe gern zu, dass uns die Einsetzung einer
derartigen Kommission vieles erleichtern würde. Der
ewige Vorwurf der Selbstbedienung – er ist hier bereits
häufig zitiert worden – wäre vom Tisch und die anhal-
tende Diskussion über die Berechtigung der Abgeordne-
ten, über ihre eigene Entschädigung zu befinden, wäre
endlich beendet.

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen – auch das ist be-
reits gesagt worden –, wir sollten darüber nachdenken, ob
wir es uns damit nicht allzu einfach machen. Denn bei der
Prüfung über die Höhe der Abgeordnetenentschädigungen
handelt es sich ja in erster Linie um eine politische und
nicht um eine rechtliche Frage. Eine Verlagerung dieser
Entscheidung auf eine Kommission könnte den Anschein
erwecken, die Politikerinnen und Politiker würden sich aus
der Verantwortung stehlen. Es würde noch zusätzlich den
ohnedies schon existierenden Eindruck unterstützen, das
Ganze sei eine irgendwie unseriöse Angelegenheit, bei der
wir Abgeordneten etwas zu verbergen hätten.

Nicht ohne Grund hat das Bundesverfassungsgericht in
seinem bereits erwähnten Urteil darauf gedrungen, dass
die Transparenz des Verfahrens klar und deutlich sein
muss. Ich zitiere nochmals:

In einem solchen Fall verlangt aber das demokrati-
sche und rechtsstaatliche Prinzip, dass der gesamte
Willensbildungsprozess für den Bürger durchschau-
bar ist und das Ergebnis vor den Augen der Öffent-
lichkeit beschlossen wird.

In diesem Sinne hat sich auch die Kommission unab-
hängiger Sachverständiger zur Parteienfinanzierung be-
reits in der 12. Legislaturperiode geäußert. Sie ist der Auf-
fassung, dass das Parlament seine eigenen Entscheidungen
selbst zu verantworten hat und gegebenenfalls auch der öf-
fentlichen Kritik hieran Rechnung tragen muss.

Ich bin der Ansicht – auch das ist bereits gesagt wor-
den –, dass wir grundsätzlich dazu stehen sollten, wenn
wir über eine Erhöhung der Abgeordnetenentschädigung
selbst entscheiden. Wenn wir unseren Wählerinnen und
Wählern deutlich machen, was wir dafür zu leisten haben
und wie viel Zeit und Stress unter anderem das Mandat
beansprucht, dann können wir dies auch offensiv vertre-
ten.

Die Entscheidung über die eingebrachten Gesetzent-
würfe ist also keinesfalls einfach. Sie müssen einer sorg-
fältigen politischen und rechtlichen Prüfung unterzogen
werden.

Die von Ihnen, meine Damen und Herren von der
F.D.P., vorgeschlagene Änderung des Entschädigungssys-
tems bedarf sicherlich gründlicher Diskussion und Aus-
sprache, insbesondere die von Ihnen beabsichtige Ände-
rung des Grundgesetzes, die wir nicht im Vorübergehen
vornehmen können. Wenn wir das Fundament unserer be-
währten Rechtsordnung ändern, sind eingehende Beratun-
gen vonnöten. Ich denke, eine entsprechende Verfassungs-
änderung sollte von allen Fraktionen des Hauses getragen
werden, insbesondere wenn bei der Ausgestaltung der
Abgeordnetenentschädigung vom bisherigen Prinzip ab-
gewichen wird. Wir werden deshalb im weiteren Gesetz-
gebungsverfahren prüfen, inwieweit hier ein gemeinsames
Vorgehen möglich ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412715800
Ich schließe die Aus-
sprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe
auf den Drucksachen 14/4127 und 14/4128 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 sowie die Zusatz-
punkte 8 und 9 auf:
6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate

Blank, Wilhelm Josef Sebastian, Dirk Fischer

(Hamburg), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion der CDU/CSU
Wettbewerbsfähigkeit des deutschen
Güterkraftverkehrsgewerbes erhalten und si-
chern
– Drucksache 14/4150 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich (Bayreuth), Hans-Michael Goldmann,
Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der F.D.P.




Anni Brandt-Elsweier

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(C)



(D)



(A)



(B)


Wettbewerbsnachteile für deutsches Güter-
kraftverkehrsgewerbe beseitigen
– Drucksache 14/4396 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Fischer (Hamburg), Dr.-Ing. Dietmar Kansy,
Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Weißbuch über Harmonisierungsdefizite bei
Verkehrsdienstleistungen
– Drucksache 14/4378 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Wie ich
sehe, ist das Haus damit einverstanden.

Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner
dem Kollegen Wilhelm Josef Sebastian für die Fraktion
der CDU/CSU das Wort.


Wilhelm Josef Sebastian (CDU):
Rede ID: ID1412715900
Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben un-
seren Antrag eingebracht, weil wir wissen, dass das Gü-
terkraftverkehrsgewerbe dringend unserer Hilfe bedarf.
Es häufen sich die berechtigten Rufe der Unternehmer
und Beschäftigten nach Hilfe des Staates in einer äußerst
prekären Lage. Die Hilferufe sind vielerorts mittlerweile
ohnmächtiger Wut gewichen. Dies haben uns die demons-
trierenden LKW-Fahrer hier vor wenigen Wochen vor
dem Brandenburger Tor gezeigt.

Wie hieß so schön der Wahlspruch der SPD vor der
Bundestagswahl? – Wir machen nicht alles anders, aber
vieles besser. Meine Damen und Herren, Sie machen
nichts besser; Sie machen gar nichts.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD – Angelika Mertens [SPD]: Das ist doch nicht wahr!)


Seit zwei Jahren sehen Sie tatenlos zu, wie sich die
schwierige Lage des Güterkraftverkehrsgewerbes immer
weiter verschlechtert.


(Angelika Mertens [SPD]: Null Ahnung!)

Jetzt, nachdem die Lage fast aussichtslos ist, es bei man-
chen Betrieben schon fünf nach zwölf und nicht mehr fünf
vor zwölf ist, sind immer noch keine konkreten Hilfs-
maßnahmen erkennbar.

Wir sehen nur Betroffenheitserklärungen des Herrn
Bundeskanzlers und des Herrn Verkehrsministers, aber
Taten sind kaum erkennbar. Wie dieser Antrag und die
Notwendigkeit von Hilfen eingeschätzt werden, sieht man
ja darin, dass sich der Verkehrsminister heute nicht selbst
der Sache hier annehmen wird. Der Bundeskanzler gibt

Binsenweisheiten von sich, wenn er gegenüber der „Deut-
schen Verkehrs-Zeitung“ Anfang Oktober erklärt:

Im europäischen Binnenmarkt liege unser Ansatz-
punkt für den Abbau von Wettbewerbsbenachteili-
gungen.

Wenn es des Beweises für Tatenlosigkeit noch bedurft
hätte, so wäre er in der ergänzenden Anmerkung von
Kanzler Schröder zu finden,

…die Beteiligten sollen die Gespräche wieder auf-
nehmen.

Wer ist denn eigentlich Beteiligter, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Regierungsparteien, wenn nicht die Re-
gierung eines Landes, in dem im europäischen Vergleich
weitaus der meiste Güterkraftverkehr stattfindet und das
das Transitland Nummer eins in Europa ist, in dem aber
die weitaus schlechtesten Rahmenbedingungen für Spedi-
teure herrschen?

Der Herr Minister strotzt ja geradezu vor Tatendrang,
wenn er auf unsere Anfrage nach europäischen Initiativen
erklärt:

Einigungen setzen einen Konsens unter den Mitglied-
staaten der EU voraus. Deswegen führt die Bundes-
regierung weiterhin auch direkte Gespräche mit den
europäischen Nachbarn.

Keine Konzepte, keine Inhalte – diese Antwort spricht er-
neut für sich!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wenn man Wettbewerbsnachteile für deutsche Unterneh-
mer ausmacht – in diesem Sinne haben Sie uns ja geant-
wortet –, muss man auch handeln. Die von den jeweiligen
Nationalregierungen in ihren Ländern gemachte Politik
unterscheidet sich nämlich eklatant. Unser Herr Ver-
kehrsminister und unser Herr Bundeskanzler sind aber
Mitglied einer dieser Regierungen.


(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Wo ist denn der Verkehrsminister?)


Ich will Ihre Einsicht in die Realität nicht in Abrede
stellen. Umso schlimmer ist es aber, dass Sie von Ihrem
grünen Koalitionspartner in die falsche Richtung getrie-
ben werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Fakten sind uns allen bestens bekannt: Die Kfz-

Steuer auf LKWs in Deutschland ist die höchste in Eu-
ropa. Ein deutscher 40-Tonner kostet im Vergleich zu ei-
nem niederländischen pro Jahr etwa 3 500 DM mehr, im
Vergleich zu einem belgischen 4 100 DM mehr und im
Vergleich zu einem französischen 4 500 DM mehr. Im Be-
reich der Mineralölsteuer kostet ein deutscher 40-Tonner
bei durchschnittlicher Fahrleistung und durchschnittli-
chem Verbrauch pro 100 Kilometer ab nächstem Jahr
43 400 DM, ein französischer 30 700 DM und ein nieder-
ländischer 29 000 DM. Es handelt sich also um eine Wett-
bewerbsverzerrung in gewaltigem Ausmaß.


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Genau!)





Vizepräsident Rudolf Seiters
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(C)



(D)



(A)



(B)


Am 27. September erklärte der Verkehrsminister im
Verkehrsausschuss, dass er die EU-Kommission gebeten
habe, die von den Mitgliedern der Union unlängst zur Ab-
federung der hohen Energiepreise vorgenommenen Maß-
nahmen in Bezug auf das EU-Beihilferecht zu prüfen.
Was heißt eigentlich „gebeten“? An dieser Stelle muss
massiv widersprochen werden: Es muss gehandelt wer-
den. Der Minister erklärt wiederholt, dass die verschie-
densten Maßnahmen eingeleitet wurden. Sagen Sie uns
einmal klar und deutlich, welche einzelnen Maßnahmen
konkret und mit welchem Erfolg eingeleitet wurden!

Übrigens, das beste Bild für Ihre Politik bot unsere ges-
trige Ausschusssitzung. Es stand der Punkt „Vorschlag der
EU-Kommission für eine Entscheidung des Rates zur Er-
mächtigung Italiens, die Verbrauchsteuern auf bestimmte
Mineralöle mit besonderen Verwendungszwecken zu staf-
feln“ auf der Tagesordnung. Wenn diesem Vorschlag ge-
folgt wird, bedeutet dies ein Absenken der Mineralöl-
steuer für italienische LKWs um 12 Pfennig pro Liter.
Unsere Fraktion stellte den Antrag, dass der Minister in
Brüssel bei der EU dafür eintreten solle, dass dieser An-
trag abgelehnt wird.

Sie können raten, wie die Abstimmung im Ausschuss
ausging. Die Kollegin Mattischeck begründete die Ableh-
nung der SPD-Fraktion mit den höheren Mineralölpreisen
in den anderen Ländern der EU. Frau Mertens von der
SPD meinte – jetzt wird es noch viel abenteuerlicher –:
Wenn unser Umgangston freundlicher gewesen wäre,
dann hätte man über unseren Antrag reden können.


(Angelika Mertens [SPD]: Das stimmt! Das können Sie sich auch einmal angewöhnen!)


Wer unseren Kollegen Michael Meister kennt, weiß,
dass er immer freundlich und korrekt ist.


(Beifall bei der CDU/CSU – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist wahr! Das kann ich bestätigen! Das ist allgemein bekannt! – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Er hat den Sympathiepreis des Jahres bekommen!)


Das heißt, im Ausschuss muss unser Antrag freundlich
vorgetragen werden und mit einem Bitte, bitte verbunden
sein, damit wir vielleicht einmal die Aussicht haben, dass
unsere Anträge genehmigt werden. Wenn ich an meinen
zwölfjährigen Sohn den Wunsch herantrage, dass er mir
bei der Programmierung des Videorecorders helfe, dann
entgegnet er mir: Papa, sag zuerst einmal: Bitte, bitte,
großer König. – Wir werden zukünftig also immer bitte,
bitte sagen müssen.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: In gebückter Haltung!)


Ich weiß aber auch, warum die Regierung in dieser Sa-
che bis heute nichts unternommen hat: Die Brummifahrer,
die vor dem Brandenburger Tor standen, haben nicht bitte,
bitte gesagt und keine Blümchen mitgebracht, sondern sie
haben ihren Unmut zum Ausdruck gebracht. Nur wenn
man in Zukunft bitte, bitte sagt, dann kann man vielleicht
hoffen, irgendetwas zu bekommen. Vielleicht soll hier
vielleicht irgendwann wieder der Hofknicks eingeführt
werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dazu kommt ein Bundeskanzler, der uns fast verbietet,
bei den Bürgern gewisse Themen anzusprechen, die nicht
erwünscht sind. Wir sind in dieses Haus gewählt, um uns
der Probleme der Menschen anzunehmen, um Lösungen
zu suchen und Hilfe zu leisten. Beim Transportgewerbe
geht es um über 40 000 Unternehmer und um über
380 000 Beschäftigte. Nach Auskunft der Verbände sind
10 000 mittelständische Unternehmen mit 100 000 Be-
schäftigten in höchster Gefahr.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Wir sind in großer Sorge! Das ist wahr!)


Es geht um Arbeitsplätze. Bei der Aktion Holzmann wa-
ren es vielleicht freundliche Bauarbeiter, denen damals
geholfen worden ist. Es besteht dringender Handlungsbe-
darf. Wir haben einen Antrag formuliert, um diesem Ge-
werbe zu helfen.

Ich darf Sie, die Bundesregierung und die sie tragen-
den Fraktionen, auffordern: Handeln Sie endlich konkret
und stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu! Hilfe
wird dringend benötigt; das Gewerbe wird sonst in den
Ruin geführt. Es ist noch nicht zu spät.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412716000
Für die SPD-Frak-
tion spricht die Kollegin Angelika Graf.


Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1412716100
Sehr verehrter
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbe-
sondere von der CDU/CSU! Ich habe Ihren Antrag mit Da-
tum vom 26. September, den Sie heute hier vorlegen, sehr
aufmerksam gelesen, insbesondere den Teil, den Sie der
Analyse des Problems widmen. Im Interesse der
Sache bedauere ich allerdings, dass Sie nicht die viel
umfassendere und meiner Ansicht nach auch viel sach-
kundigere Analyse des BGL vom selben Tag, vom
26. September, die Ihnen sicherlich auch vorliegt, über-
nommen haben. Dann hätten Sie aber vielleicht auf das
Datum der LKW-Demonstration auf dem Deckblatt und
damit auf ein Stück Populismus verzichten müssen. Es sei
Ihnen gegönnt.

Der BGL beschreibt genau, warum es im Gewerbe
gärt. Seine Aussagen sind dabei viel gehaltvoller als das,
was Sie, Herr Sebastian, heute dargeboten haben. Es heißt
da nämlich wörtlich – man beachte die Reihenfolge –:

Auslöser dieser Entwicklung sind Überkapazitäten,
illegale Konkurrenz, Sozialdumping durch osteu-
ropäisches Fahrpersonal auf EU-Fahrzeugen und die
in jüngster Zeit dramatische Entwicklung im Mine-
ralölsektor.

(Angelika Mertens [SPD]: Wo der BGL Recht hat, hat er Recht!)

– Da hat er Recht, richtig. – Der Verband fährt fort:

Preisdumping und eine nach unten führende
Wettbewerbsspirale haben in nahezu allen europä-
ischen Ländern zu gefährlichen Turbulenzen ge-
führt. Ordentliche und gut geführte mittelständische




Wilhelm Josef Sebastian

12219


(C)



(D)



(A)



(B)


Transportunternehmen mit Standort Deutschland ha-
ben in diesen Umfeld kaum eine gute Zukunftsper-
spektive, weil sie nicht mehr auf ihre Kosten kom-
men.

Damit wir uns recht verstehen: Ich will die Belastun-
gen der Branche durch die starke Steigerung der Sprit-
preise, die vorwiegend von der Preispolitik der Ölkon-
zerne und dem Dollarkurs abhängen – das haben wir hier
schon mehrfach rauf und runter diskutiert –, nicht klein
reden. Die Dieselpreise in Deutschland sind übrigens
– Sie haben das auch erwähnt, Herr Sebastian – im Ver-
gleich zu anderen europäischen Ländern wie Dänemark,
Italien, Schweden, Frankreich, den Niederlanden und vor
allen Dingen Großbritannien deutlich günstiger. Die Ge-
spräche mit Vertretern des Gewerbes zeigen genauso wie
die übrigens – da muss ich Ihrem Antrag ganz deutlich wi-
dersprechen – ganz hervorragende Antwort der Bundes-
regierung auf Ihre Kleine Anfrage vom 26. November,
dass die Ökosteuer bei der Kostenentwicklung nur eine
relativ geringe Rolle spielt. Ich sage „relativ“, weil es
selbstverständlich Fuhrunternehmer gibt, für die jeder
Pfennig Erhöhung des Spritpreises eine existenzielle Be-
drohung darstellt, weil sie wegen der Praktiken, die der
BGL auch angesprochen hat, der Konkurrenz nichts mehr
entgegensetzen können.

Ich will Ihnen nun vorrechnen, dass die Abschaffung
der Ökosteuer, die eine zentrale Forderung Ihres Antrages
ausmacht, nicht wesentlich zur Verbesserung der Situa-
tion des Fuhrgewerbes beitragen würde. Wenn nämlich,
woran ich nicht zweifle, die Kraftstoffkosten Ende 1999
laut Antwort der Bundesregierung auf Ihre Anfrage
15 Prozent der Transportkosten ausmachten, so kann
man in einem einfachen Dreisatz errechnen, dass die Öko-
steuer 1999/2000, die übrigens über die Senkung der
Lohnnebenkosten direkt zur Verbesserung der Wirt-
schaftslage in unserem Land


(Beifall der Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD])

und damit auch zur Verbesserung der Auftragslage für die
Fuhrunternehmen beiträgt, nur etwa 1 Prozent der Trans-
portkosten ausmacht – nur 1 Prozent!


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Ihren Dreisatz hat bestimmt keiner verstanden!)


– Ich erkläre Ihnen den Dreisatz im trauten Gespräch gern.
Sie können sich darauf verlassen, dass er stimmt.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Er ist Lehrer, er kann das ausrechnen!)


Die Scheinheiligkeit, die Sie auf der Demonstration
gezeigt haben, spricht Bände.


(Beifall bei der SPD)

Die Personalkosten nämlich, die im Gewerbe zu Buche
schlagen, wenn man zu deutschen Normallöhnen be-
schäftigt, betragen in etwa ein Drittel der Trans-
portkosten. Betrachten wir diese Relationen und die Ihnen
allen sicherlich geläufigen Aussagen des BGL zum Aus-
maß des Sozial- und Lohndumpings, das die Preise
drückt, so liegt auf der Hand, warum die Unternehmer die
Kostensteigerungen durch den Anstieg der Spritpreise

nicht verkraften bzw. nicht mehr weitergeben können.
Dazu kommen Überkapazitäten, nicht nur durch den Fall
des Kabotageverbotes zum 1. Juli 1998, sondern auch
durch das Entstehen von Kleinstbetrieben durch das Out-
sourcing der Fuhrparks vieler Unternehmen.
Diese Überkapazitäten hätten wohl auch ohne den Preis-
anstieg der Mineralölprodukte über kurz oder lang zu ei-
ner Reihe von Firmenaufgaben geführt. Auch der BGL
sagt dies. Die Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit
war deshalb eine ganz wichtige Maßnahme zur Existenz-
sicherung der mittelständischen Fuhrunternehmen.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Anke Fuchs)

Eine der Hauptursachen für den ruinösen Wettbewerb

im Fuhrgewerbe liegt aber ohne Zweifel in der von Ihnen
angesprochenen, aber auch vom BGL deutlich themati-
sierten Subvention für das Gewerbe im EU-Ausland, der
Bekämpfung Sie im Gegensatz zu dem, was Sie vorhin
verkündet haben, in der Vergangenheit eben nicht ent-
sprechend angegangen sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich habe Ihnen schon in der Aktuellen Stunde vor we-

nigen Wochen vorgehalten, dass die Verhandlungen zur
Abschaffung der Kabotage in der EU, die in Ihrer Regie-
rungszeit stattgefunden haben, dafür unbedingt hätten ge-
nutzt werden müssen. Fehlanzeige! Die Kollegin Wetzel
wird diesen Vorgang und insbesondere auch Ihre Rolle da-
bei sicherlich noch genauer unter die Lupe nehmen. Fest
steht, dass unser Verkehrsminister auf europäischer Ebene
im Nachhinein nun alles tut, um diese Chancenungleich-
heit zu bekämpfen.

Mindestens ebenso wettbewerbsverzerrend sind aber
die verschiedenen Formen von Lohn- und Sozialdum-
ping. Das Thema illegale Kabotage hat ja – Gott sei
Dank – inzwischen auch in Ihre Diskussionen Einzug ge-
halten. Wir werden mit der Einführung der europä-
ischen Fahrerlizenz für Fahrer aus Drittländern hoffent-
lich schon bald zu einem Ergebnis kommen. Auch das ha-
ben wir übrigens schon lange vor dem 26. September
2000, also vor dem Tag der Demonstration, getan.


(Zuruf von der SPD: Da haben die geschlafen!)


– Da habt ihr wirklich geschlafen, meine Lieben.
Meine eigenen Recherchen, auch über die Netze, die

hinter diesen Praktiken der illegalen Kabotage stehen,
haben mich zu der festen Überzeugung gebracht, dass wir
es mit einer Form von organisierter Kriminalität zu tun
haben, die nicht nur den anständigen deutschen mittel-
ständischen Fuhrunternehmen zu schaffen macht, son-
dern auch der Volkswirtschaft schweren Schaden zufügt.
Der BGL spricht von bis zu 5 Milliarden DM, die an Steu-
ern und Sozialabgaben ausfallen.

Wie läuft so etwas ab? Litauische, slowakische oder
tschechische Fahrer sitzen auf dem Bock eines italieni-
schen, belgischen oder niederländischen LKW zu einem
Preis von höchstens 5 bis 7 DM – manchmal sind es so-
gar nur 2 DM – pro Stunde respektive 10 Pfennige pro ge-
fahrenem Kilometer. Sie schaffen damit eine Konkur-




Angelika Graf (Rosenheim)

12220


(C)



(D)



(A)



(B)


renzsituation, in der kein anständiges deutsches Unter-
nehmen mithalten kann. Übrigens: Eine Fahrleistung ei-
nes solchen LKW von 27 000 Kilometern im Monat, wie
aus einer mir vorliegenden Ermittlungsakte hervorgeht,
macht klar, welches hohe Sicherheitsrisiko mit dem
Ganzen verbunden ist; denn der Fahrer kann diese Fahr-
leistung nur erbringen, wenn er sämtliche Lenk- und Ru-
hezeiten nicht einhält.

Ein aktuelles Beispiel für die volkswirtschaftliche Di-
mension der illegalen Praktiken möchte ich Ihnen nennen.
Ich habe Haftbefehle gesehen, erlassen auf Veranlassung
des bei der Bekämpfung illegaler Beschäftigung sehr re-
gen Hauptzollamtes Rosenheim. Dabei geht es um eine
Firma, der vorgeworfen wird, durch Geschäftsverbindun-
gen nach Italien und in die Slowakei – offensichtlich sind
hier zum Teil Scheinfirmen am Werk – seit 1995 jeweils
100 bis 160 slowakische Fahrer in den innereuropäischen
Verkehr eingeschleust und illegal beschäftigt zu haben.
Allein in einem Zeitraum von sieben Monaten in den Jah-
ren 1997 und 1998 wurden der Sozialversicherung
Beiträge in Höhe von über 323 000 DM vorenthalten.
Rechnet man den Schaden auf die Zeit seit 1995 hoch, so
ergibt sich allein in diesem Fall für die Sozialversicherung
ein Ausfall von insgesamt etwa 5 Millionen DM. Damit
ist allerdings die Frage, was in die Sozialversicherung ein-
gegangen wäre, wenn die Fahrer vernünftig bezahlt wor-
den wären, und wie hoch der Gewinn dieses Unterneh-
mens dank der illegalen Beschäftigung war, überhaupt
noch nicht beantwortet.

Unser Antrag, den wir heute nicht behandeln, der sich
aber mit der Vorbereitung der Einführung der europä-
ischen Fahrerlizenz beschäftigt und die Kompetenzen des
Bundesamtes für Güterverkehr erweitern soll, wird wohl
in nächster Zeit in diesem Hohen Hause beschlossen wer-
den. Ich finde, das ist ein erster Schritt. Des Weiteren ha-
ben wir am vergangenen Mittwoch gemeinsam – einstim-
mig – die Aufstockung der Mittel für das Bundesamt für
Güterverkehr beschließen können.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)


Gegen die Praktiken der illegalen Kabotage, die auch
nicht vom Himmel gefallen sind, sondern seit Jahren gang
und gäbe sind, wird diese Bundesregierung hart vorge-
hen – insbesondere bei den schwarzen Schafen der Bran-
che.


(Andreas Schmidt [Mülheim] [CDU/CSU]: Von „schwarzen Schafen“ würde ich jetzt nicht reden! Das ist für die Union diffamierend!)


Uns liegt der Schutz unserer mittelständischen Fuhr-
unternehmer – das haben Sie offensichtlich leider nicht
verstanden – sehr am Herzen: Wir tun mehr, als Sie in der
Vergangenheit jemals getan haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir handeln nämlich wirklich, wohingegen Sie sich in
Europa nicht für die Fuhrunternehmer eingesetzt haben.
Sie haben stattdessen zugeschaut, wie sich denn die Dinge
so entwickeln. Dafür spricht unter anderem auch, dass wir

es geschafft haben, bei den Ökopunkten die für die Durch-
fahrt durch Österreich nötig sind, einen Kompromiss aus-
zuhandeln. Diese Ökopunkteregelung ist noch zu Ihrer
Regierungszeit mit Österreich abgeschlossen worden.
Wir müssen nun schauen, dass wir für unser Gewerbe die
Kastanien aus dem Feuer holen.

Fazit: Sie haben nicht mit Ihrem Verhalten bei der
Demo am 26. September 2000, wohl aber mit einigen For-
derungen, die Sie in Ihrem Antrag nun erheben – offen-
sichtlich von uns abgeschrieben –, gezeigt, dass Sie die
Brisanz des Themas anscheinend inzwischen doch er-
kannt haben. Viele Ihrer Forderungen sind allerdings
angesichts der Aktivitäten der Bundesregierung und der
Koalitionsfraktionen ziemlich kalter Kaffee. Was Sie for-
dern, ist alles schon passiert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Man muss dazu noch etwas sagen: Insbesondere mit
der Forderung nach Abschaffung der Ökosteuer


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Ist auch schon passiert!)


liegen Sie – wie gesagt, ich erkläre Ihnen die Sache mit
dem Dreisatz gerne, Herr Kollege – völlig daneben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412716200
Ich erteile dem Kolle-
gen Horst Friedrich, F.D.P.-Fraktion, das Wort.


Horst Friedrich (FDP):
Rede ID: ID1412716300
Frau Präsiden-
tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kolleginnen
und Kollegen! Das deutsche Güterkraftverkehrsgewerbe
befindet sich tatsächlich in einer entscheidenden Situa-
tion, was die Existenzfähigkeit der großen Mehrheit der
Unternehmer – in aller Regel kleine und mittelständische
Firmen –, angeht. Jetzt kommt die Regierungskoalition
und sagt: Wir kämpfen gemeinsam für die EU-Fahrerli-
zenz.

Liebe Frau Kollegin Graf, das ist ja alles schön und
richtig; das machen wir auch. In Kenntnis der Zeitkorri-
dore können Sie davon ausgehen, dass wir schätzungs-
weise in vier bis fünf Jahren eine gemeinsame Regelung
haben. Dann allerdings ist es für die meisten der jetzt akut
bedrohten Unternehmen zu spät. Sie brauchen dann diese
Lizenz nicht mehr, weil sie mittlerweile den Gang zum
Konkursrichter antreten mussten. Deswegen kommt es
darauf an, kurzfristig nationale Maßnahmen zu be-
schließen, um dann mittel- und langfristig internationale
europäische Regeln zu beschließen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Warum haben Sie denn nichts gemacht?)


Es wäre besser, wenn Sie, liebe Frau Kollegin Graf, un-
seren Vorschlägen folgen würden, die sich in das einrei-
hen, was wir schon gemacht haben. Wir haben 1992 die
Kfz-Steuer für deutsche LKW von 10 500 DM auf




Angelika Graf (Rosenheim)


12221


(C)



(D)



(A)



(B)


3 000 DM drastisch reduziert – im Übrigen gegen Ihre
Stimmen.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das hat nichts genutzt!)


Wenn Sie uns jetzt vorwerfen, wir hätten die Lage des
deutschen Gewerbes verschlechtert, dann sind die letzten
Jahre offensichtlich an Ihnen vorbeigegangen. Wo brennt
es denn jetzt? Alle Länder um uns herum – ich zitiere aus
einer offiziellen Antwort der Bundesregierung vom Okto-
ber 2000 auf eine Kleine Anfrage von uns – beschließen
Regelungen nationaler Art. Die Niederlande haben für das
erste Quartal 2000 – es ist mittlerweile von der EU-Kom-
mission genehmigt – 17 Pfennig, für das zweite Quartal
14 Pfennig, für das dritte 11 und für das vierte 7 Pfennig
Steuererstattung pro Liter Diesel beantragt. In Frankreich
ist seit dem 12. Januar die teilweise Rückerstattung der
Mineralölsteuer für Dieselkraftstoff rückwirkend ab Ja-
nuar 1999 möglich. Italien hat das Gleiche beantragt. Die
finnische Regierung hat beschlossen, die Kraftfahrzeug-
steuer für die höchste Stufe abzuschaffen, und die belgi-
sche Regierung hat eine Senkung der Steuer bei der Haft-
pflicht- und Schadensversicherung für alle Fahrzeuge
beschlossen. Frankreich, die Niederlande und Italien ha-
ben die Kommission von den Grundprinzipien ihres Ver-
gütungsverfahrens in Kenntnis gesetzt. Der Rat hat diesen
Mitgliedstaaten die Anwendung bis zum 31. Dezember
2000 gestattet; offensichtlich mit Zustimmung der deut-
schen Bundesregierung – ich habe zumindest nichts an-
deres gehört – und nicht gegen sie. Also werfen Sie uns
nicht Tatenlosigkeit vor, wenn Sie selber nichts machen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Es lebe Europa! – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: In Deutschland gibt es Steuererhöhungen!)


Ich habe am letzten Sonntag vor Ort mit den bayeri-
schen Verbänden gesprochen. Sie fordern ein ganzes
Bündel an Maßnahmen. Alle fordern – auch der BGL, der
nur von Fahrerlizenz spricht; deswegen kann man nicht
allein mit dem BGL reden –, dass zunächst die deutsche
Kraftfahrzeugsteuer auf das im europarechtlichen Rah-
men zulässige Mindestmaß reduziert wird. Das können
wir ganz alleine machen, dazu brauchen wir niemanden
zu fragen. Als weitere Forderung wird – auch vom BGL –
die Aussetzung zumindest der weiteren Stufen der Öko-
steuer erhoben, damit der Kraftstoff nicht noch weiter ver-
teuert wird. Es ist ein Märchen, wenn man behauptet, die
mit der Ökosteuer verbundene Senkung der Renten-
beiträge würde die Unternehmen entlasten. Die Senkung
der Rentenversicherungsbeiträge bewirkt bei den Verbän-
den im Verkehrsgewerbe eine maximale Kosteneinspa-
rung von 10 Prozent der Zusatzkosten aus der Ökosteuer,
während die restlichen 90 Prozent bei den Unternehmen
verbleiben. Das ist die Realität und das sollten Sie akzep-
tieren.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Sorgen Sie dafür, dass die Umstellung der LKW-Maut

von der Zeitbezogenheit auf die Streckenbezogenheit für
das deutsche Gewerbe belastungsneutral erfolgt. Lassen

Sie die Finger von der Verlängerung der Abschrei-
bungsfristen. Es ist ein Wahnsinn, ein Anachronismus, in
der jetzigen Zeit wirtschaftlicher Bedrängnis das Ge-
werbe mit einer Verlängerung der Abschreibungsfristen
zu „belohnen“. Sie verzögern damit den Austausch alter
Investitionsgüter durch moderne, ganz zu schweigen da-
von, dass Sie die sowieso nur gering ausgeprägte Eigen-
kapitalbasis weiter schwächen.

Wenn all das erledigt ist – wir können all das kurzfris-
tig national machen, wenn der politische Wille dazu vor-
handen ist –, müssen wir die nächsten Schritte angehen:
hinsichtlich der Bekämpfung der illegalen Beschäftigung,
der EU-Fahrerlizenz und der Schaffung einheitlicher eu-
ropäischer Regelungen. Was Sie vorschlagen, ist für uns
der vierte Schritt und nicht der erste. Wenn wir noch län-
ger darüber diskutieren, ob wir den vierten Schritt vor
dem ersten machen sollen, und Sie nicht national handeln,
haben Sie eine erste Grundlage dafür geschaffen, dass das
mittelständische deutsche Transportgewerbe vom Markt
verschwindet. Das sind leider die Realitäten und deswe-
gen fordere ich Sie auf:


(Beifall bei der F.D.P.)

Werden Sie lernfähig und schauen Sie sich unseren Antrag
an, in dem alles Notwendige steht. Wenn Sie es in dieser
Reihenfolge machen, klappt es auch wieder mit dem deut-
schen Gewerbe.

Danke schön.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412716400
Ich erteile nun dem
Kollegen Albert Schmidt vom Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.

Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die heutige Diskussion über die von der Union
und der F.D.P. eingebrachten Anträge ist schon wesentlich
sachlicher als damals, auf dem Höhepunkt der Proteste,
die Aktuelle Stunde, wo die Emotionen im Parlament na-
turgemäß etwas stärker aufwallten.

Ich freue mich, dass Ihre Anträge mir Gelegenheit ge-
ben, eine ernsthafte Beratung über die Verbesserung der
Chancen des deutschen Speditionsgewerbes im europä-
ischen Markt anzustoßen. Ich stelle fest, dass einige
Punkte – zumindest in dem Antrag der Union – nicht nur
diskussionswürdig, sondern sogar konsensfähig sind. Ich
habe vor allem festgestellt, dass im Unterschied zum
F.D.P.-Antrag im Antrag der Union die Ökosteuer nur
noch unter Punkt 6 rangiert. Alle anderen Punkte sind we-
sentlich stärker in Richtung auf den Kern des Problems
konzentriert.

Das Problem besteht nicht darin – das wissen Sie ge-
nau so gut wie ich –, dass zu wenige Firmen ihre Güter auf
der Straße transportieren wollen; das Problem besteht
vielmehr darin, dass niemand ordentlich dafür bezahlen
will. Das heißt, das Speditionsgewerbe ist eine Branche,
die boomt wie keine andere. Es liegt also nicht an der
schlechten Auftragslage.




Horst Friedrich (Bayreuth)

12222


(C)



(D)



(A)



(B)


Die Prognosen für die künftigen Jahre sind geradezu be-
drohlich gut; denn wenn das, was vorhergesagt worden
ist, wirklich auf uns zurollen sollte, Herr Kollege
Friedrich – das sage ich ohne jede parteipolitische Fär-
bung –, dann stehen wir alle gemeinsam vor einem Rie-
senproblem. Dann wird überall nicht nur die rechte Spur,
sondern auch die linke Überholspur der Autobahn dicht
sein, wie das bereits jetzt auf vielen Autobahnen der Fall.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Da sind wir einer Meinung, Herr Kollege!)


Deshalb haben wir ein gemeinsames Interesse, den Ver-
kehr von der Straße auf die Schiene zu verlagern. Dafür
tun wir auch etwas. Aber das ist nicht das Thema der heu-
tigen Diskussion. Wir müssen uns jetzt ernsthaft überle-
gen, was die Liberalisierung des europäischen Güter-
verkehrsmarktes für das mittelständische deutsche
Speditionsgewerbe bedeutet.

Lassen Sie mich noch eine Randbemerkung machen,
die ich mir nicht verkneifen kann und die ich gar nicht po-
lemisch meine. Wo waren, als in den 90er-Jahren bei der
Deutschen Bahn nicht 10 000, sondern über 100 000
Arbeitsplätze abgebaut wurden, die Blockaden, Ihre Pro-
teste und Ihre Parlamentsanträge? Ich habe damals davon
nichts gesehen und gehört. Das ist ein Beispiel dafür, dass
in Deutschland mit zweierlei Maß diskutiert wird, wenn
es um Arbeitsplätze im Güterverkehr geht.

Ich möchte jetzt auf die konkreten Vorschläge einge-
hen, insbesondere auf Nr. 2 des Antrages der CDU/CSU-
Fraktion. Dort wird gefordert, die Bundesregierung möge
den Güterverkehrsmarkt nur schrittweise für die bei-
trittswilligen Staaten aus Mittel- und Osteuropa öffnen
und die grenzüberschreitende wie innerstaatliche Kabo-
tage nicht radikal freigeben. Diese Forderung ist richtig.
Sie entspricht exakt der Strategie, die die Bundesregie-
rung verfolgt. Wir sollten im Wesentlichen drei Punkte bei
der Marktöffnung nach Osten beachten, wenn wir dem
übergeordneten Ziel eines fairen Wettbewerbs letztlich
dienen wollen und Übergangsfristen für das deutsche Gü-
terkraftverkehrsgewerbe aushandeln wollen.

Erstens. Wir müssen den Staaten aus Mittel- und Ost-
europa schon vor ihrem Beitritt zur EU einen ersten Zu-
gang zum internationalen Verkehrsmarkt ermöglichen,
um einerseits das deutsche Güterkraftverkehrsgewerbe
auf die bevorstehende vollständige Marktöffnung vorzu-
bereiten und um dadurch andererseits – das ist sehr wich-
tig – auf ein größeres Entgegenkommen bei den Staaten,
die jetzt beitrittswillig sind und die sich später mit uns im
Wettbewerb befinden, hoffen zu können, wenn wir Über-
gangsfristen für unser Gewerbe fordern.

Zweitens. Erst nach dem Beitritt der Staaten aus Mit-
tel- und Osteuropa kann ihnen ein gewisser Marktzugang
im Bereich des grenzüberschreitenden Verkehrs ermög-
licht werden und können erste Schritte zur Freigabe der
Kabotage eingeleitet werden.

Drittens. Erst einige Jahre nach dem Beitritt dieser
Länder ist eine umfassende Freigabe der Kabotage sinn-
voll und möglich.

Lassen Sie mich das ein bisschen konkretisieren. Wenn
wir im ersten Schritt signalisieren – hier stimme ich exakt

mit den Forderungen des CDU/CSU-Antrags überein –,
dass wir etwas wollen, nämlich Übergangsfristen, dass
wir aber auch bereit sind, etwas zu geben, nämlich ein be-
grenztes Kontingent an Genehmigungen für den grenz-
überschreitenden Verkehr, dann leiten wir einen Prozess
des Gebens und des Nehmens ein, der uns die spätere Ver-
ständigung erleichtern wird.

Beim zweiten Schritt, bei der begrenzten Liberalisie-
rung, muss mit Kontingenten für Kabotagegenehmigun-
gen gearbeitet werden. Im letzten Schritt kann die Kabo-
tage, wie gesagt, völlig freigegeben werden, allerdings
erst in dem Moment, wenn sich in den beigetretenen Staa-
ten ein Lohnniveau herausgebildet hat, das mindestens
dem Durchschnitt des europäischen Lohnniveaus ent-
spricht. Erst dann kann die Freigabe der Kabotage zu fai-
ren Wettbewerbsbedingungen führen. – Ich sehe an dem
Kopfnicken verschiedener Kolleginnen und Kollegen,
dass wir uns darüber auf einer sachlichen Ebene verstän-
digen können.

Lassen Sie mich noch auf die Einführung einer EU-
weit gültigen und rechtsverbindlichen Fahrerlizenz – das
lässt sich immer vortrefflich fordern – eingehen. Wir alle
wissen – Sie genauso gut wie wir; Sie haben das auch
schon versucht, als Sie noch in der Regierungsverantwor-
tung waren –, dass alle 15 Partnerstaaten überzeugt sein
müssen, bevor eine solche Fahrerlizenz eingeführt wer-
den kann. Das wird später, wenn die Beitrittskandidaten
hinzugekommen sind, noch schwieriger werden. Ich halte
die Einführung einer solchen Fahrerlizenz trotzdem für
unverzichtbar, und zwar als Nachweis eines legalen Be-
schäftigungsverhältnisses im Mitgliedstaat des Unterneh-
menssitzes. Das ist gerade das Problem, unter dem die
Speditionen heute wirklich zu leiden haben. Wenn Sie mit
den Spediteuren fünf Sätze wechseln, dann geben diese
zu: Unser Hauptproblem ist nicht die Ökosteuer, sondern
neben der gesamten Energiepreisentwicklung natürlich
ganz besonders die Frage des Lohndumpings. Wenn heute
ein bulgarischer Fahrer für 2 DM pro Stunde zu haben ist,
dann tut sich der deutsche Kollege, der mindestens 16
oder 18 DM zahlen muss, einfach schwer, in einem sol-
chen ruinösen Wettbewerb zu konkurrieren. Das hat aber
mit der Ökosteuer nicht das Geringste zu tun.

Deshalb müssen wir im Güterkraftverkehrsgesetz Än-
derungen vornehmen. Das bedeutet, wir müssen eine Ver-
pflichtung für den Nachweis der Fahrerlizenz bzw. deren
amtlich beglaubigte Übersetzung einführen. Wir müssen
diese Verpflichtung aber auch auf die Verlader ausweiten,
dürfen sie also nicht nur auf die Transportunternehmen
selbst beschränken, und wir müssen darauf hinwirken,
dass bei Nichtbeachtung eine beträchtliche Erhöhung an-
gedrohter Bußgelder umgesetzt wird.

Lassen Sie mich abschließend – ich sehe, die Redezeit
geht zu Ende man muss sie auch nicht immer bis zur letz-
ten Sekunde ausreizen – noch sagen: Die Mineralölsteuer
ist ganz sicher nicht das Hauptproblem des Gewerbes.
Das wissen Sie auch. Wären wir damals Ihrem Rat ge-
folgt und hätten wir zum Beispiel die Aussetzung der
nächsten Stufe der Ökosteuer beschlossen, so wäre diese
jetzt schon wieder kompensiert durch die Erhöhung um
vier Pfennig von vorgestern. Und ich garantiere Ihnen,
sie wäre sogar überkompensiert worden; denn jede Preis-
senkung, die wir steuerlich durch indirekte Subvention




Albert Schmidt (Hitzhofen)


12223


(C)



(D)



(A)



(B)


veranlassen, führt sofort dazu, dass die Erzeugerländer
und die multinationalen Konzerne ihrerseits einen
Preisaufschlag vornehmen. Das führt uns also in die Irre.

Lassen Sie uns über die wirklichen Probleme in den
Ausschussberatungen sachlich diskutieren. Ich bin über-
zeugt, dort kommen wir sehr nahe zusammen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412716500
Das ist immer so:
Wenn man zum Schluss kommen will, braucht man meis-
tens noch eine ganze Minute. Aber das war ja in Ordnung.

Jetzt gebe ich bekannt, dass der Kollege Dr. Winfried
Wolf von der PDS seine Rede zu Protokoll gegeben
hat1). – Damit sind Sie einverstanden.

Damit erteile ich der Kollegin Renate Blank,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Renate Blank (CSU):
Rede ID: ID1412716600
Frau Präsidentin! Meine

Damen und Herren! Die Demonstration des Güterkraft-
verkehrgewerbes vom vergangenen September, die Gott
sei Dank friedlich geblieben ist, hat deutlich gemacht,
dass das Gewerbe mit dem Rücken zur Wand steht. Lei-
der war der Minister nicht anwesend und auch keiner sei-
ner fünf Staatssekretäre. Sie, Frau Präsidentin, mussten
für die SPD so ein bisschen die Kohlen aus dem Feuer ho-
len.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Ja, „Kohlen“ ist gut!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412716700
Nein, ich habe für das
Parlament reagiert, weil die Demonstranten vor dem
Reichstag standen.


Renate Blank (CSU):
Rede ID: ID1412716800
Gut. – Die Verkehrsmi-
nister anderer europäischer Länder handeln für ihr Ge-
werbe; der deutsche Verkehrsminister plant dagegen
höhere Straßenbenutzungsgebühren für den LKW und
lässt das Verhalten der EU-Mitgliedstaaten nur „prüfen“.
Immer nur prüfen und nicht handeln zeichnet die Politik
der rot-grünen Bundesregierung aus, wo doch gerade jetzt
angesichts der vielfältigen Wettbewerbsverzerrungen, der
Sozialdumpingpraktiken, der explodierenden Kraftstoff-
preise und der Wirkungen der so genannten Ökosteuer
Handeln mit einem Sofortprogramm angezeigt wäre.


(Zuruf von der CDU/CSU: Handeln statt reden, jawohl!)


Dem Bundesverkehrsminister ist es offenbar gleich-
gültig – heute ist er ja auch nicht hier –, dass sich die Wett-
bewerbssituation in Europa immer krasser zulasten des
deutschen Transportgewerbes verschiebt. Andere Länder,
wie Frankreich, Belgien, die Niederlande und Italien, sub-
ventionieren ihr Gewerbe. Dies ist nachweisbar.

Ein Beispiel hat Kollege Sebastian schon angeführt.
Der deutsche Verkehrsminister hat zugestimmt, dass Ita-
lien die Möglichkeit einer Staffelung der Verbrauchsteuer
auf bestimmte Mineralölprodukte eingeräumt wird.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Frankreich und Holland auch!)


Das verschlechtert die Wettbewerbssituation des deut-
schen Gewerbes noch weiter. Die Bundesregierung wird
so ihrer Verantwortung für das deutsche Güterkraftver-
kehrswesen nicht gerecht.

Ja, die Bundesregierung ignoriert sogar die Bedeutung
des deutschen LKW-Gewerbes für den Gütertransport so-
wie für Wirtschaft und Arbeitsmarkt insgesamt. Dies ist
angesichts der über 380 000 Beschäftigten in diesem
wichtigen Wirtschaftssektor unverantwortlich.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Widerspruch bei der SPD)


Die Belastungen für einen LKW liegen in Deutschland
im Durchschnitt bei 43 000 DM, in Frankreich bei
30 000 DM und in den Niederlanden bei 28 000 DM. Die
Situation im deutschen Gewerbe verschärft sich täglich.
Viele Firmen stehen kurz vor dem Konkurs oder denken
ans Ausflaggen. Dabei entgehen dem Fiskus jährlich Ein-
nahmen pro LKW von rund 120 000 DM. Wenn die Fir-
men ausflaggen, wird es keinen einzigen LKW weniger
auf unseren Straßen geben; es ändern sich nur die Kenn-
zeichen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zudem versucht die Bundesregierung ständig, die Aus-

wirkungen der Ökosteuer auf das deutsche Gewerbe zu
verharmlosen. Bundeskanzler Schröder hat noch im
Wahlkampf 1998 getönt: Bei 6 Pfennig Ökosteuer ist
Ende der Fahnenstange.


(Zuruf von der CDU/CSU: Lauter Sprüche!)

Anstatt sich der Probleme ernsthaft anzunehmen, ist

die Bundesregierung weiter wild entschlossen, mit den
Erhöhungen bei der Ökosteuer und der Einführung der
LKW-Vignette zum 1. Januar 2001 noch eins drauf-
zusetzen.

Kollege Schmidt von den Grünen hatte heute Abend
wohl Kreide gefressen – ich wundere mich ein wenig –,
denn normalerweise freut er sich doch immer, wenn es
dem LKW schlecht geht. Ich wollte Ihnen schon empfeh-
len, die Güter künftig mit dem Pferdefuhrwerk oder dem
Planwagen zu transportieren; aber am besten zögen Sie
dann einen Ochsenkarren selbst.

Aber Sie begreifen anscheinend endlich, dass Wirt-
schaftswachstum auch etwas mit Verkehrsleistungen zu
tun hat und die Bahn derzeit nur in der Lage ist, einen
kleinen Zuwachs beim Gütertransport zu bewerkstelli-
gen. Wahrscheinlich wird sich das auch in Zukunft nicht
ändern. Dies sollte Ihnen, Kollege Schmidt, spätestens im
Zuge der Anhörung zur Bahnreform


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: „Im Zuge“ ist in diesem Zusammenhang gut!)





Albert Schmidt (Hitzhofen)

12224


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 2

aufgegangen sein. Zudem finden 80 Prozent aller LKW-
Fahrten im Nahverkehr – bei Entfernungen unter 100 Ki-
lometern – statt; diese Transporte können nicht auf die
Schiene verlagert werden. Selbst Bahnchef Mehdorn gibt
zu, dass Güterverkehr auf der Schiene bei einer Entfer-
nung von weniger als 150 Kilometern nicht sinnvoll ist.
Experten behaupten sogar, derartiger Güterverkehr
rechne sich nicht bei einer Entfernung unter 400 Kilome-
tern.

Im Güternahverkehr gibt es zum Nutzfahrzeug keine
Alternative. Die Flächenerschließung und damit auch die
Erschließung wirtschaftsschwacher Regionen kann nur
der Straßengüterverkehr leisten. Über 10 000 Gemeinden
in Deutschland haben keinen Gleisanschluss, das heißt,
sie sind bei der Ver- und Entsorgung auf den LKW ange-
wiesen.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Bei Nr. 3 unseres Antrages, der grauen und illegalen

Kabotage sowie der illegalen Beschäftigung, sind wir
hoffentlich auf einem guten Weg. Kollegin Graf, auch Sie
haben das schon angedeutet. Ich gehe davon aus, dass eine
Ergänzung des Güterkraftverkehrgesetzes durch eine
Fahrerlizenz und die Kontrolle der Einhaltung von
arbeitsgenehmigungs-, aufenthalts- und sozialversi-
cherungsrechtlichen Bestimmungen mit entsprechenden
Bußgeldern – ich glaube, das ist wichtig – etwas bringt.
Unsere Unterstützung für solche Maßnahmen haben Sie.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Danke schön!)


Die Einführung der streckenbezogenen nutzungsab-
hängigen LKW-Gebühr muss für das deutsche Güter-
kraftverkehrsgewerbe wettbewerbsverträglich gestaltet
werden. Ich bin ja noch nicht überzeugt davon, dass die
Umstellung der zeitbezogenen auf die streckenbezogene
Gebühr ab 2003 erfolgen kann. Es darf aber auf keinen
Fall geschehen, dass auf der Basis des so genannten
Pällmann-Gutachtens eine bis zu zehnfache Belastung
des Gewerbes in Angriff genommen wird; diese Ab-
zockerei des Gewerbes wird mit uns nicht zu machen sein.
Wahrscheinlich wollen Sie dann das Gutachten, das aus
meiner Sicht eine sehr gute Diskussionsgrundlage für
künftiges verkehrspolitisches Handeln darstellt, still und
heimlich im Papierkorb verschwinden lassen. Dies wäre
allerdings eine Brüskierung der Kommission.

Nun eine Anmerkung zu den Ökopunkten im Straßen-
transit Österreich: In einer Ausschussdrucksache legen
Sie dar, dass der Rat im September einen Kompromiss er-
zielt hat, nämlich die Kürzung der Ökopunkte um rund
1 Million Punkte; das sind circa 150 000 Fahrten. Allein
auf deutsche Unternehmen entfallen 35 Prozent der Kür-
zung. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen,
dass dies die Begeisterung des Gewerbes, insbesondere
der süddeutschen Unternehmen, hervorruft, zumal die
Kapazitäten auf der Schiene äußerst unzureichend sind.


(Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Schauen Sie sich einmal den Transitvertrag mit Österreich an! Wer hat den denn ausgehandelt?)


Meine Damen und Herren, der Vorschlag des Minis-
ters, dem Gewerbe über die KfW zinsverbilligte langfris-

tige Darlehen zur Verfügung zu stellen, zeigt, dass hier
absolut keine Sachkenntnis vorhanden ist; ja, ich finde
den Vorschlag sogar ungeheuerlich. KfW-Darlehen wer-
den über die Hausbank ausgereicht. Wie soll denn, wenn
das Kreditvolumen einer Firma bereits bei der Hausbank
über das Limit hinaus in Anspruch genommen worden ist
– was ja bei den Firmen, die in Bedrängnis geraten sind,
derzeit der Fall ist –, zusätzlicher Kredit gewährt werden?


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist der Punkt!)


Es kann höchstens eine Umschuldung ins Auge gefasst
werden; aber auch dann muss der Kredit zurückgezahlt
werden. Wenn nicht durch andere Maßnahmen sofort ge-
handelt wird, was ich von der rot-grünen Bundesregie-
rung keinesfalls erwarte, dann verzögert dieser Vorschlag,
den ich wirklich ungeheuerlich finde – und ich komme
aus dem Kreditgewerbe –, lediglich das Sterben und treibt
viele Firmen halt später in den Ruin. Das Gewerbe muss
sich bei diesem Vorschlag eigentlich auf den Arm genom-
men fühlen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Herr Staatssekretär, geben Sie doch an Ihren Minister

weiter, dass der Transport von Waren unseren Wohlstand
sichert! Setzen wir diesen Wohlstand nicht leichtsinnig
aufs Spiel! Sie müssen handeln und dürfen nicht tatenlos
zusehen, wie unser deutsches Gewerbe Bankrott geht.
Betätigen Sie sich doch als Nothelfer für das deutsche Gü-
terkraftverkehrsgewerbe! Es würde sich im Interesse der
Unternehmen und der Arbeitsplätze lohnen.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Der heilige Christophorus für das Gewerbe!)


Meine Damen und Herren von der Regierungskoali-
tion, stimmen Sie unserem Antrag zu! Als Sie noch in der
Opposition waren, waren alle Punkte immer auch Ihr An-
liegen. Jetzt können Sie zeigen, wie ernst es Ihnen damit
war.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412716900
Jetzt erteile ich der
Kollegin Dr. Margrit Wetzel, SPD-Fraktion, das Wort.


Dr. Margrit Wetzel (SPD):
Rede ID: ID1412717000
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die extremen Störungen auf
dem Transportmarkt hat der BGL richtig beschrieben.
Auch im Antrag der CDU/CSU-Fraktion ist eine ganze
Menge richtig beschrieben, und zwar exakt die Teile, die
Sie aus den von uns vorher vorgelegten Anträgen schlicht
abgeschrieben haben,


(Beifall des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.: Ach!)


um die Übereinstimmung mit unseren Positionen deutlich
zu machen.

Aber in Ihrem Antrag ist noch etwas ausgesprochen
richtig formuliert, und zwar schreiben Sie:




Renate Blank

12225


(C)



(D)



(A)



(B)


Die Beseitigung der Harmonisierungsdefizite im Be-
reich der Steuer- und Sozialvorschriften im europä-
ischen Güterkraftverkehrsmarkt ist erklärtes Ziel ei-
ner zukunftsorientierten Verkehrspolitik.

Das ist völlig richtig. Sie haben aber vergessen dazuzusa-
gen, dass diese Defizite das Ergebnis von 16 Jahren libe-
raler Wirtschaftspolitik ohne Harmonisierung sind.


(Beifall bei der SPD – Renate Blank [CDU/CSU]: Sie wollen er doch alles besser machen!)


Ich möchte Sie daran erinnern: Als Herr Wissmann
Verkehrsminister wurde, hat er die Kabotagefreigabe ein-
geleitet, ohne die Chance, dabei eine Harmonisierung her-
auszuhandeln, zu nutzen. Es hat nichts in Richtung
Straßenbenutzungsgebühr, nichts in Richtung Steuern,
nichts in Richtung Arbeits- und Sozialkosten, nichts in
Richtung Sicherheitsstandards gegeben. Das war seine
erste Amtshandlung und damals hat das Gewerbe genauso
geklagt wie jetzt. Das ist acht Jahre her und die Klagen
sind in der ganzen Zeit die gleichen geblieben. Sie haben
in dieser Zeit nichts gemacht.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das nehmen Sie jetzt zurück!)


Deshalb möchte ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen:
Wir haben es satt, dass Sie jede Gelegenheit nutzen, hier
den Standort schlecht zu reden und zu versuchen, uns die
Schuld für Dinge, die Sie verbockt haben, in die Schuhe
zu schieben.


(Beifall bei der SPD)

Werfen wir doch einmal einen Blick auf den Trans-

portmarkt!Auch Herr Schmidt hat das schon angespro-
chen: Dies ist einer der interessantesten Märkte, der
wirklich nur wächst. Deutschland ist das Transitland
Nummer eins. Es gibt einen deutlichen Umschlagzu-
wachs bei den europäischen Seehäfen. Daraus folgen
Transportaufträge. Der grenzüberschreitende Güterkraft-
verkehr nimmt durch die Öffnung Osteuropas und durch
die Arbeitsteilung in den EU-Mitgliedsländern drama-
tisch zu. Der Straßengüterverkehr hat von diesem Kuchen
einen enormen Anteil abbekommen. Das muss man ein-
fach sehen.

Wenn ich bedenke, dass Sie uns 1,5 Billionen DM an
Staatsschulden hinterlassen haben, muss ich Sie fragen:
Wie können Sie ernsthaft eine Subventionierung eines
Verkehrsträgers erwarten, der im Vergleich zu Bahn und
Schiff den größten Anteil am Transportmarkt hat? Das
wäre auch ökologisch überhaupt nicht zu verantworten.

Recht haben Sie natürlich damit, dass wir die Rah-
menbedingungen für einen fairen Wettbewerb in der EU
schaffen müssen. Das haben Sie in der Vergangenheit ver-
säumt. Daran arbeiten wir.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Das zeigt die Kleine Anfrage!)


Wenn wir einen weiteren Blick auf den Markt werfen,
dann erkennen wir, dass es der harte Konkurrenzkampf
und das Preis- und Sozialdumping sind, die zu Konzen-
tration und Kooperation geführt haben. Die erfolgte Kon-
zentration wird daran deutlich, dass die Zahl der Insol-

venzen im Bereich der Güterkraftverkehrsunternehmen
rückläufig ist, zugleich aber bei den Neuzulassungen von
LKWs Rekordzahlen erreicht werden. So viel zum Thema
„Überkapazitäten“, mit denen die Großen die Kleinen
schlucken! Sie beklagen dann, dass die Kleinen dem
Wettbewerb nicht standhalten können.

Es ist bedenklich, dass der Anteil ausländischer Unter-
nehmen am grenzüberschreitenden Verkehr 75 Prozent
beträgt. Aber sehen wir uns doch einmal an, wie viele
innerdeutsche Transporte tatsächlich in Kabotage von
ausländischen Unternehmen durchgeführt werden! Das
ist de facto nur ungefähr 1 Prozent. Das heißt, genau in
diesem Markt haben die kleinen und mittelständischen
Unternehmer nach wie vor ihre Zukunft, wenn es uns ge-
lingt, sie wettbewerbsfähig zu machen.

Noch ein Wort zu dem Preisdumping zwischen den
Großen und den Kleinen, bei dem die Kleinen unterliegen
müssen. In der Bundesrepublik machen die Transportkos-
ten nur 2 Prozent der Produktionskosten der deutschen
Wirtschaft aus; die Kraftstoffkosten liegen übrigens bei
unter 1 Prozent.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Was vergleichen Sie denn?)


Wenn es dann heißt, dass steigende Transportkosten nicht
weitergegeben werden können, dann ist das doch ein deut-
licher Beleg dafür, dass hier die Dumpingpraktiken und
der Verdrängungswettbewerb der agierenden Unterneh-
men wirken.

Lassen Sie mich ein Wort zu der Sorge hinsichtlich der
Osterweiterung sagen. Diese Sorge ist aus Ihrer Sicht
natürlich insofern begründet, als damals bei der Kabota-
gefreigabe unendlich viele Fehler gemacht wurden. Aber
Sie können uns glauben, dass wir in der Lage sind, aus den
Fehlern, die Sie in der Vergangenheit gemacht haben, zu
lernen. Deshalb wird die Osterweiterung sehr sorgfältig
vorbereitet.

Sie haben in Ihrem Antrag sehr vernünftige Vorschläge
dazu gemacht,


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jetzt kommen wir zur Sache!)


die durchaus in etwa das beschreiben, was die Regierung
bei den Verhandlungen permanent tut; Sie beschreiben an
der Stelle nichts anderes als tatsächliches Regierungshan-
deln. Die Regierung ist dabei, die Rahmenbedingungen
für den fairen Markt und den fairen Wettbewerb zu si-
chern, und geht dabei auch die Harmonisierung der Steu-
ern und Abgaben an. Wir werden endlich die fahrleis-
tungsbezogene Schwerverkehrsabgabe bekommen, die
wichtig ist, damit alle LKW, die unsere Infrastruktur be-
nutzen, zur Deckung der Kosten beitragen. Die Regierung
verhandelt, ganz wie Sie es vorschlagen – insofern ist das
schlicht und einfach Verhandlungsgegenstand und nicht
nur Beschlusslage –, mit den Beitrittsländern über einen
Stufenplan, um ganz langsam eine Liberalisierung zu
erreichen; denn man hat aus den Fehlern der Vergangen-
heit gelernt. Deshalb wage ich auch zu bezweifeln, dass
die konkreten Übergangsfristen, die Sie nennen, tatsäch-
lich realistisch sind. Man sollte sich da nicht zu früh fest-
legen.




Dr. Margrit Wetzel
12226


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir müssen auch sehen, dass mit Osteuropa ein neuer,
ganz gewaltig wachsender und hochinteressanter Markt
vor uns liegt, in dem im Moment die osteuropäischen und
internationalen Unternehmen die Nase vorn haben. Es
liegt also an uns, hier neue Kunden zu gewinnen und ei-
nen neuen Markt zu erschließen. Durch die ausgeprägte
Investitionstätigkeit der deutschen Wirtschaft, die nach
dem Beitritt dort erfolgen wird, ergeben sich ganz andere
Chancen, auch im Hinblick auf unsere Unternehmen.

Wenn Sie Übergangsfristen verlangen, müssen Sie be-
denken, dass wir unsere Umweltstandards, Verkehrssi-
cherheitsstandards und die Qualität der Leistung durch-
setzen wollen. Vertrauen wir doch darauf, dass die
Osteuropäer ihre Länder auf westlichen Lebensstandard
bringen wollen, dass sie eine Angleichung der Lebens-
verhältnisse wollen, die eine Angleichung der Löhne mit
sich bringen wird. Weil es zu dieser Angleichung kommen
wird, müssen wir unsere kleinen Transportunternehmen
für den Wettbewerb fit machen. Das geht nur durch Ko-
operation, Kundenbindung, Qualitätssicherung, Leistung,
moderne Technik, moderne Logistik und indem sie den
elektronischen Markt als Chance begreifen. Wenn sie
heute mit uns gemeinsam daran arbeiten, dann werden sie
morgen im Wettbewerb bestehen.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr gut!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412717100
Ich schließe die Aus-
sprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/4150, 14/4396 und 14/4378 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe nun den Zusatzpunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)

zu der Streitsache vor dem Bundesverfas-
sungsgericht 2 BvF 1/00
– Drucksache 14/4354 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Rupert Scholz

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Auch das ist
so beschlossen.

Dann eröffne ich die Aussprache und erteile dem Kol-
legen Alfred Hartenbach für die SPD-Fraktion das Wort.


Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1412717200
Verehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundes-
tag wurde vom Bundesverfassungsgericht zu einer Stel-
lungnahme in einem Normenkontrollverfahren aufge-
fordert, welches von der hessischen Landesregierung
gegen Normen ihrer eigenen Landesverfassung beantragt

wurde. Die hessische Landesregierung beantragt die
Feststellung der Nichtigkeit von Art. 78 Abs. 2 und 3 der
hessischen Landesverfassung. Sie möchte den in der
Landesverfassung verankerten Prüfungsmaßstab für die
Gültigkeit von Wahlen beseitigt wissen, einen Prüfungs-
maßstab, wonach eine Wahl ungültig ist, wenn das Wahl-
ergebnis durch gegen die guten Sitten verstoßende Hand-
lungen maßgeblich beeinflusst wurde.

Sie wendet sich auch gegen die in der hessischen Lan-
desverfassung geregelte Zusammensetzung des Wahlprü-
fungsgerichts aus den beiden höchsten Richtern – ich be-
tone, unabhängigen Richtern – des Landes Hessen und
drei gewählten Abgeordneten.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Befangenen Richtern!)


– Das war ein schlimmes Wort, mein lieber Herr von
Stetten.

Meine Damen und Herren, wir debattieren heute nicht
über die Frage, warum eine Landesregierung ihre Da-
seinsberechtigung auf ein Wahlergebnis stützt, dessen
Überprüfung am Maßstab der guten Sitten um jeden Preis
verhindert werden soll. – Jetzt könnt ihr klatschen.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ist es! – Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Darum geht es gar nicht!)


Der Deutsche Bundestag wird auch keine Stellung-
nahme dazu abgeben, warum eine angeblich wertkonser-
vative Partei nun plötzlich den Maßstab der guten Sitten
aus der Verfassung gestrichen haben will.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Genau!)

Heute geht es ausschließlich um eine Entscheidung

über folgende Frage: Soll sich der Deutsche Bundestag
durch eine Stellungnahme an dem Normenkontrollver-
fahren in Karlsruhe beteiligen? Besteht ein bundespoliti-
sches Interesse an einer derartigen Beteiligung? – Beide
Male lautet die Antwort eindeutig Ja.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Das ist aber erstaunlich!)


Wie Sie alle wissen, wurde über diese Frage im Rechts-
ausschuss kontrovers abgestimmt.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das wundert uns nicht!)


CDU/CSU und F.D.P. machen geltend, das Bundesverfas-
sungsgericht überprüfe nur das Landesrecht. Die Angele-
genheit betreffe daher nur das Land Hessen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Darüber, was die im Fall Pofalla von uns verlangen, redet keiner!)


Selbstverständlich überprüft das Bundesverfassungsge-
richt hessisches Landesrecht. Aber Maßstab dieser Über-
prüfung ist das Grundgesetz, also Bundesrecht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Sehr richtig!)





Dr. Margrit Wetzel

12227


(C)



(D)



(A)



(B)


Es ist die Auslegung dieses Bundesrechts, das letztlich
den Ausgang dieses Verfahrens bedingt.

Die hessische Landesregierung ist natürlich in großer
Not und in dieser großen Not kam sie auf die Idee, der
in der hessischen Landesverfassung verankerte Maßstab
der guten Sitten – ich muss das bei Ihnen immer wieder-
holen: der guten Sitten – verstoße gegen das Demokra-
tieprinzip und damit gegen Art. 28 des Grundgesetzes.
Sie behauptet des Weiteren, die Zusammensetzung des
Wahl-prüfungsgerichtes verstoße gegen das Rechts-
staatsprinzip und damit ebenfalls gegen Art. 28 des
Grundgesetzes.

Das Bundesverfassungsgericht wird daher zu den
Grenzen der Verfassungsautonomie der Länder und
zwangsläufig auch zu den grundgesetzlichen Anforderun-
gen an die gesetzliche Ausgestaltung von Wahlprüfungen
Ausführungen machen. Die Gerichtsentscheidung wird
eine Präzisierung des Art. 28 Grundgesetz – Bundesrecht,
Herr von Stetten;


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Ja, das ist völlig in Ordnung!)


ich muss es immer wiederholen – erbringen, und zwar
eine Überprüfung, inwieweit dieser im Hinblick auf das
Demokratie– und Rechtsstaatsgebot den Ländern in der
Ausgestaltung ihrer Verfassung Grenzen setzt. Die Ent-
scheidung wird daher über Hessen hinaus für sämtliche
Bundesländer Bedeutung erlangen. Außerdem ist zu er-
warten, dass das Bundesverfassungsgericht Leitlinien
vorgibt, denen auch eine mögliche künftige bundesge-
setzliche Regelung der Wahlprüfung Rechnung zu tragen
hat.

Hieraus ergibt sich eindeutig das bundespolitische In-
teresse. Es ist offensichtlich ein Scheinargument, wenn
seitens der F.D.P. und der CDU/CSU behauptet wird, hier
stünde nur Landesrecht in Frage. Es ist die Tragweite des
Grundgesetzes, über die in Karlsruhe entschieden wird.

Warum fürchten nun Sie von der Opposition eine
rechtswissenschaftliche Untersuchung eines Verfassungs-
streitfalles


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Wir fürchten das überhaupt nicht!)


durch einen vom Bundestag beauftragten Wissenschaft-
ler? Ich verstehe ja gut, dass die hessische Landesregie-
rung mit ihrer Klage verhindern möchte, dass die berüch-
tigte Kampagne der CDU gegen die doppelte
Staatsbürgerschaft vom Wahlprüfungsgericht am Maß-
stab der guten Sitten – ich wiederhole das immer, damit
das in Ihren Kopf hineingeht: am Maßstab der guten Sit-
ten – überprüft wird. Es soll offensichtlich ungeklärt blei-
ben, ob die Wähler durch die Finanzierung dieser Kam-
pagne aus schwarzen Kassen in einer gegen die guten
Sitten – merken Sie sich diesen Begriff: gegen die guten
Sitten – verstoßenden Weise beeinflusst worden sind. Das
Wahlprüfungsgericht hat weiterhin zu überprüfen, ob
diese möglicherweise unlautere Beeinflussung der
Wähler wahlentscheidend war.

Die Regierung Koch fürchtet das klare Licht einer ge-
richtlichen Untersuchung. Deshalb greift die hessische

Landesregierung die in Art. 78 Abs. 2 und 3 der hessi-
schen Landesverfassung geregelte Wahlprüfung an und
scheut auch nicht davor zurück – Herr von Stetten hat das
eben wieder gesagt –, die beiden höchsten Richter des
Landes Hessen zu diffamieren und ihnen Befangenheit
vorzuwerfen.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Die sind befangen!)


Die Landesregierung tut alles – sie ist heute nicht ver-
treten, obwohl sie sich etwas hinter die Ohren schreiben
könnte –,


(Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [F.D.P.]: Die von Nordrhein-Westfalen war vorhin auch nicht da!)


um dieses Wahlprüfungsgericht, welches seit 50 Jahren
einwandfrei arbeitet, zu behindern.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ist es!)


Bereits im Februar hat das Wahlprüfungsgericht gebeten,
dass man ihm die Akten vorlegt. Die Landesregierung hat
genauso zögerlich gehandelt, wie sie dies im Hinblick auf
den Untersuchungsausschuss des Bundestages und den
des Landes Hessen gemacht hat.

Der Vorsitzende des Wahlprüfungsgerichtes hat vor
einem Monat noch einmal eine Frist gesetzt, die Akten
binnen eines Monats herauszugeben. Nichts ist bisher ge-
schehen. Der hessische Justizminister fühlt sich offen-
sichtlich nicht als Wahrer des Rechts in seinem Land, son-
dern als Sachwalter von CDU-Interessen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ CSU)


Das ist mittlerweile bei CDU-Justizministern nichts
Neues. Wir kennen noch andere Beispiele aus anderen
Bundesländern. Über diesen Punkt sollten Sie einmal
nachdenken.

Ich verstehe nicht, warum sich die Abgeordneten der
Opposition vor den Karren einer Taktik spannen lassen,
durch die zugunsten vordergründiger Ziele leichtfertig
eine Landesverfassung diskreditiert wird.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Mit Blick auf Nordrhein-Westfalen sollten Sie so etwas nicht sagen!)


Ich betone es noch einmal: Heute geht es nicht um die
Vorgänge in Hessen. Es geht um die Auslegung unseres
Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht und
unsere Beteiligung hieran.

In diesem Zusammenhang bedauere ich es außeror-
dentlich, dass auch die Bundestagsfraktion der F.D.P. wi-
der besseres Wissen durch Frau Wagner, die stellvertre-
tende hessische Ministerpräsidentin, in ein Boot mit der
CDU gezwungen wurde, ein Boot, dessen Löcher ganz of-
fensichtlich mit Schwarzgeld gestopft sind.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Oh! Böse!)





Alfred Hartenbach
12228


(C)



(D)



(A)



(B)


Der Kollege van Essen hat in der Sitzung des Rechts-
ausschusses darauf hingewiesen, dass die Beteiligung des
Bundes an dem Verfassungsstreitverfahren Geld kostet.


(Jörg van Essen [F.D.P.]: So ist es!)

Darauf muss ich erwidern, Herr van Essen: Hätten Sie
dafür gesorgt, dass Ihr Landesvorsitzender Gerhardt


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Er ist Bundesvorsitzender!)


vor einem Jahr etwas mehr Rückhalt bekommen hätte,

(Dirk Niebel [F.D.P.]: Die Fraktion stand hin ter ihm!)

dann müssten wir heute über diese Frage gar nicht disku-
tieren. Sie als Liberale hätten erreichen können, dass die
hessische Landesregierung eben nicht dieses unsägliche
Normenkontrollverfahren angestrengt hätte. Die CDU/
CSU, vertreten durch ihren rechtspolitischen Sprecher,
Norbert Geis – er war erst ein Brandstifter und erscheint
dann hier nicht;


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Der Herr Geis ist kein Brandstifter! Ich protestiere in den höchsten Tönen gegen dieses Wort!)


auch das wird in der Rechtspolitik der CDU/CSU langsam
üblich, siehe Bosbach –, hat vor einiger Zeit erklärt: Wir
wollen mit der Mehrheit unserer Stimmen den Bundestag
zu einer Beteiligung zwingen.

Es ist doch demokratisch – oder wollen Sie das mitt-
lerweile leugnen? –, dass Entscheidungen mit Mehrheit
getroffen werden. Ich habe dargelegt, dass die Tatsache,
dass Landesrecht überprüft wird, kein Argument gegen
die bundespolitische Bedeutung dieser Überprüfung am
Maßstab des Bundesrechtes darstellt. Mich wundert Ihr
emotionaler Aufwand. Ich muss fragen: Ist für Sie das
demokratische Recht und die aus freien Wahlen hervor-
gegangene Legitimität der Mehrheit, in ihrem Sinne zu
entscheiden, ein undemokratischer Vorgang? Da zeigt
sich, was 16 Jahre Kohl in Ihren Köpfen angerichtet ha-
ben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es geht Ihnen da wohl wie Ihrem Parteifreund Koch,
der demokratische Institutionen in dem Augenblick in-
frage stellt, in dem dieser brutalstmögliche Aufklärer mit
ernsthafter Aufklärung bedroht wird. Sie haben sogar
Angst davor, dass der Maßstab dieser Aufklärung, näm-
lich die guten Sitten, erhalten bleibt. Schaffen Sie heute
Klarheit! Stimmen Sie zu, die Prüfung dieser Fragen von-
seiten des Bundestages durch einen Wissenschaftler be-
gleiten zu lassen!

Ich appelliere an den hessischen Ministerpräsidenten,
Roland „Pattex“ Koch, der an seinem Sessel klebt, end-
lich dem Ratschlag des Herrn Laurenz Meyer, den Sie ja
ganz gut kennen, vom 16. Februar nachzukommen; dies
ist in einer Presseerklärung der nordrhein-westfälischen
CDU nachzulesen. Auch Meyer hält einen Rückzug des
hessischen CDU-Ministerpräsidenten Roland Koch of-

fenbar für unvermeidlich. Ehrlichkeit gilt für alle, sagt er.
Kochs Glaubwürdigkeit sei beschädigt. – Lassen Sie uns
dazu beitragen, dass in Hessen wieder vernünftige Ver-
hältnisse einkehren!

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Das war peinlich!)


– Die Wahrheit ist für Sie immer peinlich; das weiß ich.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412717300
Herr Kollege, den
Ausdruck „geistiger Brandstifter“ halte ich für nicht sehr
parlamentarisch.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich erteile Herrn Dr. Freiherr von Stetten, CDU/CSU-

Fraktion, das Wort.


Dr. Freiherr Wolfgang von Stetten (CDU):
Rede ID: ID1412717400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Die Entgleisungen des Kollegen Hartenbach ver-
deutlichen die Hektik und die Unsicherheit der SPD.


(Zurufe von der SPD: Oh!)

Die CDU/CSU und mit ihr die F.D.P. haben aus guten

Gründen und wohl überlegt beantragt, dass der Deutsche
Bundestag zu der hessischen Streitsache vor dem Bun-
desverfassungsgericht keine Stellungnahme abgibt, und
zwar, um sich aus diesem Rechtsstreit herauszuhalten,
weil sonst der vom Bundestag zu beauftragende Vertreter
zu einem vernichtenden Urteil über Art. 78 Abs. 2 und 3
der hessischen Verfassung in Verbindung mit Einzelbe-
stimmungen des hessischen Wahlprüfungsgesetzes kom-
men müsste.

So fürchterlich verwunderlich wäre eine solch negative
Stellungnahme dieses Vertreters schon deshalb nicht, weil
die hessische Verfassung vom 1. Dezember 1946 stammt
und Bestimmungen enthält, die nach dem Grundgesetz
aus dem Jahre 1949 verfassungswidrig sind. So sind dort
unter anderem das Verbot des Streiks und – man höre und
staune – die Todesstrafe festgeschrieben. Es ist also an der
Zeit, auch andere Artikel zu überprüfen.

Auch das Wahlprüfungsgesetz vom 5. August 1948

(Dirk Niebel [F.D.P.]: Hat Eichel das mit der Todesstrafe denn nicht gestrichen?)

– nein, die Todesstrafe steht noch in der hessischen Ver-
fassung; wenn Sie es nachlesen wollen: Art. 21 – ent-
stammt einer Zeit, in der es noch keine gefestigte Rechts-
ordnung in den Ländern gab, weil die Bundesrepublik
Deutschland noch gar nicht existierte und somit das
Grundgesetz noch nicht in Kraft war.

Nun ist es eine ureigen hessische Angelegenheit, ihre
Verfassung und ihre Gesetze auf die Vereinbarkeit mit
dem Grundgesetz und den Gesetzen der Bundesrepublik
Deutschland zu überprüfen und sie gegebenenfalls zu än-
dern. Die CDU/CSU hält es daher mit Rücksicht auf das
föderale System und die Grundsätze guter Bund-Länder-
Beziehungen für unnötig und überflüssig, zumindest aber




Alfred Hartenbach

12229


(C)



(D)



(A)



(B)


für entbehrlich, eine Stellungnahme zum verfassungs-
gerichtlichen Streit abzugeben.

Die Regierungskoalition aus SPD und Grünen will et-
was anderes – welcher Teufel Sie geritten hat, weiß ich
nicht, Herr Hartenbach –,


(Alfred Hartenbach [SPD]: Nur gute Geister!)

sodass wir auf die Einzelheiten des Wahlprüfungssys-
tems und -verfahrens eingehen müssen. Etwas grob aus-
gedrückt, deutet dieses System auf eine abenteuerliche
Rechtsprechung hin. Da soll ein Gericht, das laut Hessi-
schem Staatsgerichtshof eigentlich kein Gericht ist, einen
Beschluss fassen oder ein Urteil fällen, das sofort rechts-
kräftig ist und somit mindestens der Rechtsstaatsgarantie
des Grundgesetzes widerspricht und mit dem alle rechts-
staatlichen Besetzungs- und Befangenheitsregeln außer
Kraft gesetzt werden.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Bundesverfassungsgericht hat anders entschieden!)


Dies ist wie im finsteren Mittelalter, als die Richter von
Gottes Gnaden über sich selbst und eigene Angelegenhei-
ten urteilten.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch nicht! Das Bundesverfassungsgericht steht doch darüber!)


Als politisches Schmierentheater wäre das alles ja noch
zu ertragen, wenn nicht – das ist das Besondere daran –
die höchsten Richter Hessens, der Präsident des Verwal-
tungsgerichtshofes, Bernhard Heitsch, und die Präsiden-
tin des Oberlandesgerichtes Frankfurt, Brigitte Tilmann –
beide aktive Wahlkämpfer, direkt oder indirekt, für die
SPD –, über die Nichtigkeit der von der CDU gewon-
nenen Wahl mit entscheiden würden. Damit fügen sie der
Justiz und dem Ansehen der Richter schweren Schaden
zu.

Schon normaler Anstand und Sitte, erst recht die
Selbstbeurteilung als Richter gebieten diesen beiden Prä-
sidenten, sich als befangen abzulehnen, wenn sie darüber
entscheiden, ob die Wahl wegen gegen die guten Sitten
verstoßender Handlungen gewonnen wurde. Gemeint ist
der Aufruf der CDU „Ja zur Integration – Nein zur dop-
pelten Staatsbürgerschaft“, der zu Millionen Unterschrif-
ten führte, die angeblich nur deswegen gesammelt werden
konnten, weil die Aktion mit unzulässigen Geldmitteln fi-
nanziert wurde.

Beide Richter haben – im Übrigen unter Umständen
schon entgegen dem Gebot der richterlichen Zurückhal-
tung in öffentlichen und politischen Angelegenheiten – in
den Landtagswahlkampf bzw. den gleichzeitig stattfin-
denden Bürgermeisterwahlkampf in Darmstadt durch öf-
fentliche Anzeigen mit Namen, zum Teil sogar mit Titel,
eingegriffen.


(Alfred Hartenbach [SPD]: Das dürfen auch Richter, Herr von Stetten!)


Schon im Vorfeld haben sie praktisch ihre Entscheidung
getroffen und wollen diese nunmehr, allen rechtlichen Ge-
pflogenheiten zum Trotz, durch eine pseudogericht-

liche Entscheidung untermauern. Dies, lieber Herr
Hartenbach, ist viel eher sittenwidrig als der Wahlkampf
der CDU.


(Beifall bei der CDU/CSU – Alfred Hartenbach [SPD]: Na, na!)


Die Richter nutzen nicht einmal die Chance, durch
Aussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung des Bun-
desverfassungsgerichts aus dieser Parteienverstrickung
herauszukommen. Im Gegenteil: Unter abenteuerlicher
Interpretation einer Entscheidung des Hessischen Staats-
gerichtshofes vom 20. Juli 1988 – fast ein Jahr vor der be-
wussten Hessenwahl – wird der Berichterstatter ange-
spornt, das Verfahren „zügig fortzusetzen“. So besteht die
Gefahr, dass ein angeblich nicht existierendes Gericht mit
befangenen „Entscheidungsträgern“ im Schweinsgalopp
eine angeblich nicht aufschiebbare Entscheidung trifft,
einzig und allein um die Partei zu treffen, die durch ihren
Wahlsieg den Ministerpräsident der SPD, Eichel, aus dem
Sattel gehoben hat.

Dabei will man natürlich auch die ungeliebte Regie-
rung Koch und den Koalitionspartner F.D.P. treffen, wohl-
wissend, dass auch eine rechtswidrige und unwirksame
Entscheidung Stimmung macht. Sie wird nicht halten.
Aber zunächst einmal ist das Parlament ausgehebelt und
die SPD wird ihr politisches Süppchen daraus kochen.

Im Übrigen sind auch die drei Abgeordneten des Hes-
sischen Landtages Stefan Grüttner, Jörg-Uwe Hahn und
Manfred Schaub unter Umständen wegen Befangenheit
zur Entscheidung nicht befugt – wenn es denn ein Gericht
und kein Ausschuss ist –, weil sie positiv oder negativ von
der Auflösung des Landtages betroffen sind.

Nicht nachzuvollziehen ist insoweit auch die Entschei-
dung des Hessischen Staatsgerichtshofs, dass die anderen
107 Abgeordneten des Hessischen Landtages, über die in
diesem Wahlprüfungsverfahren mitentschieden wird,
kein Beteiligungsrecht haben. Auch dies widerspricht
dem allgemeinen verwaltungsgerichtlichen Beteiligungs-
und Beitrittsgedanken und dem allgemeinen Gedanken
auf rechtliches Gehör. Aus all diesen rein formalen juris-
tischen Gründen ist eine eventuell ergehende Entschei-
dung des Wahlprüfungsgerichts nichtig.

Aber auch aus materiell-rechtlichen Gründen kann
die bereits angekündigte Entscheidung keinen Bestand
haben. Nur mit bedingungslosen, blinden Parteischeu-
klappen von SPD-Parteigenossen kann der Wahlkampf
der CDU als „sittenwidrig“ bezeichnet werden. Es ist ge-
radezu lachhaft, wenn die milliardenschwere SPD der
CDU unlautere Machenschaften vorwirft, weil diese un-
ter Umständen im Wahlkampf eigene Gelder aus der
Schweiz genutzt und damit für die SPD einen Wettbe-
werbsnachteil im Wahlkampf geschaffen habe.


(Alfred Hartenbach [SPD]: Das waren aber schwarze Kassen!)


– Herr Hartenbach, hören Sie doch einmal zu.
Schlagworte wie „mit Millionen aus der Schweiz die

Wahl verfälscht“ brechen doch schlichtweg in sich zu-
sammen, wenn die Zahlen auf den Tisch gelegt werden.




Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
12230


(C)



(D)



(A)



(B)


Die CDU hat im Wahlkampf 4 Millionen DM ausgegeben
und die ach so wettbewerbsbenachteiligte SPD 6 Milli-
onen DM, also 50 Prozent mehr.


(Alfred Hartenbach [SPD]: Der Rest ist ja nicht aufgeführt! Das war ja Schwarzgeld! Wer hat hier versucht, den Wahlkampf mit Millionengeldern zu gewinnen? Das war doch die SPD und nicht die CDU. Weil all das, was ich gesagt habe, der juristische Kol lege Hans Meyer – es ist nicht unser Kollege Professor Jürgen Meyer –, sofern er denn vom Bundestag beauftragt wird, eine Stellungnahme abzugeben, auch niederschreiben muss – – (Alfred Hartenbach [SPD]: Nein, nicht Jürgen Meyer!)


(Beifall bei der CDU/CSU)


(Lachen bei der SPD)


– Nicht Jürgen Meyer, Hans Meyer. Das habe ich deutlich
gesagt.


(Alfred Hartenbach [SPD]: Professor Meyer aus Berlin! Meyers gibt es viele!)


– Lieber Kollege Hartenbach, ich habe gesagt: Der juris-
tische Kollege Professor Hans Meyer, nicht unser Kollege
Jürgen Meyer. Sie sollten ein bisschen zuhören, lieber
Herr Kollege. Das wäre ganz gut. –


(Alfred Hartenbach [SPD]: Das war so undeutlich!)


Er muss das auch niederschreiben. Er wird das sicherlich
in wohlgesetzten Worten wesentlich ausführlicher tun als
ich.

Ich appelliere an Sie, meine Damen und Herren Kolle-
gen von der SPD und den Grünen, die Beschlussempfeh-
lung des Rechtsausschusses abzulehnen.

Wir von der CDU/CSU waren und sind der Meinung,
dass sich der Deutsche Bundestag aus dieser rein hessi-
schen SPD-Justizaffäre heraushalten sollte und dass das
Bundesverfassungsgericht von sich aus ohne Stellung-
nahme des Bundestages entscheiden sollte. Das Bundes-
verfassungsgericht ist dazu berufen, nicht wir.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Es entspricht auch den langjährigen Gepflogenheiten die-
ses Hauses, sich nicht in Angelegenheiten der Länder ein-
zumischen. Sie, meine Damen und Herren von der SPD
und den Grünen, hätten die heutige peinliche kontroverse
Auseinandersetzung, die dem Ansehen der Justiz nicht
dient, vermeiden können, wenn Sie weise nach dieser De-
vise gehandelt hätten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jörg van Essen [F.D.P.])


Wir lehnen die Beschlussempfehlung des Rechtsaus-
schusses daher nachdrücklich ab und werden ganz auf das
Bundesverfassungsgericht vertrauen.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Alfred Hartenbach [SPD]: Das tun wir auch!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412717500
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die
Grünen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Der fehlt uns noch!)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

legen! Zunächst ist es ja schon einmal erfreulich, dass nun
auch vonseiten der CDU klargestellt wurde, dass der
Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages bisher noch
nicht entschieden hat, dass die Wahl in Hessen illegal ge-
wesen sei und deswegen wiederholt werden müsse. Viel-
mehr geht es lediglich darum, dass der Rechtsausschuss
eine Stellungnahme des Deutschen Bundestages zu der
Normenkontrollklage des Landes Hessen gegen die hes-
sische Verfassung für richtig hält. Wir wollen nichts an-
deres, als dass eine Stellungnahme dazu abgegeben wird.
Es geht noch gar nicht darum, was in der Stellungnahme
drinstehen wird. Dass Sie sich so dagegen wehren, muss
ganz andere Gründe haben.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Auf diese Gründe komme ich jetzt zu sprechen:
Erstens ist es keineswegs so, dass über dem hessischen

Wahlprüfungsgericht nur der liebe Gott steht, sondern da-
zwischen sitzen noch die Richter des Bundesverfassungs-
gerichts. Darauf können Sie sich verlassen. Jede andere
Behauptung wäre unrichtig.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: So steht es in der Verfassung drin!)


Zweitens wollen wir gerne an den Maßstäben des
Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, nicht an
der hessischen Verfassung, messen lassen, ob es – darauf
wurde ja bereits hingewiesen – gegen die guten Sitten ver-
stößt, wenn eine im Bundestag vertretene Partei Millionen
in die Schweiz verschiebt und dann, um diese Verschie-
bungsaktion und vor allen Dingen die Rückführung die-
ser Gelder zu verdecken, jüdische Vermächtnisse erfindet.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Das sind doch völlig dumme Erwägungen! Hat doch mit dem Wahlkampf nichts zu tun! Herr Ströbele, Sie verfälschen die Debatte!)


Ob hier ein Verstoß gegen die guten Sitten vorliegt, soll
am Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gemes-
sen werden.

Weiterhin soll festgestellt werden, ob der Rücktransfer
dieser in die Schweiz verschobenen Millionen Einfluss
auf die letzte Wahl zum Hessischen Landtag gehabt hat.
Es sind Gelder in die Schweiz geflossen, es sind Gelder
zurückgeflossen, davon sind Gelder in den hessischen




Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten

12231


(C)



(D)



(A)



(B)


Wahlkampf gegeben worden, und mit den Geldern aus der
Schweiz wurde unter anderem die Zentrale der hessischen
CDU in Wiesbaden, die dann auch Wahlkampfzentrale
war, gekauft.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Das ist eine lächerliche Feststellung!)


Wir wollen nun feststellen, ob das gegen die guten Sitten
verstößt. Wenn das gegen die guten Sitten in diesem
Lande verstößt und dieser Verstoß gegen die guten Sitten
ursächlich das Wahlergebnis beeinflusst hat, stellt sich die
Frage, ob es mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik
Deutschland vereinbar ist, wenn man das Ergebnis einer
solchen Wahl für ungültig erklärt und die Wahl wiederho-
len lässt. Darum geht es.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Drittens geht es um das, was der Kollege Geis im
Rechtsausschuss von sich gegeben hat.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie waren nicht da!)


– Doch, ich war da. – Er äußerte dort nämlich Bedenken,
ob die Mitglieder des Wahlprüfungsgerichts in Hessen in
dieser Sache urteilen können, da sie einer Partei an-
gehören.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Nein, weil sie Wahlkampf gemacht haben!)


In diesem Punkt äußerte er Bedenken. Ich kann dazu nur
sagen: Wenn Sie diese Kriterien anwenden, müssen Sie
sehr, sehr vorsichtig sein, weil Sie dann sogar Probleme
mit den Urteilen der Richter des Bundesverfassungsge-
richts haben müssten.


(Heinz Schemken [CDU/CSU]: Pofalla!)

Wenn ich mich recht erinnere, waren auch maßgebliche
Richter und Präsidenten dieses Gerichts vor ihrer Tätig-
keit im Bundesverfassungsgericht in politischen Parteien
aktiv, die sie dann für diese Ämter nominiert haben. Das
heißt, auch der Teil der Normenkontrollklage, der sich da-
gegen wendet, dass diese Richter urteilen dürften, obwohl
sie nach dem hessischen Gesetz in dieses Wahlprüfungs-
gericht bestellt wurden, ist bedenkenswert. Wir wollen
doch nur, dass der Deutsche Bundestag, beispielsweise
nach Diskussionen im Rechtsausschuss, dazu eine Stel-
lungnahme abgibt.

Viertens. Warum haben es die Hessische Landesregie-
rung, die hessische CDU und die Bundes-CDU über all
die Jahrzehnte eigentlich nicht vermocht, die ganze Kri-
tik, die man jetzt, auch in dem Schriftsatz, wortreich übt,
vorzutragen? Warum ist man bei bisherigen Entscheidun-
gen dieses Wahlprüfungsgerichts immer davon ausgegan-
gen, dass sie zutreffend, richtig und zu befolgen sind? Nur
weil die Entscheidungen Ihnen gefallen haben? Sie kön-
nen doch die Quasirechtsprechung dieses Wahlprüfungs-
gerichts –


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Was ist das Gericht denn?)


– Rechtsprechung im eigentlichen Sinne ist es ja nicht –
nicht vom Ergebnis abhängig machen, nur weil in diesem
Fall die Gültigkeit der hessischen Landtagswahl auf dem
Spiel steht und weil Sie wissen, dass in dem Verfahren des
Wahlprüfungsgerichts all das gegen die guten Sitten Ver-
stoßende, das die hessische CDU angerichtet hat, ans Ta-
geslicht kommt und auch überregional immer wieder von
Neuem diskutiert wird.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Obersittenwächter Ströbele! Das kann doch wohl nicht wahr sein!)


Wir wollen, dass diese eminenten Verstöße gegen die
guten Sitten in diesem Land auf die Tagesordnung kom-
men. Damit soll sich auch der Deutsche Bundestag be-
schäftigen und er soll eine Stellungnahme dazu abgeben.


(Zuruf von der CDU/CSU: Pofalla lässt grüßen!)


Damit würden dem Bundesverfassungsgericht zusätzli-
che Anhaltspunkte gegeben, über diese Verfassungsklage
gerecht zu entscheiden.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Wir sind dafür, der Empfehlung des Rechtsausschusses zu
folgen und eine Stellungnahme des Bundestages herbei-
zuführen. Wir hoffen, dass Sie sich an der Ausarbeitung
dieser Stellungnahme beteiligen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412717600
Zu einer Kurzinter-
vention gebe ich dem Kollegen Geis das Wort.


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1412717700
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Bei der Verfassungs-
klage der hessischen Regierung geht es allein um ein lan-
desrechtliches Problem. Es geht nicht um die Frage, ob
die Wahl sittenwidrig ist oder nicht. Vielmehr geht es al-
lein darum, ob ein solches Wahlprüfungsgericht, das sich
aus drei Landtagsabgeordneten und zwei unabhängigen
Richtern zusammensetzt, in der Lage ist, einen Entscheid
zu treffen, ob das Ergebnis einer Wahl weit mehr als ein
Jahr nach dem Wahltag Gültigkeit besitzt. Wir meinen,
dass wir diese Frage nicht zum Gegenstand einer
Stellungnahme des Bundestages machen sollten, da es
sich um eine landesrechtliche Regelung handelt, über die
allein das Bundesverfassungsgericht urteilen sollte.

Wir sehen hinter dieser Beschlussempfehlung einen
politischen Zweck: Sie wollen natürlich alles auf die
Spitze treiben, was man auf die Spitze treiben kann. Sie
sind aber meiner Meinung nach auf dem Holzweg. Um Ihr
Ziel zu erreichen, ist diese Stellungnahme kein geeignetes
Instrument.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412717800
Wollen Sie antworten,
Herr Kollege Ströbele? – Nein. Dann erteile ich dem Kol-
legen Jörg van Essen, F.D.P.-Fraktion, das Wort.




Hans-Christian Ströbele
12232


(C)



(D)



(A)



(B)



Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1412717900
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Der Kollege Hartenbach hat sich in
seinen umfassenden Ausführungen nahezu mit der ge-
samten hessischen Landespolitik befasst, nur nicht mit der
Frage, über die wir heute zu entscheiden haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Wir haben heute darüber zu entscheiden, ob der Bundes-
tag in diesem Verfassungsstreitverfahren eine Stellung-
nahme abgeben soll. Nur wenn die Argumente so schwach
wie in der Rede des Kollegen Hartenbach sind, weicht
man so deutlich aus.


(Alfred Hartenbach [SPD]: Sie können sie gerne nachlesen!)


Der Sachverhalt lässt sich ganz kurz und ganz klar dar-
stellen: Hessen ist das einzige Bundesland, in dem es ein
Wahlprüfungsgericht gibt. Das ist angerufen worden.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schon mehrfach!)


Das zu tun ist das gute Recht derjenigen, die diesen Schritt
getan haben.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht zum ersten Mal!)


Das wird vom Bundestag nicht zu kritisieren sein; denn
darüber hat man woanders zu entscheiden.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: So ist es!)

Die Institution des Wahlprüfungsgerichtes ist aber zu

hinterfragen. Auch in der Debatte hier ist deutlich gewor-
den: Es ist doch seltsam, dass Politiker, die offensichtlich
nicht unabhängig sein können, plötzlich einen Richtersta-
tus innehaben und auch noch in einer Frage entscheiden
müssen, die sie selbst betrifft.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Warum stellen Sie die Frage eigentlich jetzt erst, nach 50 Jahren?)


Es geht nämlich darum, ob der Landtag gegebenenfalls
aufgelöst wird und neu gewählt werden muss.

Das ist eine Frage, die doch der Prüfung unterzogen
werden kann und muss.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: So ist es!)


Sie kann vor allen Dingen deshalb einer Prüfung unterzo-
gen werden, weil die unabhängigen Richter da sogar die
Minderheit bilden: Sie sind nur zwei, während die ande-
ren, die Politiker, die Mehrheit bilden.

Das ist ein Vorgang, den man nur in Hessen kennt. Des-
halb kann ich überhaupt nicht erkennen, wieso uns das
hier im Bundestag beschäftigen sollte und warum wir uns
in irgendeiner Weise an dem Verfahren beteiligen sollten.
Es ist doch seltsam: Bei einem anderen Verfahren vor dem
Bundesverfassungsgericht, in dem es um einige Regelun-
gen der Länder hinsichtlich der Besoldung von Funkti-
onsträgern in den Fraktionen ging, haben wir gesagt: Wir

beteiligen uns nicht, weil das spezielle Länderregelungen
sind.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Genau!)


Jetzt geht es wieder um Länderregelungen und plötzlich
soll ein Professor mit einem Gutachten beauftragt werden.

Wir als F.D.P. sagen dazu ein klares Nein, weil wir
nicht erkennen können, dass das Bundesverfassungsge-
richt dadurch eine breitere Erkenntnismöglichkeit hat. Ich
denke, wir haben auch immer eine Verpflichtung gegen-
über dem Steuerzahler. Wenn es keine neuen Erkenntnisse
gibt und wir auch gar keine eigenen Rechte haben, die
verletzt sein können, dann haben wir die Verpflichtung,
Steuergelder nicht auszugeben.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Das ist für uns ein entscheidender Gesichtspunkt. Deshalb
sagen wir Nein dazu, dass hier ein Professor mit einem
Gutachten beauftragt werden soll.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412718000
Jetzt erteile ich das
Wort der Kollegin Dr. Evelyn Kenzler, PDS-Fraktion.


Dr. Evelyn Kenzler (PDS):
Rede ID: ID1412718100
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Das bekannte Sprichwort
„Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte“ stimmt
zwar oft, aber nicht immer. Nachdem diese Frage bereits
ausführlich im Rechtsausschuss selbst besprochen wurde
und die gegensätzlichen Standpunkte des Für und Wider
ausgetauscht wurden – einschließlich der dazugehörigen
Fingerhakeleien unter den Obleuten –, hält sich meine
Freude über den heutigen Debattenpunkt sehr in Grenzen.
Ich halte die Aufblähung zu einem halbstündigen Debat-
tenpunkt schlicht für überflüssig. Die gegensätzlichen
Meinungen hierzu sind ausgetauscht. Eine Abstimmung
über die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses
ohne Aussprache hätte es auch getan.

Ich stelle damit nicht die Bedeutung dieser Streitsache
für das Land Hessen, einschließlich seines Wahlprüfungs-
gerichts, in Abrede. Auch wenn die CDU-geführte hessi-
sche Landesregierung ihr Normenkontrollbedürfnis im
Hinblick auf Art. 78 der Landesverfassung reichlich spät
entdeckt, und zwar justament in dem Augenblick, in dem
sich die Bestimmung gegen sie selbst richten könnte, hat
sie dennoch selbstverständlich das Recht, einen entspre-
chenden Antrag beim Bundesverfassungsgericht einzurei-
chen. Allerdings ist diese späte Besinnung politisch nicht
gerade glaubwürdig. Aber darum geht es wohl in Hessen
schon seit längerer Zeit nicht mehr.


(Zuruf von der PDS: Sehr wahr!)

Davon unabhängig kann dieser Schritt allerdings sogar

zu einer größeren Rechtsklarheit und damit auch zu einer
politischen Entlastung für das Wahlprüfungsgericht
führen, da die gesamte Debatte aufgrund der Spenden-
affäre extrem parteipolitisch überlagert und emotionsge-
laden ist. Auch wenn die hessische Finanzaffäre nach wie






(C)



(D)



(A)



(B)


vor sehr schlagzeilenträchtig ist und ihre Akteure offen-
sichtlich nichts unversucht lassen, damit dieser Zustand
noch lange anhält, geht es heute allein um die Frage, ob
der Bundestag zu dieser Streitsache eine Stellungnahme
abgeben soll oder nicht. Dies hätte allerdings auch gut und
gerne ohne Debatte entschieden werden können.

Nachdem sich meine Fraktion im Rechtsausschuss
zunächst der Stimme enthalten hat, werden wir jetzt der
Beschlussempfehlung nach nochmaliger Prüfung zustim-
men. Da der Bundestag durch dieses Normenkontrollver-
fahren in mehrfacher Hinsicht tangiert ist und auch ein
bundespolitisches Interesse zu bejahen ist und da die Ar-
beitsergebnisse des Untersuchungsausschusses Einfluss
auf das Wahlprüfungsverfahren in Hessen haben können,
halte ich eine Stellungnahme für sachgerecht, zumal der
entscheidende Senat offensichtlich auch Wert darauf legt.

Sowohl der Streitanlass – der Einsatz verschleierten
Auslandsvermögens im hessischen Wahlkampf durch die
CDU – als auch die kleinliche und peinliche Weiter-
führung der parteipolitischen Auseinandersetzung um
eine Stellungnahme des Deutschen Bundestages vor dem
Bundesverfassungsgericht zeugen jedoch nicht von hoher
Streitkultur. Die CDU würde an dieser Stelle wohl von
„Leitkultur“ sprechen. Aber keine Angst: Wenn nach der
Entscheidung des Wahlprüfungsgerichts in Hessen das
politische Chaos ausbrechen sollte, dann wird das Bun-
desverfassungsgericht es wieder einmal richten müssen.


(Beifall bei der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412718200
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Rechtsausschusses zu der Streitsache vor dem
Bundesverfassungsgericht, Drucksache 14/4354. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe!
– Enthaltungen? – Gegen die Stimmen von CDU/CSU
und F.D.P. ist die Beschlussempfehlung angenommen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neurege-
lung der sozialversicherungsrechtlichen Behand-
lung von einmalig gezahltem Arbeitsentgelt

(Einmalzahlungs-Neuregelungsgesetz)

– Drucksachen 14/4371, 14/4409 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich sehe
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Die Kolleginnen und Kollegen mögen sich bitte ent-
scheiden, ob sie herausgehen oder sich hinsetzen wollen;
stehen bleiben geht nicht. – Das ist an sich ein interessan-
tes Thema. Sie können ruhig hier bleiben.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundes-
minister Walter Riester.

Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Frau Präsidentin! Meine Damen und Her-
ren! Völlig zutreffend sagte die Präsidentin, dass es um
ein sehr wichtiges Thema geht, wichtig vor allem für meh-
rere Millionen arbeitslose Menschen. Es geht um die Be-
handlung der Einmalzahlungen. Es geht darüber hinaus
um die Verlängerung von arbeitsmarktpolitischen Instru-
menten und die Fortsetzung der Konsolidierung des Bun-
deshaushaltes.

Ich komme zuerst zum Komplex der Einmalzahlungen.
Das Bundesverfassungsgericht hat am 22. Juni dieses Jah-
res verlangt, die Fehler der alten Regierung in dieser
Frage zu korrigieren. Schon 1995 – ich erinnere daran –
hat das Bundesverfassungsgericht in einem Richterspruch
dargelegt, dass Einmalzahlungen dort einbezogen wer-
den müssen, wo Lohnersatzleistungen erfolgen. Dieser
Richterspruch ist ignoriert worden.


(Zuruf von der SPD: Warum denn?)

Das Bundesverfassungsgericht erklärt zu dieser „Glanz-
tat“ – ich zitiere –:

Für die vom Gesetzgeber vorgenommene Einschät-
zung der künftigen Entwicklung der Lohnersatzleis-
tungen waren schon zum Zeitpunkt der Gesetzge-
bungsberatung keine hinreichenden Anhaltspunkte
gegeben.


(Zuruf von der SPD: Hört! Hört!)

Doch nicht die Verursacher, sondern die Betroffenen

hatten diese unsoziale Politik auszubaden. Unsere Auf-
gabe ist es jetzt, diese Altlasten abzutragen. Ich sage Ih-
nen: Das ist finanziell kein Pappenstiel. Die Mehrkosten,
die der Bundesanstalt für Arbeit entstehen, betragen in
diesem Jahr rund 2,4 Milliarden DM, im nächsten Jahr
3,7 Milliarden DM und in den Folgejahren rund 3 Milli-
arden DM.


(Adolf Ostertag [SPD]: Da seht ihr, was ihr uns eingebrockt habt! – Heinz Schemken [CDU/CSU]: Jetzt seid ihr an der Regierung! Ihr wolltet doch unbedingt dran!)


Angesichts dieser Ausgabenlasten ist klar: Eine rück-
wirkende volle Erstattung aller Leistungsansprüche ist
leider nicht möglich. Das wären 18 Milliarden DM allein
bei den Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit gewesen,
für die natürlich keine Rücklagen gebildet wurden.


(Zuruf von der SPD: Wessen Schuld war das?)

Wenn nun – mir ist das gerade heute in der Arbeits- und
Sozialministerkonferenz passiert – gerade von der Union
die Forderung kommt, den Arbeitslosenversicherungs-
beitrag abzusenken, dann muss ich Ihnen sagen: Wären
dafür Rücklagen gebildet worden – Sie müssen es nur ein-
mal hochrechnen –, dann könnten wir heute über eine Ab-
senkung von 0,25 Prozentpunkten sprechen. Ich würde
das gerne machen, aber wir können es nicht. Wir müssen
Altlasten abtragen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wie erfüllen wir nun das Urteil des Bundesverfas-

sungsgerichtes? Uns geht es vor allem darum, dass die




Dr. Evelyn Kenzler
12234


(C)



(D)



(A)



(B)


Betroffenen – oder jetzt auch Begünstigten – möglichst
schnell unbürokratisch zu ihren Leistungen kommen.
Deswegen werden wir in diesem Jahr eine Pauschalierung
von 10 Prozent vornehmen, genau wie es das Bundesver-
fassungsgericht empfohlen hat. Diese 10 Prozent – das
sagte ich Ihnen – sind 2,4 Milliarden DM in diesem Jahr;
ab dem nächsten Jahr werden wir die für neue Ansprüche
Einmalzahlungen in die genaue Berechnung von Arbeits-
losengeld und Krankengeld einbeziehen.

Darüber hinaus ist es dringend erforderlich, mindes-
tens drei arbeitsmarktpolitische Instrumente zu verlän-
gern. In der Situation, in der wir uns befinden, ist es
notwendig, die strukturbedingte Förderung von Arbeit-
nehmern im Rahmen von Kurzarbeit über das Jahr 2002
hinaus bis zum Ende des Jahres 2006 zu verlängern. Wir
sind zweitens der Meinung, dass die Strukturanpassungs-
maßnahmen über den gleichen Zeitraum hin verlängert
werden müssen. Wir sind zum Dritten der Auffassung,
dass die Sonderregelungen zu den Arbeitsbeschaffungs-
maßnahmen in den neuen Bundesländern, nach denen ein
Lohnkostenzuschuss bis zu 100 Prozent gezahlt werden
kann, vor dem Hintergrund der Situation über das Jahr
2002 hinaus verlängert werden müssen.

Ein weiterer Punkt, meine Damen und Herren, ist die
Konsolidierung des Bundeshaushaltes.Wir sind in der
günstigen Lage, dass aufgrund der Maßnahmen, die wir
ergriffen haben, aufgrund der ökonomischen Verbesse-
rungen, aufgrund des Wachsens der Beschäftigungszahl
um rund 1 Million innerhalb von zwei Jahren und auf-
grund der Entlastungen der Bundesanstalt für Arbeit eine
Situation auftritt, in der wir zwei arbeitsmarktpolitische
Maßnahmen aus dem Haushalt des Bundes in den der
Bundesanstalt für Arbeit überführen können. Es geht um
die künftige Finanzierung des Sonderprogramms zur Wie-
dereingliederung Langzeitarbeitsloser und um die teil-
weise vom Bund getragenen Strukturanpassungsmaßnah-
men für Arbeitslosenhilfebezieher. Beide Maßnahmen
werden wir integrieren. Wir können das vor dem Hinter-
grund der positiven Entwicklung, die nicht zuletzt am Er-
gebnis unserer Arbeit zu sehen ist. Darüber können wir
uns freuen.

Zusammenfassend geht es bei dem Gesetz einerseits
um ein Wegräumen von Altlasten – das wird teuer, aber es
muss gemacht werden – und andererseits um die Ent-
wicklung von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, die
uns die Möglichkeit bieten, Arbeitslosigkeit weiterhin zu
bekämpfen.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der SPD: Richtige Politik!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412718300
Als nächsten Redner
erteile ich dem Kollegen Heinz Schemken, CDU/CSU-
Fraktion, das Wort.


(Zuruf von der SPD: Jetzt erklär mal, warum Ihr das nicht gemacht habt!)



Heinz Schemken (CDU):
Rede ID: ID1412718400
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister,
wenn es so ist, dass die Frage der Verfassungswidrigkeit

für Sie einen so hohen Stellenwert hat, frage ich Sie aus-
drücklich, warum Sie das Ganze nicht unmittelbar im De-
zember 1998 geregelt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Die Frage ist berechtigt!)


Sie können ja nicht nur das Gute übernehmen; Sie über-
nehmen die laufenden Geschäfte einer Politik, die ja nicht
erst 1998 begonnen hat. Es gibt gute und schlechte Dinge.

Ich muss zugeben, dass das Bundesverfassungsgericht
am 24. Mai 2000 entschieden hat. Es geht um die Be-
rechnung der kurzfristigen beitragsbezogenen Lohner-
satzleistungen; der Minister hat das schon dargestellt. Ich
meine, dass wir diesem Bundesverfassungsgerichtsurteil
– so, aber dann auch wirklich wie der Minister die Ver-
fassungssicherheit beschworen hat – in der Tat gerecht
werden müssen.

Das vorgesehene Gesetz wird diesem Anspruch nicht
gerecht.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Regelung wird ihm deshalb nicht gerecht, weil in Zu-
kunft nicht nur die Belastungen zu bewältigen sind, son-
dern weil das bürokratische Verfahren dazu führt, dass das
Ganze nicht nur für die Sozialversicherungsträger und für
die Betriebe, sondern auch für die Beitragszahler ver-
kompliziert wird.

Deshalb sind wir der Meinung, dass es dem Verfas-
sungsanspruch nicht gerecht werden kann, wenn man die-
jenigen, die den Einspruch eingelegt haben, nach dem
21. Juni 2000 anders bemisst als die Übrigen, die erst zum
späteren Zeitpunkt berücksichtigt werden.

Wir sind der Meinung, wenn wir vor dem Hintergrund
der 10 Prozent dies regeln wollen, muss das auch einer
verfassungsrechtlichen Prüfung standhalten. Die Ände-
rung sollte daher eingeführt werden, auch wenn es keine
Beanstandungen gab. Darauf werden wir achten. Nach
dem jetzt vorgelegten Regelungsentwurf sind gerichtliche
Klagen bereits vorprogrammiert, und ich will dazu als
Zeugen den Ihnen nicht ganz fremden Deutschen Ge-
werkschaftsbund aufrufen. Er hat Ihnen ja dazu verholfen,
dass Sie seit 1998 Mehrheiten haben und dieses Problem
nunmehr regeln können. Der Gewerkschaftsbund hat Be-
troffenen, die Musterprozesse anstrengen wollen, bereits
seine Hilfe zugesagt. Sie werden sicherlich nicht dagegen
sein, dass der DGB sein soziales Empfinden äußert und
die Regierung dadurch in Schwierigkeiten bringt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir sind übrigens der Meinung – das gilt sowohl für

die Krankenkassen als auch für die Arbeitslosenversiche-
rung –, dass Sie die Geldbeträge, die Sie im Zuge der Neu-
regelung aufwenden müssen, den Arbeitslosenhilfeemp-
fängern im Rahmen der Reform der Rentenversicherung
bereits genommen haben. Hier kürzen Sie bei der Bemes-
sung der Rente und treffen damit mit den Empfängern von
Arbeitslosenhilfe die ganz Schwachen, die erst später
merken werden, dass in ihre späteren Rentenansprüche
eingegriffen wurde.


(Beifall bei der CDU/CSU)





Bundesminister Walter Riester

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(D)



(A)



(B)


Ich halte es deswegen für richtig, dass wir bei solchen
Schuldzuweisungen sehr moderat verfahren. Auch wir ha-
ben schon – wir haben 1983 eine SPD-Regierung ab-
gelöst, und dazu könnte ich Ihnen manches sagen – ver-
fassungswidrige Gesetze geändert, die Sie beschlossen
hatten.


(Zuruf von der SPD: Welche?)

Das kommt ja alles wieder; dann sind wir auch in der Ver-
legenheit, etwas neu regeln zu müssen. Ich fordere Sie
also auf, die notwendigen Änderungen ordentlich durch-
zuführen. Darum geht es letztlich.

Sie wissen, ich bin sehr moderat und nehme nieman-
den persönlich in die Pflicht. Aber diejenigen, die keinen
Widerspruch eingelegt haben, weil ihnen verschiedene
Spitzenverbände und Sozialpartner erklärten, Wider-
sprüche seien nicht notwendig, weil eine mögliche Ände-
rung bei einem entsprechenden Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichts für alle Betroffenen gelten würde, würden
durch Ihr jetziges Vorhaben in ihrem Vertrauen enttäuscht.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Hierbei sind diejenigen im Wort, die das damals erklärt
haben. Die Zusicherung, die Leistung nachträglich zu ge-
währen, basiert übrigens auch auf der SGB-Vorschrift des
§ 44 und muss deshalb eingelöst werden.

Die rückwirkende Geltung für die Betroffenen wird
uns in den weiteren Beratungen beschäftigen. Wir sind
auch bereit, daran mitzuwirken, weil wir die Auffassung
des Bundesverfassungsgerichts voll und ganz teilen. Wir
fordern eine wasserdichte Lösung ein, weil wir das Thema
zur Zufriedenheit aller lösen wollen. Sonst handeln wir
uns nur noch einmal Ärger ein.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Insofern ist eine Regelung auch für diejenigen zu treffen,
die damals keine Rechtsmittel ergriffen haben. Nur das ist
korrekt und glaubwürdig.

Hinsichtlich der Einmalzahlung, der Beitragserhebung
und der Beitragsbemessungsgrenze stellen wir fest, dass
das Problem nicht nur für diejenigen besteht, deren
Jahresentgelt teilweise über der Bemessungsgrenze liegt,
sondern auch diejenigen trifft, deren Jahresentgelt unter-
halb der Beitragsbemessungsgrenze liegt.

Ich sage noch einmal: Wir sind bereit, an einer Ände-
rung mitzuwirken. Wir sind dazu aber nur dann bereit,
wenn den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts voll
und ganz gefolgt wird.

Wir werden in den weiteren Beratungen im Ausschuss
und im Plenum ausreichend Gelegenheit haben, unsere
Vorstellungen einzubringen. Wir hoffen, dass wir damit
dem hohen Anspruch, der soeben von Herrn Minister
Riester postuliert wurde, gerecht werden und auf diese
Weise das Versprechen einlösen können, das die Träger
der Krankenversicherungen und die Regierungsvertreter
den betroffenen Versicherten gegeben haben. In diesem
Sinne wünschen wir uns eine gemeinsame Regelung.

Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412718500
Nun hat das Wort die
Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.


Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412718600

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Herr Schemken, es ist interessant anzuschauen,
welche Pirouetten Sie hier vorführen.


(Heinz Schemken [CDU/CSU]: Das wird beim Eislaufen hoch bewertet!)


Sie haben gerade an die Adresse des Ministers gesagt,
dass wir, wenn uns die Verfassungswidrigkeit der bisheri-
gen Regelung der Einmalzahlungen von Anfang an be-
wusst gewesen wäre, direkt nach der Regierungsüber-
nahme im Jahre 1998 hätten handeln müssen. Herr
Schemken, ich möchte Ihnen mit Konfuzius sagen: Gehen
Sie nie durch eine Glastüre, wenn sie geschlossen ist. Sie
müssen sich fragen lassen, warum Sie nicht schon 1995
gehandelt haben, als Sie an der Regierung waren und
Ihnen das Bundesverfassungsgericht verfassungswidri-
ges Handeln bescheinigt hat. Wie viel ist Ihnen, Herr
Schemken, verfassungsmäßiges Handeln eigentlich wert?


(Heinz Schemken [CDU/CSU]: Seit wann sind Sie dran?)


Wir müssen jetzt eine sozial fragwürdige und unge-
rechte Hinterlassenschaft der alten Bundesregierung – das
ist uns vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil
verbrieft aufgegeben worden – beseitigen. Es ist selbst-
verständlich, dass den Beiträgen der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer entsprechende Leistungen gegenüber-
gestellt werden müssen. Das Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichts ist nichts anderes als eine zweite, späte Ohr-
feige für die alte Bundesregierung.


(Beifall bei der SPD)

Einmalzahlungen müssen bei den Arbeitslosengeld-,

Krankengeld- und Übergangsgeldberechnungen berück-
sichtigt werden. Die jetzige Bundesregierung wird
schneller tätig, als es das Bundesverfassungsgericht vor-
geschrieben hat. Bereits ab Juni dieses Jahres gibt es
Übergangsregelungen, die eine pauschalierte Anhebung
des Arbeitslosengeldes, des Krankengeldes und des Über-
gangsgeldes vorsehen. Wir haben also direkt nach dem
Urteil des Bundesverfassungsgerichts dafür gesorgt, dass
die Gelder in die Taschen der betroffenen Versicherten
fließen. Schneller kann man nicht reagieren!

Ab dem 1. Januar 2001 werden dem Weihnachtsgeld
und anderen Einmalzahlungen entsprechende Versiche-
rungsleistungen gegenübergestellt. Dies ist sozialer, als
bei den Beiträgen anzusetzen, wie das beispielsweise die
F.D.P.-Fraktion vorschlägt; denn der Ansatz bei den
Beiträgen würde einmal mehr zu einer Aushöhlung unse-
rer sozialen Sicherungssysteme führen. Nur mit der Si-
cherung der Beitragseinnahmen für die sozialen Siche-
rungssysteme kann gewährleistet werden, dass das
Arbeitslosengeld und das Krankengeld in angemessener
Höhe gezahlt werden können und dass die Beiträge stabil
bleiben.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Das ist Quatsch!)





Heinz Schemken
12236


(C)



(D)



(A)



(B)


– Ich glaube Ihnen, Herr Niebel, dass Ihre Fraktion das für
Quatsch hält. Gerade an dieser Stelle wird deutlich, dass
der Weg der Bundesregierung richtig ist, die Beitrags-
satzstabilität nicht durch Einschränkung der Leistungen
zu sichern, sondern – so wie wir das machen – durch ei-
nen vernünftigen Konsolidierungskurs und einen ver-
nünftigen wirtschaftspolitischen Kurs die Arbeitsmarkt-
politik voranzubringen, die Arbeitslosigkeit zu verringern
und dadurch Spielräume für Beitragsentlastungen zu
schaffen. Das geschieht übrigens auch durch die Öko-
steuer.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Ich erkläre Ihnen das gleich!)


– Herr Niebel, Sie werden später reden. Dann werden Sie
uns Ihre Vorstellungen erklären.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Sie haben nichts verstanden!)


– Ich habe längst verstanden, dass Sie hier einmal mehr
einen unsozialen Vorschlag gemacht haben. Das haben
Sie schon öfter getan.

Es ist nie versprochen worden – auch nicht von den
Krankenkassen; das ist falsch dargestellt worden –, Leis-
tungen rückwirkend zu gewähren. Die Krankenkassen ha-
ben lediglich vorgeschlagen, rückwirkend allen Bezie-
hern von Krankengeld eine Nachzahlung zukommen zu
lassen. Das würde – das entspricht auch dem, was Sie ge-
fordert haben – alleine für die Krankenkassen eine zu-
sätzliche Belastung von mehr als 15 Milliarden DM be-
deuten. Wenn wir das zuließen, würde das bedeuten, dass
wir die Kosten, die entstehen würden, wenn wir Ihre Hin-
terlassenschaft und die Folgen Ihres unsozialen Handelns
aus den letzten Jahren beseitigen wollten, über Beitrags-
erhöhungen auf die heutigen Beitragszahler überwälzen
würden. Das wäre überhaupt nicht im Sinne der Solidar-
gemeinschaft. Deswegen wollen wir das auch nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, ein weiterer Punkt, in dem

vorliegenden Gesetzentwurf – er enthält ja vieles – ist die
Senkung der Bemessungsgrundlage für die Krankenversi-
cherungsbeiträge von Arbeitslosenhilfeempfängern auf
58 Prozent. Ich gebe hier freimütig zu – wir treten ja noch
in die Gesetzesverhandlungen ein –, dass uns die im letz-
ten Jahr erfolgte Absenkung der Bemessungsgrundlage
für Arbeitslosenhilfeempfänger in Bezug auf die Renten-
versicherung und die in diesem Jahr erfolgte Absenkung
in Bezug auf die Krankenversicherung aus sozialpoliti-
scher Sicht wirklich erhebliche Bauchschmerzen machen
und weh tun.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Petra Bläss)

Ich muss aber, was die Krankenkassen anbelangt, hin-

zufügen, dass keine Leistungseinschränkungen für die
Versicherten eintreten werden.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Das ist eine Verschwendung von Beitragszahlergeldern!)


– Mit Verschwendung hat das überhaupt nichts zu tun, wie
Herr Niebel von der F.D.P. immer wieder dazwischenruft,


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Fragen Sie einmal die Beitragszahler!)


sondern es hat etwas damit zu tun, dass wir die Gewähr-
leistung von sozialen Leistungen sicherstellen müssen.

Ein weiterer Punkt in unserem Gesetzespaket ist die
Verlängerung der Geltungsdauer der Strukturanpassungs-
maßnahmen, des Kurzarbeitergeldes und der Sonderrege-
lungen für die Teilzeitarbeit, beispielsweise bei ABM. Wir
wissen alle, dass die Arbeitsmarktsituation gerade in den
neuen Bundesländern immer noch nicht unseren Wün-
schen entspricht, dass sie schwierig ist.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Sie wird noch schlechter!)


Das ist ein Grund mehr, warum wir diese Maßnahmen
fortführen müssen, genauso wie wir übrigens für die
nächsten Jahre die Fortführung des JUMP-Programms
festgeschrieben haben.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Wieder zulasten der Beitragszahler!)


Die vorgeschlagenen Maßnahmen bedeuten für die Zu-
kunft eine Verstetigung der Arbeitsmarktpolitik und eine
Entlastung des Arbeitsmarktes. Da geht es, Herr Niebel
– an die denken Sie natürlich nie –, um die von Langzeit-
arbeitslosigkeit Betroffenen,


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Oh doch!)

denen wir weiterhin Brücken in den ersten Arbeitsmarkt
bauen müssen. Dass Sie das nicht interessiert, haben wir
schon hinlänglich erfahren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Eine aktive Arbeitsmarktpolitik und eine Sicherung der
sozialen Leistungen bei gleichzeitiger Stabilisierung der
Beitragssätze, das ist der Ansatz unseres Konzeptes,


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Das ist die Unwahrheit! Eindeutig!)


dem das Konzept der F.D.P. weit entfernt gegenübersteht.
Das wird uns auch gleich vorgeführt werden.

Wir jedenfalls werden mit diesem Gesetzentwurf die
Altlasten der alten Bundesregierung beseitigen und wei-
tere positive Schritte für die Arbeitsmarktpolitik vorbe-
reiten.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412718700
Das Wort hat der Kol-
lege Dirk Niebel, F.D.P.-Fraktion.


Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1412718800
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ach, Frau Dückert, Sie ha-
ben wieder einmal bewiesen – wie übrigens auch Ihre Vor-
redner –, dass einzig und allein die F.D.P., hier einen an-
deren Ansatz hat und nur sie den Menschen in diesem
Land zutraut, in der Lage zu sein, mit ihrem Geld zu wirt-
schaften.


(Beifall bei der F.D.P. – Lachen bei der SPD – Adolf Ostertag [SPD]: Gehen Sie doch einmal auf den Entwurf ein!)





Dr. Thea Dückert

12237


(C)



(D)



(A)



(B)


Das Bundesverfassungsgericht hat nicht ohne Grund
der Bundesregierung die Wahl gelassen, ob sie bei den
Beiträgen oder ob sie bei den Leistungen ansetzen will.
Die Bundesregierung weitet die Leistungen aus, statt den
Menschen das Geld in ihren Taschen zu lassen.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht darum, dass die Arbeitslosen das Geld bekommen!)


Das ist das Prinzip „linke Tasche, rechte Tasche“. Man
nimmt den Bürgerinnen und Bürgern ihr schwer verdien-
tes Geld aus der linken Tasche, katalysiert es durch einen
teuren Verwaltungsapparat und gibt es ihnen dann vor-
zugsweise zweckgebunden und um die Verwaltungskos-
ten vermindert in die rechte Tasche wieder zurück. Das ist
typisch deutsch. Der deutsche Michel mit seiner Schlaf-
mütze wird von Vater Staat an der Hand durchs Leben ge-
führt.

Unser Ansatz ist ein anderer.

(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hören Sie doch einmal zu, was ich Ihnen vorschlage!)


Die Menschen in diesem Land sind erwachsen und wis-
sen am besten, was mit ihrem Geld anzufangen ist.


(Beifall bei der F.D.P. – Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie hatten die Wahl zwischen geringeren Einnahmen
auf der einen Seite und Mehrausgaben auf der anderen
Seite.


(Peter Dreßen [SPD]: So kann jemand reden, der aus der Partei der Millionäre kommt!)



(Zurufe von der SPD)

Kein einziger Leistungsempfänger hätte auch nur einen
einzigen Pfennig weniger bekommen, wenn Sie die Ein-
malzahlungen beitragsneutral geregelt hätten. Auf der an-
deren Seite hätten Sie allerdings bei den Lohnzusatzkos-
ten gespart. Sie hätten mehr Spielraum für die Schaffung
von Arbeitsplätzen bekommen. Sie hätten die Möglich-
keit geschaffen, durch mehr Beitragszahler – denn man
schafft mehr Beschäftigung, wenn die Lohnnebenkosten
geringer sind – noch mehr Beiträge einzunehmen und die
gesamte Beitragszahlergemeinschaft zu entlasten.


(Beifall bei der F.D.P. – Adolf Ostertag [SPD]: Sagen Sie doch einmal etwas zur letzten Legislaturperiode!)


Die Bundesanstalt für Arbeit hätte keine einzige Leistung
einschränken müssen.

Ihre Gegenargumente sind geradezu hanebüchen. Da
wird jetzt tatsächlich erzählt, dass, wenn man die Berück-
sichtigung von Einmalzahlungen auf der Beitragsseite re-
geln würde, derzeitige Arbeitsentgelte möglicherweise in
Einmalzahlungen umgewandelt werden müssten.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum haben Sie das eigentlich nie gemacht? Sie haben doch jahrelang die Verfassung missachtet!)


– So etwas Groteskes, liebe Kollegin, habe ich in diesem
Hause noch nie gehört.

Stattdessen weiten Sie die Leistungen immer weiter
aus. Das kostet die gesetzlichen Krankenversicherungen
allein durch die Nachzahlungen nur an diejenigen, die
Klage oder Widerspruch eingelegt haben, 1,5 Milliar-
den DM, wobei die zukünftigen Mehrausgaben noch gar
nicht berücksichtigt sind. Der Minister hat die Mehrkos-
ten der Bundesanstalt für Arbeit berechnen lassen: Sie be-
tragen in diesem Jahr 2,4 Milliarden DM und im nächsten
Jahr 3,7 Milliarden DM. Herr Riester, angesichts dessen
sagen Sie, diese Belastungen seien der Grund dafür, dass
Sie die Beiträge nicht senken können! Wenn Sie auf der
Beitragsseite einsparen würden, wären das allein bei der
Bundesanstalt für Arbeit 0,25 Beitragspunkte weniger
und wir hätten schon jetzt mehr Spielraum, neue Be-
schäftigung in diesem Land zu schaffen.


(Beifall bei der F.D.P. und bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie wälzen, weil Sie, wie schon gesagt wurde, in die-
sen Gesetzentwurf unheimlich viel hineingestopft haben
– zum Beispiel die Strukturanpassungsmaßnahmen oder
das Jugendarbeitslosenprogramm JUMP –, Kosten vom
Steuerzahler auf die Beitragszahler ab. Sie bereinigen
Ihren eigenen Haushalt und nennen das auch noch hoch-
trabend „sparen“. Ich persönlich nenne das einen Griff in
die Tasche der Menschen, die in diesem Land das Wirt-
schaftswachstum erarbeiten müssen. Darüber hinaus,
Herr Riester – das sei Ihnen nachgesehen, weil Sie kein
Bundestagsmandat haben –, entziehen Sie diese Leistun-
gen dem Zugriff des Parlaments und dessen Kontrolle, in-
dem Sie sie in die Selbstverwaltung der Bundesanstalt
überführen.


(Konrad Gilges [SPD]: Quatsch!)

Die Absenkung der Bemessungsgrundlage für die ge-

setzliche Krankenversicherung bei Arbeitslosenhilfeemp-
fängern verursacht bei den Krankenversicherungen pro
Jahr 1,2 Milliarden DM Mindereinnahmen – und das an-
gesichts der finanziellen Lage, in der sie sich derzeitig be-
finden. Sie aber vergießen Krokodilstränen, wenn Sie for-
dern, den Krankenkassen mehr Geld zukommen zu
lassen. Das ist unredlich und unehrlich. Dies betrifft
ebenso die Fristverlängerung für Strukturanpassungs-
maßnahmen und die Regelungen zum Kurzarbeitergeld
bis 2006 und die Sonderregelung von Teilzeit-ABM in
den neuen Bundesländern bis 2002. Sie stellen wie immer,
seit Sie regieren, die Weichen exakt in die falsche Rich-
tung. Sie haben sich ein Ei gebastelt, an dem Sie jetzt eine
ganze Zeit lang flickschustern, anstatt zu beginnen, dau-
erhaft an der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu arbei-
ten. Arbeitslosigkeit könnten Sie bekämpfen, indem Sie
durch mehr Beschäftigung mehr Beitragszahler gewin-
nen. Mehr Beschäftigung erreichen Sie, indem Sie den
Arbeitgebern Geld in der Tasche lassen, um in diesem
Land Arbeitsplätze zu schaffen, und indem Sie den Ar-
beitnehmern Geld in der Tasche lassen, damit sie Beiträge
zahlen und Sie die Beiträge dann senken können. Das
wäre der richtige Weg, anstatt Leistungen zu gewähren,
die dieses Ziel konterkarieren.


(Beifall bei der F.D.P. – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)





Dirk Niebel
12238


(C)



(D)



(A)



(B)


Herr Riester, das Verfassungsgericht hat Ihnen die
Möglichkeit gegeben, auszuwählen, was der richtige Weg
ist. Trauen Sie den Menschen in diesem Land zu, dass sie
in der Lage sind, die wesentlichen Weichen in ihrem Le-
ben selbst besser zu stellen, als es der Staat für sie tun
kann! Der Staat war schon immer der schlechtere Unter-
nehmer in diesem Land. Er ist, seit Sie regieren, mit Si-
cherheit auch der schlechtere Ratgeber. Ich bitte Sie ganz
herzlich: Ergreifen Sie die Chance, die Ihnen das Verfas-
sungsgericht geboten hat. Lassen Sie den Menschen das
Geld, das sie verdienen, in der Tasche. Das hilft im End-
effekt uns allen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. – Peter Dreßen [SPD]: Der schlechteste Ratgeber aller Zeiten!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412718900
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Pia Maier.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Jetzt kommt das Gegenteil: Das sind die, die es aus der Tasche nehmen!)



Pia Maier (PDS):
Rede ID: ID1412719000
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Es ist schon faszinierend, was für Wendungen
und Drehungen Sie hier angesichts des Sachverhalts voll-
ziehen, dass zwei Bundesregierungen unterschiedlicher
Farbgebung einfach nicht in der Lage waren, ein
Bundesverfassungsgerichtsurteil umzusetzen.

Lassen Sie mich noch einmal sagen, worum es geht:
Einmalzahlungen, zum Beispiel Urlaubs- und Weih-
nachtsgeld, auf die Sozialversicherungsbeiträge erhoben
werden, müssen bei Lohnersatzleistungen wie Arbeitslo-
sen- oder Krankengeld berücksichtigt werden. Beide
Bundesregierungen der letzten Jahre haben es nicht ge-
schafft, diesen logischen Sachverhalt zu regeln.

Die neue Bundesregierung unternimmt nun wirklich
notwendige Schritte, löst das Problem aber nur zum Teil,
indem sie neu entstehende Ansprüche zwar verfassungs-
gemäß behandelt, bei den Altfällen aber ab dem Tag der
Urteilsveröffentlichung pauschal erhöht; auf die kriti-
schen Details dieser Regelung komme ich noch zu spre-
chen. Sie tut es beim Krankengeld, beim Übergangsgeld,
beim Unterhaltsgeld und beim Arbeitslosengeld. In Bezug
auf diese beitragsfinanzierten Leistungen wurden nun sei-
tens der Bundesregierung Urteile gefällt.

Weiterhin ausdrücklich ausgenommen wird von Ihnen
die Arbeitslosenhilfe. Sie ist natürlich nicht beitragsfinan-
ziert; das Argument der Beitragsgerechtigkeit zählt hier
also nicht. Sie können doch niemandem logisch erklären,
warum eine Leistung, die an der Lohnhöhe bemessen
wird, einen Teil des erhaltenen Lohnes nicht mit ein-
schließt. Als nichts anderes denn als Lohn werden diese
Einmalzahlungen nun einmal empfunden, zumal Sie ja
auch weiterhin auf diese – so wie auf den Lohn – Sozial-
versicherungsbeiträge erheben. Auch das hätten Sie
schließlich ändern können; entsprechende Zahlen sind
genannt worden.

Sie reißen eine neue Gerechtigkeitslücke auf. In der
Begründung Ihres Gesetzentwurfes sagen Sie deutlich,

worum es Ihnen geht. Die Arbeitslosenhilfe soll so gering
wie möglich gehalten werden, damit die Betroffenen
niedrig entlohnte Tätigkeiten annehmen müssen. Sie nen-
nen das Anreiz. Das klingt in den Ohren der Betroffenen
ziemlich zynisch.

Ein Punkt der Neuregelung ärgert mich ganz beson-
ders: Obwohl das schon lange bekannt ist, haben sie keine
Nachzahlungen für den Zeitraum seit dem ersten Bundes-
verfassungsgerichtsurteil vorgesehen. Ich weiß, dass Sie
diese nicht leisten wollen. Aber Sie müssen sich nun vor-
werfen lassen, dass Sie die Menschen um ihre Ansprüche
bringen, die im guten Glauben an die Rechtstaatlichkeit
davon ausgegangen sind, dass der Gesetzgeber umsetzt,
was laut Verfassung geboten ist. Das hätte ich von einer
sozialdemokratischen Regierung erwartet.


(Beifall bei der PDS)

Stattdessen belohnen Sie nun aus Kostengründen die,

die dem Sozialstaat nicht mehr vertrauen und immer und
grundsätzlich Widerspruch einlegen. Die Krankenkassen
hatten im Vertrauen auf eine zügige Regelung ihren Mit-
gliedern angeraten, keinen Widerspruch einzulegen. Die
Mitglieder, die sich brav verhalten haben, müssen sich
jetzt doppelt veräppelt vorkommen.

Lassen Sie mich zum Schluss darauf hinweisen, dass
Sie mit diesem Gesetzentwurf die Finanzierung der Struk-
turanpassungsmaßnahmen und des Programms zur Be-
kämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit auf die Bundesan-
stalt für Arbeit verlagern. Damit machen Sie aus steuer-
finanzierten Aufgaben, also Aufgaben der Allgemeinheit,
beitragsfinanzierte, als wären Langzeitarbeitslose und die
Strukturdefizite im Osten nur ein Problem von Arbeitge-
bern, Arbeitnehmern und Arbeitsnehmerinnen. Hiermit,
mit der weiteren Entkopplung von Lohn und Arbeitslo-
senhilfe und mit der Schlechterstellung der Arbeitslosen-
hilfe gegenüber dem Arbeitslosengeld ziehen Sie sich aus
der direkten staatlichen Bekämpfung der Massenarbeits-
losigkeit zurück und drängen die Menschen, die unter die-
sen Missständen zu leiden haben, weiter in die Armut.


(Adolf Ostertag [SPD]: Das stimmt doch wohl überhaupt nicht!)


Ihnen ist die Konsolidierung des Bundeshaushalts wichti-
ger als die Unterstützung dieser Betroffenen, die weiter-
hin Arbeitsplätze haben möchten.

Wir wollen existenzsichernde Arbeitsplätze für alle,
die arbeiten wollen und können, und wir wollen, dass alle
Betroffenen eine angemessene Erhöhung ihrer Leistun-
gen erhalten,


(Beifall bei der PDS)

und zwar unabhängig davon, ob es sich um Arbeitslosen-
geld, Arbeitslosenhilfe oder Krankengeld handelt, ob sie
Widerspruch eingelegt haben oder nicht.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412719100
Nächster Redner ist
der Kollege Franz Thönnes, SPD-Fraktion.




Dirk Niebel

12239


(C)



(D)



(A)



(B)



Franz Thönnes (SPD):
Rede ID: ID1412719200
Meine sehr geehrten Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist das
übliche Spiel, das wir immer wieder in diesem Hause er-
leben: Diejenigen, die den Staatshaushalt mit 1,5 Billio-
nen DM an die Wand gefahren haben,


(Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.: Ach! – Dirk Niebel [F.D.P.]: Die alte Leier!)


die die Arbeitslosigkeit auf über 4 Millionen Betroffene
hochgefahren haben, die den Arbeitnehmern das Geld aus
der Tasche gezogen und von unten nach oben umverteilt
haben, wollen heute mit Reden über die linke und die
rechte Tasche den Eindruck erwecken, sie wüssten es bes-
ser. Das geht so nicht.


(Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [F.D.P.]: Sie wissen es besser!)


– Herr Niebel, das war nicht einmal Mittelklasse.

(Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [F.D.P.]: Ich fand es gut! – Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Bei dem Gesetzentwurf, den wir heute beraten, geht es
im Kern um Verfassungsgerechtigkeit und um Verläss-
lichkeit.


(Heinz Schemken [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Ich kann eigentlich nur an das erinnern, was unser Kol-
lege Hans Büttner bei den damaligen Gesetzesberatungen
vorausgesagt hat, indem er dem damaligen Arbeitsminis-
ter ins Stammbuch geschrieben hat: Dieses Gesetz wird ir-
gendwann im Rhein versinken, weil es nicht verfassungs-
konform ist. – Genau das ist eingetroffen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deswegen ist es notwendig, dass wir das bestehende Ge-
setz jetzt ändern. Denn die alte Regierung hat mit ihren
gesetzlichen Regelungen gegen die Verfassung verstoßen.
Das Schlimme ist: Sie hat gleich zweimal dagegen ver-
stoßen. Wissen Sie, wie man das nennt? Das nennt man
Wiederholungstäter und Sie lernen noch nicht einmal da-
raus.


(Beifall bei der SPD – Heinz Schemken [CDU/CSU]: Aber Ihre Neulast wird zur Altlast!)


Kollege Schemken, das Verfassungsgericht hat dem
Gesetzgeber auferlegt:

Der Gesetzgeber hat durch geeignete Regelungen si-
cherzustellen, dass einmalig gezahlte Arbeitsentgelte
bei den Lohnersatzleistungen berücksichtigt werden,
soweit über deren Gewährung für die Zeit nach dem
1. Januar 1997 noch nicht bestandskräftig entschie-
den worden ist. Dem Gesetzgeber bleibt es unbe-
nommen, statt einer individuellen Neuberechnung
der Altfälle aus Gründen der Verwaltungspraktikabi-
lität die Bemessungsentgelte pauschal um 10 vom
Hundert anzuheben. Denn um diesen Prozentsatz
erhöhen sich im Durchschnitt die Lohnersatzleistun-
gen bei Berücksichtigung einmalig gezahlter Arbeits-
entgelte, wenn aufgrund der vorliegenden Informa-

tionen über die Lohnstruktur bei ganzjährigen Be-
schäftigungsverhältnissen ... davon ausgegangen
wird, dass die Mehrzahl der Versicherten ein Weih-
nachts- und Urlaubsgeld erhält.

Dem kommen wir jetzt nach; daran halten wir uns; das
wird nun umgesetzt.


(Beifall bei der SPD)

Der Gesetzentwurf stellt ebenfalls klar: Einmalzahlun-

gen werden in der Zukunft bei der Berechnung des Ar-
beitslosengeldes, des Krankengeldes und anderer Ersatz-
leistungen berücksichtigt. Bei Altfällen, also Fällen, in
denen Klage oder Widerspruch erhoben wurde, und bei
Übergangsfällen, das heißt in dem Bereich, in dem es bis
zum In-Kraft-Treten der jeweiligen Neuregelung An-
sprüche gibt, wird das Bemessungsentgelt der jeweiligen
Leistung in Anlehnung an die eben zitierte, vom Bundes-
verfassungsgericht klar formulierte Vorgabe pauschal um
10 Prozent erhöht. Das schafft Sicherheit, das schafft Ver-
lässlichkeit und das ist verfassungsgerecht.

Der Anspruch auf Kurzarbeitergeld besteht derzeit bis
zum 31. Dezember 2002. Damit wird in diesem Bereich
bei Leistungsbezügen, die nach dem 1. Januar 2001 be-
ginnen, keine Möglichkeit mehr bestehen, die längstmög-
liche Bezugsfrist von 24 Monaten voll auszuschöpfen.

Wir wissen alle, wie sinnvoll es ist, Zeiten der Kurzar-
beit für die Weiterbildung zu nutzen. Deshalb sollten in
diesen Zeiten Qualifizierungsmaßnahmen durchgeführt
werden. Dauert die Kurzarbeit länger als sechs Monate, so
sind Maßnahmen zur beruflichen Eingliederung sogar
zwingend vorgeschrieben. Wir stellen anhand der Praxis
in der Vergangenheit fest, dass es dadurch zu einer Stei-
gerung der Qualifizierungsquote gekommen ist.

Wir sprechen gerne und oft vom lebensbegleitenden
Lernen, Herr Kollege Niebel. Eigentlich wäre es jetzt not-
wendig, hier zu handeln, der Globalisierung und ihren
Folgen gerecht zu werden und den Anpassungsprozess zu
begleiten. Deswegen muss man auch hier fordern: Wei-
terbilden statt Entlassen, Qualifizieren statt Reduzieren.
Wir schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe, wenn wir die
Arbeitslosigkeit mit dem Weiterbildungsbedarf verbinden
und die Befristung des Kurzarbeitergeldes von 2002 auf
Ende 2006 verlängern. Das bringt Planungssicherheit, das
ist Verstetigung der Arbeitsmarktpolitik und das ist Ver-
lässlichkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie wissen ebenso, dass Arbeitslose und von Arbeitslo-
sigkeit bedrohte Arbeitnehmer durch Strukturanpassungs-
maßnahmen gefördert werden können. 90 200 Menschen
waren das Ende September dieses Jahres in den neuen
Ländern. Wir stellen fest, dass es nicht möglich ist, die
Höchstförderungsdauer von 36 bis 48 Monaten auszu-
schöpfen, wenn wir jetzt keine Verlängerung anstreben.
Deswegen sagen wir auch hier: Im Interesse der Versteti-
gung der Arbeitsmarktpolitik und auch hinsichtlich der
Träger, der Länder und der Kommunen, die erhebliche
Kofinanzierungsmittel bereitstellen, wollen wir die Befris-
tung bis zum 31. Dezember 2006 verlängern. Dabei ist






(C)



(D)



(A)



(B)


weiterhin sichergestellt, dass Arbeitslosenhilfebezieher
bei Strukturanpassungsmaßnahmen angemessen zu be-
rücksichtigen sind. Das bringt Planungssicherheit, das ist
Verstetigung der Arbeitsmarktpolitik und das ist Verläss-
lichkeit.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Das haben Sie eben schon gesagt! Da haben die auch nicht geklatscht!)


– Ich wiederhole das, weil das bei Ihnen manchmal zum
einen Ohr rein- und zum anderen wieder rausgeht und
nichts dazwischen ist, was es aufhalten könnte.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Der dritte Punkt der Verlässlichkeit besteht schlicht-

weg darin, dass wir noch immer eine hohe Zahl von Ar-
beitsbeschaffungsmaßnahmen haben. Auch diese Rege-
lung ist befristet. Wir wollen sie bis zum 31. Dezember
2002 verlängern, was zusätzliche Verlässlichkeit bedeu-
tet.

Um Verlässlichkeit geht es auch bei der dringend not-
wendigen Haushaltskonsolidierung. Hier muss die Ar-
beitsmarktpolitik ebenfalls ihren Beitrag leisten. Wir ha-
ben durch den eingeleiteten Kurs dieser Regierung eine
hervorragende Entwicklung:


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Durch die Demographie, würde ich einmal sagen!)


Im Juni 2000 hatten wir 38,5 Millionen Beschäftigte; das
ist 1 Million mehr als zum 1. Januar 1999.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das war die höchste Zahl der Erwerbstätigen seit 1991.
Wir hatten im September die niedrigste Arbeitslosen-

rate in einem September seit 1993.

(Dirk Niebel [F.D.P.]: 630-Mark-Jobs! So genannte Scheinselbstständige! Demographie! Der Euro!)


Das zeigt schlichtweg: Die gute Haushaltspolitik, die
Steuerpolitik, die Finanzpolitik, die Qualifizierungspoli-
tik, die Investitionen in Forschung und Bildung zahlen
sich aus; die Politik dieser Regierung wirkt!


(Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [F.D.P.]: Ja, total wirken tut die! Das ist richtig!)


Deswegen können wir jetzt, wenn wir feststellen, dass
die Ausgaben für das Arbeitslosengeld aufgrund des
Rückgangs der Arbeitslosigkeit sinken, die Kosten der
Konsolidierung des Haushaltes, da wir die Neuverschul-
dung begrenzen und die Staatsverschuldung langsam
abbauen wollen, verlagern, indem wir sie auf die Bundes-
anstalt für Arbeit übertragen. Auch in diesem Zu-
sammenhang sei noch einmal daran erinnert, dass es zum
ersten Mal seit 1997 keinen direkten Bundeszuschuss
mehr für die Bundesanstalt für Arbeit geben soll.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Das hätten wir schon vor zwei Jahren haben können, wenn Sie unsere Anträge angenommen hätten!)


Das haben Sie in Ihrer Zeit nie fertig gebracht.
Das heißt im Klartext: Der Kurs, der hier eingeschla-

gen wird, schafft auch hinsichtlich der Finanzpolitik Ver-
lässlichkeit und ist zukunftsgerecht.

Das Fazit dieser gesetzlichen Neuregelung ist: Erstens.
Einmalzahlungen wie Weihnachts- und Urlaubsgeld wer-
den in die Berechnung des Arbeitslosen- und Kranken-
geldes einbezogen und führen so zu höheren Leistungen.
Das ist gut und gerecht gegenüber den Beitragszahlern so-
wie gegenüber der Verfassung.

Zweitens – –


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412719300
Herr Kollege
Thönnes, bevor Sie zum zweiten Punkt kommen: Gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckelburg?


Franz Thönnes (SPD):
Rede ID: ID1412719400
Ich bin jetzt in Anbetracht der
Redezeit schon beim Abspann.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412719500
Ihre restliche Redezeit
geht Ihnen nicht verloren.


Franz Thönnes (SPD):
Rede ID: ID1412719600
Deswegen würde ich jetzt
gern weitermachen.


(Zurufe von der CDU/CSU)

Zweitens. Befristete arbeitsmarktpolitische Instru-

mente werden verlängert und berücksichtigen damit ins-
besondere die Situation bestimmter Gruppen, die von Ar-
beitslosigkeit betroffenen sind, und die Lage in den neuen
Ländern. Das ist gut und gerecht gegenüber den Arbeits-
losen, das ist gut und gerecht gegenüber den Trägern, ge-
genüber den Kommunen und insbesondere den neuen
Ländern.

Drittens. Die gute wirtschaftliche Entwicklung lässt es
zu,


(Zurufe von der CDU/CSU)

dass der Bundeshaushalt von der Finanzierung arbeits-
marktpolitischer Maßnahmen entlastet werden kann. An
der Verstetigung der aktiven Arbeitsmarktpolitik wird
festgehalten. Das ist gut und gerecht für die weitere Kon-
solidierung der Staatsfinanzen.


(Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das ist auch gut und gerecht gegenüber den Notwendig-
keiten einer beschäftigungswirksamen Wirtschaftspolitik.
Das sichert die Chancen für Innovationen in unserem
Land und für Investitionen in Bildung und Forschung.

Kurzum, um Ihnen das so auch ganz einfach und ver-
ständlich zu sagen: Verlässlichkeit und Verfassungsge-
rechtigkeit


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Ich habe es doch gleich gewusst!)





Franz Thönnes

12241


(C)



(D)



(A)



(B)


werden auch hier Stück für Stück wieder Praxis in diesem
Land, was bei Ihnen nicht drin war.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dirk Niebel [F.D.P.]: Jetzt hat der Kollege Thönnes doch glatt eine Büttenrede gehalten – und das mitten im Herbst!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412719700
Der letzte Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Wolfgang Zöller für die
CDU/CSU-Fraktion.


Wolfgang Zöller (CSU):
Rede ID: ID1412719800
Frau Präsidentin!
Werte Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesverfas-
sungsgericht hat im Mai 2000 entschieden, dass es der
Gleichheitssatz gebietet, einmal gezahltes Arbeitsentgelt
zum Beispiel bei der Berechnung des Krankengeldes zu
berücksichtigen.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das war auch vorher schon so!)


Es ist eine Neuregelung bis zum 30. Juni 2001 erforder-
lich.

Welche Lösung schlägt Rot-Grün vor?

(Franz Thönnes [SPD]: Eine vernünftige!)


Einmalig gezahltes Arbeitsentgelt wird in die Berechnung
des Krankengeldes einbezogen. Über diesen Sachverhalt
gibt es parteiübergreifend Konsens.

Jetzt begehen Sie aber zwei, wie ich meine, entschei-
dende Fehler.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Dann haben Sie das falsch verstanden! – Dirk Niebel [F.D.P.]: Bei uns nicht!)


Erstens. Die Bemessungsgrundlage für den Beitrag zur
Krankenversicherung wird für Bezieher von Arbeitslo-
senhilfe von 80 auf 58 Prozent vermindert. Dies führt zu
Mindereinnahmen in der gesetzlichen Krankenversi-
cherung von über 1,2 Milliarden DM im nächsten Jahr.
Das heißt, die Einnahmeseite der gesetzlichen Kranken-
versicherung wird von Ihnen einmal mehr wesentlich ver-
schlechtert.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Welche Auswirkungen das im Übrigen gerade auf die ge-
setzliche Krankenversicherung in den neuen Ländern
hat –, denn dort ist die Arbeitslosenquote sehr hoch, wird
von Ihnen völlig ignoriert.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Das ist auch ein anderes Ressort!)


Zweitens – jetzt komme ich zu Ihnen, Herr Thönnes: Ihre
Regelung soll nur für Personen gelten, die geklagt haben.
Damit zeigen Sie keine Verlässlichkeit. Vielmehr begehen
Sie Vertrauensbruch, wie er schlimmer noch nicht da war.
Ich werde Ihnen das beweisen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie mögen formaljuristisch Recht haben. Aber wie

wollen Sie den Bürgern gegenüber diesen Gesetzentwurf
erklären und rechtfertigen?

Da verkünden die Spitzenverbände der Krankenversi-
cherungen, dass ein Widerspruch gegen Krankengeldbe-
scheide zur Wahrung etwaiger Ansprüche nicht notwen-
dig ist. Da verkündet der Parlamentarische Staatssekretär
im Bundesministerium für Arbeit – ich zitiere eine dpa-
Meldung –:

Das Bundesarbeitsministerium hat von Rückforde-
rungen der Sozialbeiträge auf Einmalzahlungen wie
dem Weihnachtsgeld abgeraten und die Kampagne
der Bild-Zeitung zur Rückzahlung als Unsinn kriti-
siert.

(Franz Thönnes [SPD]: Ja, das ist auch Un sinn!)

Für den Einzelnen gibt es überhaupt keine Notwen-
digkeit, die Antragsformulare auf Rückerstattung
auszufüllen und wegzuschicken.

(Franz Thönnes [SPD]: Es geht nicht um Leis tungen, es geht um Beiträge!)

Es gebe keine Notwendigkeit zu klagen, sagte der Parla-
mentarische Staatssekretär Gerd Andres, SPD, der Deut-
schen Presse-Agentur in Berlin.


(Franz Thönnes [SPD]: Es geht um Beiträge, nicht um Leistungen!)


Er wies darauf hin, dass sich die Spitzenverbände der So-
zialversicherungen zur Rückzahlung bereit erklärt haben,
falls dies vom Bundesverfassungsgericht aufgrund der
vorliegenden Klagen so entschieden werde.


(Franz Thönnes [SPD]: Das hat das Bundesverfassungsgericht gar nicht entschieden!)


Da bezeichnet Arbeitsminister Riester Anträge auf Rück-
forderung der von Urlaubs- und Weihnachtsgeld einbe-
haltenen Sozialversicherungsbeiträge als unnötig. Ent-
sprechende Empfehlungen würden die Bürger nur
verunsichern.


(Franz Thönnes [SPD]: Völlig verfehlt!)

Heute legen Sie einen Gesetzentwurf vor, der die rück-

wirkende Umsetzung des Beschlusses des Bundesverfas-
sungsgerichtes nur auf die Personen beschränkt, die ge-
klagt haben.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Das ist ein Skandal! – Dirk Niebel [F.D.P.]: Das ist Willkür!)


Herr Minister, Sie haben den Bürgerinnen und Bürger be-
wusst die Unwahrheit gesagt.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Politik nach Gutsherrenart wie bei der Rente!)


Sie in der Regierung tragen mit dazu bei, dass der Ein-
druck entsteht: Die Bürger, die sich auf die Aussagen der
Regierung verließen, sind verlassen, und die, die geklagt
haben, gelten wieder als die Cleveren in unserem Land.
Die Gutgläubigen sind wieder die Dummen.




Franz Thönnes
12242


(C)



(D)



(A)



(B)


Der Gesetzentwurf, den Sie heute vorlegen, verdient
die Bezeichnung „Einmalzahlungs-Neuregelungsgesetz“
nicht.


(Franz Thönnes [SPD]: Hätten Sie bei der Einmalzahlung einmal geschwiegen!)


Er müsste „Vertrauensbruchgesetz“ heißen. Diese Be-
zeichnung würde dem Inhalt des Gesetzes eher gerecht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Franz Thönnes [SPD]: Wer Verfassungsbruch macht, sollte vom Vertrauensbruch nicht reden!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412719900
Ich schließe die Aus-
sprache.

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksachen 14/4371 und 14/4409 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist offen-
sichtlich nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 sowie den Zusatz-
punkt 11 auf:
9. Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-

gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Teil-
zeitarbeit und befristete Arbeitsverträge und
zur Änderung und Aufhebung arbeits-
rechtlicher Bestimmungen
– Drucksache 14/4374 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus

ZP 11 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Irmgard Schwaetzer,
Rainer Funke, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Intensivierung der Beschäftigungs-
förderung
– Drucksache 14/4103 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Zur Einführung hat der
Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Walter
Riester, das Wort.

Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Frau Präsidentin! Meine Damen und Her-

ren! Mit dem Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Ar-
beitsverträge greifen wir zwei Missstände auf: erstens den
Mangel an Teilzeitarbeitsplätzen und zweitens den Miss-
brauch von befristeten Arbeitsverträgen. Das Beschäfti-
gungsförderungsgesetz wird abgelöst und eine moderne
Rechtsgrundlage für Teilzeitarbeit und befristete Arbeits-
verträge wird geschaffen. Die Regelungen setzen auf Fle-
xibilität und Rechtsklarheit. Genau das brauchen wir.

Ich komme zur Teilzeitarbeit. Etwa 3 Millionen Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer wünschen sich Teil-
zeitarbeit und wünschen sich, ihre Arbeitszeit zu verrin-
gern. Hier liegt ein ungenutztes Beschäftigungspotenzial.
Das IAB, das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsfor-
schung der Bundesanstalt für Arbeit, schätzt ein, dass es
über Teilzeit langfristig rund 1 Million zusätzliche
Beschäftigungsverhältnisse gibt. Wir haben in unserem
Land im Vergleich mit anderen europäischen Ländern lei-
der nur eine sehr geringe Anzahl von Teilzeitar-
beitsplätzen. Die Teilzeitquote bei uns beträgt gerade ein-
mal 18,5 Prozent. Zum Vergleich: Die Niederlande haben
eine Teilzeitquote von 38,7 Prozent. Wir haben in diesem
Bereich also einen erheblichen Nachholbedarf.

Wir wollen Teilzeitarbeit natürlich nicht gesetzlich
verordnen. Das wäre der falsche Weg. Nach dem Gesetz
kann der Arbeitnehmer Teilzeit nicht einseitig beanspru-
chen. Wir wollen aber, dass alle Arbeitnehmer, Männer
wie Frauen, Hochqualifizierte wie Unqualifizierte, Teil-
zeitarbeit einfordern und umsteigen können, wenn sie es
wollen. Wir fordern von dem Arbeitgeber, der sich mit
dem Teilzeitwunsch seiner Arbeitnehmer beschäftigen
muss, dies ernsthaft zu tun und die Frage zunehmender
Teilzeitarbeit in den Betrieben offensiv anzugehen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das ist ein sehr bürokratisches Verfahren, das Sie da vorschlagen!)


– Ich habe dieses Thema mit dem Wirtschaftsminister dis-
kutiert. Er hat gesagt, dies sei eine blanke Selbstverständ-
lichkeit. Das Traurige ist, dass diese blanke Selbstver-
ständlichkeit in den Betrieben häufig nicht beachtet wird.
Wir brauchen deswegen eine Unterstützung der Teilzeit-
arbeit.


(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Sie schreiben es bürokratisch vor! Das ist Ihr Weg!)


Diese Unterstützung für Teilzeitarbeit sollen alle Ar-
beitnehmer erfahren, die mindestens sechs Monate in ei-
nem Betrieb gearbeitet haben. Für Teilzeitbeschäftigte
wollen wir die Möglichkeit schaffen, später auf einen
Vollzeitarbeitsplatz zurückzukehren, wenn es im Betrieb
ein Angebot für einen Vollzeitarbeitsplatz gibt. Wir wol-
len nicht „einmal Teilzeit, immer Teilzeit“, sondern wir
wollen Flexibilität ermöglichen. Gleichzeitig wollen wir
sicherstellen, dass es keine Diskriminierung von Teilzeit-
beschäftigten gibt. Deswegen muss garantiert sein, dass
Teilzeitbeschäftigte beispielsweise an Aus- und Weiter-
bildungsmaßnahmen im Betrieb in gleichem Maße teil-
nehmen können wie Vollzeitbeschäftigte.




Wolfgang Zöller

12243


(C)



(D)



(A)



(B)


Nun gibt es bereits erste Reaktionen. Beispielsweise
habe ich vor kurzem gelesen, dass der Präsident des Haupt-
verbandes des Deutschen Einzelhandels, Herr Franzen, er-
klärt hat, es stelle einen Systembruch unserer Rechtsord-
nung dar, wenn der Arbeitnehmer einen geschlossenen
Vertrag einseitig ändern dürfte. Dem Herrn Präsidenten
möchte ich zunächst einmal raten, in das Gesetz zu
schauen, bevor er zu solchen Aussagen kommt. Der
Arbeitnehmer kann seinen Arbeitsvertrag nicht einseitig
ändern. Er muss seinen Wunsch auf Teilzeitarbeit beim
Arbeitgeber anmelden und mit ihm hierüber eine Verein-
barung treffen. Eine einseitige Änderung ist also nicht
möglich.

Zudem sehen wir im Gesetz vor, dass der Wunsch auf
Teilzeitarbeit nur in Betrieben mit mehr als 15 Arbeit-
nehmern geltend gemacht werden kann. Es sind immer-
hin über 87 Prozent der Betriebe, die weniger als 15 Be-
schäftigte haben. Damit sind schon 25 Prozent der
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten von dieser
Regelung ausgenommen.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412720000
Herr Minister, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?

Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Ja.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1412720100
Herr Minister, Sie ha-
ben eben gesagt: „in Betrieben mit mehr als 15 Arbeit-
nehmern“. Im Gesetzentwurf steht: bei „Arbeitgebern“
mit mehr als 15Arbeitnehmern. Würden Sie mir darin zu-
stimmen, dass dies ein Unterschied ist? Wie wollen Sie es
im Gesetzgebungsverfahren denn jetzt handhaben?

Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: So, wie es im Gesetzentwurf steht: In Be-
trieben mit mehr als 15 Beschäftigten wollen wir diesen
Teilzeitanspruch verwirklicht sehen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Es tut mir Leid, aber im Gesetzentwurf steht „Arbeitgeber“! Lesen Sie es einmal nach!)


– Ich habe Ihnen gerade darauf geantwortet.
Mit diesem Gesetz werden wir in den Betrieben auch

ein Mehr an Transparenz über die Möglichkeiten der Teil-
zeit schaffen. Wir wollen, dass freie Arbeitsplätze im Be-
trieb, wenn die Möglichkeit besteht, auch als Teilzeit-
arbeitsplätze ausgeschrieben werden. Wir wollen, dass
Arbeitgeber interessierte Arbeitnehmer über Teilzeit- und
Vollzeitarbeitsplätze informieren, und wir wollen, dass
eine Beratung mit dem Betriebsrat über Teilzeitarbeits-
plätze erfolgt und der Betriebsrat auch unterrichtet wird.
– Dies ist ein Impuls. Ich kann nur dazu einladen, ihn mas-
siv zu unterstützen.

Nun weiß ich, dass Fakten allein häufig nicht überzeu-
gen. Denjenigen in der Union, die noch immer nicht über-
zeugt sind, rate ich, sich an den bayerischen Ministerprä-
sidenten zu halten, der vor vier Wochen im „Spiegel“
erklärt hat, die Möglichkeit des Erziehungsurlaubs, die

wir jetzt eröffnen, reiche nicht aus. Er möchte zudem ei-
nen „Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit auch in der freien
Wirtschaft durchsetzen“.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das halte ich für eine mutige Aussage.
Nicht ganz so mutig war es, dass er dies drei Wochen

später in der „FAZ“ doch sehr relativierte und seine Aus-
sage plötzlich nur noch auf Eltern mit Kleinkindern be-
zog.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Er hat immer das Gleiche gesagt! Sie haben am Anfang etwas weggelassen!)


– Nein, nein. Weil Sie es so gerne hören, Herr
Singhammer, möchte ich seine Aussage vollständig zitie-
ren.


(Doris Barnett [SPD]: Aber langsam, ganz langsam!)


– Ja, ganz langsam, um es genießen zu können. – Herr
Stoiber hat die Bundesregierung, vor allem die Familien-
ministerin, angegriffen:

Es muss nicht nur der Erziehungsurlaub von drei auf
acht Jahre verteilt werden können, wir wollen zudem
einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit auch in der
freien Wirtschaft durchsetzen.

(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Für die Erziehungsberechtigten!)

So will es der bayerische Ministerpräsident. Nach all dem,
was ich so höre, befürchte ich, dass ihm die Wirtschaft
ganz schön einheizen wird.

Nun komme ich zum zweiten Teil, der Flexibilisie-
rung von Arbeitsverträgen. Hierzu gab es ja zwei Ex-
trempositionen: Einerseits wurde vonseiten der Gewerk-
schaften und von einem Teil der Betriebsräte massiv
gefordert, das Beschäftigungsförderungsgesetz ersatzlos
auslaufen zu lassen. Andererseits wurde von einem Teil
der Wirtschaft die Position vertreten, das Beschäftigungs-
förderungsgesetz solle, ohne es zu verändern, unbefristet
in Kraft gesetzt werden. Ich halte beide Positionen für
nicht sachgerecht.

Wir brauchen eine Flexibilisierung. Dafür haben wir in
der Wirtschaft im Moment im Wesentlichen vier Instru-
mente: Überstunden, Leiharbeit über das Arbeitnehmer-
überlassungsgesetz, das zunehmende Outsourcing über
Organisationsveränderungen und die befristeten Arbeits-
verhältnisse. Ich denke, es wäre falsch, von einer dieser
Möglichkeiten abzusehen, weil wir davon ausgehen müs-
sen, dass dann – bei einem unveränderten Bedarf an Fle-
xibilisierung – nur an den anderen Stellschrauben umso
schneller gedreht wird.

Meine Damen und Herren, deswegen sind wir dafür.
Wir brauchen befristete Arbeitsverhältnisse. Wir brau-
chen sie beispielsweise im positivsten Sinne auch als
Brücke zu Dauerarbeitsverhältnissen.


(Zuruf von der F.D.P.: 50 Prozent unbefristete Dauerarbeitsplätze!)





Bundesminister Walter Riester
12244


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir brauchen befristete Arbeitsverhältnisse zur Erleichte-
rung der Übernahme von Auszubildenden. Wir brauchen
natürlich auch dann befristete Arbeitsverhältnisse, wenn
Auftragsschwankungen da sind und wir nicht klar abse-
hen können, ob wir zu Dauerbeschäftigung kommen.

All das ist sicherlich unbestritten. Für all das gab es
aber im Kern eigentlich schon immer – wenn sachliche
Gründe vorlagen – die Möglichkeit der Befristung.

Zum Katalog der Sachgründe.Wir haben ihn ausge-
weitet, beispielsweise in dem Punkt, der mir in der Vor-
diskussion immer wieder begegnet. Es ist festgelegt, dass
befristete Beschäftigung von Werkstudenten oder
Auszubildenden natürlich weiterhin möglich ist, weil die
Erleichterung des Übergangs in Beschäftigung ein sachli-
cher Grund ist – als solchen haben wir ihn auch aufge-
nommen –, sodass es darüber überhaupt keine Diskussio-
nen geben muss.

Es gibt jetzt darüber hinaus die Möglichkeit, ein Ar-
beitsverhältnis mit Befristung auch ohne sachlichen
Grund aufzunehmen. Wir behalten damit die Möglichkeit
bei, innerhalb eines Zeitraums von zwei Jahren auch ohne
sachlichen Grund eine erleichterte Befristung im Umfang
von zwei Jahren einzugehen. Was wir aber unbedingt aus-
schalten möchten, ist die eingerissene Praxis, eine Befris-
tung ohne sachlichen Grund mit einer Befristung mit
sachlichem Grund zu kombinieren und dann wieder eine
Befristung ohne sachlichen Grund anzuhängen, also so
genannte Kettenarbeitsverträge, die sich entwickelt ha-
ben. Diesen Missbrauch wollen wir ausschalten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das ist kein Missbrauch! Das ist immer noch besser als arbeitslos!)


– Nein, nein. Das ist ein eindeutiger Missbrauch. So war
es nicht gedacht.

Wir haben uns immer dafür eingesetzt, dass eine Be-
fristung mit sachlichem Grund möglich ist.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Aber befristete Beschäftigung ist besser als arbeitslos!)


Wir haben darüber hinaus auch Ja dazu gesagt, für eine
Dauer von zwei Jahren eine Befristung ohne sachlichen
Grund zu machen. Wir haben nie Ja zu der Praxis der Ket-
tenverträge gesagt, die eingerissen ist. Diese Praxis muss
verhindert werden, weil auch Arbeitnehmer nach einem
bestimmten Zeitpunkt klar wissen müssen, woran sie
sind. Darauf haben Arbeitnehmer einen Anspruch. Dieser
Missbrauch muss korrigiert werden. Den werden wir kor-
rigieren.


(Beifall bei der SPD)

Ich will gern das aufgreifen, was Sie gesagt haben. Es

gibt Arbeitnehmer, für die eine Befristung auch dauerhaft
unbestritten besser ist als dauerhafte Arbeitslosigkeit.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Weil es eine Brücke in den Arbeitsmarkt ist!)


Das sind diejenigen, Herr Kolb, die bisher ab 60 Jahren
dauerhaft befristet beschäftigt werden konnten. Wir sen-

ken diese Grenze, weil wir bedauerlicherweise feststellen,
dass die Integration von Arbeitslosen in den ersten
Arbeitsmarkt auch mit 58 Jahren kaum noch möglich ist.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Immerhin!)

Dem werden wir gerecht. Wir wollen eine sachgerechte
Entscheidung.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe Ih-
nen gesagt, wir wollen die Möglichkeit der Teilzeit aus-
weiten, wir wollen gegen den Missbrauch der Kettenar-
beitsverträge vorgehen, wir wollen aber auch Teilzeit
fördern und weiterhin die Möglichkeit von befristeten Be-
schäftigungsverhältnissen eröffnen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412720200
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt die Kollegin Brigitte Baumeister.


Brigitte Baumeister (CDU):
Rede ID: ID1412720300
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! 6Millionen Ar-
beitnehmer sind in der Bundesrepublik Deutschland Teil-
zeit beschäftigt und mehr als 2 Millionen Arbeitnehmer
haben ein befristetes Arbeitsverhältnis. Sie stimmen mir
sicherlich alle zu, dass dies zur Entlastung des Arbeits-
markts beiträgt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Ohne jeden Zweifel!)


Sie stimmen mir sicherlich auch zu, dass es noch einen
Mangel an Teilzeitarbeit gibt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Einverstanden!)


Herr Minister, hier stimmen wir Ihnen zu. Dass wir mehr
Teilzeitarbeit brauchen, auch im Sinne der Flexibilisie-
rung der Arbeitswelt, die uns in Zukunft ins Haus steht,
ist, glaube ich, auch unbestritten.

Sie haben gesagt, Herr Minister Riester, dies müsste
eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Das, was Sie
in Ihr Gesetz geschrieben haben, ist ein Rechtsanspruch.
Das heißt für mich, das heißt für die CDU/CSU: mehr
Druck, mehr Bürokratie und damit mehr Beschäftigung
für die Arbeitgeber.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Leider wahr!)

Die EU-Richtlinien zu Teilzeitarbeit und befristeten

Arbeitsverträgen machen eine Umsetzung in nationales
Recht nötig. Das gestehen wir Ihnen zu. Zudem läuft das
bisherige Beschäftigungsförderungsgesetz am 31. Dezem-
ber aus. Auch vor diesem Hintergrund besteht natürlich
Handlungsbedarf. Aber lesen Sie einmal die EU-Richtli-
nie und halten Sie sich einmal ihr Ziel vor Augen! Dort
steht, dass die Entwicklung der Teilzeitarbeit auf freiwil-
liger Basis zu fördern und zu einer flexiblen Organisation
der Arbeitszeit beizutragen sei, die den Bedürfnissen der
Arbeitgeber und Arbeitnehmer Rechnung trage.


(Konrad Gilges [SPD]: Das machen wir doch!)





Bundesminister Walter Riester

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(C)



(D)



(A)



(B)


Darin ist nicht die Rede von Ansprüchen und daraus kann
ich keinen Rechtsanspruch ableiten. Hier steht die Frei-
willigkeit im Vordergrund.


(Konrad Gilges [SPD]: Bei uns doch auch!)

Der jetzt von der Bundesregierung vorgelegte Gesetz-

entwurf verfehlt das Ziel, Herr Gilges, in diesem Punkt
ganz deutlich.


(Konrad Gilges [SPD]: Nein!)

Er wird deshalb von uns abgelehnt; denn er behindert die
Sicherung und die Schaffung neuer Arbeitsplätze und
bringt zusätzliche Reglementierungen für die Unterneh-
men.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich möchte hier auf ein paar Regelungen in Ihrem Ge-

setzentwurf eingehen und Ihnen verdeutlichen, welche
Punkte wir beklagen und so nicht akzeptieren können.

Es gibt hier einen Rechtsanspruch für Arbeitnehmer,
jederzeit von Vollzeit auf Teilzeit zu gehen, wenn nicht
– diese Einschränkung gibt es, das ist richtig – betriebli-
che Gründe dem entgegenstehen.

Es werden die Möglichkeiten eingeschränkt, befristete
Arbeitsverhältnisse abzuschließen. Der Arbeitgeber wird
dadurch gezwungen, seine Planung und seine Organisa-
tion auf den Arbeitnehmer abzustellen. Das ist nach mei-
nem Empfinden angesichts der unternehmerischen Wirk-
lichkeit nicht praktikabel.

Es gibt sehr wohl gute Beispiele, wo Teilzeitarbeit
heute schon funktioniert. Es gibt aber auch viele Betriebe,
wo dies eben aufgrund der Organisation und der Produk-
tion überhaupt nicht möglich ist und sich somit von selbst
ausschließt. Die CDU/CSU fordert daher die Bundesre-
gierung auf, von einem nahezu unbeschränkten Rechtsan-
spruch des Arbeitnehmers auf Teilzeitarbeit im Gesetz
abzusehen.

Ich bin auch der Meinung, dass noch nicht abschl-
ießend geklärt ist, ob dieser Anspruch auf Teilzeitarbeit
verfassungsrechtlich unbedenklich ist. Es kann nach mei-
nem Empfinden nicht sein, dass ein geschlossener Ver-
trag, so wie im Gesetzentwurf vorgesehen, von einer
Vertragsseite geändert werden kann. Sie haben das zwar
gerade ausgeschlossen, ich würde das aber ganz gerne
prüfen lassen. Wenn dies in der Tat so wäre, würde damit
unternehmerisches Handeln eingeschränkt. Ich halte es
deshalb für nicht völlig ausgeschlossen, dass es in diesem
Zusammenhang zu Klagen vor dem Bundesverfassungs-
gericht kommen wird.

Sie, Herr Riester, haben Äußerungen des Ministerprä-
sidenten von Bayern angeführt. Ich kann mir sehr gut vor-
stellen, dass wir in den Ausschussberatungen auf die aus
Bayern kommende Vorlage eingehen, entsprechend der
sachliche Gründe, die für eine Teilzeitarbeit vorliegen,
auch geltend gemacht werden können.

Ich möchte dies ganz besonders an drei Personengrup-
pen festmachen. Bei Personen, die Kinder erziehen – über
deren Alter möchte ich mich jetzt gar nicht auslassen; da-
rüber können wir uns noch trefflich im Ausschuss unter-

halten –, könnten wir einen Schritt nach vorne tun, indem
wir deutlich machen, dass uns die Familien wertvoll sind.
Damit würde der lang gehegte Wunsch, den ich schon seit
Beginn meiner politischen Tätigkeit in mir trage, nämlich
Vereinbarkeit von Beruf und Familie, endlich Wirklich-
keit.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich möchte aber zu dem oben genannten Personenkreis
auch gerne diejenigen zählen, die Schwerstpflegebedürf-
tige vor Ort pflegen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich möchte auch diejenigen einschließen, die aufgrund
ihrer gesundheitlichen Situation vermindert erwerbstätig
sind. Auch an diese sollten wir denken.

Wenn wir uns diese Personenkreise ganz besonders
vornehmen und unser Augenmerk hierauf richten, dann
würde das im Übrigen auch den Beschlüssen von CDU
und CSU, die sie auf ihren Parteitagen zur Vereinbarkeit
von Familie und Beruf getroffen haben, Rechnung tragen.

Ich möchte auch noch auf einige kritische Punkte Ihres
Gesetzentwurfes in diesem Hohen Hause zu sprechen
kommen.

Wir lehnen es insbesondere ab, dass ein Rechtsan-
spruch auf Teilzeit fürArbeitnehmer in leitenden Posi-
tionen verankert wird. Wenn es eine Möglichkeit für Per-
sonen in leitender Funktion gibt, Teilzeit zu arbeiten, dann
ist die Wahrnehmung dieser Möglichkeit eine Selbstver-
ständlichkeit. Ich habe meine Zweifel. Während meiner
beruflichen und meiner politischen Tätigkeit habe ich
Derartiges in keinem einzigen Unternehmen gesehen.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In den Niederlanden passiert das oft!)


Ein Anspruch auf Verringerung der Arbeitszeit soll
auch möglich sein, wenn keine Einigung mit dem Ar-
beitgeber erzielt wurde. Ich kann mir gar nicht vorstellen,
wie das nach Ihrer Vorstellung funktionieren soll. Entwe-
der gibt es eine Einigung mit dem Arbeitgeber – dann hat
das Einvernehmen des Arbeitgebers vorgelegen – oder,
wenn keine Einigung erzielt worden ist, es kommt zu ei-
ner Klage vor irgendeinem Arbeitsgericht. In diesem Fall
kann ich mir allerdings nicht vorstellen, dass a) der For-
derung nach Teilzeit entsprochen wird und b) das Arbei-
ten in diesem Betrieb noch Spaß macht.

Für überzogen halte auch ich den in Ihrem Gesetzent-
wurf verankerten Anspruch, Teilzeitbeschäftigten die
Rückkehr zur Vollzeitbeschäftigung zuzugestehen.
Wenn dies in Gänze realisiert wird, dann steht der Arbeit-
geber vor unlösbaren Problemen. Zwar könnte ich mir
vorstellen, dass jemand, der vollzeitbeschäftigt und da-
nach für einen begrenzten Zeitraum teilzeitbeschäftigt
war, mit seinem Arbeitgeber selbstverständlich darüber
nachdenken kann und soll, ob es möglich ist, wieder voll-
zeitbeschäftigt zu werden; als generellen Anspruch lehne
ich dies aber ab.

Ebenso lehne ich die Verpflichtung der Arbeitgeber auf
Information über freie Voll- und Teilzeitstellen ab. Ich
habe mir einmal Gedanken gemacht, wie das in einem




Brigitte Baumeister
12246


(C)



(D)



(A)



(B)


größeren Betrieb funktionieren soll. Damit verbunden ist
ein Übermaß an Bürokratie. So, wie es der Gesetzentwurf
vorschreibt, lässt es sich überhaupt nicht realisieren.
Selbstverständlich gibt es in vielen Betrieben einen Aus-
hang über offene Stellen. Auf diese Stellen kann man sich
natürlich bewerben. Dass die Unternehmen in dieser Hin-
sicht verpflichtet werden sollen, das will mir nicht so ganz
einleuchten.

Ähnliche Probleme habe ich mit der Verpflichtung des
Arbeitgebers, Teilzeitarbeitnehmern Aus- und Weiter-
bildung zu ermöglichen. Aus- und Weiterbildung findet
schon heute häufig statt, wenn dies im Interesse beider
Seiten, also dem der Arbeitgeber und dem der Arbeitneh-
mer, liegt. Das geht im Übrigen auch aus einer vorliegen-
den EU-Richtlinie hervor. Ich persönlich halte aber den
gesetzlichen Anspruch für reichlich überzogen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich möchte noch einige wenige Worte – meine Rede-

zeit ist wirklich fortgeschritten – zu den befristeten Ar-
beitsverhältnissen sagen, die Sie hier kritisiert haben. Ich
will Sie auf einen Missstand aufmerksam machen.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412720400
Frau Kollegin, Sie
müssen sich wirklich ganz kurz fassen.


Brigitte Baumeister (CDU):
Rede ID: ID1412720500
Ich möchte nur
wenige Sätze sagen. – Herr Minister Riester, ich war
Werkstudentin in einem Unternehmen.


(Adolf Ostertag [SPD]: Das ist schon lange her!)


– Das ist richtig. Trotzdem kann ich mich an die Zeit noch
erinnern. Sie war ganz nett. – Wenn jemand nach Beendi-
gung des Studiums entsprechend Ihrem Gesetzentwurf ei-
nen befristeten Arbeitsvertrag eingehen möchte, dann
wäre dies nicht über eine einfache Neueinstellung mög-
lich, sondern es müsste ein sachlicher Grund dafür ange-
geben werden. Ich halte das für eine eklatante Benachtei-
ligung. Deshalb sind wir auch mit diesem Teil Ihres
Gesetzentwurfs nicht einverstanden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412720600
Es spricht jetzt die
Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.


Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412720700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch im
Bündnis für Arbeit ist festgestellt worden, dass die Ar-
beitszeitbedürfnisse der Beschäftigten in der Bundesrepu-
blik im internationalen Vergleich wirklich nicht hinläng-
lich berücksichtigt werden. Es gibt eine ganze Reihe von
Umfragen, die belegen, dass es sowohl Vollzeitbeschäf-
tigte gibt, die den Wunsch nach Reduzierung ihrer Ar-
beitszeit besitzen, als auch Teilzeitbeschäftigte, die in ei-
nem flexiblen Rahmen mehr arbeiten möchten.

Dieser Gesetzentwurf versucht, die Möglichkeiten der
Aufstockung bzw. der Reduzierung von Arbeitszeit zu er-
weitern; es geht um mehr Beweglichkeit bei der Arbeits-

zeitgestaltung. Die EU-Richtlinien schreiben vor, dass
wir in diesem Punkt eine Anpassung vornehmen müssen;
das gesteht sogar die Opposition zu. Wir machen damit ei-
nen weiteren wichtigen Schritt, das eben angesprochene
brachliegende Teilzeitpotenzial – auch das Potenzial, für
die Beschäftigten mehr Zeitsouveränität zu schaffen –,
das in der Bundesrepublik Deutschland vorhanden ist,
stärker zu nutzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es geht also um mehr Flexibilität für die Arbeitnehme-

rinnen und die Arbeitnehmer, aber auch für die Arbeitge-
ber, die durch eine einvernehmliche und flexible Arbeits-
zeitgestaltung Effektivitätsgewinne durchaus erzielen
können. Es geht auch darum – das hat uns zum Beispiel
das europäische Nachbarland Niederlande gezeigt –, ar-
beitsmarktpolitisch positive Effekte zu erzielen.

Die europäischen Richtlinien sind ja mit den Sozial-
partnern verhandelt worden, das heißt auch unter Einbe-
ziehung der Arbeitgeber. Vor diesem Hintergrund ver-
stehe ich noch sehr viel weniger, wieso die Wellen jetzt so
hoch schlagen können, wenn wir den Anspruch auf Teil-
zeitarbeit auch gesetzlich festschreiben wollen. Es gilt
hierbei, dass Freiwilligkeit weiterhin erwünscht und ge-
wollt ist und überhaupt nicht behindert wird. Es geht aber
auch darum, dass wir einen Anreiz schaffen, zwischen Ar-
beitnehmern und Arbeitgebern zu einem vernünftigen In-
teressenausgleich zu kommen. Der Arbeitszeitwunsch der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer muss ernst genom-
men werden. Tarifvertragliche, betriebliche oder indivi-
duelle Vereinbarungen können vor diesem Hintergrund
natürlich weiterhin getroffen werden, wie zum Beispiel in
der Chemieindustrie. Hier wird nichts verhindert, hier
wird aber Druck gemacht, die Bedürfnisse nach Zeitsou-
veränität ernsthaft zu überprüfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es geht überhaupt nicht um willkürliche Setzungen,
beispielsweise von Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mern, die jetzt plötzlich über ihre Arbeitszeiten bestim-
men könnten. Es ist doch albern, hier eine solche Diskus-
sion zu führen. Natürlich ist es so, Frau Baumeister, dass
Verträge immer zweiseitig geschlossen und nicht einsei-
tig verändert werden können. Ich finde, dass in dieser
ganzen Debatte die Kampfrhetorik überwiegt und dass sie
mit der Realität wenig zu tun hat;


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


denn die Möglichkeiten der Arbeitgeber sind doch vor-
handen. Wenn zum Beispiel betriebliche Gründe geltend
gemacht werden, ist eine Ausdehnung der Teilzeitarbeit
einseitig durch den Arbeitnehmer und die Arbeitnehmerin
überhaupt nicht möglich. Außerdem gilt diese Regelung
nur für Betriebe mit mehr als 15 Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern, wir haben das gerade gehört. 80 bis
90 Prozent der Betriebe liegen unter dieser Grenze; ein
großer Teil der Betriebe wird davon also gar nicht betrof-
fen.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Warum machen Sie dann diese Grenze?)





Brigitte Baumeister

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(C)



(D)



(A)



(B)


Da gehen Frau Stamm und Herr Stoiber sogar weiter: Sie
haben nämlich ohne Größenbeschränkung Teilzeitarbeit
für alle Betriebe gefordert.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Zweiklassensystem von Arbeitnehmern!)


Wir haben in diesem Gesetzentwurf aber auch die be-
fristeten Arbeitsverhältnisse in dem Sinne neu geregelt,
dass wir die EU-Richtlinien einholen müssen. Viele Juris-
ten haben deutlich gemacht, dass das Europarecht ver-
langt, dass die flexiblen Beschäftigungsverhältnisse in der
Bundesrepublik Deutschland auf eine eindeutige Rechts-
basis gestellt werden.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Aber auf die richtige!)


Es gibt kaum einen Rechtsbereich, der Richter so be-
flügelt hat wie der Tatbestand der befristeten Beschäfti-
gungsverhältnisse. Deswegen ist das Gesetz so ausgestal-
tet, dass die Grundsätze der Rechtsprechung übernommen
werden. Dadurch werden wir mehr Klarheit herstellen
können.

Das Kernstück ist und bleibt weiterhin die gesetzliche
Regelung über die Zulässigkeit der Befristung. An die-
ser Stelle – Frau Baumeister, da verstehe ich Ihren Ein-
wand gar nicht – ist auch besonders aufgeführt, dass die
Tatsache, dass jemand Werkstudentin bzw. Werkstudent
oder ehemalige Auszubildende bzw. ehemaliger Auszu-
bildender ist, ein sachlicher Grund ist, sie oder ihn wei-
terhin in diesem Betrieb zu beschäftigen. Das ist doch
eher ein Fortschritt. Ich verstehe also Ihre Auslassungen
hier gar nicht.

In diesem Zusammenhang ist uns von grüner Seite
auch besonders wichtig, dass die Befristung ohne sach-
lichen Grund weiterhin erhalten bleibt. Das ist ein Sach-
verhalt, der in der Vergangenheit immer wieder zu
Auseinandersetzungen geführt hat. Aber die Prognosen
und die Ängste, dass in der Bundesrepublik Deutschland
sozusagen uferlos mit befristeten Arbeitsverhältnissen ge-
arbeitet wird, hat sich nicht bewahrheitet. Wir befinden
uns im guten europäischen Mittelfeld. Die flexiblen Re-
aktionsmöglichkeiten der Unternehmen wollen wir wei-
terhin erhalten. Die Zunahme bei den befristeten
Beschäftigungsverhältnissen in der Vergangenheit liegt
eindeutig in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und vor al-
len Dingen auch Strukturanpassungsmaßnahmen begrün-
det.

Einschränkungen erfahren die heutigen Regelungen
jedoch, indem Kettenbefristungen zwischen Arbeitsver-
trägen mit sachlicher Begründung und Arbeitsverträgen
ohne sachliche Begründung verhindert werden. Ich
denke, es handelt sich um eine Minderheit von Fällen, bei
denen Arbeitnehmer mit solchen Kettenverträgen kon-
frontiert werden. Meine Fraktion hätte in diesem Bereich
deswegen keinen großen Handlungsbedarf gesehen. Auf
der anderen Seite wird nun sichergestellt, dass ein Miss-
brauch, also diese Form von Kettenverträgen, ausge-
schlossen wird, indem nur noch bei Neuanstellungen eine
Befristung ohne sachlichen Grund ermöglicht wird.

Im Ganzen wird die Befristung ohne sachlichen Grund
weiterhin ermöglicht; das ist uns wichtig. Das ergibt eine
Erleichterung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer, die das 58. Lebensjahr vollendet haben. Dies ist eine
Verbesserung für ältere Arbeitnehmer, die bei der Ar-
beitssuche gerade auf dem engen Arbeitsmarkt in Ost-
deutschland helfen soll.

Im weiteren Verfahren müssen wir über einige büro-
kratische Hürden, die im Gesetz stehen, beispielsweise
bezüglich der Schriftform, noch diskutieren. Das brauche
ich hier nicht weiter auszuführen. Das sind Details, über
die wir uns im weiteren Verfahren noch unterhalten müs-
sen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412720800
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1412720900
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der renommierte Konstanzer
Arbeitsrechtler Professor Rüthers hat unlängst lakonisch
festgestellt: Arbeitsverhältnisse sind in Deutschland bes-
ser als die Ehe geschützt. Diesem zutreffenden Urteil
kann ich nur hinzufügen: Die einzige Chance, unserer Ar-
beitsgesetzgebung zu entkommen, ist, um im Bild zu blei-
ben, ein Enthaltsamkeitsgelübde. Im Klartext heißt das:
Es wird nicht mehr eingestellt. Ich frage Sie: Ist es wirk-
lich das, was Sie wollen?

Was Sie von Rot-Grün uns vorgelegt haben, missach-
tet die marktwirtschaftliche Grundregel, nach der immer
noch die Unternehmen die Arbeitsplätze schaffen. Herr
Riester, Sie waren gestern beim Gemeinschaftsausschuss
der Deutschen Gewerblichen Wirtschaft. Die einhellige
Ablehnung, die Ihrem Gesetzentwurf entgegenschlug,
muss Sie doch nachdenklich gemacht haben.


(Zuruf von der SPD: Ablehnung? Wer denn?)

– Henkel, Hundt, um nur diese beiden zu nennen.


(Zurufe von der SPD: Oh!)

– Das waren die Hauptredner, Herr Gilges.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Ich glaube, die kennt Herr Gilges gar nicht!)


Die Beurteilung war deutlich: Der ohnehin festgefahrene
deutsche Arbeitsmarkt wird von Ihnen noch weiter ze-
mentiert, sodass er sich nicht einmal mehr einen Millime-
ter bewegen kann.

Ich will einmal das, was Sie hier vorschlagen, untersu-
chen. Dabei will ich vorausschicken: Ich stimme Ihnen
zu, dass wir ein Mehr an Teilzeitarbeit brauchen. Auch
wir sind dafür, die Quote bei der Teilzeitarbeit zu erhöhen,
aber nicht mit den Mitteln, die Sie vorschlagen.

Herr Minister Riester, nach Ihrer Vorstellung kann ein
Arbeitnehmer nach sechs Monaten Betriebszugehörigkeit
zu seinem Chef gehen und ihm mitteilen, dass er gedenkt,




Dr. Thea Dückert
12248


(C)



(D)



(A)



(B)


zukünftig Teilzeit, also beispielsweise zehn Stunden we-
niger pro Monat, zu arbeiten. Bei dieser Gelegenheit kann
er ihm seinen selbst ausgearbeiteten Arbeitszeitplan über-
reichen.

Darauf werden Sie sagen: Der Arbeitgeber kann gegen
dieses Ansinnen mit betrieblichen Gründen argumentie-
ren. Diese haben Sie zwar umrissen, aber sie sind
schwammig genug, um für zahlreiche Auseinanderset-
zungen zu sorgen. Ich sage Ihnen: Die Einseitigkeit ist
nicht das Ende der Fahnenstange. Wenn es Streit gibt,
dann landet das Ganze beim Arbeitsgericht. Wie die Pra-
xis bei deutschen Arbeitsgerichten aussieht, wissen wir.
Ich sage Ihnen voraus: Sie werden damit in diesem Be-
reich nicht mehr Beschäftigung schaffen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Die Arbeitgeber sind weiter, als Sie es sich vorstellen können!)


Herr Riester, Sie haben mich mit Ihrem Versprecher
von vorhin neugierig gemacht. Ich gehe nicht davon aus,
dass Sie den Gesetzentwurf nicht gelesen haben. In dem
Gesetzentwurf steht, dass Arbeitgeber mit weniger als
15 Arbeitnehmern vom Anspruch auf Verringerung der
Wochenarbeitszeit ausgenommen sind. Sie haben von
„Betrieb“ gesprochen. Ich hoffe doch sehr, dass es bei
Ihrem Versprecher bleibt. Ansonsten hätten wir eine
klammheimliche Abkehr vom bisherigen Betriebsbe-
griff, den wir zum Beispiel im Betriebsverfassungsgesetz
haben.

Dies hätte die seltsame Wirkung, dass bei einem Ar-
beitgeber – nehmen wir als Beispiel eine Parfümerieket-
te –, der fünf Betriebe und in jeder Filiale fünf Beschäf-
tigte hat, damit insgesamt über dem Schwellenwert liegt,
in einer der Filialen eine Mitarbeiterin sagen könnte: Ich
arbeite jetzt nur noch Teilzeit. – Dabei ist jedoch klar, dass
es bei fünf Beschäftigten zu unverhältnismäßig großen
Anpassungsschwierigkeiten kommen muss. Das kann
doch nicht in Ihrem Interesse sein. Ich fordere spätestens
bei den Beratungen im Ausschuss ein, dass Sie hier klar
Farbe bekennen.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU)


Ich will ein zweites Beispiel nennen, das aus meiner
Sicht, Herr Riester, nicht schlüssig ist.


(Erika Lotz [SPD]: Wer hat Ihnen denn das aufgeschrieben?)


– Das habe ich mir selbst aufgeschrieben; ich mache mir
nämlich, Frau Lotz, zu den Gesetzen, die Sie vorlegen,
Gedanken.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU – Dirk Niebel [F.D.P.]: Die dürfen ja nur sagen, was auf dem Sprechzettel steht!)


Ich habe dabei den Vorteil, dass ich aus eigener unterneh-
merischer Erfahrung sprechen kann, und Sachkenntnis ist
ja bei der Beurteilung von Vorlagen manchmal nicht ganz
fehl am Platz.

Als zweiten Punkt will ich ansprechen: Geringfügig
Beschäftigte sind nach Ihrem Gesetzentwurf auch Teil-

zeitbeschäftigte. Das heißt im Klartext: Wenn ich einen
Mitarbeiter für 500 DM im Monat einstelle,


(Rolf Kutzmutz [PDS]: Für 500 DM, so etwas machen Sie?)


ist dieser teilzeitbeschäftigt und hat nach § 9 Ihrer Vorlage
Anspruch auf die nächste frei werdende Vollzeitstelle –
vorausgesetzt, dass er seinen Wunsch angemeldet hat und
seine Qualifikation auf diese Stelle passt. Das kann ja
wohl nicht ernst gemeint sein. Oder wollen Sie damit die
630-Mark-Verträge für die Zukunft endgültig abschaffen?


(Zuruf von der SPD: Einmal 630-Mark-Job, immer 630-Mark-Job! Einmal Ausbeutung, immer Ausbeutung!)


Also, hier widersprechen Sie sich.
Ich möchte noch etwas zu den befristeten Beschäfti-

gungsverhältnissen sagen. Sie haben, Herr Riester – das
erkenne ich ja an –, immerhin dem gewerkschaftlichen
Druck widerstanden, die befristeten Beschäftigungsver-
hältnisse gänzlich abzuschaffen. Aber Ihre Rezeptur
durch das vorgelegte Gesetz ist falsch; Sie haben immer
noch zu viel Engelen-Kefer und zu wenig Neue Mitte. Da-
rüber müssen Sie noch einmal nachdenken.

Besonders problematisch finde ich die Vorschrift in
§ 14 Abs. 2 Satz 2 Ihres Gesetzes, wonach ein Arbeitge-
ber einen Arbeitnehmer nur einmal in dessen Berufsleben
befristet einstellen kann und der Arbeitnehmer ansonsten
als unbefristet eingestellt gilt.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der soll das Gesetz einmal lesen!)


Ich stelle mir vor, wie dieses zukünftig zu dokumentieren
ist. Wenn ein Arbeitnehmer, der irgendwann einmal ein-
gestellt war, nach 20 Jahren wieder beschäftigt wird, ist er
dann urplötzlich befristet eingestellt? Sie schlugen vor,
den Mann für ein Jahr befristet zu beschäftigen. Nach Ih-
rer Vorschrift dürften Sie ihm dann erstmals nach einem
Jahr ordentlich kündigen.

Diese drei Beispiele – ich hätte gerne mehr gebracht,
aber meine Redezeit ist so kurz – zeigen, dass der Ge-
setzentwurf so, wie er hier auf dem Tisch liegt, absolut un-
ausgegoren ist. Deswegen kann man dem Hohen Haus die
Zustimmung zu dieser Vorlage wirklich nicht empfehlen.

Danke schön.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412721000
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt Kollege Dr. Klaus Grehn.


Dr. Klaus Grehn (PDS):
Rede ID: ID1412721100
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Herr Kollege Riester und die Re-
gierungskoalition, in der Philosophie, dass die Verteilung
von Arbeit – als eine von mehreren Möglichkeiten –
Arbeitsplätze schaffen kann und soll, können wir Ihnen
folgen. Das ist eine Position, die wir seit langer Zeit ver-
treten. Die Verteilung von Arbeit kann Arbeitsplätze
schaffen und zur Senkung der Arbeitslosigkeit beitragen.
Ob das aber gelingt, hängt vom Detail, vom Wie einer
Regelung ab.




Dr. Heinrich L. Kolb

12249


(C)



(D)



(A)



(B)


Das Ergebnis des Beschäftigungsförderungsgesetzes,
ein Gesetzgebungsverfahren, das unsere Oppositionskol-
legen eingeleitet haben, hat die IG Metall als vernichtend
eingeschätzt. Die Erwartungshaltung, dass durch das Ge-
setz Arbeitsplätze geschaffen werden, war groß. Und was
ist daraus geworden?

Der Beweis
– ich zitiere aus der Vorstandsvorlage der IG Metall –

tatsächlicher zusätzlicher Einstellungen kann nicht
erbracht werden. Es ist kein gesamtgesellschaftli-
cher Beschäftigungseffekt nachzuweisen. Das Be-
schäftigungsförderungsgesetz hat kontraproduktive
Beschäftigungseffekte hervorgebracht.

Das hängt damit zusammen, dass das Ziel unter anderem
Umverteilung war, dies aber nicht erreicht worden ist.

Der Optimismus, der hier teilweise herrscht, dass das
neue Gesetz ins Schwarze trifft, scheint mir nicht ge-
rechtfertigt. Das Gesetz trägt der Wechselwirkung von Ar-
beitszeit und Lohn nicht Rechnung – es sei denn, Sie ha-
ben im Auge, dass Lohnausgleich gezahlt wird; aber das
ist wohl nicht der Fall. Denn Teilzeitarbeitmuss man sich
leisten können. Es gibt Menschen, die sich aufgrund ihrer
Lohngruppe Teilzeitarbeit nicht leisten können, auch
wenn sie gerne Teilzeit arbeiten würden. Eine Verkäufe-
rin mit Kindern, die 1 200 DM monatlich verdient, kann
nicht Teilzeit arbeiten.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: 1 200 DM ist schon ein Teilzeitgehalt!)


Das wissen Sie genauso gut wie ich.
Hier sind wir bei den Irrtümern der Statistik: Sie haben

von den drei Millionen Arbeitnehmern, die das IAB ge-
nannt hat, gesprochen; auch ich habe darüber gelesen. Ich
halte Ihnen entgegen: Nach der Statistik besteht in
Deutschland pro Familie der Wunsch nach durchschnitt-
lich drei Kindern, geboren werden aber durchschnittlich
nur 1,2 Kinder.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das ist richtig!)


Die Frage ist, welche Bedingungen vorhanden sein müs-
sen, damit die Einzelnen ihren Kinderwunsch realisieren.
Diejenigen, die sich Kinder wünschen, aber zu wenig
Geld haben, um davon zu leben, werden ihren Kinder-
wunsch nicht realisieren. Deshalb kann man diese Statis-
tik nicht als Beispiel anführen. Während man sich in den
gehobenen Positionen unserer Gesellschaft Teilzeitarbeit
leisten kann, ist dies in anderen Bereichen tatsächlich
nicht möglich. Deshalb konzentriert sich das Problem der
Teilzeitarbeit auf die schlecht bezahlten Arbeitsplätze und
das betrifft in Deutschland überwiegend die Frauen. Des-
halb habe ich Zweifel daran, ob der Gesetzentwurf wirk-
lich in die richtige Richtung geht.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Deshalb müssen Sie das durch staatliche Zuschüsse ausgleichen, dann bekommt jeder das Gleiche!)


Diese Tatsachen hebeln die Zielrichtung des Gesetzent-
wurfs aus.

Sie führen an, dass nur sachliche Gründe zu einer Ab-
lehnung des Wunsches nach Teilzeitarbeit führen können.
Aber was sind sachliche Gründe? Sie haben versucht,
diese sachlichen Gründe näher zu benennen. Wenn aber
keine weitere Präzisierung erfolgt, kann man letztlich al-
les unter diesen Begriff fassen, und das hebelt Ihre Ziel-
stellung aus.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Dann sind auch diese Debatten vom Tisch!)


Es gibt Gründe, den Wunsch nach Teilzeitarbeit abzu-
lehnen, aber der Ermessensspielraum ist in diesem Fall
sehr weit. Das Gesetz legt fest, dass in bran-
chenspezifischen Tarifverträgen andere Bedingungen
festgelegt werden können. Dabei frage ich mich: Wenn
branchenspezifische Tarifverträge die genannten sachli-
chen Gründe aushebeln können, was Sie gesetzlich fest-
schreiben wollen, warum machen Sie dann eigentlich das
Gesetz? Wird auf diese Weise nicht den Gewerkschaften
die Verantwortung zugeschoben, die die Tarifverträge mit
aushandeln müssen?

Es gibt eine Reihe von Sachargumenten. Doch bei aller
Anerkennung des Bemühens, eine Lösung herbeizu-
führen und der genannten Philosophie Rechnung zu tra-
gen, werden die Anhörung und die weitere Diskussion
zeigen, dass Nachbesserungen durchaus notwendig sind,
um die Zielstellung zu erreichen.


(Beifall bei der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412721200
Nächster Redner ist
der Kollege Olaf Scholz für die SPD-Fraktion.


Olaf Scholz (SPD):
Rede ID: ID1412721300
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren hier
über ein wichtiges Gesetzesvorhaben, das sich mit einem
zentralen Thema beschäftigt: Wie können wir mit der Ar-
beitsmarktpolitik Flexibilität und soziale Sicherheitmit-
einander in Einklang bringen?


(Heinz Schemken [CDU/CSU]: Und Teilzeit für Minister!)


Ich glaube, es besteht kein großer Erklärungsbedarf
hinsichtlich der Notwendigkeit, dass wir für die Weiter-
entwicklung des Arbeitsmarktes mehr Flexibilität benöti-
gen. Aber es bestehen – das ist sehr deutlich geworden –
unterschiedliche Auffassungen darüber, wie Flexibilität
aussehen soll. Wenn ich mir das Maß der Flexibilität bei
F.D.P. und CDU/CSU, so wie es hier zum Ausdruck ge-
kommen ist, ansehe, muss ich feststellen, dass dies mehr
dem Bild des 19. Jahrhunderts entspricht als den Erfor-
dernissen der Gegenwart.


(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Herr Scholz, das haben Sie doch nicht nötig! Sie wissen es doch besser!)


Man trifft eine politische Aussage, wenn man sagt, be-
stimmte Dinge sollten nur auf freiwilliger Basis gewährt
werden. Warum dehnen Sie diese Diskussion nicht auf das
Bundesurlaubsgesetz und ähnliche Regelungen aus, bei
denen Sie auch sagen könnten, es sei doch selbstver-




Dr. Klaus Grehn
12250


(C)



(D)



(A)



(B)


ständlich, dass ein Arbeitnehmer Urlaub hat; wenn er da-
nach fragt, erhält er ihn meistens auch. Wir haben aus
guten Gründen dafür gesorgt – auch mit Ihnen zusammen
–, dass es dafür gesetzliche Regelungen gibt. Wir haben
den Eindruck gewonnen, Sie halten die Teilzeitentwick-
lung für ganz sinnvoll, wollen aber keine Rechtsan-
sprüche in diesem Zusammenhang gewähren. Wir haben
eine andere Vorstellung:


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Eines dirigistischen Staates!)


Wir haben das Bild einer modernen Bürgergesellschaft
vor Augen und diese ist nicht autoritären Beziehungen or-
ganisiert. Sie ist so organisiert, dass es Rechtsansprüche
wechselseitiger Art gibt, und diese müssen geregelt wer-
den. Das ist der große gesetzgeberische Fortschritt, der
hier zum Ausdruck kommt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Sie glauben an die Allmacht der Bürokratie! Das unterscheidet uns!)


Wir werden damit auch den Anforderungen gerecht,
die die Europäische Union an uns gestellt hat. Die Euro-
päische Union hat viele Beschlüsse zur Entwicklung der
sozialen Sicherheit gefasst. Aber in all den Beschlüssen
– egal, ob sie in Dublin, in Essen oder auf dem großen
Gipfel in Lissabon gefasst worden sind – ist immer auf
den Doppelaspekt hingewiesen worden, nämlich dass
Flexibilität mit Sicherheit verbunden werden muss, dass
die Interessen der Unternehmer und der Arbeitnehmer in
Einklang gebracht werden müssen und dass man sich
gewissermaßen sicher bewegen können muss. Dies alles
wird durch das jetzige Gesetz möglich gemacht.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412721400
Herr Kollege Scholz,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Meckelburg?


Olaf Scholz (SPD):
Rede ID: ID1412721500
Ich gestatte die Zwischenfrage.


Wolfgang Meckelburg (CDU):
Rede ID: ID1412721600
Ich muss diese
Zwischenfrage einfach stellen, um bei dem jetzigen
Schaulaufen ein gewisses Maß an Fairness herzustellen.
Es ist interessant, wer Zwischenfragen zulässt und wer
nicht.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Buh!)


– Das ist ein internes Problem der Fraktion.
Herr Scholz, finden Sie nicht, dass Sie einen zu großen

Popanz um den von Ihnen so großartig und glorreich ver-
kündeten Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit machen – Sie
haben gesagt, dass Sie Bürgerrechte durchsetzen wollen;
ich habe ja Verständnis dafür, dass eine entsprechende
Regelung für Kleinbetriebe beschlossen werden soll –,
wenn Sie bedenken, dass nur 13 Prozent der Beschäftig-
ten – der Minister hat vorhin darauf hingewiesen, dass
87 Prozent der Beschäftigten nicht in den Genuss der

neuen Regelung kommen werden – einen solchen Rechts-
anspruch haben werden?


(Zurufe von der SPD: Der Betriebe!)

– Ob das nun 13 Prozent der Betriebe oder der Beschäf-
tigten sind, können wir noch im Ausschuss klären.

Was wollen Sie den 87 Prozent sagen, die die neue
Regelung gar nicht nutzen können, nachdem Sie so groß-
artig von einem Bürgeranspruch geredet haben?


Olaf Scholz (SPD):
Rede ID: ID1412721700
Zunächst einmal: Es geht, wie wir
wissen, nach den Statistiken, die zugrunde gelegt worden
sind, um 87 Prozent der Betriebe und nicht um 87 Prozent
der Beschäftigten; denn die Betriebe können eine unter-
schiedliche Struktur aufweisen.

Wir sind keine Menschen, die mit Gesetzen über die
Welt herfallen. Wir glauben vielmehr, dass es notwendig
ist, vernünftig abzuwägen. Wir sind der Meinung: Ers-
tens. Größere Unternehmen haben größere Spielräume,
um die entsprechenden Anpassungsentscheidungen zu
treffen, die sich im Zusammenhang mit der Durchsetzung
von Teilzeitinteressen ergeben.

Zweitens. Die größeren Unternehmen sind nach unse-
rer Meinung der geeignete Ort, um herauszufinden, ob
sich die neue Teilzeitregelung auch auf kleinere Betriebe
ausdehnen lässt. Im Übrigen glaube ich, dass es so etwas
wie eine meinungsbildende Wirkung gibt: Wenn die neue
Teilzeitregelung, die rechtlich verankert ist, in den größe-
ren Unternehmen gut funktioniert, dann werden auch die
kleineren Unternehmen den Rechtsanspruch auf Teilzeit-
arbeit als selbstverständlich empfinden und ihn durchset-
zen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir stehen unter Handlungsdruck, weil zwei Richtli-
nien der Europäischen Union umgesetzt werden müssen.
Die Umsetzung der einen Richtlinie, nämlich die zur Teil-
zeitarbeit, ist schon seit Anfang dieses Jahres überfällig.
Die Richtlinie über die Befristung von Beschäftigungs-
verhältnissen muss im nächsten Jahr umgesetzt werden.
Insofern ist es gut und sinnvoll, dass wir uns im Rahmen
der von mir skizzierten Beschlüsse bewegen wollen.

Die Regelung des Rechtsanspruches auf Teilzeitar-
beit, die hier mehrfach diskutiert und nun beschlossen
worden ist, ist auch deshalb wichtig, weil sich die Euro-
päische Union ein großes Ziel gesetzt hat, nämlich die Be-
schäftigungsquote zu erhöhen. Wir haben eine zu niedrige
Beschäftigungsquote in Europa. Bedauerlicherweise ist
die Bundesrepublik Deutschland – das muss ich Ihnen an-
gesichts Ihrer langen Regierungszeit sagen – im Hinblick
auf die Beschäftigungsquote das Schlusslicht. Es ist eine
unserer wichtigsten Aufgaben, dafür zu sorgen, dass mehr
Menschen Beschäftigung finden und dass mehr Men-
schen arbeiten. Aber das funktioniert nur, wenn wir für ei-
nen geeigneten Rahmen sorgen und Regelungen schaffen,
durch die Familienleben und Arbeitsleben vereinbar wer-
den und die den Anforderungen, die an die Menschen ge-
richtet werden, gerecht werden. Damit würden wir einen
wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Beschäftigungs-
quote leisten. Das sollten wir unbedingt zustande bringen.




Olaf Scholz

12251


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir stellen einen Handlungsrahmen zur Verfügung, der
es den einzelnen Betrieben ermöglicht, Teilzeitarbeit
– wenn man sie denn haben möchte – zum Normalfall zu
machen. Wenn man sich große alte Gesetze wie das Bür-
gerliche Gesetzbuch anschaut, dann wird man feststellen,
dass auch dort viele Dinge für den Fall geregelt werden,
dass sich etwas ändert. Wir haben nun den Anspruch auf
Teilzeitarbeit neu geregelt. Wir verstehen diese Regelung
als Service des Gesetzgebers. Wenn wir meinen – das be-
kunden zumindest alle gemeinsam immer wieder –, dass
Teilzeitarbeit eine größere und wichtige Rolle in der Zu-
kunft spielen soll, dann müssen wir versuchen, zu beden-
ken, welche Interessen der Einzelne verfolgt, wenn er sei-
nen Anspruch auf Teilzeitarbeit geltend macht, wenn er
das wieder rückgängig machen möchte, wenn er qualifi-
ziert werden möchte und wie er entlohnt werden möchte.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412721800
Herr Kollege Scholz,
es gibt eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Grehn. Las-
sen Sie diese auch zu?


Olaf Scholz (SPD):
Rede ID: ID1412721900
Ja, bitte.


Dr. Klaus Grehn (PDS):
Rede ID: ID1412722000
Ich mache es auch ganz kurz.
Sie haben von der Besetzung der Teilzeitarbeitsplätze

gesprochen. Wie kommt man, da der Arbeitgeber nach
dem Gesetzentwurf freie Arbeitsplätze grundsätzlich als
Teilzeitarbeitsplätze ausschreiben soll, eigentlich wieder
in Vollzeitarbeitsplätze?


(Widerspruch bei der SPD)

– Ja, der Arbeitgeber hat freie Arbeitsplätze grundsätzlich
als Teilzeitarbeitsplätze auszuschreiben.


(Zurufe von der SPD: Wie? – Was?)



Olaf Scholz (SPD):
Rede ID: ID1412722100
Im Gesetzentwurf steht, dass er
das auch so zu tun hat, weil er nämlich angeregt werden
soll, darüber nachzudenken, ob dieser Arbeitsplatz nicht
nur von Vollzeitarbeitskräften, sondern auch von Teilzeit-
arbeitskräften wahrgenommen werden kann, und weil
ihm Folgendes passieren soll: Er möchte die Stelle ei-
gentlich als Vollzeitstelle besetzen, schreibt sie aber so
aus, wie das im Gesetz beschrieben ist, und stellt fest: Es
haben sich zwei tolle teilzeitinteressierte Arbeitnehmerin-
nen beworben. Da nimmt er doch diese beiden, statt die
Stelle mit einer Arbeitnehmerin zu besetzen. Das will der
Gesetzgeber hier anregen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das macht er doch bisher schon! Das ist doch lächerlich!)


– Nein, das wird jetzt verbessert. Das ist etwas, was wir
gewissermaßen als Unterstützung für die Menschen zur
Verfügung stellen.

Der zweite Teil, mit dem wir etwas zur Flexibilität tun
und gleichzeitig Sicherheit gewährleisten, ist die Neure-
gelung der Befristung. Zum Ersten geben wir die lange
bekannte Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur
Sachgrundbefristung im Gesetz wieder. Das ist wichtig,

weil es nicht sein kann, dass man lange Urteile lesen
muss, um sich mit einem wichtigen Lebenssachverhalt
auszukennen. Es ist wichtig, dass jetzt endlich eine Kodi-
fizierung stattfindet, in der man das, was in langer Recht-
sprechung erarbeitet worden ist, wiederfinden kann.

Zum Zweiten werden die Erfahrungen mit dem bishe-
rigen Gesetz über die sachgrundlose Befristung, also dem
Beschäftigungsförderungsgesetz, ausgewertet. In diesem
Zusammenhang gibt es eine Erfahrung, die wir von unse-
rer Seite aus freimütig zugestehen wollen: Die vielen
Hoffnungen, die sich manche von Ihnen gemacht haben,
dass das zu einer großen Aufweichung des Arbeitsrechts-
systems in unserem Land führen würde, sind nicht einge-
treten. Auch die vielen Befürchtungen, die bei Gewerk-
schaften und bei vielen von uns existiert haben, sind nicht
eingetreten. Es hat gar keine massive Ausweitung befris-
teter Beschäftigung in unserem Lande gegeben. Deshalb
ist es wichtig, dass man dieses Instrument gewissermaßen
aufrechterhält, es aber von den Missbrauchsmöglichkei-
ten befreit, die bisher bestanden haben.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Wenn niemand eingestellt wird, kann es auch keinen Missbrauch geben!)


Die wichtigste Missbrauchsmöglichkeit, die es gegeben
hat, ist die, dass Menschen über lange Zeit immer wieder in
neuen befristeten Beschäftigungsverhältnissen angestellt
worden sind: ein paar Monate mit einer Sachgrundbefris-
tung, dann zwei Jahre mit Beschäftigungsförderungsge-
setz, wieder ein paar Monate mit einer Sachgrundbefris-
tung, dann wieder nach Beschäftigungsförderungsgesetz.
Diese Regelung ist jetzt endgültig unterbunden worden,


(Beifall bei der SPD)

aber, Herr Kollege, in einer völlig einwandfreien Weise
und nicht so, wie Sie es sich vorgestellt haben. Es steht
nicht im Gesetz, dass man, wenn man einmal aufgrund ei-
ner sachgrundlosen Befristung beschäftigt war, nie wieder
in diesem Unternehmen angestellt werden kann


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Aber man wird befristet eingestellt!)


oder nie wieder befristet beschäftigt werden kann. Das
Einzige, was unterbunden wird, ist, erneut auf die sach-
grundlose Befristung zurückzugreifen. Es ist aber sehr
wohl möglich, dass man als Schwangerschaftsvertretung
eingestellt wird oder was ansonsten seit Jahrzehnten in
der Rechtsprechung als Befristungsgrund akzeptiert wird.

Ich glaube, dass dieses Gesetz auch im Bereich der Be-
fristung das Doppelziel erreicht, das ich beschrieben
habe, nämlich dass man einerseits die notwendigen Flexi-
bilisierungsmöglichkeiten schafft, das Ganze aber ande-
rerseits in einen solchen Rahmen stellt, dass die Men-
schen, die darauf angewiesen sind, dass Gesetze ihnen
Sicherheit verschaffen, diese auch bekommen. Ich
glaube, das ist besser geworden, als es bisher der Fall war.


(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Nein!)


Ich will ein weiteres Argument nennen, auch gegen-
über denjenigen, die von gewerkschaftlicher Seite den
jetzt gewählten Schritt vielleicht als etwas zu weit gehend




Olaf Scholz
12252


(C)



(D)



(A)



(B)


empfinden, weshalb ich glaube, dass es notwendig ist,
dass wir die sachgrundlose Befristung auch weiterhin auf-
rechterhalten. Es hat sich gezeigt, dass viele der sach-
grundlosen Befristungen, die in der Vergangenheit ge-
wählt worden sind, nur deshalb zustande gekommen sind,
weil sie das einfachere Verfahren sind. Lediglich 13 Pro-
zent der Befristungen sind ausschließlich auf der rechtli-
chen Grundlage des Beschäftigungsförderungsgesetzes
erfolgt, die anderen wären auch immer schon mit Sachbe-
fristung möglich gewesen. Insofern ist wahrscheinlich vor
allem eine Entbürokratisierung für die Arbeitgeberent-
scheidung eingetreten – etwas, was wir für sehr sinnvoll
halten und was wir durch das Gesetzesvorhaben, das wir
vorgelegt haben, natürlich gern unterstützen.

Vor allem aber tritt eines ein – und das ist uns ein ganz
wichtiges Anliegen –: In der Tat gibt es Beschäftigte, bei
denen es wichtig ist, dass die Arbeitgeber über eine ge-
wisse Zeit hinweg die Sicherheit gewinnen, dass sie sich
auch längerfristig mit ihnen zusammentun wollen. Das ist
ein Problem des Arbeitsmarktes, das wir auch an anderer
Stelle immer wieder besprechen. Das wird unter „Em-
ployability“ diskutiert. Ich glaube, es ist sinnvoll, einen
gesetzlichen Rahmen zu haben, mit dem diese Menschen
in Beschäftigung integriert werden; denn das sollte für
uns alle die wichtigste Aufgabe sein.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412722200
Der letzte Redner die-
ser Debatte ist der Kollege Johannes Singhammer für die
Fraktion der CDU/CSU.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1412722300
Frau Präsi-
dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieses
von Rot-Grün vorgelegte Teilzeitgesetz schafft Vollbe-
schäftigung für Rechtsanwälte und Gerichte.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Das habe ich heute schon in der Pressemitteilung gelesen!)


Herr Riester, dieses Teilzeitgesetz ist eine volle Packung
Dynamit für den Betriebsfrieden. Nicht nur zum Teil,
sondern voll und ganz werden die Planungssicherheit und
die Dispositionsmöglichkeit von Unternehmen beein-
trächtigt. Der Mittelstand wird belastet


(Franz Thönnes [SPD]: Stoiber als Sprengstoffmeister!)


und viele fühlen sich ans Gängelband genommen.

(Lachen und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das, was Sie hier als schöne Verpackung anbieten, hat

einen schlechten Inhalt, und die angeblich uneinge-
schränkte Wohltat für Arbeitnehmer wird sich als voller
Nachteil für den Standort Deutschland und damit auch für
die Arbeitsplätze in Deutschland erweisen.


(Widerspruch bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Leider wahr!)


Das ist ein schlampiges Gesetz mit schädlichen Wirkun-
gen.


(Erika Lotz [SPD]: Das ist eine Unterstellung!)


Ich nenne Ihnen die Schwachstellen im Einzelnen.
Erstens. Entgegen allen hier vorgebrachten Beteuerun-

gen gibt es keinerlei europarechtliche Verpflichtung, die-
ses konkrete Gesetz mit einem solchen Anspruch vorzu-
legen, wie Sie es formuliert haben.


(Franz Thönnes [SPD]: Und, was heißt das?)

Es existiert keinerleit derartige europäische Vorschrift.


(Franz Thönnes [SPD]: Was heißt das?)

– Ich stelle jetzt nur einmal Behauptungen von Ihnen rich-
tig.

Zweitens. Sie wollen mit Ihrem Gesetzentwurf bewir-
ken, dass jeder Arbeitnehmer künftig selbst entscheiden
kann, wie viele Stunden er pro Woche arbeitet und ob er
Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag oder Freitag
zur Arbeit kommen will. Das bedeutet – das sage ich Ih-
nen hier – Zündstoff im partnerschaftlichen Umgang der
Kollegen im Betrieb.

Fragen Sie doch einmal eine Verkäuferin, was sie da-
von hielte, wenn ihre Kollegin ihre Arbeitszeit um meh-
rere Stunden reduzieren würde und sie deshalb künftig am
Freitagnachmittag allein im Geschäft bedienen müsste.

Fragen Sie doch einen Automechaniker, der im Team
arbeitet, auf den Punkt genau Aufträge zu erfüllen hat und
dabei unter Zeitdruck steht, was passierte, wenn in einem
solchen Team jemand seine Arbeitszeit reduzieren wollte,
um beispielsweise einer Nebentätigkeit nachgehen zu
können. – So steht es in Ihrem Gesetz.

Fragen Sie auch einmal die Mitarbeiter eines Teams im
Hochtechnologiebereich, in dem viele Kollegen zusam-
menarbeiten, was sie davon hielten, wenn dort jemand
seine Arbeitszeit reduzierte und sagte: Ich arbeite nur
noch vormittags, weil ich da fit bin, nachmittags will ich
nicht mehr so viel arbeiten.


(Zuruf von der SPD: Es geht darum, dass Neueinstellungen vorgenommen werden können!)


Sie legen hiermit in den Betrieben viele Lunten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Konrad Gilges [SPD]: Er agitiert sich selbst!)

Unfaires und unpartnerschaftliches Verhalten wird pro-
grammiert. Die Arbeitsplätze in Deutschland werden
nicht sicherer und im Standortwettbewerb wird Deutsch-
land mit Ihrem Vorschlag keine Pluspunkte sammeln.


(Franz Thönnes [SPD]: Wie flexibel!)

Der betriebliche Aufwand wird erhöht, wenn bei-

spielsweise Personaldaten von Mitarbeitern künftig le-
benslang aufbewahrt werden müssen, wenn eine Aus-
schreibungspflicht besteht, wenn neue Prüfungspflichten
festgeschrieben werden. Das alles muss ja dokumentiert
werden und beweisfähig sein. Das ist ein neuer, unerhört
hoher Aufwand. Das wird den Standort Deutschland nicht




Olaf Scholz

12253


(C)



(D)



(A)



(B)


aufwerten und die Produktionskosten in Deutschland
nicht senken, sondern sie wachsen lassen. Die Prozessan-
fälligkeit des deutschen Arbeitsmarkts wird weiter zuneh-
men.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sie steigt! Das ist keine gute Entwicklung!)


Ich sage Ihnen schon heute voraus: Umgehungstatbe-
stände, halbillegales Verhalten oder sogar Gesetzesbruch
werden zu- und nicht abnehmen, weil man natürlich Aus-
weichtatbestände suchen wird.


(Adolf Ostertag [SPD]: Sagen Sie noch einmal etwas zu Herrn Stoibers Forderung!)


– Ich komme schon noch dazu. Haben Sie bitte noch ei-
nen kleinen Moment Geduld. Deshalb sage Ihnen auch,
dass dieser Entwurf so, wie Sie ihn vorgelegt haben, un-
sere Zustimmung nicht finden kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir wollen den Erhalt der befristeten Arbeitsverhält-

nisse. Wir wollen die Fortsetzung einer sozial verantwor-
tungsvollen Partnerschaft. Wir wollen statt eines Durch-
einanders in den Betrieben Berechenbarkeit und wir
wollen den Betriebsfrieden bewahren. Wir wollen Teil-
zeitarbeit fördern,


(Konrad Gilges [SPD] Legen Sie doch einen Gesetzentwurf vor!)


aber mit den richtigen rechtlichen Rahmenbedingungen.
Wir wollen keinen allgemeinen, uferlosen Teilzeitan-
spruch, sondern vor allem die Förderung von zwei Grup-
pen – und damit komme ich zu den Äußerungen des
bayerischen Ministerpräsidenten–, die eine besondere
Unterstützung benötigen.

Wir brauchen Teilzeit vor allem für junge Ehepaare, für
junge Mütter und junge Frauen und vielleicht auch für den
ein oder anderen jungen Vater, die Kindererziehung und
Beruf besser miteinander vereinbaren wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Herr Grehn, hier haben sie Recht: Wenn wir die demo-

graphische Katastrophe für die sozialen Sicherungssys-
teme abwenden wollen, brauchen wir in Deutschland
wieder mehr Kinder. Der Kinderwunsch ist vorhanden.
Allerdings ist die Vereinbarkeit von Kindererziehung und
Beruf vielfach nicht gegeben. Wir wollen es vermeiden,
dass junge Eltern, junge Frauen vor allem, vor die aus-
weglose Entscheidung zwischen Kindern und Karriere
gestellt werden.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie ist das mit den Männern?)


Deshalb macht eine familienfreundliche Teilzeit für El-
tern, die ein betreuungspflichtiges Kind haben, Sinn. Da-
rauf sollten wir uns konzentrieren.


(Erika Lotz [SPD]: Das hätten Sie doch längst machen können! 16 Jahre haben Sie regiert!)


Sinn macht auch ein Anspruch auf Teilzeit für Arbeitneh-
mer, die pflegebedürftige Familienangehörige haben. Da
haben Sie uns an Ihrer Seite.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Allerdings gilt in beiden Fällen:

(Erika Lotz [SPD]: Natürlich gibt es eine Ein schränkung!)

Betriebliche Erfordernisse müssen natürlich beachtet
werden; das sage ich hier ganz deutlich. Auch sollten wir
bei der weiteren Beratung die Erfahrungen gerade aus
dem öffentlichen Dienst berücksichtigen, wo ein An-
spruch auf Teilzeit in weiten Bereichen besteht.

Wir brauchen vor allem ein Gesetz, Herr Minister, das
nicht weit hinter der betrieblichen Realität zurückbleibt.
In der betrieblichen Praxis werden doch dann, wenn ein
tüchtiger Mitarbeiter oder eine tüchtige Mitarbeiterin
Teilzeit in Anspruch nehmen will, bereits jetzt häufig
Möglichkeiten gefunden, eine Vereinbarung zu treffen,
weil ein Chef einen tüchtigen Mitarbeiter nicht verlieren
will.

Jetzt wollen Sie hier eine Vielzahl von Regularien und
Vorschriften einführen, die der betrieblichen Praxis letzt-
lich hinterherhinken. Machen Sie lieber ein Gesetz, das
Zukunftswirkung hat und die Realität berücksichtigt, aber
kein Gesetz, das weit hinter der Wirklichkeit herhinkt;
denn dann wäre es richtiger, Sie würden es sofort in der
Mottenkiste verstauben lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412722400
Ich schließe die Aus-
sprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 14/4374 und 14/4103 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartmut
Büttner (Schönebeck), Dr.-Ing. Paul Krüger,
Günter Nooke, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Einsatz von Bildauswertungssystemen bei der
Rekonstruktion vorvernichteter Stasi-Unterla-
gen
– Drucksache 14/3770 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen
Länder
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
CDU/CSU-Fraktion der Kollege Hartmut Büttner.


Hartmut Büttner (CDU):
Rede ID: ID1412722500
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den letzten Ta-




Johannes Singhammer
12254


(C)



(D)



(A)



(B)


gen der DDR, als sich abzeichnete, dass die zweite deut-
sche Diktatur zu Ende gehen würde, ergriff die damali-
gen Machthaber und auch ihre Vasallen die Panik. Alles
an belastendem Material sollte vernichtet werden, sofern
es vernichtet werden konnte. Dies war gar nicht so ein-
fach. Die SED-Diktatur und ihr „Schwert und Schild“, die
Stasi, sind nicht zuletzt an den Massen von Papier erstickt.
Zwischen Wichtigem, sehr Wichtigem und Banalem
blickte bei den Unmengen von Akten kaum noch jemand
durch.

Die Hoffnung, möglichst alles an belastendem Mate-
rial verbrannt oder zerrissen zu haben, war Gott sei Dank
ein wenig trügerisch. Bis heute müssen viele kleine und
große Täter zittern, ob denn nicht tatsächlich noch ir-
gendwo Akten herumschwirren; denn das MfS war neben
aller Unmenschlichkeit eine bürokratische, eine – könnte
man sagen – typisch deutsche Behörde. Neben dem Ori-
ginal gab es immer wenigstens einen Durchschlag, meis-
tens sogar mehrere. Die Kopierwut der DDR-Bürokraten
reichte von der Kreisbehörde über den Bezirk bis Ostber-
lin und eigentlich sogar bis Moskau.

Der Durchschlag ist bei vielen, die Menschenrechte
verletzt und die Diktatur durch ihr Tun am Leben gehal-
ten haben, in den letzten Jahren oft zum einzigen Beleg
für ihr schändliches Tun geworden. Neben diesem intak-
ten Durchschlag waren es aber auch immer wieder zu-
sammengesetzte Schnipsel von vorvernichtetem Mate-
rial, die den Tätern von gestern zum Verhängnis wurden.

So wurde durch dieses Material beispielsweise ein
Herr Professor Bress aus Kassel enttarnt. Bress hatte mehr
als 30 Jahre für das Agentenhonorar von 350 000 DM im
Westen für die Stasi spioniert. Ebenso fanden sich
entscheidende Beweise gegen den Thüringer Landes-
bischof Ingo Bräcklein oder den Literaten Sascha Ander-
son unter diesen zusammengesetzten Schnipseln.

Aber auch Materialien von ausgespähten Stasi-Opfern
wurden entdeckt, etwa wichtige Akten über Bärbel
Bohley oder Werner Fischer.

Immerhin gelang es in den letzten Jahren im bayeri-
schen Zirndorf einer Projektgruppe mit 40 Mitarbeitern,
circa 350 000 dieser Einzelblätter in Puzzlemanier zu-
sammenzusetzen. Diese Puzzlearbeit ist wie das Aus-
schöpfen des Ozeans mit einem Teelöffel. Wenn die Ge-
schwindigkeit von heute beibehalten wird, dann haben
wir die Chance, in 375 Jahren mit dieser Arbeit fertig zu
werden.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die werden sich freuen!)


Es gibt allerdings – das wird die Betroffenen vielleicht
nicht ganz so freuen – neue technische Möglichkeiten.
Mittels einer modernen Bildverarbeitung ist es möglich,
die Rekonstruktionszeit erheblich abzukürzen. Wegen des
Neuigkeitsgrades der angestrebten Lösungen sollte das
Projekt nach unserer Meinung in einem mehrstufigen
Ausschreibungsverfahren schrittweise präzisiert und
letztlich an den günstigsten Anbieter vergeben werden.
Maßgebliche Kriterien sollten vor allem die Dauer der
Rekonstruktion, Qualität, Zuverlässigkeit und nicht zu-
letzt der Preis sein.

Wir wollen gemeinsam mit der Behörde der Bundes-
beauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheits-
dienstes der ehemaligen DDR, dass der Deutsche Bun-
destag dieses Verfahren vorantreibt. Diese Behörde war
bisher immer als Gauck-Behörde bekannt. Ob sie bald ge-
nauso kurz „Birthler-Behörde“ genannt werden kann,
wird sich in den nächsten Monaten und Jahren erweisen.
Ein wichtiges Kriterium hierfür wäre die Weiterführung
des Aufarbeitungsprozesses.

Wir müssen auch bald entscheiden, ob die Arbeit in
Zirndorf ganz eingestellt oder ob neue Verfahren ange-
wandt werden sollen. Die andere mögliche Alternative,
noch mehr als 300 Jahre zu warten, wird wohl niemand in
diesem Haus als solche ansehen wollen.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Ich nicht!)


Wir sollten bei dieser Frage, wie bei allen Einzelfragen,
die den Stasi-Bereich betreffen, die Zusammenarbeit von
Union und F.D.P. mit den heutigen Regierungsparteien
weiterführen. Deshalb möchte ich die SPD – ich hoffe,
dass auch ein Redner aus der SPD-Fraktion spricht und
nicht nur, wie angekündigt, ein Mitglied der Bundesre-
gierung –, die Grünen und die F.D.P. herzlich einladen, die
Umsetzung unserer Initiative zu diskutieren und mög-
lichst gemeinsam zu gestalten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die PDS hat – aus sehr guten Gründen – bei allen Fra-

gen der Stasi-Problematik bisher niemals mitgewirkt. Die
großartige Akzeptanz des Stasi-Unterlagen-Gesetzes bei
den Menschen in den neuen Bundesländern ist gerade
durch die Zusammenarbeit der großen Mehrheit dieses
Deutschen Bundestages immer wieder gestärkt worden.
Ich denke, wir sollten uns auch bei dieser aktuellen Frage
so verhalten und zusammenarbeiten. Ich darf Sie herzlich
einladen, mit uns gemeinsam zu diskutieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Rainer Funke [F.D.P.])



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412722600
Für die Bundesregie-
rung spricht jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Fritz Rudolf Körper.

F
Fritz Rudolf Körper (SPD):
Rede ID: ID1412722700
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Die zuständige Behörde – an den weiblichen
Artikel muss man sich erst gewöhnen –, die der zuständi-
gen Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staats-
sicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, ist – das kann
ich mit Fug und Recht sagen – seit längerem intensiv
bemüht, das derzeitige und von meinem Vorredner be-
schriebene aufwendige manuelle Verfahren zur Rekon-
struktion und Ordnung der vom Ministerium für Staats-
sicherheit in Wendezeiten zerrissenen und in rund
15 600 Säcken verbrachten Stasi-Unterlagen durch ein ge-
eignetes – ich betone: geeignetes – IT-Verfahren abzu-
lösen.

Ziel ist es und Ziel muss es sein, durch den Einsatz mo-
derner Technologien der Informationstechnik die Rekon-
struktion der zerrissenen Seiten und deren inhaltliche




Hartmut Büttner (Schönebeck)


12255


(C)



(D)



(A)



(B)


Ordnung zu beschleunigen, um sie recherchierbar zu ma-
chen und damit im Sinne des Stasi-Unterlagen-Gesetzes
verwenden zu können.

Ich will aber auch hinzufügen: Zurzeit gibt es auf dem
Markt kein System, das die Anforderungen der Behörde
der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssi-
cherheitsdienstes erfüllen könnte. Für die Behörde, die
die alleinige fachliche Verantwortung trägt, ist eine Be-
schleunigung der Bearbeitung der vorvernichteten Unter-
lagen nur dann vertretbar, wenn am Ende des Prozesses
recherchierbare Unterlagen zur Verfügung gestellt wer-
den können.

Für die Erstellung geordneter und somit recherchierba-
rer Unterlagen gibt es derzeit keinen überzeugenden tech-
nischen Lösungsansatz. Ich glaube, das ist auch unum-
stritten.

Technisch machbar, wenn auch mit einem enormen fi-
nanziellen, personellen und zeitlichen Aufwand verbun-
den, erscheinen die bisher angebotenen Lösungen zum
elektronischen Eingeben – „scannen“ genannt – der zer-
rissenen Seiten und zu deren Rekonstruktion zu nur mit-
hilfe der Informationstechnik lesbarem, ungeordnetem
Material. Damit wäre allerdings nur ein nicht ausreichen-
des Teilergebnis erzielt. Denn wenn im Ergebnis der Re-
konstruktion nur weiteres ungeordnetes Material entsteht,
wird lediglich der bereits vorhandene, noch zu er-
schließende Bestand von circa 64 000 laufenden Metern
Stasi-Unterlagen um circa 30 Millionen ungeordnete Sei-
ten bzw. rund 4 000 laufende Meter vergrößert.

Ein Zugriff und damit eine Nutzung der Unterlagen
im Sinne unseres Gesetzes wird aber nicht erreicht, weil
es zum Beispiel weder ein Inhaltsverzeichnis noch die
Möglichkeit der Suche nach Stichwörtern gibt. Folge:
20 bis 25 zusätzlich einzustellende Archivare müssten die
notwendigen Erschließungsarbeiten erledigen.

Bei dieser Sachlage ist festzustellen, dass die Behörde
der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen durch
ihre Aktivitäten – das möchte ich deutlich sagen; das gilt
natürlich auch für den Vorgänger – bereits jetzt das auch
mit der Antragstellung seitens der CDU/CSU-Fraktion
angestrebte Ziel eindeutig verfolgt. Demzufolge, lieber
Kollege Hartmut Büttner – so darf ich hinzufügen –, be-
darf es eigentlich eines entsprechenden Beschlusses des
Deutschen Bundestages nicht.

Hinsichtlich der sachlichen Rechtfertigung des bisher
manuell mit großem Aufwand betriebenen Puzzles und
der Überlegungen zu einer sinnvollen und damit auch ver-
tretbaren Beschleunigung des Verfahrens dürfte es keine
– so hoffe ich – Meinungsverschiedenheiten geben.

Von den im gesamten Archivbereich der Bundesbeauf-
tragten vorhandenen circa 15 600 Säcken mit zerrissenen
Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes sind gegenwär-
tig 183 bearbeitet und die zerrissenen Seiten und Vor-
gänge wieder rekonstruiert. Beispiele sind eben auch
schon genannt worden.

Dabei ist deutlich geworden, dass die betreffenden Un-
terlagen vorwiegend aus den letzten Jahren des Staatssi-
cherheitsdienstes stammen und damit einen unmittelbaren

Einblick in die und einen Eindruck von der Tätigkeit des
Ministeriums für Staatssicherheit in dieser politisch und
gesellschaftlich wichtigen und bewegten Zeit ermögli-
chen. Das betrifft sowohl Vorgänge in der DDR als auch
in der Bundesrepublik Deutschland.

Erkennbar wird auch, nach welchen Prioritäten die
Vernichtungsaktionen in der Wendezeit erfolgten. Der
Staatssicherheitsdienst war vor allem daran interessiert,
die zu diesem Zeitpunkt noch tätigen inoffiziellen Mitar-
beiter durch Vernichtung der sie betreffenden Unterlagen
zu schützen. Deshalb bleibt das, was sich die Behörde der
Bundesbeauftragten vorgenommen hat, von Interesse,
auch wenn über konkrete Erwartungen hinsichtlich des
Inhalts und des Wertes der noch zu bearbeitenden Mate-
rialien auf der Basis der bisherigen Erfahrungen im Mo-
ment nur spekuliert werden kann.

Festzuhalten ist ferner, dass über den Einsatz von
Bildauswertungssystemen bei der Rekonstruktion der
vom Ministerium für Staatssicherheit vorvernichteten
Unterlagen erst dann entschieden werden kann, wenn alle
technischen Fragen, also Fragen im Sinne der Anforde-
rungen der Behörde, geklärt sind. Außerdem darf nicht
vergessen werden, dass auch die Finanzierbarkeit gesi-
chert sein muss.

Ich denke, dass wir das alles in Ruhe und Sachlichkeit
diskutieren sollten. Vielleicht ist hierfür eine andere Stelle
viel geeigneter als eine solche öffentliche Plenardebatte.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Rainer Funke [F.D.P.]: Sehr öffentlich!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412722800
Der nächste Redner ist
der Kollege Rainer Funke für die F.D.P.-Fraktion.


Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1412722900
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Auch zehn Jahre nach der Wiederverei-
nigung ist die Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssi-
cherheitsdienstes der DDR noch nicht abgeschlossen.
Das Interesse der Stasi-Opfer an den über sie angelegten
Akten ist ungebrochen, wie die Anfragen gegenüber der
Gauck-Behörde – ich nenne noch ihre alte Bezeichnung –
belegen. Deshalb liegt es nahe, das Aktenmaterial, das
die Stasi in den letzten Tagen der DDR zu vernichten ver-
sucht hat, zu rekonstruieren und seiner Bestimmung nach
dem Stasi-Unterlagen-Gesetz zuzuführen.

Es handelt sich um schätzungsweise 15 000 Säcke
– Herr Körper hat sogar 15 600 Säcke gezählt – mit etwa
33 Millionen Blatt. In mühevoller manueller Kleinarbeit
sind bislang etwa 350 000 Einzelblätter wieder zusam-
mengesetzt und nutzbar gemacht worden. Wenn die Be-
rechnungen zutreffen – da sind wir ziemlich einer Mei-
nung –, dann bräuchten wir für die Rekonstruktion der
Akten 375 Jahre. Das ist etwas lang. Auch wenn wir
100 Jahre weniger bräuchten – was vielleicht möglich
wäre –: Es ist für jedermann offensichtlich, dass mittels
manueller Rekonstruktion eine vollständige Auswer-
tung der Aktenschnipsel in absehbarer Zeit nicht möglich
wäre.




Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper
12256


(C)



(D)



(A)



(B)


Daher erscheint der Antrag der CDU/CSU-Fraktion,
das Verfahren mithilfe moderner technischer Möglichkei-
ten, wie etwa der modernen Bildverarbeitung, zu be-
schleunigen, auf den ersten Blick als folgerichtig. Der
Erschließungszeitraum soll dem Antrag zufolge dadurch
auf fünf bis zehn Jahre verkürzt werden können.

Was im Antrag allerdings verschwiegen wird, sind die
Kosten, die dadurch entstehen würden – nämlich Kosten
in Höhe von 18 Millionen DM.


(Ulla Jelpke [PDS]: Genau! Das würde ich auch sagen!)


Spätestens hier muss man sich die Frage nach dem Kos-
ten-Nutzen-Verhältnis stellen. Als kaufmännisch Täti-
ger bin ich an dieser Frage natürlich interessiert. 18 Mil-
lionen DM sind kein Pappenstil, Herr Büttner. Deshalb
muss die Frage erlaubt sein, ob der zu erwartende Infor-
mationsgewinn derart hoch ist, dass er den Einsatz dieser
Summe rechtfertigt.

Ich muss gestehen, dass die F.D.P.-Fraktion diesbezüg-
lich Bedenken hat. Für Einstellungen in den öffentlichen
Dienst spielen Auskünfte der Gauck-Behörde immer we-
niger eine Rolle. Im Übrigen endet die Möglichkeit, für
diesen Zweck Auskünfte einzuholen, ohnehin im Jahre
2006, sodass bei einem Erschließungszeitraum von fünf
bis zehn Jahren nur ein Teil der rekonstruierten Unterla-
gen hierfür zur Verfügung stünde.

Das macht den hohen finanziellen Aufwand zusätzlich
fragwürdig. Zu berücksichtigen ist auch, dass der Haus-
halt der Gauck-Behörde für das Jahr 2001 im Haushalts-
ansatz ohnehin bereits um 4 Millionen DM aufgestockt
worden ist, wenn auch nur durch höhere Personalausga-
ben bedingt.

Wir werden das Kosten-Nutzen-Verhältnis bei der Be-
ratung des Antrages sorgfältig untersuchen müssen. Wir
nehmen Ihre Einladung zur gemeinsamen Beratung gerne
an. Sie müssen aber wissen, worin unsere Bedenken be-
stehen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412723000
Das Wort hat der Kol-
lege Christian Ströbele für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

legen! Nachdem ich diesen Antrag gelesen hatte, habe ich
nach dem Grund für diesen Antrag gesucht. Ich habe ver-
sucht, mich sachkundig zu machen. Ich dachte, dass bei
der Gauck-Behörde vielleicht schon lange das Bedürfnis
besteht, neue Maschinen einsetzen bzw. dieses Verfahren
einführen zu können, dass sich aber die böse Bundesre-
gierung aufgrund des unendlichen Sparzwanges weigert,
dafür Geld herauszurücken.

Wir haben uns also nach dem Grund erkundigt. Die
Nachricht, die wir – wahrscheinlich auch Sie – daraufhin
von dieser Behörde bekommen haben, war, dass sie das

gar nicht beantragt hat und es dort auch große Zweifel
gibt, ob das überhaupt sinnvoll ist.


(Ulla Jelpke [PDS]: Peinlich!)

Ich frage mich: Warum diskutieren wir dann im Deut-
schen Bundestag darüber?


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Es ist jetzt zwar schon spät am Abend, aber trotzdem wird
man diese Frage stellen dürfen.

Ich bin nun kein Spezialist für Akten der Gauck-
Behörde.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Interpretationskünstler sind Sie!)


Aber ich habe gelernt, dass es mindestens drei verschie-
dene Kategorien von Akten gibt: Zu der ersten Kategorie
gehören die aufgearbeiteten Akten; diese sind zugäng-
lich und werden auf Anfragen von Personen oder Behör-
den zur Verfügung gestellt. Zur zweiten Kategorie
gehören die Akten, mit denen bis heute nicht recherchiert
werden kann. Diese Akten können bei Auskünften über
oder bei Anfragen von Personen aus der ehemaligen DDR
nicht hinzugezogen werden, weil sie noch gar nicht zu-
gänglich sind. Die dritte Kategorie stellen die Papier-
schnipsel dar.

Bei der zweiten Kategorie geht es um 64 000 Meter
– ich habe immer gedacht, da sei vielleicht eine Null zu
viel –, also um 64 Kilometer, Akten. 64 Kilometer sind
ganz schön lang. Ich müsste mit meinem Fahrrad eine
ganze Woche radeln, allein um daran vorbeizufahren


(Rainer Funke [F.D.P.]: Ein bisschen tüchtiger dürften Sie schon sein!)


– ich fahre nicht so schnell –, abgesehen von der Zeit, die
ich bräuchte, um diese Akten zu lesen, damit zu arbeiten.
Diese Akten sind bis heute nicht so aufbereitet, dass man
etwas mit ihnen anfangen kann. Herr Kollege Büttner,
dafür, was man machen kann, um diese Akten schnell der
Gauck/Birthler-Behörde zur Erledigung ihrer Aufgaben
zur Verfügung stellen zu können – diese Akten machen ei-
nen sehr viel größeren Teil aus als die Akten, um die es Ih-
nen mit Ihrem Antrag geht –, haben Sie kein Konzept.

Nein, Sie sagen: „Hier haben wir noch 15 600 Säcke“ –
minus 183 Säcke, da der Inhalt dieser Säcke schon zu-
sammengesetzt wurde. Sie möchten also durch das Zu-
sammensetzen der Seiten für 4 000 Meter Akten zusätz-
lich sorgen. Das macht noch einmal einen halben oder
einen ganzen Tag Radfahren aus. Ich kann wenig Sinn
darin sehen; dies bezieht sich auch auf die Methode.

Dies wurde mir auch von der Gauck-Behörde mitge-
teilt: Man hat sich bei Computerunternehmen erkundigt,
welche modernen Anlagen es gibt, um diese Papier-
schnipsel so aufbereiten zu können, dass man wieder voll-
ständige Seiten hat und etwas damit anfangen kann. Aber
seitens der Behörde wird gesagt: Das nützt uns überhaupt
nichts. Selbst wenn alle diese Seiten wieder zusam-
mengesetzt worden sind – also nicht diese 183 Säcke, son-
dern auch der Rest –, dann werden diese erst einmal zu
den 64 000 Metern Akten gelegt; anders geht es nicht. So-
mit kommen noch einmal circa 4 000 Meter hinzu. Ich




Rainer Funke

12257


(C)



(D)



(A)



(B)


frage mich: Ist es wirklich sinnvoll, dafür 150 Millio-
nen DM auszugeben? Wäre es nicht viel sinnvoller und
richtiger, erst einmal den anderen riesigen Berg an Akten
zugänglich zu machen?

Wir müssen also erst einmal bei der zweiten Kategorie
der Akten weiterkommen. Ich glaube, dass wir uns auf das
Urteil der Fachleute der Gauck/Birthler-Behörde verlas-
sen können. Bisher sagen sie: Wir brauchen eine solche
Anlage nicht. Die Maschinen erleichtern uns allenfalls
das Zusammensetzen der Akten, aber nicht die Verwert-
barkeit, dass man recherchieren kann.

Solange das nicht geschieht, sollte man – so denke
ich – die Arbeit erst einmal darauf konzentrieren – immer
mit dem guten Rat der Gauck-Behörde –, was man
zunächst macht, wofür man zunächst Geld ausgibt und
was man in den nächsten Jahren leisten kann.

Sie haben da eine Rechnung mit 365 oder 375 Jahren
aufgemacht. Sie haben keine Rechnung aufgemacht, wie
lange es eigentlich noch dauert, bis diese 64 000 Meter
Akten der Recherchierbarkeit, der Nutzbarkeit zugeführt
werden können. Das wird wahrscheinlich noch ein viel
längerer Zeitraum sein.

Wir sollten diesen Antrag angesichts der hohen Kosten
und der möglichen Sinnlosigkeit sehr kritisch prüfen, soll-
ten den guten Rat der Gauck-Behörde einholen und soll-
ten fragen: Haltet ihr das wirklich für erforderlich oder ist
es nicht besser, den einen oder anderen Mitarbeiter zu-
sätzlich bei der Gauck-Behörde einzustellen, der erst ein-
mal dafür sorgt, dass man mit dem Material auch etwas
anfangen kann, dass man es zu den Zwecken nutzen kann,
für die es die Gauck-Behörde gibt? Deshalb haben wir
große Skepsis. Aber wir haben noch Gelegenheit, darüber
zu reden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412723100
Die letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Ulla Jelpke für die PDS-
Fraktion.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Die stellt jetzt den Antrag, weitere Schnitzelmaschinen aufzustellen!)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412723200
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Herr Büttner, um es mit den Worten Ihres
Kollegen zu sagen: Als ich diesen Antrag gelesen habe,
habe ich nicht nur gedacht, dass der Inhalt schlecht ist,
sondern auch, dass die Verpackung schlecht ist.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wo bewahren Sie denn die Anträge auf?)


Ich will in aller Kürze versuchen zu begründen, warum
wir diesen Antrag ablehnen werden.


(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Es wäre auch schlimm, wenn Sie dem Antrag zustimmen würden! Dann hätten wir etwas falsch gemacht!)


Erstens. Sie stellen einen zeitlich wie finanziell völlig
unbestimmten Antrag. Sie wollen ein mehrstufiges Aus-
schreibungsverfahren, Prototypen entwickeln lassen usw.
Was das kosten soll, wie lange das dauern soll, das alles
lassen Sie offen. Sie selbst sprechen von einem zu erwar-
tenden Neuheitsgrad der angegebenen Lösung. Ich habe
mich, ehrlich gesagt, gefragt, was das soll. Entweder ken-
nen Sie eine Technologie oder Sie kennen keine. Die
Frage, wie viele Millionen hier verpulvert werden, bleibt
in Ihrem Antrag ebenfalls völlig ungeprüft.

Zweitens. Über alles das, denke ich, könnte man ja
noch diskutieren, wenn Sie Ihren Antrag wenigstens mit
einem dringlichen gesellschaftlichen Bedürfnis begrün-
den würden. Das fehlt völlig. Natürlich gibt es die Inte-
ressen der Opfer der Stasi. Sie haben nämlich ein legiti-
mes Interesse daran, für ihr Leid, für Verfolgung bzw. für
an ihnen begangene Straftaten, entschädigt zu werden.

Um es ganz deutlich zu sagen: Dafür sind auch wir im-
mer eingetreten. Ich weiß nicht, ob Sie in dieser Zeit im
Innenausschuss gefehlt haben. Wir sind zu jeder Zeit
dafür eingetreten, dass die Stasi-Unterlagen für die Öf-
fentlichkeit und für die Opfer zugänglich sein müssen.


(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Deshalb haben Sie damals auch gegen das Gesetz gestimmt!)


– Dazu komme ich gleich. Darüber können wir noch dis-
kutieren.

Auf jeden Fall möchte ich Sie an diesem Punkt erst ein-
mal korrigieren, Herr Büttner. Wie gesagt, ich habe den
Eindruck. Da haben Sie gefehlt.

In diesem Fall geht es tatsächlich auch um die Frage
der Verhältnismäßigkeit, nämlich darum, wie ein Antrag
hier eingebracht wird. Ich habe mir auch die Frage ge-
stellt, warum Sie das im Parlament machen. Ich habe den
Eindruck: Das ist ein rein populistischer Antrag. Ich weiß
nicht, wen Sie damit bedienen wollen. Ich glaube jeden-
falls, dass Sie den Opfern damit keinen großen Gefallen
tun.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Sehr schön, dass die PDS das beurteilt!)


Unabhängig davon: Wir haben immer kritisiert – das
sage ich als jemand, die aus Westdeutschland kommt –,
dass gerade Ihre Fraktion diese Aufarbeitung sehr einsei-
tig betrieben hat.

Ich möchte nämlich daran erinnern, dass Geheim-
dienste in diesem Land überall Daten gesammelt haben.
Ich will das nicht auf eine Ebene mit der Stasi stellen.
Aber es hat immer das Sammeln von Daten gegeben. Es
wurden intime Daten gesammelt. Diese Daten haben bei-
spielsweise in Westdeutschland dazu geführt, dass es in
den 50er-Jahren eine Kommunistenhatz, eine Verfolgung,
Berufsverbote zu Tausenden gab. Diese Akten haben ge-
rade die davon betroffenen Opfer bis heute nicht ein ein-
ziges Mal einsehen können. Ich habe noch nie von Ihrer
Seite gehört, dass Sie dafür eintreten, dass auch diese
Seite der Geschichte aufgearbeitet wird.


(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Ist das Ihr Beitrag zur Regierungsfähigkeit?)





Hans-Christian Ströbele
12258


(C)



(D)



(A)



(B)


– Herr Büttner, seitdem Sie in der Opposition sind, wer-
den Ihre Beiträge von Monat zu Monat schlechter und in-
haltsleerer.


(Beifall bei der PDS – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wir sind ja bald wieder an der Regierung!)


Vielleicht sollten Sie einmal überprüfen, was für eine Op-
positionspolitik Sie hier machen.

Eines ist jedenfalls klar: Geheimdienste stehen immer
in der Gefahr, durch von ihnen angelegte Datensammlun-
gen Menschen- und Bürgerrechte zu verletzen.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412723300
Frau Kollegin Jelpke,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412723400
Ich komme zum Schluss. Solange
die Geschichte hier einseitig aufgearbeitet wird – wobei
wir an sich immer für eine Aufarbeitung der Geschichte
gewesen sind –, ist es nicht korrekt, wenn Sie immer wie-
der versuchen, die PDS in dieses Licht zu rücken. Das ent-
spricht nicht der Realität. Machen Sie erst einmal Ihre
Hausaufgaben, dann können wir weiterreden.


(Beifall bei der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412723500
Ich schließe die Aus-
sprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3770 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf.
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-

gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Straßenverkehrsgesetzes und ande-
rer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften

(StVRÄndG)

– Drucksache 14/4304 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht des Bundesministeriums für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen über Maßnahmen
auf dem Gebiet der Unfallverhütung im
Straßenverkehr und Übersicht über das Ret-
tungswesen 1998 und 1999
– Unfallverhütungsbericht Straßenverkehr
1998/99 –
– Drucksache 14/3863 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kollegin-
nen und Kollegen Rita Streb-Hesse, Eduard Lintner,
Albert Schmidt, Horst Friedrich, Dr.Winfried Wolf sowie
der Parlamentarische Staatssekretär Siegfried Scheffler
haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) – Ich sehe dazu
keinen Widerspruch im Saal.

Interfraktionell wird deshalb jetzt die Überweisung der
Vorlagen auf den Drucksachen 14/4304 und 14/3863 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Auch das
ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer (Hamburg),
Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Für ein fahrradfreundliches Deutschland
– Drucksache 14/3773 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Die Kolleginnen und Kollegen Heide Mattischeck,
Wolfgang Börnsen, Winfried Hermann sowie Hans-
Michael Goldmann haben ihre Reden zu Protokoll
gegeben.2) – Auch dagegen sehe ich keinen Widerspruch.

Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Gustav-Adolf
Schur für die PDS-Fraktion.

Gustav-Adolf Schur (PDS) (von der PDS mit Beifall
begrüßt): Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kol-
legen! Radsportstatistiker wollen herausgefunden haben,
dass ich in meinem Leben circa zehnmal um die Erde ge-
radelt bin.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Edzard SchmidtJortzig [F.D.P.])


Also wird mich wohl kaum jemand für nicht kompetent
halten, wenn ich hier bei einer Diskussion über den Fahr-
radverkehr rede. Vor dem Hintergrund dieser Kompetenz
sage ich: Wir sind für alle Anträge, die den Benutzern von
Fahrrädern irgendwelche Vorteile sichern. Dabei muss
das Fahrrad keineswegs neu erfunden werden. Aber es
muss einiges für diejenigen getan werden, die es benutzen




Ulla Jelpke

12259


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 3
2) Anlage 4

und somit auch, ob bewusst oder unbewusst, etwas für
ihre Gesundheit und die Umwelt tun.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Das sollte eigentlich im Interesse jeder Bundesregierung
liegen, ganz gleich, von welcher Partei sie gestellt wird.


(Ute Kumpf [SPD]: Schröder hat ein Dienstfahrrad bestellt! – Susanne Kastner [SPD]: Ein rotes!)


– Ich möchte sehr um Aufmerksamkeit bitten. – Noch ei-
nes will ich ihnen dazu sagen: Beim Radfahren glätten
sich die Gesichtszüge.

Drei Minuten Redezeit reichen nun nicht aus, um auf
alle zehn Punkte des Antrages einzugehen. Aber ich plä-
diere mit Nachdruck für den geforderten Maßnahmen-
katalog, durch den insbesondere das Unfallrisiko der Rad
fahrenden Kinder reduziert werden kann.

Wir unterstützen auch jeden Schritt, der dazu führt,
dass die Fahrradfreundlichkeit der Deutschen Bahn
zunimmt. Vielleicht hält man uns entgegen, dass in ICE
mit Neigetechnik keine Fahrradständer montiert werden
können.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt nicht!)


Wenn die Ölpreise aber weiter so drastisch steigen, wird
man sich manches einfallen lassen müssen, was man im
Moment noch für abwegig hält.


(Beifall bei der PDS)

Genauso galt noch vor fünf Jahren der von meiner Kol-

legin Enkelmann eingebrachte Antrag als abwegig, der
dafür sorgen sollte, dass eine Planungsgruppe „Fahrrad-
freundliches Regierungsviertel“ installiert wird, um die
Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass zwischen den
Ministerien und dem Bundestag in Berlin auch Fahrrad-
wege angelegt werden. Heute hätte das den Abgeordneten
die Chance geboten, mit gutem Beispiel voranzufahren.
Ich wäre garantiert mit von der Partie gewesen, selbst auf
die Gefahr hin, eine weitere Erdumrundung per Drahtesel
in Angriff nehmen zu müssen.


(Beifall bei der PDS sowie des Abg. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig [F.D.P.] – Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Dann hätten Sie uns aber abgehängt!)


Abwegig war der Antrag nicht deshalb,

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: „Radwe gig“ heißt das!)

weil er schlecht war oder von der PDS kam, sondern weil
er an selbst geschaffenen Tabuzonen rührte und damit jeg-
liche Veränderung utopisch werden ließ.

Ein Beispiel: 1975 – ich wiederhole: 1975! – sagte
Kanzler Helmut Schmidt zum 25-jährigen Jubiläum des
Deutschen Sportbundes, dass der Schulsport in der BRD
miserabel sei.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: „BRD“ hat der bestimmt nicht gesagt!)


Heute, 25 Jahre später, ist er katastrophal,

(Beifall bei der PDS sowie des Abg. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig [F.D.P.])


und zwar deshalb, weil sich alle so lange hinter Bund-
und Länderkompetenzen versteckt haben, bis das An-
liegen auf der Strecke geblieben ist. Wenn dann zusätz-
lich, wie es beim Thema Fahrrad der Fall ist, den Kom-
munen der schwarze Peter zugeschoben werden kann,
dann ist ein genereller Baustopp vorprogrammiert. So
praktizierter Föderalismus führt zu Kleinstaaterei.

Noch einmal: Wir sind für alle Anträge, die fahrrad-
freundlich sind. Wir wollen das Fahrrad nicht neu erfin-
den, sondern nur ordentlich mit ihm fahren. Das geht
schneller. Glauben Sie mir, ich habe da meine Erfahrun-
gen. Ich lade Sie herzlich ein!

Danke.

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412723600
Ich schließe die Aus-
sprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3773 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef
Parr, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Dr. Irmgard
Schwaetzer, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der F.D.P.
Präimplantationsdiagnostik rechtlich absi-
chern
– Drucksache 14/4098 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
F.D.P.-Fraktion fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Zunächst erteile ich dem
Kollegen Detlef Parr für die F.D.P.-Fraktion das Wort.


Detlef Parr (FDP):
Rede ID: ID1412723700
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Wir sind erfreut, bei der Beratung dieses An-
trags fünf Minuten reden zu dürfen, weil wir eine
grundsätzliche öffentliche Debatte über Chancen und Ri-
siken der modernen Fortpflanzungsmedizin in Deutsch-
land für dringend erforderlich halten.


(Beifall bei der F.D.P.)

Frau Nickels, zu diesem Thema gab es bereits im Mai

ein wichtiges Symposium, das das BMG in Zusammen-




Gustav-Adolf Schur
12260


(C)



(D)



(A)



(B)


arbeit mit dem Robert Koch-Institut dankenswerterweise
veranstaltet hat. Das reicht aber nicht. Wir brauchen eine
Diskussion über dieses Thema in diesem Parlament.


(Beifall bei der F.D.P.)

Im Vorfeld des genannten Symposiums hat Frau Mi-

nisterin Fischer zu Recht erklärt – ich zitiere hier gerne –:
Die Möglichkeiten der modernen Fortpflanzungsme-
dizin wecken beim einzelnen Menschen verständliche
Wünsche und finden eine zunehmende Akzeptanz. Al-
lerdings darf die Faszination des Wünschbaren nicht
den Blick für daraus resultierende Gefahren verstellen.
Ich hoffe, dass aus diesem Diskussionsprozess trag-
fähige Lösungen erwachsen, die der Gesetzgeber auf-
greifen kann.

Die F.D.P. eröffnet heute mit ihrem Antrag „Präim-
plantationsdiagnostik rechtlich absichern“ die Debatte
hier im Bundestag. Wir Volksvertreter müssen uns recht-
zeitig mit den aufgeworfenen Fragen auseinander setzen.
Wir müssen rechtzeitig versuchen, die notwendige Trans-
parenz in den wissenschaftlichen Elfenbeinturm zu brin-
gen, um zu den von der Ministerin angesprochenen trag-
fähigen gesetzgeberischen Lösungen zu kommen.

Durch die Präimplantationsdiagnostik ist es möglich,
Embryonen, die mithilfe künstlicher Befruchtung erzeugt
wurden, vor ihrer Einpflanzung in den Mutterleib auf
schwerste genetische Schädigungen zu untersuchen. Da-
mit eröffnet sich für genetisch vorbelastete Paare die
Möglichkeit, sich ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Zum
gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es leider sehr unterschied-
liche Auffassungen, ob das Embryonenschutzgesetz die
Präimplantationsdiagnostik gestattet oder nicht.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412723800
Herr Kollege Parr, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hüppe?


Detlef Parr (FDP):
Rede ID: ID1412723900
Natürlich.

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Allein we gen der Redezeit!)



Hubert Hüppe (CDU):
Rede ID: ID1412724000
Herr Kollege Parr, da
sich die F.D.P. offensichtlich schon sehr intensiv mit der
Präimplantationsdiagnostik beschäftigt hat, darf ich Sie
fragen, ob Sie einen ethischen Unterschied zwischen der
Polkörperdiagnostik und der PID sehen? Können Sie mir
ganz konkret wenigstens eine genetische Krankheit nen-
nen, die mit der Polkörperdiagnostik nicht festgestellt
werden könnte, sondern nur mit der PID?


Detlef Parr (FDP):
Rede ID: ID1412724100
Kollege Hüppe, wir werden diese
Frage im Ausschuss intensiv diskutieren. Ich bin der Mei-
nung, dass die Präimplantationsdiagnostik im Bereich der
Mukoviszidose – Freunde von mir haben ein Kind mit
dieser Schädigung; ich habe mit dem Leiden dieses Kin-
des und dem damit verbundenen Leid der Eltern sehr per-
sönliche Erfahrungen gemacht – ein Beispiel für das ist,
wonach Sie gefragt haben.


(Beifall des Abg. Dr. Max Stadler [F.D.P.] – Zuruf von der SPD: Wissen Sie, dass sich die Mukoviszidose-Gesellschaft dagegen wehrt?)


– Wir werden darüber ja intensiv im Ausschuss diskutie-
ren.

Ich beklage besonders, dass den betroffenen Paaren im
Moment nur die Möglichkeit eröffnet ist, sich ihren
Kinderwunsch mit dieser Methode im Ausland zu erfüllen.
Fast alle europäischen Länder wenden die Präimplanta-
tionsdiagnostik an, Herr Hüppe. Man muss sich fragen,
warum wir in Deutschland so einen Schutzzaun errichten.
Weltweit sind nach Anwendung dieser Diagnostik bisher
424 gesunde Kinder geboren worden. Ganz selbstverständ-
lich wenden wir in Deutschland zurzeit nur die pränatale Dia-
gnostik an. Hier und weltweit steigt die Zahl derer stark an,
die während einer bereits bestehenden Schwangerschaft
mithilfe der pränatalen Diagnostik bestimmte Risiken ab-
klären lassen. Gerade für vorbelastete Paare bedeutet sie al-
lerdings eine sehr große seelische und eine sehr große kör-
perliche Belastung, wenn es – möglicherweise wiederholt –
wegen Gesundheitsgefährdung der Mutter zum Abbruch der
Schwangerschaft kommt. Viele Betroffene ringen sich des-
halb zum Verzicht auf das Kind durch.

Wir erwarten, Herr Hüppe, dass die Präimplantations-
diagnostik nur in sehr begrenztem Umfang zur Anwen-
dung kommt. Wir wollen aber den Paaren, die betroffen
sind, helfen und wirklich dafür Sorge tragen, dass sie
nicht ins Ausland gehen müssen. Es ist eben eine unüber-
sehbare Tatsache: Wenn sich deutsche Paare heute helfen
lassen wollen, dann gehen sie zum Beispiel an die Uni-
versität nach Lübeck und lassen sich dort beraten, um
Hinweise zu erhalten, wie sie sich ihren Kinderwunsch
über Umwege in europäische Nachbarländer erfüllen
können. Das wollen wir zugunsten dieser Paare ändern.
Wir dürfen sie nicht länger mit ihren Problemen alleine
lassen. Wir müssen auch in unserem Land die Möglich-
keit der PID eröffnen. Deswegen möchte ich Sie ganz
herzlich bitten, in den Ausschussberatungen sachlich und
mit der nötigen Ernsthaftigkeit und Seriosität über diese
Frage zu diskutieren.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412724200
Herr Kollege Parr,
auch der Kollege Seifert möchte eine Zusatzfrage stellen.


Detlef Parr (FDP):
Rede ID: ID1412724300
Auch die werde ich gerne zu-
lassen.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412724400
Herr Kollege Parr, Sie sprachen
gerade davon, dass dieses Verfahren nur für ganz wenige
Ausnahmefälle in Anwendung gebracht werden soll. Aber
steht denn nicht in Ihrem eigenen Antrag, dass Sie davon
ausgehen, dass es dann von immer mehr Menschen ge-
nutzt wird, sodass es am Ende eine Art Bevölkerungs-
screening geben wird, also eine Vorauswahl – nicht mehr
Wunschkinder, sondern Kinder nach Wunsch?


Detlef Parr (FDP):
Rede ID: ID1412724500
Das steht ausdrücklich nicht im
Antrag. Wir haben ihn sehr offen formuliert. Wir




Detlef Parr

12261


(C)



(D)



(A)



(B)


schließen aber aus, dass es zu „Kindern auf Bestellung“
kommt. Eine solche Diskussion wollen wir nicht führen.
Dazu darf es sicherlich nicht kommen.


(Beifall des Abg. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig [F.D.P.])


Wir haben die Kriterien beschrieben. Wir haben und
darauf festgelegt, dass die medizinischen Zulassungskri-
terien sehr eng gezogen werden sollen und dass das Straf-
recht ein hohes Schutzniveau und Rechtssicherheit für
alle Beteiligten garantieren soll. All diese Hürden sind
wichtig. Der Indikationsbereich muss sehr eng gezogen
werden, sodass wir mit unserem Antrag hoffentlich keine
Dammbrüche auslösen, die wir gar nicht wollen. Wir wol-
len auf diesem engen Feld zu einer klaren rechtlichen
Regelung kommen. Ich denke, darauf könnten wir uns
auch am ehesten verständigen. Wir beziehen uns dabei un-
ter anderem auf Professor Hepp aus München, der unter
diesen Voraussetzungen die Einführung der PID in
Deutschland für möglich hält.

Ich möchte abschließend noch drei Punkte erwähnen:
Die Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz
hat sich im vergangenen Jahr unter Berücksichtigung des
engen Rahmens für die Erarbeitung einer rechtlichen
Grundlage für die PID eingesetzt. Die Bundesärztekam-
mer hat im Februar dieses Jahres einen Richtlinienentwurf
vorgelegt, der eine eng umgrenzte berufsrechtliche Zulas-
sung der PID anstrebt. Und auch auf dem bereits erwähn-
ten Symposium sind eine Vielzahl von Experten zu Wort
gekommen, die bei Abwägung der rechtlichen, morali-
schen und ethischen Fragen zu dem Schluss kommen, dass
man die Sonderstellung Deutschlands in Europa aufgeben
und die Präimplantationsdiagnostik auch bei uns zulassen
könne.

Ich hoffe, dass wir im Ausschuss eine sachliche, nach
vorne gerichtete Diskussion eröffnen können, damit wir
den Paaren, die wirklich in Nöten sind, in der Weise hel-
fen können, wie es im europäischen Ausland bereits heute
möglich ist.


(Beifall bei der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412724600
Die nächste Rednerin
für die SPD-Fraktion ist die Kollegin Dr. Carola Reimann.

Dr. Carola Reimann (SPD) (von der SPD mit Beifall
begrüßt): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Abends halb zehn in Deutschland: Im Deutschen Bundes-
tag hat die Stunde der Fachleute begonnen. So könnte man
in Anlehnung an eine Werbung sagen. Tatsächlich will ich
Ihnen gleich zu Beginn die ganz große Spannung nehmen:
Die SPD-Fraktion wird dem vorliegenden Antrag nicht
zustimmen.

Wir sind dagegen, kurzfristig einen Bereich aus der ge-
netischen Diagnostik und der Fortpflanzungsmedizin he-
rauszugreifen und dazu ein neues Gesetz zu schaffen. Die
Präimplantationsdiagnostik ist nur ein Teilbereich der ge-
netischen Diagnostik, die sich zurzeit insgesamt mit
großer Dynamik entwickelt. Die Entschlüsselung des ge-
netischen Erbguts, des Genoms, durch das Human-

Genom-Projekt wird in den kommenden Monaten zu Er-
gebnissen führen, die sehr schnell in genetische Testsys-
teme münden werden.

Diese Untersuchungen erkennen monogenetische Er-
krankungen, also Erkrankungen, die auf Veränderungen
eines einzigen Gens zurückzuführen sind, oder Verände-
rungen des Chromosoms ganz allgemein. Die Zahl der
monogenetischen Erkrankungen wird zurzeit auf 4 000
geschätzt. Nicht nur das Angebot an Tests wird schnell
steigen. Auch die Automatisierung der Gentests durch die
Verwendung so genannter Biochips eröffnet in Zukunft
die Möglichkeit einer breiten Anwendung.

Dieser Bereich befindet sich in einem ungeheuren Um-
bruch, ohne dass die juristischen Definitionen, die Sie
jetzt vornehmen wollen, in jedem Augenblick wissen-
schaftlich bestätigt werden können.


(Beifall bei der SPD – Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Im Ausland geht das!)


Allgemein bekannt ist die pränatale Diagnostik.
Hierbei wird der Fötus im Mutterleib untersucht. Die
Präimplantationsdiagnostik untersucht im Gegensatz
dazu nicht nur vorgeburtlich, sondern in vitro, also noch
im Reagenzglas und damit vor der Einpflanzung der be-
fruchteten Eizelle in die Gebärmutter, den Embryo. Allein
das wirft eine Vielzahl von Fragen auf und lässt die Präim-
plantationsdiagnostik in der Fachwelt zu einem sehr um-
strittenen Feld der genetischen Diagnostik werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will an dieser Stelle ausdrücklich die Initiative lo-
ben, für diesen wichtigen Themenkomplex mehr Öffent-
lichkeit zu schaffen, um uns die Gelegenheit zur Debatte
zu bieten. Aber die PID kann nur im Kontext mit der Fort-
pflanzungsmedizin und den ethischen Fragestellungen
der Biomedizin betrachtet werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)


Grundlage und Voraussetzung für die Präimplantations-
diagnostik ist die Durchführung einer künstlichen Befruch-
tung. Künstliche Befruchtungen werden in Deutschland in
etwa 100 so genannten reproduktionsmedizinischen Zen-
tren vorgenommen. Sie können mittels verschiedener Ver-
fahren durchgeführt werden. Allen Verfahren ist gemein-
sam, dass eine Eizelle und eine Samenzelle außerhalb des
Körpers der Frau verschmolzen werden.

Ich will an dieser Stelle noch einmal betonen, dass es
nicht das Ziel der In-vitro-Fertilisation ist, Embryonen
künstlich zu erzeugen, um diese zu testen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ziel dieser künstlichen Befruchtungen ist es vielmehr,
Paaren zu Kindern zu verhelfen, denen auf natürlichem
Wege die Erfüllung ihres Kinderwunsches versagt bleibt.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Wir haben nichts anderes gesagt!)





Detlef Parr
12262


(C)



(D)



(A)



(B)


Aber diese In-vitro-Fertilisations-Techniken haben der
Medizin in den vergangenen Jahren Möglichkeiten eröff-
net, an die zunächst niemand gedacht hat. Bei der Präim-
plantationsdiagnostik werden Embryonen vor der Ein-
pflanzung in die Gebärmutter molekulargenetisch getestet
und auf genetische Veränderungen untersucht. Das Ziel
ist, nur diejenigen Embryonen in die Gebärmutter zu im-
plantieren, die keine genetischen Schäden aufweisen.

In den vergangenen Wochen heizten Berichte aus den
USA über die gezielte Zeugung passender Geschwister
– passend im Sinne medizinischer Kompatibilität – die
Diskussion an und ließen erneut Ängste vor der Zeugung
von Menschen nach Maß entstehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)


Viele von uns beschleichen dabei genau dieselben Be-
fürchtungen, die uns das Klonen von Menschen strikt ver-
bieten lassen, wenn sie von den Möglichkeiten der vorge-
burtlichen Diagnostik und der möglichen Selektion hören.

Sicherlich haben einige von Ihnen noch den Fall der
schwer kranken Sechsjährigen vor Augen, die seit ihrem
zweiten Lebensjahr an einer seltenen Blutkrankheit, der
Fanconi-Anämie, leidet. Im September hat sie einen
Bruder bekommen, der im Reagenzglas gezeugt wurde.
Er wurde aus insgesamt 15 Embryonen durch Präim-
plantationsdiagnostik ausgewählt. Vor der Implantation
in die Gebärmutter ließen seine Eltern testen, ob er
Stammzellen für die Heilung seiner Schwester spenden
kann. Unmittelbar nach der Entbindung wurden aus dem
Nabelschnurblut des neugeborenen Kindes Stammzellen
zur Therapie der schwer erkrankten Schwester gewon-
nen.

Der Fall hat heftige Kontroversen darüber ausgelöst,
ob es ethisch vertretbar ist, außerhalb des Mutterleibs ge-
zeugte Kinder gezielt als Stammzellspender zu verwen-
den.

Die Präimplantationsdiagnostik – kurz PID genannt –
wird in Deutschland nicht durchgeführt, wohl aber in den
USA und in einigen europäischen Nachbarländern, zum
Beispiel in den Niederlanden. Weltweit – Kollege Parr hat
es schon gesagt – sind bislang ungefähr 400 Kinder nach
PID zur Welt gekommen.

In Deutschland wurde im Frühjahr dieses Jahres von
der Bundesärztekammer die kontroverse Diskussion zur
PID in der Fachwelt angestoßen, mit dem Vorschlag einer
Richtlinie zum begrenzten Einsatz der PID auch in
Deutschland.

Für Paare mit schweren Erberkrankungen im fami-
liären Umfeld eröffnet die In-Vitro-Fertilisation in Kom-
bination mit der Präimplantationsdiagnostik die Chance
auf eine Schwangerschaft ohne den Konflikt einer mögli-
chen Abtreibung nach Tests in den ersten Schwanger-
schaftswochen. Aber was ist eine schwere Erbkrankheit,
die es rechtfertigt, die Implantation zu unterlassen? Für
die einen zählt dazu das Down-Syndrom, für die anderen
ist die Stoffwechselerkrankung Mukoviszidose eine
schwere Erbkrankheit.

Bleibt die Präimplantationsdiagnostik gänzlich verbo-
ten, haben Paare mit Kinderwunsch trotz genetischer Vor-
belastung nach wie vor nur zwei Alternativen: Sie können
das Risiko eingehen, ein krankes Kind zu bekommen,
oder sie nehmen den Konflikt eines Schwangerschaftsab-
bruchs in Kauf. Denn nach der Implantation des Embryos
gestattet das geltende Recht den Test und die Abtreibung.
Die Probleme der Paare werden so nicht gelöst.


(Beifall bei der SPD)

Darüber hinaus ist umstritten – das klang schon an –,

ob die PID mit dem Embryonenschutzgesetz vereinbar
ist. Während die Bioethik-Kommission des Landes
Rheinland-Pfalz zu dem Schluss kommt, die Präimplan-
tationsdiagnostik werde durch das Embryonenschutzge-
setz nicht in jedem Fall verboten, wird diese Einschätzung
von anderen Juristen nicht geteilt. Das Embryonenschutz-
gesetz verbietet die fremdnützige Verwendung von Em-
bryonen und die Untersuchung an Embryonen im Stadium
der zellulären Totipotenz. Totipotent ist eine Zelle dann,
wenn aus ihr ein ganzes Individuum entstehen kann. An
diesen Zellen ist daher auch die Untersuchung im Rahmen
der Präimplantationsdiagnostik verboten.

Nach Abschluss des Acht-Zell-Stadiums gelten die
Zellen des Embryos als pluripotent. Untersuchungen im
Stadium der Pluripotenz können demzufolge durchge-
führt werden. Aber auch die Grenzen zwischen Totipotenz
und Pluripotenz werden wissenschaftlich noch diskutiert.
Der Widerspruch in der Bioethik-Kommission in Rhein-
land-Pfalz trat auf, weil die Kommission davon ausgeht,
dass im Acht-Zell-Stadium keine Totipotenz mehr vor-
liegt. Doch diese Annahme wird auch von Wissenschaft-
lerinnen und Wissenschaftlern sehr wohl infrage gestellt.

Bei der Diskussion über Totipotenz und Pluripotenz
sprechen wir im Übrigen über ein Stadium, das im Falle
einer natürlichen Schwangerschaft im Körper der Frau
keiner Untersuchung zugänglich ist. Und noch ein leben-
spraktischer Gesichtspunkt: Bei der Empfängnisverhü-
tung mit Hilfe der Spirale wird der Embryo in genau die-
sem Stadium an der Einnistung in die Gebärmutter
gehindert. Denn der Schutz des Embryos bei einer natür-
lichen Schwangerschaft beginnt erst mit der Nidation, der
Einnistung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutter.
Im Zusammenhang mit der PID wirft das die Frage auf:
Wie ist der Status des Embryos in vitro zu bewerten?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies sind meiner An-
sicht nach die zentralen Konfliktfelder im Bereich der
Präimplantationsdiagnostik. Es sind Fragen, die nicht in
Kürze abschließend beantwortet werden können. Hinter
diesen Konflikten stehen letztendlich zwei Fragen: Gibt
es ein Recht auf ein eigenes Kind? Und wenn ja: Gibt es
einen Anspruch auf ein gesundes Kind? Die Notwendig-
keit einer breiten Diskussion des Themas ist ganz offen-
kundig vorhanden. Denn diese Fragen lassen sich nicht
einfach und zügig beantworten – im Übrigen offenbar
auch von Ihnen nicht. Als das Gesundheitsministerium im
Frühjahr dieses Jahres zur Diskussion einlud, gab es nur
wenig Resonanz; dazu wird Frau Kollegin Nickels sicher
noch Genaueres sagen.

Das Gesundheitsministerium hat im Mai dieses Jahres
eine dreitägige Dialogveranstaltung durchgeführt. Sie




Dr. Carola Reimann

12263


(C)



(D)



(A)



(B)


stellte den Start zur Vorbereitung eines umfassenden Ge-
setzentwurfs zur Fortpflanzungsmedizin dar – es bedurfte
also nicht Ihres Antrages und Ihrer Aufforderung. Bei dem
Symposium wurden unter anderem Fragen zum Status des
Embryos in vitro, der Präimplantationsdiagnostik und der
neuen Möglichkeiten der medizinisch unterstützten Fort-
pflanzung sehr kontrovers diskutiert. Spätestens diese
Veranstaltung machte deutlich: Die Präimplantationsdia-
gnostik kann nicht losgelöst von den Möglichkeiten und
Risiken der medizinisch unterstützten Fortpflanzung dis-
kutiert werden.

Der Bundestag hat darüber hinaus im März dieses Jah-
res eine Enquete-Kommission „Recht und Ethik der
modernen Medizin“ eingerichtet, die sich zurzeit inten-
siv mit der Präimplantationsdiagnostik befasst. Am
13. November wird die Kommission zu diesem Thema
eine Anhörung durchführen. Ich halte es für mehr als ge-
boten, die Empfehlung der Enquete-Kommission zu die-
sem Thema zu hören und zu berücksichtigen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)


Außerdem halte ich es für falsch, nur die Regierung zum
Handeln aufzufordern. Wir versagen uns damit als Parla-
mentarierinnen und Parlamentarier die Möglichkeit, die
Frage im notwendigen Umfang selbst zu beraten.

Wer die Präimplantationsdiagnostik jetzt zu schnell er-
laubt, lässt eventuell eine Selektion zu, die von unserer
Gesellschaft nicht getragen wird. Wer jedoch Eltern mit
einem hohen Risiko zu Erbkrankheiten die Untersuchung
der Embryonen verbietet, nimmt möglicherweise Abtrei-
bungen billigend in Kauf. Auch das kann daher keine be-
friedigende Lösung sein. Außerdem ist für uns alle si-
cherlich klar: Die Entscheidung können und wollen wir
nicht nur Ärzten und Wissenschaftlern überlassen, son-
dern wir wollen eine verbindliche gesetzliche Regelung
hierfür in Deutschland schaffen.


(Beifall bei der SPD)

Vor diesem Hintergrund plädiere ich für eine breit an-

gelegte und intensive Diskussion des komplexen und
zugegebenermaßen nicht ganz einfachen Themas. Wir
wollen ohne jeden Aktionismus zu einer überlegten Ent-
scheidung gelangen, die von einem breiten gesellschaftli-
chen Konsens getragen wird. Zurzeit ist die PID bei uns
verboten, ein hastiges Erlauben der PID – wenn auch auf
bestimmte Gruppen begrenzt – wird dem Problem nicht
gerecht,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


ebenso wenig wie ein schneller Beschluss zur Regelung
eines einzelnen Teilbereiches.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412724700
Frau Kollegin
Dr. Reimann, dies war – zu später Stunde – Ihre erste

Rede, noch dazu zu einem, wie Sie selbst gesagt haben,
nicht ganz einfachen Thema. Im Namen aller Kolleginnen
und Kollegen möchte ich Sie ganz herzlich dazu beglück-
wünschen.


(Beifall)

Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Hubert Hüppe für die CDU/CSU-Fraktion.


Hubert Hüppe (CDU):
Rede ID: ID1412724800
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich möchte vorweg sagen, Herr Kol-
lege Parr: Wenn man schon früher so hätte verfahren kön-
nen, wie Sie es heute vorschlagen – Sie haben das Beispiel
der Mukoviszidose genannt –, hätten das ein Karl Jaspers
oder ein Chopin nicht überlebt; denn beide wiesen das ge-
netische Merkmal für Mukoviszidose auf. Ich denke, es
wäre schlimm, wenn wir uns an der genetischen Ausstat-
tung des Menschen orientieren würden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, die F.D.P. will mit ihrem

Antrag die so genannte Präimplantationsdiagnostik recht-
lich absichern. Das ist aus zwei Gründen für mich relativ
unverständlich: Erstens hat der Bundestag die Enquete-
Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“
gerade deswegen eingesetzt, um mit Sachverständigen
solche Themen eingehend zu beraten. Herr Parr, Sie als
Erstunterzeichner des Antrags müssten das eigentlich
wissen, denn Sie sind ja selbst Mitglied der Enquete-
Kommission. Deshalb müssten Sie eigentlich auch wis-
sen, dass wir am 13. November eine öffentliche Exper-
tenanhörung zu eben diesem Thema durchführen werden.

Der zweite Grund, warum ich diesen Antrag nicht ver-
stehen kann, ist: Die PID ist geregelt, nämlich im Em-
bryonenschutzgesetz, und nach diesem Gesetz ist sie
verboten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 des Embryonenschutzgesetzes dür-
fen Eizellen nur befruchtet werden, um eine Schwanger-
schaft herbeizuführen. Darüber hinaus verbietet § 2 Abs. 1,
dass ein außerhalb des Mutterleibs gezeugter Embryo zu
einem nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck verwen-
det wird.

Wir sollten es also klar und deutlich benennen: Die PID
dient nicht dem Lebenserhalt des Embryos, sondern der
Selektion erbkranken Nachwuchses. Die F.D.P. spricht in
ihrem Antrag mit dankenswerter Klarheit – ich bitte da-
rum, sich diese Wörter besonders vor Augen zu führen –
von „Aussonderung genetisch geschädigter Embryonen“
und deren „Verwerfung“. Dies ist – ich kann es nicht an-
ders nennen – Eugenik.

Es geht auch nicht darum, eine Schwangerschaft her-
beizuführen, was § 1 Abs. 1 Nr. 2 des Embryonenschutz-
gesetzes als Voraussetzung nennt. Die betroffenen Paare
sind vielmehr sehr wohl in der Lage, Kinder zu bekom-
men; sie wissen nur nicht, ob diese möglicherweise gene-
tische Merkmale aufweisen, die ihren Ansprüchen nicht
entsprechen. Es geht also nicht um die Überwindung der
Sterilität, sondern es geht darum, Selektion zu betreiben.




Dr. Carola Reimann
12264


(C)



(D)



(A)



(B)


Das ist der einzige Sinn der PID.
Geradezu naiv ist es, wenn die F.D.P. glaubt, die PID

würde nur mit Blick auf schwere genetische Schäden
angewandt. Die Pränataldiagnostik – einige Beispiele
wurden schon genannt – hat gezeigt, dass das nicht funk-
tioniert. Die neueste Technikfolgenabschätzungsstudie
belegt die ungeheuerliche Erhöhung etwa der Zahl der
Fruchtwasseranalysen bei einem gleichzeitig relativen
Rückgang der Zahl der Beratungen.

Frau Dr. Reimann, es gibt – das steht im Gegensatz zu
dem, was Sie gerade behauptet haben – keine eugenische
Indikation. Es wurde immer gesagt, die Behinderung ei-
nes ungeborenen Kindes reicht als Grund für dessen Tö-
tung nicht aus.


(V o r s i t z: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Wenn es sich anders verhalten sollte, dann müssen wir uns
darüber Gedanken machen, ob es richtig ist, dass im Rah-
men der Pränataldiagnostik alles gemacht werden darf.

Ich möchte auf die Technikfolgenabschätzungsstudie
von 1992/93 zurückkommen. Im Rahmen dieser Studie
wurden 1 157 Schwangere an der Uniklinik Münster ge-
fragt, was sie tun würden, wenn ihr ungeborenes Kind
genetisch zur Fettleibigkeit – es geht also nur um Fettlei-
bigkeit – neigt. 18,9 Prozent der Befragten haben gesagt:
In diesem Fall würde ich mein Kind abtreiben. Ich denke,
das zeigt, dass wir die PID nicht in den Griff bekommen
können.

Im Ausland wird die PID schon zur Geschlechtswahl
eingesetzt. Wer das falsche Geschlecht hat, der wird schon
im Reagenzglas abgetötet. Deshalb ist auch die Argumen-
tation der F.D.P. nicht richtig, die lautet: Wir müssen die
PID anwenden, weil sie auch im Ausland angewendet
wird. Wenn wir dieser Argumentation folgen, dann müs-
sen wir wirklich alles zulassen und dann können wir uns
nur noch auf das niedrigste moralische Niveau einigen,
das von dem Staat bestimmt wird, der das meiste zulässt.
Wir sollten gerade aufgrund unserer Geschichte davor ge-
warnt sein, nicht alles zu machen, was technisch möglich
ist.

Wie weit die PID gehen könnte, wird in einem Inter-
view der „Welt“ mit Professor Diedrich vom 8.März 2000
deutlich – ich zitiere –:

Die Welt: Der Embryo kann aber auch wie seine El-
tern nur Überträger eines Erbleidens sein. Soll er
dann leben oder sterben?
Diedrich: Ich würde dazu raten, den Embryo in die
Gebärmutter zu transferieren. Aber die Entscheidung
müssen die Eltern treffen.

Professor Diedrich – das muss man wissen – gehört zu den
Autoren des Richtlinienentwurfs der Bundesärztekam-
mer. Er will natürlich selber die Methode der PID in Lü-
beck anwenden. Er vermittelt schon jetzt Patienten ins
Ausland. Aber was bedeutet seine Aussage? Sie bedeutet,
dass ein Embryo getötet werden kann, nicht weil er selbst
eine Krankheit bekommt, sondern weil – mit einer ganz
geringen Wahrscheinlichkeit – die nächste Generation,
also das Kind des Embryos, erkranken könnte. Damit

würde man die Eugenik auf die zweite Generation aus-
dehnen. Das zeigt meiner Meinung nach die Gefahr auf,
wie weit die PID gehen kann.

Ich habe schon eben gefragt: Warum reden wir nicht
über die Alternativen, etwa über die Polkörperdiagnose?
Das war auch ein Thema in unserer Arbeitsgruppe der En-
quete „Fremdsamenspende“. Wenn man über dieses
Thema spricht, dann muss man bedenken, dass es auch die
Alternative der Adoption und auch den Verzicht auf Kin-
der gibt. Wir müssen auch den Mut haben zu sagen: Es
gibt keinen Rechtsanspruch auf ein Kind ohne Erbkrank-
heiten. Das Kind hat einen Anspruch, weil es ein Mensch
ist. Zu einer solchen Aussage sollten wir uns durchringen.

Meine Redezeit ist leider zu Ende. Deshalb möchte ich
die F.D.P. zum Schluss auffordern: Ziehen Sie Ihren An-
trag zurück; warten Sie die Ergebnisse der Enquete ab;
öffnen Sie nicht unüberlegt Tore, die wir hinterher nicht
mehr schließen können!

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU der SPD, dem BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412724900
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Ilja Seifert von der
PDS-Fraktion das Wort.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412725000
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Wer die Präimplantationsdiagnostik rechtlich
absichern will, der will sie zulassen. Das kann der einzige
Zweck Ihres Antrages sein. Von offener Debatte, Herr
Parr, kann nicht die Rede sein. Sie wollen ein ganz be-
stimmtes Ziel erreichen und ich kann im Namen der PDS
sagen: Wir wollen dieses Ziel nicht,


(Beifall bei der PDS)

und zwar – viele Gründe sind hier schon genannt wor-
den – aus ganz klaren ethischen Gründen. Der Standort-
grund, den Sie genannt haben, dass angeblich alle rings
um Deutschland herum das machen würden und nur wir
armen, verhungerten Deutschen würden das nicht kön-
nen, kann wirklich nicht das ausschlaggebende Argument
sein. Es tut mir Leid.

Die ethischen Gründe, weshalb wir das nicht wollen,
sind klar benennbar: Die Präimplantationsdiagnostik ist
das Einfallstor für das Kind nach Wunsch. Das Kind wird
dann in Zukunft nicht mehr nur danach ausgesucht wer-
den, ob es ein Junge oder ein Mädchen, ob es blauäugig
oder braunäugig wird. Vielmehr können wir dann auch
Generale oder Models und eines Tages vielleicht auch
Dreibeinige oder Siebenbeinige – ich weiß nicht, was ge-
rade praktischer ist – auf Wunsch bestellen. Es tut mir
Leid, Designermenschen will die PDS nicht.


(Beifall bei der PDS – Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Unglaublich, was Sie da erzählen!)


– Nein, das ist nicht unglaublich,

(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Sie haben nicht zu gehört!)





Hubert Hüppe

12265


(C)



(D)



(A)



(B)


– ich habe sehr gut zugehört –, das ist die Logik, die in der
Entwicklung dieser Technologie steckt.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Der Antrag gibt das nicht her!)


Auch wenn Sie noch so enge Kriterien anlegen wollen:
Wenn Sie es erlauben, muss die gesamte Technik hervor-
gebracht werden; es müssen die Menschen ausgebildet
werden, die das können; es müssen die Apparate herge-
stellt werden, die man dazu braucht; es muss die Logistik
hergestellt werden, die man dazu braucht; und mit dieser
Logistik, mit diesen Menschen, mit diesen Apparaten
kann ich dann auch all das machen, wovon ich gerade als
Horrorvision gesprochen habe. Ich möchte, dass diese
Horrorvision nie Wirklichkeit wird, und ich möchte auch,
dass die Voraussetzungen dafür überhaupt nicht geschaf-
fen werden.

Meine Damen und Herren, wenn Sie von Standortlogik
reden, dann reden Sie bitte von einer Standortlogik, die
menschlich ist und die nicht nur dem Gewinn einiger
Pharmakonzerne, einiger Gerätehersteller und einigen
wenigen Wissenschaftlern dient, die Lorbeeren ernten
und vielleicht den Nobelpreis bekommen, dafür aber die
Menschheit umweltresistent machen. Es tut mir Leid, ma-
chen Sie die Umwelt resistent, aber nicht die Menschen
umweltresistent.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der PDS sowie der Abg. Monika Knoche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412725100
Zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Professor
Edzard Schmidt-Jortzig von der F.D.P.-Fraktion das Wort.


Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (FDP):
Rede ID: ID1412725200
Vielen Dank.
Ich hatte mich an sich schon beim Kollegen Hüppe ge-

meldet, aber im Grund geht das, was ich sagen will, auch
an Ihre Adresse, lieber Kollege Seifert.

Ich glaube, Sie missverstehen unseren Antrag. Es geht
nämlich darum, für dieses hochproblematische Feld klare
Regelungen einzufordern. Es ist natürlich sehr ehrenvoll,
aus der geltenden Rechtslage heraus zu sehen: Es ist alles
verboten, also findet es nicht statt. Das Gegenteil ist aber
der Fall. Sie wissen wie ich, dass man über die Regelun-
gen im Embryonenschutzgesetz anderer Meinung sein
kann und dass zumindest der Verdacht besteht, dass auch
in Deutschland schon PID betrieben wird. Sie kennen die
Presseerklärung, in der die Vermutung geäußert wird, dass
auch bei uns in Deutschland eine hohe Zahl von künstlich
erzeugten Embryonen existiert. Wie anders könnten sie
entstanden und implantiert sein, wenn man nicht doch an
dem Embryonenschutzgesetz herumhantieren könnte?

Also, ich bitte doch darum, unseren Antrag ernst zu
nehmen und zu erkennen, dass wir auf einer verlässlichen
Rechtsgrundlage bestehen wollen, dass die Ergebnisof-
fenheit das Entscheidende bei diesem Antrag ist und noch
nicht festgestellt wird, wie es laufen sollte.

Ich finde es eigentlich auch nicht gut, obwohl ich dafür
Verständnis habe, dass Sie beklagen, man werde hier der

Enquete-Kommission irgendetwas vorwegnehmen, weil
jetzt gerade – das ist ja richtig – die Expertenanhörung
dazu stattfinde. Aber bei Ihnen habe ich den Eindruck,
dass Sie schon vor der Expertenanhörung und vor dieser
Diskussion ganz genau wissen, wohin es gehen soll. Das
mag ja sein, aber dann werfen Sie bitte anderen nicht vor,
dass das bei denen möglicherweise anders ist. Ich sage Ih-
nen ausdrücklich: Es besteht Ergebnisoffenheit; nur, wir
wollen eine definierte Regelung dafür. Die brauchen wir,
gerade wenn diese Entwicklungen tatsächlich so gefähr-
lich sind, wie sie sich darstellen.


(Beifall bei der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412725300
Herr Kol-
lege Hüppe, bitte.


Hubert Hüppe (CDU):
Rede ID: ID1412725400
Herr Kollege Professor
Schmidt-Jortzig, man braucht schon sehr viel Fantasie,
um den Antrag so auszulegen, dass die F.D.P. möglicher-
weise auch zu dem Ergebnis kommen könne, die PID
nicht zuzulassen.

Wenn man die Rede von Herrn Parr – darauf habe ich
mich ja bezogen – gehört hat, weiß man, dass er gesagt
hat: Wir wollen das, was Paare im Ausland tun, auch deut-
schen Paaren hier in Deutschland ermöglichen. Man sollte
doch schon ehrlich sagen, worum es geht.

Herr Schmidt-Jortzig, Sie waren bei der Beratung am
Montag anwesend, auf der wir dies besprochen haben.
Die beiden Sachverständigen sagten dort, dass die PID
nach der jetzigen Regelung des Embryonenschutzgeset-
zes verboten sei. Nehmen Sie das doch zur Kenntnis!

In der Tat – das ist ja das Schlimme – gibt es die Ver-
mutung, dass es schon heute überzählige Embryonen in
Deutschland gibt. Das weiß aber niemand offiziell. Nie-
mand sagt es. Es gab dazu eine Anfrage des Kollegen
Kauder von der CDU/CSU, aber auch die Bundesregie-
rung konnte nicht sagen, wie viele Embryonen es hier
gibt.

Lassen Sie uns doch darüber sprechen, wie wir den
Missbrauch – darüber, dass es Missbrauch ist, sind wir
uns doch einig – in den Griff bekommen. Wie können wir
diejenigen, die Gesetze brechen – denn es verstößt gegen
das Embryonenschutzgesetz –, strafrechtlich besser ver-
folgen? Lassen wir uns doch nicht dazu hinreißen zu sa-
gen: Weil es einige missbrauchen, müssen wir es jetzt für
alle zulassen. – Das kann nicht richtig sein; denn es gibt
keine Gleichheit im Unrecht, sondern wir müssen das Un-
recht bekämpfen, damit die, die sich vernünftig verhalten
und das Embryonenschutzgesetz richtig anwenden, nicht
denen gegenüber benachteiligt werden, die nur Geschäfte
machen und die sogar mit menschlichem Leben Ge-
schäfte machen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412725500
Kollege
Seifert, bitte.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412725600
Herr Kollege Schmidt-Jortzig,
ich bin Ihnen ja dankbar für Ihre Intervention und es tut




Dr. Ilja Seifert
12266


(C)



(D)



(A)



(B)


mir wirklich Leid, aber ich habe keinen Anlass, die Er-
gebnisoffenheit Ihres Antrages zu erkennen. Darin steht –
ich kann es gern zitieren –:

Insbesondere ist die Möglichkeit zu würdigen, mit-
hilfe der Präimplantationsdiagnostik zum frühest-
möglichen Zeitpunkt schwerste genetische Schädi-
gungen ... zu verhüten.

Das heißt, Sie gehen erst einmal davon aus, dass es zuge-
lassen wird, und sagen dann, was damit gemacht wird.

Sagen Sie bitte einmal: Was ist denn eine „schwerste
genetische Schädigung“? Wir haben bei der letzten An-
hörung der Enquete-Kommission gehört, dass sich die
statistische Lebenserwartung von Menschen, die Muko-
viszidose haben, immer weiter erhöht. Wir haben von
Menschen gehört, die schon ihr Leben lang mit so ge-
nannten schwersten genetischen Schädigungen leben, und
dass es unter Umständen andere Krankheiten gibt, die sie
eben wegen dieser Schädigungen nicht bekommen.

Das, was Sie schwerste genetische Schädigungen nen-
nen, ist Teil des Menschseins, wenn man die Menschheit
nicht auf eine Norm reduzieren will. Allein diese Wort-
wahl zeigt, dass es bei Ihnen überhaupt nicht um eine
ergebnisoffene Diskussion geht. Ich habe kein Hehl da-
raus gemacht, dass mein Ergebnis feststeht; das ist wahr,
dafür schäme ich mich auch nicht. Ich bin dafür, be-
stimmte Dinge nicht zu tun, weil sie nicht mehr zurück-
zuholen sind, wenn sie einmal in der Welt sind, und weil
die Gefahren, die davon ausgehen, mindestens so groß
sind wie die, die von der Atombombe ausgehen. Das will
ich nicht und das will die PDS nicht.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412725700
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Annette Widmann-
Mauz von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Annette Widmann-Mauz (CDU):
Rede ID: ID1412725800
Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Klage da-
rüber, dass wir ungefragt ins Leben geworfen werden, ist
gewiss nicht neu. Sie bekommt aber einen neuen Adres-
saten. Mit der Präimplantationsdiagnostik stehen wir im
Begriff, Hand an uns zu legen. Der Mensch als Züchter
seiner selbst? Homo faber – Fluch oder Segen?

Statt es dem Zufall der Natur zu überlassen, bestimmt
immer häufiger wissenschaftliche Präzision den berech-
tigten Kinderwunsch vieler Eltern. Im Reagenzglas ge-
zeugte Embryonen sind dabei nicht nur eine Hoffnung für
unfruchtbare Paare, sondern jetzt auch für Paare mit ho-
hem genetischen Risikofaktor. Ich bin mir der leidvollen
Erfahrung von Eltern bewusst, die nach vielen Jahren der
seelischen Belastung durch PID endlich Hoffnung auf ein
gesundes Kind haben.

Aber es gibt auch Eltern, die das „qualitativ hochwer-
tige“ Kind wollen. Erste Erfahrungen im Ausland, insbe-
sondere in den USA, zeigen, dass PID nicht nur bei erb-
kranken Menschen, sondern mittlerweile auch zum
Menschendesign eingesetzt wird. Wunschbabys aus dem
Internet. Kalifornische In-Vitro-Labors machen das heute
schon möglich. Die Eltern kreuzen ihre Optionen an: eu-

roamerikanisch, asiatisch oder afrikanisch, intelligent und
natürlich wohlgeformt – alles nur eine Sache des Preises.
Mir geht es hier aber nicht um Designerbabys. Ich glaube,
wir sind uns in diesem Hohen Hause einig, dass wir alle
keine Menschenzüchtung wollen; das dürfen und das wer-
den wir nicht zulassen. Genau darum geht es ja auch der
F.D.P. in ihrem Antrag.

Aber wir haben eine klare rechtliche Einordnung der
PID. Sie ist nach unserem Embryonenschutzgesetz nicht
zulässig. Die Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P.
müssen sich schon sagen lassen, dass sie mit diesem An-
trag den zweiten Schritt vor dem ersten machen. Bevor ein
Fortpflanzungsmedizingesetz beraten wird, müssen wir
zunächst einmal klären, ob wir eine Zulassung der PID
überhaupt wollen, und wenn ja, inwieweit und unter wel-
chen Bedingungen. Die Frage, die sich mir dabei ganz
grundsätzlich stellt und die wir zunächst beantworten
müssen, lautet: Kann es ein Recht auf gesunde Kinder ge-
ben?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

In Deutschland gibt es bisher keine breite gesellschaft-

liche Diskussion über PID. Die heutige Debatte ist ein An-
fang, aber mehr auch nicht. Noch zu viele Fragen und Wi-
dersprüche stehen im Raum. Genau deshalb haben wir ja
auch die Enquete-Kommission zu diesem Thema einge-
richtet.

Ist es nicht widersprüchlich, einen künstlich gezeugten
Embryo bis zu seiner Implantation strikt zu schützen, ihn
dann aber im weiteren Verlauf der Schwangerschaft auf-
grund des § 218 Abs. 2 Strafgesetzbuch praktisch schutz-
los zu machen?


(Beifall des Abg. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig [F.D.P.] – Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Sogar bis zur Geburt!)


Bis zu einem sehr späten Zeitpunkt kann ein Fötus ab-
getrieben werden, wenn nach einer pränatalen Diagnostik
Risiken zu erwarten sind. Die Tatsache, dass derselbe Em-
bryo auf diese Weise im Reagenzglas höheren Schutz als
später im Mutterleib genießt, lässt sich kaum bestreiten.
Andererseits besteht zugleich ein Unterschied. Die PND
hat eine lebenserhaltende Funktion. Sie hat das Ziel,
Schädigungen von Mutter und Kind zu vermeiden. Die
PID indes will Kinder mit Schädigungen vermeiden. Sie
bewirkt Selektion. Eine ethische Gleichsetzung fällt da
schwer.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412725900
Frau Kol-
legin Widmann-Mauz, lassen Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Knoche zu?


Annette Widmann-Mauz (CDU):
Rede ID: ID1412726000
Ja.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412726100
Bitte
schön, Frau Kollegin Knoche.


Monika Knoche (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412726200

Frau Kollegin Widmann-Mauz, Sie haben in Ihren Darle-
gungen etwas angesprochen, was in der öffentlichen




Dr. Ilja Seifert

12267


(C)



(D)



(A)



(B)


Diskussion – erstaunlicherweise insbesondere durch die
Ärzteschaft – transportiert wird, dass nämlich ein direkter
Zusammenhang zwischen dem Dienstleistungsangebot
der Ärzteschaft, eine Präimplantationsdiagnostik durch-
zuführen, und dem § 218 StGB hergestellt wird. Sind Sie
mit mir der Meinung, dass es nach dem gültigen § 218
StGB im Grunde keinen geschützteren Ort für einen Em-
bryo als den Mutterleib gibt und dass es darüber hinaus
eine völlig andere Sache ist, ob eine Frau mit dem Wissen
um die genetische Beschaffenheit ihres noch nicht gebo-
renen Kindes einen existenziellen Schwangerschaftskon-
flikt erlebt und sich dann entscheidet, ob sie ein Kind aus-
tragen kann oder nicht? Es gibt also ein völlig anderes
Konflikt- und strafrechtliches Behandlungsfeld in Zu-
sammenhang mit § 218 StGB als bei der Tatsache, dass
ein in der Petrischale existierender Embryo auf einen fik-
tiven Wunsch hin getestet und vielleicht verworfen wird.


Annette Widmann-Mauz (CDU):
Rede ID: ID1412726300
Frau Knoche,
ich kann Ihnen zustimmen, dass es in der Frage der Aus-
legung des § 218 StGB einen direkten Zusammenhang
und eine vergleichbare Beurteilung des Lebens im Rea-
genzglas und des Lebens im Mutterleib so nicht gibt. Für
viele betroffene Eltern stellt sich die rechtliche Einord-
nung, die für uns auch die ethische Grundlage ist, nicht in
dem Maße. Sie haben den berechtigten Wunsch, ein ge-
sundes Kind zu bekommen. Ich denke, ich habe in meinen
Ausführungen deutlich gemacht, dass der berechtigte
Wunsch noch nicht das Recht auf ein gesundes Kind und
damit die Selektion anderer Kinder, die dann nur zum
Zwecke der Aussonderung auf die Welt gekommen
wären, bedeuten kann.

Deshalb glaube ich, dass es wichtig ist, dass wir die
Ängste und Sorgen der betroffenen Eltern sehr ernst neh-
men, aber auch deutlich machen, dass es ein Unterschied
ist, ob ein Kind schon entstanden ist und man nun die
Sorge hat, ob es gesund zur Welt kommt, oder ob man von
vornherein den Wunsch hat, lediglich ein gesundes Kind
zur Welt zu bringen. Ich denke, dass das klar ist und dass
wir an dieser Stelle übereinstimmen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die guten Absichten der Bundesärztekammer, den Ein-

satz der PID auf Paare mit hohem genetischen Risikofak-
tor beschränken zu können, sind Wunschdenken. Das se-
hen im Übrigen viele Mitglieder der Bundesärztekammer
ähnlich. Die Spirale des technisch Machbaren wird sich
weiter drehen. Stärker noch als bei der PND wird der
Druck auf betroffene Paare immer größer. Die Büchse der
Pandora droht dabei weiter geöffnet zu werden.

Die Hemmschwelle, sich gegen ein behindertes Kind
zu entscheiden, ist sicherlich geringer – dies zeigen auch
Interviews der letzten Tage –, wenn der Embryo sozusa-
gen „nur“ im Reagenzglas und noch nicht im Körper der
Frau existiert. Müssen wir aber nicht die Sorge haben,
dass mit den Behinderungen auch Behinderte abgeschafft
werden sollen? Kann es der Gesellschaft gelingen, präna-
tale Selektion zu betreiben und gleichzeitig Behinderten
postnatale Solidarität zu garantieren?

Allein anhand dieser zwei Fragen wird deutlich, wie
vielschichtig und sensibel die Diskussion ist. Die Gesell-

schaft – das heißt wir alle – muss sich ganz grundsätzlich
darüber verständigen, ob das Verbot der PID im Embryo-
nenschutzgesetz weiterhin Bestand haben soll. Bevor wir
diesen Schritt nicht getan haben, macht auch der Antrag
der F.D.P. keinen Sinn.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412726400
Als letzte
Rednerin hat für die Bundesregierung die Parlamentari-
sche Staatssekretärin Christa Nickels das Wort.

C
Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412726500
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Es ist schon sehr verwunderlich,
dass die F.D.P. mit ihrem Antrag heute das Thema
„Präimplantationsdiagnostik“ auf die Tagesordnung des
Parlamentes setzt. Ich teile ausdrücklich die Meinung, die
Sie, Frau Widmann-Mauz, gerade dargelegt haben. Die
Gründe sind absolut einleuchtend; darum wundert mich
das Verhalten der F.D.P. sehr.

Es ist das gute Recht der Opposition, die Regierung
zum Handeln aufzufordern. Aber ich kann nicht nach-
vollziehen, warum sie sich dazu Themen aussucht, die
existenzielle Fragen berühren und an denen – das möchte
ich betonen – die Regierung schon längst und mit großer
Sorgfalt arbeitet.

Wie jeder weiß, befand sich das Bundesministerium
für Gesundheit zusammen mit anderen Ressorts in einem
sechsmonatigen intensiven Vorbereitungsprozess, um im
Mai einen dreitägigen großen Kongress zur Fortpflan-
zungsmedizin durchführen zu können. Wir hatten über
600 Teilnehmer aller Disziplinen und Fachrichtungen so-
wie – was uns sehr wichtig war – der gesellschaftlichen
Verbände und der Betroffenen. Man redet ja immer davon,
man wolle Leid vermeiden. Wir haben den Behinderten
dort ausdrücklich die Möglichkeit gegeben, sich mit
ihrem Sachverstand und ihrer Erfahrung einzubringen.

Dieser Kongress hat in der Fachwelt und bei all denen,
die an diesem Thema politisch interessiert sind – das sind
natürlich in besonderer Weise die behinderten Men-
schen –, in hohem Maße Aufmerksamkeit erzeugt. Ich
glaube – das ist hier parteiübergreifend gesagt worden –,
dass wir mit diesem Kongress eine neue Qualität der De-
batte um die Fortpflanzungsmedizin in Deutschland er-
reicht haben, und zwar auf dem aktuellen Stand.

Am Ende der Veranstaltung war klar – das ging auch
schon seit 1994 aus der Tatsache hervor, dass Kompeten-
zen, die der Bund im Bereich der Fortpflanzungsmedizin
bis dahin nicht hatte, dem Bund grundgesetzlich zu-
geschrieben worden sind, wir also auch bestimmte, bisher
nicht geregelte Bereiche regeln mussten –, dass es einen
Bedarf an neuen gesetzlichen Regelungen im Bereich der
Fortpflanzungsmedizin gibt und wir daran arbeiten müs-
sen.

Seither werden im Ministerium die Vorbereitungen für
den Gesetzgebungsprozess getroffen, und auch in der
vom Bundestag eingesetzten Enquete-Kommission – da-
rum, Herr Parr, ist das, was Sie sagen, nicht richtig, dass




Monika Knoche
12268


(C)



(D)



(A)



(B)


dieses Thema mit Ihrem doch sehr bescheidenen kleinen
Antrag hier im Parlament zum ersten Mal auf die Tages-
ordnung gesetzt wird – wird in einer äußerst soliden De-
batte, intensiv und mit einem Arbeitsprogramm, das auch
wirklich detailliert abgesprochen, hoch kompetent ausge-
legt ist und nicht an Effekthaschereien anknüpft, die die-
ses Thema nicht verträgt, über diese Probleme diskutiert.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412726600
Frau Kol-
legin Nickels, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Schmidt-Jortzig?

C
Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412726700
Ja, bitte schön.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412726800
Bitte
schön, Herr Schmidt-Jortzig.


Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (FDP):
Rede ID: ID1412726900
Ich habe nur
eine ganz kleine und schlichte Frage. Wenn das alles so
des Teufels ist, warum arbeitet das Ministerium an einem
Gesetzentwurf zur Fortpflanzungsmedizin?

C
Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412727000
Lieber Herr Kollege
Schmidt-Jortzig, ich weiß nicht, ob Sie mir richtig zu-
gehört haben. Ich habe überhaupt nicht erklärt, dass das
alles des Teufels sei. Das wäre auch völliger Unsinn.


(Lachen bei der F.D.P. – Dr. Edzard SchmidtJortzig [F.D.P.]: Das habe ich bisher so gehört!)


Das können Sie weder aus meiner Rede, noch aus meiner
Arbeit, die ich bisher im Ministerium geleistet habe, noch
aus der Arbeit des Ministeriums ableiten. Ich habe darge-
legt, wie intensiv, gründlich und mit der Enquete-Kom-
mission abgestimmt, wir arbeiten. Ich habe weiter darge-
legt, dass aufgrund dieses rasanten Fortschrittes, der auch
viele Bereiche ungeregelt lässt, und durch die neuen
Kompetenzen, die der Bund seit 1994 hat, bestimmte Be-
reiche neu geregelt werden müssen. Das, was Sie mit Ih-
rer Frage ausgedrückt haben, können Sie aus dem, was ich
gerade gesagt habe, überhaupt nicht ableiten. Ich würde
Sie auch bitten, meine Rede einmal nachzulesen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Richtig ist: Wir wollen weiterhin in aller Sorgfalt an
der Lösung der Probleme arbeiten. Wir bereiten im Mi-
nisterium diese notwendigen Regelungen vor und – ich
sagte es schon – wir versuchen das auch mit der Enquete-
Kommission abzustimmen, weil es eben ein sehr wichti-
ges Thema ist.

Mit diesen Regelungserfordernissen sind schwierigste
rechtliche, ethische und gesellschaftspolitische Fragestel-
lungen verbunden. Darum ist das übliche Verfahren – die
Regierung macht einen Gesetzentwurf, den dann die
Mehrheit nach Debatte und Beratung in den Ausschüssen
und mit eventuellen Ergänzungen im Bundestag be-

schließt – hier für uns ausgeschlossen. Wir im Gesund-
heitsministerium halten das Thema für so außerordentlich
wichtig, dass wir eine breite Debatte über die Fraktions-
grenzen hinweg für notwendig erachten – ähnlich wie das
auch im Bereich der Organtransplantation geschehen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Bundesministerin Andrea Fischer hat genau aus die-

sem Grund bereits am 30. Juni dieses Jahres – liebe Kol-
legen von der F.D.P., ich würde Sie bitten, sich das einmal
zu merken und in Ihrer Fraktion nachzufragen – allen
Fraktionen des Deutschen Bundestages angeboten, einen
Gedankenaustausch über die weitere Vorgehensweise bei
diesem Gesetz zu führen. Eine Reaktion vonseiten der
Opposition steht aber bis heute noch aus. Lediglich die
PDS hat sich positiv zu diesem Anliegen geäußert. Dage-
gen hat die Ministerin vonseiten der Union oder von der
F.D.P. keine Antwort zu diesem wichtigen Thema erhal-
ten. Es wundert mich sehr, dass Sie auf dieses Angebot
überhaupt nicht eingehen, aber dann hier mit einem wirk-
lich bescheidenen Antrag vorpreschen und auch noch be-
haupten – völlig zu Unrecht –, sie seien diejenigen, die
diese Debatte initiierten. Ich finde, bestimmte Bereiche
sollten von parteipolitischem Kalkül einfach verschont
bleiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)


Es ist schon sehr viel zum Inhalt des Antrages gesagt
worden. Ich will das nicht wiederholen. Sie, Herr Parr, ha-
ben auf eine entsprechende Frage von Herrn Kollegen
Hüppe als Beispiel für eine Präimplantationsdiagnose die
Mukoviszidose genannt. Ich verstehe nicht, dass Sie das
als Beispiel nehmen. Ich finde, dass der Herr Kollege
Seifert Recht hat. Sonst ist gerade die F.D.P. immer dieje-
nige Fraktion, die sehr stark auf die Möglichkeiten des
medizinischen und technischen Fortschritts verweist.
Herr Kollege Seifert hat Recht: Gerade im Bereich der
Mukoviszidose hat die Medizin erfreulicherweise er-
staunliche Fortschritte erzielt, um die Folgen dieser Er-
krankung zu lindern und das Leben für die Betroffenen le-
benswert zu machen.


(Beifall der Abg. Monika Knoche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] Ich möchte nun noch eine sehr beeindruckende Erfahrung aus dem dreitägigen Symposium vortragen. Auf diesem Kongress hat ein Professor Bilder des Gesichtes eines kleinen Babys an die Wand geworfen und dann gefragt: „Sehen Sie das Leid in den Augen dieses Kindes? – Hätte es eine PID gegeben, dann wäre dieses Leid vermieden worden.“ Dann ist etwas passiert, was wirklich nur passieren konnte, weil Menschen, die selber Träger von Behinderungen sind, da waren. Es ist ein Rollstuhlfahrer vorgefahren – sehr empört, aber sehr ernst – und hat gesagt: Herr Professor, wissen Sie eigentlich, was Sie da gesagt haben? Was Sie da gesagt haben, bedeutet für mich, der ich seit über 40 Jahren mit einer existenziellen Behinderung lebe, dass ich eigentlich gar nicht leben dürfte. Ich bestreite Ihnen das Recht, zu werten, dass mein Leben Parl. Staatssekretärin Christa Nickels 12269 leidvoll ist und dass ich es nicht ertragen kann. Ich leide an der Ignoranz der Gesellschaft und der Menschen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der PDS)





(C)


(D)


(A)


(B)


die nicht bereit sind, zum Beispiel durch barrierefreies
Bauen dafür Sorge zu tragen, dass wir trotz bestimmter
Einschränkungen am Leben teilhaben können. Meine Er-
krankung nimmt mir nicht die Möglichkeiten zur Le-
bensfreude und zur Teilhabe, sondern die Ignoranz, die
in der Gesellschaft noch immer vorherrscht. – Diese
Worte waren sehr eindrucksvoll. Mit diesem Beispiel
wollte ich die Problematik, um die es hier geht, verdeut-
lichen.

Herr Kollege Parr, Sie haben gesagt, dass Sie nicht ver-
stehen, warum sich die Bundesrepublik Deutschland auf
diesem Gebiet so schwer tut, und haben gefragt, warum
wir diese Sonderregelung brauchen. Dazu möchte ich Fol-
gendes sagen: Es gab in Deutschland zwölf schreckliche
Jahre. Es ist ein positives Ergebnis, dass wir folgende
Lehre aus der Geschichte gezogen haben: Wenn es um
grundsätzliche Fragen der Menschenwürde und um
grundlegende ethische Fragen geht, dann sind wir glück-
licherweise sehr vorsichtig und besonnen. Dieses Erbe
sollten wir nicht verspielen, sondern nutzen. Parlament
und Ministerium stehen in diesem Punkt in gutem Gleich-
klang.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412727100
Ich
schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4098 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung soll
abweichend von der Tagesordnung beim Ausschuss für
Gesundheit liegen. Sind Sie damit einverstanden? – Das
ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 sowie den Zu-
satzpunkt 12 auf:
14. Beratung des Antrags Dr. Norbert Lammert, Dirk

Fischer (Hamburg), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses
– Drucksache 14/3673 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Pau,
Heinrich Fink, Roland Claus und der Fraktion der
PDS
Arbeitsweise der Expertenkommission His-
torische Mitte

– Drucksache 14/4402 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Vertreter
der Fraktionen SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen
und F.D.P. wollen ihre Reden zu Protokoll geben.1) Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.

Ich eröffne die Aussprache und rufe den Redner der
PDS-Fraktion, Herrn Professor Dr. Heinrich Fink, auf.
Ihm stehen allerdings aufgrund der Vereinbarung nur drei
Minuten Redezeit zur Verfügung.


Dr. Heinrich Fink (PDS):
Rede ID: ID1412727200
Sehr verehrter Herr Präsi-
dent! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir
heute zum wiederholten Male über das Areal des heutigen
Schlossplatzes sprechen, so deshalb, weil es einen bekla-
genswerten Grund dafür gibt: Der Schlossplatz ist heute
die architektonische Wunde im Herzen Berlins. Gleich
dreifach war die Bebauung dieses Platzes im abgelaufe-
nen Jahrhundert in das Räderwerk von Geschichte, Poli-
tik und Ideologie geraten wie wohl keine andere in dieser
Stadt: zum ersten Mal, als vom Stadtschloss gegen Ende
des von Hitlerdeutschland entfesselten Weltkrieges sym-
bolhaft nur eine Ruine blieb – die Ruine hätte man aller-
dings aufbauen können –; zum zweiten Mal, als man in
der DDR gegen den Wiederaufbau der Schlossruine ent-
schied und später den Palast der Republik errichtete;
zum dritten Mal, als die heute Regierenden diesen Platz
mit dem Palast wohl nicht ganz ohne Absicht durch
Untätigkeit zum Schandfleck verkommen ließen.

So beklagenswert jede der erwähnten Zäsuren in der
Geschichte des Schlossplatzes im Nachhinein sein mag,
so wenig Verständnis kann ich für die nunmehr zehn-
jährige Verweigerung seiner Neugestaltung aufbringen.
Die PDS erwartet daher als vordringlichste Aufgabe, dass
die schon so lange angekündigte Expertenkommission
nun endlich zusammentritt und mit ihrer Arbeit beginnt.


(Beifall bei der PDS)

Damit dies in konstruktiver Weise geschieht, sollte sie
nicht mit Vorgaben belastet werden, die ihr die Erkennt-
nisfreiheit zur Lösung der Frage von Palast und/oder
Schloss schon von vornherein beschneiden.

Ich erwähne den Palast, weil im Antrag der CDU da-
von sicherlich ganz bewusst keine Rede mehr ist. Wenn
ich mich für die Entscheidungsfreiheit der Kommission
ausgesprochen habe, so beziehe ich mich auf die schluss-
endliche bauliche Substanz auf dem Schlossplatz und auf
ihre Kubatur. Unabhängig von der letztendlichen archi-
tektonischen Lösung sollte aus Sicht der PDS die funk-
tionelle Bestimmung des Schlossplatzareals ein Ziel ha-
ben: Es sollte als Teil des Dreiecks Regierungsvier-
tel – Potsdamer Platz – Historische Mitte der öffentlichen




Parl. Staatssekretärin Christa Nickels
12270


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 5

Nutzung vorbehalten bleiben, und zwar nicht teilweise,
nicht maßgeblich, sondern in seiner Gesamtheit.


(Beifall bei der PDS)

Das war schon einmal so: Berlins Mitte wurde von sei-

nen Bürgern und ihren Gästen angenommen und verlangt
nach der Wiedervereinigung geradezu danach, es wieder
zu werden. In diesem Sinne ist auch das Anliegen enga-
gierter Bürger wie der Initiative „Pro Palast“ zu verstehen,
zu der sich Menschen aus Ost und West vereinigt haben
und die für eine Zugangsmöglichkeit für alle Bürger, wie
sie auch beim Palast der Republik gegeben war, streitet.

Der Möglichkeiten und der bemerkenswerten Vor-
schläge, wie der Schlossplatz für die Öffentlichkeit zu-
rückgewonnen werden kann, gibt es inzwischen viele. Ob
die außereuropäische Sammlung der Stiftung Preußi-
scher Kulturbesitz, ob eine Bibliothek, ob das Haus der
Kulturen der Welt: Sie alle und noch andere könnten dem
Platz im besten Sinne neues, wirkliches Leben verleihen.

Ich möchte, wie schon in unserem vorliegenden Antrag
zum Ausdruck kommt, die Erwartung ausdrücken, dass
die Expertenkommission so unabhängig und – um nicht in
das Getriebe künftiger Wahlkämpfe zu geraten – auch so
schnell wie möglich zu einem Ergebnis kommt.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412727300
Ich
schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/3673 und 14/4402 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Rosel
Neuhäuser, Petra Pau und der Fraktion der PDS
Schaffung der gesetzlichen Voraussetzungen
für die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis für
lange in Deutschland lebende Ausländerinnen
und Ausländer (sog. Altfallregelung)

– Drucksachen 14/2066, 14/2509 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Rüdiger Veit
Meinrad Belle
Marieluise Beck (Bremen)

Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Petra Pau, Ulla Jelpke,
Heidemarie Lüth, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS


(§ 18 a AsylVfG)

– Drucksachen 14/26, 14/2979 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Peter Kemper
Erwin Marschewski (Recklinghausen)

Marieluise Beck (Bremen)

Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Ulla Jelpke von der PDS-Fraktion das Wort.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412727400
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Bevor ich auf die beiden Anträge – also den An-
trag zur so genannten Altfallregelung als auch den Antrag
zur Abschaffung des Flughafenverfahrens –, über die wir
heute Abend zu später Stunde diskutieren, konkret ein-
gehe, möchte ich vorweg betonen, dass wir bezüglich die-
ser Inhalte nicht alleine dastehen. Die katholische und die
evangelische Kirche unterstützen diese Anträge in ihrer
Zielrichtung. Auch Flüchtlingsorganisationen, Amnesty
International und diverse andere Menschenrechtsorgani-
sationen haben sich über Jahre hinweg dafür eingesetzt.

Worum geht es in unseren Anträgen? Zunächst zur
so genannten Altfallregelung. Hierbei geht es um eine
Gruppe von Menschen, die oft schon seit vielen Jahren in
Deutschland leben – nicht selten zehn Jahre und länger –,
die hier ihren Lebensmittelpunkt haben und hier arbeiten,
deren Kinder hier zur Schule gehen, deren Aufenthalt aber
seit vielen Jahren ungeklärt ist.

Genau vor einem Jahr wurde die Altfallregelung be-
schlossen. Damals wurde von der Bundesregierung pro-
gnostiziert, dass dadurch etwa 23 000 Menschen einen
aufenthaltsrechtlichen Status bekommen. Wie immer
gab es lange Debatten nicht nur im Innenausschuss, son-
dern auch auf Länderebene. Vor allen Dingen die
CDU/CSU hat dafür gesorgt, dass es sehr regressive
Richtlinien zur Auslegung der so genannten Altfallrege-
lung gegeben hat, sodass, wie man heute sagen muss, da-
durch nur etwa 14 000 Menschen eine Aufenthaltsgeneh-
migung bekommen haben.

Was ist der Grund dafür, dass den Menschen hier kein
Aufenthaltsstatus eingeräumt wird? Häufig haben diese
Menschen keinen gültigen Pass ihres Heimatlandes mehr,
da die abgelaufenen Pässe nicht verlängert werden. Des-
wegen lehnen es die deutschen Behörden ab, ihnen hier
einen festen Aufenthaltsstatus zu gewähren.

Überhaupt nicht verstehen kann ich, warum Men-
schen, die vor zehn Jahren oder auch später aus Jugosla-
wien zu uns geflohen sind, ganz pauschal von dieser Alt-
fallregelung ausgenommen wurden. Sie werden generell
nicht berücksichtigt, und zwar mit der Begründung sei-
tens der Behörden, dass man sie eigentlich wieder
zurückschicken wollte, dass sich aber die jugoslawischen
Behörden geweigert haben, sie zurückzunehmen. Ich




Dr. Heinrich Fink

12271


(C)



(D)



(A)



(B)


meine, dass man hier wirklich von Menschenrechtsver-
letzungen sprechen muss. Es kann einfach nicht angehen,
dass Menschen, die so lange in diesem Land leben, keinen
aufenthaltsrechtlichen Status bekommen.


(Beifall bei der PDS)

Wir haben in dem Antrag aufgeführt, welche Personen

unserer Meinung nach hier dringend einen Aufenthalts-
status bekommen sollten: Menschen, die länger als fünf
Jahre hier leben, und Alleinerziehende. Aus zeitlichen
Gründen kann ich sie nicht alle aufzählen. Wichtig ist mir,
dass gerade der Aufenthalt von Menschen, die sich im
Kirchenasyl befinden, mit denen ich häufig gesprochen
habe und die über Jahre hier illegal leben, legalisiert wer-
den muss.

Die Flüchtlingsorganisationen schlagen allesamt vor
– das steht nicht in unserem Antrag –, § 100 des Auslän-
dergesetzes zu einer permanenten Altfallregelung zu ma-
chen, sodass die Illegalisierung tatsächlich systematisch
aufgehoben werden könnte.

Zum Schluss möchte ich Sie darauf hinweisen, dass in
fast allen westeuropäischen Ländern gesetzliche Initia-
tiven zur Legalisierung von Illegalen gelaufen sind, in
Belgien, in Spanien, in Italien. Dort hat man per Gesetz
Amnestien festgelegt und diesen Menschen dadurch
tatsächlich geholfen. Das ist das Ziel dieses Antrags. Ich
meine, an diesen Ländern sollten wir uns ein Beispiel neh-
men, auch wenn ich weiß, dass hier heute beide Anträge
abgelehnt werden.

Zum Flughafenverfahren. Das Flughafenverfahren be-
schäftigt uns eigentlich seit Jahren. Es ist so, dass die
Menschen dort menschenunwürdig untergebracht sind.
Das hat sich bis heute nicht geändert. Sie werden im Rah-
men des Flughafenverfahrens wie in einem Gefängnis ge-
halten. Wer sich das einmal angeschaut hat, kann über-
haupt nicht verstehen, dass unschuldige Menschen, die
hierher geflohen sind und deren einziges Verschulden
darin liegt, dass sie um Aufnahme ersuchen und Asylan-
träge stellen, unter so unmenschlichen Bedingungen ge-
halten werden.


(Beifall bei der PDS)

Viele von Ihnen werden jetzt sagen, das sei ja alles eine

Sache der Freiwilligkeit. In der Tat ist es so. Eigentlich
müssten die Menschen spätestens nach 23 Tagen aus dem
Flughafenverfahren herausgenommen werden. In diesem
Sinne kann es also keine Freiwilligkeit geben. Die Alter-
native zum Transitverfahren, zum Knast am Flughafen ist
das Abschiebegefängnis.

Im Flughafenverfahren findet keine Haftprüfung statt.
In den Räumen sind die Menschen aufs Engste zusam-
mengepfercht. Für mich ist nach wie vor das Schlimmste,
dass man dort auch Kinder unterbringt. Der Bundestag hat
hier vor einiger Zeit zwar beschlossen, dass die Kinder-
rechtskonvention endlich unterzeichnet werden soll. Der
Innenminister verweigert das aber nach wie vor. So wer-
den Kinder immer noch im Rahmen dieses Verfahrens
dort festgehalten. Gerade jetzt ist bekannt geworden, dass
ein 14-jähriger Tamile über längere Zeit dort gewesen ist.

Er sollte abgeschoben werden. Es ist zum Glück durch öf-
fentlichen Protest gelungen, das zu verhindern.

In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinwei-
sen, dass auch der UNHCR sehr scharfe Kritik an diesem
Verfahren geübt hat, dass Menschenrechtsorganisationen
immer wieder darauf verwiesen haben, dass die Men-
schen dort viel zu lange festgehalten werden. Bei einem
Besuch, den ich selber dort einmal abgestattet habe, saßen
von 70 Menschen zehn Menschen fast ein Jahr dort, ein
Jahr unter Bedingungen, die schlechter sind als die in
Gefängnissen hierzulande. Man hat nicht einmal die Mög-
lichkeit eines Hofgangs; man ist dort unter schlimmsten
Bedingungen zusammengepfercht.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412727500
Frau Kol-
legin Jelpke, kommen Sie bitte zum Schluss.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412727600
Ich komme zum Schluss. – Das
Flughafenverfahren gehört ganz generell abgeschafft.


(Beifall bei der PDS)

Es ist menschenunwürdig. Deswegen fordern wir Sie auf:
Nehmen Sie das ernst, was Kirchenorganisationen und
Menschenrechtsorganisationen seit vielen Jahren fordern!
Tun Sie endlich etwas und lehnen Sie diesen Antrag nicht
ab!


(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412727700
Als
nächster Redner hat der Kollege Rüdiger Veit von der
SPD-Fraktion das Wort.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1412727800
Herr Präsident! Sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute Morgen hat meine Fraktionskollegin Hedi Wegener
anlässlich der Debatte zum 50. Jahrestag der Europä-
ischen Menschenrechtskonvention darauf hingewiesen,
dass es nicht nur ausreicht, an einem solchen Tag Fest-
tagsreden zu halten, sondern dass es auch nötig ist, ganz
konkret die Menschenrechtslage vor Ort und vielleicht
sogar auch im europäischen Haus zu betrachten. Ein
konkretes, in der Bundesrepublik Deutschland ange-
wandtes Verfahren, das sie kritisch hinterfragt hatte, ist
das Flughafenverfahren. Hier ging es nicht nur um die
Unterbringungssituation – dazu wird der Kollege Hans-
Peter Kemper anschließend etwas sagen –, sondern eben
auch um die in meinen Augen unerträglich stark angestie-
gene Verweildauer der Asylsuchenden im Unterbrin-
gungsgewahrsam.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich möchte an der Stelle ausdrücklich sagen, dass die

Koalitionsfraktionen sich darum bemühen werden, diesen
Zustand möglichst bald nachhaltig und in rechtsstaatlich
einwandfreier Weise zu verändern und hier Abhilfe zu
schaffen.


(Beifall bei der SPD – Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bemüht sind! – Dr. Max Stadler [F.D.P.]: Das hören wir schon seit zwei Jahren!)





Ulla Jelpke
12272


(C)



(D)



(A)



(B)


– Wir sind bemüht; wir werden uns weiter bemühen. Jede
Zeitform greift hier, Frau Kollegin Beck. Wir müssen aber
vor allen Dingen zu einem Ergebnis kommen.

Ich bitte um Nachsicht, dass ich diesen Vorgriff auf
einen Aspekt des Tagesordnungspunktes, zu dem der Kol-
lege Kemper noch sprechen wird, gemacht habe. Aber ich
denke, es gehört am Ende eines solchen Tages dazu, dass
man auch einmal auf konkrete Situationen eingeht.

Nun zur Frage der Altfallregelung. Es gibt in der Poli-
tik ja manchmal auch noch Überraschungen. Ich jeden-
falls – das sage ich ganz offen – war sehr überrascht, dass
im Zuge der Innenministerkonferenz vom 19. Novem-
ber 1999 in Görlitz von den Länderinnenministern in
Übereinstimmung mit dem Bundesinnenminister eine
Altfallregelung beschlossen wurde. Auch wenn es daran
inhaltliche Kritik geben mag, auf die ich noch eingehen
werde, ist es, wie ich denke, ein Verdienst des Bundesmi-
nisters Otto Schily, dass überhaupt eine Altfallregelung
zustande gekommen ist; denn die Alternative hierzu wäre
gewesen, gar nichts zu tun. Deswegen verdient er an die-
ser Stelle unsere Anerkennung für seinen Einsatz.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich bin dafür durchaus dankbar, auch wenn, wie bei un-
seren Debatten im Innenausschuss deutlich geworden ist,
alle Fraktionen mit Ausnahme der CDU/CSU – das ver-
steht sich; denn diese Partei und ihre Länderinnenminister
haben das bei den Konferenzen immer verhindert – darin
übereinstimmen, dass diese Regelungen eigentlich nicht
weit genug gehen. Wir alle waren ja auch sehr skeptisch,
ob die gefundene Regelung überhaupt nur annähernd so
viele Asylsuchende bzw. hier im Verfahren befindliche
Asylbewerber begünstigen könnte, wie dies bei der Alt-
fallregelung von 1996 der Fall war, in deren Genuss be-
kanntlich etwa 7 800 Personen kamen.

Ein weiteres Mal war ich überrascht, als am Anfang
dieser Woche im Rahmen der Vorbereitung dieses Tages-
ordnungspunktes die Zahlen aus der vorläufigen Statistik
der Länderinnenminister bekannt geworden sind. Ent-
gegen unseren Befürchtungen wurden immerhin über
14 000Menschen begünstigt. Darüber hinaus gibt es noch
über 7 000 Anträge – ich nehme allerdings an, dass es im
Ergebnis über 10 000 Anträge sein werden –, über die in
den Bundesländern noch entschieden werden muss, übri-
gens bis zum 31. Dezember dieses Jahres. Hierzu haben
sich die Innenminister ausdrücklich verpflichtet.

Zwischen den einzelnen Bundesländern gibt es aber
auch ganz erhebliche Unterschiede. Wen wollte es wun-
dern, dass die entsprechenden Ausführungserlasse in Bay-
ern und vor allen Dingen im Saarland besonders restriktiv
ausgefallen sind? Damit liegen sie natürlich auch in der
Praxis bei der positiven Bescheidung der Anträge weit
zurück. Es ist allerdings hervorzuheben, dass das Land
Nordrhein-Westfalen nach heutigem Stand bereits fast
50 Prozent aller Anträge auf Erteilung einer Aufenthalts-
befugnis gemäß der Altfallregelung stattgegeben hat.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich würde mich freuen, wenn alle so gehandelt hätten wie
Nordrhein-Westfalen; dann hätten wir weniger Probleme.
Aber auch die Zahlen aus Niedersachsen und Rheinland-
Pfalz fallen ganz erfreulich aus.

Die offenkundig unterschiedliche Behandlung von Alt-
fällen in den einzelnen Bundesländern könnte man als zu-
sätzliches Argument dafür nehmen, dass eine einheitliche
bundesgesetzliche Regelung nötig sei. Eine solche Ände-
rung des Ausländergesetzes – das will ich Ihnen ganz of-
fen sagen –, für die in der Tat § 100 in Betracht kommen
könnte, scheitert schlicht und ergreifend an der fehlenden
Zustimmung des Bundesrates. Eine derartige Gesetzesän-
derung wäre nämlich zustimmungspflichtig. Bekanntlich
haben die sozialdemokratisch geführten Landesregierun-
gen seit der Landtagswahl in Hessen – wer in diesem Saal
würde das mehr bedauern als ich, der ich aus Hessen
komme – dort keine Mehrheit mehr.

Sosehr ich es selber bedauere: Wir sollten erkennen,
dass wir uns von dieser Vorstellung verabschieden müs-
sen.


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Ich bin völlig anderer Meinung! Aber das macht ja nichts!)


Allein unsere Kräfte im Bundestag reichen für eine ent-
sprechende Gesetzesänderung jedenfalls nicht aus, auch
wenn die Anzahl der tatsächlichen Befürworter womög-
lich weit größer ist als die in derjenigen Fraktion, die die-
sen Antrag eingebracht hat.

Der Gedanke, wie wir mit sich in Deutschland
langjährig aufhaltenden Ausländern, die jetzt und auf ab-
sehbare Zeit die Voraussetzungen für eine Einbürgerung
nicht erfüllen können, umgehen wollen, bleibt aber auf
der Tagesordnung.


(Ulla Jelpke [PDS]: Wir werden wieder einen Antrag einbringen!)


– Nicht nur Ihre Fraktion, liebe Frau Jelpke, wird wieder
einen Antrag einbringen, sondern auch weitere Fraktio-
nen, und zwar aus anderen Gründen.

Wenn wir im Zusammenhang mit der noch zu führen-
den Debatte über eine neue Regelung der Zuwanderung
die Personengruppe derjenigen Ausländerinnen und Aus-
länder betrachten, die schon lange hier leben und die auf-
grund von Voraussetzungen, die sie nicht erfüllen, nicht
eingebürgert werden können – ihre Kinder sind hier ge-
boren und haben ihre Ausbildung hier gemacht –, dann
muss uns doch klar werden, dass es unter demographi-
schen Gesichtspunkten keinen Sinn macht, Menschen aus
dem Ausland nach Deutschland zu holen – egal, ob aus
ökonomischen oder aus humanitären Gründen –, während
wir gleichzeitig diejenigen mit Gewalt aus dem Land he-
rausdrängen, die schon eine wesentliche Integrationsleis-
tung vollbracht haben. Jedem von uns muss einleuchten,
dass wir auf diese Frage eine gemeinsame Antwort wer-
den finden müssen. Ich hoffe sehr, dass das noch in dieser
Legislaturperiode gelingt.

Wir brauchen von Ihrem neuen Generalsekretär, Laurenz
Meyer – er unterstellt uns, wir wollten das Problem aus-
sitzen –, jedenfalls keine Nachhilfe. Wir wollen die Ange-
legenheit regeln. Ich füge hinzu: Wir werden auch für




Rüdiger Veit

12273


(C)



(D)



(A)



(B)


diejenigen Asylsuchenden, die bereits seit langem hier le-
ben und sich einer weitgehenden Integration unterzogen
haben, im Zuge dieser Beratungen eine Lösung finden
müssen. Diese Menschen brauchen Perspektiven. Ich
wiederhole: Das Thema bleibt auf der Tagesordnung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412727900
Als
nächster Redner hat der Kollege Erwin Marschewski von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1412728000

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Frau Kollegin Jelpke, es ist schon wie der Versuch, den
Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben, wenn sich die
Nachfolgeorganisation der SED auf das Kirchenasyl be-
ruft.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der PDS)


Zur Sache selbst. In der Union gibt es eine Diskussion
über die Zuwanderung, weil dies ein wichtiges Thema ist.
Dabei ist eines klar: Wir wollen nicht speziell dieses
Thema im nächsten Bundestagswahlkampf behandeln.
Dazu müssen aber bestimmte Voraussetzungen erfüllt
sein:

Erstens. Die Bundesregierung muss ein Zuwande-
rungsbegrenzungskonzept vorlegen. Die Kommission
muss endlich zu Ergebnissen kommen.

Zweitens. Wir haben ein hervorragendes Integrations-
programm vorgelegt, das Sie einfach abgelehnt haben, ob-
wohl Sie kein eigenes Konzept besitzen. Das ist schlimm.
Wir brauchen nämlich ein Integrationsprogramm.


(Zuruf der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Frau Beck, wir wissen, dass zu viele Menschen zu uns
kommen, die keine Chance haben, in Deutschland einen
Arbeitsplatz zu bekommen. Gleichzeitig kommen zu we-
nige, die eine Chance auf einen Arbeitsplatz haben. Ge-
rade deswegen ist die Steuerung der Zuwanderung drin-
gend vonnöten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich bin mit dem Bundesinnenminister völlig einer Mei-

nung: In dieser Frage darf es keine Denkverbote geben.
Ich bin nicht darauf aus, das individuelle Grundrecht auf
Asyl zu ändern. Aber wenn es dringend notwendig ist,
dann müssen wir auch über Änderungen des Grundgeset-
zes und des Asylrechts reden.

Die Zuwanderung wird durch die beiden von der PDS
immer wieder eingebrachten Anträge – weder durch Ab-
schaffung des Flughafenverfahrens noch durch eine neue
Altfallregelung – natürlich nicht begrenzt. Herr Kollege,
es ist richtig, dass wir damals der einen Altfallregelung
zugestimmt haben. Das war gut so.

Bei der Flughafenregelung ist die Situation aber ein
bisschen anders. Ihre Abschaffung ist nicht gerechtfertigt;

denn die Flughafenregelung ist notwendig, da sie ein
Hauptproblem in der Ausländerpolitik – die Rückführung
von Asylbewerbern, deren Antrag abgelehnt worden ist
– bewältigt. Außerdem bietet die Flughafenregelung Vor-
teile: Wir können – das haben wir bei den Gesprächen
über eine Neuregelung des Asylrechts vor ungefähr
sechs Jahren so gewollt – vor der Einreise über den An-
trag eines Asylbewerbers entscheiden. Bei Ablehnung des
Antrags ist die Rückführung des Asylbewerbers ohne
weiteres möglich. Es ist auch vertretbar – über diese
Regelung kann man zwar reden; aber sie ist vertretbar –,
dass sich Asylbewerber 19 Tage lang auf dem Flughafen
aufhalten.

Ich meine, dass entgegen dem PDS-Antrag weder die
Würde der Asylsuchenden beeinträchtigt noch deren
Rechtsschutzmöglichkeit eingeschränkt wird. Eines ist
aber klar: Wir müssen die Verfahren so ausgestalten, dass
die Menschen so wenig wie möglich belastet werden. Das
gilt natürlich insbesondere für minderjährige Kinder; das
ist keine Frage. Sie wissen, die Länder sind dafür zustän-
dig. Ich will nicht immer auf die alte rot-grüne Landesre-
gierung in Hessen verweisen. Aber ich muss sagen, dass
unter ihr damals in Frankfurt am Main diese Problematik
leider nicht gelöst worden ist. Ich habe Gespräche mit
dem hessischen CDU-Innenminister geführt. Wir sind da-
bei, dieses Problem für die Kinder und auch für die ande-
ren betroffenen Menschen vernünftig zu regeln. Die Lage
hat sich inzwischen auch gebessert. Trotzdem ist die
Nichtbeachtung der Regelung damals durch die rot-grüne
Landesregierung in Frankfurt am Main kein Grund dafür,
die Flughafenregelung ersatzlos abzuschaffen.

Auch weitere Altfallregelungen führen zu mehr un-
kontrollierter Zuwanderung; denn es spricht sich doch
in den Herkunftsländern herum, dass man am Asylver-
fahren nur vorbeigehen muss und man dann auf Dauer un-
kontrolliert in Deutschland verbleiben kann. Daher
glaube ich, dass das keine brauchbare Regelung ist. Ein
Mehr an unkontrollierter Zuwanderung brauchen wir in
Deutschland überhaupt nicht. Was wir brauchen, ist eine
kontrolliertere Zuwanderung sowie die Möglichkeit der
Steuerung der Zuwanderung.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich sage noch einmal: Ich hoffe, dass die Kommission

nun endlich zu einem Ergebnis kommt. Man muss doch
nicht so lange tagen, wenn eigentlich völlig klar ist, wie
wir das regeln können. Ich kann Ihnen sagen, wie wir das
regeln können: Wir legen eine Gesamthöchstzahl fest
– das ist überhaupt kein Problem – und überlegen dann
natürlich, wie viele Menschen aus den verschiedenen Re-
gionen der Welt – so ähnlich steht es im F.D.P.-Antrag –
in Deutschland bleiben können. Das ist doch ganz ein-
fach. Sie haben den F.D.P.-Entwurf; Sie haben unsere Vor-
schläge und das Papier von Wolfgang Bosbach. Sie brau-
chen diese vernünftigen Vorschläge – mit denen der
Innenminister im Grunde einverstanden ist, wie er mir im-
mer persönlich sagt – nur zu übernehmen.


(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wo ist denn dann der Antrag, Herr Kollege Marschewski? Wir warten!)





Rüdiger Veit
12274


(C)



(D)



(A)



(B)


Die Kommission muss zu einem Ergebnis kommen,
und zwar schnell. Wir müssen uns Klarheit darüber ver-
schaffen, wer und wie viele Ausländer nach Deutschland
kommen und hier bleiben sollen. Wir müssen Kriterien
für die Aufnahme festlegen und wir müssen vor allen
Dingen die rechtmäßig in Deutschland lebenden auslän-
dischen Mitbürger integrieren. Wir brauchen Integrations-
bemühungen. Ich habe in Bezug auf diese Position von
unserer glanzvollen Bundesregierung noch gar nichts
gehört. Das ist bedauerlich.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Wo glänzt sie denn?)


– Das war doch nun wirklich anders gemeint, Herr Kol-
lege. Ich denke, dass Sie trotz der späten Stunde verste-
hen, was ich damit gesagt haben will.

Darüber hinaus müssen wir die unkontrollierte Zuwan-
derung verhindern. Wir brauchen Verhandlungen auf eu-
ropäischer Ebene zum Thema Visumsregelung. Frau
Staatssekretärin, vielleicht sagen Sie gleich, welche Er-
folge Sie in den zwei Jahren Ihrer Regierungszeit auf die-
sem Gebiet zu verzeichnen hatten. Wir brauchen Burden-
sharing.

Wir müssen vor allen Dingen über Asylanträge schnel-
ler entscheiden. Ich will gar nicht die Gerichtsverfahren
kippen; ich bin selbst an der Schaffung dieser Lösung im
Grundgesetz und im Asylverfahrensgesetz beteiligt gewe-
sen. Ein Jahr Gerichtsweg ist aber zu lang. Wir müssen
mehr Richter in den Bundesländern einstellen, die schnel-
ler entscheiden. In Nürnberg wird relativ schnell ent-
schieden – drei Monate im Durchschnitt. Es wäre inhu-
man, die Menschen so lange hier zu lassen, nur um sie
dann wieder auszuweisen.

Wir müssen auch darüber nachdenken, das
Asylbewerberleistungsgeld dem europäischen Durch-
schnitt anzupassen. Überhaupt müssen wir auf Europa-
ebene über entsprechende Regelungen reden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir müssen ein klares Nein zur Familienzusammen-
führungsrichtlinie sagen. Dazu werden wir einen Antrag
in den Bundestag einbringen. Diese Richtlinie der Euro-
päischen Gemeinschaft dehnt den Familienbegriff aus, er-
weitert den Angehörigennachzug und verkürzt die Fris-
ten. Nun habe ich gehört, der Herr Bundesinnenminister
habe eine interne Konferenz durchgeführt. Dort sei man
zu dem Ergebnis gekommen, diese Richtlinie solle nicht
akzeptiert werden; er wolle dagegen sprechen. So hat sich
der Bundesinnenminister sehr oft geäußert. Er hat gesagt:
Die Grenze der Belastbarkeit ist überschritten. Die Frak-
tion hat gesagt: Minister, in diesem Punkt liegst du falsch.
Er hat gesagt: Das subjektive Asylgrundrecht muss abge-
schafft werden. Die Koalition aus SPD und Grünen hat
gesagt: Herr Minister, da liegen Sie falsch.

Ich will deswegen im Deutschen Bundestag über die-
sen Bereich diskutieren, weil dieser Bundesinnenminister
überhaupt nicht die Kraft hat, von dem, was er an rechten
Sprüchen von sich gibt, auch nur ein Minimum durchzu-
setzen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


Wir brauchen eine anständige und aufrichtige Auslän-
derpolitik. Was man sagt, muss stimmen. Dabei gehen wir
von einem Punkt aus: Der Zuzug von Ausländern bietet
Chancen.


(Beifall bei der SPD)

Darin sind wir einer Meinung. Das habe ich auch von die-
ser Stelle aus immer gesagt. Aber der Zuzug schafft dann
Risiken, wenn die Integrationsprobleme nicht gelöst wer-
den. Wir müssen diese Menschen dazu bringen, unsere
Sprache zu erlernen. Wir müssen sie dazu anhalten, dies
zu tun. Als Beispiel hierfür nenne ich die Niederlande.

Darüber hinaus sind auch ein weitergehendes Bleibe-
recht und ständig neue Altfallregelungen nicht immer
human. Das hat die Vergangenheit gezeigt. Ähnliches gilt
für die Abschaffung der Flughafenregelung. Unser Ziel
– das sage ich noch einmal – ist: Steuerung und vor allen
Dingen Integration. Diese Probleme haben wir damals ge-
meinsam gelöst. Dabei denke ich an die Asylberatungen
vor fünf Jahren. Wenn wir dieses Problem noch vor der
Bundestagswahl gemeinsam lösen, dann ist unser Ziel er-
reicht, dieses schwerwiegende, wichtige und problemati-
sche Thema nicht im Wahlkampf zu behandeln. Dafür
müssen Sie die Voraussetzungen schaffen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zurufe von der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412728100
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Marieluise Beck vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Es reizt mich sehr, Herr Marschewski, auf
Ihren Rundumschlag einzugehen. Aber das kann ich mir
leider deswegen nicht erlauben, weil ich der Meinung bin,
dass die Kolleginnen und Kollegen von der PDS-Fraktion
ein Recht darauf haben, die beiden Themen, die heute auf-
grund zweier Anträge zur Debatte stehen, zu erörtern.

Nur ein paar Worte dazu: Wenn Sie tatsächlich der An-
sicht sind, dass wir eine gänzlich unkontrollierte Zuwan-
derung haben, dann muss man allerdings fragen: Was hat
die alte Regierung 16 Jahre lang getan? Hat sie den Zu-
stand einer vollkommen unkontrollierten Zuwanderung
herbeigeführt? Dies wäre dann die Bilanz Ihrer Regie-
rungszeit. Ich weiß nicht, ob Sie wirklich mit dieser Bi-
lanz dastehen wollen.


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ CSU]: Führen Sie einmal Koalitionsverhandlungen mit der F.D.P.! Dann wissen Sie alles!)


So unkontrolliert ist die Zuwanderung gar nicht. Wir
haben bei der Einwanderung eine Menge Tatbestände, die
rechtlich normiert sind.

Das Gleiche gilt natürlich für die Integrationspolitik.
Wenn Sie jetzt feststellen, dass es keine Integrationspoli-
tik gibt, dann heißt das, dass in Ihrer 16-jährigen




Erwin Marschewski (Recklinghausen)


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(A)



(B)


Regierungszeit nichts passiert ist. Es ist in der Tat wenig
passiert. Wir haben angefangen, das anzugehen.


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Es passiert gar nichts! Früher wenig, heute gar nichts!)


Die rechtliche Gleichstellung ist ein zentraler Teil der In-
tegrationspolitik. Auch das neue Staatsbürgerschaftsrecht
gehört dazu. Es ist ein Teil der Integrationspolitik.


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Meinen Sie das wirklich?)


Über alles andere werden wir später diskutieren. Auch
die Tatsache, dass Sie alles für klar halten, verwundert
mich. Ich weiß nicht, warum die Union in diesem Zusam-
menhang eine Kommission eingesetzt hat, wenn ihr alles
klar ist. Sie scheint bei diesem Thema noch im Nebel zu
tappen; das merkt man auch in dieser Debatte.

Nun zu den beiden Anträgen, die heute zur Debatte ste-
hen. Es geht einmal um die Altfallregelung. Es war in der
Tat so – Kollege Veit hat schon darauf hingewiesen –, dass
es unendlich schwer war, mit den Ländern überhaupt zu
einer gemeinsamen Altfallregelung zu kommen. Es muss
eine gemeinsame Regelung gefunden werden, weil der
Bund nicht alleine handeln kann, sondern auf den Kon-
sens mit den Landesinnenministern angewiesen ist.

Auch wir hätten uns eine deutlich großzügigere Alt-
fallregelung gewünscht, und zwar nicht nur deshalb, weil
es für die Menschen, die nun schon vor Jahren ihre Kof-
fer ausgepackt haben, unter humanen Gesichtspunkten
sinnvoll wäre, sondern auch deshalb, weil solche Altfall-
regelungen der Befriedung der gesamten Gesellschaft
dienen.

Auf ihre Skepsis kann ich Ihnen nur antworten: Viele
Ihrer Kollegen tragen bei mir als der Ausländerbeauftrag-
ten Einzelfälle vor. Sie haben in ihrer Gemeinde diese
oder jene Familie, die dort schon seit sechs, acht oder zehn
Jahren angepasst, unauffällig, bescheiden und arbeitsam
lebt, und zwar immer mit einem unsicheren Status. Sie
fragen uns dann: Könnt ihr nicht etwas tun? Alle, die Kir-
chen, die Bürgermeister, der kleine Unternehmer, der sie
beschäftigt, wollen, dass die Menschen ein Bleiberecht
erhalten, und sie plädieren dafür, dass in diese Richtung
etwas auf den Weg gebracht wird. Wenn dieses Thema
dann auf die politische Ebene gehoben wird, verweigern
Sie sich einer grundsätzlichen Regelung. Das ist das Di-
lemma, mit dem wir es zu tun haben.

Wir haben glücklicherweise – das war sehr umstritten –
die Vietnamesen in die Altfallregelung aufnehmen können.
Das war sehr lange offen. Ich bin froh, dass wenigstens das
geglückt ist. Es ist in der Tat so, dass die Auslegung der
Regelung vor Ort sehr unterschiedlich gehandhabt wird: re-
striktiv insbesondere in Baden-Württemberg, Bayern und
leider auch in Berlin und sehr viel offener und großzügiger
in den nördlichen Ländern, insbesondere in den rot-grün
geführten Ländern.

Vor dem Hintergrund, dass es hier um die Befriedung
der gesamten Gesellschaft geht, bin ich der Meinung, dass
wir alles tun sollten, die Länder dazu aufzufordern, die

Spielräume, die sie haben, im Sinne von humanitären Lö-
sungen auszunutzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412728200
Erlauben
Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bulling-Schröter?

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Ja, wenn Sie meine Redezeit entsprechend
verlängern.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412728300
Bitte
schön.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412728400
Kollegin Beck, Sie wa-
ren ja in Bayern und haben die restriktive Politik des In-
nenministers Beckstein angemahnt. Sie erhielten in die-
sem Zusammenhang eine große Presseresonanz. Ich finde
gut, dass über dieses Thema diskutiert wird.

Ich habe genau zu diesem Thema an die Bundesregie-
rung eine Kleine Anfrage gerichtet, und zwar dahin ge-
hend, ob die Politik des bayerischen Innenministers dem
Beschluss der Innenministerkonferenz und der Altfallre-
gelung der Bundesregierung entspricht. Ich dachte näm-
lich, dass die Bundesregierung genau diese restriktive
Handhabung geißelt oder sich zumindest dementspre-
chend äußert. Leider wurde die Kleine Anfrage von der
Bundesregierung dahin gehend beantwortet, dass die Alt-
fallregelung, so wie sie jetzt in Bayern praktiziert wird,
konform zu den Vereinbarungen der Innenministerkonfe-
renz sei.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Ich bin die Ausländerbeauftragte der Bun-
desregierung und befinde mich immer wieder – das liegt
in der Natur des Amtes – in maßvoller Differenz zur Re-
gierung. Deswegen war mein Wirken in Bayern folgen-
dermaßen: Ich habe dazu aufgefordert, die Spielräume zu
nutzen, die die Regelung hergibt. Man kann in der Tat
nicht sagen, Bayern bewege sich jenseits der Verord-
nungslage. Aber man kann sagen: Es gibt Spielräume und
andere Länder zeigen, dass sie genutzt werden. – In Bay-
ern werden sie nicht genutzt. Das ist die Differenz, um die
es geht.

Nun noch kurz zum Flughafenverfahren. Das Flugha-
fenverfahren steht seit seiner Einführung zu Recht in der
Kritik. Die Verhältnisse vor Ort sind unerträglich. Ich
möchte an dieser Stelle sehr deutlich meinen Respekt ge-
genüber dem Flughafensozialdienst ausdrücken. Wenn
nicht vor Ort so unermüdlich – trotz vieler Rückschläge
und schwieriger Erlebnisse, die man dort ständig hat –
gewirkt würde, hätten wir noch mehr dramatische Situa-
tionen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)





Marieluise Beck (Bremen)

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(A)



(B)


Es ist erst einige Monate her, dass sich dort eine Frau das
Leben genommen hat, weil sie nicht mehr weiter wusste.

Die Verfahren sind insbesondere nicht auf unbeglei-
tete, minderjährige Jugendliche zugeschnitten. Auch die
Unterbringungssituation ist sehr mangelhaft. Es wird eine
andere Unterbringungssituation geben – leider erst im
Herbst 2001 –, was aber nicht das Problem löst, dass eine
lange Verweildauer – bis zu 300 Tage – nicht akzeptabel
ist.

Unser Gesetz sieht vor, dass die Verweildauer nicht
länger als 19 Tage sein soll. Vonseiten der Ausländerbe-
auftragten wurde in einem Lagebericht empfohlen, dass
die Verweildauer auf keinen Fall länger als 30 Tage betra-
gen darf. Wir werden weiterhin mit Nachdruck an einer
Lösung arbeiten. Es ist in der Tat eine Gratwanderung für
den Rechtsstaat, dass wir dort Verhältnisse haben, die
nahe an eine Gefängnisunterbringung heranreichen. Des-
wegen muss dafür eine rechtsstaatliche Grundlage vor-
handen sein; Freiwilligkeitserklärungen sind in der Tat
höchst problematisch. Deshalb muss ein Weg gefunden
werden, damit die langen Verweildauern, wie wir sie
heute noch häufig haben, in Zukunft der Vergangenheit
angehören werden. Auch unbegleitete Minderjährige
gehören nicht in den Transitbereich des Flughafens.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412728500
Als
nächster Redner hat der Kollege Max Stadler von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.


Dr. Max Stadler (FDP):
Rede ID: ID1412728600
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Die Anträge der PDS geben mir
Gelegenheit, die Praxis des Flughafenverfahrens als das
zu bezeichnen, was sie ist, nämlich als einen Skandal der
deutschen Asylpolitik. Man kann es nicht anders sagen,
obwohl die F.D.P. im Zuge des Asylkompromisses dem
Flughafenverfahren mehrheitlich zugestimmt hat und da-
ran auch heute noch festhält. Diese Tatsache hat uns aber
nie daran gehindert, die Praxis dieses Verfahrens zu kriti-
sieren. An dieser Kritik hat sich auch nichts geändert, seit
Rot-Grün an der Regierung ist.

Wir wissen alle, dass Cem Özdemir nicht zu Übertrei-
bungen neigt. Seit die Grünen an der Bundesregierung be-
teiligt sind, äußert er sich bevorzugt staatsmännisch


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das gelingt nicht immer!)


und deswegen erscheint er mir als ein geeigneter Kron-
zeuge. Ich erwähne seine Bewertungen in der „FAZ“ vom
6. Juni dieses Jahres, in denen er das Flughafenverfahren
als unmenschlich bezeichnet, die Zustände als unhaltbar
kritisiert, feststellt, dass in der Praxis rund die Hälfte der
Asylbewerber länger in den Einrichtungen verweilen
muss, als das Gesetz dies zulässt, und dazu mahnt, drin-
gend die bauliche Situation durch Erweiterungen und Er-
neuerungen zu verändern.

Ich frage mich nur: Wenn dies alles so unmenschlich
ist, warum ändert sich dann nichts daran? Der Verweis auf
das Land Hessen nützt nichts; denn nach Art. 84 Abs. 3
des Grundgesetzes trägt die Bundesregierung die Verant-
wortung für den verfassungsgemäßen Vollzug der Flug-
hafenregelung. Seinerzeit hat Cem Özdemir die Hoffnung
geäußert, dass auch der Koalitionspartner nach einem Be-
such in Frankfurt zu dem Entschluss kommen wird, das
Verfahren zu verkürzen. Offenbar bestand für die SPD
noch keine Gelegenheit, Frankfurt zu besuchen, weil sich
seither noch nichts getan hat.


(Beifall bei der F.D.P. – Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir arbeiten daran!)


Da sehr oft auf die europäischen Standards verwiesen
wird – das macht auch Erwin Marschewski gerne, manch-
mal nicht zu Unrecht –, muss ich Sie daran erinnern, dass
Frankreich eine ähnliche Flughafenregelung hat wie wir,
aber mit einem ganz rigorosen Vollzug: Wenn dort binnen
18 Tagen – die Regelung ist damit ähnlich der unseren mit
19 Tagen – keine Entscheidung getroffen ist, werden die
Asylbewerber ohne Rücksicht auf den Stand des Verfah-
rens in das Land gelassen. Die Asylberechtigung wird
dann im Land geprüft und nicht in einem fortgesetzten
Flughafenverfahren.

Wenn Sie nicht wollen, dass auch bei uns solche dras-
tischen Regelungen eingeführt werden, muss die Regie-
rung endlich handeln. Versprechungen, wie sie der Kol-
lege Veit – erfreulicherweise – heute wieder abgegeben
hat, haben wir lange genug gehört.

Etwas günstiger sieht die Bilanz hinsichtlich der Alt-
fallregelung aus. Sie ist immerhin zustande gekommen.
Wir wussten allerdings von Haus aus, dass der unter-
schiedliche Vollzug in den einzelnen Bundesländern zu
einem Problem wird. Wir sind uns mit Frau Jelpke darin
einig, dass diese Altfallregelung auch ihre Lücken auf-
weist. Ich hoffe, dass hierdurch der Zuwanderungskom-
mission Impulse für eine Neuregelung gegeben werden.
Unsere Vertreterin in der Kommission, Cornelia Schmalz-
Jacobsen, hat sich am 22. Oktober 2000 in der „Welt am
Sonntag“ dahin gehend geäußert, dass traumatisierte Bür-
gerkriegsflüchtlinge, etwa aus Bosnien, ein Bleiberecht
erhalten und Asylbewerber, die schon seit Jahren in
Deutschland leben, als Einwanderer behandelt werden
sollten und ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft in Aus-
sicht gestellt werden sollte. Darüber muss in dieser Kom-
mission diskutiert werden. Aber das reicht nicht.

Ich sage denen, die noch skeptisch sind – denn es gibt
ja auch Gegenargumente für die Altfallregelung –: Die öf-
fentliche Diskussion hat sich gewandelt. Heute haben die-
jenigen, die eine Altfallregelung aus humanitären Grün-
den wünschen, Verbündete in der Wirtschaft, wie sich in
Baden-Württemberg zeigt, wo es eine entsprechende Ini-
tiative der F.D.P. gibt. Dort werden zum Beispiel die
Bürgerkriegsflüchtlinge, die bestens integriert sind, als
Arbeitskräfte eingesetzt. Es ist nicht einzusehen, warum
sie nach Hause geschickt werden sollen, wenn sie zum
Beispiel im Handwerk, in der Gastronomie und im Gar-
tenbau dringend benötigt werden.

Wir haben auch im Bundestag eine Initiative auf den
Weg gebracht, die zum Ziel hat, dass Asylbewerber vom




Marieluise Beck (Bremen)


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(A)



(B)


ersten Tag an arbeitsberechtigt sind; denn Sozialneid – das
ist der kritische Punkt – entsteht, wenn die öffentliche
Hand für Asylsuchende aufkommen muss. Dem treten wir
entgegen, indem wir diese Menschen in die Lage verset-
zen – das ist auch human –, selbst für ihren Unterhalt zu
sorgen. Rot-Grün hat hier eine Menge nachzuholen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Guter Mann, falsche Partei!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412728700
Als letz-
ter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort
jetzt der Kollege Hans-Peter Kemper von der SPD-Frak-
tion.


Hans-Peter Kemper (SPD):
Rede ID: ID1412728800
Sehr geehrter Herr Prä-
sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte
zunächst zwei Vorbemerkungen machen. Die eine richtet
sich an die Adresse des geschätzten Herrn Kollegen
Marschewski. Herr Marschewski, ich stimme mit Ihnen
vollkommen überein: Wir brauchen eine bessere Integra-
tion der hier lebenden Asylbewerber. Wir brauchen ein
besseres Miteinander von Ausländern und Deutschen.
Aber ich bitte Sie eindringlich, dies auch den Kollegen
Koch und Rüttgers mit auf den Weg zu geben; denn die
Aktion, die diese vom Stapel gelassen haben, war gemes-
sen an dem, was wir brauchen, kontraproduktiv. Vielleicht
können Sie denen das einmal mitteilen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die zweite Vorbemerkung geht an die Adresse meines
lieben Kollegen Max Stadler. Wir haben gemeinsam
Frankreich besucht und haben uns das dortige Flughafen-
verfahren in der Praxis angesehen. Sie haben natürlich
völlig Recht: Asyl begehrende Menschen werden dort in
der Tat nach kurzer Zeit ins Land gelassen, wenn es nicht
gelingt, das Verfahren vernünftig abzuschließen. Aber das
ist nur die eine Hälfte der Wahrheit. Die zweite Hälfte der
Wahrheit haben Sie nicht gesagt: 90 Prozent derjenigen,
die ins Land gelassen werden, werden anschließend mit
Haftbefehl gesucht. Die Polizei sucht genau die Personen,
die man vorher gehen lassen musste. 90 Prozent stellen
keinen Asylantrag und tauchen stattdessen in die Illega-
lität ab.


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Das ist leider wahr!)


Das hätten Sie ehrlicherweise erwähnen müssen.
Das Flughafenverfahren wurde für die Asylsuchenden

eingeführt, die ohne gültige Papiere und aus sicheren
Drittstaaten auf dem Luftweg in die Bundesrepublik kom-
men. Sie dürfen pro forma erst gar nicht in die Bundesre-
publik einreisen. Diese Regelung gilt im Prinzip auf allen
internationalen Flughäfen, insbesondere auch auf dem
Frankfurter Flughafen.

Die PDS, insbesondere Frau Jelpke, hat hier eine sau-
bere Analyse der Situation auf dem Frankfurter Flughafen
vorgetragen. Ich kann dieser Analyse zwar in großen Tei-

len zustimmen. Aber Sie kommen zu einem falschen
Schluss: Die Abschaffung des Flughafenverfahrens kann
nicht die Lösung sein; vielmehr müssen die Lebensbedin-
gungen der Menschen auf dem Flughafengelände verbes-
sert werden. Hier sind wir also völlig einer Meinung.
Darum bemühen wir uns auch. Die Abschaffung des Flug-
hafenverfahrens wäre das falsche Signal.

Das Flughafenverfahren ist aus präventiven Gründen
eingeführt worden. 1993 gab es 20 000 Versuche, über
Frankfurt einzureisen. 1999 lag die Zahl unter 1 000. Wir
werden das Flughafenverfahren nicht abschaffen, weil
wir seine präventive Wirkung nicht beseitigen wollen. Die
Rechtmäßigkeit des Flughafenverfahrens ist gerichtlich
überprüft worden. Laut Bundesverfassungsgericht ist es
mit der Verfassung, mit den Grundrechten und mit der
Menschenwürde vereinbar. Das wissen Sie genauso gut
wie ich. Deswegen werden wir an diesem Verfahren fest-
halten. Ich möchte Ihre Bedenken gar nicht kleinreden. Es
muss – das ist keine Frage – eine Menge verbessert wer-
den.

Die Mitglieder der SPD-Arbeitsgruppe sind mehrfach
in Frankfurt gewesen und haben sich vor Ort die Situation
der Menschen auf dem Flughafengelände angeschaut.


(Dr. Max Stadler [F.D.P.]: Aber nichts ist passiert!)


Im Übrigen sind auch die Berichterstatter aus dem Innen-
ausschuss dort gewesen. Das Bild, das sich uns darbot,
war nicht schön: Familien wurden gemeinsam mit Allein-
reisenden untergebracht. Das ist inhuman. Die sanitären
Einrichtungen waren in einem sehr schlechten Zustand.
Hier muss eine Menge getan werden; das ist keine Frage.
Eine Intimsphäre war so gut wie nicht gegeben. Wir wa-
ren uns alle einig: Hier sind erhebliche Verbesserungen
notwendig.

Es ist zwar etwas geschehen, aber zu wenig: Die Mit-
arbeiter des Flughafensozialdienstes kümmern sich nun
rund um die Uhr um die Asylbewerber. Familien und Al-
leinreisende sind zumindest teilweise getrennt unterge-
bracht. Die sanitären Verhältnisse sind verbessert worden.

Es sollte ein neues Gebäude errichtet werden. Eigent-
lich sollte es jetzt seiner Fertigstellung entgegensehen.
Dem ist allerdings nicht so. Man hat noch nicht einmal mit
dem Bau begonnen. Das hängt mit der Flughafenplanung
zusammen; denn dieses Gebäude ist möglicherweise für
die Flughafenerweiterung eingeplant. Das Land Hessen
hat jetzt den Umbau eines anderen Gebäudes vorgeschla-
gen. Möglicherweise werden die baulichen Veränderun-
gen besser als die ursprünglich geplanten. Aber – auch das
muss man sagen – der Bau wird sich mindestens bis Ok-
tober nächsten Jahres hinziehen, so Gott will. Wir müssen
darauf drängen, denke ich, dass dieser Bau schneller vor-
angetrieben wird. Diese Verzögerungen sind mehr als är-
gerlich.

Solange eine vernünftige Unterbringung nicht gewähr-
leistet ist – da bin ich mit meinen Kolleginnen und Kolle-
gen und auch mit Herrn Veit einig –, brauchen wir Über-
gangsregelungen, insbesondere auch im Hinblick auf die
Kinder. Das ist mehrfach betont worden und ich will es
nicht wiederholen.




Dr. Max Stadler
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(C)



(D)



(A)



(B)


Aber wir müssen auch Druck auf das Land Hessen aus-
üben. Diesbezüglich bin ich anderer Meinung als Sie,
Herr Stadler. Das Land Hessen ist hier zuständig. Das ist
durch das Bundesverfassungsgericht festgestellt worden.
Das Land Hessen ist für die Unterbringung, für die Be-
reitstellung der Gebäude zuständig. Ich fordere die Bun-
desregierung auf, massiv Druck auf das Land Hessen aus-
zuüben und gemeinsam mit dem Land Hessen hier zu
Änderungen zu kommen.

Es ist die deutliche Kritik geübt worden, dass die Ver-
weildauer zu lang ist. Das ist keine Frage; aber das liegt
nicht am Flughafenverfahren. Das Flughafenverfahren ist
nach knapp drei Wochen beendet. Die Menschen, die län-
ger dort sind, sind dies aufgrund einer Freiwilligkeitser-
klärung, obwohl man durchaus darüber streiten kann, ob
der Begriff „Freiwilligkeitserklärung“ richtig ist, wenn
die Alternative die Abschiebehaft ist.

Aber bei allem Mitgefühl darf man auch nicht verges-
sen, dass die Gründe für das längere Verweilen bei den im
Flughafen befindlichen Personen zu suchen sind. Das sind
Menschen, die die Maschine mit Pass und mit Ticket be-
treten haben und ohne Pass und ohne Ticket in Frankfurt
landen. Die Verschleierung der Identität im eigenen Land
ist ja fluchttypisch. Darüber brauchen wir uns nicht zu un-
terhalten. Aber wenn diese Menschen bei uns sind, hindert
sie nichts daran, ihre wahre Identität und ihre wahren
Fluchtgründe offen zu legen und mit zur Identifizierung
beizutragen. Das wird eben nicht gemacht.

Ich denke, da müssen wir eine klare Linie zeigen. Nach
meinem Dafürhalten müssen wir deutlich machen, dass
wir nicht die begünstigen, die sich illegal verhalten. Wer
hier ohne gültige Papiere einreist oder die Papiere ver-
nichtet, der richtet sich nach dem Regiebuch der Schleu-
serorganisationen. Das können wir nicht unterstützen.
Wenn wir dem nachgeben würden, würden die, die sich il-
legal verhalten, besser gestellt als die, die hier einreisen,
ihre Personalien bekannt geben und, so wie es sich gehört,
um Asyl nachsuchen. Letztere werden dann unter Um-
ständen schneller abgeschoben als diejenigen, die ihre
wahre Identität verschleiern.


(Zuruf der Abg. Ulla Jelpke [PDS])

Ich denke, das wäre das falsche Signal. Wir müssen die

Lebensbedingungen deutlich verbessern. Aber das Flug-
hafenverfahren werden wir beibehalten.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412728900
Ich
schließe die Aussprache.

Wir kommen zu der Beschlussempfehlung des Innen-
ausschusses zum Antrag der Fraktion der PDS zur Ertei-
lung einer Aufenthaltsbefugnis für lange in Deutschland
lebende Ausländer, Drucksache 14/2066.

Der Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/2509, den
Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussem-
pfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Somit ist

die Beschlussempfehlung mit den Stimmen aller Fraktio-
nen bei Gegenstimmen der PDS-Fraktion angenommen
worden.

Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem
Antrag der Fraktion der PDS zur Abschaffung des Flug-
hafenverfahrens auf Drucksache 14/2979. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/26 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Somit ist die Beschlussemp-
fehlung mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen ange-
nommen.

Ich rufe Zusatzpunkt 13 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung von Vorschriften über die Tätig-

(Wirtschaftsprüferordnungs-Änderungsgesetz WPOÄG)

– Drucksache 14/3649 –

(Erste Beratung 114. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss)

– Drucksache 14/4262 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Rainer Wend

Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISES 90/DIE GRÜNEN vor.

Es ist vereinbart worden, dass die Reden zu diesem Ta-
gesordnungspunkt zu Protokoll gegeben werden.1) Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit der Wirt-
schaftsprüfer auf den Drucksachen 14/3649 und 14/4262.
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir zu-
erst abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ände-
rungsantrag auf Drucksache 14/4268 zustimmen wollen,
um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? –Dann ist der Antrag, wie ich sehe, einstimmig ange-
nommen.

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung mit der soeben beschlossenen Ände-
rung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Dann ist der Gesetzentwurf
in zweiter Beratung einstimmig angenommen.

Interfraktionell ist vereinbart, trotz Annahme einer Än-
derung in der zweiten Beratung jetzt unmittelbar in die
dritte Beratung einzutreten. Sind Sie damit einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.

Wir kommen zur
dritten Beratung

und Schlussabstimmung.




Hans-Peter Kemper

12279


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 6

Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Dann ist der Gesetzentwurf in dritter Le-
sung einstimmig angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Schmidbauer (Nürnberg), Gudrun Schaich-Walch,
Marga Elser, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD sowie der Abgeordneten Katrin
Göring-Eckardt, Kerstin Müller (Köln), Rezzo
Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Ziele für die Qualitätssteigerung in der Diabe-
tes-Versorgung
– Drucksache 14/4263 –

Auch hier ist vereinbart, dass die Reden zu Protokoll
gegeben werden.1) Sind Sie damit einverstanden? – Das ist
der Fall.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4263 an den in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einver-
standen? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer
Funke, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Dr. Edzard

Schmidt-Jortzig, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Umsetzung der EU-Richtlinie
über das Folgerecht des Urhebers des Originals

(Folgerechtsanpassungsgesetz)

– Drucksache 14/3555 –
Überweisungsvorschlag:

Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien

Auch zu diesem Tagesordnungspunkt ist vereinbart
worden, die Reden zu Protokoll zu geben.2) Sind Sie da-
mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann wird so ver-
fahren.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 14/3555 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere
Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.

Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-

tages für morgen, Freitag, den 27. Oktober 2000, 9 Uhr,
ein. Die Sitzung ist geschlossen.