Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebeKolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.Der ehemalige Kollege Klaus Wolfgang Müller
ist aus dem Programmbeirat für die Sonderpostwertzei-chen ausgeschieden. Die Fraktion der SPD schlägt dieKollegin Christa Nickels als ordentliches Mitglied fürden Programmbeirat vor. Sind Sie damit einverstanden? –Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist die KolleginNickels als ordentliches Mitglied im Programmbeirat be-nannt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnenvorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. Erste Beratung des von den Fraktionen von SPD, CDU/CSU,BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
– Drucksache 14/4380 –
Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend2.a) Vereinbarte Debatte zur aktuellen Situation in Nahostb)Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. HelmutHaussmann, Günther Friedrich Nolting, Ulrich Irmer, weitererAbgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Für eine Konferenzfür Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten
– Drucksache 14/4392 – (siehe 126. Sitzung)
Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss3. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger,Marita Sehn, Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und derFraktion der F.D.P.: Börsenhandel mit Emissionszertifikatenin Deutschland konkret vorbereiten – Drucksache 14/4395 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Beratung des Antrags der Fraktionen von SPD und BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Weiterentwicklung der sozialen Pfle-geversicherung – Drucksache 14/4391 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss6. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.: Hal-tung der Bundesregierung zur Forderung von Bundesver-kehrsminister Klimmt, die Ökosteuer im Jahr 2003 zu be-enden7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Adam, IlseAigner, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSU: Verfassungsklage der Bundesregierung ge-gen das Land Nordrhein-Westfalen wegen der Verletzungseiner verfassungsmäßigen Pflichten gegenüber dem Bundim Verfahren zur Aufhebung der Immunität des Abgeord-neten Ronald Pofalla – Drucksache 14/4244 –
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Wettbe-werbsnachteile für deutsches Güterkraftverkehrsgewerbebeseitigen – Drucksache 14/4396 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Fischer
, Dr.-Ing. Diemar Kansy, Eduard Oswald, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Weißbuchüber Harmonisierungsdefizite bei Verkehrsdienstleistun-gen – Drucksache 14/4378 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
FinanzausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union10. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts desRechtsausschusses zu der Streitsache vor demBundesverfassungsgericht 2 BvF1/00 – Drucksache 14/4354 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Rupert Scholz11. Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. HeinrichL. Kolb, Dr. Irmgard Schwaetzer, Rainer Funke, weiteren Ab-geordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs12123
127. SitzungBerlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000Beginn: 9.00 Uhreines Gesetzes zur Intensivierung der Beschäftigungsförde-rung – Drucksache 14/4103 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Tourismus12. Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Pau, HeinrichFink, Roland Claus und der Fraktion der PDS: Arbeitsweiseder Expertenkommission Historische Mitte – Drucksache14/4402 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für Tourismus13. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von
sache 14/3649 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirt-schaft und Technologie – Drucksache 14/4262 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Rainer Wend14. Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-JoachimFuchtel, Gunnar Uldall, Karl-Josef Laumann, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Arbeitslosenversi-cherungsbeitrag senken – Drucksache 14/4377 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschuss15. Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen von SPD,CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grund-gesetzes – Drucksache 14/4380 – (Erste Beratung126. Sitzung)Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
– Drucksache 14/4420 –
Berichterstattung:Abgeordnete Anni Brandt-ElsweierVolker Beck
Jörg van EssenSabine Jünger16. – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen vonSPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Eigenheim-zulagengesetzes und anderer Gesetze – Drucksache14/4130 –
– Zweite und dritte Beratung des von den AbgeordnetenDr. Dietmar Kansy, Dirk Fischer , EduardOswald, weiteren Abgeordneten und der Fraktion derCDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung des Eigenheimzulagengesetzes – Drucksache14/4131 –
– Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
– Drucksache 14/4422 –
Berichterstattung:Abgeordnete Horst SchildElke Wülfing17. Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine Ostrowski,Heidemarie Ehlert, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der PDS: Vorlage einer Verordnung zurUmsetzung des § 6 a des Zweiten Gesetzes zur Änderungdes Altschuldenhilfe-Gesetzes – Drucksache 14/4399 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
FinanzausschussHaushaltsausschuss18. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Haltungder Bundesregierung zu den arbeitsmarktpolitischen Aus-wirkungen der angekündigten Schließung von Bahnwerkendurch die Deutsche Bahn AGVon der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.Außerdem soll die erste Beratung des Gesetzentwurfszur Änderung des Grundgesetzes in Verbindung mit demGesetzentwurf zur Änderung des Abgeordnetengesetzes– Tagesordnungspunkt 7 a und b – vor der Beratung derVorlagen zum Güterkraftverkehrsgewerbe unter Tages-ordnungspunkt 6 aufgerufen werden.Die ursprünglich für Freitag vorgesehene erste Bera-tung des Folgerechtsanpassungsgesetzes – Tagesord-nungspunkt 23 – soll bereits heute als letzter Tagesord-nungspunkt aufgerufen werden.Ferner soll Tagesordnungspunkt 24 a und b abgesetztwerden.Weiterhin mache ich auf nachträgliche Überweisungenim Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:Die in der 124. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesenen nachfolgenden Anträge sollen zusätzlichdem Auswärtigen Ausschuss zur Mitberatung überwie-sen werden.Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bosbach,Peter Hintze, Norbert Geis, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der CDU/CSU: Entwurf derCharta der Grundrechte der EuropäischenUnion – Drucksache 14/4246 –überwiesen:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und MedienAntrag der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Ina Albowitz, Hildebrecht Braun
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der F.D.P.: Europäische Grundrechte-Chartaals Eckstein einer europäischen Verfassung– Drucksache 14/4253 –überwiesen:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Präsident Wolfgang Thierse12124
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und MedienSind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis c auf:a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zum50. Jahrestag der Europäischen Menschen-rechtskonventionb) Beratung des Antrags der Fraktionen von SPD,CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undF.D.P. 50 Jahre Europäische Menschenrechts-konvention– Drucksache 14/4390 –c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Eu-ropäischen Übereinkommen vom 5. März 1996über die an Verfahren vor dem EuropäischenGerichtshof für Menschenrechte teilnehmen-den Personen– Drucksache 14/4298 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Auswärtiger AusschussAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeEs liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDSzur Regierungserklärung vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache im Anschluss an die Regierungserklärungeineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wi-derspruch. Dann ist es so beschlossen.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatdie Bundesministerin der Justiz, Herta Däubler-Gmelin.Dr. Herta Däubler-Gmelin,Bundesministerin der Jus-tiz: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor50 Jahren ist die Europäische Menschenrechtskonventionunterzeichnet worden. Jener Tag der Unterzeichnung warein wichtiger Tag nicht nur in der Geschichte der Men-schenrechtspolitik, sondern auch für die BundesrepublikDeutschland.Erinnern wir uns: Schon im Mai 1948 waren mehr als1 000 Delegierte aus 20 Ländern Europas in Den Haag zu-sammengekommen. Sie verfolgten das Ziel, ein Europawieder aufzubauen, das damals, nach dem Untergang vonNazi-Deutschland, nach Völkermord und Krieg, nochdurch schreckliches Elend und furchtbare Verwüstungengekennzeichnet war. Europa sollte – dazu waren sie ent-schlossen – zu einer Region des Friedens, der Gerech-tigkeit und der Menschenrechte werden. Außerdem woll-ten sie eine wirtschaftliche und politische Union schaffen,die auf gemeinsamen Grund- und Menschenrechten auf-bauen sollte.Unter dem Einfluss der am 10. Dezember 1948 durchdie Generalversammlung der Vereinten Nationen be-schlossenen Allgemeinen Erklärung der Menschen-rechte gingen jene verantwortungsbewussten und enga-gierten Europäer ans Werk, um gemeinsam eine beson-dere europäische Charta der Menschenrechte zu formu-lieren. Das gelang auch. Sie konnte am 4. November 1950unterzeichnet werden. Neben den damals zehn Mitglied-staaten des Europarates wurde auch die junge Bundesre-publik Deutschland zum Kreis der ersten Unterzeichnerzugelassen. Das war so kurze Zeit nach dem Ende desZweiten Weltkrieges sehr ungewöhnlich. Wenige Monatezuvor war die Bundesrepublik als assoziiertes Mitglied inden Europarat aufgenommen worden. Dieser Schrittbrachte, wie Helmut Schmidt es einmal ausdrückte, denDeutschen „die doppelte Hoffnung auf europäische Part-nerschaft und Demokratie“ und die Rückkehr in die Ge-meinschaft rechtsstaatlicher Demokratien.Mit seiner Einladung zur Mitwirkung beim Wiederauf-bau Europas und zur Schaffung eines stabilen europä-ischen Fundaments gemeinsamer Grund- und Menschen-rechte brachte Europa damals der BundesrepublikDeutschland großes Vertrauen entgegen. Das hat unsDeutschen ganz ohne Zweifel sehr dabei geholfen, unserestabile rechtsstaatliche und soziale Demokratie aufzu-bauen und die Grund- und Menschenrechte in unseremLand zu verankern. Dieser damalige Vorschuss an Ver-trauen verpflichtet uns auch heute zu einer besonderswirksamen Politik in Bezug auf Menschenrechte.
Nach 50 Jahren können wir die Rolle und die Bedeu-tung der Europäischen Menschenrechtskonvention in die-sem Prozess in vollem Umfang würdigen. Die Europä-ische Menschenrechtskonvention ist heute ganz ohneZweifel zum umfassendsten und zum effektivsten regio-nalen Menschenrechtssystem geworden, das gegenwärtigauf der Welt existiert. Es ist gelungen, den Schutz derMenschenrechte trotz aller Schwierigkeiten in bemer-kenswerter Weise voranzubringen. Auch wegen der Euro-päischen Menschenrechtskonvention ist Europa – bei al-len Schwierigkeiten und bei all dem, was noch verbessertwerden muss – zu dem Kontinent geworden, in dem Men-schenrechte und Menschenrechtsschutz einen hervorra-genden Platz einnehmen. Allerdings galt das während desKalten Krieges und der Teilung Europas freilichzunächst nur für den westlichen Teil.Nach der Überwindung von Mauern und Stachel-drahtzäunen bemühen sich heute alle 41 Mitgliedstaatendes Europarates, Menschenrechte und Menschenrechts-schutz in ganz Europa zu verankern. Dabei ist die Euro-päische Menschenrechtskonvention zur Eintrittskarte inein Europa der Menschenrechte, des Friedens, der Frei-heit, der Sicherheit und des Rechts – man spricht auchvom Dreiklang von Demokratie, Menschenrechten undRechtsstaat – geworden. Damit wiederholt sich nach derÜberwindung der Spaltung Europas das, was wir Deut-sche in der jungen Bundesrepublik Deutschland nach demKrieg vor 50 Jahren erleben durften: der Aufbau Europasdurch Schaffung einer – jetzt größeren – Gemeinschaftdemokratischer Rechtsstaaten.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Präsident Wolfgang Thierse12125
Worin liegen nun die Besonderheit und die Bedeutungder EMRK? Der Präsident des Europäischen Men-schenrechtsgerichtshofs in Straßburg, Luzius Wildhaber,hat die Entwicklung einmal so zusammengefasst: Nach50 Jahrenwissen wir: Die Konvention war ihrer Anlage nachvon Anfang an ein Text, der geeignet war, auf dieRechtsordnungen der Vertragsstaaten einschneidendund entscheidend zu wirken. Mit ihrem Vertrauen indie Europäische Menschenrechtskommission und inden Europäischen Gerichtshof für Menschenrechtewaren es die Bürger, die mit ihrem Gang nach Straß-burg den Konventionsorganen die Möglichkeit ga-ben, die Rechte und Freiheiten der Konvention zurWirkung zu bringen.In der Tat waren die Auswirkungen jener Konventiontief greifend. Allerdings waren sie bei uns in der Bundes-republik Deutschland national weit weniger spürbar als inden anderen Mitgliedstaaten. Das ist leicht zu erklären,weil die einklagbaren Grund- und Freiheitsrechte derEMRK, also das Recht auf Leben, das Verbot von Folter,Sklaverei und Zwangsarbeit, das Recht auf Freiheit, aufSicherheit, auf wirksame Beschwerde, auf ein faires Ver-fahren, auf Achtung des Privat- und Familienlebens undauf Eheschließung, die Gedanken-, Gewissens- und Reli-gionsfreiheit, die Freiheit der Meinungsäußerung, dieVersammlungs- und Vereinsfreiheit, das Diskriminie-rungsverbot und der wichtige Grundsatz, dass keineStrafe ohne geltende Gesetze ausgesprochen und verhängtwerden darf, in unserer nationalen Grundrechteordnungverankert sind. Zudem sind diese Rechte im Grundgesetzpräziser formuliert und in einigen Teilen gehen sie weitüber die Europäische Menschenrechtskonvention hinaus.Lediglich – auch das soll erwähnt werden – der Grund-satz der Versammlungsfreiheit und der Vereinigungsfrei-heit ist in der Europäischen Menschenrechtskonventionals Jedermannsrecht verankert und damit weiter ausge-staltet als in der Bundesrepublik Deutschland.Hinzu kommt, dass bei uns die Individualbeschwerdezum Europäischen Gerichtshof im Bewusstsein unsererBevölkerung durch unsere außerordentlich bedeutungs-volle und auch weit reichende nationale Verfassungsbe-schwerde zum Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe et-was verdrängt oder zumindest zurückgedrängt wurde.Dennoch können und wollen wir festhalten, dass dieEinführung der Individualbeschwerde, die nun neben derStaatenbeschwerde besteht, ein absolutes Novum im Völ-kerrecht darstellt und einen wichtigen Meilenstein mar-kiert, und zwar sowohl auf europäischer Ebene als auch– das sollten wir nicht vergessen – in jenen Mitgliedstaa-ten, die weniger wirksame Systeme des gerichtlichenGrundrechtschutzes kannten oder kennen als wir in derBundesrepublik Deutschland. Dort hat sie große Wirkunggezeigt und – genau wie die Verfassungsbeschwerde inDeutschland – ganz entscheidend dazu beigetragen,Grund- und Menschenrechte durchzusetzen und sie fürdie Bürgerinnen und Bürger in der Praxis erfahrbar zumachen. Damit hat die Individualbeschwerde die Grund-und Menschenrechte nicht nur zum gesicherten Bestandder europäischen Rechtskultur werden lassen, sondernauch zu deren Verankerung im Bewusstsein der Menschenbeigetragen.
Insgesamt besitzt heute die Europäische Menschen-rechtskonvention – auch das kann festgestellt werden –ihre besondere Bedeutung deshalb, weil sie einen gesamt-europäischen Mindeststandard an Grund- und Men-schenrechten enthält und damit – dies gilt auch für dieRechtsprechung des Europäischen Menschenrechts-gerichtshofes – nicht allein die Tradition eines Landes re-präsentiert und in die Rechtsprechung einbringt, sonderndie ganz unterschiedlichen Rechtstraditionen, Befindlich-keiten und Zustände der 41 verschiedenen Mitgliedstaa-ten des Europarates.Sie gilt heute – das macht ebenfalls ihre Bedeutung aus –für mehr als 800 Millionen Menschen und sichert für siealle einen Mindeststandard an Grund- und Menschen-rechten. Das sucht auf der Welt seinesgleichen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einiges zurGeschichte und zu den Auswirkungen der EuropäischenMenschenrechtskonvention in den letzten 50 Jahren in Er-innerung rufen: Bekanntlich wurde die EMRK durch elfpräzisierende Zusatzprotokolle ergänzt, die teilweiseselbst Bestandteil der EMRK geworden sind. NächsteWoche wollen wir im Rahmen des Festaktes in Rom das12. Zusatzprotokoll unterzeichnen. In ihm geht es darum,auch auf gesamteuropäischer Ebene den Schutz vor Dis-kriminierungen auszubauen.Eines dieser Protokolle, nämlich das 6. Zusatzproto-koll zur Abschaffung der Todesstrafe, möchte ich we-gen seiner besonderen Bedeutung erwähnen. Wir habenauf nationaler Ebene in unserem Grundgesetz die Ab-schaffung der Todesstrafe längst festgeschrieben. Das istgut so. Der Grund dafür liegt vor allem in unseren Erfah-rungen mit der Nazidiktatur, in der aufgrund der damalsbestehenden Rechtlosigkeit ungehemmt auch Gerichte alsMordinstrumente eingesetzt wurden und massenhaft töd-licher Machtmissbrauch getrieben wurde. Solche Erfah-rungen, die Erfahrungen anderer Länder mit Machtmiss-brauch und nicht mehr korrigierbaren gerichtlichenFehlurteilen, aber auch die gültigen Gründe der Moral,der Menschlichkeit und der Rechtskultur sowie danebenganz praktische Erwägungen darüber, was eine wirksamerechtsstaatliche Kriminalpolitik verlangt, all das ist in das6. Zusatzprotokoll eingeflossen.Dieses Zusatzprotokoll hatte große Wirkungen: Es hatgeholfen, die Todesstrafe in Europa Schritt für Schrittzurückzudrängen. Nur ein einziges Europaratsmitglied,nämlich die Türkei, hat dieses Zusatzprotokoll bishernicht unterzeichnet. Das und andere Probleme im Men-schenrechtsbereich weisen darauf hin, wie viel noch zutun ist. Aufforderungen zu Wandel und effizienter Men-schenrechtspolitik sind gerade deshalb nicht allein Teilder Politik des Europarates gegenüber der Türkei, sondernauch Teil unserer Politik im Rahmen unserer zwi-schenstaatlichen Beziehungen.Polen und Russland haben das Zusatzprotokoll nochnicht ratifiziert. Dennoch ist Europa – das lässt sich heute
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin12126
mit großer Genugtuung feststellen – zu einer Region na-hezu ohne Todesstrafe geworden.Jetzt zu einem anderen Punkt: Ich möchte daraufzurückkommen, dass der Präsident des EuropäischenMenschenrechtsgerichtshofes das Vertrauen der Bürge-rinnen und Bürger in den Menschenrechtsgerichtshof alsTeil der Erfolgsgeschichte der Europäischen Menschen-rechtskonvention gewürdigt hat. Er hat dies zu Rechtgetan. Denn in der Tat, wenden sich der immer mehrMenschen mit einer Individualbeschwerde an den Men-schenrechtsgerichtshof in Straßburg, der seit zwei Jahrenals ständiges Gericht mit je einem hauptamtlichen Richterpro Mitgliedstaat arbeitet. Wir wissen, dass seine Urteilejene von nationalen Gerichten nicht aufheben können,auch keine Verwaltungsakte und keine nationalen Ge-setze. Auch können sie einen Staat nicht zu Gesetzen oderVerwaltungsakten verpflichten.Dennoch entfalten seine Entscheidungen große Wir-kungen, und zwar aus folgenden Gründen: Zum Erstengibt es nationale Vorkehrungen wie bei uns in Deutsch-land. Wir haben zum Beispiel mit der Möglichkeit zurstrafverfahrensrechtlichen Wiederaufnahme eine die-ser Wirkungen in Gang gesetzt. Zum Zweiten ist aberauch die Zuerkennung von Entschädigungen für den inseinen Menschenrechten verletzten Kläger eine wirksameMaßnahme. Die Mitgliedstaaten müssen diese Entschädi-gungen bezahlen. Sie sind durchaus spürbar. Zum Drittenwirkt sich auch die Erwartung der europäischen Rechts-gemeinschaft sehr deutlich dahin aus, dass nationale Ge-setze, die der Europäischen Menschenrechtskonventionnicht entsprechen, zügig geändert werden. Das wird durchdas Ministerkomitee des Europarates kontrolliert.Lassen Sie mich noch hinzufügen: Weil mit den Ver-fahren in Straßburg häufig allgemeine Missstände derMenschenrechtspraxis in einem Land deutlich und damitpublik gemacht werden, beschränken sich die Auswir-kungen eines Urteils – ganz ungeachtet seiner begrenztenjuristischen Bindungswirkung – keineswegs auf Einzel-fälle. All das zusammen ergibt den derzeitigen wirksamenMenschenrechtsschutz.In diesem Jahr sind bisher 15 000 Verfahren in Straß-burg registriert und geprüft worden. Das bedeutet gegen-über dem letzten Jahr einen Anstieg um 22 Prozent. BisEnde des Jahres rechnet man mit 16 000 bis 17 000 Ver-fahren.Aus welchen Staaten kommen denn nun die Be-schwerdeführer? Die Antwort auf diese Frage gibt unsHinweise darauf, wo bestimmte Menschenrechtsfragennicht in Ordnung sind. Auch das muss öffentlich bespro-chen und diskutiert werden: im Europarat, aber auch zwi-schen den Staaten sowie zwischen dem Gerichtshof undden Staaten selbst. Wiederum steht die Türkei mit etwa2 500 Verfahren an der Spitze. Das ist einerseits ein Zei-chen des zunehmenden Vertrauens der türkischen Bürge-rinnen und Bürger in die EMRK und in den Menschen-rechtsgerichtshof. Es zeigt aber andererseits, dass hiernoch viel zu tun ist.Nehmen wir ein anderes Land. Aus Italien kommen2 000 Verfahren. Dort steht in aller Regel – deswegen be-tone ich das – die Überlänge von gerichtlichen Verfahrenim Vordergrund, die ebenfalls den Grundsatz des fairenVerfahrens verletzen und damit Menschenrechte beein-trächtigen können. Auch hier wird ständig auf Abände-rung der Gesetze und der Verfahren gedrängt.Aber auch die Bundesrepublik Deutschland hat keinenGrund, in irgendeiner Weise überheblich zu sein. Aus un-serem Land kommen noch immer 400 bis 500 Beschwer-den nach Straßburg. Wir sind hier voll eingebunden. Ganzoffensichtlich gibt es einen Bedarf.Insgesamt aber – das zeigt eine neue, sehr interessanteEntwicklung – kommt im Jahr 2000 zum ersten Mal dieMehrzahl aller Beschwerden aus den 17 neuen Mitglied-staaten Mittel- und Osteuropas, die dem Europarat undder Europäischen Menschenrechtskonvention vor einigenJahren beigetreten sind. Das heißt, auch in diesem Teil Eu-ropas nehmen das Bewusstsein und die Kenntnis derMenschenrechte und – lassen Sie mich das wiederholen –das Vertrauen in das europäische Menschenrechtschutz-system zu.Aus Russland kommen über 1 000 Beschwerden. Einerheblicher Teil bezieht sich übrigens auf den Tschetsche-nien-Krieg.Diese Zahlen zeigen nicht nur die Wirksamkeit und dasVertrauen in diesen Schutz der Menschenrechte, sondernsie weisen natürlich auch auf einen Problembereich hin,der ebenfalls besprochen werden muss: auf die Gefahr,dass der Menschenrechtsgerichtshof zum Opfer seines ei-genen Erfolgs wird, weil er mit Beschwerdeverfahrenüberschwemmt wird. Hier beginnt die Verpflichtung derBundesrepublik Deutschland – von der ich vorher ge-sprochen habe – Abhilfe zu schaffen. Ich erkläre an dieserStelle: Die Bundesregierung bejaht ihre Verantwortung.Wir werden alles in unseren Kräften Stehende tun, um dieArbeitsfähigkeit des Menschenrechtsgerichtshofes zu er-halten.
Das bedeutet nicht nur, dass man die Arbeitsweise un-terstützt oder mit finanziellen und praktischen Mittelnhilft, sondern das kann auch bedeuten, dass man dafürsorgt, die Entscheidungen dieses Gerichtshofs durchÜbersetzungen in allen Sprachen der Mitgliedstaaten be-kannt zu machen. Bisher gibt es zwei Amtssprachen.Natürlich ist die weitergehende Übersetzung ein teueresund lästiges Geschäft; das ist gar keine Frage. Aber dieEntscheidungen von europäischen Gerichten können nurdann in den jeweiligen Nationalstaaten zur Kenntnis ge-nommen, rezipiert und dann dort in ihrer Vorbildfunktionbeachtet werden, wenn sie in der jeweiligen Landesspra-che zur Verfügung stehen. Das sehen wir an der Wirk-samkeit der Urteile des Europäischen Gerichtshofs inLuxemburg, wo das ja so ist. Es ist aber doppelt so not-wendig für den Europäischen Menschenrechtsgerichtshofund seine Aufgabe, für 41 ganz unterschiedliche Staateneinen gemeinsamen Bestand an Grund- und Menschen-rechten zu sichern. Ich glaube, auch hier kann die Bun-desrepublik Deutschland helfen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin12127
Neben den juristischen Instrumenten der Staaten undder Individualbeschwerde gibt es eine Menge politischerInstrumente, die ihre Wirksamkeit sehr deutlich bewiesenhaben. Lassen Sie mich zwei nennen, die präventiv wir-ken: den 1987 durch das Europäische Übereinkommenzur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder er-niedrigender Behandlung oder Strafe geschaffenen Anti-Folter-Ausschuss, der die Aufgabe hat, in den Mitglied-staaten die Rechte gerade jener Menschen zu sichern,denen die Freiheit entzogen wurde, und die 1993 durchden Wiener Gipfel der Staats- und Regierungschefs ein-gesetzten so genannten Country-by-country-Gruppender Europäischen Kommission gegen Rassismus und In-toleranz, ECRI. Auch die Bundesrepublik Deutschland istin diese politischen Instrumente eingebunden.Der Ausschuss zur Verhütung von Folter und un-menschlicher Behandlung geht nicht nur in anderen Län-dern, sondern auch bei uns in psychiatrische Anstalten,Haftanstalten und Einrichtungen, in denen Asylsuchendefestgehalten werden. Findet er Mängel oder Beanstan-dungen, fasst er diese in einem Bericht zusammen undlegt sie der internationalen Gemeinschaft, aber auch derBundesrepublik Deutschland vor; er gibt konkrete Emp-fehlungen und drängt darauf, dass abgeholfen wird.Die Country-by-country-Gruppen untersuchen, wasMitgliedstaaten gegen Rassismus und Intoleranz in ihremjeweiligen Staat tun; gerade in dieser Woche ist eine De-legation in der Bundesrepublik Deutschland. Wir werdenihr eine Menge zu erklären haben – ich denke, das könnenwir auch tun –: nicht nur, dass die Bundesrepublik, undzwar auf allen Ebenen, mit Polizei und Justiz gegen Ge-walt, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit vorgeht, son-dern dass wir alle auch deutlich auf die Zivilcourage derBürgerinnen und Bürger, auf ihren Anstand und auf ihrEngagement zur Durchsetzung der Menschenrechte indiesem Bereich setzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute gilt die Euro-päische Menschenrechtskonvention für 800 MillionenMenschen. Aber der Beitritt zu dieser Konvention – wieauch der Beitritt zum Europarat – bedeutet noch mehr: Erstellt politisch einen wichtigen Schritt zum EU-Beitrittdar. Aktive Mitarbeit in der Menschenrechtspolitik ist einVorbereitungsschritt für einen späteren Beitritt zur Euro-päischen Union. Über Art. 49 und Art. 6 des EU-Vertra-ges ist die Europäische Menschenrechtskonvention prak-tisch Teil des Gemeinschaftsacquis. Die Bundesrepublikunterstützt bekanntlich Staaten in Mittel- und Osteuropaauf ihrem Weg zum demokratischen Rechtsstaat. Mit die-ser Hilfe beim Aufbau geben wir das Vertrauen weiter, daswir selber nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten haben.Lassen Sie mich zum Schluss noch auf einen anderenwichtigen Punkt hinweisen. Vor kurzer Zeit hat der Deut-sche Bundestag den Text der neu erarbeiteten Europä-ischen Grundrechte-Charta der Europäischen Uniondiskutiert und ausdrücklich begrüßt, dass es gelungen ist,die Europäische Menschenrechtskonvention, den Bestandan nationalen Grundrechten in den Mitgliedstaaten unddie Grundrechterechtsprechung des Europäischen Ge-richtshofs in Luxemburg sowie auch die nationalenGrundrechteordnungen zu dieser gemeinschaftlichen,modernen Charta weiterzuentwickeln.Das Verhältnis zwischen dieser Grundrechte-Chartaund der EMRK ist klar und durch die Charta selbst gere-gelt; Konflikte sind deshalb ausgeschlossen. Die Konven-tion ist wichtige Quelle, eine Art von Mindestgarantie.Die Europäische Grundrechte-Charta trägt dazu bei, deneuropäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und desRechtes im Bereich der EU auszubauen und zu festigen.Sie ist präziser, umgreift ein höheres Schutzniveau und istinsgesamt moderner. Ich stelle das fest, weil ich glaube,dass die Charta uns weiterbringt, und weil die Grund-rechte-Charta vielleicht auch als ein Vorbild für die Wei-terentwicklung der Europäischen Menschenrechtskon-vention dienen kann, die vor 50 Jahren sozusagen alserstes europäisches Gesetz in schwieriger Zeit den Bodendafür bereitet hat, auf dem wir heute weiterarbeiten kön-nen.Die Bundesregierung und der Bundestag haben dieMenschenrechtspolitik zu einem ihrer wichtigen Schwer-punkte erklärt. Wir kommen voran. Die Arbeit desMenschenrechtsausschusses und der erweiterte Men-schenrechtsbericht, der auch eine Übersicht über das ent-hält, was wir in unserem eigenen Land erreicht haben undwas wir noch tun müssen, zeigen das ebenso wie dasbeabsichtigte eigenständige und unabhängige Men-schenrechtsinstitut.Wir betonen die Menschenrechtspo-litik auch auf internationaler Ebene und führen Rechts-staatsdialoge. Morgen werden wir voraussichtlich dieVoraussetzungen zur Ratifizierung des Statuts des Inter-nationalen Strafgerichtshofs durch die BundesrepublikDeutschland schaffen können. Das alles ist gut für dieMenschenrechte und ihren Schutz.Der große Europäer Carlo Schmid hat in der Debattedes Deutschen Bundestages über den Beitritt zur EMRKerklärt, es gehe darum,die Verteidigung der Sache der Freiheit des Einzel-menschen aus der bloßen Sphäre der nationalstaatli-chen Jurisdiktion herauszunehmen und zu einer in-ternationalen Angelegenheit, zu einem Anliegen derVölker, zu machen.Das ist gelungen und diesen Weg werden wir fortset-zen.Danke schön.
Ich erteile dem Kolle-
gen Christian Schwarz-Schilling, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.
HerrPräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Immanuel Kant hat von den universellen Menschenrech-ten gesprochen und sie als Ausprägungen der gleichenFreiheit eines jeden Menschen nach seiner Natur inter-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin12128
pretiert. Aber unsere historische Erfahrung zeigt, dass dieUmsetzung dieser Rechte und dieses Menschenbildes indie Politik und in die Strukturen unserer gesellschaftli-chen Situation ein ganz mühsamer Prozess ist, der ständi-ges Argumentieren, Diskutieren und Appellieren an dieVernunft sowie das Wegräumen von Barrieren auch ausfrüheren Zeiten erfordert.Die Macht von Diktatoren in totalitären Staaten wirdnicht von einem Tag auf den anderen gebrochen; es dau-ert manchmal lange, zu lange. Das zeigen die Leiden derMenschen, wie wir sie auch heute sehen können. DerWeg, den Jugoslawien genommen hat, bietet ein gutesBeispiel dafür, wie lange es dauert, welche Kernerarbeitgeleistet werden muss und wie sehr diejenigen, die einesolche Charta vereinbart und verabschiedet haben, in deraktiven politischen Handlung versagen, wenn es daraufankommt. Wir können nur bestehen, wenn wir das, waswir in dieser Charta festgelegt haben, jeden Tag wiedermit neuem Leben erfüllen.Es ist kein Zufall, dass nach 1945, in der Zeit nach demZweiten Weltkrieg, als wir auf dem Scherbenhaufen un-serer Geschichte standen, eine ganze Reihe von solchenDokumenten entstanden ist: 1945 die sehr beachtlicheGründungsentschließung der Vereinten Nationen, 1948die Charta der Menschenrechte der Vereinten Nationen,die allerdings keine völkerrechtlichen Bindungen ermög-lichte, und dann 1950 die Europäische Menschenrechte-Charta; die am 4. November feierlich unterzeichnetwurde – ein Dokument von ganz besonderer Bedeutungdes 1949 gegründeten Europarates und wahrscheinlichdas gewichtigste Dokument, das dieser Europarat als einegewaltige Perspektive der Zukunft hervorgebracht hat.Europa ist aus dem Schatten herausgetreten. Wir habenweiß Gott viele, zu viele Ideologien um die Welt ge-schickt, die viele Katastrophen und Leiden angerichtet ha-ben. Aber die Europäische Menschenrechte-Charta ist einDokument, das um die Welt gegangen ist und auf das wirstolz sein können. Auch das gehört zu Europa, ich möchtefast sagen: Das ist in Wirklichkeit Europa.
Wir müssen nur an die großen geistigen Entwicklungenund Ideen denken, angefangen von der Stoa von 300 vorChristus, in der bereits das Schaffen von Recht und Ge-setz als die wichtigste Aufgabe der menschlichen Naturbezeichnet wurde, über die – im Mittelalter – MagnaCharta von 1215, in der Gruppen und Korporationen derGesellschaft die Möglichkeit eingeräumt wurde, sich ei-gene Rechte gegenüber dem Staat zu sichern, über die Ha-beas-Corpus-Akte von 1679, in der bereits das Individu-alrecht, der Schutz des Individuums vor staatlichenÜbergriffen, niedergelegt wurde, bis hin zu den Bill ofRights von 1776 und der Französischen Revolution von1789, in der gefordert wurde, dass es natürliche Rechtedes Menschen gibt und dass diese nur durch die Rechteanderer Menschen eingeschränkt werden dürfen.Die Europäische Menschenrechtskonvention ist – daswurde eben schon von der Frau Justizministerin gesagt –damals etwas Einzigartiges und etwas Wegweisendes ge-wesen. Sie hat sich dazu verstanden, ein bindendervölkerrechtlicher Vertrag mit der Verpflichtung für alleVertragspartner zu sein, allen Bürgern, die der Hoheitsge-walt der Vertragspartner unterworfen sind, grundlegendeMenschenrechte einzuräumen und eine Überwachung derEinhaltung dieser Menschenrechte in ihrem Hoheitsbe-reich zuzulassen. Auch das ist vollkommen neu. Des Wei-teren sind Urteile des Europäischen Gerichtshofs fürMenschenrechte rechtsverbindlich für alle Partnerstaaten.Das hat es bisher nicht gegeben. Hier zeigt sich die Fan-tasie Europas, die sich aus der Tradition entwickelt hat,die ich eben aufzuzeigen versucht habe.Nach der Unterzeichnung des 11. Zusatzprotokolls imMai 1994, das am 1. November 1998 in Kraft trat, istkeine gesonderte Unterwerfungserklärung der Staatenmehr erforderlich, um den Urteilen des Europäischen Ge-richtshofs für Menschenrechte Rechtsgültigkeit zu verlei-hen; denn die Mitglieder der Europäischen Union sindnach dem In-Kraft-Setzen des 11. Zusatzprotokolls auto-matisch der Rechtsprechung dieses Gerichtshofs unter-worfen. Darüber kann es keine Diskussion mehr geben.Zu dieser Unterwerfung haben wir uns alle verpflichtet.Außerdem wurden hauptamtlich tätige Richter ein-gesetzt. Auch das ist ein wesentlicher Punkt; denn bis indie 80er-Jahre hinein wurden die Sitzungen des Europä-ischen Gerichtshofs für Menschenrechte nur von neben-amtlich tätigen Richtern geleitet, die zwar – sehr konzen-triert – einige Male pro Jahr tagten, dann aber nicht mehr.Auf diese Weise konnten gerade einmal sieben Urteile proJahr gefällt werden. Das ist nun vorbei. Im Mai dieses Jah-res waren beim Europäischen Gerichtshof für Menschen-rechte 13 771 Verfahren anhängig, von denen 10 000 nochnicht einmal geprüft worden waren. Deswegen müssenwir dafür sorgen, dass der Gerichtshof angemessen aus-gestattet wird – daran sollten wir immer denken –, um dieProzesse nicht zu bürokratisch und damit wirkungsloswerden zu lassen. Die Gefahr, dass das geschieht, ist mo-mentan sehr groß. Schließlich ist ein völkerrechtlich ver-ankertes Individualrecht auf Beschwerde ebenfalls etwasNeues in unserer Welt.Die Europäische Menschenrechtskonvention gilt – dasist großartig; daran kann man sich berauschen – mittler-weile für 800 Millionen Menschen in Europa, von Islandbis zum Gelben Meer. Aber wir müssen hier im Kernbe-reich Europas gewissermaßen ein Nukleus sein, um dieKompetenz, die erforderlich ist, um das, was damit ge-schaffen wurde, mit Leben zu erfüllen, auch sichtbar zumachen. Der Bund hat in diesem Bereich große Aufgabenübernommen. Ich sage deshalb an die Adresse des Außen-ministers: Uns fällt eine große Verantwortung bei derBeurteilung menschenrechtlicher Tatbestände im Auslandzu, weil diese Beurteilungen in unsere innerdeutscheRechtsprechung einfließen werden und sie für die Men-schen, die sich in Deutschland in einem Asyl- oder Bür-gerkriegsflüchtlingsverfahren befinden, Leben oder Todbedeuten können, in jedem Fall schicksalsentscheidendsind. Das ist eine unglaubliche Verantwortung, der wiruns offensichtlich – ich muss sagen: jedenfalls manch-mal – nur sehr zögerlich bewusst werden.Auch die deutschen Bundesländer stehen in der Ver-antwortung; denn hinsichtlich dessen, was nach dem
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Grundgesetz in ihre Zuständigkeit fällt, ist noch viel an-zupacken. Ein positiver Beitrag der Bundesländer zu die-sem dynamischen Prozess im 21. Jahrhundert ist sehr er-wünscht. Auch da muss man die Dinge neu prüfen undgenau sehen, was die Anforderungen sind, die über dieseeuropäische Konvention an unsere Zuständigkeiten ge-stellt werden. Dieses Bewusstsein ist noch sehr schwachausgebildet. Das muss ich einmal deutlich sagen.
Meine Damen und Herren, vergessen wir auch nichtdie großen Leistungen, die uns die Nichtregierungsorga-nisationen auf diesem Feld vormachen. Was würde allesunter den Teppich gekehrt, wenn wir die nicht hätten! Waswürde alles gar nicht erscheinen!
Diesen Organisationen kann man nur danken. Ich rate alldenen, die es auch bei uns gibt, ihre Arroganz gegenüberdiesen Organisationen mehr und mehr abzustreifen, dennsie sind die wahren Wahrer europäischer Tradition undeuropäischer Kultur, ob man das jetzt „Leitkultur“ nenntoder nicht. Das, meine Damen und Herren, sind die Fra-gen, die Europa ausmachen, und das ist auch die deutscheVerfassungskultur, die in Deutschland das Grundgesetzausmacht. Wenn wir uns darauf verstehen, braucht manauch nicht mehr darüber zu streiten.
Lassen Sie mich zum Schluss Folgendes sagen: Dergroße Völkerrechtler Hugo Grotius, der im Übrigen fastsein ganzes Leben im Exil leben musste, auch damals inEuropa, hat schon im 16. Jahrhundert gesagt: Wir müs-sen uns mit allen unseren Kräften –„omnibus viribus“ –jetzt und jederzeit gegen das Herabfließen der Dingewehren. – Das heißt, er hat erkannt, dass die Natur desMenschen es leider zulässt, dass ein erreichter Stand ganzschnell wieder hinunterfließen kann.Das kann uns hier ganz genauso passieren. Was habenwir nicht schon alles auch vor den 30er-Jahren an Errun-genschaften gehabt, und dennoch müssen wir feststellen,dass der Barbarei, die dann gekommen ist, kein energi-scher Widerstand entgegengesetzt wurde, trotz schon da-mals bestehender Verpflichtungen.Nein, auf diesem Feld müssen wir die Dinge, die voruns liegen, anpacken und jede Generation muss wenigs-tens ein sichtbares Stück auf diesem beschwerlichen Wegweiter nach oben gehen. Das ist politische Arbeit undgleichzeitig Arbeit an unserer Kultur. Daran wird sichauch entscheiden, nach welchem Leitbild die junge Ge-neration ihren Beitrag leisten wird.Ich danke Ihnen.
Ich erteile dem Kolle-
gen Rudolf Bindig, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! In der Tat ist mit der EuropäischenMenschenrechtskonvention ein einzigartiges System zumSchutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten geschaf-fen worden. Die Frau Ministerin und mein Vorrednerhaben dies bereits gewürdigt, und ich kann mich dieserWürdigung anschließen. Ich kann deshalb meine Aus-führungen auf drei Bereiche konzentrieren, in denen es ineinem gewissen Sinne Probleme gibt, die beachtet werdenmüssen, damit wir dieses wertvolle Schutzsystem erhal-ten können. Es geht um die Arbeitsfähigkeit des Europä-ischen Gerichtshofes für Menschenrechte, es geht um dieProbleme bei der Umsetzung der Urteile und um das Ver-hältnis der Europäischen Menschenrechtskonvention zurEuropäischen Grundrechte-Charta.Herzstück des gesamten Systems ist der Gerichtshof.Es muss ihm ermöglicht werden, dass er zeitgerecht qua-litativ hochwertige Urteile fällt. Der Europäische Ge-richtshof für Menschenrechte sieht sich einer dramatischwachsenden Zahl von Fällen ausgesetzt. Einige Zahlensind genannt worden. Ich will das noch einmal in dieReihe bringen.Während sich die Zahl der jährlich registrierten Be-schwerden von 404 im Jahre 1980 auf 2 037 im Jahre1993 verfünffacht hat, hat sich diese Zahl nach der Er-weiterung in Richtung Osteuropa bis 1997 nochmals auf4 750 verdoppelt. Von 1997 bis 1999 gab es erneut eineZunahme um 77 Prozent. Diese Tendenz wird sich weiterfortsetzen. Nach realistischen Schätzungen des Präsi-denten des Europäischen Gerichtshofes für Menschen-rechte, des Schweizers Luzius Wildhaber, muss bei der-zeit 41 und künftig 43 Mitgliedstaaten und 800 MillionenBeschwerdeberechtigten mit circa 20 000 Beschwerdenpro Jahr gerechnet werden. Dies kann mit der derzeitigenAusstattung nicht bewältigt werden. Der Gerichtshof wirdschon in diesem Jahr, aber auch, wenn sich daran nichtsändert, im Laufe der nächsten Jahre einen erheblichenRückstand aufbauen und den Erwartungen, die die Men-schen in Europa diesem Rechtsschutzsystem entgegen-bringen, nicht mehr voll gerecht werden können. Eine re-striktive Budgetpolitik auf der Grundlage eines sogenannten realen Nullwachstums bei den Mitteln für denEuroparat, wie es von den so genannten großen Beitrags-zahlern, darunter auch Deutschland, betrieben wird, passtmit einem drastischen Wachstum der Fälle einfach nichtzusammen.
Es wird sonst zu einem K.o. kommen. Der EuropäischeGerichtshof für Menschenrechte wird genau jenes Pro-blem haben, welches er selber in Urteilen oft verurteilt,nämlich dass es überlange Verfahrensdauern gibt.Dem Gerichtshof geht es dabei ähnlich wie den ande-ren Institutionen des Europarates. Der Präsident der Par-
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lamentarischen Versammlung, Lord Russell-Johnston, hatdas neulich etwas verbittert wie folgt ausgedrückt: Re-gelmäßig kommen zum Europarat Staats- und Regie-rungschefs, halten in der Versammlung eine Rede, lobenund preisen den Europarat und seine Institutionen undwürdigen den Beitrag des Europarates zum Schutz derMenschenrechte, zur Förderung von Demokratie undRechtsstaatlichkeit und gehen, ohne zu beachten, dassgute Arbeit auch ihren Preis hat. Man könne, so LordRussell-Johnston, auch nicht in ein gutes Restaurant ge-hen, hervorragend speisen und gut trinken und dann glau-ben, dafür müsse man keinen angemessenen Preis zahlenoder man bekomme dies zu einem Preis für ein Kantinen-essen.
Präsident Wildhaber – ich habe ihn danach gefragt –schätzt, dass das Problem von allen Mitgliedsländern mitetwa 3 Millionen Euro gelöst werden könne. Nach demüblichen Schlüssel wären das für Deutschland450 000Euro. Es müsste doch möglich sein, dies aufzu-bringen.
Ein weiterer Problemkreis ist die Umsetzung der Ur-teile. Die Staaten müssen einmal die Urteile in den Fällenumsetzen, an denen sie selbst beteiligt sind. Die Staatenmüssen aber auch beachten, dass andere Fallentscheidun-gen Auswirkungen auf das eigene Rechtssystem und dieeigene Rechtspraxis haben. Es ist die Aufgabe des Minis-terkomitees, die Ausführung der Urteile zu überwachen.Die Konvention sieht jedoch keine Sanktionen vor, wennein Staat die Urteile des Gerichtshofes nicht ausführt. Hiergibt es Anlass zu wachsender Sorge. Es gibt bisher –Gott sei Dank – nur einige wenige Fälle, in denen die be-troffenen Staaten die Urteile nicht oder nur unzureichendumgesetzt haben. Es kann aber auch sein, dass sie nichtdie notwendigen Reformen vornehmen, die sie eigent-lich vornehmen müssten, um weitere Verletzungen zuvermeiden. Die Gründe dafür mögen vielfältig sein:Schwierigkeiten bei der Interpretation der Urteile, politi-sche Gründe, finanzielle Gründe, Schwierigkeiten, diesvor der öffentlichen Meinung im Lande umzusetzen.Trotzdem ist es äußerst wichtig, dass darauf geachtetwird, dass die Urteile wirklich ausgeführt werden. Damitsteht und fällt das ganze System. Es besteht sonst die Ge-fahr, dass all das unterminiert wird, was in 40 Jahren seitBestehen der Maschinerie aufgebaut und an Vertrauen ge-schaffen worden ist.Die Parlamentarische Versammlung des Europarateshat sich mit dieser Problematik befasst und hat vorge-schlagen, dass einige Änderungen vorgenommen werdensollten. Dem Ministerkomitee müssen erweiterte Kompe-tenzen zur Überwachung der Einhaltung der Urteile zu-geteilt werden. Es muss sogar daran gedacht werden, einSystem, gegebenenfalls ein Strafgeldsystem, für diejeni-gen Staaten zu schaffen, die sich hartnäckig weigern, dieUrteile umzusetzen.Obwohl es nur wenige solche Fälle gibt, muss dies be-reits heute sehr ernsthaft diskutiert werden; denn es ist zubefürchten, dass das Problem mit der anwachsenden Zahlder Fälle, die aus den neuen Beitrittsländern kommen, anBedeutung zunehmen wird und dass die Bereitschaft zurUmsetzung der Urteile eher abnehmen wird. Deshalbmuss im heutigen Stadium den Anfängen gewehrt und ge-gengearbeitet werden.Als dritten Problemkreis möchte ich das Verhältnis derEuropäischen Menschenrechtskonvention zur Europä-ischen Grundrechte-Charta anschneiden. Der Grundge-danke der Europäischen Menschenrechtskonvention ist jafolgender: Man hat einerseits ein in sich geschlossenesRechtssystem, in unserem Staat zum Beispiel das Grund-gesetz als Maßstab für die nationale Gesetzgebung, danndie einzelnen Gesetze und zur Überprüfung die oberstenBundesgerichte oder das Bundesverfassungsgericht. DieIdee der Europäischen Menschenrechtskonvention istnun, dass man eine Kontrollmöglichkeit von außen hat,um dieses System gegebenenfalls zu überprüfen. Dasmacht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.Übertragen wir das auf die europäische Ebene, dann ha-ben wir jetzt die europäische Grundrechte-Charta alsGrundlage des Gemeinschaftsrechts, dann das Gemein-schaftsrecht und den Europäischen Gerichtshof. Auchdieses System könnte eine Überprüfung von außen ge-brauchen. Eine solche Überprüfung könnte nur dadurcherfolgen, dass die Europäische Union der EuropäischenMenschenrechtskonvention beitritt.
Dann bestünde die Möglichkeit, auch dieses System überden Europäischen Menschenrechtsgerichtshof zu über-prüfen.
Diejenigen hier im Deutschen Bundestag, die im Euro-parat aktiv sind, haben sich dafür eingesetzt, dass die Ver-sammlung diese Forderung erhebt. Es gibt hierzu einebreite Unterstützung. Ich fordere hier die Regierung auf,im Ministerkomitee und in der Europäischen Union dieArbeit aufzunehmen. In beiden Institutionen müssen Än-derungen vorgenommen werden, damit die EuropäischeUnion der Europäischen Menschenrechtskonvention bei-treten kann.Das waren drei Problemkreise, die, aufbauend auf demso hervorragenden System, in die Zukunft weisen. Ichhoffe, dass es gelingen wird, einiges davon umzusetzen,damit dieses System erhalten und gestärkt werden kann.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile der Kolle-
gin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, F.D.P.-Frak-
tion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
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Rudolf Bindig12131
Zu Recht befasst sich der Deutsche Bundestag heute zurbesten Sendezeit mit der Europäischen Menschenrechts-konvention. Sie wurde vor 50 Jahren als europäische Ant-wort auf die menschenverachtende Ideologie des Natio-nalsozialismus, auf Rassismus und Fremdenfeindlichkeitund auf die mit dieser Überzeugung begangenen unge-heuerlichen Verbrechen formuliert und in nur 15MonatenVorbereitungszeit als erste Konvention des Europarateserarbeitet. Heute gibt es 173 Konventionen und Ver-tragswerke des Europarates. Rassenhass, Ausländerhass,Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit wird mit derEuropäischen Menschenrechtskonvention die Unantast-barkeit der Würde eines jeden Menschen unabhängigvon seiner Herkunft, seiner Abstammung, seinem Glau-ben und seiner politischen Überzeugung entgegengestellt.Das soll die europäische identitätsstiftende Wertordnungsein, ja, das ist prägend für die Kultur des europäischenAbendlandes. Die Vielfalt der Kulturen, der Religionen,der Abstammungen und der politischen Überzeugungensollen rassistischer Diskriminierung keinen Raum lassen.Das muss auch für uns Orientierungsmaßstab sein.
Mit der EuropäischenMenschenrechtskonventionwur-de die beginnende europäische Einigung von vornhereinauf ein aus damaliger Sicht solides Fundament des Men-schenrechtsschutzes und der Grundfreiheiten gestellt.Dies beruhte auf der Erkenntnis, dass es ohne Menschen-rechte und ohne die Anerkennung der menschlichenWürde keine Freiheit, keine Gerechtigkeit und keinenFrieden gibt.Lassen Sie mich an dieser Stelle etwas eigentlichSelbstverständliches betonen: Die Kodifizierung vonMenschenrechten schafft nicht neue Rechte. JederMensch besitzt von Geburt an unantastbare, unveräußer-liche Rechte und Freiheiten. Niemand kann sie ihm gebenoder gewähren; sie können nur durch staatliches oderauch nicht staatliches Handeln eingeschränkt oder ent-zogen werden. Das ist nicht nur europäisch-abendländi-sche Ansicht, sondern kann universelle Geltung bean-spruchen. Spätestens seit der Allgemeinen Erklärung derMenschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 ist dasklar. Aber wie schwer die Durchsetzung der Menschen-rechte ist, lesen wir jeden Tag in der Zeitung und könnenwir jeden Abend den Nachrichten entnehmen.Es ist schon betont worden, dass im Gegensatz zu an-deren internationalen Menschenrechtspakten gerade dieEuropäische Menschenrechtskonvention einen wirksa-men Mechanismus zur Durchsetzung der gewährleiste-ten Rechte besitzt. Das gilt besonders für das 11. Zusatz-protokoll, das die heutige Handlungsfähigkeit desEuropäischen Menschenrechtsgerichtshofes erst geschaf-fen hat. Er ist zu Recht von allen Vorrednern gerühmt undhervorgehoben worden. Ich kann nur sagen: Wir müssenalles tun, auch in dem eigentlich eher unbedeutenden Teilder finanziellen Unterstützung, um die Arbeit des Euro-päischen Menschenrechtsgerichtshofes für die Zukunft zusichern. Denn wenn er nicht arbeiten kann und nicht demgerecht wird, was die 800 Millionen Bürger erwarten, diein den Mitgliedstaaten des Europarates leben, dann wirddiesen das Fundament des europäischen Menschenrechts-schutzes genommen werden.
Deshalb fordern wir in unserem Antrag alle gemeinsamunter anderem die entsprechende finanzielle Ausstattung.Aber lassen Sie mich auch einen Blick auf die Auswir-kungen der Europäischen Menschenrechtskonvention aufdie deutsche Rechtsprechung werfen. Die in ihr enthalte-nen Verfahrensgarantien gehen zum Teil über dieGewährleistungen des Grundgesetzes und der Strafpro-zessordnung hinaus und harren noch der Entdeckungdurch kreative Verteidigung. Lassen Sie mich nur zweiBeispiele nennen.Erstens. Die in Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Men-schenrechtskonvention ausgesprochene Unschuldsver-mutung und deren Auslegung durch den EuropäischenMenschenrechtsgerichtshof hat das Bundesverfassungs-gericht 1987 dazu veranlasst, deutlich zu machen, dassdie Garantien unserer Verfassung – dazu gehört die Un-schuldsvermutung – im Lichte der Europäischen Men-schenrechtskonvention und deren Interpretation durchden Straßburger Gerichtshof auszulegen sind. Damit ha-ben wir in diesem Punkt eine unmittelbare Wirkung derRechtsprechung des Gerichtshofes auf unsere Auslegungvon Gesetzen.Das gilt zweitens für den Grundsatz des fairen Ver-fahrens, der Waffengleichheit zwischen Ankläger undAngeklagtem, der dem Gedanken des Art. 6 Abs. 1 derEuropäischen Menschenrechtskonvention entnommenworden ist. Wie sich die Rechtsprechung in dieser Hin-sicht noch entwickeln wird, zum Beispiel im Blick aufden „agent provocateur“, kann man heute noch gar nichtabsehen.Aber diese Beispiele zeigen, dass der häufig verbrei-tete, beruhigende Befund, dass die Europäische Men-schenrechtskonvention nichts enthalte, was in Deutsch-land nicht ohnehin durch die Grundrechte in derVerfassung oder zumindest durch die Strafprozessord-nung garantiert sei, eine glatte Fehldiagnose ist.In dem gemeinsamen Antrag, der der heutigen Bera-tung zugrunde liegt, fordern wir die Bundesregierung auf,sich dafür einzusetzen, dass die Urteile des EuropäischenGerichtshofs für Menschenrechte strikt befolgt werden.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang aufArt. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention– Schutz vor Folter und unmenschlicher, erniedrigenderBehandlung – hinweisen. Denn dieser Artikel hat eine ent-scheidende Auswirkung auf das Ausländerrecht und dieAbschiebepraxis.
Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof leitet darauseinen Abschiebeschutz ab, wenn im Empfängerstaat Fol-ter oder unmenschliche und erniedrigende Behandlungdroht, und zwar auch, wenn es um Verfolgung vonseitennicht staatlicher Organisationen geht.
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Sabine Leutheusser-Schnarrenberger12132
Wir haben das gestern im Menschenrechtsausschussmit Ihnen, Frau Ministerin, erörtern können. Wir warenuns einig, dass die jüngste Rechtsprechung des Bundes-verfassungsgerichts als positiv anzusehen ist, und habenuns überlegt, wie dem in unserer Rechtsordnung nochstärker zum Durchbruch verholfen werden kann. Sie wol-len mit dem Innenminister über dieses schwierige Themasprechen. Aber nehmen wir doch einfach die Rechtspre-chung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofsauf! Ergänzen wir, Frau Ausländerbeauftragte, § 53 Abs. 4des Ausländergesetzes und nehmen wir neben der Euro-päischen Menschenrechtskonvention auch auf die Recht-sprechung Bezug! Ich glaube, dann hätten wir mit einereinfachen Änderung deutlich gemacht, wie ernst wir nach50 Jahren Europäischer Menschenrechtskonvention undRechtsprechung des Gerichtshofes die Auswirkungen aufunsere nationale Rechtsordnung nehmen.
Lassen Sie mich zum Schluss nur einige wenige Be-merkungen zu den entscheidenden Impulsen der Europä-ischen Menschenrechtskonvention auf die Erarbeitungder Europäischen Grundrechte-Charta machen. Dieersten 18 Artikel der EMRK finden sich in einer moder-neren Formulierung in der Europäischen Grundrechte-Charta wieder. Das brauchen wir dringend, weil die Euro-päische Union und die Europäischen Gemeinschaftennicht Mitglied der Europäischen Menschenrechtskonven-tion sind. Deshalb setzt sich die F.D.P.-Bundestagsfrak-tion seit den Beratungen zur Europäischen Grundrechte-Charta für eine kleine technische Änderung desVertragswerks durch den Vertrag von Nizza ein, die denBeitritt der Europäischen Union zur EuropäischenMenschenrechtskonvention ermöglicht. Das steht in allenunseren Anträgen. Denn bis die Europäische Grund-rechte-Charta in den Verträgen enthalten und verbindlichsein wird, wird es, vorsichtig geschätzt, noch einmal min-destens vier Jahre brauchen.Auf diese Weise könnten wir eine Spaltung des Rechts-schutzes in Europa verhindern. Gerade sie, Herr Bindig,wollen wir mit der Europäischen Grundrechte-Chartanicht erreichen. Vielmehr wollen wir ein möglichst ge-sichertes und hohes Schutzniveau, sodass es in Europakeine Bürger zweiter Klasse gibt.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Bundesminister Joseph Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 50 Jahre Eu-ropäische Menschenrechtskonvention – das bedeutet vorallem einen großen Erfolg der Lehren, die Europa aus derKatastrophe des Zweiten Weltkriegs, aus den furchtbarenVerbrechen des Deutschen Reiches gezogen hat. Ichdenke, es ist gerade aktuell sehr, sehr wichtig, dass mandaran erinnert, dass es nicht nur außen- und sicherheits-politische Konsequenzen gegeben hat, dass Demokrati-sierung nicht nur eine Frage im Innern Deutschlands war,sondern auch eine Verrechtlichung der Beziehungen zwi-schen den Staaten und vor allen Dingen einen grenzüber-schreitenden Grundrechtsschutz für die Bürgerinnen undBürger als Antwort auf dieses Zeitalter der europäischenDiktaturen bedeutet hat.Dieser historische Ansatz setzt sich von der Missach-tung der Menschenwürde, der Herabwürdigung von Mit-menschen und der perversen Rassenideologie, die damalsam Anfang des deutschen Abstiegs ins Verbrechen ge-standen haben, klar ab. Deutschland hat daraus im erstenArtikel des Grundgesetzes die Konsequenz gezogen, dieMenschenwürde für unantastbar zu erklären. Dieser his-torische Ansatz ist heute aktueller denn je.Wir sehen, dass die Verrechtlichung des Grund-rechtsschutzes, der über die Grenzen hinweg reicht– dazu gehört, dass Diktatoren, Folterknechte und all jene,die sich schwerster Menschenrechtsverbrechen schuldiggemacht haben, zur Verantwortung gezogen werden –, iminternationalen Staatensystem mehr und mehr um sichgreift.Der VN-Gerichtshof für das ehemalige Jugoslawienund der Internationale Strafgerichtshof, der jetzt zur Ahn-dung solcher Verbrechen eingesetzt wird, sind die Konse-quenzen aus jener historischen Erfahrung. Am heutigenTag, an dem wir den 50. Jahrestag der EuropäischenMenschenrechtskonvention begehen und an dem wir übersie diskutieren, ist es wichtig, an diese Wurzeln zu erin-nern. Es ist aber auch wichtig, dass wir die Konsequenzenaus Erfahrungen der Gegenwart hinsichtlich schwersterMenschenrechtsverletzungen ziehen.
Schon bei ihrer Unterzeichnung in Rom im November1950 ging die Europäische Menschenrechtskonventioneinen entscheidenden Schritt weiter als die AllgemeineErklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationenvom Dezember 1948: Sie war ein bindender völker-rechtlicher Vertrag; sie schuf einen Gerichtshof, dem sichdie Mitgliedstaaten des Europarates zu unterwerfen hat-ten; sie eröffnete allen Bürgern den damals bahnbrechen-den Weg, ihre Rechte individuell einzuklagen. Das warein Meilenstein in der Konstitutionalisierung der Völker-rechtsordnung.Die Europäische Menschenrechtskonvention ist seit50 Jahren der ethische und rechtliche Kern der europä-ischen Wertegemeinschaft, die weit über die Europä-ische Union hinausreicht. Nahezu 800 Millionen Men-schen in 41 Staaten können sich heute auf die verbrieftenGrundrechte berufen. Die Bedeutung, dass sich dieBürger von 41 Staaten auf diesen verbrieften Grund-rechtsschutz beziehen können, wird deutlich, wenn mansich bei den Vereinten Nationen umschaut: Diese Rechtewirken auch über Europa hinaus.Seit der schnellen Aufnahme der jungen DemokratienMittel- und Osteuropas haben der Europarat und dieEMRK wichtige Beiträge zur Förderung von Demokratieund Menschenrechten in unseren Nachbarstaaten geleis-tet. Nehmen wir nur das Beispiel der Demokratisierung
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Sabine Leutheusser-Schnarrenberger12133
in Jugoslawien. Die Konsequenz daraus wird sein, dasssich auch diese Region in Richtung eines Beitritts zumEuroparat entwickeln wird. Mit dem Beitritt zum Eu-roparat würde dann auch dort der individuelle Grund-rechtsschutz wirken. Neben der Arbeit des UN-Kriegsver-brechertribunals wird dies ein ganz wichtiger Schritt sein,mit dem die Bürger eines demokratischen Jugoslawiens inKürze in den Schutz der Europäischen Menschenrechts-konvention einbezogen werden können.
Wir reden gerne über das Europa der variablen Geome-trie; auch der Europarat gehört dazu. Gerade bei der Auf-arbeitung des furchtbaren Krieges und der schwerstenMenschenrechtsverletzungen in Tschetschenien hatder Europarat gezeigt, dass er ein wichtiges Instrumentist, um Russland zur Einhaltung seiner menschen-rechtlichen Verpflichtungen zu bewegen. Die Parla-mentarische Versammlung des Europarates hat ihre Rolleals „demokratisches Gewissen“ Europas beispielhaftwahrgenommen. Vor dem Europäischen Gerichtshof fürMenschenrechte sind Hunderte von Verfahren anhängig.Die in Straßburg noch zu fällenden Urteile werden auchdie russische Regierung binden.Der Menschenrechtsschutz in Europa setzt bis heute in-ternational hohe Maßstäbe. Aber er ist nichts Statisches.Die klassischen Grundrechte – das Recht auf Leben, dasVerbot der Folter und der Sklaverei, die Gedanken-, Ge-wissens- und Religionsfreiheit und andere mehr – sind beiuns, Gott sei Dank, selbstverständlich. Aber denken wireinmal 60 Jahre zurück. Damals waren diese Rechte beiuns alles andere als selbstverständlich. In vielen Gegen-den der Welt sind diese elementaren und individuellenGrundrechte noch immer mitnichten eine Selbstver-ständlichkeit. Diese Rechte wurden über die Jahre durchZusatzprotokolle um wichtige Grundrechte ergänzt.Ich will nur das Protokoll Nr. 6 nennen: die Abschaf-fung der Todesstrafe. Hier hat Europa meines Erachtenseine überragende Bedeutung. Im weltweiten Kampfgegen die Todesstrafe sind Europa, die EuropäischeMenschenrechtskonvention, der Europarat und die EU einLeuchtturm. Alle Gegner der Todesstrafe, dieser inhuma-nen Strafe, orientieren sich an Europa. Es gehört für michzu den merkwürdigsten Erfahrungen – ich nehme an, Kol-lege Kinkel, Ihnen wird es genauso gegangen sein –:Unter den Vertretern der USA, Kubas oder Chinas gibt esimmer dann ein hohes Maß an Übereinstimmung, wennman auf die Todesstrafe zu sprechen kommt.Man muss sich einmal vor Augen führen, welche Be-deutung die Todesstrafe sogar in der jüngeren europä-ischen Geschichte, in der Geschichte des 20. Jahrhun-derts, hatte. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dassaufgrund von Taxifahrermorden und ähnlichen furcht-baren Verbrechen noch in den 70er-Jahren auch bei unsimmer wieder der Ruf nach der Wiedereinführung der To-desstrafe laut wurde. In wichtigen europäischen Partner-ländern ist die Todesstrafe erst in den 70er- und 80er-Jahren abgeschafft worden. Wenn man sich angesichtsdessen heute die europäische Realität anschaut, nämlichdass die Todesstrafe in keinem politischen Lager allenErnstes mehr zur Debatte steht, wird deutlich, dass es hin-sichtlich des Grundrechtsschutzes und der Zivilisierungin diesem Bereich einen echten Fortschritt gibt. Ich denke,die Europäer haben Grund, darauf stolz zu sein.Es wurde hier von der Leitkultur gesprochen. Mit dereuropäischen Leitkultur sind wir heute ein Stück wei-tergekommen, Herr Kollege Schwarz-Schilling. Dazukönnen wir uns klar bekennen und dafür möchte ich michbedanken.
– Ich finde es gut, Herr Merz, dass Sie jetzt über den Um-weg „Leitkultur“ beim Verfassungspatriotismus vonJürgen Habermas gelandet sind. Ich kann nur sagen: Herz-lich willkommen! Das hätten Sie aber auch direkt habenkönnen.
Das hat auch nichts mit Parteipolitik zu tun. Ich bin viel-mehr der Meinung, dass dies die solide Grundlage derdeutschen Demokratie ist. Dabei sollten wir es auch be-wenden lassen.Menschenrechtsschutz in Europa braucht auch inZukunft starke und durchsetzungsfähige Instrumente.Dazu gehört eine angemessene Ausstattung des Gerichts-hofs angesichts der dramatisch steigenden Zahl der Ver-fahren; denn sonst steht bereits Erreichtes auf dem Spiel.Das sollten wir alle gemeinsam dem Finanzminister mit-teilen.
Die praktische Wirkung der EMRK steht und fällt mit derDurchsetzung der Urteile des Gerichtshofes. Da stim-me ich allen Vorrednerinnen und Vorrednern, auch derKollegin Justizministerin und Frau Leutheusser-Schnarrenberger, die dies gesagt haben, zu. Wir müssenden Anfängen wehren, was die Umsetzung dieser Urteileanbetrifft. Es darf nicht dazu kommen, dass Urteile erge-hen, die nicht umgesetzt werden. Eine solche Rückent-wicklung hinsichtlich des individuellen Grundrechts-schutzes darf es nicht geben.Wir sollten uns aber auch immer wieder selbstkritischfragen, inwieweit wir in Deutschland den Maßstäben derEMRK gerecht werden. Dazu gehört die Frage nach derAchtung der Menschenrechte in Deutschland ebenso wiedie angemessene Beachtung der Rechtsprechung des Eu-ropäischen Gerichtshofes für Menschenrechte durchdeutsche Gerichte.Der Grundrechtsschutz hat nichts von seiner Aktualitäteingebüßt. Im Gegenteil: Die Europäische Union hat aufder Grundlage der Menschenrechtskonvention eineGrundrechte-Charta ausgearbeitet – unter aktiver Mit-wirkung der Kollegen des Bundestages und des Bun-desrates im Konvent –, die in diesem Haus breite Unter-
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Bundesminister Joseph Fischer12134
stützung gefunden hat und in Biarritz von den Staats- undRegierungschefs angenommen wurde. Diese Charta wirdzum Kern einer europäischen Verfassung. Sie baut auf denErfahrungen der Konvention von 1950 auf, nimmt zu-gleich neue Entwicklungen auf und schließt Menschen-rechte der so genannten dritten Generation, das heißt,soziale und wirtschaftliche Grundrechte, ein. Jetzt geht esdarum, den gemeinsamen Rechtsraum zu entwickeln undgleichzeitig die Verbindung zwischen diesen beiden Kon-ventionen so zu gestalten, dass sich alle Mitgliedstaatender Europäischen Union darin wiederfinden können unddass es ein Maximum an Grundrechtsschutz gibt.Meine Damen und Herren, die Achtung der Menschen-rechte sowie die Durchsetzung von Demokratie undRechtsstaatlichkeit, der Dreiklang des Europarates also,werden weit über Europa hinaus immer mehr zur Kern-frage gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Moderni-sierung. Ja, ich behaupte: Die Frage der Demokratie unddes Rechtsstaates wird zu der zentralen Frage desinternationalen politischen Systems des 21. Jahrhundertswerden.Überall auf dieser Welt, wohin wir auch schauen: Ander Frage der Herrschaft des Rechtsmacht sich nicht nurdie Gerechtigkeit fest, nicht nur der individuelle Grund-rechtsschutz; daran machen sich natürlich auch dieLebenschancen der Individuen einer Nation fest. Nur eineoffene, flexible und durch die Herrschaft des Rechtsgeprägte Gesellschaft kann an den Chancen der Globa-lisierung erfolgreich partizipieren und zugleich ihre Ver-werfungen bewältigen. Die Prinzipien der EuropäischenMenschenrechtskonvention werden in Zukunft deshalbeher noch wichtiger, als sie es in den zurückliegenden50 Jahren zweifellos schon waren – nicht nur ethisch-moralisch, sondern auch politisch und im Sinne einerwirksamen Krisenprävention. Wenn wir zurückblicken,können wir sagen: Die Europäische Menschenrechtskon-vention war ein großer Erfolg. Dieser Erfolg verpflichtet.Ich möchte damit schließen, allen Mitgliedern desHauses, die sich in der Parlamentarischen Versammlungdes Europarats eingesetzt und eine sehr wichtige Arbeitgeleistet haben, genauso herzlich zu danken wie denzahllosen Aktivistinnen und Aktivisten der Nichtregie-rungsorganisationen, die ebenfalls unerlässlich sind fürdas Gelingen des Grundrechtsschutzes.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Carsten Hübner, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Es sind bedauerlicherweise vor al-lem Jubiläen und Festtage, an denen der Debatte über dasThema Menschenrechte hier eine so komfortable Tages-zeit eingeräumt wird. Ansonsten – ähnlich wie bei derEntwicklungspolitik – findet eine solche Debatteeher in den Nachtstunden statt, fristet dieses Thema imHierarchiegefälle politischer Bedeutsamkeit trotz allerSonntagsreden eher ein Schattendasein. Auch das mussanlässlich einer Debatte wie heute gesagt werden, weildiese Realität, diese Praxis den Menschenrechten und ih-rer konsequenten Durchsetzung einen Bärendienst er-weist. Ich frage Sie, wie wir gerade vor dem Hintergrundder virulenten rassistischen und fremdenfeindlichen Ge-walt auf deutschen Straßen den Bürgerinnen und Bürgernglaubhaft nahe bringen wollen, wie existenziell Men-schen-, Freiheits- und Bürgerrechte sind, wenn wir esselbst immer wieder zulassen, dass sie instrumentalisiertwerden, dass sie anderen Interessen untergeordnet werdenoder dass sie im parlamentarischen Tagesgeschäft viel-fach als politische Kür und nicht als Pflicht betrachtetwerden.Ich als Fachpolitiker kann nur dringlich an die Innen-politik, die Außenpolitik, die Verteidigungs- und dieWirtschaftspolitik appellieren, hier endlich umzudenkenund eine gewisse Abgehobenheit abzulegen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Unterzeichnungder Konvention zum Schutz der Menschenrechte und derGrundfreiheiten am 4. November 1950 in Rom war einbedeutender Schritt hin zu einem internationalen Systemdes Schutzes von Menschen-, Bürger- und Freiheits-rechten. Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben da-rauf bereits ausführlich verwiesen. Wahr ist, dass diebesondere Qualität dieses Vertragswerkes und seinerZusatzprotokolle darin liegt, dass mit ihm ein Systemetabliert wurde, das diese Rechte einklagbar gemacht hat.Das 11. Zusatzprotokoll von 1992 und die damit ver-bundene Schaffung eines hauptamtlich besetzten Euro-päischen Gerichtshofes für Menschenrechte hat diesenAnsatz unterstrichen und im Sinne der Bürgerinnen undBürger weiter operationalisiert.Dass nun ausgerechnet dieser Gerichtshof als eine tra-gende Säule zur Umsetzung der Konvention über Mittel-und Personalknappheit klagen muss, dadurch her-vorgerufen unter der Last der eingehenden Beschwerdenzusammenzubrechen droht, halte ich – gelinde gesagt –für ein ernsthaftes Problem.Ohne dabei noch einmal ausdrücklich an meine einlei-tenden Worte über den allgemeinen Stellenwert der Men-schenrechte im tagespolitischen Diskurs erinnern zuwollen, gilt es doch festzuhalten, dass, während wir hierdie Konvention und ihre Instrumente zu Recht würdigen,die Arbeit im Gerichtshof für Menschenrechte unter Be-dingungen abläuft, die mit unserer artikulierten Wert-schätzung kaum in Einklang zu bringen sind.Worten, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen Tatenund Finanzen folgen. Nur so wird in der Politik aus Pa-pieren auch wirklich ein Schuh.
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Gestatten Sie mir, im Folgenden noch einige Fra-genkomplexe anzureißen, die mir im Kontext dieses Ju-biläums und dieser Debatte bedeutsam erscheinen. Zumeinen geht es mir um die Umsetzung der Konvention inder Bundesrepublik selbst. Denn auch wir müssen unsfragen, fragen lassen, ob es mit Blick auf die Konventionund ihren Geist Defizite gibt. Dabei sage ich deutlich,dass Bezugspunkt unserer Debatte nicht etwa die extremeDehnfähigkeit bestimmter Artikel sein sollte, sondern derGeist der Konvention, wie es sich für ein Land mit unsererVergangenheit und unserem aktuellen ökonomisch wiegesellschaftlich vergleichsweise komfortablen und sta-bilen Status quo gehört.Ich sage dies ausdrücklich vor dem Hintergrund einerrepressiven Migrations- und Flüchtlingspolitik in diesemLand, vor dem Hintergrund der Residenzpflicht fürFlüchtlinge und Asylbewerber, vor dem Hintergrund desauch international kritisierten so genannten Flughafen-verfahrens, vor dem Hintergrund einer Rechtsprechung,die nicht staatliche Verfolgung bis heute nicht als Asyl-grund anerkennt, vor dem Hintergrund einer ausuferndenPraxis des Abschiebegewahrsams und der Abschiebung inLänder, die selbst rudimentäre Menschenrechte unter-laufen.Dazu gehört auch, dass selbst für langjährig in der Bun-desrepublik lebende Migrantinnen und Migranten nochimmer eine gleichberechtigte politische Partizipation erstnach einem entwürdigenden Hürdenlauf möglich ist,wenn überhaupt.Es muss aber auch die Frage gestellt werden, inwieweitin diesem Land Bürgerrechte überhaupt, wenn auchschleichend, zur Disposition gestellt werden. DieFriedrich-Ebert-Stiftung hat dazu erst vor wenigen Tageneine interessante Veranstaltung durchgeführt. Ich nennenur Stichpunkte: Video-Überwachung öffentlicher Stra-ßen und Plätze, ereignis- und verdachtsunabhängige Kon-trollen, die wahllose Verhängung von Platzverweisen beiDemonstrationen, Unterbindungsgewahrsam, Schnell-prozesse usw. Mehr und mehr hält eine orwellsche Logikin die innenpolitische Diskussion Einzug, nach der nichtmehr der Staat begründen muss, warum er welche Ein-griffe in die Bürgerrechte vornimmt, sondern der Bürger,warum er das nicht will; das ist natürlich immer von demunterschwelligen Vorwurf begleitet, er habe wohl etwaszu verbergen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, da meine Redezeit zuEnde geht, nur noch eins: Im Antrag wird die Vorbild-wirkung der Konvention für ähnliche Verträge in anderenRegionen der Welt gelobt, aus meiner Sicht zu Recht.Aber wenn wir das hier schon hervorheben, dann mussdamit auch die Frage verbunden werden, ob wir uns hin-sichtlich anderer Teile der Welt auch an die Maximen hal-ten, die wir uns für unsere Länder gegeben haben. Da habeich leider erhebliche Zweifel.Weiterhin bleiben entschlossene Schritte der Mitglied-staaten gegen die Türkei, die ebenfalls Mitgliedstaat istund sogar Erstunterzeichner war, aus, obwohl die Men-schenrechtssituation dort zum Himmel schreit: sei es inden Kurdenregionen, sei es in den Gefängnissen, sei es imSektor der Presse, der politischen und kulturellen Betäti-gung oder – besonders – in der Frage der Folter. Statt-dessen liefern wir eine Munitionsfabrik, machen dieTürkei bei der so genannten humanitären Intervention imKosovo zum Alliierten und verleihen ihr ohne jede men-schenrechtsrelevante Vorleistung den Status eines EU-Beitrittskandidaten.Ein anderes Beispiel sind die Kleinwaffenexporte:Die Staaten des Europarats sind der dominierende Liefe-rant von Kleinwaffen in alle Krisenregionen der Welt.Eng verbunden mit der Kleinwaffenfrage ist das Pro-blem des Unwesens von Kindersoldaten; das wissen wiralle. Europa liefert aber nicht nur Kleinwaffen, sondernauch alles andere – ganz nach ökonomischer und strate-gischer Interessenlage, nicht etwa nach der Menschen-rechtslage. Auch das muss an einem Tag wie heutegesagt werden.Das Gleiche gilt für die Tatsache, dass es die Koali-tions- ebenso wie die anderen Oppositionsfraktionennicht fertig gebracht haben, sich im Parlament – der FallMumia Abu Jamal hätte ein Anlass sein können – laut unddeutlich gegen die Todesstrafe in den USA zu stellen, weildort gerade Präsidentschaftswahlkampf ist.
Dass einer der Präsidentschaftskandidaten mit einer Hin-richtungskampagne geradezu Wahlkampf macht, wirdnicht etwa als Grund zu einer dringlichen Positionierungbegriffen, sondern man hält sich heraus, bis alles vorbeiist. Mit solch einer Praxis, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, kommen wir nicht weit. Wir machen uns schlicht un-glaubwürdig.Die PDS-Fraktion wird dem interfraktionellen Antragzustimmen. Gleichzeitig bitten wir um Zustimmung zuunserem Entschließungsantrag, in dem wir nötige Ent-wicklungstendenzen und Schritte zur Umsetzung derKonvention aufgezeigt haben.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Dieter Schloten, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Lieber Kollege Hübner, es ist gut,dass Sie einmal auf Probleme hingewiesen haben, die wirauch in unserem Lande mit dem Thema Menschenrechtehaben. Allerdings sind Sie an dem Punkt, an dem Sie denAbgeordneten und damit uns allen hier Abgehobenheitunterstellen, ein wenig über das Ziel hinaus geschossen.
Ich sage das ganz vorsichtig. Sie wollten hier provozieren;das ist gut so und regt uns zum Nachdenken an.
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Carsten Hübner12136
Wir sollten aber bei der Sache bleiben. Wenn Sie sich ein-mal die Zustände außerhalb der Mitgliedsländer des Eu-roparates anschauen
und sie mit denen in den Mitgliedsländern des Europara-tes vergleichen, dann würden auch Sie zu anderen Be-wertungen kommen.Ich möchte jetzt nichts von dem wiederholen, wasmeine Vorredner gesagt haben, sondern gleich an demPunkt ansetzen, dass die Menschrechtskonvention nichtperfekt umgesetzt worden ist. Das war von Anfang an so.Ich möchte einmal daran erinnern, dass die Schweiz 1963dem Europarat beigetreten ist, ohne dass das Frauen-wahlrecht bei allen Wahlen im ganzen Land garantiertgewesen wäre. Frankreich ließ erst 1974 die In-dividualbeschwerde bei Menschenrechtsverletzungen zu.Die Bundesrepublik Deutschland war in den 70er-Jahrenkritischen Fragen in der Parlamentarischen Versammlungzum Radikalenerlass ausgesetzt, der so genannte Extre-misten vom öffentlichen Dienst ausschließen wollte.Mehrfach – das ist schon erwähnt worden – war dieTürkei aufgrund ihrer Menschenrechtssituation Gegen-stand harscher Kritik. Großbritannien hat erst kürzlich dieEuropäische Menschenrechtskonvention zum Bestandteilseines innerstaatlichen Rechtes gemacht.Der Garant der Bürger zum Schutz vor Verletzungender Menschenrechte sind der Europarat und mit ihm derEuropäische Gerichtshof für Menschenrechte inStraßburg. In jüngster Zeit wird er mit Beschwerden ausden neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas geradezuüberhäuft. Jahrzehnte polizeistaatlicher Gewöhnung inden neuen Mitgliedstaaten sind mit hohen Menschen-rechtsstandards konfrontiert, welche die StraßburgerRechtsprechung und die westeuropäische Praxis überJahrzehnte entwickelt haben.Verbal wird allseits versichert, die in der StraßburgerJudikatur anerkannten Maßstäbe müssten generell gelten.Abstriche seien unzulässig. Wenn das in allen Staaten fürdie Zustände in Gefängnissen und in der Untersuchungs-haft gelten soll, für die Unabhängigkeit und Unpartei-lichkeit der Gerichte, für die Fairness von Gerichtsver-fahren, für das Verhalten der Polizei und der Behördenallgemein, dann ist noch unendlich viel zu tun.Es ist anzunehmen, dass Tausende von Beschwerden,insbesondere aus mittel- und osteuropäischen Staaten, beinäherer Prüfung nicht nur zulässig, sondern auch begrün-det sind. Neben der mehrfach erwähnten besserenAusstattung des Gerichtshofes sollte die Zeit genutzt wer-den, den neuen Mitgliedstaaten bei der Reform ihrer in-nerstaatlichen Ordnung zu helfen, sodass die interna-tionalen Verfahren in Straßburg weniger häufig anfallen.Die erste Beschwerde aus Tschetschenien in Straßburgvom April dieses Jahres gibt mir Anlass, darauf hinzu-weisen, dass russische Amtsträger oftmals völligesUnverständnis für die mit der Ratifizierung der Europä-ischen Menschenrechtskonvention eingegangenen Ver-pflichtungen erkennen lassen. Wir hören, dass die west-europäische Kritik teils auf ungenügender Information,teils auf unlauteren Motiven beruhe und dass es sich auchum einen unzulässigen Eingriff in innere Angelegenheitenhandele. Die Kritik der Parlamentarischen Versammlungdes Europarats an den Menschenrechtsverletzungen, ins-besondere in Tschetschenien, wird vehement zurück-gewiesen. Wir Parlamentarier müssen der Gefahr entge-gentreten, dass aus politischen Gründen ganz aufSanktionen verzichtet wird.Lassen Sie mich noch einige Gedanken zum Verhältnisvon Menschenrechten und Demokratie äußern. Es über-rascht, dass im Statut des Europarats von 1949 nur eineinziges Mal das Wort „Demokratie“ auftaucht, und zwarin der Präambel, in der Europäischen Menschenrechts-konvention gar nicht. Auf Drängen der ParlamentarischenVersammlung hat der Europarat inzwischen Präzisierun-gen im Bereich Demokratie vorgenommen, von dem Er-fordernis freier Wahlen bis hin zur lokalen Demokratie.Ich erinnere an die Charta der kommunalen Selbstverwal-tung von 1985. Der Europarat hat auch Programme zurStärkung der Demokratie und demokratischer rechts-staatlicher Institutionen, besonders in den mittel- und ost-europäischen Ländern, aufgelegt.In der Wiener Erklärung der Staats- und Regierungs-chefs des Europarats von 1993 heißt es, „dass das Antrag-stellerland seine Institutionen und sein Rechtssystem mitden grundlegenden Prinzipien der Demokratie, Rechts-staatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte in Ein-klang gebracht“ haben muss. Außerdem müssen dieVolksvertreter „in freien und fairen Wahlen auf derGrundlage des allgemeinen Wahlrechts gewählt wordensein“. Darüber hinaus müssen Kriterien für die Bewertungjedes Antrags auf Mitgliedschaft „die Gewährleistungder Meinungsfreiheit und insbesondere der Freiheit derMedien, der Schutz nationaler Minderheiten sowie dieEinhaltung des Prinzips des Völkerrechts“ bleiben. Aller-dings gibt es bis heute noch keine verbindliche zusam-menfassende Konvention zur Demokratie in Europa, wiesie – bislang einmalig in der Welt – die Interparlamen-tarische Union in ihrer universellen Demokratie-Er-klärung in Kairo 1997 beschlossen hat.Lassen Sie mich noch auf einen wichtigen Aspektder Europäischen Menschenrechtskonvention eingehen,nämlich auf ihre weltweiten Auswirkungen. Zunächstmöchte ich darauf hinweisen, dass die UNO-Menschen-rechtspakete von 1966 und insbesondere das Beschwer-deverfahren nach dem Fakultativprotokoll zum Pakt überdie bürgerlichen und politischen Rechte von der Eu-ropäischen Menschenrechtskonvention beeinflusst wor-den sind, ebenso wie die interamerikanische Menschen-rechtskonvention von 1968 und – in geringerem Maße –die afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechteder Völker von 1982.Ein besonders aktives, weltweit wirkendes Organ zurUntersuchung von Menschenrechtsverletzungen ist derAusschuss für die Menschenrechte von Parlamentariernin der IPU. Sein regelmäßiger Bericht auf den zweimaljährlich stattfindenden Konferenzen des Interparlamen-tarischen Rates enthält alle bekannt gewordenen Fälle vonMenschenrechtsverletzungen an Parlamentariern. Am21. Oktober dieses Jahres wurde in Jakarta erneut ein
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solcher Bericht vorgelegt. Er listet 93 aktuelle Fälle auf,33 davon allein in Myanmar. Uns allen ist der Fall derFriedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi bekannt,die seit Jahren in Hausarrest leben muss.Erwähnen möchte ich auch den Fall des AbgeordnetenAlpha Condé aus Guinea. Er war 1998 Präsidentschafts-kandidat seiner Partei. Am 15. Dezember 1998, kurz vorder Bekanntgabe der Wahlergebnisse, wurde er verhaftet.Im Januar 1999 wurde er des Hochverrats angeklagt undam 11. September dieses Jahres zu fünf Jahren Haftverurteilt. Die Umstände seines Prozesses genügen nichteinmal den Mindestanforderungen eines rechtsstaatlichenVerfahrens. So wurde zum Beispiel seine parlamen-tarische Immunität bis heute nicht aufgehoben. Ichmöchte der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass sich un-sere Regierung dieses Falles in guter Zusammenarbeit mitdem französischen Partner, der hier viel Einfluss hat, an-nimmt.
Aber nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb Eu-ropas treten gravierende Menschenrechtsverletzungenauf. Ich erinnere an zurzeit vier bekannte Fälle inWeißrussland und acht in der Türkei. Die türkischenFälle sind beim Menschenrechtsgerichtshof anhängig. Inder vergangenen Woche wurde auf der IPU-Versammlungin Jakarta die Türkei eindringlich ermahnt, rechts-staatliche Prinzipien zur Anwendung zu bringen und diebetroffenen ehemaligen Abgeordneten zu amnestieren.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das 50-jährigeBestehen der Europäischen Menschenrechtskonventionist nicht nur ein Anlass zum Feiern – da gebe ich meinenVorrednern vollkommen Recht –, sondern auch ein Anlasszu kritischer Selbstbetrachtung. Die Glaubwürdigkeit desEuroparates als Garant für Demokratie, Rechtsstaat-lichkeit und Menschenrechte hängt von der Einhaltungund Umsetzung dieser Prinzipien in seinen Mitglied-staaten ab. Aber der Europarat hat auch über seine Mit-gliedstaaten hinaus eine Verpflichtung, Gesamtverant-wortung sowie eine weltweite Mitverantwortung. Ichmöchte uns alle auffordern mitzuhelfen, dass er dieserVerantwortung im Interesse der Achtung der Menschen-rechte und der weltweiten Demokratisierung gerecht wer-den kann.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Karl-Heinz Hornhues, CDU/CSU-Frak-
tion.
Sehr geehr-ter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kol-legen! Über die Bedeutung der Menschenrechtskon-vention ist so viel Schönes, Gutes und auch Richtiges ge-sagt worden, dass ich nur einen Satz hinzufügen möchte:Ich unterstreiche dies alles vollinhaltlich, nachdrücklichund stelle fest: Ja, das ist wahr. Es ist richtig und wichtig,dass wir die Europäische Menschenrechtskonvention ha-ben. Wenn wir sie nicht hätten, hätte sie längst erfundenwerden müssen.Dies gesagt habend, möchte ich mich allerdings indiesem Zusammenhang einigen anderen Punkten zuwen-den, die noch nicht angesprochen worden sind, die aberauch in das Protokoll gehören sollten.Punkt eins. Wenn das alles so bedeutend und so wichtigist, dann hätte ich die herzliche Bitte an die Bun-desregierung, wenigstens im Kleinen dem gerecht zuwerden, was im Großen gesagt worden ist. Dazu gehörtdie Tatsache, dass wir gleich den Entwurf eines Gesetzesbezüglich des Europäischen Gerichtshofes für Menschen-rechte an bestimmte Ausschüsse überweisen und in dennächsten Wochen auch ratifizieren sollen. Unterzeichnetwurde die dafür zugrunde liegende Vereinbarung am23. Oktober 1996. Heute, am 26. Oktober 2000, beginnenwir mit der Ratifizierung. Meine dringende, herzlicheBitte ist – dies betrifft vermutlich eher den Minister desAuswärtigen –: Man sollte, wenn dieser Gerichtshof einesolch wichtige Bedeutung hat, dafür sorgen, dass dienächste in diesem Zusammenhang erforderliche Rati-fizierung zeitlich gerechter erfolgen kann und wir unsnicht fragen lassen müssen, wie wir einerseits große Re-den halten können und andererseits im Kleinen mit un-seren Beschlüssen nicht herüberkommen.
Punkt zwei. Frau Ministerin, ich bitte um Nachsicht,Folgendes ist nicht böse gemeint; aber es ist schon einbisschen peinlich: Herr Kollege Bindig hat klargemacht,es gehe im Zusammenhang mit der anstehenden Entschei-dung zum Europäischen Gerichtshof für Menschen-rechte um eine halbe Million Euro. Zwei leibhaftigeMinister halten hier heute Morgen große Reden undmüssen gestehen, dass sie bei aller Bedeutung desGerichtshofes – das wird unterstrichen – nichts dagegenmachen können, dass der Gerichtshof in seiner Aufgabequasi ertrinkt. Er kann sie nicht mehr bewältigen. Deswe-gen wendet sich der Außenminister an uns, ihm bei derBeschaffung von Geld zu helfen. Bitte ersparen Sie unssolche Peinlichkeiten. Das ist weder für Sie noch für unsgut. Mir wäre es lieber gewesen, Sie hätten heute MorgenKonkretes gesagt. So viel zu diesem Punkt.
Der Europäische Gerichtshof braucht dringend Unter-stützung. Das ist wichtig und notwendig. Das will ichnoch einmal unterstreichen.Ich möchte mich jetzt einem Thema zuwenden, dashier schon anklang. Der Außenminister hat es in seinemSchlusssatz erwähnt, als er den Kollegen der Parlamen-tarischen Versammlung des Europarates gedankt hat.Ich glaube, hier ist Folgendes zu kurz gekommen. Ich sel-ber bin erst seit zwei Jahren Mitglied der Delegation. Des-wegen kann ich in diesem Zusammenhang mit Gelassen-heit über andere reden.
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Dieter Schloten12138
Ich möchte nämlich den Kollegen aus unserer Mitteherzlich danken, die viele Jahre lang in der Parlamentari-schen Versammlung des Europarates die konkrete Lastder Arbeit getragen und Erhebliches dazu beigetragen ha-ben, dass solche Festreden wie heute überhaupt gehaltenwerden können. Ich nenne hier aus früheren Tagen KarlAhrens, später wirkte Leni Fischer als Präsidentin derParlamentarischen Versammlung und auch die KollegenAntretter und Reddemann haben über Jahre hinweg ihreArbeit gemacht. Die gegenwärtigen Akteure will ich nichtaufzählen. Das erspare ich mir, weil wir uns alle kennen.Jeder weiß, was hier geleistet wird.Wenn es zutrifft, dass die Europäische Menschen-rechtskonvention für die neu hinzugekommenen Länderin der Runde der 41 Mitgliedstaaten der Leuchtturm ist,von dem der Außenminister gesprochen hat, dann verdie-nen es hier die Kollegen – die knochenhart daran arbeiten,dass sich etwa die Situation in der Türkei verbessert –,dass ihre Leistung anerkannt wird. Aus unserer Rundekümmert sich der Kollege Benno Zierer darum. Anderearbeiten daran, dass sich in Russland endlich etwas än-dert.Ich habe eben schon gesagt – das stimmt –: Der viel-leicht bekannteste SPD-Politiker in Moskau ist – das wirdSie vielleicht verblüffen – der Kollege Bindig. Er ist dortwegen seines Nachfragens gefürchtet, wie etwa: Wie er-füllt ihr die Verträge? Ich möchte die Bundesregierungbitten, ab und zu die Vorlagen des Kollegen Bindig inihren Besprechungen und Beratungen zu berücksichtigen.Das könnte uns gemeinsam weiterbringen. HerzlichenDank an den Kollegen!
Die Rolle der Parlamentarischen Versammlung, diesesMonitoring-Komitees ist für Länder von entscheidenderBedeutung, die sich in dem Status befinden – das ist heutebeschrieben worden –, den wir hatten, als wir beitraten.Die erste Delegation der Parlamentarischen Versammlungdes Europarates – wir müssen nachlesen, wer alles dabeiwar – war eine unglaubliche Truppe. Alles, was in diesemParlament Rang und Namen hatte, ist nach Straßburg ge-fahren. So wie es bei uns am Anfang war, ist es heute beiden Ländern, die dazugekommen sind. Deswegen ist es anuns, die Bedeutung dieses Gremiums, dieser europä-ischen Versammlung in Straßburg zu vermitteln, eine Ar-beit, die über das hinausgeht, was bisher von uns geleistetwird.Ich möchte Ihnen dezidiert widersprechen, Frau Mi-nisterin. Sie haben gesagt, die Mitgliedschaft im Europa-rat sei der erste Schritt zur EU-Mitgliedschaft.
– Es war aber sinngemäß richtig. Nebenbei bemerkt den-ken so nicht nur Sie, sondern auch viele Kollegen aus mei-nen Reihen. Das weiß ich.Für viele Länder mag es zutreffen, dass sie die Mit-gliedschaft im Europarat und in der ParlamentarischenVersammlung als eine Vorstufe zur EU-Mitgliedschaftauffassen. Wer diese Auffassung vertritt, übersieht aber,dass es von der Struktur her Länder geben wird, die ver-mutlich niemals der Europäischen Union angehören wer-den. Island mag uns noch kalt lassen. Die Norweger wer-den es ebenfalls nicht schaffen. Auch die Schweizer habenihre Probleme. Das berührt uns aber weniger. Wenn wirjedoch über Georgien, Aserbaidschan und Armenien, spä-testens aber dann, wenn wir über die Ukraine und Russ-land reden, stellt sich die Frage, wie bedeutsam der Euro-parat und die Parlamentarische Versammlung für unssind. Auf lange Sicht sind sie etwas anderes als nur derVorhof zur Europäischen Union.Deswegen bitte ich darum, sich zu bemühen, dies an-deren hinreichend deutlich zu machen, die vielleicht niedie Chance haben wollen oder werden, in die EuropäischeUnion aufgenommen zu werden, die aber mit uns in einemgemeinsamen Europa der Werte leben möchten, wie siedie Menschenrechtskonvention in allen ihren Facettenverkörpert. Wir müssen ihnen das Gefühl geben, dassdiese Einrichtung für uns keine zweit- oder drittklassigeEinrichtung ist, die nur anlässlich seines 50-jährigen Ju-biläums oder eines 75-jährigen Jubiläums zu so überra-gender Bedeutung gelangt, dass wir sie in der Kernzeit desDeutschen Bundestages erörtern.Ich habe heute Morgen viele Sätze gehört, die mir sehrgut gefallen haben. Ich hoffe, dass wir es gemeinsamschaffen, konkrete Schritte im Detail weiterzuentwickeln.Der wichtigste Schritt wird sein, dass wir als der DeutscheBundestag unsere Regierung bewegen, das, was Parla-mentarier tun, ein wenig ernster zu nehmen.Ich war nicht der Auffassung anderer Kollegen, als wirin der Parlamentarischen Versammlung den russischenKollegen nicht das Stimmrecht gegeben haben. Nur, dieArt und Weise, die Schnodderigkeit – so will ich es nichtsagen, aber es kommt dem ungefähr nahe –, mit der derMinisterrat dieses Petitum der Parlamentarischen Ver-sammlung als nicht passend zurückgewiesen hat, ähneltendem Verspielen einer Steilvorlage – so würde man imFußball sagen –, die zu einem guten Tor und zu einem bes-seren Ergebnis hätte führen können.Gerade als Europarat haben wir die Chance – und alsParlamentarische Versammlung versuchen wir, sie mitgrößter Intensität zu nutzen –, auf die Kollegen und dieParlamente in anderen Ländern, inklusive Russlands, ein-zuwirken. In Russland sind Dinge gelungen, die ohne die-ses Bemühen nicht zustande gekommen wären. Dassheute Beobachter des Europarates die einzigen internatio-nalen Vertreter in Tschetschenien sind, mag nicht befrie-digen und hat die Probleme nicht gelöst; es macht aberdeutlich, welche Chancen es gibt. Ich wäre dankbar, wennwir, Parlamente und Regierung – ich beziehe das nicht nurauf uns, sondern auch auf andere Regierungen –, intensi-ver und besser zusammenarbeiten könnten.Mein Petitum ist, dass wir in diesem Bereich besserwerden und uns gemeinsam versprechen, das Beste ausder Sache zu machen. Denken wir nicht immer nur an uns,sondern auch an die anderen. Vergessen wir bei der heuti-gen 50-Jahr-Feier nicht, wie glücklich unsere politischenVäter und Mütter waren, als sie damals in die Mitte dereuropäischen Länder aufgenommen wurden. Die anderen
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Dr. Karl-Heinz Hornhues12139
sehen das heute auch so. Die Frage, wie ernst sie genom-men werden und wie sehr sie sich bei uns aufgehobenfühlen, hängt davon ab, wie ernst wir sie nehmen. Dassollten wir im eigenen Interesse nicht vergessen. AllesGute!Danke schön.
Ich erteile dem Kolle-
gen Helmut Lippelt, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Lassen
Sie mich eingangs mit einigen laienhaften Bemerkun-
gen – ich bin kein Jurist – zu dem vom Kollegen Bindig
und von Frau Leutheusser-Schnarrenberger Vorgetra-
genen zur Wirkung der Menschenrechtskonvention be-
ginnen.
Bei Lektüre der Ratifizierungsdebatte im Bundestag
von 1952 stellt man fest, mit welcher Emphase damals
betont worden ist, dass man erstmalig ein europäisches
Gesetz beschließe und es damit in die nationale Gesetzes-
systematik einführe. Es ist keine Frage: Der Menschen-
rechtsgerichtshof und der EuGH – wenn die Grundrechte-
Charta rechtskräftig wird – werden ihre Arbeit schon gut
koordinieren und ihre Tätigkeitsbereiche abgrenzen.
Trotzdem denke ich: Solange die EU der Konvention
nicht als juristische Person beitreten kann, wird sie bei
Überschneidungsfällen, die es immer geben wird, im Pro-
zess selber nicht als beteiligte Partei auftreten können und
es werden sich – so sehr man es auch verhindern will – un-
terschiedliche Traditionen von Rechtssprechung ent-
wickeln. Gerade deshalb sollten wir massiv darauf drän-
gen, dass die EU endlich juristische Person wird und
beitreten kann, sodass wir diese – nicht schlimme, aber
auf mittlere Sicht immerhin gegebene – Konfusion ver-
hindern können.
Es ist genug zur Geschichte und zur Bedeutung der
Konvention gesagt worden. Die Konvention ist – wenn
man sich ihr Zustandekommen 1950 genau anschaut –
eng mit der Entstehungsgeschichte der Bundesrepublik
und ihrer europäischen Einbindung verbunden. Sie ist
ein Grunddokument von ähnlichem Rang wie das Grund-
gesetz selbst. Wenn man nachliest, wird man merken: Sie
ist zugleich inhaltlicher Bestimmungspunkt des damali-
gen welthistorischen Gegensatzes gewesen. Das wird bei-
spielsweise aus der Begründung des damaligen Kollegen
Becker, F.D.P., deutlich: Er brauche nur über die Grenze
zu schauen, wo Dörfer geräumt würden, dann wisse er,
warum er das Gesetz mittrage. Dies wird auch aus dem
Zuruf des damaligen KPD-Abgeordneten Heinz Renner
deutlich, der dazu aufforderte, nach den Menschenrechten
in Korea zu fragen.
Dieser Zuruf stand stellvertretend für die Haltung der
Sowjetunion. Sie war dem Europarat nicht beigetreten
und hätte dies auch nicht tun können. Erst nach dem Zer-
fall der Sowjetunion entwickelte die Konvention eine
große Anziehungskraft für Länder in ihrem ehemaligen
Einflussbereich, aber auch für die GUS-Staaten selbst.
Der Beitritt zur Konvention ist im Zusammenhang mit
ihrem Beitritt zum Europarat obligatorisch und ist für sie
das entscheidende Mittel, um sich zu europäischen Wer-
ten und Normen zu bekennen. Mit diesem Prozess der
Osterweiterung – der Kollege Hornhues hat es eben an-
gesprochen – wird Europa früher und geographisch weit
umfassender wiederhergestellt als durch die EU-Ost-
erweiterung selbst.
Aber auch dieser Prozess ist konfliktreich. Nicht zufäl-
lig gibt es wegen des Tschetschenienkrieges einen Kon-
flikt zwischen Russland und der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates. Ein ähnlicher Konflikt bahnt
sich mit dem von der Parlamentarischen Versammlung
zur Aufnahme vorgeschlagenen Aserbaidschan über die
– entgegen den gemachten Zusagen – nicht verbesserte
Situation der politischen Häftlinge dort an. Die Aufnahme
von Belarus wurde wegen der dortigen Menschenrechts-
verletzungen suspendiert.
Das bedeutet: Die Funktion des Europarates und seines
wichtigsten Instruments, der Konvention, hat sich geän-
dert. War früher die Zugehörigkeit die Bestätigung des
stattgefundenen Wandels zur Demokratie – trotz aller
Hinweise von Ihnen, dass in den Ländern selbst damals
viel verbesserungsbedürftig war –, ist heute die Aufnah-
meprozedur mit ihren Stadien – Antrag, gründliche Über-
prüfung der verfassungsrechtlichen und verfassungspoli-
tischen Situation des Landes, Aufnahme mit Auflagen,
Monitoring der Erfüllung der Auflagen – zu einem Mittel
zur Bewertung des demokratischen Wandels im Land
selbst geworden. Sergej Kowaljow hat sich im Europarat
nachdrücklich für die Aufnahme Russlands in den Euro-
parat eingesetzt, wobei er nicht verschwiegen hat, dass
Russland noch keine Demokratie nach europäischen Nor-
men ist. Russland bedarf nach seiner Meinung des Dia-
logs. Er sagte damals: Ihr habt Russland aufgenommen
und damit Verantwortung übernommen. Nun werdet dem
gerecht, indem ihr den Konflikt führt, der geführt werden
muss.
Wir erwarten nach den Wahlen in Jugoslawien nun
auch dessen Aufnahmeantrag, damit wir auch dieses Land
auf dem Weg in eine Demokratie nach europäischen Nor-
men unterstützen können. Zugleich freuen wir uns da-
rüber, dass nach den letzten Wahlen in Kroatien die Par-
lamentarische Versammlung des Europarates die Proze-
dur des Monitoring für Kroatien beenden konnte. Dies
stelle ich mit großer Freude gerade heute fest, da der Prä-
sident dieses Landes hier in Berlin unser Gast ist.
Ich erteile dem Kolle-
gen Peter Altmaier, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Damenund Herren! Wir haben alle gemeinsam die Bedeutung derMenschenrechtskonvention nachdrücklich gewürdigt. Ich
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Dr. Karl-Heinz Hornhues12140
finde aber, dass wir es uns zu einfach machen, wenn wirnur in Nebensätzen auf die unglaublich schlechte Aus-stattung des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-rechte mit Sach- und Personalmitteln eingehen.
– Bei Ihnen, Herr Kollege Bindig, war es ein Hauptpunkt.Das erkenne ich ausdrücklich an.Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechteund die Europäische Menschenrechtskonvention erlebenderzeit eine Renaissance, die niemand vor dem Fall derMauer und dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs fürmöglich gehalten hätte. Wir hatten im letzten Jahr insge-samt 20 000 Beschwerden, von denen immerhin 8 000 re-gistriert wurden. Der Gerichtshof hat nicht einmal im An-satz die personellen und sachlichen Mittel, um dieseBeschwerden in angemessener Zeit aufzuarbeiten. Dashat Konsequenzen: Es führt nicht nur dazu, dass dieFrage, welche innerstaatlichen Gesetze und Akte mit denentscheidenden Prinzipien der Menschenrechtskonven-tion unvereinbar sind, oftmals jahrelang unbeantwortetbleibt. Es führt auch dazu, dass die Bürger, die vor demGerichtshof ihre Beschwerden, gestützt auf die Europä-ische Menschenrechtskonvention, einreichen können,nicht nur eine Engelsgeduld haben müssen, sondern auchextrem langlebig sein müssen, wenn sie den Abschluss ih-res Verfahrens noch erleben wollen. Das darf nicht sein.Deshalb müssen wir uns dafür einsetzen, dass dieses Defi-zit behoben wird.
Frau Ministerin, auf eines möchte ich in aller Deut-lichkeit hinweisen: Wir haben zwar Ihnen applaudiert, alsSie gesagt haben: Wir müssen das ändern. – Aber es ist einoffenes Geheimnis im Straßburger Gerichtshof, „dans lescouloirs de la cour“, dass die Bundesrepublik Deutsch-land im Ministerkomitee ausgerechnet dasjenige Landwar, das am wenigsten für die Aufstockung des Personalsgetan hat, übrigens in trauter Einmütigkeit mit Frank-reich. Das heißt, wenigstens in diesem Bereich funktio-niert der deutsch-französische Motor, aber leider Gottesnur im Rückwärtsgang. Das ist nicht ausreichend. Dasmüssen wir in den nächsten Jahren ändern.
Es ist viel über die Bedeutung der EuropäischenMenschenrechtskonvention gesagt worden. Sie ist vor al-lem für den Einzelnen bedeutsam, für den der Gang nachStraßburg oftmals die letzte Hoffnung ist, trotz inner-staatlicher Willkür von Behörden und Gerichten Recht zubekommen. Das gilt übrigens nicht nur für die osteu-ropäischen Staaten und für die Türkei, sondern auch fürdie Staaten, die traditionelle Beitrittsstaaten der Men-schenrechtskonvention sind. Niemand hätte es im Jahre1950 für möglich gehalten, dass auch Staaten mit ent-wickelten Grundrechtskatalogen und mit langer rechts-staatlicher Tradition wie Großbritannien, Frankreich undDeutschland vom Straßburger Menschengerichtshof im-mer wieder verurteilt werden, weil sie entscheidendeGrundsätze der Europäischen Menschenrechtskonventionnicht beachten.
Das eigentliche Geheimnis des Mechanismus derMenschenrechtskonvention ist nicht nur ihre Rechtsver-bindlichkeit, sondern auch die in ihr enthaltene Möglich-keit, dass die Einhaltung der Grundrechte von einemunabhängigen internationalen Gerichtshof durchgesetztwird. Weil das so ist, ist es wichtig, dass wir die Europä-ische Grundrechte-Charta, die wir in Nizza feierlich pro-klamieren werden, nicht nur verbindlich machen; viel-mehr müssen wir auch dafür sorgen, dass der EuropäischeGerichtshof für Menschenrechte auf absehbare Zeit dieKompetenz bekommt, die Einhaltung der Grundrechte,die in der Charta niedergelegt sind, in der Praxis zu über-wachen. Wenn das nicht geschieht, ist diese Charta dasPapier nicht wert, auf dem sie gedruckt ist.
Der entscheidende Punkt ist – dieser ist auch schon vonChristian Schwarz-Schilling angesprochen worden –: Mitder Festlegung der Grundrechte in einer Charta und mitder Installation eines unabhängigen Gerichtshofes ist zumersten Mal anerkannt worden, dass die Frage der Einhal-tung und Umsetzung von Grund- und Menschenrechteneben nicht nur eine innere Angelegenheit der einzelnenMitgliedstaaten und Nationalstaaten ist.
Dem Prinzip der universellen Geltung der Menschen-rechte ist 1950 zum ersten Mal zum Durchbruch verhol-fen worden. Von da an lässt sich eine lange Entwicklungverfolgen, die bis hin zu der Debatte über die Frage geht,wann und unter welchen Umständen humanitäre Inter-ventionen zulässig und möglich sind; denn es ist nichthinnehmbar, dass die Menschen von den Staaten zu Ob-jekten gemacht werden. Nein, die Menschen sind die Sub-jekte.Deshalb, Herr Kollege Hübner, finde ich es nicht inOrdnung, wenn Sie so tun, als ob das Instrument der hu-manitären Intervention im Grunde nichts anderes sei alseine Verlängerung imperialistischer Aspirationen derwestlichen Staatengemeinschaft. Die humanitäre Inter-vention ist tatsächlich eine große Errungenschaft des Völ-kerrechtes.
Das Problem besteht vor allen Dingen darin, dass wir dieMenschenrechte zu zögerlich umgesetzt haben, und nichtdarin, dass wir zu oft reagiert haben.
Es ist in den letzten Wochen oft befürchtet worden,dass die Ausarbeitung der Europäischen Grundrechte-Charta zu einer Schwächung des Mechanismus der Eu-ropäischen Menschenrechtskonvention führen könnte.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Peter Altmaier12141
Das dürfen wir gemeinsam nicht zulassen. Wir müssengemeinsam dafür sorgen, dass die Bedeutung der Europä-ischen Menschenrechtskonvention durch das Zustande-kommen dieses neuen und großartigen Instruments deseuropäischen Menschenrechtsschutzes gestärkt wird. Ichglaube, dass dies auch möglich ist, und zwar aus zweiGründen.Erstens. Die Europäische Menschenrechtskonventionhat bei der Ausarbeitung der Grundrechte-Charta Pate ge-standen. Wir haben die Europäische Grundrechte-Charta – ich war für dieses Hohe Haus im Konvent an derAusarbeitung beteiligt – überall dort, wo es vergleichbareArtikel der Europäischen Menschenrechtskonventiongab, fast wortwörtlich so formuliert, wie es in der Euro-päischen Menschenrechtskonvention steht. Wir haben si-chergestellt, dass keine Bestimmung der Grundrechte-Charta so ausgelegt werden kann, dass das Schutzgebotder Europäischen Menschenrechtskonvention unter-schritten wird.Es gibt einen zweiten Grund: die unterschiedlichen An-wendungsbereiche beider Instrumente. Die EuropäischeMenschenrechtskonvention gilt für das Handeln der Mit-gliedstaaten bei der Umsetzung nationalen Rechts und dieEuropäische Grundrechte-Charta gilt für das Handeln dereuropäischen Institutionen bei der Umsetzung und An-wendung europäischen Rechts. Damit füllen wir eineLücke, die die EMRK bisher eben nicht füllen konnte,weil wir nur über die Hilfskonstruktion von Art. 6 der Eu-ropäischen Grundrechte-Charta imstande waren, ihremInhalt in die Rechtsprechung des Europäischen Gerichts-hofes einfließen zu lassen. Ich bin überzeugt, dass zwi-schen dem Europäischen Gerichtshof und dem Europä-ischen Gerichtshof für Menschenrechte eben keineKonkurrenzsituation entstehen wird, sondern dass beidegemeinsam dazu beitragen werden, dass der Grundrechts-schutz in Europa weiterentwickelt wird.Lassen Sie mich ein Wort sagen zur Frage des Beitrittsder Europäischen Union zur EMRK. Ich weiß, dassdiese Forderung von vielen Kolleginnen und Kollegenaus der Parlamentarischen Versammlung des Europarateserhoben wird. Ich befürchte nur, dass die positive Beant-wortung dieser Frage zum jetzigen Zeitpunkt Wasser aufdie Mühlen all derer wäre, die sagen: Dann können wiruns ja die rechtlich verbindliche Aufnahme der Grund-rechte-Charta in die EU-Verträge sparen. – Deshalb meineherzliche Bitte: Wir sollten diese Frage dann entscheiden,wenn sie ansteht, wenn es nämlich darum geht, in dergroßen Regierungskonferenz 2004 mit der Kompetenzab-grenzung, mit der Reform der Institutionen und mit derAufnahme der Grundrechte-Charta einen ersten Schritt zueinem europäischen Verfassungsvertrag zu tun.Wir haben in den letzten Jahren viel erreicht, was dieeffektive Durchsetzung von Menschenrechten nicht nur inEuropa, sondern auch darüber hinaus angeht. Wir müssenjetzt dafür sorgen, dass der Druck aus dem Kessel nichtentweicht, wir müssen über diese Fragen diskutieren undwir müssen unsere nationalen Verantwortlichen, die Jus-tizministerin, den Außenminister und vor allen Dingenden Finanzminister, immer wieder damit quälen, dass wirsie auch öffentlich fragen: Was tut ihr dafür, dass eureSonntagsreden endlich auch zu den notwendigen prakti-schen Konsequenzen führen?Vielen Dank.
Ich erteile der Kolle-
gin Hedi Wegener, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Ich versuche, mich in die Situationder Männer und Frauen hineinzuversetzen, die vor 50 Jah-ren, nach dem Ende des Krieges, bereit waren, die Kon-vention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfrei-heiten zu erarbeiten. Das Gewissen Europas war nachzwei Katastrophen wieder präsent und handlungsfähig.Und nicht nur das! Der alte Kontinent erhob Anspruch aufeine weltweite Führungsrolle in der Frage der Menschen-rechte. Es gab auch ein Vorbild: die UN-Charta.Die Europäische Menschenrechtskonvention geht aberteilweise weiter als die Allgemeine Erklärung der Men-schenrechte der Vereinten Nationen. Ihre Bestimmungensind bei Missachtung und Verstößen vor dem Europä-ischen Gerichtshof für Menschenrechte einklagbar.Die Ministerin hat es schon gesagt: Für mehr als800 Millionen Menschen in mittlerweile 41 Staaten Euro-pas ist die Europäische Menschenrechtskonvention zu ei-nem Schutzsystem von unschätzbarem Wert geworden.Ein Katalog der Grundfreiheiten war also geradenach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges in Europaunverzichtbar geworden. Aber fast ganz Europa unter einWertesystem zu subsummieren hat auch Grenzen und be-gegnet Schwierigkeiten. Mit der Konvention in Europa istein wichtiger Schritt gemacht worden in einer Welt, dieannähernd gleiche Wertesysteme hat. In den meisten eu-ropäischen Verfassungen, soweit die Länder eine haben,sind diese Grundrechte verankert. Die Diskussion um dieEU-Grundrechte-Charta, die jetzt vorliegt, zeigt aberauch, dass die EMRK inhaltlich nicht ausreichend ist füreine Europäische Union als Wertegemeinschaft.Wir in Deutschland haben auch positive Beispiele fürden Umgang mit Rechten von Minderheiten. Dänen sindim Landtag von Schleswig-Holstein vertreten; ebensowerden die Minderheitsrechte der Deutschen in Däne-mark gewahrt. Auf beiden Seiten haben sie jeweils dasRecht, ihre Kultur zu leben: in Schulen, in ihrer Sprache,in Bibliotheken, Sportvereinen. Das ist Alltag hier wiedort. Die Sorben sind ein weiteres Beispiel in Deutschlandfür eine geglückte Verankerung von Minderheitsrechten.Schauen Sie einmal über die Grenzen nach Europa. Ichnenne den Konflikt der Korsen in Frankreich, der Baskenin Nordspanien, der Katalanen in Südspanien, der ka-tholischen Iren in Irland, der Bretonen in Frankreich, derSüdtiroler in Italien bis zur heutigen Zeit noch –, der un-garischen Minderheiten in Slowenien und der Slowakei,der Russen im Baltikum. Die Probleme sind eigentlichüberall gelöst – theoretisch. Aber wie ist es in der Praxis?Es zeigt sich in Deutschland wie auch im übrigen Europa,dass es Akzeptanz in den Herzen und in den Köpfen ge-ben muss.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Peter Altmaier12142
Herr Präsident, Sie haben vor einigen Tagen hier ge-sagt: Wir müssen das Anderssein akzeptieren lernen.Deutschland beweist seine Größe, wenn es die Selbstbe-stimmung aller und eigene Identitäten zulässt. Es gibtMenschengruppen, die dazu nur begrenzte Möglichkeitenhaben.Trotz der Fortschritte sind die Menschenrechte fürMädchen und Frauen immer noch nicht gesichert. Welt-weit werden Frauen geschlagen, vergewaltigt, ver-schleppt oder verstümmelt. Hinzu kommen Men-schenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen undKindern, die sich immer mehr durch die internationaleorganisierte Kriminalität verfestigen. Mehr als 1 000 Op-fer von Menschenhandel pro Jahr haben wir allein inDeutschland. Das sind nur die ermittelten Fälle. DieDunkelziffer ist vermutlich viel größer. Statistische Er-hebungen belegen, dass sich das Delikt in Deutschlandetabliert hat. Das ist organisierte Kriminalität. Hohe Ge-winne bei relativ geringem Risiko sind ein starker Anreizfür die Täter. Die Umsätze allein im deutschen Rotlicht-milieu werden auf eine zweistellige Milliardenhöhe ge-schätzt. Frauenrechte werden demnach sehr oft nicht alsMenschenrechte anerkannt. Ein grundlegendes Umden-ken ist nur in Ansätzen spürbar.Noch ein Beispiel: Nach wie vor werden weltweit proJahr etwa 2 Millionen Mädchen an ihren Geschlechtsor-ganen verstümmelt. Insgesamt sind davon 130 MillionenFrauen in der Welt betroffen. Wenn wir auch sagen, dassdas Länder sind, die weit weg sind, so betrifft uns dasThema doch in einer Welt, die immer mehr zusammen-rückt, in einem Deutschland, in einem Europa, das offensein will für alle Menschen.
Selbst der Tod dieser Frauen – die Todesrate liegt bei30 Prozent – wird um der Tradition und der Menschenehrewillen einkalkuliert. Trotzdem wird Genitalverstümme-lung in Deutschland nicht als Asylgrund anerkannt, weildie deutsche Rechtsprechung gesellschaftlich bedingteGewalt nicht als staatliche Verfolgung und damit nicht alsasylrelevant einstuft. Wie ist das möglich angesichts derhohen Qualität der Europäischen Menschenrechtskon-vention, angesichts der vielen Bekenntnisse zur Notwen-digkeit des Schutzes der Menschenrechte? Wie ist esmöglich, dass sich erst in den letzten Jahren das Bewusst-sein und die Wahrnehmung für Frauenrechte verstärken?Apropos Menschenbild: Die Behandlung des Themas Ab-schiebehaft und Flughafenasyl steht demnächst auf unse-rer Tagesordnung. In dieser Debatte steht aber schon fest:So können wir mit Menschen nicht weiter umgehen.
Auch wenn sie ihre Situation zum Teil selbst mit ver-schulden, muss die Unterbringung menschenwürdig sein;zumutbar reicht für mich nicht aus. Erst recht darf sie fürdie allein reisenden Kinder nicht noch zusätzlich trauma-tisierend sein. Todesfälle bei ihnen – das sind in Deutsch-land immerhin über 20 im Jahr – dürfen einfach nicht hin-genommen werden.
Auch dürfen keine Übergriffe von Menschen erfolgen, dieStaatsgewalt ausüben.
Neben den klassischen Rechten Verbot von Folter undunmenschlicher Behandlung, Freiheit der Meinungsäuße-rung, Versammlungsfreiheit und Diskriminierungsverbotsind die Rechte in den letzten Jahren durch Zusatzproto-kolle verändert worden. Vor 50 Jahren gab es zum Art. 2noch folgende Ausführungen:Niemand darf absichtlich getötet werden außer durchdie Vollstreckung eines Todesurteils, das ein Gerichtwegen eines Verbrechens verhängt hat, für das dieTodesstrafe gesetzlich vorgeschrieben ist.Die Zeiten sind Gott sei Dank vorbei.
Die Konvention hat in den letzten Jahrzehnten für ähn-liche Abkommen in anderen Teilen der Welt Pate gestan-den. Die Schaffung einer faktisch todesstrafenfreien Zonein allen Mitgliedsländern des Europarates ist durch das6. Zusatzprotokoll Wirklichkeit. Aber gerade dieses Pro-tokoll wirft Fragen auf: Fragen nach der Interpretation derNorm ebenso wie nach nationenübergreifenden Kompro-missen, die auch wir eingehen müssen.Die Abschaffung der Todesstrafe war vor 50 Jahrennoch nicht möglich. Es wird aber deutlich, dass es unter-schiedliche Wertesysteme gibt, die eine generelle Ab-schaffung der Todesstrafe verhindern. Zumindest fürmich ist es eine besondere Härte, mit einem Land freund-schaftliche Beziehungen zu pflegen, in dem die Todes-strafe eine akzeptierte Sanktion darstellt. Die VereinigtenStaaten von Amerika, eines der Mutterländer der Demo-kratie, geben meines Erachtens Anlass zur Besorgnis.
Seit dort 1977 die Todesstrafe wieder zugelassen wordenist, wurden 653 Menschen hingerichtet. Seit Beginn der90er-Jahre ist ein enormer Anstieg der Zahl der Hinrich-tungen festzustellen. So wurden seit 1993 nicht wenigerals 450 Todesurteile vollstreckt. Mehr als 3 000 Gefange-nen droht in den USA die Hinrichtung. Amnesty Interna-tional ist kein anderes Land bekannt, in dem so vieleTodesstrafenkandidaten in den Gefängnissen sitzen. An-gesichts dieser Fakten ist der Anspruch der USA, denMenschenrechten, der Demokratie und der Rechtsstaat-lichkeit weltweit zum Durchbruch zu verhelfen, kritischzu hinterfragen.
Ich schließe die Aus-sprache. Wir kommen zur Abstimmung.Zunächst lasse ich über den Entschließungsantrag derFraktion der PDS auf Drucksache 14/4403 abstimmen.Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Bei Zustimmung
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Hedi Wegener12143
der PDS und im Übrigen Ablehnung ist der Ent-schließungsantrag abgelehnt.Ich lasse über den Antrag der Fraktionen von SPD,CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. mit demTitel „50 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention“abstimmen. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksa-che 14/4390? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – DerAntrag ist einstimmig angenommen.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/4298 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 e so-wie Zusatzpunkt 4 auf:a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- re-gierungGutachten des Wissenschaftlichen BeiratsBodenschutz beim Bundesministerium für Um-welt, Naturschutz und ReaktorsicherheitWege zum vorsorgenden BodenschutzFachliche Grundlagen und konzeptionelleSchritte für eine erweiterte Bodenvorsorge– Drucksache 14/2834 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesenb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBericht der Bundesregierung zum Jahresgut-achten 1998 „Welt im Wandel – Strategien zurBewältigung globaler Umweltrisiken“ des Wis-senschaftlichen Beirats der BundesregierungGlobale Umweltänderungen– Drucksache 14/3285 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für Tourismusc) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungUmweltgutachten 2000 des Rates von Sach-verständigen für UmweltfragenSchritte ins nächste Jahrtausend– Drucksache 14/3363 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Tourismusd) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
F.D.P.Novellierung der Verpackungsverordnung undFlexibilisierung der Mehrwegquote– Drucksache 14/3814 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forstene) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit
– zu dem Antrag der Fraktionen von SPD undBÜNDNIS 90/ DIE GRÜNENGrenzüberschreitende Zusammenarbeit zurStärkung des Schutzes der Böden– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach,Birgit Homburger, Hildebrecht Braun ,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.Erarbeitung einer internationalen Boden-schutzkonvention– Drucksachen 14/2567, 14/983, 14/3711 –Berichterstattung:Abgeordnete Jürgen Wieczorek
Christa Reichard
Winfried HermannBirgit HomburgerEva Bulling-SchröterZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten BirgitHomburger, Marita Sehn, Ulrike Flach, weitererAbgeordneter und der Fraktion der F.D.P.Börsenhandel mit Emissionszertifikaten inDeutschland konkret vorbereiten– Drucksache 14/4395 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derKollegin Marion Caspers-Merk, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Schritte ins nächsteJahrtausend“ hat der Rat von Sachverständigen für Um-weltfragen sein Umweltgutachten genannt und damit dieErwartungen an die Bundesregierung hinsichtlich der Ge-staltung der Umweltpolitik in den nächsten Jahren formu-liert.
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Vizepräsidentin Anke Fuchs12144
Betrachtet man die einzelnen Punkte des Gutachtens,stellt man fest, dass sich nach den letzten zwei Jahrenniemand verstecken muss. Sehen wir uns zunächst dasThema Nachhaltigkeit an. Hier hat die Enquete-Kom-mission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ eine ein-malige Wirkungsgeschichte. Noch nie wurden Forderun-gen politisch so zeitnah aufgegriffen, noch nie ist esgelungen, ein Thema in der Politik so dauerhaft zu veran-kern, und noch nie hat eine Bundesregierung Empfehlun-gen einer Enquete-Kommission dermaßen deutlich inihren Koalitionsvertrag übernommen.Bislang mussten sich die Mitglieder von Enquete-Kommissionen bewusst sein, dass ihre Arbeitsergebnisseerst mit einer großen zeitlichen Verzögerung wahrgenom-men und vor allem umgesetzt werden. So hatte beispiels-weise die Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmo-sphäre“ eigentlich alle grundsätzlichen Linien derKlimaschutzpolitik zu einem frühen Zeitpunkt, nämlichin der 12. Legislaturperiode, erarbeitet. Aber es dauerte ei-nige Jahre, bis sich die Bundesregierung die Klima-schutzziele zu Eigen gemacht hat. Wir sind noch immerdabei, die Forderungen umzusetzen; denn ein umweltpo-litisches Ziel ist schnell formuliert, aber die Umsetzungwichtiger Schritte dauert. Ich bin sehr froh, dass die Bun-desregierung bei diesem Thema nun mit ihrem Klima-schutzprogramm Ernst gemacht hat.
Im Umweltgutachten wird gefordert, eine nationaleNachhaltigkeitsstrategie zu erarbeiten. Auch dazu gab esin diesem Sommer einen Kabinettsbeschluss der Bundes-regierung. Ebenso gibt es beim Zukunftsinvestitionspro-gramm einige Punkte, in denen Forderungen der Enquete-Kommission aufgegriffen worden sind. Ich erinnere indiesem Zusammenhang an die Themen flächensparendesBauen, Altbausanierung und Biotopverbundsysteme, al-les Forderungen der Enquete-Kommission, die sich jetztin konkretem Handeln wieder finden.Ich finde, es ist ein enormer Fortschritt – gerade ineiner Zeit, in der die Baukonjunktur weggebrochen ist –,dass wir 400 Millionen DM in die Altbausanierung in-vestieren und damit einen deutlichen Impuls RichtungNachhaltigkeit geben. Es ist ökologisch vernünftig, dassAltbauten vernünftig gedämmt und nicht nur pinselsaniertwerden; es ist ökonomisch vernünftig, hier ein Anreizpro-gramm zu schaffen, um Investitionen vor allem beim Mit-telstand zu bewirken; und es ist sozial vernünftig, geradein einer Zeit, in der Bauarbeiter arbeitslos werden, eindeutliches Zeichen zu setzen. Sie sehen also: Es wurdennicht nur Forderungen gestellt, sondern mit dem Zukunfts-investitionsprogramm ist es uns jetzt gelungen, in dierichtige Richtung zu gehen.
Zu einem weiteren wichtigen Punkt, der Abfallwirt-schaft, finden sich in dem Umweltgutachten zwei Forde-rungen, die wir heute ganz aktuell aufgreifen können: eineÄnderung der TA Siedlungsabfall und eine Novelle derVerpackungsverordnung. In beiden Bereichen sind wireinen guten Schritt weitergekommen. Die TASi ist vonsei-ten der Bundesregierung bereits beschlossen worden; dasThema liegt jetzt im Bundesrat. Nach jahrelangem Streitum die beste Art der Abfallbeseitigung – Müllverbrennungoder biologisch-mechanische Verfahren – haben wir hierzu einer Entscheidungsfindung beigetragen, indem wir beider TASi hohe Standards eingeführt und gleichzeitig denKommunen gesagt haben: Wer diese Standards erfüllt, hatdie Chance, selbst zu entscheiden, mit welcher Technik erdieses Thema angeht. So heben wir den jahrelangen Inves-titionsstau durch konsequentes Handeln auf und schaffenes, den alten Streit zwischen Verbrennern und Kompostie-rern ein Stück weit zu befrieden.
Auch mit der Novelle der Verpackungsverordnungsind wir seit gestern Abend einen guten Schritt weiter. Wirhaben es beim Thema Abfallpolitik immer mit 80 Milli-onen Expertinnen und Experten zu tun. Das macht dasThema so spannend: Beim Thema Mülltrennung kann je-der mitreden. Die positiven Ansätze in der Abfallpolitik– dass Abfälle vermieden werden – wollen wir in eine zu-kunftsfähige Verpackungspolitik übertragen, die ökolo-gisch vorteilhafte Verpackungen stützt und ökologischeindeutig nachteilige Verpackungen diskriminiert. Das istein Punkt, bei dem das UBA-II-Gutachten, das in diesemSommer vorgelegt wurde, Klarheit gebracht hat. Dennschon zum zweiten Mal hat eine Ökobilanz klar gemacht,welche Verpackungen ökologisch vorteilhaft und welcheVerpackungen ökologisch eindeutig nachteilig sind.Wie haben Handel und Industrie auf diese beiden Gut-achten reagiert? Wir mussten eine dramatische Dosenflutzur Kenntnis nehmen. Hatten Dosen 1991 noch einen An-teil von 12 Prozent am Biermarkt, so liegen sie heute beiüber 20 Prozent. Die Zahlen, die bei einer Anhörung derSPD-Bundestagsfraktion Anfang dieser Woche genanntwurden, zeigen in eine noch dramatischere Richtung. DieMehrwegquote wird schon zum zweiten Mal deutlich ver-fehlt.Heute liegt auch ein Antrag der F.D.P. zum ThemaVerpackungsverordnung vor. Frau Kollegin Homburger,ich bin mir sicher, dass Sie diesen Antrag im mittelstän-disch geprägten Baden-Württemberg nicht vorzeigenkönnen. Denn Sie fordern eine Flexibilisierung der Mehr-wegquote; Sie sagen aber nicht, wohin Sie wollen. Sie for-dern, kein Pfand einzuführen; Sie bieten aber keine Alter-native, wie die Mehrwegquote gestützt werden kann. Ichkann mir vorstellen, wie diese Politik bei den vielen mit-telständischen Brauereien und Mineralbrunnen ankommt.Was haben Sie eigentlich bei der ganzen Debatte um dieVerpackungsverordnung gelernt?
Wenn jetzt schon zum zweiten Mal eine Ökobilanz deut-lich macht, dass es ökologisch klar vorteilhafte und öko-logisch klar nachteilige Verpackungen gibt, dann ist diePolitik zum Handeln aufgefordert.Wir haben eine weitere Entwicklung zu berücksichti-gen: das neue „working paper“ der EU-Kommission. Sie
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Marion Caspers-Merk12145
stimmt mit uns darin überein, dass in Europa anspruchs-vollere Verwertungsquoten und darüber hinaus eineMindestmehrwegquote vorgeschrieben werden müssen.Da kann man nun argumentieren: In dem Papier ist ersteinmal von 20 Prozent die Rede; das ist doch sehr we-nig; wir sind bei 70 Prozent. – Man muss aber sagen,dass damit in fünf europäischen Staaten erstmals Mehr-wegsysteme vorgeschrieben würden. Wir sehen doch,dass wir mit unserer Politik, eine anspruchsvolle Ver-packungsverordnung zu machen und den Schutz derMehrwegquoten durchzusetzen, in die richtige Rich-tung gegangen sind. Europa zeichnet unseren Weg nunein Stück weit nach.Ich bin sehr froh, dass die Umweltminister der Ländersich gestern auf eine deutliche Empfehlung geeinigt ha-ben – lediglich ein Bundesland hat nicht zugestimmt –,eine Pfandpflicht für ökologisch nachteilige Verpackun-gen einzuführen und den Grundsatz „Mehrweg ist besserals Einweg“ da, wo wir es nachweisen können, in politi-sches Handeln umzusetzen. Ich glaube, dass damit einmonatelanger Streit richtig beendet wurde.Frau Homburger, eines kann ich nicht begreifen. Wennwir Umweltpolitik nach Ihrem Motto machen würden,was würde das für andere Politikfelder bedeuten? Wenneine Quote nicht erreicht wird, dann ändern wir sie. Über-legen Sie einmal, was das zum Beispiel im Immissions-schutz bedeuten würde! Wenn ein Grenzwert überschrit-ten wird, dann erhöhen wir ihn. Damit verabschiedet sichdie Umweltpolitik völlig. Ich muss sagen, ich war eini-germaßen entsetzt, als ich Ihren Antrag gelesen habe.Denn ich weiß, dass Sie eine solche Umweltpolitik nichtim Ernst fordern können.
Die SPD-Bundestagsfraktion muss nach der Anhörungund der Erklärung der Umweltminister drei Dinge deut-lich herausstellen: Erstens. Wir werden die Verpackungs-verordnung novellieren. Zweitens. Wir werden einePfandpflicht für ökologisch nachteilige Verpackungeneinführen. Drittens. Das Pfand bleibt bestehen.Frau Merkel ist bei der letzten Novelle 1998 bei derPfandpflicht geblieben. Ich bin einmal gespannt, wiesich die Kollegen der Union zu unserem Vorschlag ver-halten werden. Es ist in diesem Zusammenhang interes-sant, dass auch die B-Länder, also auch Bayern und Ba-den-Württemberg, gestern der Pfandpflicht zugestimmthaben. Es wäre aber nicht das erste Mal, dass sich FrauMerkel von einmal gefundenen Instrumenten in der Um-weltpolitik verabschiedet. Deswegen sind wir sehr ge-spannt, wie Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von derCDU/CSU-Bundestagsfraktion, auf diesen Vorschlagreagieren werden.
Für uns gilt es, den Pfad der Zukunftsfähigkeit weiterzu gehen. Ich glaube, dass wir im Bereich der Abfallpoli-tik die Vorstellungen, die der Rat von Sachverständigenfür Umweltfragen geäußert hat, schon ein ganzes Stückumgesetzt haben. Auch bei der Nachhaltigkeit sind wirauf einem guten Weg; ein Kabinettsbeschluss dazu unddas Klimaschutzprogramm liegen bereits vor. Man musszwar zugeben, dass wir noch nicht alles erreicht haben.Aber es gilt auch: Nachhaltigkeit erreichen wir nicht überNacht, sondern Schritt für Schritt durch konsequentesHandeln.Vielen Dank.
Ich erteile nun dem
Kollegen Dr. Klaus Lippold, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
FrauPräsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Wir haben jetzt Halbzeit der rot-grünen Regierung. Dierot-grüne Koalition ist vor zwei Jahren mit der Aussageangetreten:Die ökologische Modernisierung ist die großeChance, um die natürlichen Lebensgrundlagen zuschützen und mehr Arbeit zu schaffen. Die neueBundesregierung wird dafür sorgen, dass unser Landhierbei eine Vorreiterrolle einnimmt.Das war die Ankündigung in der Koalitionsvereinbarung.
Heute können wir festhalten, dass dieses Ziel nicht er-reicht worden ist.
Der Sachverständigenrat bringt ganz deutlich zumAusdruck, dass mit Ihrer Koalition in diesem Bereichhoch gesteckte Erwartungen verbunden waren, die sichschlicht und einfach nicht erfüllt haben. Sie hatten denMund zu voll genommen und haben hinterher nicht sehrviel Konkretes vorgelegt. Zu dem, was Sie konkret vor-gelegt haben, nimmt der Sachverständigenrat deutlichStellung.Ich komme jetzt auf ein Thema zu sprechen, das wir inder letzten Zeit häufiger hier diskutiert haben: die so ge-nannte Ökosteuer.Dies ist meines Erachtens zu Recht ge-schehen, weil die Ökosteuer der falscheste Weg ist, denman gehen kann. Der Sachverständigenrat sagt hierzu – erbestätigt damit unsere Auffassung, dass Sie mit diesem In-strument keine Lenkungswirkung erreichen –:Welche Umweltinanspruchnahme durch das Gesetzin erster Linie vermieden werden soll, geht aus derZielsetzung nicht hervor.Damit wird hier in Abrede gestellt, dass Sie mit diesem In-strument eine Umweltschutzfunktion erreichen können.Es wird auch gesagt, dass es andere Instrumente gibt,die wesentlich besser geeignet wären, dieses Ziel zu er-reichen, als es eine Ökosteuer – zumal diese vermeintli-che Ökosteuer – vermag.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Marion Caspers-Merk12146
Warum verfolgt die Bundesregierung nicht, wie der Sach-verständigenrat sagt, den konsequenten Weg, Zertifikatein die Überlegung mit einzubeziehen und dazu zumindestLösungsansätze zu formulieren? Im Umweltgutachtenheißt es:Das System handelbarer CO2-Lizenzen bzw. ver-gleichbare Lösungen für andere klimarelevante Gasestellt die ökologisch und ökonomisch überlegene Lö-sung dar.Ich sage ganz deutlich: Der Weg ist falsch und das Zielist nicht bekannt. Trotzdem halten Sie stur an Ihrem Vor-haben fest, weil dies ein Kernstück so genannter rot-grü-ner Umweltschutzpolitik sein soll. Dies geschieht zulas-ten der Menschen, die Sie damit abstrafen, ohne dass fürden Umweltschutz etwas erreicht wird. Sie belasten diesozial Schwachen und gefährden Arbeitsplätze. Trotzdemnegieren Sie diese negativen Auswirkungen und sagen:Die Menschen werden das schon irgendwie regeln. Diesesträfliche Arroganz lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
– Herr Müller, bei Ihnen findet doch in letzter Zeit dieUmweltdiskussion kaum statt. Also muss ich schon ein-mal zu Herrn Trittin herüberschauen.Ich komme zum nächsten Punkt, nämlich zur pau-schalen Stromsteuer. Der Sachverständigenrat sagt:Der Wirtschaft und den Haushalten wird mit der pau-schalen Strombesteuerung eine unnötige Zusatzlastauferlegt.Wann äußern sich Wissenschaftler gegenüber einer Bun-desregierung eigentlich so offen und kritisch? – Sehr sel-ten. Wenn sich der Sachverständigenrat gezwungen sieht,mit dieser Bundesregierung so Klartext zu sprechen, dannmüssten Sie doch endlich einmal ins Nachdenken kom-men, von Ihrer ideologischen Verbiesterung abgehen unddie Dinge anders betrachten.
Dies sind schließlich keine Zitate aus einer Pressemittei-lung der CDU/CSU, sondern Zitate aus dem Gutachtendes Sachverständigenrates.Ich komme zu einem Kernpunkt der Ökologie, einemPunkt, den auch Herr Loske verschiedentlich angemahnthat: Naturschutz. Sie haben versprochen, dieses Themamit größter Intensität anzugehen. Aber nach zwei Jahrenrot-grüner Regierung liegt noch immer kein Gesetzent-wurf vor. Es erfolgt eine Ankündigung nach der anderen,aber im Kabinett wird nicht gehandelt. Lassen Sie dochdie Politik der Ankündigungen und tun Sie einmal etwas!Legen Sie eine Novelle zum Bundesnaturschutzgesetz aufden Tisch, damit wir darüber diskutieren und im Natur-schutzbereich etwas verbessern können.
Bislang waren von Ihnen zu verschiedenen Bereichen– ich nenne nur die Biotopnetze – lediglich vollmundigeAnkündigungen zu hören. Geschehen aber ist hier nichts.Nichts als Ankündigungen! Sie lassen in dieser Frage– das wird aus Gesprächen mit den Naturschutzverbändenerkennbar – die Naturschützer im Stich.Ich sage es ganz deutlich: Wir wollen Naturschutz undwir wollen mehr Naturschutz, aber nicht gegen die Land-wirtschaft, wie Sie es tun, sondern mit der Landwirtschaft.An die Spitze stellen wollen wir dabei den Vertragsnatur-schutz.
Da könnten Sie endlich einmal in Bewegung kommen, an-statt in Ihrer verbohrten Situation, in der Sie sich befin-den, zu verbleiben.
Ich komme zu einem weiteren Punkt. Der Sachver-ständigenrat stellt völlig zu Recht fest, dass Deutschlandbeim Klimaschutz im internationalen Vergleich zurück-gefallen ist; wir haben die Vorreiterrolle eingebüßt. Wirhaben in diesem Hause schon mehrfach deutlich gemacht,dass Sie hier nicht innovativ sind. Was Sie tun, ist, dieMaßnahmen, die wir auf den Weg gebracht haben, fortzu-führen.
Sie haben das IMA-Programm verspätet vorgelegt; wirwerden dies hier hoffentlich einmal ausführlich diskutie-ren. Aber auch darin haben Sie lediglich Ziele formuliert;alle Vorstellungen, Vorschriften, Erlasse, Verordnungenund Vereinbarungen sind nur Ziele. Konkretisieren Siedies doch einmal! Sagen Sie, wie Sie diese Ziele umset-zen wollen!Sie haben offensichtlich – das ist neu – die Praxis derSelbstverpflichtungserklärungen mit der Wirtschaftfortgeschrieben. Das ist etwas, was wir schon lange ge-fordert haben. Heute aber werden Selbstverpflichtungennicht mehr festgeschrieben. Es wird vorsichtigerweise nuretwas paraphiert, wie zum Beispiel der Konsensvertragmit der Wirtschaft. Was ist das eigentlich für eine neueForm? Gibt es jetzt noch nicht einmal mehr klare Verein-barungen? Sie paraphieren, weil Sie sich schlussendlichdoch nicht vollends einig sind. Lassen Sie das und legenSie eine wirkliche Selbstverpflichtung vor, damit wir da-rüber sprechen können! Das alles aber tun Sie nicht. Da-mit erfolgt Entscheidendes zu spät.Es gibt eine Reihe anderer Punkte in diesem Bereich,die moniert werden müssen. Wie gehen Sie eigentlich indie internationalen Verhandlungen? Wie gehen Sie in dienächste Klimaschutzkonferenz? Vor einigen Wochen ha-ben Sie, Herr Trittin, mit dem englischen Umweltministereinen wunderschönen Zeitungsartikel zustande gebracht,in dem steht, was man alles machen müsste, was manalles machen sollte. Nur, Sie haben nichts gemacht. Esgibt kein strategisches Papier, kein operatives Programmvon Ihnen, das einmal diskutiert worden wäre. Ganz imGegenteil: Sie stolpern in die Verhandlungen mit denUSA, die klare Vorstellungen haben. Obwohl wir Ihnendas schon zu Kioto ins Stammbuch geschrieben haben,dass wir sofort über eine Strategie nachdenken müssen
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Dr. Klaus W. Lippold
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– damals hat das Frau Merkel noch auf den Weg ge-bracht –, haben Sie das über zweieinhalb Jahre ver-schlampt.
Wenn man mit zuständigen Wissenschaftlern spricht,sagen die: Auf diesem Ohr ist der Minister taub. Was istdenn heute mit Treibhausgasemissionen? Wie soll daskonkret aussehen? Wie sollen die Zertifikate gehandeltwerden? Wie stehen Sie zur Senke? Die Frage ist nicht,worüber Sie noch einmal nachdenken müssten. Nein, inein paar Wochen ist diese Klimakonferenz und von Ihnenliegt nichts vor außer warme Luft. Das können wir Ihnenso nicht durchgehen lassen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich könntejetzt noch auf verschiedenes anderes aufmerksam ma-chen: dass Sie keine ausgewogene Energiekonzeption ha-ben, die langfristig abgestimmt und strategisch auf Um-weltschutz hin orientiert ist – auch das schreibt Ihnen derSachverständigenrat ins Stammbuch –, dass Sie in ver-schiedenen anderen Bereichen, zum Beispiel dem Öko-audit, total versagen.Sie wollen, dass die Wirtschaft mehr in Sachen Öko-audit unternimmt. Seit fünf Jahren wird darüber gespro-chen – noch unter der alten Bundesregierung, die dieswollte –, dass für die Betriebe, die Ökoaudit machen, einAnreiz geschaffen wird. Das haben Sie auf Eis gelegt. Da-von haben Sie sich verabschiedet. Jetzt müssen Sie fest-stellen, dass Ihnen der Sachverständigenrat ins Stamm-buch schreibt: Hier passiert nichts mehr, obwohl sich dieISO 14 000 längst weiterentwickelt. Sie führen „Ökoau-dit“ zwar immer noch im Munde, aber Sie tun nichts, umdas Interesse der kleinen und mittleren Unternehmen da-ran zu wecken und es entsprechend umzusetzen. Ganz imGegenteil!Das sind Schwachpunkte, Herr Trittin. Das sind Kern-punkte, die wir Ihnen so einfach nicht durchgehen lassenkönnen. Es wäre viel besser, Sie hätten eine Vision, Siehätten einen strategischen Ansatz und entwickelten da-raus operativ etwas. Genau das – sagt der Sachverstän-digenrat – ist bei Ihnen nicht der Fall. Wir bedauern das.So kommen wir mit der Umweltpolitik in der Bundesre-publik Deutschland nicht weiter.
Dass die Jugendlichen langsam desinteressiert werden,liegt nicht zuletzt daran, dass Sie eine solche Bilanz vor-legen.Herzlichen Dank.
Jetzt hat der Bundes-minister Jürgen Trittin das Wort.Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit: Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Gelegentlich habe ich mich gefragt,warum die Beifallsfreudigkeit bei der Union so groß ist.Ich habe heute eine Erklärung dafür gefunden. Weil Sieimmer den gleichen Text vortragen, wissen die Kollegenschon genau, wann sie klatschen müssen. Insofern brau-chen sie nicht zuzuhören.
Im Ernst: Ich habe diese Rede von Herrn Lippold indiesem Hause schon mindestens zehn Mal gehört. Sie be-steht im Wesentlichen darin, uns mitzuteilen: HerrLippold ist gegen eine Ökologisierung des Steuersystems.Herr Lippold ist gegen die Kernenergie.
– Entschuldigung! Jetzt habe ich ihn in Verdacht gebracht.Er ist natürlich dafür. Ich bitte um Nachsicht, Herr Kol-lege.Abschließend informiert er uns darüber, dass er vonden strategischen Vorstellungen der Bundesregierungzum Klimaschutz keine Ahnung hat. Sehen Sie, ich bin jafür vieles zuständig, lieber Kollege Lippold. Aber für Ihreeigene Ahnungslosigkeit und die Unfähigkeit oder denUnwillen zu lesen, dafür bin ich nicht verantwortlich.
Wenn Sie sich auf den Sachverständigenrat für Um-weltfragen berufen, rate ich dringend dazu,
das Gutachten einmal in Gänze zu lesen,
einmal zu lesen, was er über die Notwendigkeit des Aus-stiegs aus der Atomenergie schreibt: Die Frage der Endla-gerung von Atommüll ist von denjenigen, die den Einstiegin diese Technologie zu verantworten haben, nie gelöstworden.
Ich rate Ihnen auch dringend, mit Ihren vollmundigenErklärungen zum Naturschutz sehr zurückhaltend zu sein.Zu dem, was die Sachverständigen dort einklagen und vonuns erwarten,
haben wir einen Referentenentwurf vorgelegt. Hingegenwird in allen CDU-Landesverbänden und deren befreun-deten Organisationen massiv gegen eine Verbesserungdes Naturschutzes mobil gemacht.
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Dr. Klaus W. Lippold
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Ich fürchte, Sie werden an dieser Stelle enden wie ananderen: dass Sie hier im Bundestag lautstark etwas for-dern, was Sie zunächst in den Ländern und schließlichgemeinsam bekämpfen. Das ist das umweltpolitische Pro-fil der Union.
– Von wegen „Schmarren!“, Herr Kollege – das soll ja einfreundliches bayerisches Wort sein, habe ich als Fisch-kopf mir sagen lassen –, ich kann es Ihnen durchdeklinie-ren.
Sie haben jahrelang gefordert – auch das steht im Gut-achten des Sachverständigenrates –, wir sollten verhin-dern, dass es Scheinverwertung gibt und dass, wie es bis-her der Fall ist, immer noch mehr als 50 Prozent desAbfalls ohne Vorbehandlung auf einer Deponie landen.Die Bundesregierung hat jetzt einen Verordnungsent-wurf verabschiedet und vorgelegt, der ein Versäumnis vonIhnen beseitigt und ein Verbot der Ablagerung nicht vor-behandelter Abfälle auf Deponien zum Ziel hat. Das ge-schieht nicht in Form einer technischen Anleitung, son-dern in Form einer bußgeldbewehrten Verordnung, aufderen Grundlage jeder Bürger und jeder Anlieger einerDeponie klagen kann. Was höre ich aus dem Lande Ba-den-Württemberg als erstes Echo darauf? – Wir sind dage-gen! Wir sind dagegen, sagen sie, obwohl wir sehr genauwissen, dass unsere Gemeinden unter Scheinverwertungund dem Entzug von Gewerbemüll leiden.Sie selber haben einmal die Durchsetzung der TASied-lungsabfall und damit die Beendigung der Deponierungauf niedrigen Standards zum Jahre 2005 gefordert. In demMoment, da wir das machen, sind Sie aber dagegen undversuchen, dieses im Bundesrat zu blockieren.
Das ist Ihre Logik und entspricht der Art und Weise, wieSie Umweltpolitik machen. Entsprechend verhalten Siesich auch gegenüber den Gemeinden in der Frage von Pla-nungssicherheit und Ökologie beispielsweise im Abfall-sektor.Ich möchte es an dieser Stelle bei diesem Hinweis be-lassen und nur noch eine Anmerkung zum Thema Klima-schutz machen. Sie können uns natürlich vorhalten, wirhätten nur Ziele vorgelegt. Aber anders als Sie haben wirnicht ein Globalziel genannt, sondern erstmalig den pri-vaten Haushalten, dem Verkehr und der Industrie kon-krete Reduktionsziele vorgegeben und außerdem den Un-ternehmen zur Erreichung dieser Reduktionsziele, zumBeispiel bei der Gebäudesanierung oder bei der Verlage-rung von Gütern auf die Bahn, konkret Geld zur Verfü-gung gestellt. Wir haben Instrumente wie zum Beispieldie entfernungsabhängige Autobahngebühr für LKWs be-nannt. Wir haben diese Instrumente auch implementiert,zum Beispiel in Form der Ökosteuer, die einen Anreizzum Energiesparen darstellt. Wenn Sie aber gegen dieseInstrumente sind, dann sagen Sie das und behaupten bittenicht, wir hätten lediglich Ziele vorgelegt. In der Tat ha-ben wir diese Ziele sektoral sehr präzise bestimmt und mitentsprechenden Instrumenten versehen.
Ich bin jetzt sehr gespannt, wie sich die beiden Frak-tionen CDU/CSU und F.D.P. in der aktuellen politischenDebatte etwa zu der Frage verhalten werden, wie wirkünftig damit umgehen, dass ökologisch unverträglichereVerpackungen, zum Beispiel für Getränke, im Vor-marsch sind. Sie müssen es sich einmal klar machen: Indiesem Lande wurden in diesem Jahr 183 Millionen Bier-dosen mehr als im Jahre zuvor verkauft; und das bei sta-gnierendem Bierabsatz. Das hat auch Auswirkungen in-nerhalb der Wirtschaft, zum Beispiel auf das Verhältniszwischen kleinen und großen Brauereien.
Große Brauereien können beides anbieten, kleine Braue-reien müssen sich entscheiden. Kleine Brauereien habensich auf die Verpackungsverordnung des Herrn Töpfer,die Frau Merkel mit der F.D.P. erst 1998 verändert hat,verlassen und haben in Mehrwegsysteme investiert.
Sie erwarten von dieser Bundesregierung, vom Bundestagund vom Bundesrat, dass dieses Vertrauen in die Rechts-ordnung nicht enttäuscht wird.Sie haben gute Gründe dafür, denn auch die zweiteÖkobilanz für Getränkeverpackungen hat zu dem eindeu-tigen Ergebnis geführt, dass Dosen und Einwegglas öko-logisch nachteilig sind. Wir sollten daraus gemeinsam dieKonsequenz ziehen und uns von einer Verordnung vomAnfang der 90er-Jahre, deren Kompromisscharakter un-übersehbar ist und die an einigen Stellen unlogisch ist– wenn sie zum Beispiel jetzt so in Kraft treten würde,würde Pfand auf die Dose Bier erhoben, aber auf die DoseCola nicht –, zugunsten einer einfachen und klaren Rege-lung verabschieden. Egal, wie man zur Frage „Dose oderEinwegglas“ steht, Tatsache ist: Ökologisch auch nur indie Nähe des Vertretbaren kommen diese Verpackungennur dann, wenn sie tatsächlich verwertet werden. Damitsie verwertet werden, ist das Pfand unzweifelhaft ein ver-nünftiges Instrument.Ich bin völlig gegen dieses Gerede vom „Zwangs-pfand“, das man von Herrn Henkel und anderen hört. Istdenn jemand gezwungen, seine Dose in die Landschaftoder auf die Straße zu werfen? Niemand zwingt ihn dazu!Jeder kann seine Dose zurückbringen und bekommt seinPfandgeld.
Ich freue mich, dass die Umweltminister aller Länderunabhängig von der Parteizugehörigkeit – bei der TASiedlungsabfall haben wir andere Erfahrungen gemacht;ich habe das zu Beginn meiner Rede beschrieben – zu dervon mir vorgeschlagenen einfachen Regelung – weg von
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dem ganzen Quotengerede hin zu einer künftigen Unter-werfung aller ökologisch nachteiligen Verpackungen un-ter eine Pfandpflicht, um ihre Verwertung sicherzustel-len – Ja gesagt haben. Dies wird für die Getränkewirt-schaft in diesem Lande Folgen haben.Dieser Vorschlag wird vom Städte- und Gemeinde-bund, vom Deutschen Landkreistag, vom Städtetag, vonden mittelständischen Brauereien in diesem Lande undvom Getränkefachhandel unterstützt. Wir haben es miteiner sehr breiten Koalition, gerade was die Wirtschaft an-geht, zu tun – sofern man die Aussagen der Wirtschaftnicht mit dem ideologischen Gerede des BDI-Präsidentenverwechselt.An dieser Stelle muss ich Ihnen auch im Hinblick aufden Antrag der F.D.P. eines sagen: Wettbewerb und Öko-logie stellen uns die klare Aufgabe, dass wir aus ökologi-schen und ökonomischen Gründen nicht zulassen dürfen,dass mithilfe von Einweg kleine ortsnahe Unternehmenmit ihren ökologisch vorteilhaften Verpackungen vongroßen Brauereien und Brunnen vom Markt gefegt wer-den. Wer dabei tatenlos zuschaut, der kann für sich nichtin Anspruch nehmen, für den Mittelstand in diesem Landezu sprechen.
Ich füge eines hinzu: Von der CDU ist der unselige Be-griff der „deutschen Leitkultur“ in den Raum gestellt wor-den.
– Das sage ich Ihnen gleich. – Wenn sich dieser Trend hinzu immer mehr großen Brauereien und zur Verdrängungvon kleinen Brauereien fortsetzt, dann würde das in derTat einen Teil unserer Kultur – in Deutschland gibt es einevielfältige Bierkultur: von Weizen bis Pils, von Kölsch bisAlt – zerstören. Deswegen freue ich mich, dass Schwarze,Rote und Grüne anders als die Blau-Gelben dafür sind,dass wir diesen Teil unserer vielfältigen Kultur gemein-sam erhalten.
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich dem Kollegen Lippold das Wort.
Frau
Präsidentin! Herr Minister, ich möchte einige wenige An-
merkungen machen. Der vermeintliche Vorwurf, hier
werde immer wieder das Gleiche erzählt, trifft uns nicht.
Solange Sie mit Ihren Defiziten nicht aufräumen, werden
wir den Finger immer wieder in die Wunde legen und sa-
gen, was Sie nicht tun. Sie haben sich gerade wieder zu
den wesentlichen Punkten, die wir vorher angesprochen
haben – strategisches internationales Vorgehen beim Kli-
maschutz –, völlig ausgeschwiegen.
Es muss angesprochen werden, dass Sie auf diesem Ge-
biet ein absoluter Versager sind.
Bei Ihnen langt es gerade dazu, einen Artikel zusammen
mit einem Umweltminister einer anderen Nation zu
schreiben. Sie sind aber nicht in der Lage, strategisch und
operativ zu arbeiten, wie es zum Beispiel die USA tun.
Herr Trittin, ich komme zur Kernkraft. Dass sich die-
jenigen, die Endlagerprojekte verhindern, hier hinstellen
und sagen: „Da passiert nichts“, ist – das sage ich so deut-
lich – wirklich eine große Unverschämtheit. Sie tun alles,
damit eine geordnete Endlagerung nicht möglich ist, und
dann berufen Sie sich darauf, dass es in Deutschland zur-
zeit keine gesicherte Endlagerung gebe. Setzen Sie doch
einmal den Weg fort, den Sie mittlerweile koalitionär ver-
einbart haben! Denken Sie auch daran, dass Sie noch
einen Konsensvertrag zu erfüllen haben!
Herr Trittin, bei bestimmten Dingen wird immer wie-
der deutlich, dass Sie in der langen Kette der Umweltmi-
nister derjenige sind, der am wenigsten Detailkenntnisse
besitzt. Sie haben gerade zu Baden-Württemberg gesagt,
das Land akzeptiere keine Vorbehandlungen. Das ist völ-
lig falsch. Wir haben erst gestern Gespräche mit Vertre-
tern dieses Landes geführt. Dabei ist sehr deutlich gewor-
den, dass man von der Grenzlinie 2005 nicht abweichen
will. Sie sollten sich besser informieren. Sie sollten nicht
bei Ihren Kernthemen – sie sind falsch, siehe Ökosteuer –
bleiben und Sie sollten nicht so dummes Zeug reden, wie
Sie es gerade gemacht haben. Das können wir Ihnen nicht
durchgehen lassen.
Herr Trittin, zur Gebäudesanierung. Das, was an Ih-
rer Politik gut ist, kommt von uns. Die KfW-Programme
zur Gebäudesanierung haben die unionsgeführten Par-
teien gemeinschaftlich mit der F.D.P. auf den Weg ge-
bracht. Sie führen das fort. Wir haben Ihr Vorhaben übri-
gens nicht kritisiert, weil wir im Gegensatz zu Ihnen das,
was vernünftig ist, akzeptieren und nicht aus ideologi-
scher Verbohrtheit sagen: Weil es von Trittin kommt, ist
es schlecht.
Das haben wir nicht nötig. Wo Sie ausnahmsweise einmal
sachlich gut sind, akzeptieren wir das. Nur, bedauer-
licherweise ist das der Ausnahmefall.
In diesem Bereich sind Sie nicht kreativ. Wir wollen
weitergehen, Herr Trittin: Wir wollen neben der Zinsbe-
zuschussung auch noch eine steuerliche Förderung. Ich
hoffe, dass Sie diesen Weg mitgehen, damit wir wesent-
lich mehr Erfolg haben als in der Vergangenheit. Hier gibt
es weite Bereiche, die noch angegangen und aufgearbei-
tet werden müssen.
Herr Kollege, kom-
men Sie bitte zum Schluss.
Einletzter Punkt. Wenn Ihnen die Verlagerung des Verkehrs
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von der Straße auf die Schiene so wichtig ist, was sagenSie dann zu Herrn Mehdorn, der jetzt permanent Vorstel-lungen in den Raum stellt, wie das Schienennetz ausge-dünnt und zusammengestrichen werden soll, und der dieInitiative, das Netz und den Betrieb zu trennen, was er-möglichen würde, mehr Verkehr auf die Schiene zu brin-gen, ablehnt, sodass die alte Blockadepolitik bestehenbleibt? Herr Trittin, darauf müssen Sie Antworten finden.Es wäre gut, Sie täten es.
Meine Damen und
Herren, dies war ein typischer Fall einer Nichtinterven-
tion. Der Kollege Lippold ist zwar angegriffen worden, er
hat aber im Grunde nicht auf das repliziert, was der
Bundesminister gesagt hat. Ich sage das allen, um daran
zu erinnern, dass wir uns an die Spielregeln halten sollten.
Ich finde, der Begriff „Quatsch“ ist nicht parlamenta-
risch. „Schmarren“ ist die freundliche Umschreibung des-
sen. „Dummes Zeug“ zu sagen ist auch nicht gerade eine
elegante Art. Die Bayern finden zwar den Begriff
„Schmarren“ gut; aber wir sollten schon ein bisschen auf-
passen, dass wir einigermaßen parlamentarisch miteinan-
der umgehen.
Jetzt kann der Herr Bundesminister erwidern. – Bitte
sehr.
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit: Frau Präsidentin! Lieber
Herr Lippold, eigentlich verbäte es sich angesichts der
Tonalität, die Sie angeschlagen haben, Ihnen zu antwor-
ten. Ich will deswegen nur auf zwei Punkte hinweisen:
Erstens. Das Land Baden-Württemberg hat heute
Morgen durch seinen verantwortlichen Umweltminister
auf der Umweltministerkonferenz angekündigt – das hat
er auch gestern getan –, dem Entwurf der Ablagerungs-
verordnung zu widersprechen, ihm also nicht zuzustim-
men. Mehr habe ich hier nicht benannt.
Ich habe darauf verwiesen, dass es eine Doppelzüngig-
keit ist, auf der einen Seite im Zuge des Landtagswahl-
kampfes zu beklagen, dass aufgrund der Dumpingpreise
auf zugelassenen Deponien in anderen Bundesländern,
also solchen außerhalb Baden-Württembergs, anspruchs-
volle Entsorgungseinrichtungen nicht ausgelastet sind,
und sich gleichzeitig dem Instrument, das 80 Prozent die-
ser Scheinverwertung unterbinden würde, zu verweigern.
Aus dieser Klemme kommen Sie auch nicht mit dem
Gerede über Verbesserungen und Ähnliches heraus. Ich
hoffe nicht, dass die B-Länder insgesamt diese Haltung
einnehmen. Ich bin relativ zuversichtlich, dass wir diesen
wahlkampfbedingten Ausreißer in Baden-Württemberg
angesichts des bestehenden großen Konsenses in den
Griff bekommen. Nur, Sie sollten sich schon gefallen las-
sen, dass Sie am tatsächlichen Verhalten Ihrer Partei-
freunde dort, wo sie Verantwortung tragen, gemessen
werden.
Zweitens. Ich freue mich, dass Sie meinen zusammen
mit Michael Meacher verfassten Artikel gelesen haben.
Ich bin gerne bereit, Ihnen die hinter diesem Artikel ste-
henden umfangreichen Strategiepapiere zur Verfügung zu
stellen, auch wenn ich gelegentlich der Auffassung bin,
dies könnte bedeuten, Perlen vor die Säue zu werfen.
– Frau Präsidentin, entschuldigen Sie, ich meinte das im
übertragenen Sinne.
Das hoffe ich.
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit: Ich will noch auf eines hin-
weisen: Dass Sie uns nun die Klimaschutzpolitik der USA
zum Vorbild machen wollen, verwundert mich sehr. Bis-
her habe ich mich in dieser Hinsicht eher als derjenige ge-
sehen, der in der Tradition zum Beispiel von Klaus Töpfer
dafür Sorge zu tragen hat, dass die Industrieländer ihrer
Verantwortung, die CO2-Emissionen auch tatsächlich sel-ber zu reduzieren und keine neuen Schlupflöcher zu
schaffen, gerecht werden. Das ist die Linie, auf der wir in
Den Haag verhandeln.
Nun hat die Kollegin
Birgit Homburger, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Wir haben heute drei wissenschaftli-che Gutachten und vier Anträge vorliegen, die wir beratensollen. Das bietet den Anlass für eine Bilanz der Umwelt-politik innerhalb von 90 Minuten. Man könnte sich fra-gen: Geht das überhaupt? Selbstverständlich geht das. Wirkönnen uns kurz fassen, weil der Blick, Herr Minister, indie umweltpolitische Landschaft der 14. Legislaturperi-ode ins Leere geht.
Oder um den Sachverständigenrat zu zitieren:Die Erwartungen an die Umweltpolitik sind nachdem Regierungswechsel im Jahre 1998 und derÜbernahme des Umweltministeriums durch Bünd-nis 90/Die Grünen besonders hoch. Die Vorstellung,dass damit die Umweltpolitik wieder eine Aufwer-tung erfahren würde, war sicherlich von vornhereinüberzogen.Wir stehen zwei Jahre, nachdem die rot-grüne Regie-rung angetreten ist, auf dem Stand von vor zweieinhalbJahren plus der so genannten Ökosteuer und dem, was Sie
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Dr. Klaus W. Lippold
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einen Atomausstieg nennen. Es bleibt nur noch zu erwäh-nen, was Bundesverkehrsminister Klimmt – im Übrigenohne Widerspruch von Bundeskanzler Schröder – in Vor-bereitung der nächsten Bundestagswahl zum Thema Öko-steuer erklärt hat: 2003 muss damit Schluss sein. Es bleibtwirklich nichts mehr übrig, worüber man reden könnte.Deshalb will ich mich auf das konzentrieren, was der-zeit aktuell ist: Klimaschutz und Zwangspfand. Sie habenes angesprochen. Es hat nicht viel gefehlt und Sie wärenbeim Klimaschutz mit völlig leeren Händen dagestan-den. Nun haben Sie uns noch schnell ein Klimaschutzpa-ket präsentiert. Aber welches ist das zentrale Element?Das staunende Publikum stellt fest: eine Selbstverpflich-tung.
Die Industrie verpflichtet sich, ihre CO2-Emissionenbis 2005 gegenüber 1990 um 28 Prozent statt, wie bisherzugesagt, um 20 Prozent und bis 2012 gegenüber 1990 um35 Prozent zu senken. Wir haben gar nichts dagegen. Aberich kann über die wundersame Wandlung des grünen Um-weltministers zum Freund der Selbstverpflichtung nurstaunen.
Die F.D.P. setzt in der Umweltpolitik seit jeher aufSelbstverpflichtungen und freiwillige Vereinbarungen.Beifall haben wir dazu von der grünen Seite im Übrigenüberhaupt noch nicht gehört.
Stattdessen wurden Skepsis geäußert und der mahnendeZeigefinger erhoben. Es hat immer geheißen, Selbstver-pflichtung ohne den Knüppel des Ordnungsrechts sei Teu-felszeug.Nun, Herr Trittin, wurden Sie im Kanzleramt offen-sichtlich wieder einmal eines Besseren belehrt. Ausge-rechnet die Selbstverpflichtung ist das zentrale Elementim Klimaschutzpaket der Bundesregierung: kein binden-der Vertrag, kein Ordnungsrecht, keine verpflichtendenZielvorgaben für einzelne Branchen oder Unternehmenund keine Sanktionen. Alles das, was die Grünen in denletzten zehn Jahren verteufelt haben, wird jetzt von einemgrünen Minister gemacht. Das zeigt: keine Linie, keinRückgrat, keine Durchsetzungsfähigkeit, Herr Trittin.
Im Verkehrsbereich gilt das „Prinzip Hoffnung“. DieseBezeichnung stammt nicht von mir, sondern vom Bundfür Umwelt und Naturschutz Deutschland. Im Gebäu-debereich gibt es nur altbackene Subventionsprogramme.In der Summe ist es eine Fragmentensammlung, einStückwerk, eine Klimapolitik ohne Vision und ohne ganz-heitliches Konzept.Schauen wir uns einmal an, was Sie vor zweieinhalbbzw. zwei Jahren im Wahlkampf und zu Beginn der Le-gislaturperiode gesagt haben. Wenn ich das mit dem ver-gleiche, wie Sie sich jetzt benehmen, dann kann ich nursagen: Sie laufen wie ein stolzer Hahn herum
– Gockel ist der baden-württembergische Ausdruck,danke, Herr Repnik –, gehen als solcher ins Bundeskanz-leramt hinein und kommen jedes Mal als gerupftes Fe-dervieh wieder heraus.
Wenn man mit all den Federn, die Sie in den letzten zweiJahren lassen mussten, Betten füllen wollte, könnte manganze Legionen versorgen.
An dieser Selbstverpflichtung ist noch etwas bemer-kenswert; nämlich die Gegenleistungen, die die Bundes-regierung der Industrie zugesichert hat: Die Bundesregie-rung verzichtet auf ordnungsrechtliche Vorgaben zurDurchführung der Klimaziele. Sie verzichtet auf die Ein-führung eines verbindlichen Energie-Audits. Eine zwin-gende Implementierung der Kioto-Mechanismen wird esin Deutschland nicht geben. Das ist ein hoher Preis, HerrMinister Trittin, um klimapolitisch nicht mit leeren Hän-den dazustehen.
Wäre eine solche Vereinbarung unter Beteiligung derF.D.P. zustande gekommen, hätte es einen grünen Auf-schrei und einen öffentlichen Aufstand gegeben. Die Li-beralen haben trotzdem immer zu ihrer Linie gestanden.Wir haben uns seit Jahren konsequent für Zertifikate undeinen möglichst effizienten Klimaschutz eingesetzt.Dafür sind wir von Ihnen massiv diffamiert worden. An-gesichts dessen, was Sie vorweisen können, wäre ich anIhrer Stelle zukünftig leiser. Sie werfen alle grünenGrundsätze Stück für Stück über Bord. Das ist eine Poli-tik der Beliebigkeit und es geht um reinen Machterhalt.
Das, was Sie betreiben, war im Übrigen der endgültigegrußlose Abschied von der internationalen Klimapolitikund von einer aktiv gestaltenden Teilnahme. Dies ist einungutes Vorzeichen für die Klimakonferenz in Den Haag.Die frühere Regierung hat am Erfolg von Kioto einenmaßgeblichen Anteil gehabt. Jetzt finden wir internationalnicht mehr statt; das wundert mich auch überhaupt nicht.Sie werden nämlich international schlichtweg nicht ernstgenommen.
Das zeigt die Debatte der letzten Woche über die Rück-führung des Atommülls aus La Hague nach Deutschland.In Frankreich werden Sie als Gesprächspartner nicht mehrakzeptiert. Das, was zwischen Unternehmen vertraglich– abgesichert durch einen Notenwechsel von Staaten –festgelegt ist, wird zur Chefsache erklärt, die der Bundes-kanzler verhandeln muss, weil man mit Ihnen nicht mehrreden will.
Frau Kollegin, gestat-ten Sie eine kleine Unterbrechung? – Leider ist die An-
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zeige für die Redezeit kaputt. Ich möchte Sie nicht unterDruck setzen, aber jetzt ist ungefähr die Hälfte Ihrer Re-dezeit um.
Vielen Dank. – Das alleszeigt symptomatisch, wo wir international stehen, und esist für die demnächst in Den Haag stattfindende interna-tionale Klimakonferenz ein schlechtes Zeichen.Die Herausforderung besteht darin, konzeptionelle Im-pulse für eine wirksame Klimapolitik auf nationaler undinternationaler Ebene zu geben. Dass Sie jetzt schriftlichdokumentiert haben, dass Sie die Kioto-Mechanismennicht umsetzen und weiter untätig sein wollen, wird fataleKonsequenzen haben: Statt in Deutschland werden dieStandorte für Klimabörsen im Ausland eingerichtet;Spielregeln für internationale Klimatransaktionen werdenohne Einflussnahme Deutschlands ausgehandelt.Andere Länder in der Europäische Union haben denBörsenhandel mit Emissionsrechten längst vorbereitet.Diese Woche Dienstag hat der britische PremierministerBlair in einer Grundsatzrede erklärt, dass Großbritanniennächstes Frühjahr in den Zertifikathandel einsteigen wird.Das ist Fakt. Bei uns: Fehlanzeige auf der ganzen Linie.Die Industrie wird keine Schwierigkeiten haben. Sie weißim Zweifel auch ausländische Klimabörsen zu nutzen. Al-lein gelassen darf sich wieder einmal der Mittelstandfühlen. Kleine und mittlere Unternehmen werden um dieChance gebracht, den modernen Klimaschutz beizeitenwirtschaftlich zu nutzen.
Es bleibt festzustellen: Rot-Grün reicht der klimapoli-tische „big deal“ mit der Großindustrie. Das ist alles an-dere als verantwortliche und vorausschauende Klimapoli-tik für die Bundesrepublik Deutschland.
Deswegen fordern wir Sie in dem Antrag, den wir ein-gereicht haben und der heute zur Debatte steht, auf, sichfür die Einführung eines Börsenhandels mit Emissions-zertifikaten in Deutschland einzusetzen. Auch der deut-sche Mittelstand muss rechtzeitig die Gelegenheit zurTeilnahme am internationalen Handel mit Klimazertifika-ten haben, sodass er die damit verbundenen Wettbe-werbsvorteile nutzen kann.Im Übrigen hat auch der Sachverständigenrat die Be-deutung von Zertifikaten betont. Der Sachverständigenratsoll laut Erlass über seine Einrichtung mit seinen Gutach-ten die umweltpolitische Willensbildung des Parlamentserleichtern und den Diskurs über die Umweltpolitik wis-senschaftlich fundieren. Ich zitiere aus dem Gutachten:Der Umweltrat ist der Ansicht, dass das Instrumentder handelbaren Emissionsrechte aufgrund seinerÜberlegenheit, insbesondere bezüglich der ökologi-schen Treffsicherheit, der ökonomischen Effizienzund der globalen Einsatzfähigkeit, nicht leicht sub-stituiert werden kann.Aber auch solcher wissenschaftlicher Rat schert Sie of-fensichtlich wenig. Sie haben ja schon reagiert und denSachverständigenrat nahezu komplett abgelöst.Nun zur Verpackungsverordnung und zum Thema„Zwangspfand“: Frau Kollegin Caspers-Merk, Ihr Vor-wurf läuft ins Leere. Auch das, was der Minister gesagthat, ist eine Unverschämtheit. Was er den Baden-Würt-tembergern unterstellt, stimmt nicht. Sie haben im Zu-sammenhang mit der TASi gesagt, den Gemeinden würdeder Gewerbemüll entzogen und einer Scheinverwertungzugeführt. Sie haben das lapidar in einem Nebensatz da-hingesagt. Das ist eine unglaubliche Beschuldigung desHandwerks und entbehrt jeglicher Grundlage.
Die Prognos AG hat zu Beginn der Woche in einer An-hörung Ihrer Fraktion, Frau Kollegin Caspers-Merk, be-stätigt:Der Marktanteil von ökologisch vorteilhaftenVerpackungen ist seit 1991 per saldo gestiegen, nichthingegen gesunken. Die Inkraftsetzung einer Sank-tion ist vor diesem Hintergrund problematisch.
Sie scheinen bei der Veranstaltung Ihrer Fraktion nicht da-bei gewesen zu sein.
– Wenn Sie sie sogar geleitet haben, ist es umso schlim-mer, wenn Sie nicht mehr wissen, was dort gesprochenwurde.Ich will ganz klar sagen: Wenn Sie uns vorwerfen, dieQuote sei nicht erreichbar und deswegen wollten wir dieQuote beseitigen, ist das falsch. Es ist vielmehr so, dassuns die UBA-II-Studie deutlich gezeigt hat, dass nicht al-lein Mehrweg ökologisch vorteilhaft ist, sondern dass esvielmehr inzwischen Einwegverpackungen gibt, die ausökologischer Sicht den Mehrwegverpackungen gleich-zusetzen sind.
Wenn das so ist, ist die Quote in ihrer bisherigen Ausprä-gung schlichtweg überholt. Wir müssen das zur Kenntnisnehmen und reagieren. Wir müssen dabei bereit sein, eineDiskussion zu führen und den Menschen zu sagen, eshabe sich im Verpackungsbereich aufgrund der Politik deralten Bundesregierung Gott sei Dank einiges getan. Wirmüssen neue Wege gehen. Insofern ist der Antrag derF.D.P. nicht nur vertretbar, sondern das Gebot der Stunde.
Ich kann nur sagen: Entwickeln Sie endlich ein klares,verlässliches und umfassendes Handlungsprofil für die
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Vizepräsidentin Anke Fuchs12153
deutsche Umweltpolitik, Herr Minister Trittin, sonst wirdes in zwei Jahren heißen: außer Spesen nichts gewesen.
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich der Kollegin Caspers-Merk das Wort.
– Ja, darauf kann sie dann antworten. – Frau Kollegin,
bitte sehr.
Frau Kollegin
Homburger, Sie haben mich direkt auf die von uns durch-
geführte Anhörung zum Thema Verpackungsverordnung
angesprochen. Ich habe diese Anhörung gemeinsam mit
der Kollegin Mehl durchgeführt, weil wir alle Marktbe-
teiligten hören wollten. Meiner Zusammenfassung ist von
keiner Seite widersprochen worden. Wir konnten gemein-
sam feststellen:
Erstens. Die Zeit zum Handeln ist reif, weil der Anteil
der Mehrwegverpackungen noch nie so dramatisch abge-
stürzt ist wie in den ersten Monaten dieses Jahres.
Zweitens. Alle Anwesenden waren sich darin einig,
dass der Verzicht auf eine Sanktion die Mehrwegsysteme
ökonomisch an die Wand fahren lässt.
Drittens. Alle Beteiligten waren sich auch darin einig,
dass eine Pfandregelung, mit der ein umweltbewusstes
Verhalten der Bürger belohnt wird, da bei einer Rückgabe
der Verpackung das Pfand vollständig zurückgegeben
wird, das Instrument mit der höchsten Akzeptanz ist und
gleichzeitig die angestrebten Ziele am besten erreicht.
Sie haben aus der Stellungnahme der Prognos AG aus
dem Zusammenhang gerissen zitiert. Auf Nachfrage hat
der Gutachter bestätigt, dass man die Pfandregelung ent-
sprechend umsetzen kann und er hat auch deutlich ge-
macht, dass Interpretationen, wie sie beispielsweise der
BDI hinterher in die Welt gesetzt hat – er hat gesagt, man
könne in der Ökobilanz nicht erkennen, was vorteilhaft
und was nicht vorteilhaft sei –, nicht zutreffen.
Nehmen Sie auch das bitte zur Kenntnis. Es ist immer
schlecht, wenn man sich auf Dinge vom Hörensagen ver-
lässt, ohne selbst dabei gewesen zu sein.
Nun möchte die Kol-
legin Homburger antworten. Bitte sehr.
Frau Kollegin Caspers-
Merk, ich habe es nicht nötig, mich auf das Hörensagen
zu verlassen. Mir liegt die Stellungnahme der Prognos
AG, die sie bei Ihnen schriftlich abgeliefert hat, vor. Ich
kann Ihnen nur sagen: Ich verlasse mich lieber auf das,
was in der schriftlichen Stellungnahme steht, als auf Ihre
Interpretation, die einfach nur dem angepasst wird, was
Sie gerade brauchen.
Ich möchte zwei Punkte aufgreifen, die so, wie Sie sie
dargestellt haben, nicht stimmen. Sie sagen: Die Zeit zum
Handeln ist reif. Genau dasselbe sage ich auch, und zwar
seit einer ganzen Weile. Aber es blieb bisher ungehört. Sie
sagen, der Anteil der Mehrwegverpackungen sei regel-
recht abgestürzt. Sie sollten jetzt endlich einmal redlich
sein und nicht für eine solche Begriffsverwirrung sorgen,
wie Sie es im Augenblick tun. Sie reden auf der einen
Seite immer von Mehrwegverpackungen und neuerdings
auf der anderen Seite – weil auch Sie akzeptieren müssen,
dass sich da etwas verändert hat – von ökologisch vorteil-
haften Verpackungen. Wenn Sie von ökologisch vorteil-
haften Verpackungen reden, dann müssen Sie klar sagen,
dass auch bestimmte Einwegverpackungen ökologisch
sinnvoll sein können. Das wird in der Studie eindeutig
festgestellt. Wenn Sie sagen, der Anteil der Mehrwegver-
packungen sei abgestürzt, dann müssen Sie auch akzep-
tieren, dass Einwegverpackungen unter Umständen öko-
logisch sinnvoll sein können, und dann müssen Sie auch
zur Kenntnis nehmen, dass die Gesamtquote des ökolo-
gisch Sinnvollen seit 1991 nicht gesunken ist, sondern
dass sie sich erhöht hat.
Ein letzter Punkt: Sie haben behauptet, das Zwangs-
pfand stoße auf größte Akzeptanz. Ich finde es ungeheu-
erlich, dass Sie immer wieder auf die Pfandpflicht zurück-
kommen und nicht akzeptieren, dass auch darüber längst
entsprechende Erkenntnisse vorliegen. Sie nehmen mit
der Einführung des Zwangspfandes in Kauf, dass der
Handel reagieren muss, das heißt, dass er mit einem
Zwangspfand belegte Einwegverpackungen zurückneh-
men muss. Um das bewerkstelligen zu können, muss der
Handel – das ist schon angekündigt worden – vermutlich
Rieseninvestitionen in Höhe von 3,5 bis 5 Milliarden DM
für Rücknahmeautomaten tätigen. Wenn der Handel erst
einmal solche Investitionen getätigt hat, dann wird er auf
die Abschaffung der Mehrwegverpackungen drängen.
Wenn Sie diesem Drängen nachgeben würden, würden
Sie das Mehrwegsystem auch dort kaputtmachen, wo es
ökologisch sinnvoll ist. Deswegen ist das, was wir for-
dern, ökologisch sinnvoll und nicht das, was Sie im Mo-
ment unter ideologischen Gesichtspunkten machen.
Jetzt hat das Wort die
Kollegin Eva Bulling-Schröter, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Trittin, der Aus-druck „Schmackes“ ist eindeutig kein bayerisches Wort,nur zu Ihrer Information.
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Birgit Homburger12154
– „Schmarren“ ja!
Wir reden heute über mehrere Anträge und eine ganzeReihe von Umweltgutachten. Schade, dass wir über siealle gemeinsam diskutieren müssen, aber es ist offen-sichtlich nicht anders machbar. Auch ich muss mich aufein paar Schwerpunkte der Umweltpolitik beschränken,die aus der Sicht der PDS-Fraktion sehr wichtig sind, un-ter anderem deshalb, weil sich ein Bericht mit den globa-len Umweltrisiken und ein Gutachten mit den Schrittenins nächste Jahrtausend beschäftigt. Zudem steht die Kli-makonferenz in Den Haag vor der Tür. Damit möchte ichauch beginnen.Für den Klimaschutz sind Energie- und Verkehrspo-litik die zentralen Regler, mit denen die Senkung desCO2-Ausstoßes angeregt werden kann. Sicherlich hat dieBundesregierung mit ihrem Erneuerbare-Energien-Ge-setz Impulse für die Entwicklung und den Ausbau rege-nerativer Energien gesetzt. Das ist eine schlüssige Fort-entwicklung des Stromeinspeisungsgesetzes, allerdingsunter ansonsten beklagenswerten energiepolitischen Rah-menbedingungen.Die überstürzte und kopflose Liberalisierung der Ener-giemärkte und der verhinderte Atomausstieg – ich betone:der verhinderte; wenn man vom Atomausstieg spricht,darf man nicht vergessen, dass man über sehr lange Zeit-räume redet; daran gibt es nichts zu deuteln, selbst wennSie das kritisieren; aber Sie sind sowieso gegen den Atom-ausstieg; wieso Sie ihn überhaupt kritisieren, wenn erdoch nicht stattfindet, verstehe ich auch nicht –
haben einen Aufschwung des fossil-atomaren Billig-stroms zur Folge. Dies wiederum kann – vom unverant-wortlichen atomaren Risiko und von der ungelösten End-lagerfrage einmal ganz abgesehen – den Übergang zueiner solaren Energiewirtschaft nur behindern. Tatsäch-lich wurden schon etliche Forschungsvorhaben auf demGebiet der Energieeinsparung eingestellt, weil sie sich un-ter den Bedingungen sinkender Strompreise nicht mehrrechneten.In dieser Situation wurde Rot-Grün umweltpolitischvon den Erdöl exportierenden Staaten und Erdölkonzer-nen beschenkt: Die Ölpreise wurden drastisch erhöht. EinGeschenk ist das deshalb, weil die Bundesregierung densinkenden Kraftstoffverbrauch in diesem Jahr als um-weltpolitischen Erfolg ihrer so genannten Ökosteuer ver-kauft. Sie will damit verschleiern, dass die Konstruktiondieser Steuer und die Verwendung des Aufkommens öko-logisch weitgehend wirkungslos und zudem sozial zu-tiefst ungerecht sind.
Überdeutlich wurde bei der Debatte über die Ökosteuerauch, dass die Bundesregierung im Bereich der Mobilitätnichts, aber auch gar nichts an umweltfreundlichen Al-ternativen zu bieten hat. Womit soll der Pendler oder diePendlerin zur Arbeit fahren, wie sollen sich Menschen inder Freizeit ökologisch bewegen, wenn Buslinien immerweiter ausgedünnt werden, die Interregios zur Dispositionstehen und die Fahrpreise immer weiter steigen? Ich rateIhnen, weiter mit dem Zug zu fahren; dann werden Siemerken, es wird immer mehr ausgedünnt, Nachtzüge wer-den gestrichen. So kann es nicht sein.Ich halte das für verhängnisvoll; denn nach der Ener-gieerzeugung und -umwandlung ist der Verkehr Haupt-emittent von Klimagasen. Laut einer Studie des Wupper-tal-Instituts wird ohne Gegenmaßnahmen das Wachstumdes Verkehrs bis zum Jahre 2020 sämtliche Einsparun-gen von Klimagasen in den anderen Bereichen zunichtemachen. Allein die LKW-Emissionen werden drastischum 38 Prozent wachsen, und mit einem Anstieg von120 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent wird der Flugver-kehr im Jahre 2020 das Klima genauso stark belasten wieder PKW-Verkehr. Schon jetzt betragen die CO2-äquiva-lenten Belastungen aus dem deutschen Flugverkehr jähr-lich 37,6 Millionen Tonnen. Das sind rund 25 Prozent derGesamtbelastungen aus dem Verkehrssektor.Ihnen von der rechten Opposition kann ich nur sagen:Ich verstehe Ihre Kritik an der Umweltpolitik nicht. Siehaben diese Verkehrspolitik begonnen, und wenn wir jetztnicht aufpassen, führt die neue Regierung sie einfach sofort.
Sie haben also überhaupt keinen Grund, sich dauernd auf-zuregen.Es kommt weder ein Ja zu Tempo 130 auf den Auto-bahnen noch kommen Impulse zur Reduzierung derFrachtfliegerei. Es sollen auch noch Flughäfen ausgebautwerden, siehe den Flughafen in Frankfurt. Ob die Schwer-lastabgabe greifen wird, bleibt fraglich.Wenn wir den Gehalt der Aussagen zum Verkehr im ge-rade verabschiedeten Klimaschutzprogramm der Bundes-regierung prüfen, finden wir da zwar einige zu unterstüt-zende Maßnahmen; allerdings sind sie nichts weiter alsAbsichtserklärungen ohne konkrete Termine und ohneKennziffern, sie sind Prosa.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe es schonangedeutet: Wir haben es in Deutschland mit einem ge-spaltenen Energiemarkt zu tun – einerseits erhöhtePreise für Mineralöl und Erdgas, andererseits stark ge-sunkene Preise für Strom, insbesondere für Industriekun-den, infolge der Strommarktliberalisierung. Damit sinddie ökonomischen Rahmenbedingungen auch für die öko-logisch sehr sinnvolle Kraft-Wärme-Kopplung schlech-ter, als sie sein könnten. Durch die hohen Öl- und Gas-preise bei gleichzeitigem Strompreisverfall geraten siefinanziell weiter unter Druck. Hier muss eine Quotenre-gelung, wie sie die PDS schon lange vorgeschlagen hat,die gegenwärtige Bonusregelung schnellstens ersetzen.Das erwarten wir.Die hohen Öl- und Gaspreise haben auch etwas Gutes:Sie machen die Nutzung der Solarthermie, also der Solar-wärmenutzung, schlagartig wirtschaftlich. Auch Wind-energie und andere Formen alternativer Energien profi-tieren in dieser Richtung, wenn auch nur eingeschränkt,denn der gefährliche Atomstrom bleibt uns ja dank Rot-Grün noch lange erhalten.
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Eva Bulling-Schröter12155
Die PDS fordert von der Bundesregierung eine umfas-sende öffentliche Kampagne für Alternativen zum beste-henden fossil-atomaren Energiesystem. Die Mittel für denUmbau müssen jetzt und nicht erst morgen bereit gestelltwerden. Das Aufkommen aus einer reformierten Öko-steuer – wir hoffen, dass sie reformiert wird –
ist eine Finanzierungsquelle dafür. Wir wollen die Gelderfür den ökologischen Umbau.
Das ist eine andere Intention, denn Sie wollen sie ab-schaffen, Sie wollen sie überhaupt nicht.
– Jetzt geben Sie es endlich einmal zu.
Nur so können auch die Klimaschutzziele der Bundes-regierung erreicht und außerdem viele neue Arbeitsplätzegeschaffen werden. Daran sollten Sie auch Interesse ha-ben. Das bestätigen im Übrigen auch die führenden Wirt-schaftsforschungsinstitute in ihrem Herbstgutachten. We-nigstens das sollte Sie interessieren.Zum Antrag der F.D.P. wäre zu sagen, dass dieWunschliste der Liberalen bezüglich des Handels mitEmissionszertifikaten, den so genannten Verschmut-zungszertifikaten, einigermaßen an der Realität vorbei-geht. Ich möchte einmal wissen, welche Antworten Sieauf die vielen offenen und ungelösten Fragen des Grün-buchs der Kommission zu diesem Thema haben. Esdrängt sich der Verdacht auf, dass hier nur ein Tor zur Um-gehung des tatsächlichen Klimaschutzes aufgestoßenwerden soll. So kann es nicht sein.Ich könnte jetzt noch einiges zur Versiegelung derLandschaft sagen. Mit circa 120 Hektar pro Tag geht sieungehindert weiter. Dazu höre ich sehr wenig in diesemHaus. Es gibt Konzepte und Alternativen. Diese müssenaber konsequent durchgezogen werden.Leider komme ich auch nicht mehr dazu, über dasThema der Übertragung und Privatisierung ostdeutscherNaturschutzflächen – ein Trauerspiel – zu reden.
Hier gibt es noch einen sehr großen Handlungsbedarf. Ichwünsche mir, dass es nicht so kommt, dass von den100 000 Hektar nicht einmal 50 000 Hektar an Natur-schutzverbände bzw. an die Länder fallen, weil es nichtmöglich ist. Ich meine, dass hier das Tafelsilber der deut-schen Einheit wirklich verschleudert worden ist. Dasfinde ich sehr schade.Ich bin am Ende meiner Rede. Deshalb nur noch ganzkurz: Wir warten auf das Bundesnaturschutzgesetz. Ichfreue mich auf die Diskussion zu diesem Thema.Weil Frau Homburger einen schönen Spruch gesagthat, möchte ich ebenfalls einen sagen. Er stammt vonFranz Beckenbauer: Schau‘n wir mal, dann seh‘n wirschon. Wir aber sollten in Sachen Ökologie weiter ge-meinsam diskutieren, und vor allem brauchen wir jetzt Ta-ten.
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt Ulrich Kelber.
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Die Bilder von den Hochwasserka-tastrophen in Vietnam und Norditalien sind noch frisch inErinnerung. Diese Ereignisse waren klare Folgen derKlimaveränderung, also eines der beschriebenen globalenUmweltrisiken.Als ich mich auf diese Rede vorbereitet habe, habe ichmich an eine andere Umweltkatastrophe erinnert. Als Stu-dent konnte ich 1991 die Region nördlich von Tscherno-byl besuchen. Ich habe mich wieder an leer stehende Häu-ser, an gesperrte Gebiete und an den Besuch in einemKrankenhaus mit leukämiekranken Kindern erinnert.Dies sind für mich Beispiele globaler Umweltverän-derungen und Umweltrisiken, die deutlich machen,warum die SPD den Bericht der Bundesregierung und dasJahresgutachten 1998 „Welt im Wandel – Strategien zurBewältigung globaler Umweltrisiken“ begrüßt. Es istrichtig, wenn die Bundesregierung schreibt: Die Unter-stützung, die dieses Gutachten für den rationalen undnachvollziehbaren Umgang mit globalen Umweltrisikenliefert, ist wichtig.
Meine persönliche Ergänzung: Dieses Gutachten for-dert auch ein konsequentes Vorgehen ein. Das sage ichauch nach den Erfahrungen, die ich in meinen ersten Wo-chen im Bundestag sammeln konnte, gerade auch nachden Vorträgen von Herrn Lippold und Frau Homburger.Hören Sie aufseiten von CDU und F.D.P. auf, sich denUmweltdebatten zu verweigern! Helfen Sie mit, dass wirdiese Schritte gehen können.
Bericht und Jahresgutachten ermuntern zu verstärkterinternationaler Zusammenarbeit. Es ist gut und wichtig,dass in der Europäischen Union die Idee von Risiko- undUmweltvorsorge immer mehr Platz einnimmt. Der Erfolg,dass „Umwelt“ ein Thema bei den GATT-Verhandlungenwird, ist ein Beispiel dafür. Es zahlt sich aus, dass wir, vonallen Parteien getragen, unsere osteuropäischen Nachbarnim Transformationsprozess begleitet haben. Hier gibt eserste Ergebnisse. Auch in den Vereinten Nationen ist dieseDebatte wichtiger geworden. Gerade die Arbeit an derKonvention für das Verbot oder eine starke Reduktiondauerhafter organischer Schadstoffe ist dafür ein Zeichen.Als letztes Beispiel könnte man die immer stärkere Inte-gration der Umweltpolitik in die deutsche Entwicklungs-zusammenarbeit nennen.
Aber Bericht und Jahresgutachten ermahnen auch zunationaler Verantwortung und Handeln. Dies möchte ich
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Eva Bulling-Schröter12156
am Beispiel von Klima- und Energiepolitik noch einmaldeutlich machen. Die Jahre 1990 bis 1998, die zweiteHälfte der Regierung Kohl – Frau Homburger, ich habegerade noch einmal nachgeschaut, Sie waren auch zu die-ser Zeit schon Abgeordnete –, sind im Zusammenhangvon Klima- und Energiepolitik völlig verlorene Jahre ge-wesen.
Die Einsparung der klimawirksamen Gase stammt voll-ständig aus dem Zusammenbruch der Industrie der fünfneuen Länder.
Im Westen – das können Sie in den Quellen, die Sie heuteselber genannt haben, nachlesen – hat der CO2-Ausstoß indieser Zeit noch zugenommen. Ich habe mich, ehrlich ge-sagt, gewundert, dass der Sachverständigenrat diese ein-fachen Zahlen in seiner Wertung übersehen hat.
Wenn ich gerade beim Sachverständigenrat und seinemUmweltgutachten bin, das viele wichtige Anregungen undauch Kritik enthält, über die man reden kann, dann mussman aber auch sagen, dass es nicht nachvollziehbare Min-derheitsmeinungen enthält. Ich denke hier etwa an diereine Ideologie, dass man keine direkten Zuschüsse fürerneuerbare Energien zahlen solle. Leider findet mandiese Grundhaltung auch bei CDU und F.D.P.
Vertrauen auf den Markt reicht in dieser wichtigen Fragenicht aus. Die großen Stromkonzerne bauen Kapazitätenab und wollen das Geld mit den Anlagen verdienen, in diesie bereits vor vielen Jahren investiert haben. Engagementfür erneuerbare Energien ist nicht da. Daher brauchen wirMarkteinführungsprogramme – ein wichtiges Versäumnisvon CDU und F.D.P. bis zuletzt.Ich möchte Ihnen das an einem Beispiel deutlich ma-chen. Es gab das so genannte 1 000-Dächer-Programm.Ich hatte immer eher das Gefühl, es sei ein 1 000-Beamte-Programm, weil es so kompliziert war und es so langedauerte, bis ein Zuschuss kam. Wir haben in einer kleinenKommune namens Bonn ein lokales Programm aufgelegtund in einem einzigen Jahr mehr Photovoltaik auf dieDächer bekommen als Sie mit Ihrem 1 000-Dächer-Pro-gramm bundesweit in zwei Jahren.
So kann man handeln, wenn man möchte.
Der Umgang mit globalen Umweltrisiken wird zuneh-mend auch eine wirtschaftliche Frage: nicht nur wegender Kosten für mögliche Umweltkatastrophen, sondernweil eine Politik zur Vermeidung globaler Umweltrisikenauch eine Politik der Nachhaltigkeit ist, also eine Politikzur Erhaltung von Wohlstand und zur Ermöglichung vonEntwicklung.Lassen Sie mich auch das am Beispiel der Energie-preise erläutern: Die Abhängigkeit von fossilen Energie-trägern, insbesondere von Öl, ist nicht nur ein globalesUmweltrisiko wegen der Klimaveränderungen und derMöglichkeit des Zusammenbruchs ozeanischer Zirkula-tion, sondern die Abhängigkeit von fossilen Energieträ-gern ist eine direkte Gefahr für den Wohlstand im Nordenund für die Entwicklung im Süden. Wer es wissen wollte,weiß es seit Jahren: Die Zeit billigen Öls geht zu Ende,weil das Öl zu Ende geht. Ein neues Gutachten der Bun-desregierung, aber auch die Expertise der zweitgrößtenkanadischen Bank CIBC zeigen ganz klar: Wir stehen nurnoch wenige Jahre vor den ersten ernst zu nehmenden unddann auch nicht mehr zu behebenden Versorgungseng-pässen beim Öl. Die Folge wird ein Ölpreisschock sein,der die von Mitte der 70er- und 80er-Jahre und auch dieEntwicklung der letzten Monate weit in den Schattenstellt. Deswegen müssen wir weg von der Abhängigkeitvom Öl, schnell und konsequent.
Wenn wir weg von der Abhängigkeit von Öl wollen,dann müssen wir natürlich wegen der bekannten globalenUmweltrisiken hinein in Energieeffizienz und erneuer-bare Energien. Da kann man etwas tun, und die Koali-tion und die Bundesregierung handeln auch. Ein Beispielist das Programm für die Wärmesanierung von Altbauten.Die zinsvergünstigten Kredite im Rahmen dieses Pro-gramms werden in den nächsten drei Jahren ein Volumenvon 6 Milliarden DM haben. Frau Homburger, das kön-nen Sie nicht einfach als altbekannt abtun. Ich möchte ein-mal sehen, ob Sie, wenn dann Zehntausende neuerArbeitsplätze entstehen, den dort Beschäftigten sagen, siehätten ihren Arbeitsplatz nur durch ein altbekanntes Pro-gramm bekommen.
Ein 100 000-Dächer-Programm, das so erfolgreich ist,dass man bereits die Fördermechanismen anpassen muss,die Markteinführung von erneuerbaren Energien und auchdie Förderung von Kraft-Wärme-Kopplung nenne ich alsBeispiele für unsere Politik. Sie hat in meiner Heimatstadtzu dem schönen Ergebnis geführt, dass die CDU-Stadt-ratsmehrheit jetzt die Gelder aus der Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung vereinnahmen kann.Die Bürger erkennen zunehmend globale Umweltrisi-ken und sind auch bereit, eine vorsorgende Politik zu ak-zeptieren. Vor diesem Hintergrund sind die plattenSprüche von CDU und F.D.P. zu den Energiepreisen ab-solut unverantwortlich.
Aus rein parteipolitischen Gründen wollen sie den Bür-gern weismachen, die Probleme durch die Senkung vonEnergiesteuern lösen zu können. Das ist falsch und wi-derspricht übrigens auch dem Rat der Wirtschaftsweisen.
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Ulrich Kelber12157
Das Gegenteil würde eintreten: Würden wir die Energie-steuern senken, würde die Abhängigkeit vom Öl konser-viert.
– Würden wir diesem gefährlichen Unsinn folgen, FrauHomburger, müssten die Bürger schon in wenigen Jahrendie Zeche für eine solche Politik von CDU und F.D.P. zah-len. Würde dann nämlich das Öl knapp und unbezahlbarund wir wären dann immer noch vom Öl abhängig, be-deutete dies einen Wohlstands- und Jobverlust für Milli-onen Menschen in unserem Land.Wenn wir jetzt handeln, mag es unbequem sein. Wirmüssen manche Diskussion aushalten, weil es natürlichschwierig ist, gegen platte Sprüche mit Argumenten an-zugehen. Das ist immer schwierig.
Aber wenn wir jetzt handeln, erreichen wir drei Dinge:Wir sichern erstens Wohlstand und Arbeitsplätze in unse-rem Land dauerhaft,
wir ermöglichen zweitens die Entwicklung in ärmerenLändern und wir verringern drittens die beängstigendeGefahr globaler Umweltrisiken.Vielen Dank.
Herr Kollege Kelber,
Sie sind seit dem 1. September dieses Jahres Mitglied die-
ses Hauses und haben heute Ihre erste Rede gehalten. Ich
beglückwünsche Sie dazu im Namen des ganzen Hauses.
Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Christa
Reichard, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Prä-sidentin! Meine Damen und Herren! Acht Jahre sind seitder Konferenz in Rio vergangen, doch die Tropenwälderwerden ungebremst abgeholzt, zunehmende Wüstenbil-dung und ein rapider Schwund der Artenvielfalt gehen da-mit einher. Nach Aussagen von Wissenschaftlern ist dieVeränderungsrate der Böden sogar noch dramatischer alsdie des Klimas. Alle fruchtbaren Böden dieser Erde wer-den bereits heute genutzt. Doch durch das Anwachsen derWeltbevölkerung auf jetzt schon über 6 Milliarden wirdder Druck gerade auf die Ressource Boden immer größerund das Thema Bodendegradation weltweit immer wich-tiger. Deshalb möchte ich mich im Rahmen der Debatteauf dieses Thema beschränken.Die Bewirtschaftung durch den Menschen ist zumeistUrsache für die Degradierung von Böden. Entwaldung,Überweidung, landwirtschaftliches Missmanagementund Übernutzung, aber auch Industrialisierung undUrbanisierung führen zu Erosionsprozessen durch Wind,Wasser, Nährstoffverluste, Versalzung und Versauerungvon Böden. Durch Versiegelung werden ständig weitereFlächen der nutzbaren Böden entnommen. Nach Aussa-gen des Umweltsekretariats der Vereinten Nationenmusste allein in den vergangenen 40 Jahren eine Flächevon der Größe Chinas zusätzlich als „mäßig degradiert“eingeordnet werden. 15 Prozent der eisfreien Landflächeder Erde gelten als durch den Menschen zerstört. Mit60 Prozent Flächenanteil sind Afrika und Asien am stärks-ten betroffen. Es folgen Europa mit 11 Prozent undNordamerika mit 8 Prozent.Bodendegradation ist kein regionales, kein Nord-Süd-,sondern ein globales Problem. Die Landwirtschaft in vie-len Regionen der Erde ist außerstande, regelmäßig auf-kommende Hungerkatastrophen zu verhindern. Die Zahlder Umweltflüchtlinge, die aufgrund sinkender landwirt-schaftlicher Produktivität in die Städte ziehen, steigt.Handlungsbedarf sehe ich sowohl in der Forschung alsauch in der Politik.
Eine der vordringlichsten Aufgaben der Forschung hin-sichtlich einer nachhaltigen Bodenbewirtschaftung ist,ein besseres Verständnis für das Belastungspotenzial unddie Pufferkapazitäten der verschiedenen Bodentypen zugewinnen. Insbesondere bei der Kohlenstoffspeicherungim Boden sind noch viele Fragen offen. Beispielsweise istin Böden weltweit fünfmal mehr Kohlenstoff gebundenals in der Vegetation. Die Auswirkungen auf das Klimasind noch nicht hinreichend untersucht.Die Erkenntnisse der Bodenforschung müssen in einengrößeren Rahmen gebracht und für die Verwendung in an-deren Politikbereichen übersichtlicher gestaltet werden.Warum bestand und besteht am Thema Bodenschutzbisher nur so geringes politisches Interesse? Warum agie-ren Bodenschützer weltweit wie die sprichwörtlichen Ru-fer in der Wüste? In der Agenda 21 wurden Bodenerhal-tung und Bodendegradation zwar thematisiert, aber siesind kein eigenständiger Komplex. Einer der Gründedafür mag sein, dass Boden- und Landfragen sehr großesKonfliktpotenzial beinhalten. Sie betreffen Arme undReiche, Städter und Landbevölkerung und haben damiteine enorme soziale, wirtschaftliche und politische Be-deutung – im Guten wie im Schlechten.Was ist jetzt die Aufgabe der internationalen Politikund damit auch unsere Aufgabe? Es mangelt nicht an Vor-schlägen, in Ergänzung zu bereits existierenden Umwelt-konventionen eine Bodenkonvention zu schaffen.
Doch auch eine Ausweitung der Konvention zur Bekämp-fung der Wüstenbildung als globale Landnutzungs- undBodenkonvention wird in diesem Zusammenhang oft ge-nannt.Nach zahlreichen Gesprächen mit Experten, unter an-derem mit Klaus Töpfer, bin ich zu der Überzeugung ge-kommen, dass ohne die erfolgreiche Umsetzung der Kon-vention zur Bekämpfung der Wüstenbildung eine weitergehende Konvention zum Bodenschutz eher kontrapro-
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Ulrich Kelber12158
duktiv ist. Es muss gelingen, den Bodenschutz im Rah-men der bestehenden Abkommen durchzusetzen.
Aus diesem Grunde hat meine Fraktion in einem Ände-rungsantrag die Nennung aller dieser Konventionen unterdem Dach der Agenda 21 gefordert.Weiterhin scheint mir der Austausch mit anderen Par-lamenten wichtig, so auch die Teilnahme von Parlamen-tariern an der Konferenz zur Konvention zur Bekämp-fung derWüstenbildung im Dezember dieses Jahres.Bei einer Expertenanhörung von CDU und F.D.P. zuminternationalen Bodenschutz war Konsens, dass auch dieNichtregierungsorganisationen weltweit gezielt ange-sprochen werden müssen. Ich vermisse dort Initiativen.Diese NGOs könnten durch Druck auf ihre Parlamenteund Regierungen die Prioritäten für die Rio-plus-10-Kon-ferenz beeinflussen. So habe ich mich persönlich mit ei-nem Aufruf an zahlreiche internationale Organisationengewandt. Ich bin erstaunt über die große Resonanz, aberauch darüber, dass ein großer Informationsbedarf besteht.An dieser Stelle sei allen gedankt, die sich seit Jahrenbemüht haben, die Öffentlichkeit für den Boden zu sensi-bilisieren. Beispielhaft nenne ich nur den Wissenschaftli-chen Beirat Globale Umweltveränderungen, die Tutzin-ger Initiative, den Wissenschaftlichen Beirat Bodenschutzund die Bundesvereinigung Boden und Altlasten.
Die Bundesregierung sollte den bereits von KlausTöpfer und Angela Merkel eingeschlagenen Weg beimeuropäischen und internationalen Bodenschutz konse-quent fortsetzen und hierzu in regelmäßigen AbständenBericht erstatten. Sie sollte dies nicht in die nächste Le-gislaturperiode verschieben, wie im Antrag von SPD undGrünen geplant. Somit könnte noch vor der nächsten Kon-ferenz über das weitere Vorgehen zum Thema beratenwerden.Im Übrigen sollten wir darüber nachdenken, dieserKonferenz einen eigenständigen Namen zu geben. Dennmit dem Arbeitstitel „Rio plus 10“ kann kaum jemand wasanfangen.Wenn die Änderungsanträge meiner Fraktion Zustim-mung finden, werden wir den Koalitionsantrag unterstüt-zen und den Antrag der F.D.P. ablehnen, da dieser denzweiten Schritt vor dem ersten geht. Ich bedaure ab-schließend, dass uns in dieser wichtigen internationalenFrage kein gemeinsamer Antrag gelungen ist.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Reinhard Loske, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichwill mich auf den Bericht des Sachverständigenrates fürUmweltfragen konzentrieren. An dieser Stelle möchte ichmindestens im Namen meiner Fraktion, aber, wie ichdenke, auch im Namen des ganzen Hauses dem jetztscheidenden Sachverständigenrat für Umweltfragen fürseine Arbeit danken. Wenn man seine Meinung auch nichtimmer im Detail geteilt hat, waren seine Gutachten dochimmer lesenswert und ein Gewinn.
Ich werde mich in meinem Beitrag auf die Themen Kli-maschutz, Naturschutz und Nachhaltigkeitsstrategie kon-zentrieren. Dabei will ich auf das rekurrieren, was derSachverständigenrat empfiehlt. Der Bericht des Sachver-ständigenrates ist im Januar 2000 verabschiedet worden.In diesem Gutachten empfiehlt der Sachverständigen-rat zum Thema Klimaschutz Folgendes: Er plädiert füreine Vorreiterrolle in der internationalen Klimapolitik. Ernennt die Priorität für nationale Anstrengungen insbeson-dere in den Bereichen Energieeffizienz, Energieeinspa-rung und erneuerbare Energien. Er begrüßt die freiwilli-gen Selbstverpflichtungen der Industrie, weist aber aufdie Gefahr hin, dass dort nur das versprochen wird, wasohnehin geschieht. Er mahnt an, nicht nur zu spezifischen,sondern zu absoluten Reduktionszielen zu kommen, dasheißt sie nicht nur auf die Wertschöpfungseinheit, sondernauf den tatsächlichen Ausstoß zu beziehen. Um den ehe-maligen Kanzler zu zitieren: Entscheidend ist, was hintenrauskommt. Der Sachverständigenrat hält den Atomaus-stieg für mit dem Klimaschutz vereinbar.
Der Sachverständigenrat mahnt eine Weiterentwicklungder ökologischen Steuerreform und eine Umwandlung derKilometerpauschale in eine verkehrsmittelunabhängigeEntfernungspauschale an. Er bezieht sich, wie Sie zuRecht sagen, sehr positiv auf mengenbezogene Instru-mente wie Emissionsobergrenzen und den Emissionshan-del. Das ist es, was der Sachverständigenrat im Januarempfohlen hat.Jetzt komme ich zu dem, was die Regierung und dieKoalitionsfraktionen schon geleistet haben. Bezogen aufdas Klimaschutzprogramm sind wir der Meinung, dassunsere Glaubwürdigkeit auf dem internationalen Parkettbei den Klimaverhandlungen entscheidend davon ab-hängt, was wir zu Hause tun. Wir müssen bei uns unterBeweis stellen, dass ökologischer Strukturwandel undwirtschaftliche Prosperität zusammengehen können unddass dies ein Erfolgsmodell sein kann. Deshalb haben wirin der letzten Woche im Kabinett das Klimaschutzpro-gramm verabschiedet. Das ist ein sehr wichtiger Schritt indie richtige Richtung, mit dem wir unsere Glaubwürdig-keit in Den Haag ganz entscheidend stärken.Das Problem der alten Regierung war, dass sie sich zuHause zwar anspruchsvolle Ziele gesetzt hat, dass sie aberwenig zu ihrer Umsetzung getan hat. Dadurch wurde dieGlaubwürdigkeit Deutschlands in den Klimaverhandlun-gen entscheidend geschwächt. Das ist nicht mehr der Fall.
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Christa Reichard
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Zu den Inhalten des Programms: Es ist ein sektorbezo-genes Programm – das hat Minister Trittin zu Recht ge-sagt – und ein Programm, das konkrete Maßnahmen zurKraft-Wärme-Kopplung, zur Altbausanierung, zur Ener-gieeinsparung, zur Verlagerung des Schwerlastverkehrsvon der Straße auf die Schiene und besonders zur Förde-rung der erneuerbaren Energien enthält.Ich will einen Unterschied klar machen – ich glaube,Herr Lippold, Sie haben diesen Punkt angesprochen –: Esist ziemlich krass, wenn Sie sagen, das KfW-Förderpro-gramm sei eine bloße Weiterentwicklung dessen, was Siegemacht haben. Wissen Sie, worin der entscheidende Un-terschied liegt? Sie haben im Bundeshaushalt 16 bis20Millionen DM pro Jahr eingestellt; wir stellen 400Mil-lionen DM ein. Das ist eine Erhöhung der Mittel um denFaktor 20 und genau darin liegt der Unterschied in derQualität zwischen der Umweltpolitik dieser Bundesregie-rung und der der alten Regierung.
Zu der Forderung des Sachverständigenrates, die frei-willige Selbstverpflichtung sollte sich nicht nur auf spe-zifische Ziele, sondern auch auf absolute Ziele beziehen,kann ich sagen, dass die Weiterentwicklung, die wohl inden nächsten Wochen der Öffentlichkeit präsentiert wird,ein echter Fortschritt ist; denn sie schreibt absolute Emis-sionsminderungsziele fest: bis zum Jahr 2005 zusätzlich10Millionen Tonnen CO2 weniger – das war bislang nichtvorgesehen – und bis zum Jahr 2010 zusätzlich 20 Mil-lionen Tonnen CO2-Äquivalent weniger; darunter fallendie anderen Gase, deren Emissionen im Kioto-Protokollgeregelt werden. Der entscheidende Unterschied zwi-schen Ihrer und unserer Politik ist also, dass Sie bei derfreiwilligen Selbstverpflichtung der Industrie nur dasverlangt haben, was sie ohnehin selber gemacht hätte,während wir etwas fordern und im Gegenzug offensicht-lich auch schon bekommen haben.Zur Forderung des Sachverständigenrates bezüglichder Umwandlung der Kilometerpauschale in eine ver-kehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale: Es istIhnen ja bekannt, dass wir diese vor wenigen Wochenbeschlossen haben. Sie ist auf jeden Fall ein Schritt in dierichtige Richtung und wird zu einer Verlagerung im Ver-kehrsbereich hin zu öffentlichen und zu nicht motori-sierten Verkehrsmitteln führen. Auch das ist Ihnen nichtgelungen. Wir befinden uns hier in Übereinstimmung mitden Empfehlungen des Sachverständigenrates.Zum Emissionshandel, auf den positiv Bezug genom-men wird: Wenn man über Emissionshandel redet, mussman zunächst einmal eines klarstellen: Der Emissions-handel ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere undviel entscheidendere Seite der Medaille ist die, dass wiruns absolute Emissionsminderungsziele setzen. DerEmissionshandel ist also nur ein Mittel und kein Ziel. Dasist der entscheidende Unterschied.Ich selber stehe diesem Instrument sehr aufgeschlossengegenüber. Wir sollten versuchen, dieses Instrument inden verschiedenen Bereichen anzuwenden. Aber wennich mir den Antrag der F.D.P. anschaue, Frau Homburger,dann wird offenkundig, dass er eine maßlose Übertrei-bung enthält. Es ist nämlich die Rede von Emissionszer-tifikaten als Inbegriff der modernen Klimapolitik. DieserSatz aus Ihrem Antrag ist besonders schön:Beim internationalen Klimaschutz geht es vordring-lich nur noch um die Frage, welche der unterschied-lichen Varianten globaler Zertifikatsmodelle ... ein-gesetzt werden.Dazu will ich Ihnen sagen: Beim Klimaschutz geht esum etwas ganz anderes. Es geht nämlich darum, dassEmissionen gemindert werden, und zwar dort, wo die Ver-antwortung liegt, also bei uns.
Sie schießen maßlos über das Ziel hinaus.Sie sind auch nicht auf dem neuesten Stand, FrauHomburger. Zum einen gibt es bei der Deutschen Börse inFrankfurt schon eine Arbeitsgruppe zum Börsenhandelmit Emissionszertifikaten. Es ist also nicht so, dass wirpennen, während die anderen die Meriten einstreichen,wie Sie dem Minister vorgeworfen haben. Die Wahrheitist, dass wir bei diesem Thema ganz vorne sind.
Zum anderen gibt es im Umweltministerium eine Ar-beitsgruppe zum Thema Emissionshandel, an der auch dieIndustrie beteiligt ist. Dass Sie das nicht wissen, ist Ihrund nicht unser Problem.
Zum Thema Naturschutz: Der Sachverständigenratstellt zum Thema Naturschutz fest, dass die Lage von Na-tur und Umwelt nach wie vor besorgniserregend ist. Wirhaben ein hohes Maß an Landschaftszerstörung und einhohes Maß an Schadstoff- und Nährstoffeinträgen undeinen großen Rückgang an biologischer Vielfalt. DerSachverständigenrat formuliert folgende Ziele: erstensÖkosystemschutz, zweitens Schutz der biologischen Viel-falt und drittens nachhaltige Nutzung der Natur, also Na-turschutz durch eine angemessene Naturnutzung undnicht Naturschutz gegen Naturnutzung.Die beiden wichtigsten Eckpfeiler, die der Sachver-ständigenrat nennt, sind erstens die Einräumung von 10bis 15 Prozent an Vorrangflächen für den Naturschutz undzweitens Qualitätsstandards für die Nutzung auf derGesamtfläche. Genau das ist die Strategie, die die Koali-tionsfraktionen und die Bundesregierung verfolgen. Wirhaben erst einmal – das ist Ihnen zu Ihrer Zeit nicht ge-lungen – 100 000 Hektar der BVVG-Flächen aus der pri-vaten Nutzung herausgenommen und sie so dauerhaft ge-sichert. Das ist ein ganz wichtiger Schritt für denNaturschutz.
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Dr. Reinhard Loske12160
Zudem wird es bei der Deutschen BundesstiftungUmwelt eine Mittelumwidmung zugunsten des Natur-schutzes geben. Das ist zwar ein bescheidener Beitrag,aber ein wichtiger.Wir ermutigen auch die Länder, vor allen Dingen dievon der Union regierten, bei der Ausweisung von FFH-Flächen endlich konsequent voranzuschreiten. Auf die-sem Gebiet hinken wir hoffnungslos hinterher.
Wir wollen sehr bald eine Novelle des Bundesnatur-schutzgesetzes vorlegen; sie befindet sich in der Abstim-mung. Mit dieser Novelle wird erstmals der Versuch un-ternommen, eine ordnungsgemäße Landwirtschaft zuqualifizieren. Jeder, der Augen hat zu sehen, wird fest-stellen, dass die heutige Form der Landwirtschaft mitgroßen Umweltproblemen behaftet ist. Der Versuch, eineordnungsgemäße Landwirtschaft, eine gute fachliche Pra-xis zu qualifizieren, ist eine unabdingbare Voraussetzungdafür, den Naturschutz und die Nutzung der Natur gut zu-sammenzubringen. Auf diesem Wege sind wir.Ich komme zum letzten Punkt, zur Nachhaltigkeits-strategie. Hierzu sagt der Sachverständigenrat für Um-weltfragen: Wir brauchen klare, wissenschaftlich begrün-dete Umweltziele. Wir brauchen einen integrativenAnsatz; das heißt: Nicht nur der Umweltminister ist ver-antwortlich, sondern das gesamte Kabinett, alle Ressorts.Wir brauchen eine Konzentration auf bestimmte Bereicheund wir brauchen einen Nachhaltigkeitsrat,
aber nicht als zusätzliches Beratungsorgan, sondern alseine Einrichtung, die vorab klärend arbeitet und die Kon-sensbildung betreibt.Was ist jetzt vom Kabinett beschlossen worden? Ers-tens. Wir werden einen Nachhaltigkeitsrat bekommen. Erwird mit Personen des öffentlichen Lebens besetzt werdenund der Öffentlichkeit in den nächsten Wochen vorge-stellt. Zweitens. Wir haben einen „grünen Staatssekretärs-ausschuss“, der dem Prinzip der Integration genügt, daalle Staatssekretäre aus den beteiligten Häusern darin ver-treten sind. Drittens werden wir im WissenschaftszentrumBerlin ein Sekretariat für diesen Nachhaltigkeitsrat be-kommen. – Hinsichtlich der Nachhaltigkeitsstrategie sindwir also auf einem guten Weg.Ich möchte nur auf ein kleines Problem hinweisen, dasuns als Parlamentarier alle angeht. Es gibt seit langem dieTendenz, dass Absprachen außerhalb des Parlamentsstattfinden: sei es im Bündnis für Arbeit, sei es bei denEnergiekonsensgesprächen, sei es durch die freiwilligenSelbstverpflichtungen, sei es beim Nachhaltigkeitsrat.Das sind gute Instrumente und wir brauchen sie als Kom-plementärinstrumente zum Parlament. Es kann abernatürlich nicht angehen, dass dem Parlament nur noch einBeobachterstatus eingeräumt wird. Es muss sichergestelltwerden – das müssen wir als Parlament insgesamt verlan-gen –, dass es, bezogen auf die Ergebnisse des Nachhal-tigkeitsrates und der „grünen Staatssekretärsrunde“, eineRückkopplung mit dem Parlament gibt. Es kann nichtsein, dass Absprachen getroffen werden, die das Hoheits-recht des Parlamentes einschränken.
Summa summarum: Das, was die Bundesregierung inder ersten Halbzeit ihrer Regierungstätigkeit im Bereichder Umweltpolitik gemacht hat, kann sich sehen lassen,ist international vorzeigbar und stellt einen guten Schrittin die richtige Richtung dar.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Werner Wittlich.
Frau Präsidentin!Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Deutschensind vom Volk der Jäger und Sammler zum Volk derSammler und Sortierer mutiert.
Liebevoll trennen sie, was vorher zusammengehörte. ObBierflasche oder Geschenkpapier, Joghurtbecher oderKüchenabfall – alles wird getrennt, gesammelt und sor-tiert.Wie eine Allensbach-Studie herausfand, trennen91Prozent der Deutschen nach ihren eigenen Angabenihren Abfall; in den Vorjahren lag dieser Wert noch bei86 Prozent. Diesen Bewusstseinswandel hat die 1991 vonder früheren Bundesregierung unter dem Aspekt desdamals dramatischen Müllnotstandes erlassene Ver-packungsverordnung ganz maßgeblich gefördert. Ge-gen den Widerstand der damaligen Opposition in vielenBereichen zu diesem Problem hat die von der Uniongeführte Bundesregierung das Abfallmengenproblemgelöst und den Einstieg in das Reststoffmanagement orga-nisiert.
Die deutsche Vorreiterrolle in der Abfallpolitik hat in ganzEuropa einen gewaltigen Innovationsschub ausgelöst.
Dennoch wurde in den Jahren 1997, 1998 und allerVoraussicht nach auch 1999 die vorgeschriebene Mehr-wegquote unterschritten. Dies hängt entscheidend mit denveränderten Rahmenbedingungen zusammen. Denn seitErlass der Verpackungsverordnung im Jahr 1991 ist schonbis 1997 erstens der Verpackungsverbrauch von 7,6 Mil-lionen Tonnen auf 6,3 Millionen Tonnen gesunken, zwei-tens die Menge verwerteter Verpackungsabfälle von920 000 Tonnen auf 5,4 Millionen Tonnen gestiegen unddrittens das Volumen in Mehrweg abgefüllter Getränkeum 2,9 Milliarden Liter auf jetzt 22,8 Milliarden Liter ge-stiegen. Ferner geraten traditionelle Mehrwegsystemedurch demographische Veränderungen, zum Beispiel dieZunahme von Singlehaushalten, und veränderte Ge-brauchsgewohnheiten unter Druck.
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Gesetze dürfen nicht statisch verstanden werden. Siesollen und müssen an veränderte Rahmenbedingungenangepasst werden, um ihrem Zweck auch in Zukunft ge-recht zu werden. Dies erfordert ein hohes Maß an Flexi-bilität und die Bereitschaft, neue Wege zu gehen, wenn esnötig ist. Das damalige Problem des Müllnotstandes istheute gelöst. Die Geschäftsgrundlage für die 1991 erlas-sene Verpackungsverordnung, die damals richtig war, istheute weggefallen.Inzwischen sieht die Umweltministerkonferenz diesgenauso. Sogar Herr Trittin hat mittlerweile eingelenkt.Das ist schön. Er hat sich nämlich bisher immer nur sturan die rechtlichen Vorgaben gehalten und zeigt erst jetztdie Bereitschaft zu einer gewissen Flexibilität.
– Wenn gebellt wird, weiß man hier vorn, dass man Rechthat.
Entscheidend für die künftige Politik darf nicht dieBeibehaltung einer 1991 unter ganz anderen Rahmenbe-dingungen festgesetzten Quote sein. Neue Erkenntnisseaus Forschung und Technik im Bereich der Getränkever-packung müssen zeitnah Eingang in die Gesetzgebungfinden.Glas ist gut, Plastik, Aluminium und Weißblech sindschlecht – mit solchen Lehren ist die Ökogemeinde he-rangewachsen. Aber es zeigt sich immer wieder, dass dasLeben komplizierter ist und mithin auch die Ökologie.Die Grenze zwischen ökologisch vorteilhaften Ge-tränkeverpackungen, deren Verwendung gefördert wer-den soll, und sonstigen Getränkeverpackungen muss neugezogen werden. Diesem Gedanken trägt auch die vomUmweltbundesamt zu den Getränkeverpackungen vorge-legte Ökobilanz Rechnung. Sie bescheinigt dem Mehr-weg klare Vorteile und bestätigt damit die Entscheidungder früheren Bundesregierung für den Mehrweg.Gleichzeitig erkennt die Bilanz aber auch an, dassdiese Trennlinie heute nicht mehr ganz lupenrein verläuft;
denn die Mehrwegglasflasche und der Einweggetränke-karton werden als ökologisch gleichwertig betrachtet.
Aufgrund der UBA-Studie plädiert die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag deshalb für eineNeuausrichtung der Verpackungspolitik auf Basis deraktuellen ökologischen und ökonomischen Fakten. Einesolche Ausrichtung könnte zum Beispiel darin liegen,künftig zwischen ökologisch vorteilhaften und ökolo-gisch nachteiligen Verpackungsarten zu unterscheiden.Maßstab für die zukünftige Getränkeverpackung mussnoch mehr als bisher ihre ökologische Verträglichkeitsein. Beispielsweise könnten die PET-Flasche und derdem Mehrweg gegenüber als gleichwertig eingestufteEinweggetränkekarton auf die Mehrwegquote angerech-net werden. Möglicherweise könnte sich ein solches auchfür die noch nicht untersuchte PET-Einwegflasche mitRücklauf ergeben.Wie der heutigen Presse und den Agenturmeldungen zuentnehmen ist, haben sich die Umweltminister der Ländergestern auf einer Konferenz in Berlin auf die Erhebungvon Pfand auf ökologisch nachteilige Verpackungs-arten geeinigt. Gleichzeitig wurde von den Umweltmi-nistern festgehalten, dass bis zur Erhebung die unter-schiedlichsten Parameter geprüft und einer eingehendenBewertung unterzogen werden müssen. Kein Pfand wirdden Angaben zufolge auf Kartonverpackungen für Ge-tränke erhoben, weil ihre Umweltschädlichkeit aufgrundverschiedener Gutachten nicht nachgewiesen ist.Die bisherige Ungleichbehandlung nach der alten Ver-packungsverordnung für Getränkedosen, nach der Bierbepfandet werden sollte und zum Beispiel Cola nicht,wird beseitigt. Gleichzeitig wird eine Technologieklauseleingeführt, durch die mögliche Entwicklungen von öko-logisch nachteiligen zu ökologisch vorteilhaften Verpa-ckungen berücksichtigt werden können. Außerdem fälltder erhebliche bürokratische Aufwand für die Erfassungund für die Erhebung der so genannten Quote weg.Meine Damen und Herren, ich will nochmals kurz dar-stellen, warum wir Bedenken gegen die Einführung einesso genannten pauschalen Zwangspfandes hatten: DieEinführung eines Zwangspfandes hätte den Handel Mil-liardenbeträge gekostet. Hiervon wäre insbesondere derMittelstand betroffen gewesen. Der aber hat sich abernoch nicht richtig von der Keule des 630-DM-Gesetzes
und der „Nicht überall, wo Öko draufsteht, ist auchtatsächlich Öko drin“-Steuer erholt.
Da die Flächen nicht unbegrenzt erweiterbar sind, hätteder Handel außerdem seine Ladenflächen neu organisie-ren müssen. Letztlich wäre das bewährte Mehrwegsystemaus Kosten- und Platzgründen gekippt – ein klassischerBumerangeffekt.Für die betroffenen Unternehmen und für die Verbrau-cher sind Klarheit und rechtliche Planungssicherheit aufdiesem komplexen Gebiet dringend erforderlich. HerrTrittin, Sie hätten schon viel früher einen klaren Vorschlagauf den Tisch legen müssen.
Stattdessen sind Sie seit Monaten vor einer Entscheidungzurückgeschreckt und haben sich lieber von Gutachten zuGutachten gehangelt.
Ihr Treffen mit Vertretern von Industrie, Handel und Um-weltverbänden mit dem Ziel einer Einigung ist kläglich
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gescheitert. Dies einzig und allein den Wirtschafts-verbänden anzulasten zeugt von einem hohen Maß anBorniertheit und ideologischer Verblendung.
Nur die ständige Kommunikation mit allen Betroffenenkann letztlich zu einer zeitnahen Entscheidung führen.Die CDU/CSU-Fraktion fordert daher die Bundesre-gierung auf, bei den weiteren Schritten den Dialog sowohlmit Handel und Industrie als auch mit den Umwelt- undVerbraucherverbänden wieder aufzunehmen.
Ob eine Selbstverpflichtung durch die Wirtschaft oder an-dere Instrumente zielführend sind, sollten Sie offen undideologiefrei mit allen Beteiligten diskutieren.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Jetzt erteile ich das
Wort dem Kollegen Jürgen Wieczorek, SPD-Fraktion.
Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ökosteuer undAtomausstieg sind wichtige und unverzichtbare Projekteder rot-grünen Umweltpolitik. Sie absorbieren viel Auf-merksamkeit und an ihnen entzünden sich die Gemüter.Man kann aber nun wirklich nicht behaupten, dass sichunsere Umweltpolitik auf diese zwei Projekte reduziert.Seit 1998 haben wir viele beachtliche Maßnahmen imBereich des Umweltschutzes getreu unserer Orientierungam Leitbild der Nachhaltigkeit in Angriff genommen.Wichtige Gesetze und Programme haben wir beschlos-sen. Hier möchte ich nur einige beispielhaft nennen: das100 000-Dächer-Programm, das Erneuerbare-Energien-Gesetz und das jetzt vom Bundeskabinett verabschiedetenationale Klimaschutzprogramm.Ein weiterer wichtiger Bereich, in dem wir aktiv sind,ist der Bodenschutz. Auch hier war 1998 Nachholbedarffestzustellen. Es ist bezeichnend, dass die Vorgängerre-gierung das Bundes-Bodenschutzgesetz so lange hinaus-gezögert hat, dass es erst im März 1999 in Kraft tretenkonnte. Damit war aber immerhin ein Anfang geschaffen.Die Wirkung des Gesetzes wird sich erst in drei bis fünfJahren objektiv bewerten lassen. Ausgebaut und konkre-tisiert hat die rot-grüne Bundesregierung das Bundes-Bo-denschutzgesetz durch die Bundes-Bodenschutz- und Alt-lastenverordnung im Juli 1999. Auf der Grundlage dieserVerordnung wird der Inanspruchnahme unverbrauchterBöden entgegengesteuert. Das war und ist leider noch eingravierendes Problem. Bundesweit werden täglich circa120 Hektar Boden neu versiegelt.
Hauptverantwortlich für den enormen Anstieg des Bo-denverbrauchs ist übrigens die alte Bundesregierung.
Mit ihrem großzügigen Abschreibungsgesetz für alleNeubauten im Zusammenhang mit der deutschen Einheit– vom Grundanliegen her war es sicherlich sinnvoll, aberes war zu pauschal anwendbar und damit ausnutzbar; inAnbetracht der sichtbaren Fehlentwicklungen hätte esviel früher gebremst werden müssen – hat sie zu Investi-tionen auf der grünen Wiese und damit zur allgemeinenZersiedelung und besonders zur Forcierung von Versiege-lungen beigetragen.
Mit der Verordnung können nun gering belasteteGrundstücke rasch aus dem Altlastenverdacht entlassenwerden und somit ehemalige Industrieflächen quasi recy-celt werden. Das ist ein wichtiger Beitrag, um den Trendzu einer immer stärkeren Flächeninanspruchnahme auf-zuhalten.Es ist aber sicherlich auch richtig, dass das Bundes-Bodenschutzgesetz in vielen anderen Bereichen nochnachgebessert und weiterentwickelt werden muss. Hierzuhat das BMU eine Reihe wichtiger Forschungsaufträgevergeben. Außerdem hat der Umweltminister in diesemSommer einen Fachbeirat „Bodenschutz“ einberufen, derDefizite im Bereich der Methodik des Bodenschutzes auf-arbeiten soll.Eines hat uns von Anfang an am Bodenschutzgesetznicht gefallen: Die alte Bundesregierung hat den Akzentfast ausschließlich auf die Beseitigung von Bodenbelas-tungen und -schäden gesetzt. Die Verhinderung von Ein-griffen und Beeinträchtigungen, die zu weiteren künftigenAltlasten führen, kommt zu kurz. Kritiker sprechen des-halb nicht ganz zu Unrecht von einem Altlastensanie-rungsgesetz statt von einem Bodenschutzgesetz.
Wir hingegen setzen uns dafür ein, dass der Vorsorgege-danke im Bodenschutz ein wesentlich stärkeres Gewichterhält; denn konsequente Vorsorge lässt oft gar keine Alt-lasten entstehen bzw. dämmt deren Entstehung ein.Bereits im Dezember 1998 hat der Bundesumweltmi-nister den Wissenschaftlichen Beirat „Bodenschutz“ ein-berufen und mit einem Gutachten zur Ausgestaltung derVorsorgepolitik beauftragt. Dieses Gutachten zum vorsor-genden Bodenschutz liegt uns nun seit einigen Monatenvor. Es enthält sinnvolle Anregungen, wie man Bodenbe-lastungen in Zukunft vermeiden kann. Zurzeit werdendiese Vorschläge im BMU ausgewertet. Viele dieser Vor-schläge reichen auch in die Geschäftsbereiche des BML,des BMBau und weiterer Ressorts hinein. Es ist unsereerklärte Absicht, den Bodenschutz in andere Politikberei-che zu integrieren; denn nur so ist ein effektiver Boden-schutz überhaupt möglich.
Gleichzeitig ist es uns außerordentlich wichtig, durchgezielte Öffentlichkeitsarbeit das Bewusstsein der Men-schen für die große Bedeutung intakter Böden im Sinneder Nachhaltigkeit zu schärfen. Ein verantwortungsvoller
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Umgang mit der Ressource Boden muss für jeden zurSelbstverständlichkeit werden.Was für den Umweltschutz allgemein gilt – dass ernicht nur als nationale Aufgabe begriffen wird, sondernder internationalen Zusammenarbeit bedarf –, gilt ganzbesonders für den Bodenschutz. Zunächst müssen wirnatürlich auf die Kooperation mit unseren europäischenNachbarn setzen. Nachdem Fragen des Bodenschutzeslange Zeit auf der europäischen Ebene weniger Beach-tung gefunden haben, wurden die Anstrengungen in denletzten Jahren intensiviert. Es gibt zahlreiche EU-Richtli-nien, zum Beispiel zum Gewässer- und Luftschutz, dieauch dem Bodenschutz zugute kommen. Ein Defizit istsicherlich das Fehlen einer spezifischen EU-Richtliniezum Bodenschutz. Die Bundesregierung hat den Hand-lungsbedarf erkannt und unterstützt die europäischenBemühungen um den Bodenschutz.Im Dezember 1998 hat das BMU unter der Schirm-herrschaft von Bundesumweltminister Trittin einenWorkshop zum Thema Bodenschutz durchgeführt. AlsErgebnis fand Ende 1999 auf Einladung der Bundesregie-rung in Berlin das erste Treffen des Europäischen Bo-denforums – es wird in Zukunft regelmäßig zusammen-kommen – statt. Ziel dieses Forums ist es, wichtigeGrundlagenarbeit zu leisten, bevor Indikatoren, Messme-thoden und Parameter innerhalb der EU harmonisiert wer-den können. Ein weiteres wichtiges Anliegen des Euro-päischen Bodenforums ist es, dem Vorsorgegedankenbeim Bodenschutz mehr Beachtung zu verschaffen.Mit unserem Antrag treten wir auch für eine Verstär-kung der internationalen Zusammenarbeit über den euro-päischen Rahmen hinaus ein. Wir berufen uns dabei aufzahlreiche internationale Vereinbarungen, zum Beispielauf das Bodenkapitel in der Agenda 21, auf die Ergebnisseder UN-Konferenz Habitat II, auf das Biodiversitätsab-kommen oder auf die so genannte Wüstenkonventionvon 1996. Es gilt, diese internationalen Abkommen tat-kräftig zu unterstützen und mit Nachdruck auf deren kon-sequente Umsetzung zu drängen. Wo nötig, muss die Ini-tiative ergriffen werden, die vorhandenen Bestimmungenauszubauen.
Hierzu möchte ich Ihnen ein Beispiel nennen: DieWüstenkonvention wird weiterentwickelt. Wenn sich imDezember dieses Jahres die Vertragsstaaten der Wüsten-konvention in Bonn treffen, soll ein neuer Anhang für denErosionsschutz in Mittel- und Osteuropa beschlossenwerden. Diese Forderung wird im Übrigen besonders vondeutscher Seite erhoben.Sie sehen also, es gibt genug internationale Vereinba-rungen und Gremien, die sich mit dem Thema Boden-schutz beschäftigen. Diese Vereinbarungen müssen aller-dings mit Leben erfüllt, die Diskussionsforen müssen zusubstanziellen Ergebnissen geführt und die vorhandenenInstrumente müssen entschlossen angewandt werden. DieBundesregierung wird durch unseren Antrag darin unter-stützt, sich für die Ausschöpfung der vorhandenenorganisatorischen Strukturen weiter einzusetzen.Was wir für die nächste Zeit allerdings nicht brauchen– damit komme ich zum Antrag der F.D.P. –, ist eine neueinternationale Vereinbarung, die Sie mit Ihrem Ruf nacheiner internationalen Bodenschutzkonvention fordern.Die bestehenden Regelungen müssen erst einmal umge-setzt werden. Die Forderung nach einer internationalenBodenschutzkonvention würde nur bedeuten, dass sichdie UN-Staaten wieder um einen großen Tisch versam-meln, um in langwierigen und mühseligen Prozessen einsolches Papier zu erarbeiten. Wir brauchen aber keinneues Stück Papier, sondern die tatkräftige Umsetzungder vorhandenen Vereinbarungen.
Dafür setzen wir uns mit unserem Antrag ein. FrauReichard von der CDU/CSU hat ihre Meinung dazu hierschon kundgetan. Wir haben die Änderungsvorschlägeder CDU/CSU-Fraktion aufgegriffen. Ich denke, dass wirso zu einem guten Ergebnis kommen.Auch am Beispiel des Bodenschutzes können Sie alsosehen, dass wir nicht nur im nationalen, sondern auch imeuropäischen und im internationalen Rahmen eine guteUmweltpolitik leisten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege
Wieczorek, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bun-
destag. Ich beglückwünsche Sie im Namen des ganzen
Hauses.
Als Letztem in dieser Debatte erteile ich das Wort dem
Kollegen Dr. Christian Ruck, CDU/CSU-Fraktion.
– Also, Herr Kollege Hinsken, den ganzen Morgen nicht
anwesend sein und dann so etwas dazwischenrufen, das
ist nicht in Ordnung!
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächstmöchte ich meine leise Bewunderung für die Redner derKoalition dafür zum Ausdruck bringen, dass sie es verste-hen, aus Taubendreck Vanillepudding zu machen, indemsie Fortschritte herbeireden, die so ja wirklich nicht zusehen sind; das gilt auch für Sie, Herr Dzembritzki.
Wir haben bereits vor einem halben Jahr in einer Aktu-ellen Stunde über das Umweltgutachten 2000 gesprochen.Schon damals haben selbst die Redner der Koalition zu-gegeben, dass dieses Gutachten kein Ruhmesblatt für die
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Jürgen Wieczorek
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bisherige rot-grüne Umweltpolitik ist und dass es zahlrei-che Versäumnisse und Fehler gibt.
Heute, ein halbes Jahr später, muss man feststellen,dass sich daran kaum etwas verbessert hat. Sie haben sichendgültig von der Schaffung eines Umweltgesetzbuchesverabschiedet. Die vollmundigen Ankündigungen einerNachhaltigkeitsstrategie – dies wollte ich eigentlich demKollegen Loske sagen; jetzt ist er leider nicht mehr anwe-send – sind zumindest bis heute im luftleeren Raum ver-pufft.Auch in der Abfallpolitik kann ich keinen Fortschrittin dem Versuch erkennen, die Kriterien zur Behandlungvon Siedlungsabfällen aufzuweichen. Was die Novellie-rung des Bundesnaturschutzgesetzes anbelangt, ist dieKarre offensichtlich im Dreck. Sie sind hierbei wiedernach dem Motto verfahren: Wie schaffe ich mir für einean sich gute Sache wie den Naturschutz möglichst vieleFeinde? Durch Ihr Vorgehen haben Sie sich Feinde beiden Ländern geschaffen, die für den Naturschutz zustän-dig sind.
Wenn die Koalition reklamieren sollte, dass die Bun-desstiftung Umwelt auch für Naturschutzzwecke Geld zurVerfügung stellt, dann kann ich nur sagen, dass dies zu-mindest ein gemeinsames Anliegen ist. Jedenfalls ist dieseine alte CSU-Idee. Ich begrüße es, dass sie endlich auf-gegriffen wurde.
Aber das wird die Probleme im Naturschutz insgesamtnicht lösen.Die Energieeinsparverordnung wird uns alle halbe Jah-re wieder für das nächste halbe Jahr angekündigt. Ich bingespannt, ob diese Ankündigung im Herbst nun tatsäch-lich umgesetzt wird.
Zum Zwangspfand: Ich finde es gut, dass der Bundund die Länder bei dieser schwierigen Angelegenheit fle-xibel waren. Aber diese Flexibilität wird man vielleichtinsbesondere dann benötigen, wenn es sich herausstellensollte, dass das Zwangspfand ein Schuss nach hinten wer-den kann. Der Zweck, für den es eigentlich gedacht war,bestand darin, ökologisch unverträgliche Materialien zuvermeiden. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass dasZwangspfand das Gegenteil bewirkt. Das trifft dann auchdie kleineren und mittelständischen Brauereien, die zumBeispiel uns Wahlkreisabgeordneten aus Bayern heiligsind.Jetzt haben Sie voller Stolz darauf hingewiesen, dassSie am 18. Oktober dieses Jahres ein Klimaschutzpro-gramm verabschiedet haben. Wir werden – das nehme ichan – in zwei Wochen eine Debatte über den Klimaschutzführen. Dabei können wir uns dann eingehend über dasFür und Wider unterhalten.Es gibt durchaus Punkte – das haben wir schon in einerPresseerklärung verkündet –, die vor allem deshalb gutsind, weil die ursprüngliche Idee von uns stammt. Aber esgibt auch Instrumente und eine Mittelausstattung, diemeiner Ansicht nach vollkommen in die falsche Richtunggehen, zum Beispiel eine Verdoppelung des KWK-Ein-satzes. Dieser Ansatz klingt zwar gut, ist aber von der Sa-che her völliger Schwachsinn.
Mit dieser Festschreibung tun Sie dieser Technologie kei-nen Gefallen. Wir sind der Meinung, dass man die KWKdann fördern sollte, wenn es wirklich sinnvoll ist, undman nicht einfach pauschal vorgehen sollte. Das wird an-sonsten genau so wie das EEG enden, nämlich mit einergigantischen Verheizung von Steuerzahlergeldern ohnegroßen ökologischen Effekt. Insgesamt befürchten wir,dass es mit dem Klimaschutzprogramm nicht gelingenwird, die Klimaschutzverpflichtungen Deutschlands zuerfüllen. Das schwächt unsere Position in der internatio-nalen Politik.Das Gutachten über die globalen Umweltrisiken – FrauReichard hat schon darauf hingewiesen – rückt die Maß-stäbe wieder ein wenig zurecht. Wir haben in den letztenJahren und Jahrzehnten in Deutschland mit einer gutenUmweltpolitik die größten Probleme gerade im Bereichvon Luft und Wasser vom Tisch bekommen.
Herr Kol-
lege Ruck, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Bulling-Schröter?
Jawohl.
Bitte
schön, Frau Bulling-Schröter.
Sie haben gerade aus-
geführt, dass Sie die Förderung der KWK nicht für sinn-
voll, sondern, im Gegenteil, für schädlich halten. Mich in-
teressiert jetzt im Detail, wieso. Ich habe das nicht
verstanden. Die KWK ist eine Brückentechnologie. Sie
wird technologisch gefördert. Sie ist effizient. Die Um-
weltverbände sprechen sich für KWK aus.
– Ja, sie schafft auch Arbeitsplätze. Wir sind uns in vielen
Punkten einig.
Ich verstehe Ihre Argumente nicht, Herr Ruck; denn die
Alternative ist sicherlich billiger Atomstrom. Ich denke,
dass auch bei der KWK durch die Fernwärme ökologische
Aspekte wirklich sehr gefördert werden.
Ich gebe IhnenRecht, dass sich SPD und PDS in diesem Punkt nahtlosergänzen.
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Dr. Christian Ruck12165
Ich habe nur sieben Minuten Zeit; deswegen bin ich dank-bar, dass ich jetzt die Gelegenheit habe, das Ganze einbisschen näher auszuführen.Kraft-Wärme-Kopplung ist nur dann sinnvoll, wenndie Wärme auch abgenommen wird und der Strom keineÜberkapazitäten auf dem Markt bewirkt. Sie haben dasStichwort Eon genannt. Wir haben auf dem Stromsektorim Moment wirklich Überkapazitäten
und haben im Wärmebereich große KWK-Anlagen, dievöllig für die Katz arbeiten.
– Herr Müller, Moment! – Deswegen sind wir dafür– auch das können wir in zwei Wochen noch vertiefen –,KWK dort zu fördern, wo wir die Einführung von Inno-vationen bewirken,
die neue Technologie vorwärts bringen können
– Herr Müller, Sie haben keine Ahnung – und eine Situa-tion haben, in der die Wärmeerzeugung sinnvoll abge-nommen werden kann. Es ist doch völlig sinnlos, neueTechnologien zu fördern, wenn die Wärme in den Ätherverpufft.
– Herr Müller und Herr Kubatschka, in zwei Wochensprechen wir uns wieder.
Ich will nur verhindern, dass wir mit einer technolo-gisch vollkommen überflüssigen Förderungsaktion das-selbe erleben wie zum Beispiel bei der Photovoltaik, wowir Milliarden Steuer- und Stromgelder der Bürger sinn-los verschleudern, – einfach für die Katz.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auf den in-ternationalen Bereich zurückkommen. Die Vielfalt derSchöpfung ist auf dramatische Weise bedroht; darauf hatFrau Reichard schon hingewiesen. In dieser Situation, diewesentlich dramatischer ist als unsere Umweltproblemein Deutschland, gibt es eigentlich nur eine Gegenstrate-gie, nämlich mit Entschlossenheit und überzeugendenKonzepten etwas zu bewegen.Ich möchte einem Eindruck widersprechen, der besagt,die früheren Bundesregierungen hätten in dieser Hinsichtnichts getan. Das Gegenteil ist der Fall. Früher – unterBundeskanzler Kohl und seinen Umwelt- und Entwick-lungsministern – war genau dieser Bereich Chefsache. Erwurde in die Machtzentren der internationalen Politik ein-geführt,
sehr zur Verblüffung unserer damaligen Verbündetenbzw. unserer damaligen G-7-Partner, die sich gewunderthaben, was Tropenwaldschutz und Treibhauseffekt be-deuten. Es waren der damalige Bundeskanzler und diedamaligen Kabinettsmitglieder, die diesen Themen erstzum Durchbruch verholfen haben.
Jetzt hat sich ausgerechnet die rot-grüne Bundesregie-rung von der Ökologisierung der internationalen Politikverabschiedet. Für Kanzler Schröder und den grünenAußenminister Fischer ist die weltweite Erhaltung derSchöpfung doch längst kein Thema mehr; nicht einmalmehr für die eigenen Umwelt- und Entwicklungsprojekte,die im Feuer stehen, gibt es Rückendeckung von oben.
Herr Kol-
lege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Jawohl.
Entgegen allen Lippenbekenntnissen wurde der Ent-
wicklungshaushalt, der als Einziger etwas bewegen kann,
um inzwischen fast 1 Milliarde DM abgemeiert. Gerade
der Umwelt- und Ressourcenschutz wird weiter zusam-
mengestrichen. Das ist die Realität rot-grüner Politik.
Im Zusammenhang mit Ökosteuer oder EEG betreiben
Sie eine Umweltpolitik, die mit dem geringsten ökologi-
schen Effekt und den höchsten ökonomischen Kosten die
Menschen am meisten ärgert. Das ist das Ergebnis von
zwei Jahren rot-grüner Umweltpolitik: Wir spielen inter-
national keine Rolle; Umweltschutz wird national zum
Ärgernis. Das ist genau das Gegenteil einer guten Um-
weltpolitik.
Ichschließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 14/2834, 14/3285, 14/3363 und14/3814 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? –Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-schlossen.Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 4 e, Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit auf Drucksache 14/3711. Der Aus-
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Dr. Christian Ruck12166
schuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung,den Antrag der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grü-nen zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zur Stär-kung des Schutzes der Böden auf Drucksache 14/2567 inder Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Enthaltungen? – Gegenstim-men? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmenaller Fraktionen mit Ausnahme der F.D.P.-Fraktion ange-nommen.Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschluss-empfehlung, den Antrag der Fraktion der F.D.P. zur Erar-beitung einer internationalen Bodenschutzkonvention aufDrucksache 14/983 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men der SPD, der CDU/CSU und der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der F.D.P.-Fraktionund Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.Zusatztagesordnungspunkt 4:Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/4395 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 e sowie denZusatzpunkt 5 auf:Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ein-führung des Euro im Sozial- und Arbeitsrechtsowie zur Änderung anderer Vorschriften
– Drucksachen 14/4375, 14/4388 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für GesundheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zurÄnderung des Gesetzes zur Verbesserung derbetrieblichen Altersversorgung– Drucksache 14/4363 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnungc) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung des Übereinkommens zum Schutzder Meeresumwelt des Nordostatlantiks
– Drucksache 14/3949 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesend) Erste Beratung des von den AbgeordnetenChristina Schenk, Christine Ostrowski, MonikaBalt, weiteren Abgeordneten und der Fraktionder PDS eingebrachten Entwurfs eines ... Geset-zes zur Änderung des Dritten Buches Sozial-
– Drucksache 14/3227 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugende) Beratung des Antrags der AbgeordnetenHildebrecht Braun , Rainer Brüderle,Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der F.D.P.Für eine vertiefte Partnerschaft zwischenRussland und der EU– Drucksache 14/811 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP 5 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-fahrenBeratung des Antrags der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENWeiterentwicklung der sozialen Pflegeversi-cherung– Drucksache 14/4391 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
HaushaltsausschussInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Die Vorlage auf Drucksache 14/4388 soll andieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksa-che 14/4375 überwiesen werden. Sind Sie damit einver-standen? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungenso beschlossen.Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 26 abis 26 h. Dabei handelt es sich um die Beschlussfassungzu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 a auf:Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Abkommen vom 7. Sep-tember 1999 zwischen der BundesrepublikDeutschland und der Republik Usbekistan zurVermeidung der Doppelbesteuerung auf demGebiet der Steuern vom Einkommen und vomVermögen– Drucksache 14/3465 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 14/4207 –Berichterstattung:Abgeordneter Jochen-Konrad Fromme
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms12167
Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache14/4207, den Gesetzentwurf anzunehmen. Wir kommenzurzweiten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf istdamit einstimmig angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 b auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Hildebrecht Braun , Rainer Brüderle,Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und derFraktion der F.D.P.Für eine sofortige Verhängung umfassenderHandelssanktionen gegen Jugoslawien– Drucksachen 14/793, 14/4205 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Eberhard BrechtErich G. FritzRita GrießhaberUlrich IrmerWolfgang GehrckeDer Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksa-che 14/793 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist damit einstim-mig angenommen.Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Peti-tionsausschusses.Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 c auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 201 zu Petitionen– Drucksache 14/4278 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 201 ist einstimmig ange-nommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 d auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 202 zu Petitionen– Drucksache 14/4279 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 202 ist mit den Stimmenaller Fraktionen mit Ausnahme der PDS-Fraktion, die sichenthalten hat, angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 e auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 203 zu Petitionen– Drucksache 14/4280 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Sammelübersicht 203 ist mit dem gleichenStimmenverhältnis wie zuvor angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 f auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 204 zu Petitionen– Drucksache 14/4281 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Sammelübersicht 204 ist mit den Stimmen derFraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, derF.D.P. und der PDS bei Gegenstimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 g auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 205 zu Petitionen– Drucksache 14/4282 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Sammelübersicht 205 ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der PDS bei Gegenstimmen vonCDU/CSU und F.D.P. angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 h auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 206 zu Petitionen– Drucksache 14/4283 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Sammelübersicht 206 ist mit den Stimmenaller Fraktionen bei Enthaltung der PDS angenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der F.D.P.Haltung der Bundesregierung zur Forderungvon Bundesverkehrsminister Klimmt, die Öko-steuer im Jahr 2003 zu beendenIch eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeJürgen Koppelin von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! In wenigen Wochen, im Januar2001, wird die Ökosteuer erneut angehoben. Dann wirdsich das Mineralöl erneut verteuern und die Energiekostenwerden wieder steigen und das alles staatlich verordnet.Da die Bürgerinnen und Bürger bereits jetzt die Belastun-gen durch die Ökosteuer kaum noch tragen können unddas Abkassieren der rot-grünen Koalition kaum noch er-tragen können – gestern sind die Mineralölpreise wegen
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms12168
des niedrigen Euro noch einmal um 4 Pfennig gestie-gen –, war es nach meiner Meinung gut, dass sich derBundesverkehrsminister zu Wort gemeldet hat, und zwarsehr eindeutig. Ich bedaure ausdrücklich, dass der Bun-desverkehrsminister an der heutigen Debatte anscheinendnicht teilnimmt. Ich muss deshalb davon ausgehen, dassihm inzwischen ein Redeverbot erteilt worden ist; dennansonsten würde er sich eine solche Gelegenheit dochnicht entgehen lassen.
Für diejenigen, die nicht mitbekommen haben, was derBundesverkehrsminister gesagt hat, möchte ich es gernwiederholen. Der Bundesverkehrsminister Klimmt sagte,wenn es nach ihm ginge, wäre es mit der Ökosteuer imJahre 2003 Sense. Dann legt er nach und sagt wörtlich:Im Januar 2003 haben wir dann den Benzinpreisfünfmal um 6 Pfennig verteuert. Damit ist der Punkterreicht, an dem Schluss sein muss.Damit hat er noch niedrig gestapelt; denn er hat die Mehr-wertsteuer, die jedesmal hinzukommt, noch gar nichtberücksichtigt. Aber er hat Recht: Es muss endlichSchluss mit den Verteuerungen sein.
– Hören Sie mir doch zu! Sie haben später noch Gelegen-heit, etwas zu sagen. Ich kann Ihnen auch sagen, was wirfür die Bahn getan haben. Das ist doch Ihre alte Leier.Er fügte ausdrücklich hinzu, dies sei nicht nur seinepersönliche, sondern auch die offizielle Meinung desBundesverkehrsministers. Ich würde gern wissen, was derBundeskanzler dazu sagt, wenn sich ein Minister seinesKabinetts öffentlich so äußert!
Auf die Frage der Zeitung, ob er für seine Haltung aucheine Mehrheit innerhalb der SPD habe, antwortete derBundesverkehrsminister wörtlich:Ich habe den Eindruck, dass ich vielen in der SPD-Fraktion aus dem Herzen gesprochen habe.Die Reaktion aus der Koalition kam prompt. SPD-Fraktionschef Struck sagte, über die Fortsetzung und überdas Ende der Ökosteuer werde die SPD bei der Erarbei-tung ihres Wahlprogramms entscheiden. FraktionsvizeMüller kritisierte den Bundesverkehrsminister mit denWorten, es sei völlig überflüssig, jetzt eine Diskussionüber die Ökosteuer zu beginnen. Was lernt die deutscheBevölkerung daraus? Es darf in der Politik nicht sein, wasnicht vorher im SPD-Programm festgelegt worden ist. DieKonsequenz daraus ist: Alle müssen so lange warten, bisdie SPD ihr Programm fertig hat. Dass die Grünenentsprechend reagiert haben, weil sie sowieso für das Ab-kassieren sind, sei hier nur am Rande erwähnt.
Wir Freien Demokraten unterstützen den Bundesver-kehrsminister in seiner Aussage
– da Sie so laut sind, wiederhole ich sie gern –: Mit derÖkosteuer muss Sense sein!Allerdings sagen wir dem Bundesverkehrsminister, der– ich sage es noch einmal – leider an der Debatte heutenicht teilnimmt – ich weiß nicht, warum er kneift –: Nichtim Jahre 2003 muss Schluss sein, sondern jetzt und sofort.
Die Ökosteuer, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist einDrama der Unvernunft. Sie sieht so aus: Erstens. Wirkli-che Energiegroßverbraucher bleiben verschont. Zweitens.Die Ökosteuer sorgt für eine bescheidene Senkung derRentenversicherungsbeiträge, aber dafür zahlen Rentner,Arbeitslose, Azubis, Studenten, Freiberufler, Landwirteerheblich drauf, obwohl sie überhaupt nicht entlastet wer-den, nicht davon profitieren.
Und wie erklärt die Koalition eine Ökosteuer, bei derumweltschädliche Energieträger wie Kohle Ökosteuer-freiheit genießen? Das haben Sie uns bisher noch nicht er-klärt. Sie haben auch nicht erklärt, warum Sie die Berufs-pendler besonders bestrafen. Auch das alles haben Sie unsnicht erklärt.Die Logik der rot-grünen Koalition lautet: Je mehrEnergie verbraucht wird, vor allem Benzin, umso besserfür die Rente. Das ist Ihre Logik. Zu Recht haben indiesen Tagen die sechs führenden deutschen Wirt-schaftsinstitute erklärt, dass das Konzept der Koalition,die Einnahmen aus der Ökosteuer zur Senkung der Ren-tenbeiträge zu nutzen, falsch sei. Sehr richtig, können wirda nur sagen.
– Entschuldigung, aber Ihr Konzept ist total falsch. Siekleben irgendwo das Schild „Ökosteuer“ drauf und sagen,das, was Sie machen, sei toll.
Über die Ökosteuer kann man sich ja unterhalten.
– Natürlich, das haben wir doch immer gesagt. Lesen Siedoch die Programme nach! – Aber Ihr Konzept ist dochtotal falsch.
Wir können die Aussagen des Bundesverkehrsmini-sters gut verstehen; denn er will sich endlich aus dem Jochder Grünen – der „ergrauten“ Grünen, muss man ja sa-gen – befreien.„Ich habe den Eindruck, dass ich vielen aus der SPD-Bundestagsfraktion aus dem Herzen gesprochen habe“,hat der Bundesverkehrsminister gesagt. Liebe Kollegin-nen und Kollegen aus der SPD, lassen Sie nicht nur die
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Herzen sprechen, lassen Sie endlich einmal den Verstandsprechen und schaffen Sie die Ökosteuer in der Form, wieSie sie geschaffen haben, ab! Die Bürger würden es Ihnendanken.Sie haben eine Wagenburgmentalität, indem Sie zurÖkosteuer stehen, sie mit Zähnen und Klauen verteidigen.Aber Sie wissen ganz genau, dass Sie das nicht durchhal-ten.Bundesverkehrsminister Klimmt hat gesagt, die Öko-steuer müsse im Jahre 2003 abgeschafft werden. Wir sa-gen: Nicht 2003, jetzt muss Schluss sein! Die Belastungder Bürger ist zu groß, sie ist nicht mehr zu tragen.Vielen Dank für Ihre Geduld.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Ludwig Eich von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Herr Kollege Koppelin, ich würde gern eineTickermeldung zitieren, die ganz frisch hereingekommenist. Dort heißt es:Der frühere Bundesumweltminister Klaus Töpfer,CDU, erneuerte seine Kritik an der CDU-Kampagnegegen die Ökosteuer.
Es sei nicht sinnvoll, die Ökosteuer als K.-o.-Steuerzu bezeichnen, sagte der Exekutivdirektor des Um-weltprogramms der Vereinten Nationen der Ham-burger Wochenzeitschrift „Die Zeit“.Ich denke, einen unverdächtigeren Zeugen kann mannicht nennen. Das, was Sie tun, ist bloße Polemik und hatmit Sachargumentation nichts zu tun.Die Bürgerinnen und Bürger kennen die Gründe für diehohen Benzinpreise. In erster Linie sind sie durch diestark gestiegenen Rohölpreise begründet.
Das wissen Sie auch, aber dennoch bemühen Sie sich, ei-nen anderen, einen völlig falschen Eindruck zu vermit-teln. Sie wollten eine Volksfront gegen die Ökosteuer or-ganisieren,
ohne Visionen und ohne jedes Konzept. Das ist wirklichdanebengegangen. Die Zustimmung für Rot-Grün wächst.Das ist das Ergebnis.
Obwohl die Mineralölsteuer nie stärker angehobenwurde als durch Union und F.D.P., polemisieren Sie gegensie. Gegenläufige Effekte, zum Beispiel Senkung derBeiträge für die Rente, ignorieren Sie völlig. Allein dieSenkung der Lohnnebenkosten entlastet Arbeitnehmerund Arbeitgeber enorm und die Entlastung ist in vielenFällen viel größer als das, was an Belastung auftritt. Sievon Union und F.D.P. haben die Lohnnebenkosten in den90er-Jahren sträflich nach oben wachsen lassen und Siehaben damit der Wettbewerbsfähigkeit der deutschenWirtschaft geschadet.
Das muss man Ihnen doch einmal sagen.Sie haben über den Wirtschaftsstandort Deutschlandnur geredet, nein, Sie haben ihn schlecht geredet. Das sinddie Fakten.
Wir, Rot-Grün, machen Politik für den Standort Deutsch-land. Dazu gehört eben auch, die Lohnnebenkosten zusenken.
Viel schlimmer ist es aber, dass Sie die Menschen glau-ben machen wollen, man könne vor der Verknappung derÖlvorkommen einfach die Augen zumachen. Sie er-wecken den Eindruck, man müsse den Treibhauseffektnur lange genug ignorieren, dann würde er von selber ver-schwinden. Sie suggerieren, es gebe ein Grundrecht aufbillige Energie oder subventionierte Mobilität. Ihre Bot-schaft ist: weniger Verantwortung und mehr Vollgas.
In welchem Kontrast steht das alles zur Forderung vonFrau Merkel, den Spritpreis jedes Jahr um 5 Pfennig zu er-höhen! Im Jahr 1998 sagte Frau Merkel im Bundestag: Ichwill ganz klar sagen, Deutschland bleibt bei seinem na-tionalen 25-prozentigen Minderungsziel für Kohlendio-xid zwischen 1990 und 2005. Frau Merkel hat natürlichRecht. Aber warum polemisiert sie gegen die Ökosteuer?Wo bleibt die ökologische Verantwortung, die sie als Um-weltministerin hatte? Die Ökosteuer ist ein wichtiges Zielzur Reduzierung von CO2. Wir müssen das einlösen, wasFrau Merkel unterschrieben hat. Das ist der Fakt. Mit Ih-rer Verdummungsstrategie zeigen Sie jedenfalls wenigVerantwortung für Natur und Umwelt. Sie sind die Ben-zinpreispopulisten dieses Landes. Sie spielen den Öl-multis in die Hände. Das ist die Politik, die Sie heute dar-stellen.
Statt mitzuhelfen, unabhängiger vom Öl zu werden,werfen Sie dieser Regierung, die große Anstrengungen imBereich der Energiepolitik macht, Knüppel zwischen dieBeine. Was haben Sie denn als Politik „weg vom Öl“ ge-leistet? Wo ist Ihr 100 000-Dächer-Programm gewesen?Fehlanzeige! Rot-Grün macht eine Politik „weg vom Öl“erst möglich. Die Ökosteuer ist dabei ein Fortschritt.Der Chef der Deutschen Bahn AG, Herr Mehdorn, sagt,der Ansatz der Ökosteuer ist richtig. Der Chefvolkswirtder Deutschen Bank, Herr Walter, ist für eine schrittweiseAnhebung der Benzinpreise. Die Wirtschaftsweisen sa-
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gen in ihrem Gutachten, dass die Ökosteuer beibehaltenwerden soll.
Viele europäische Staaten gehen den gleichen Weg. DieZeitschrift „max“, Herr Kollege Koppelin, hat den Sinnder Ökosteuer einfach vorgerechnet: Wer 1000 Kilometerim Monat fährt und im Schnitt 8 Liter braucht, zahlt an derTankstelle 11,20 DM mehr. Das heißt, er braucht nur zweiKilometer weniger zu fahren und hat die Kosten der Öko-steuer wieder heraus. Das ist das einfache Konzept derÖkosteuer.
Meine Damen und Herren, die Wahrheit ist, die Öko-steuer schafft Arbeitsplätze, sie senkt die Rentenbeiträgeund damit die Lohnnebenkosten, und sie hilft langfristigder Umwelt. Das macht uns in Deutschland zukunfts-fähig. Das macht uns alle – das ist wichtig – zu Gewin-nern, vor allem macht sie unsere Kinder und Kindeskin-der zu Gewinnern.
Herr Kol-
lege Eich, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss, Herr
Präsident! Rot-Grün macht diese Politik, weil wir nicht
vergessen haben, dass auch nach uns noch Menschen le-
ben wollen.
Als
nächster Redner hat der Kollege Hans Michelbach von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter HerrPräsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Eswird immer wahrer: Das rot-grüne Ökosteuermärchen hatwirklich kein Happy End. Das unlogische Abkassiermo-dell ist überall gescheitert. Die Verbraucher empfinden esals preistreibend und unsozial, die Wirtschaft empfindetes als wettbewerbsverzerrend, ungerecht und kostenbe-lastend. Das rot-grüne Ökosteuermärchen ist damit einPreistreibermodell, eine finanzpolitische Missgeburt undletzten Endes auch ein Arbeitsplatzvernichtungspro-gramm. Dies haben wohl auch die SPD-Minister Eichelund Klimmt nach zugegebenermaßen längerer Lernphasebemerkt.
Herr Eichel sieht jetzt die Verbindung von Ökosteuerund Rentenversicherung als Fehler an. Herr Klimmtmöchte ab 2003 mit der Ökosteuer Schluss machen. An-schließend pfiff der Kanzler seinen Minister wiederzurück. Er sagte: „Es bleibt bei dem, was wir vereinbarthaben.“ Die Antwort aus dem Finanzministerium: „Eingravierender strategischer Fehler des Kanzlers.“ HerrKlimmt hat jetzt völliges Redeverbot.Meine Damen und Herren, die rot-grüne Koalition willalso mit Durchhalteparolen am Ökosteuermärchen fest-halten. Das zeigen das steuerpolitische Chaos und die lee-ren Versprechungen der rot-grünen Bundesregierung. Wiebei dem Rentenversprechen des Jahres 1998 ist Bundes-kanzler Schröder auch bei der so genannten Ökosteuerwortbrüchig geworden.Ich zitiere wörtlich aus dem „Spiegel“ vom 26. Oktober1998:Ich bedauere auch, dass der eine oder andere zehnMark im Monat mehr fürs Autofahren, fürs Heizen,fürs Gas zu zahlen hat. Aber mehr sind es dann auchnicht im ungünstigsten Fall. Bei sechs Pfennig istEnde der Fahnenstange.Schröder weiter:Wir wollen auch aus Gründen der Wettbewerbs-fähigkeit die Energiebesteuerung nicht im nationalenAlleingang machen.Meine Damen und Herren, die Widersprüchlichkeitzwischen Worten und Taten zeigt doch deutlich auf, dassein Bundeskanzler zum Ökosteuer-Märchenerzählerwird.
Dies geht nach der Devise: Das arme, Ökosteuer zahlendeVolk wird zum Narren gehalten. Oder nach der neuen De-vise: Gas geben für die Rente. Hier gibt es keine Volks-front, allenfalls eine gegen Narretei und politischen Un-fug. Deswegen müssen wird deutlich machen, dass dieÖkosteuer gescheitert ist, dass sie unlogisch ist und letz-ten Endes einen falschen Weg weist.
Meine Damen und Herren, folgende Fakten sind fest-zuhalten: Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Rea-lität bei der Ökosteuer wird immer größer. Die ökologi-sche Erneuerung und Entlastung der Arbeit haben Sie sichgroßsprecherisch auf die Fahne geschrieben. SteigendeEnergiekosten sollten zu mehr Umweltschutz und zurVerbilligung der Arbeit führen. Realität aber ist, dass kei-nes der Ziele erreicht wird: weder Umweltschutz nochwesentliche Lohnnebenkostensenkungen oder gar posi-tive Arbeitsplatzeffekte. Stattdessen wirkt sich die Öko-steuer nachteilig für Wachstum und Beschäftigung aus.
Der Spielraum für Umweltinvestitionen der Wirtschaftwird dadurch weiter eingeschränkt.Faktum ist: Die so genannte Ökosteuer ist kein geeig-netes Mittel, um die strukturellen Finanzierungsproblemeder gesetzlichen Rentenversicherung dauerhaft zu lösen.Trotz Einführung der so genannten Ökosteuer, die auchdiejenigen belastet, die nicht an der Beitragssenkung teil-haben können, und zugleich die Wettbewerbsfähigkeitdes Standortes Deutschland beschädigt, belaufen sich dieSozialversicherungsbeiträge im Jahr 2000 auf über
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41 Prozent. Vom Ziel 38 Prozent sind Sie meilenweit ent-fernt.
Dies wird umso dramatischer bei zunehmend stärker stei-genden Ölpreisen und abgeschwächter Konjunktur.Meine Damen und Herren, obwohl diese Rahmenbe-dingungen gegen Steuererhöhungen sprechen, damit dieBinnenkonjunktur nicht abgewürgt wird, stehen aufgrundder Beschlüsse der rot-grünen Koalition den Bürgern undder Wirtschaft weitere Steuererhöhungen bevor.
Die Wachstumspotenziale werden durch den Kaufkraft-schwund weiter bedroht. In acht Wochen sollen weitere7 Pfennig Benzinverteuerung pro Liter hinzukommen.Anderenfalls, so sagen Sie, findet eine Mehrwertsteuerer-höhung statt, über die in Ihren Kreisen im Moment ja be-sonders nachgedacht wird. Sagen Sie hier deutlich, ob Siedie Ökosteuer weiter erhöhen oder ob Sie im Bereich derMehrwertsteuer eine neue Steuererhöhungsvariante insAuge fassen. Letzten Endes hat diese rot-grüne Koalitionimmer an der Steuerschraube gedreht.
Unter dem Strich haben wir jetzt eine Steuerquote von22,6 Prozent. Wir haben in diesem Land nicht wenigerSteuerbelastung, sondern mehr Steuerbelastung. Das istnicht zuletzt auf Ihre Ökosteuer zurückzuführen, die ge-gen Wachstum und Beschäftigung gerichtet ist.Vielen Dank.
Alsnächster Redner hat der Kollege Albert Schmidt vomBündnis 90/Die Grünen das Wort.Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Ich muss ehrlich sagen: Mir fällt in dieser Debattenicht mehr viel ein. Sie ödet nur noch an.
Es ödet an, welchen Klamauk Sie veranstalten und mitwelcher Verantwortungslosigkeit Sie über ein Thema wiedie Zukunft unserer Energieversorgung und die adäquatensteuerpolitischen Instrumente reden, die diese Zukunft si-chern sollen.
Nun haben Sie endlich wieder einen Strohhalm gefun-den, der Ihnen einen Vorwand zur x-ten Neuauflage die-ser Debatte liefert.
– Doch, der Strohhalm heißt in diesem Fall ReinhardKlimmt.
– Ich habe nicht gesagt, er ist ein Strohmann, sondern ichhabe gesagt, er ist ein Strohhalm.Herr Klimmt soll gesagt haben – Herr Koppelin hat eseben am Ende seiner Rede behauptet –, man solle, so sinn-gemäß, die Ökosteuer ab 2003 abschaffen. Lieber HerrKoppelin, das hat er nicht gesagt.
Herr Kollege Klimmt hat gesagt, er sei der Meinung, dasses ab 2003 keine weiteren Erhöhungsschritte geben solle.Das ist eine andere inhaltliche Aussage und das möchteich richtig stellen.
– Ich vertrete die Bundesregierung nicht; die Bundesre-gierung wird das Wort nachher selbst ergreifen.Jetzt stellt sich die Frage: Ist es richtig oder falsch,Ende des Jahres 2000 eine solche Aussage zu treffen? Ers-tens ist es gefährlich, sich als Minister – er hat nämlich ge-sagt, dann sei Sense mit weiteren Erhöhungen – zum Sen-senmann zu machen; darüber kann man böse stolpern.
– Sense, Sensenmann. Deswegen sage ich nicht „Stroh-mann“, sondern „Sensenmann“. – Zweitens halte ich esfür falsch, sich die Frage zu stellen, wie die Ausgestaltungdes Instrumentes Ökosteuer nach 2003 aussehen soll. Dasist deshalb unsinnig, weil niemand von uns, weder Sienoch ich, heute wissen kann,
wie dann die Preise am Markt aussehen, wie die wirt-schaftliche Lage aussieht oder wie sich die Energiewirt-schaft exakt entwickelt. Darüber sollte sinnvollerweisedann gesprochen werden,
wenn es aktuell ist.Eines aber wissen wir sehr gut: Der Grundsatz, dieEnergiekosten planvoll und berechenbar zu erhöhen unddie Arbeitskosten ebenso planvoll und berechenbar zu
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Hans Michelbach12172
senken, ist heute richtig und selbstverständlich auch nach2003 noch richtig.
Das Langzeitexperiment mit niedrigen Energiekosten undhohen Sozialabgaben ist in den 16 Jahren Ihrer Regie-rungszeit gelaufen. Die niedrigen Energiekosten haben zuEnergieverschwendung geführt, die hohen, zuletzt er-drückend hohen, Sozialabgaben – sie wurden während derAmtszeit von Kohl um 10 Prozentpunkte erhöht – habenzu stagnierenden Nettolöhnen und mehr Arbeitslosigkeitgeführt. Dieses Experiment ist in diesem Land ausrei-chend lange exerziert worden;
das Ergebnis kennen wir alle.Jetzt machen wir es einmal andersrum. Jetzt sollen dieEnergiekosten planvoll und berechenbar steigen und dieArbeitskosten auf niedrigem Niveau stabilisiert werden.Dafür werden wir sorgen. Das bedeutet auch, dass sich diePerspektive, die Chancen für die effizienten und erneuer-baren Energien zu verbessern und eine Markteinführungdieser Techniken zu beschleunigen, die sich schon heuteabzeichnet, in den nächsten Jahren weiter verstärken wirdund dass zugleich die Arbeitslosigkeit sinken wird. DieserGrundsatz ist und bleibt richtig.Wenn Sie hier eine instrumentenfixierte Debatteführen, die allmählich an psychopathologische Zwangs-fixierungen erinnert,
dann zeigt das nur, dass Sie bis zum heutigen Tag über-haupt nicht begriffen haben, um was es geht. Sie dekla-rieren das Ganze immer nur als ein Belastungsszenario.Begreifen Sie um Himmels willen endlich: Die Schwan-kungen der Ölpreise, zuletzt die Entwicklung der letztenTage in der Folge des Nahost-Konfliktes, sind eine unge-heure Chance! Das ist die Jahrhundertchance, jetzt end-lich mit einer Energiewirtschaft Ernst zu machen, die vomÖl, von den fossilen Brennstoffen weg und hin zu derganzen Palette der erneuerbaren Energien führt.Wir haben die ersten Schritte auf diesem Weg umge-setzt. Sie haben regelmäßig dagegen gestimmt, ob es dasProgramm für die erneuerbaren Energien, das 100 000-Dächer-Programm, das Erneuerbare-Energien-Gesetz,die ökologische Steuerreform oder die verkehrsmittelun-abhängige Entfernungspauschale war. Begreifen Sie end-lich: Das sind alles Instrumente! Das Ziel ist etwas ande-res. Das Ziel ist, unsere Energiewirtschaft endlichzukunftsfähig zu machen. Wenn Sie nur einen Bruchteildessen, was wir schon nach zwei Jahren auf den Weg ge-bracht haben, in 16 Jahren wenigstens angefangen hätten,würden wir heute über die Preiserhöhung um 4 Pfennigvon gestern nur müde lächeln, weil wir sie gar nichtspüren würden, weil wir nämlich mit weniger Treibstoffviel weiter fahren könnten.Dass wir unser Ziel erreichen – dafür werden wir sor-gen. Sie können weiter in Ihren Schützengräben bleiben.Ich wünsche Ihnen dabei viel Vergnügen. Aber verscho-nen Sie uns bitte künftig mit diesem öden Klamauk!
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Barbara Höll von
der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Ich muss sagen: Der Politikstil,Herr Koppelin, den die F.D.P. hier an den Tag legt, dernervt einfach.
Seit drei Wochen in jeder Sitzungswoche eine Debatte zurÖkosteuer –
und wir haben sowohl von Ihnen als auch von den Christ-demokraten nichts anderes gehört als: nein, nein, nein!
Ich denke, Politik sollte doch einen gewissen Outputproduzieren, politische Diskussion als Wettstreit von ver-schiedenen Möglichkeiten zur Lösung anstehender ge-sellschaftlicher Probleme, zur Lösung der Probleme vonBürgerinnen und Bürgern.Wir haben ein Grundproblem in dieser unserer heuti-gen Zeit: dass die Ressourcen tatsächlich immer knapperwerden und die Bürgerinnen und Bürger dafür auch einVerständnis entwickelt haben. Die Frage ist aber: Wiekann man dieses Problem lösen – sozial gerecht undtatsächlich ökologisch wirksam?Eine billige Stimmungsmache, die nur dazu dienensoll, die Ökosteuer, den richtigen Gedanken des ökologi-schen Umsteuerns zu diskreditieren, das ist wirklich ein-fach billig und steht unserem Hohen Hause nicht an. Da-mit verweigern Sie sich auch der Lösung von Problemen.Sie bringen hier keinen einzigen konzeptionellen Ansatz.
Letztlich ist das nur eine Frage der Fortsetzung von16 Jahren Regierungspolitik: „weiter so“, „weiter so“,„weiter so“. Was schert uns die internationale Verpflich-tung, die die Bundesregierung eingegangen ist, denCO2-Ausstoß zu verringern? Was schert es uns, dass dieIndustrie alles andere als gewillt ist umzusteuern? Ichmuss fragen, Herr Schmidt: Was schert es uns eigentlichauch, dass sich das Leben immer so weiterentwickelt? Ichwill in fünf Jahren nicht unbedingt für weniger Geld wei-ter fahren können. Ich will, dass Wohn- und Arbeitsortwieder zusammengeführt werden,
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Albert Schmidt
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und ich will im öffentlichen Nahverkehr Angebote haben,die ich benutzen kann, damit ich nicht auf mein Auto an-gewiesen bin, wenn ich zum Beispiel auf dem Dorfwohne.
Das sind die Fragen, die anstehen.Richtigerweise muss ich aber natürlich auch sagen: DieVorlage für Ihre Kampagne hat Ihnen leider die rot-grüneRegierungskoalition geboten, indem sie eine schlechteÖkosteuer vorgelegt hat, die wirklich weder ökologischwirksam ist noch sozial gerecht.
Wenn man ein ökologisches Umsteuern tatsächlichwill, kann man nicht einfach nur eine Verbrauchsteuerer-höhung durchführen und dieser Erhöhung das Etikett auf-kleben: „Das ist jetzt ökologisch“.Wenn ich die Bevölkerung dafür gewinnen will, dasssie mitgeht, dann ist zumindest Voraussetzung, dass dasGeld tatsächlich zum ökologischen Umbau eingesetztwird. Die Probleme stehen doch an: Wir diskutieren hierüber die Ökosteuer und gleichzeitig verkündet HerrMehdorn, dass er die Interregio-Strecken einfachschließen will bzw. diese Strecken locker in die Ver-antwortung der Länder übergibt. Sollen sie doch sehen,wie sie damit zurechtkommen.
Sie können keine Verteuerung des Umweltverbrauchsangehen, ohne den Bürgerinnen und Bürgern gleichzeitigmachbare Alternativen anzubieten. So herum muss derWeg gehen. Dann hat auch eine billige Kampagne von derrechten Seite dieses Hauses keine Chance auf Verwirkli-chung.
Ich muss auch sagen: Es ist notwendig, so etwas vonAnfang an sozial gerecht zu machen.
Die CDU hat in der vorigen Woche ganz klar gesagt,dass sie gar gegen die Verkehrsmittelunabhängigkeit derEntfernungspauschale ist. Es ist ja ein erster kleinerSchritt, dass wir das nun hier im Haus beschließen wer-den.
Aber es geht nicht an, dass man bei einer Ökosteuerinsbesondere die Konzerne netto noch um 2,2 Mil-liarden DM entlastet, die Großverbraucher von Energie.Das kann ja wohl nicht angehen!
Denn dieses Geld wird ja letztlich von den Bürgerinnenund Bürgern geholt – und auch von Arbeitslosen, vonRentnerinnen und Rentnern, von Studentinnen und Stu-denten, die nicht einmal die kleinste Gegenfinanzierungdurch die Senkung der Rentenbeiträge haben. Das istnicht schlüssig, das kann nicht funktionieren und dies er-zeugt zu Recht großen Unwillen in der Bevölkerung.
Wir haben als Demokratische Sozialistinnen und So-zialisten von Anfang an dafür gestritten, dass es notwen-dig ist, den Umweltverbrauch zu verteuern, dass hierfüraber an der Ursache angeknüpft werden muss, das heißtan der Energieerzeugung, und dass bei der weiteren Um-setzung das Geld, das durch eine weitere Verteuerung ein-genommen wird, zielgerichtet für einen strukturellen Um-bau in der gesamten Gesellschaft verwendet wird –sowohl was die Wirtschaft betrifft als auch was die Mög-lichkeiten von Bürgerinnen und Bürgern betrifft, ihr per-sönliches Verhalten grundlegend zu ändern.In diesem Sinne wünsche ich mir, dass Ihre Kampagnekeinen Erfolg hat, sondern dass die gesellschaftliche Dis-kussion, die tatsächlich losgegangen ist und bei der manauch viele Beispiele dafür bringen kann
– diese wurden hier auch schon aufgeführt –, dass estatsächlich ein Verständnis in der Bevölkerung für ihreNotwendigkeit gibt, diese Gedanken aufgreift.Ich wünsche mir, dass der Verkehrsminister das Rück-grat besitzt und nicht bis zum Jahre 2003 wartet, sondernschon vorher eine vernünftige Ökosteuer auf den Tischlegt. Das heißt, wir sagen Nein zu dieser Ökosteuer undfordern, sie sofort durch ein machbares, sozial gerechtesund ökologisch wirksames Konzept zu ersetzen.Ich danke Ihnen.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Monika Ganseforth von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die von Ihnen beantragte De-batte zeigt,
dass Sie davon ausgehen, dass im Jahr 2003 die Regie-rung wieder von uns gestellt wird. Ich finde es gut, dasswir uns über diesen Punkt einig sind und dass wir darüberdiskutieren, was dann passiert.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Dr. Barbara Höll12174
Ich kann Ihnen nur raten, sich geeignetere Themen zurProfilierung zu suchen; denn dieses Thema ist inzwischenlangweilig geworden.
Auch die Bürgerinnen und Bürger wissen inzwischen,dass dieselben Debatten Woche für Woche nichts Neuesbringen. Wenn Sie davon überzeugt sind, dass dies Sinnmacht, können wir noch mehrere dieser Debatten führen.Aber ich sage Ihnen: Das ist das falsche Thema.Nicht nur die CDU, sondern auch die F.D.P. hat früherdie Ökosteuer gefordert. Ich erinnere mich noch sehr gutan die Diskussionen in der Enquete-Kommission mitIhrem Herrn Grüner, der hinsichtlich der Ökosteuer einVorreiter war. Jetzt soll das auf einmal alles nicht mehrrichtig sein.
Was ist das Prinzip der Ökosteuer? Die Energie sollschrittweise in kalkulierbaren kleinen Schritten verteuertwerden und die Arbeit soll entsprechend billiger gemachtwerden, um das Energiesparen voranzubringen und dieArbeitslosigkeit zu verringern. Es geht dabei nicht darum,wie Sie sagen, dass der Finanzminister mehr einnimmt,wenn viel Energie verbraucht wird.
– Hören Sie einmal zu! Sie haben es nämlich noch nichtbegriffen. – Es geht vielmehr darum, technische Entwick-lungen zum Beispiel hin zum Dreiliterauto und zum Ein-literauto auf den Weg zu bringen.
Mit der Verteuerung der Energie sollen Investitions-entscheidungen und Produktionsprozesse beeinflusstwerden. Es geht darum, Kaufgewohnheiten und Kaufent-scheidungen entsprechend zu beeinflussen. Beim Kaufder nächsten Waschmaschine und des nächsten Kühl-schranks soll der Energieverbrauch beachtet werden.Häuser sollen besser gebaut werden und bei Sanierungensollen Energiesparmaßnahmen mit berücksichtigt wer-den. Dieser Effekt wird sich erst mittel- und langfristigeinstellen. Das Ganze ist ein marktwirtschaftliches In-strument, um Energieeffizienz voranzubringen.Wir haben über dieses Thema schon oft diskutiert. ImBundestag werden seit zehn Jahren die verschiedenstenModelle zur Ökosteuer von allen Seiten vorgestellt.
Ich erinnere mich an diverse Anhörungen, die wir inder Vergangenheit durchgeführt haben. Es gibt keine ein-heitliche Auffassung darüber – weder in der Wissenschaftund bei den Sachverständigen noch in der Politik –, wel-ches das ideale Instrument ist.
Wenn Sie zum Beispiel nur beim CO2-Ausstoß anset-zen, dann haben Sie den Methan-Ausstoß nicht berück-sichtigt: Durch die Braunkohleverbrennung entsteht keinMethan, aber viel CO2; durch die Gasverbrennung ent-steht Methan, aber wenig CO2.
Wie wollen Sie die Atomenergie einbeziehen? Jedes Kon-zept hat Vor- und Nachteile.Die EU hatte vor zehn Jahren im Vorfeld des Rio-Pro-zesses die CO2-/Energiesteuer diskutiert. Aber all dieseDiskussionen haben nicht dazu geführt, dass etwas getanund vorangebracht worden ist.
Aber seit wir an der Regierung sind, wurde gehandelt.
Wir haben den Reformstau aufgelöst, ein praktikablesModell entworfen und die Ökosteuer eingeführt. Ich weißgar nicht, was Sie auf der linken Seite und Sie auf derrechten Seite dieses Hauses eigentlich wollen. Wollen Sieüberhaupt keine Ökosteuer? Welches Modell wollen Siedenn haben?
Wenn es nach Ihnen ginge, würden wir noch immer überdas beste Modell diskutieren.Nun komme ich zum Thema. Jede Reform, jedes Mo-dell hat positive und negative Wirkungen.
Es ist richtig, dass man, wenn man ein neues Instrumenteinführt, nach einer Weile prüfen muss, wie es weiterge-hen soll – zum Beispiel ob man das Modell zuspitzenmuss.
– Das ist doch ganz selbstverständlich. – Dieser Aufgabewerden wir uns zu gegebener Zeit stellen. Es ist aber vielzu früh, heute zu sagen, was, wenn überhaupt, geändertwerden muss.
Wie gesagt: In der nächsten Legislaturperiode, am Endedes Prozesses, der ja Investitionsentscheidungen initiie-ren soll, werden wir überlegen, wie dieses Instrumentweiterhin aussehen soll.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Monika Ganseforth12175
Das Prinzip ist – das habe ich schon zu Beginn meinerRede gesagt –, die Arbeit billiger und den Energiever-brauch teurer zu machen. Es war auch bisher nicht um-stritten, die Umweltbelastungen zu internalisieren, sie imPreis widerspiegeln zu lassen. Die Preise sollen also, wieman es so schön ausdrückt, die Wahrheit sagen. DieserProzess wird weitergehen und er muss weitergehen – ge-nau darum geht es –, nach einer Zeit des Ausprobierens,nach einer Zeit der Bewährung, aber nicht nach einer Zeitder Diskussion, wie wir es mit Ihnen zehn Jahre lang er-lebt haben. Wir sind diejenigen, die gehandelt haben. DieWirkungen erweisen sich als positiv.Wir können diese Debatte jede Sitzungswoche wieder-holen.
Die Menschen wissen, dass die Maßnahmen, die wir er-griffen haben, richtig sind.
Danke schön.
Als
nächster Redner hat der Kollege Dirk Fischer von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsi-dent! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Jetztreden wir einmal wieder über Klimmt.
Klimmt ist ein Minister, der viel verspricht und allesbricht: Mitte September hat er der Bahn zusätzliche25 Milliarden DM versprochen. Ende Oktober hat er dasWort gebrochen.
Er hat dem deutschen Transportgewerbe versprochen, inBrüssel dafür Sorge zu tragen, dass es keine weiteren Ge-nehmigungen für Subventionen anderer Länder seitensder EU gibt. Auch dieses Versprechen hat er nicht einge-löst. Seine rot-grüne Koalition hat gerade gestern wieder– wettbewerbsverzerrend wirkende – Subventionen fürItalien gebilligt und unseren Antrag, dies nicht zu tun, ab-gelehnt.
Also, liebe Bürger, lasst euch nicht täuschen: Auch dasVersprechen, die Ökosteuer im Jahr 2003 zurückzuneh-men, wird Klimmt brechen. Darauf kann man sich ziem-lich sicher verlassen.
Diese ökonomisch unsinnige K.-o.-Steuer ohne ökolo-gische Lenkungswirkung – das ist ja unser Vorwurf –
muss sofort abgeschafft werden; daran führt kein Wegvorbei. Das einzig Positive, das ich der Klimmt-Äußerungentnehmen kann, ist das Eingeständnis, dass auch er dieÖkosteuer für unsinnig hält. Das sollte man festhalten.
Eine Kompensation erhalten nur diejenigen, die in ei-nem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsver-hältnis stehen. Rentner, Arbeitslose, Sozialhilfeemp-fänger, Beamte, Selbstständige, nicht berufstätige Frauen,Studenten, Schüler, ehrenamtlich Tätige – sie alle gehenleer aus. Sie zahlen, zahlen, zahlen und erhalten keineKompensation.
Doppelt schlimm ist die Einführung einer allgemeinenEntfernungspauschale: Diese würde ganz überraschendFußgängern und Radfahrern, die keinen nennenswertenKostenaufwand haben, viel Geld einbringen, die ebenaufgezählten Bevölkerungsgruppen aber ein zweites Maldiskriminieren, da sie wieder einmal keine Entlastung er-führen. Dies ist meiner Meinung nach keine Ausgleichs-maßnahme, sondern Pfuscherei am Flickwerk. Dies kön-nen wir nicht akzeptieren.
Die Ökosteuer ist auch eine wirtschaftsfeindlicheSteuer; sie ist eine Vernichtungssteuer. Die Widersprüchesind hier schon angeführt worden: Diejenigen Unterneh-men, die für die Produktion die meiste Energie verbrau-chen, bekommen eine Entlastung, andere aber, zum Bei-spiel im Transportgewerbe, werden vernichtet. EU-Staaten,die mit uns im Wettbewerb stehen, beweisen, dass sie et-was für ihr nationales Transportgewerbe tun. Schauen Sienur einmal nach Frankreich, Italien, Belgien oder in dieNiederlande! In Deutschland aber gibt es keine Entlas-tung. Klimmt produziert nur heiße Luft und treibt dasdeutsche Transportgewerbe in den Ruin. Betriebe werdenzerstört oder zur Ausflaggung ins Ausland getrieben.Hunderttausend Arbeitsplätze in deutschen Führerhäu-sern, Bussen und Taxen werden vernichtet. Dies hat Rot-Grün zu verantworten, sonst niemand.
Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Meine Fraktionwird die Zerstörung des deutschen Transportgewerbesnicht widerspruchslos hinnehmen.
Wir diskutieren die Anliegen und Interessen unserer Bür-ger, die Themen, die für sie wichtig sind. Wir diskutieren
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Monika Ganseforth12176
nicht, was Herr Schröder wünscht, das wir diskutieren,oder was die SPD-Fraktion uns erlaubt zu diskutieren.
Wir sind autonom und werden keinerlei Tabuisierung,egal in welche Richtung, akzeptieren.Demgegenüber muss umweltfreundliches Verhalten soanerkannt werden, dass es sich für die Menschen lohntund auszahlt. Verkehrsminister Wissmann hat es seiner-zeit vorgemacht: höhere Kfz-Steuer für nicht abgasgerei-nigte Fahrzeuge, entsprechende Begünstigung, Entlas-tung für Autos mit Katalysatortechnik.
Das war ökologische Besteuerung, die vom Bürger einge-sehen und mitvollzogen wurde.
Ganz anders heute. Beim Nahverkehr werden über600 Millionen DM Ökosteuer draufgesattelt. Folge: stei-gende Tarife und damit kein Anreiz, auf öffentliche Ver-kehrsmittel umzusteigen.Der Benzinverbrauch beim Auto wird deutlich sinken.Klar, Gott sei Dank; wir freuen uns. Wir haben das poli-tisch in diese Richtung bewegt. Nur, in den Brieftaschender Bürger bleibt alles beim Alten. Denn das Geld für denLiter, das eingespart wird, Frau Ganseforth, wird morgendurch Ihre Steuerpolitik wieder einkassiert.
Deswegen haben die Leute nichts davon, deswegen gibtes keine Akzeptanz.Das heißt, eine Einsparung bei den Kraftfahrzeugkos-ten ist gar nicht vorgesehen; denn die Steuermehreinnah-men sind bei Ihnen schon längst fest verplant. Keine Markzusätzlich für die Verkehrsinfrastruktur, obwohl der Au-tofahrer immer häufiger im Stau steht! Keine Förderungalternativer Energien! Der Wortbestandteil „Öko“ istDeckmantel für bewusstes Abkassieren. Die wirklich be-dauerliche, fatale Konsequenz ist, dass notwendige, sinn-volle Umweltpolitik beim Bürger immer mehr in Miss-kredit gerät. Das ist das Traurige, das wir nicht habenwollen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bun-desregierung ist mit dem Missbrauch des Begriffes„Ökosteuer“ für ein reines Abkassiermodell gescheitert.Sie ist bei der Bevölkerung durchgefallen. Hätte diese Re-gierung Charakter, würde sie dieses Gesetz umgehendaußer Kraft setzen.
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Reinhard Loske vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! HerrFischer, das, was Sie hier machen, ist nicht nur billigsterKlamauk. Ihnen sind wirklich alle Maßstäbe abhandengekommen. Das stelle ich fest, wenn ich Ihre Sprachehöre: Vernichtung, Zerstörung, die Menschen leiden. Wasist das eigentlich für eine Sprache? Nehmen Sie die Rea-lität überhaupt noch zur Kenntnis?
Manchmal glaubt man, man müsste immer wieder beiAdam und Eva anfangen.
Man muss den Kolleginnen und Kollegen der Union undder F.D.P. den Gedanken der ökologischen Steuerreformnoch einmal darlegen.
Es geht darum, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schla-gen, nämlich dadurch, dass man Energie schrittweise undmaßvoll verteuert, Anreize zur Energieeinsparung gibt,und das Aufkommen aus dieser Steuer verwendet, umLohnnebenkosten zu senken und damit Arbeitsplätze zuschaffen. Begreifen Sie das doch endlich einmal!
Es war so, dass auch Ihre Leute das immer wussten, dieÖkologen wie die Ökonomen. Ich will aus der CDU nurTöpfer, Repnik und den ehemaligen Fraktionsvorsitzen-den Schäuble nennen. Zur F.D.P., die diese AktuelleStunde beantragt hat: Es ist wirklich beschämend. Sie ha-ben Leute wie Maihofer und Baum gehabt. Das sindLeute, die in Deutschland Umweltpolitik gemacht haben.Heute gibt es nur noch „Spaß mit Container-Guido“. Dasist Ihr Niveau.
Das ist unter aller Sau. Das muss ich wirklich einmal sa-gen, auch wenn es kein parlamentarischer Begriff ist, Ent-schuldigung.Zu den Fakten. Der Energieverbrauch in Deutschlandist in der ersten Jahreshälfte 2000 um 4,2 Prozent zurück-gegangen.
Das hat mit den Energiepreisen zu tun; das ist vollkom-men klar. Im Gegenzug sind die Lohnnebenkosten imRentenversicherungsbereich von 20,3 Prozent, als wir andie Regierung kamen, auf 19,3 Prozent gesunken.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Dirk Fischer
12177
Das alles sind Realitäten, die Sie nicht einfach ignorierenkönnen. Nehmen Sie bitte zumindest die Wahrheit zurKenntnis.
Das ist das Mindeste, was ich erwarte.
Weitere Fakten, die man als aufmerksamer Zeitungsle-ser – das reicht ja schon aus – zur Kenntnis nehmen kann.In der Kreisstadt Uelzen, woher bekanntermaßen derFraktionsvorsitzende der SPD kommt, hat die Kreishand-werkerschaft auf dem Höhepunkt der Energiekontroverseganzseitige Anzeigen geschaltet. Sie haben obendrübergeschrieben: Sie müssen nicht demonstrieren, kommenSie zu uns, wir halbieren Ihre Energierechnung sofort. –Ja, die Heizungsanlagenbauer und andere mehr haben esverstanden.
Anderes Beispiel: In der Autoindustrie ist jetzt ein in-teressanter Streit darüber ausgebrochen, ob das Einliter-auto, wie VW findet, oder das Wasserstoffauto, wie BMWund Daimler finden, das bessere Modell ist. Da kann ichdoch nur sagen: ein wunderbarer Streit. Das ist genau derStreit, den wir wollen. Da lehnen wir uns bequem zurückund schauen zu.
Jetzt komme ich zunächst einmal auf den KollegenTöpfer zu sprechen. Das kann ich Ihnen einfach nicht er-sparen. Distanzieren Sie sich von seinen Ideen oder ste-hen Sie dazu? Die Aussage von Herrn Töpfer ist ganz ein-deutig:Die Grundüberlegung einer Ökosteuer kann mannicht ablehnen. Für meine Begriffe ist diese Steuerkeine K.-o.-Steuer.Ihre primitive Polemik kann man ja wirklich kaum nochertragen.
Ein weiterer Punkt. Die Wirtschaftsforschungsinstitutehaben ihr Gutachten vorgelegt. Ich zitiere daraus wört-lich:Die Regierung sollte an dem Ökosteuergesetz fest-halten.Eine Senkung der Mineralölsteuerwürde lediglich bedeuten, dass der Staat die Belas-tung von Ölverbrauchern auf die Allgemeinheit ver-schiebt.Die Entlastung käme also nicht beim Verbraucher an, son-dern nutzte nur den Ölstaaten bzw. den Mineralölkonzer-nen.
Das sind die Fakten, meine Damen und Herren.
Nächstes Beispiel: Der vor wenigen Tagen zu Ende ge-gangene Deutsche Juristentag hat folgenden Beschlussgefasst:Der Deutsche Juristentag begrüßt den Einbauökologischer Elemente in das Abgabensystem. Ersieht in der Ökosteuer einen geeigneten Weg, umUmweltziele zu verfolgen.Die Versicherungswirtschaft hat vor wenigen Tagenmitgeteilt, dass die Schäden infolge von Umweltkatastro-phen, die im letzten Jahr ein Rekordhoch erreicht haben,kaum noch versicherbar sind. Deswegen sind sie der Mei-nung – ich zitiere wörtlich –:Wir brauchen die Ökosteuer. Doch man muss denLeuten klarmachen, worum es eigentlich geht.Nämlich darum,Klimaschutz zu betreiben.
Da können wir noch besser werden. Das ist überhauptkeine Frage. Das haben wir in der Vergangenheit offenbarnicht gut genug erklärt.Letztes Beispiel: Es gibt seit wenigen Wochen aucheine Künstlerinitiative um Günter Grass und andere, diediese absolut rabiate Verweigerung von Zukunftsverant-wortung, die Sie hier exerzieren, nicht mehr ertragenkonnte. Das ist nicht mehr zu akzeptieren.
Sie können dieses Thema meinetwegen jede Wocheeinbringen, Sie bekommen jede Woche die richtige Ant-wort.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Gisela Frick von der F.D.P.-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Zu dem, was ich von den Rednern der Koali-tion hören musste, kann ich nur sagen: Thema total ver-fehlt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Dr. Reinhard Loske12178
Es geht aus Ihrer Sicht nicht um die Rechtfertigung diesertotal missglückten Ökosteuer – der so genannten, wie ichimmer sage, denn es ist ja keine Ökosteuer –,
sondern es geht ausdrücklich – so lautet die Überschriftdes Tagesordnungspunktes – um die „Haltung der Bun-desregierung zur Forderung von BundesverkehrsministerKlimmt, die Ökosteuer im Jahre 2003“ abzuschaffen.
Das ist das Thema.
– Doch, das hat er gesagt. Er hat zwar nicht „abschaffen“gesagt, sondern er hat gesagt: Dann muss damit Sensesein. – Da sich dieser Ausdruck sprachlich für die Formu-lierung eines Tagesordnungspunktes nicht so eignet, ha-ben wir – –
– „Sense sein“ heißt nichts anderes als abschaffen.
– Doch!Auf Ihren Vorwurf, dass es langweilig ist, wenn wirjede Woche mit diesem Thema kommen, kann ich Ihnennur antworten: So, wie Sie hier die Debatte führen, wirdsie natürlich langweilig.
Das ist aber nicht das Thema. Ich glaube auch nicht, dassder Endverbraucher, der seine Heizkostenrechnung oderseine Tankrechnung sieht, es langweilig findet, dass wirdieses hier sehr regelmäßig und immer wieder zumThema machen.
Wenn Herr Klimmt – wir haben zwar heute von HerrnSchmidt gehört, das sei ein Strohhalm, aber er ist immer-hin Mitglied dieser Bundesregierung – sagt: „Wir wollen,dass ab 2003 mit der Ökosteuer Sense ist, dann geht er vonder falschen Vorstellung aus, dass dann noch die rot-grüneRegierung im Amt ist.
Ich muss Ihnen da widersprechen, Frau Ganseforth. Da-mit rechnen wir nicht. Aber immerhin ist das Eingeständ-nis richtig, dass dieses Konzept der Ökosteuer total ver-fehlt und danebengegangen ist und damit überhaupt keinBlumentopf zu gewinnen ist, insbesondere nicht die so ge-nannte doppelte Dividende, von der die Grünen immerwieder sprechen.Sie haben heute nur sehr vorsichtig – Herr Eich, Siewaren der Einzige – auf das Gutachten der Wirtschafts-forschungsinstitute hingewiesen. Hierin ist ein Totalver-riss der Ökosteuer enthalten,
gerade auch unter dem Gesichtspunkt doppelte Divi-dende.
Dort steht, gerade die Verzahnung von Umweltschutz undRentenfinanzierung sei ungeheuer problematisch – in derSprache sind die Wirtschaftsweisen ja vorsichtig. Mit al-len Argumenten – sie liegen schon lange auf dem Tisch –wird also ganz deutlich gesagt, dass das alles nichtsbringt.Ein weiteres Thema könnte sein – im Moment debat-tieren wir auch darüber –, dass gerade die Trostpflaster,die jetzt in Form der Anhebung einer Entfernungspau-schale und eines einmaligen Heizölkostenzuschusses ver-teilt werden, die sowieso schon geringen Lenkungswir-kungen der Ökosteuer noch weiter verwässern.
Das heißt, Sie stehen überhaupt nicht mehr zu Ihrem Kon-zept. Ich glaube, dass wir von der Regierung, vertretendurch die Staatssekretärin Hendricks, nachher nichts an-deres als die Aussage hören werden, dass Sie bei dieserSteuer bleiben, egal, wie viele in Ihren Reihen einsehen,dass das falsch ist. Der Kollege Koppelin hat schon daraufhingewiesen, dass der Bundesverkehrsminister – das hater selber gesagt – mit seiner Auffassung nur einer von vie-len ist. Ihnen allen spricht er aus dem Herzen. Das giltauch für den Autokanzler Schröder. Das sollte man dabeinicht vergessen.
– Das kennen viele, Herr Eich. Es gibt genug Äußerungen,aus denen man auf den Herzenszustand schließen kann.Das ist gar kein Problem.Mit anderen Worten: Wenn die Regierung wider besse-res Wissen an dieser Ökosteuer festhält, dann sind wir un-serem Ziel, Sie im Jahre 2002 abzulösen, ein ganzes Stücknäher. Insofern kann ich gar nicht sagen, dass es in denOhren der Opposition wie Kakophonie klingt, was aus derRegierung kommt – der eine so, der andere anders; HerrEichel ist heute schon zitiert worden –, während die Ge-nerallinie noch immer in einer Wagenburgmentalität be-steht. Wenn Sie sich so uneinig sind und überhaupt nicht
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Gisela Frick12179
wissen, was Sache ist, dann ist das für uns eigentlich Mu-sik in den Ohren, und es zeigt nur, dass Ihre Konzepte, andenen Sie wider besseres Wissen festhalten, total verfehltsind.Wir fordern Sie noch einmal auf: Folgen Sie IhremHerzen und erst recht Ihrem Verstand! Geben Sie zu, dassdie Ökosteuer ein Schuss in den Ofen war, und zwar inden Kohleofen, dessen Betrieb nicht besteuert wird. Ma-chen Sie Schluss mit dieser Politik!
Für die
Bundesregierung spricht jetzt die Parlamentarische
Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks.
D
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Herr Koppelin, Frau Kollegin Frick, Siemussten so lange warten, bis mir das Wort erteilt wurde,damit ich die Haltung der Bundesregierung zu den Äuße-rungen von Herrn Klimmt darstellen kann.
Ich möchte Sie auf Folgendes aufmerksam machen:Um die Haltung der Bundesregierung zu erfahren, ist eineAktuelle Stunde ihrer Definition nach eigentlich ungeeig-net. Natürlich könnten wir eine Aktuelle Stunde mit zwölfParlamentarischen Staatssekretären bestreiten; aber dannkönnten Sie alle nicht mehr reden. Wenn Sie also die Hal-tung der Bundesregierung erfahren möchten, dann müs-sen Sie warten, bis einem Vertreter der Bundesregierungdas Wort erteilt wird.
Andernfalls müssen Sie Ihre Frage in der Regierungsbe-fragung am Mittwoch stellen. Dann bekommen Sie eineAntwort von der Bundesregierung.
Sie können nicht erwarten, dass jeder Redner der Koali-tion die Haltung der Bundesregierung vertritt. Das mussdann schon die Bundesregierung machen.
Ich will ganz kurz auf Herrn Fischer eingehen. HerrKollege Fischer, ich will nicht ausführlich auf Ihre wirk-lich ausufernde Polemik antworten. Sie haben gesagt, derBundesverkehrsminister habe schon jetzt sein Wort ge-brochen, welches er im September gegeben habe.
Der Bundesverkehrsminister hat zu den notwendigen In-vestitionen der Bahn gesagt, dass die Bahn in den nächs-ten 10 bis 15 Jahren ein zusätzliches Investitionsvolumenvon 25 Milliarden DM brauchen wird.
– Nun hören Sie doch einmal zu! –
Herr Kollege Fischer, wir haben ein Zukunftsinvesti-tionsprogramm aufgelegt, das für die nächsten drei Jahrepro Jahr zusätzlich 2 Milliarden DM für Investitionen indie Schiene vorsieht.
– Herr Kollege Fischer, es besteht doch die Möglichkeit,jedes Jahr die mittelfristige Finanzplanung zu erneuern.
– Herr Kollege Fischer, wir werden auch in Zukunft jedesJahr mit haushaltswirtschaftlicher Verantwortung die mit-telfristige Finanzplanung im Lichte der Einnahmen desStaates überprüfen können.
– Jedes Jahr, Herr Kollege Fischer, wird über die mittel-fristige Finanzplanung neu entschieden.
– Herr Kollege Fischer, in den nächsten drei Jahren gibtes zusätzlich jeweils 2 Milliarden DM für Schieneninves-titionen. Wir lösen den Stau auf, den Sie zu verantwortenhaben.
Diese 25 Milliarden DM, die zusätzlich nötig sind, habendoch Sie, der hervorragende Herr Ludewig und all die an-deren Herren – wie auch immer sie heißen – zu verant-worten, die keine Ahnung hatten, wie man ein Unterneh-men führt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Gisela Frick12180
Herr Kol-
lege Fischer, die Frau Staatssekretärin hat das Wort und
nicht Sie. Es wäre gut, wenn Sie ihr zuhören würden.
D
Jetzt komme ich auf das ei-gentliche Thema zurück. In ihrem Herbstgutachten habendie führenden Wirtschaftsforschungsinstitute positiv her-vorgehoben, dass die Bundesregierung trotz des großenpolitischen Drucks, der ja auch von den unvernünftigenReihen dort rechts kommt, an der Ökosteuer festgehaltenhat.Es wird zum Beispiel kritisch angemerkt, dass wirAusnahmetatbestände zurückführen sollen. Dies würde,wenn man einmal ein bisschen logisch denkt, dazuführen, dass die Einnahmen aus der Ökosteuer höher undnicht niedriger sein würden. In dieser Hinsicht könntenSie uns ja einmal Vorschläge machen. Aber Ausnahme-tatbestände zugunsten des produzierenden Gewerbesführen dazu, dass wir einen Einnahmeverzicht üben, alsoüber weniger Einnahmen aus der Ökosteuer verfügen, alses anderenfalls möglich wäre. Das bestätigen die Sach-verständigen.Jetzt fragt die F.D.P., wie es mit der Ökosteuer weiter-gehen soll.
Dazu kann ich ganz klar sagen: Der Zeitplan steht. Biszum Jahre 2003 ist gesetzlich verankert, dass der Ener-gieverbrauch von Jahr zu Jahr maßvoll verteuert wird. Wirwerden die daraus entstehenden Einnahmen auch in Zu-kunft dazu verwenden, die Rentenversicherungsbeiträgezu stabilisieren.
Die Ökosteuer wird auch nach 2003 nicht zurückge-nommen. Der Staat wird den Energieverbrauch inDeutschland nicht durch eine sinkende Mineralölsteuerbeschleunigen.
Unser Ziel bleibt klar: Wir müssen die Abhängigkeit derdeutschen Wirtschaft vom Erdöl reduzieren. Neuerdingsist ja auch klar geworden, dass das Wirtschaftswachstumnicht mit einem höheren Energieverbrauch einhergehenmuss. Diese Entkoppelung wollen wir verstärken.
Wir werden diesen erkennbaren Trend durch die Be-reitstellung von mehr Mitteln zur Erforschung regenerati-ver Energien und mit Förderprogrammen zur Energie-einsparung unterstützen. So haben wir erst jüngst inunserem Zukunftsinvestitionsprogramm beschlossen, einAltbausanierungsprogramm zu finanzieren und umfang-reiche Mittel für die Energieforschung zur Verfügung zustellen, in allen Bereichen weniger Energie zu verbrau-chen und dabei weg vom Öl zu kommen. Das ist die Zu-kunft; die haben Sie verschlafen.
Was nach Ablauf der jetzigen Planung geschieht, stehtnoch nicht fest. Ob es zu weiteren Schritten im Rahmender Ökosteuerreform kommt und wie mögliche zusätzli-che Einnahmen eingesetzt werden, lässt sich heute nochnicht entscheiden. Das ist aber auch wirklich nicht nötig.
Erst muss die konkrete Situation abgewartet werden. Wirmüssen die Entwicklung im Umweltbereich abschätzen,aber natürlich auch die Wirtschaftslage genau analysie-ren. Es gibt Aspekte, die gegen weitere Schritte im Rah-men der Ökosteuerreform sprechen; Bundesverkehrsmi-nister Klimmt hat darauf hingewiesen.
Es gibt andere Aspekte, die dafür sprechen. Welche Argu-mente schwerer wiegen, lässt sich aus der heutigen zeitli-chen Distanz nicht entscheiden. Wir werden das entschei-den, wenn die Lage klar und die Entscheidung notwendigist.
Es gibt keinen Grund, jetzt zu entscheiden. Ich weiß, dasmacht der Opposition die Arbeit nicht leichter. Aber diesist ja auch nicht unsere Aufgabe.
Der Einstieg in die Ökosteuerreform war richtig. Ganzbewusst haben wir ein schrittweises Vorgehen gewählt.Der Vorteil für die Bürger liegt in den maßvollen Er-höhungsschritten.
Man hat den Vorteil, die Folgen der einzelnen Schrittebesser abschätzen zu können als bei einer schockartigenSteuererhöhung, wie Sie sie in Ihrer Regierungszeit zuverantworten hatten.
Es bleibt dabei: Die Ökosteuer ist ein wichtiger Beitragfür eine Ökologisierung unserer Volkswirtschaft sowie fürbeschäftigungsintensives Wachstum. Diese Einsicht istnicht neu. Ich werde sie Ihnen von der Opposition aberimmer wieder aktuell mitteilen, wenn Sie – möglicher-weise jede Sitzungswoche – mit solchen Anträgen kom-men.Herzlichen Dank.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12181
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Otto Bernhardt
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Im Mittelpunkt dieser Sitzung stehtdie Aussage des Bundesverkehrsministers.
Ich finde es traurig, dass der direkt Angesprochene nichtanwesend ist.
Ich habe soeben gehört, dass Herr Klimmt zum jetzigenZeitpunkt, zu dem wir über seine Aussagen diskutieren,eine Pressekonferenz gibt. Ich glaube, das ist ein falschesParlamentsverständnis.
Natürlich eignet sich eine Aktuelle Stunde nicht, umgrundsätzliche Aussagen zur Ökosteuer zu machen. Nur,damit kein falscher Eindruck entsteht: Der Grundgedankeder Ökosteuer, Verteuerung der Energie und Entlastungdes Produktionsfaktors Arbeit, ist ein Gedanke, über denman mit uns diskutieren kann
und den wir für gar nicht schlecht halten. Aber wir undauch alle, die Sie zitiert haben, haben immer gesagt: So et-was kann man aus Wettbewerbsgründen nur auf der euro-päischen Ebene lösen.
Auch wenn es verschiedene Redner schon gesagt ha-ben, will ich es noch einmal betonen: Ihre Ökosteuer ver-dient den Namen nicht. Eine richtige Ökosteuer müsstedoch bei den Schadstoffemissionen ansetzen. Eine rich-tige Ökosteuer müsste doch dazu führen, dass die Ein-nahmen aus dieser Steuer immer weniger werden, weilman damit eine marktwirtschaftlich vernünftige Len-kungsfunktion verbindet. Das ist bei Ihnen nicht vorgese-hen.
Wie kann man eine Steuer Ökosteuer nennen, die dassaubere Erdgas belastet und die Umwelt verschmutzendeKohle ausnimmt? Das ist keine Ökosteuer.
Natürlich wissen wir, dass die Energiepreiserhöhungennicht nur auf die Steuererhöhungen zurückzuführen sind.Natürlich kennen wir die Entwicklung der Rohölpreise.
Aber auf die Rohölpreise haben wir keinen Einfluss.Natürlich kennen wir auch die Folgen der Euro-Schwäche.
Da hätte die Bundesregierung ein wenig mehr Einfluss,aber die Chance nutzt sie nicht.
Wir diskutieren jetzt über den dritten Verteuerungsfak-tor: die Steuern. Das ist der Faktor, den wir im deutschenParlament ganz alleine bestimmen können. Ich nenne ein-mal die Größenordnung, weil ich den Eindruck habe, hierwerden die Relationen verwechselt. Von 2 DM, die wir ander Tankstelle bezahlen müssen – inzwischen sind es einpaar Pfennige mehr –, bekommt der Staat zwei Drittel,also 1,30 DM.
– Auch wir haben die Steuer erhöht. Das ist klar.
Nur das letzte Drittel bekommen die von Ihnen so hart ge-scholtenen Ölscheichs und -konzerne. Wenn es keineSteuer gäbe, dann würde der Liter Benzin in Deutschland70 Pfennige kosten.
Sie können nicht behaupten, dass die anderen die Preis-treiber sind. Nein, die öffentliche Hand ist der Preistrei-ber: 1,30 DM von 2 DM sind Steuern.
Die Folgen steigender Energiepreise können wir jedenTag beobachten. Zehntausende mittelständische Existen-zen sind in Gefahr. Ich glaube, die „Berliner Zeitung“ hatRecht, wenn sie schreibt: Die Regierung wird jetzt ner-vös. – Warum Sie nervös werden, ist klar. Schauen Sieeinmal in die „FAZ“ vom 18. Oktober 2000. Darin stehendie neuesten Meinungsumfragen. Wenn wir über die Öko-steuer eine Volksabstimmung durchführen würden, wür-den fast 90 Prozent dagegen und nur gut 10 Prozent dafürstimmen. Interessant ist: Zwei Drittel der Bevölkerungmachen die Bundesregierung für die steigenden Energie-preise verantwortlich. Daher rührt Ihre Nervosität.Deshalb kann ich abschließend nur sagen: Warten Sienicht bis zum Jahr 2003, auch wenn es richtig ist, wie dieKollegin Professor Frick sagt, dass wir dann größereWahlchancen hätten. Es gibt zu dieser so genannten Öko-steuer nur eine Alternative. Das ist der Gesetzentwurf derCDU/CSU, in dem gefordert wird, diese Steuer ab dem
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1. Januar des kommenden Jahres abzuschaffen. StimmenSie unserem Antrag zu!Danke schön.
Als
nächster Redner hat der Kollege Lothar Binding von der
SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrterHerr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! MehrArbeit, stabile Renten, besserer Umweltschutz: Die Öko-steuer löst gleich drei Aufgaben auf einmal. Das ist okay.Ich glaube, dass Sie die Genialität dieses Konzepts so un-heimlich ärgert, dass Sie keine Woche darauf verzichtenkönnen, über dieses Thema zu reden.
Eben haben wir etwas über Größenordnungen gehört.
– Der naive Zugang ist nicht immer der richtige.Zur Demonstration habe ich nämlich einige Holzklötzemitgebracht. Ich will einmal auf die Größenordnungeneingehen. Dieser kleine Holzklotz stellt den Benzinpreisdar. Der Preis beträgt etwas über 2,05 DM. Hinzu kommtder Rohölpreis. Er war vor kurzem – also noch zur Zeitder Regierung Kohl – so hoch wie der andere Holzklotz.Der Preis ist jetzt um zwei Drittel gestiegen.Dann haben wir die Marge der Tankstellen: ungefähr 8Pfennig von 2 DM; das ist auch nicht sehr viel, aber viel-leicht bringt es die Menge, um die Erträge der Tankstellenzu sichern.
Dann haben wir die Erdölbevorratungsverbandsabgabe;sie ist relativ niedrig. Dann haben wir eine Mineralöl-steuer, die sich in zwei Teile aufteilt. Der eine Teil beliefsich von Adenauer bis Schmidt auf ungefähr 48 Pfennig.Dann gibt es eine Mineralölsteuer von Kohl bis Kohl, alsovon 1984 bis 1994; ihre Erhöhung betrug auch ungefähr50 Pfennig. Dann kommt die Mehrwertsteuer. Dannkommt die Ökosteuer I; es kommt die Ökosteuer II und esfolgen noch zwei Ökosteuern.
Jetzt schauen wir uns einmal die Problemlösungs-ansätze der CDU an:
Sie sagen: Die bisherigen Erhöhungen der Mineralöl-steuer und der Stromsteuer müssen rückgängig gemachtwerden, weil die für die Jahre 2001 bis 2003 vorgesehe-nen Steuererhöhungen eine Gefahr für das Wirtschafts-wachstum in Deutschland darstellen und die Bürger be-lasten und die Betriebe in unverantwortlicher Weise inden Ruin treiben würden.Wir haben vorhin gehört, das Gewerbe würde vernich-tet. Ich will das alles jetzt einmal anhand der Klötzchenverdeutlichen. Dieser Teil hat der Wirtschaft nicht ge-schadet; er hat niemanden überproportional belastet. Erdiente dem Stopfen der Haushaltslöcher und der Finan-zierung von Fördergebietsgesetzen. Er war dazu da, denreichen Leuten Geld zu geben.
Der andere Teil der Klötzchen ruiniert die Wirtschaftund bringt ganze Gewerbe in Gefahr; das ist ganz drama-tisch.
Aber dieser Teil macht praktisch gar nichts. Zu derZeit, als man das betrieben hat, hatten Repnik, Merkel undandere die Idee, diesen Teil noch hinzuzufügen, und zwarmit dem Argument, Arbeitsplätze zu schaffen, die Umweltzu schonen und soziale Nebenkosten zu senken, damit dieNettolöhne steigen. Das war eigentlich ein gutes Konzept.
Insofern habe ich heute nicht verstanden, wie jemandsagen kann, die SPD habe Wortbruch begangen.
Ich will es einmal so formulieren: Jemand, der sich voneinem Kanzler wie dem Ihrigen damals nicht distanziert,
und Personen, die wie Merkel, Repnik oder Töpfer einenEierkurs in der beschriebenen Weise fahren, können unsan dieser Stelle nicht belehren.
Lernen Sie die Grundkapitel von Moral und Ethik! Di-stanzieren Sie sich von Ihrem Kanzler und von anderenGaunern in Ihrer Partei!
Dann können wir darüber reden, ob die SPD ein Gesetz,das für alle Zukunft gilt, macht.Zum inhaltlichen Hintergrund vielleicht noch so viel:Die Ursache für diese Aktuelle Stunde ist, dass jemand ge-sagt hat: Wenn sich in Zukunft etwas ändert, ändert sichetwas in der Zukunft. Aber so etwas mit einer tief grei-fenden Logik kann die F.D.P. natürlich nicht jede Wochewiederholen. Ich glaube, die Bürger merken, dass dasSpektakel der ausschließlichen Medienwirksamkeit ohneSubstanz ihnen nicht hilft.
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Otto Bernhardt12183
Die Probleme, die wir eben beschrieben haben, sind:mehr Arbeit, stabile Rente, besserer Umweltschutz. DieCDU will sie übrigens so lösen, wie ich gelesen habe:Ökosteuer abschaffen. – Konstruktives Konzept? – Fehl-anzeige! Alternativen zum Gesetz der CDU? – Keine! Dashaben wir extra einmal behandelt; Jörg-Otto Spiller hatuns darauf hingewiesen. Das heißt: Sie haben, abgesehenvon der Ablehnung des Gesetzes, überhaupt keine Alter-native. Wo ist dann das konstruktive Moment, das man je-des Mal in dieser Debatte einklagen sollte?Jetzt kommt etwas besonders Schönes: die sonstigenKosten. Sie schreiben: Durch die Senkung der Mineralöl-steuer werden die Energiepreise steuerbedingt sinken.Woher wissen Sie eigentlich, dass es in dieser Hinsichtüberhaupt eine Steuerelastizität gibt? Sie wissen sehrwohl, dass die Preise nicht sinken, wenn man die Steuernum diesen Betrag senkt; denn sonst müssten Sie beweisenkönnen, wieso der Heizölpreis um 100 Prozent gestiegenist, obwohl das Heizöl von der Ökosteuer in diesem Jahrüberhaupt nicht betroffen ist. Diese Logik müssten Sieuns bzw. dem Bürger erläutern, anstatt ihn hinters Licht zuführen.
Herr Kol-
lege Binding, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich glaube, Ih-
nen fällt nichts Intelligentes ein, das sich über das Niveau
Ihrer Gesetzesvorlage hinaushebt. Deshalb lehnen wir
diese ab.
Schönen Dank.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Klaus-Peter Willsch von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir ein-mal auf die Zeit zurückblenden, in der dieses unsäglicheÖkosteuergesetz verabschiedet wurde, müssen wir unsdaran erinnern, dass damals viel von „doppelter Divi-dende“ oder Ähnlichem geschwärmt wurde. Heute höreich kein Schwärmen mehr, sondern sehe bei der Regie-rung nur noch ein Flattern. Ein Minister nach dem ande-ren behauptet, nun sei das Ende der Fahnenstange er-reicht. Hier gibt es mittlerweile ein heilloses Flatternwegen der berechtigten Proteste der Bevölkerung.
Es war nicht nur Herr Klimmt, der heute wohl lieber nichtdabei sein wollte, wir haben Ähnliches von Herrn Riesterund Herrn Eichel gehört. Wir hören zwar immer wiederDementis, merken aber, dass Absetzbewegungen gemachtwerden. Ihnen fehlt der Mut, diesen Schritt zu gehen.Wir müssen uns überlegen – wir hatten gerade vonHerrn Binding eine eindrucksvolle Demonstration mitHolzspielzeug –,
weshalb der Spritpreis heute auf der Höhe ist, die wir be-klagen, die zumindest ich beklage. Sie beklagen die Höhedes Spritpreises nicht: Die Grünen wollen ja einen Sprit-preis von 5 DM je Liter und auch Sie von der SPD wolleneinen höheren Preis als heute.
Sie reden sich in den Wahlkreisen immer damit heraus,dass Sie nur für eine Erhöhung von 14 Pfennig verant-wortlich seien. Sie haben aber noch weitere Erhöhungenin drei Stufen beschlossen, die kommen werden.
Aber Sie sind natürlich auch für den Anteil mitverant-wortlich, der auf der schlechten Performance des Euro ba-siert. Der schwache Außenwert des Euro hat etwas mit derWirtschaftspolitik zu tun, die in der Leitvolkswirtschaftdes Euro-Raums gemacht wird.
Wenn Sie sich diesen Umstand vor Augen führen undüberlegen, wie internationale Finanzmärkte zu einer Be-wertung einer Währung kommen, werden Sie das leichtnachvollziehen können. Beim Start des Euro haben alldiejenigen, die im internationalen Rahmen die Wirtschaftbeobachten, gesagt, der Euro-Raum sei ein guter Wirt-schaftsraum mit guten Chancen auf Wachstum. Es gibt anzwei Punkten Probleme:
Die Sozialversicherungssysteme müssen in Richtung aufeine höhere Eigenverantwortung umgebaut werden undder Arbeitsmarkt muss von rigiden Regelungen befreitwerden. Hier wurde Reformbedarf angemahnt.Schauen Sie sich einmal an, was Sie in diesem Bereichin den letzten zwei Jahren getan haben: Sie haben die Re-gelungsdichte auf dem Arbeitsmarkt verschärft. Ich nenneals Beispiele das 630 DM-Gesetz und das sogenannteScheinselbstständigengesetz. Sie haben die erforderlicheSanierung der Sozialversicherungssysteme ausgesetztund teilweise bisher getroffene Regelungen zurück-gefahren. Bis heute liegt von Ihnen nichts auf dem Tisch.Sie haben die Reformen in der Rentenversicherung zwarausgesetzt, aber bis heute keinen Gesetzentwurf, sondernnur ein Arbeitspapier auf den Tisch gelegt. Sie haben alsogenau in den Bereichen, in denen die internationale Fi-nanzwelt erwartet hat, dass sich etwas tut, nichts voran-gebracht.
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Solange dieser Reformbedarf besteht, wird auch das Ver-trauen in den Euro nicht steigen.Ich will Ihnen einmal Folgendes vorrechnen: Wir sindmit einem Euro-Kurs von 1,18 US-Dollar gestartet undsind heute bei 82 US-Cent gelandet.
Das bedeutet für einen Barrel mit einem Preis von 35 US-Dollar eine Preissteigerung von 60 DM auf 84 DM. Pro-zentual ist das eine Steigerung um 40 Prozent – aufgrundder schlechten Wirtschaftspolitik, die hier gemacht wor-den ist.
Dazu kommt, dass der Weltstaatsmann – ich glaube,
so lautete der Titel – nicht weiß, wie man sich inWährungsfragen verhalten muss. Man kann eben nicht sa-gen: Es gibt welche, die die Euro-Schwäche gut finden;andere finden sie schlecht. Ich dagegen finde sie gut, weilsie gut für die Wirtschaft ist. – So schafft man kein Ver-trauen in die Währung. Das hat gezeigt, dass er davonnichts versteht.
Die Ökosteuer ist eine reine Abzocksteuer.
Sie schädigt den Standort Deutschland. Sie ist sozial un-gerecht. Schaffen Sie die Ökosteuer ab! Stimmen Sie un-serem Antrag auf Abschaffung der Ökosteuer zu.Vielen Dank.
Als letz-
ter Redner in der Aktuellen Stunde hat nun das Wort der
Kollege Peter Danckert von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Die heutige AktuelleStunde, die Sie beantragt haben, ist durch den Beitrag desKollegen Lothar Binding – ich sehe Sie sprachlos – flugszu einer Nachhilfestunde geworden, die Sie allerdingsauch dringend notwendig haben.
– Ich rede jetzt zu Klimmt und über den Anlass für dieseAktuelle Stunde. Die Überschrift des Interviews mit demBundesverkehrsminister Klimmt lautet: „Nach 2003steigt die Ökosteuer nicht weiter“. Das ist auch der Inhaltseiner Aussage. Aber was machen Sie daraus? Der Titelder von Ihnen beantragten Aktuellen Stunde lautet: „Hal-tung der Bundesregierung zur Forderung von Bundes-verkehrsminister Klimmt, die Ökosteuer im Jahr 2003 zubeenden“. Das zeigt die Art und Weise, wie Sie mit die-sem Thema hier umgehen. Ich bin deshalb froh, dass eseine breite Öffentlichkeit gibt.Klimmt spricht in dem Interview davon, dass die Öko-steuer nach 2003 nicht weiter angehoben werden muss.Das ist seine Meinung zu dem Thema. Und Sie machendaraus, er habe gesagt, die Ökosteuer solle beendet wer-den. Das zeigt die Art und Weise, wie Sie hier die Faktenverdrehen.
– Das ist doch eine ganz andere Frage; darum geht es dochgar nicht. Angesichts der Art und Weise, mit der Sie die-ses Thema angehen, muss er auch nicht da sein. Es wärefür ihn doch schade um die Zeit, wenn er hier wäre.
Sein Fernbleiben hat doch nichts mit Missachtung desParlaments zu tun. Sie wollen uns für dumm verkaufen,und er soll seine Zeit opfern. Das ist Fakt.
Jetzt zu Ihnen, meine Damen und Herren von derCDU/CSU: Eine Tickermeldung von heute – mir liegteine Kopie der Originalmeldung vor – trägt als Über-schrift eine Aussage Ihres ehemaligen UmweltministersTöpfer. Sie lautet – das haben wir schon gehört –: „DieÖkosteuer ist keine K.-o.-Steuer“. Dies ist die klare fach-liche Aussage eines Mannes, der nicht der Parteidisziplinunterliegt. An dieser Stelle möchte ich noch eines bemer-ken – das ist offensichtlich auch der Grund, weshalb FrauMerkel, die die Nachfolgerin von Herrn Töpfer im Amtdes Bundesministers war, Herrn Polenz als Generalse-kretär entlassen hat –: Die Kampagne gegen die Öko-steuer – die einzige, die ihr Generalsekretär innerhalb vonsechs Monaten auf den Weg gebracht hat – war ganz of-fensichtlich ein Flop. Sie wollte ihm offensichtlich zuvor-kommen, weil ihr Herr Töpfer die Wahrheit über die Öko-steuer gesagt hat. Das sind die Fakten.
– Ja, wir werden den 1. Januar abwarten.Angesichts dessen, was Sie hier schon alles behauptethaben, möchte ich mich schlicht an die Fakten halten. Wirbrauchen die Ökosteuer, um den Energieverbrauch zu re-duzieren. Das ist die Lenkungswirkung. Wir hätten aller-dings ein Problem, wenn die Verbraucher auf die Belas-tungen durch die Ökosteuer entsprechend reagierenwürden, weil uns dann die erwarteten Mehreinnahmenfehlen würden. Aber offensichtlich wirkt die Ökosteuernicht so, wie Sie sich das vorstellen und das durch IhreKampagne einer erstaunten Öffentlichkeit klarzumachenversuchen.
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Wir brauchen die Mehreinnahmen – das ist auch ganzklar; da beißt die Maus keinen Faden ab –, damit der Staatweiterhin einen wesentlichen Beitrag zur Rentenversiche-rung leisten kann, nämlich bisher 17,5 Milliarden DM.Wenn uns die Mehreinnahmen aus der Ökosteuer nichtzur Verfügung stehen würden, dann hätten wir nur dreiMöglichkeiten – das wissen Sie auch; das ist das Ein-maleins –: Wir könnten die Beiträge zur Rentenversiche-rung anheben. Das wollen wir nicht. Wir könnten auchden Zuschuss des Staates zur Rentenversicherung er-höhen, was wir zum Beispiel durch die Anhebung derMehrwertsteuer finanzieren könnten. Auch das wollenwir nicht. Selbstverständlich wollen wir die Zuwachsra-ten bei den Renten auch nicht so niedrig halten, dass dieRentner an den Steigerungen der Nettolöhne überhauptnicht mehr teilhaben. Aus diesen drei Gründen muss eseine Ökosteuer geben.Es ist ja im Übrigen nicht so, dass wir nicht auf derHöhe der Zeit wären. Frau Merkel, die das Thema Öko-steuer auf gewisse Weise schon sehr früh angesprochenhat – heute darf sie das nicht mehr laut sagen –, hat damalsgesagt – ich zitiere aus der „FAZ“ vom 23. März 1995 –:Als Umweltministerin halte ich es für erforderlich,die Energiepreise schrittweise anzuheben und so eindeutliches Signal zum Energiesparen zu geben.Genau das haben wir gemacht.
Wir haben das in unserer Koalitionsvereinbarung verfei-nert und ausgearbeitet und in einen richtigen Zusammen-hang gestellt.Nun noch etwas anderes: Sie von der CDU haben dochauch einmal so etwas wie ein Zukunftsprogramm aufge-legt.
– Nein, nur die CDU. Die CSU hat da offensichtlich einbisschen anders formuliert. Ich zitiere also aus dem Zu-kunftsprogramm der CDU 1998:Unser Steuer- und Abgabensystem macht gerade dasbesonders teuer, was wir am dringendsten brauchen:Arbeitsplätze. Dagegen ist das, woran wir sparenmüssen, eher zu billig zu haben: Energie- und Roh-stoffeinsatz.
Genau das, was Sie damals gesagt haben, ist im Rah-men dieser Koalitionsvereinbarung formuliert und mit derÖkosteuer umgesetzt worden. Nur weil Sie nicht mehr ander Regierung sind, wollen Sie es nicht mehr wahrhaben,dass das die richtige Politik ist.
Sie können an dieser Stelle noch hundert Aktuelle Stun-den beantragen, wir werden Ihnen jedes Mal dasselbesage: Die Ökosteuer ist richtig! Es ist ja auch schon daraufhingewiesen worden, dass die namhaftesten Wirtschafts-forschungsinstitute dieser Republik die Richtigkeit derÖkosteuer bestätigt haben.
Da können Sie reden, wie Sie wollen, das sind die Faktenund deshalb halten wir uns daran. Jeder Sach- und Fach-verstand sagt uns, dass wir an dieser Stelle richtig liegen.Ich als Bundestagsabgeordneter aus einem der neuenBundesländer bin auch davon überzeugt, dass das, wasSie, Herr Koppelin, in Ihrem Antrag „Ökosteuer zurück-nehmen“ gesagt haben, dass nämlich die Ökosteuer fürden Aufbau Ost gefährlich sei, so populistisch und so po-lemisch ist, dass Sie das doch wohl nicht im Ernst glau-ben. Die Bürger in den neuen Ländern haben begriffen,dass der Beitrag, der durch die Ökosteuer zum Rentensys-tem geleistet wird, richtig und notwendig ist. Dabei bleibtes, denn das ist die Wahrheit.Vielen Dank.
Die Aktu-elle Stunde ist beendet.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf.Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
auftragte Jahresbericht 1999
– Drucksachen 14/2900, 14/4204 –Berichterstattung:Abgeordnete Uwe GöllnerWerner SiemannNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Wehrbe-auftragte des Deutschen Bundestages, unser früherer Kol-lege Dr. Willfried Penner.Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deut-schen Bundestages: Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Der Bundesminister der Verteidigung hat sicheingehend, ernsthaft und verantwortungsbewusst mit denFeststellungen des Jahresberichts 1999 befasst. Grund-sätzlich teilt er die im Bericht dargestellten Sorgen undNöte der Soldaten.Darüber hinaus bleibt Anlass und Notwendigkeit fürergänzende Bemerkungen aus meiner Sicht. Ich nennefolgende:Die vorgesehene neue Bundeswehrstruktur kannnicht ohne Mittun der Soldaten greifen. Bisher ist bei derTruppe eher eine abwartende Haltung auszumachen; dieMitte dieses Jahres verlautbarten Eckpunkte und auch diejetzt veröffentlichte „Grobausplanung“, wie es heißt, sindnoch zu abstrakt, als dass sie schon konkrete Auswirkun-
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gen für den Einzelnen erkennen ließen. Das wird sich mitfortschreitender Implementierung des Veränderungspro-zesses wandeln; spätestens mit dem Wegfall von Standor-ten wird es für die Betroffenen ganz konkret.In deren Interesse, aber auch zur Vermeidung von Rei-bungsverlusten sonst, ist es geboten, den vorgesehenenZeitplan für das Weitere einzuhalten und so die erforder-liche Planungssicherheit für die Soldaten und ihre Fami-lien zu ermöglichen. Natürlich ist dafür unverzichtbar,dass das Konzept in sich stimmig ist und insbesondere dieFinanzierung klappt.Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Aus-landseinsätze in jüngster Zeit kennzeichnen das geän-derte Aufgabenfeld der Bundeswehr mit direkten Konse-quenzen für die Soldaten. Der Einsatz selbst unterbesonderen Umständen der Gefährdung ist nicht mehrfern liegende, eher unwahrscheinliche Möglichkeit. Ganzim Gegenteil wird dies für zunehmend mehr Soldatenschon über Verwendungen bei KFOR und SFOR die Re-gel werden. Soldatendasein wird also ganz konkret ge-fährlicher werden können, mobiler überdies, und die Fa-milien werden davon nachhaltig betroffen sein. DieFürsorgepflicht des Dienstherrn gebietet begleitendeMaßnahmen für Soldaten, vor und nach dem Einsatz, fürdie Familien Unterstützung während der Einsatzzeit.
Dazu sage ich ergänzend: Eine noch stärkere Professio-nalisierung bei der psychischen Hilfe ist unverzichtbar,weil die bisherigen rühmenswerten Möglichkeiten der Ei-genhilfe einfach nicht reichen können.Ganz wichtig ist das Vertrauen der Soldaten in die Fes-tigkeit gemachter Zusagen. Ob die Zusage eingehaltenwerden kann, im Anschluss an die auf sechs Monate er-weiterte Einsatzdauer grundsätzlich eine einsatzfreie Zeitvon zwei Jahren zu garantieren, muss nach jüngsten Er-kenntnissen anlässlich meiner Informationstagung in dervergangenen Woche stark in Zweifel gezogen werden.
Dabei ist bekannt, dass mit der Zeit von Vor- und Nach-bereitung eher acht bis neun Monate zusammenkommen.Nicht hinnehmbar ist, dass die Soldaten auf dem Bal-kan immer noch nicht ausreichend mit Tropenkleidungausgestattet sind, wo doch die einschlägigen Erfahrungenmit dem Bundeswehreinsatz in Somalia – auch einerheißen Region – immerhin schon acht Jahre zurückliegen.
Noch eines: Die Möglichkeit für Soldaten im Einsatz,Urlaub in zwei Zeitabschnitten zu nehmen, würde gewissDruck von den Soldaten nehmen. Dem Vernehmen nachhalten es andere Staaten auch so.
Im Übrigen würde es sicher sehr hilfreich sein, wenndie üblichen Möglichkeiten der Heimflüge durch die Ein-beziehung ziviler Fluglinien ergänzt und damit mancherunnötige zusätzliche Zeitaufwand zulasten der Soldatenvermieden werden könnte.
Mehr und verbesserte Möglichkeiten für Heimflüge wär-en schon erstrebenswert – dies umso mehr, als die deut-schen Soldaten dort erstklassigen Dienst leisten unter denbesonderen Bedingungen abgrundtiefen Hasses der dortlebenden Ethnien untereinander. Dies ist ein Grund mehr,dass die politisch und militärisch Verantwortlichen für dieBundeswehr sich alle erdenkliche Mühe geben müssen,diesen schwierigen Dienst durch flankierende Maßnah-men zu erleichtern.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, nach mei-nen bisherigen Eindrücken kann das Sanitätswesen einzentrales, wenn nicht d a s Thema für die Bundeswehr inden kommenden Jahren werden. Bei den Gesprächen mitden Vertrauensleuten wurde kaum ein Thema so intensivund von so vielen behandelt. Umso skeptischer muss mansein, ob die Zusage des BMVg auf Prüfung seit Jahren be-kannter Mängel ausreicht, wie sich das in schöner Offen-heit bei der Stellungnahme zur einschlägigen Mängellistedes Wehrberichts 1999 offenbart. Es geht in der Sache umHandfestes: Die Soldaten wollen nicht stunden- oder ta-gelang auf ärztliche Behandlung warten müssen. Sie wol-len es nicht hinnehmen, dass mehrfach zeitlich genaufixierte Arzttermine aufgehoben werden, weil die Kapa-zitäten der Sanitätseinrichtungen in der Bundeswehr nichtausreichen. Und selbst bei Verwendungen im westlichenAusland kommen viele mit dem Sanitätswesen auch ausPartnerländern nicht zurecht: mal ist es die unterschiedli-che Behandlungsphilosophie, mal nur die Unfähigkeit,sich sprachlich differenziert genug zur eigenen Erkran-kung äußern zu können usw. Dies ist meiner Meinungnach also ein großes Thema für die Bundeswehr und diepolitisch Verantwortlichen.Einige Bemerkungen noch zum Thema Frauen in dieund in der Bundeswehr. Dieses Thema wird die Armeeund in Sonderheit das Heer auch organisatorisch nochlange Zeit beschäftigen, angefangen von der nötigenInfrastruktur bis hin zur Bekleidung. Es ist nach meinerÜberzeugung richtig, dass der Einsatzvorbehalt fürFrauen in der entsprechenden Gesetzesvorlage nicht mehrenthalten ist. Er wäre mit deutschem Verfassungsrechtkaum zu vereinbaren gewesen.
Aus meiner Sicht ist die jetzt vorgesehene Verfassungsän-derung zur erweiterten Verwendung von Frauen in derBundeswehr nur zu begrüßen.
Unabhängig davon möchte ich dafür werben, in der er-weiterten Verwendungsmöglichkeit für Frauen eineChance für die Bundeswehr zu sehen. Keinesfalls sollte
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die Veränderung, die ja ohnehin kommt, durch defensivesBedenken- und Verweigerungsgerede zusätzlich belastetwerden.Im Übrigen gilt: Das neue Recht kann nur die Voraus-setzungen für die Frauen verändern; die gesellschaftlicheDurchsetzung, aber auch die Anpassung an die Besonder-heiten des Soldatenberufs sind eine andere Sache undwerden Zeit brauchen.Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Bundes-regierung ist für die Beibehaltung der Wehrpflicht, diegroße Mehrheit im Parlament auch. Die Vorteile sind: dieVerwurzelung der Armee in der deutschen Gesellschaft,das Lebendighalten der Bundeswehr und die Sicherungeiner Nachwuchsgewinnung aus der Breite der Gesell-schaft. Nicht zu leugnen ist auch, dass die Entscheidungfür die Wehrpflicht der Bundeswehr den Soldaten und denjungen Jahrgängen Orientierung gibt.Aber ein Wetterleuchten in dieser Frage ist nicht zuübersehen: „Ist eine Freiwilligenarmee nicht die gemäßereAntwort auf die erweiterte Aufgabenstellung der Bundes-wehr?“, so wird man sich fragen müssen.
Müssen die Wehrpflicht und die damit verbundenen mög-lichen Folgen für die jungen Soldaten ausschließlich aufden Zweck der Landesverteidigung beschränkt sein? Undkann von der allgemeinen Wehrpflicht überhaupt noch ge-sprochen werden, wo doch der immer größere Teil einesJahrgangs gar nicht eingezogen wird
und die mit der Wehrpflicht erwarteten positiven gesell-schaftlichen Auswirkungen eben dadurch auch geschmälertwerden?
Schließlich: Zerbröckelt nicht das politische Fundamentfür Wehrpflicht, wenn Wehrgerechtigkeit Schaden nimmt,weil zunehmend weniger der Wehrpflicht nachkommenmüssen?Meiner Überzeugung nach entspricht es nicht demNachlaufen des viel zitierten Zeitgeistes, dass auch imBundestag vertretene Parteien sich von der Wehrpflicht zulösen beginnen. Auf keinen Fall sollte dem entgegenge-halten werden, dass im demokratisch verfassten Staat nurdie Wehrpflichtarmee ihren Platz haben könne.
Richtig ist: Die Wehrpflicht war für die Verankerung derBundeswehr im demokratisch verfassten Staat für diejunge Bundesrepublik Deutschland sehr wichtig, viel-leicht sogar unverzichtbar. Aber es ist nicht die einzigeMöglichkeit, eine Armee für die Demokratie zu sichern,wie benachbarte und befreundete Staaten mit langer Tra-dition und ihrer Entscheidung für die Freiwilligenarmee– zuletzt Italien – beweisen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, bei der Aus-einandersetzung mit dem Rechtsextremismus darf undwird die Bundeswehr nicht abseits stehen. Der Untersu-chungsausschuss der 13. Periode hat dazu wichtige Er-kenntnisse gebracht. Auffällig war und ist eine politischeNeigung, im Falle eines Falles die Bundeswehr insgesamtvor dem Verdacht, rechtsextremistisch anfällig zu sein, re-flexartig in Schutz zu nehmen, wo die Anlässe hierzu dochdurchweg nur Einzelfälle sind.Viel wichtiger als Einzelvorkommnisse und Statisti-ken, soweit diese überhaupt aussagekräftig sind, ist dieErkenntnis, dass das Militärische generell mit seiner hie-rarchischen Struktur, der Uniformierung und der Vermitt-lung des Umgangs mit Gewalt und Waffen natürliche Be-gehrlichkeiten beim Rechtsextremismus auslöst. Hinzukommt Patriotismus als die ideologische Unterfütterungfür Landesverteidigung. Da ist ständige Aufmerksamkeitgeboten, dass die Brandmauer zum Chauvinismus, zurFremdenfeindlichkeit und zum Rassismus stabil bleibtund nicht löchrig wird.
Die Voraussetzungen dafür sind gut: Die Struktur derBundeswehr ist in Ordnung. Im Übrigen: Verteidigungs-politik und Bundeswehr sind im Nachkriegsdeutschlandinternational angelegt; das verhindert nationale Eigenbrö-teleien oder gar Verbissenheit, ohne Patriotismus zu ver-drängen. Aber eine Armee ist nicht per se demokratisch.Die Strukturen für Demokratie müssen stimmen.Der Staatsbürger in Uniform ist nach meiner Überzeu-gung der wirksamste Schutz für eine demokratische Be-schaffenheit der Armee. Eine kritische Fußnote muss sein:Ein guter, ein förderungsgeeigneter Soldat kann nichtsein, wer sich rechtsextremistisch verhält, auch wennseine soldatischen Leistungen sonst tadelfrei sind.
Die unterschiedliche Besoldung der Soldaten – 86,5 Pro-zent bzw. demnächst etwas mehr für die ostdeutschen,100 Prozent für die westdeutschen – muss ein Ende finden.
Gewiss hatte die im Einigungsvertrag auch für Soldatenfestgeschriebene Unterschiedlichkeit ihre nachvollzieh-baren Gründe. Und auch das bestehende Besoldungs- undVergütungsgefälle zwischen Ost und West im gesamtenöffentlichen Dienst ist nicht willkürlich zustande gekom-men und wird nicht willkürlich beibehalten, sondern istdurch die auch heute noch maßgebliche Finanzlage deröffentlichen Hände diktiert.Letzteres darf aber für den Bund kein Argument sein,die Besoldungsunterschiede zwischen Ost und West fürdie Armee festzuschreiben.
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Dr. Willfried Penner12188
Die Bundeswehr kann nicht auf Dauer mit solchen Diffe-renzen leben; sie bedeuten im Ergebnis nicht aushaltbareSpannungen und Konflikte für die unverzichtbare Einheitund Geschlossenheit der Armee.
Schließlich sind der Auftrag und das Handeln der Bun-deswehr nicht aufteilbar nach Ost und West; die Soldatenim Einsatz auf dem Balkan machen dies besonders sinn-fällig. Es lindert diesen Mangel nicht – ganz im Gegenteil,er wird dadurch erweitert und vertieft –, dass Offiziere,auch proportional, weit weniger von diesen Unterschie-den betroffen sind als Mannschaften und Unteroffiziere.Das Finanzierungsvolumen macht dem Vernehmennach um die 100 Millionen DM aus, also eine für denBund verkraftbare Größe. Wenn die Regierung, aus wel-chen Gründen und in welcher Zusammensetzung auchimmer, es nicht auf den Weg bringen kann, dann sei daranerinnert, dass für Besoldungsfragen grundsätzlich dasParlament zuständig ist.
Dabei hilft es wenig, dass sich diejenigen, die jetzt in derMinderheit sind, mit diesbezüglichen Anträgen leichtertun als diejenigen, die jetzt in der Mehrheit sind und so diemanchmal nötigende Wucht der Argumente der Finanz-bürokratie auszuhalten haben.
Mein Appell gilt dem Parlament insgesamt, seinerPflicht gegenüber der ständig reklamierten Parlamentsar-mee zu genügen und das Erforderliche zu tun.Schönen Dank für die Geduld.
Ich danke
dem Wehrbeauftragten im Namen des Hauses für diesen
ausführlichen Bericht.
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,
möchte ich im Namen des Hauses der ehemaligen Wehr-
beauftragten, Frau Claire Marienfeld, sowie ihren Mitar-
beiterinnen und Mitarbeitern für die Vorlage des Jahres-
berichts 1999 danken.
Das Wort hat jetzt der Kollege Uwe Göllner von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Herr Breuer, ich möchte, be-vor ich zum Thema rede, meiner ehrlichen Freude darü-ber Ausdruck geben, dass Sie nach Ihrer schweren Opera-tion gesund wieder hier sind.
Ich hoffe, dass Ihre Genesung so schnell voranschreitet,dass Sie künftig auch in den langen Ausschusssitzungenwieder sitzen können.Der Wehrbeauftragte hat gerade vor allem in die Zu-kunft geschaut. Wir diskutieren heute aber den Bericht fürdas Jahr 1999, den fünften und letzten Bericht der Wehr-beauftragten Claire Marienfeld. Ich will mich auf wenigePunkte beschränken, die der ausgeschiedenen Frau Wehr-beauftragten im Verlauf ihrer fünfjährigen Amtszeit nachmeinen Beobachtungen immer wichtig waren.Im Berichtszeitraum hatte Frau Marienfeld etwas mehrals 5 800 Eingaben zu bearbeiten. Dabei gab es natürlicheine gewisse Rangfolge. Was sich wie ein roter Fadendurch die Eingaben zieht, ist die Belastung der Soldatendurch die Auslandseinsätze. Der Wehrbeauftragte hat ge-rade darauf hingewiesen, dass wir in allen Bereichen, aufdie wir Einfluss haben, dafür sorgen müssen, dass die Be-lastung so gering wie möglich ist.Dass die Belastung einen gewissen Punkt erreicht, istunvermeidbar. Wir haben uns im Ausschuss bei der Fragenicht leicht getan, ob die Soldaten vier oder sechs Monateauf dem Balkan bleiben sollen. Die Ausführungen derFrau Wehrbeauftragten und der militärische Sachverstandhaben am Ende dazu geführt, dass die Politiker sich demVorschlag von sechs Monaten angeschlossen haben.
– Herr Niebel, ich gestehe Ihnen zu: Sie nicht.Ich denke, dass dann, wenn die neue Struktur in derBundeswehr langsam aufwachsen wird, die Probleme,die mit der Verlängerung der Einsatzdauer auf sechs Mo-nate verbunden sind, auch gemildert werden. Der Wehr-beauftragte hat ja gerade darauf hingewiesen, dass in be-stimmten Bereichen die versprochenen zwei Jahre nichtgehalten werden können, nämlich da, wo es sich um Spe-zialisten handelt. Wir hoffen, dass das in der Zukunft bes-ser wird.Frau Marienfeld hat in allen ihren fünf Berichten im-mer wieder darauf hingewiesen, dass sie mit dem Gradunzufrieden war, den die politische Bildung in der Bun-deswehr eingenommen hat. Es ist sicherlich eine bekla-genswerte Sache, dass dies in jedem Bericht wieder auf-geführt werden muss. Man muss allerdings hinzufügen:Selbst dann, wenn der politischen Bildung der Stand zu-kommt, der vorgesehen ist, kann in zehn Monaten Bun-deswehr nicht das ersetzt werden, was wir als Eltern oderwas die Schulen versäumen. Hier müssen wir realistischsein. Dennoch, dieser Hinweis der Wehrbeauftragten sollund wird aufgenommen werden, damit wenigstens das,was vorgegeben ist, in der Bundeswehr gewährleistet ist.
Der Rechtsradikalismus war in der Vergangenheitein stärkeres Thema, als es das heute zu sein scheint. DerWehrbeauftragte hat vorhin darauf hingewiesen, dass diezurückgehende Zahl der Vorkommnisse nun aber keinGrund sein kann, sich zurückzulehnen. An den Vor-kommnissen, die im Berichtszeitraum zu vermelden wa-ren, waren ein Offizier, elf Unteroffiziere und 111 Mann-schaftsdienstgrade beteiligt. Das zeigt, dass dieses
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Dr. Willfried Penner12189
gesellschaftliche Problem im Wesentlichen über dieWehrpflichtigen in die Bundeswehr hineinkommt. Das istallerdings kein Argument gegen die Wehrpflicht.Auch Frau Marienfeld hat in allen ihren Berichten ander Wehrpflicht festgehalten und immer wieder daraufhingewiesen, wie wichtig aus ihrer Sicht die Wehrpflichtfür den ständigen Gedankenaustausch mit jungen Män-nern in der Bundeswehr ist. Zudem hat es sich ja keinerderer leicht gemacht, die in ihren Parteien für die Wehr-pflicht gestimmt haben. Die einzige Partei, die einmal aufeinem Parteitag versucht hat, die Wehrpflicht abzuschaf-fen, ist gerade nicht anwesend,
aber diejenigen, die sich in den anderen Parteien für dieWehpflicht ausgesprochen haben, haben ja nicht etwaAngst davor, dass die Bundeswehr dann, wenn sie dennkeine Wehrpflichtarmee mehr wäre, zum Staat im Staatewerden würde. Unser Vertrauen in die Bundeswehr istzwischenzeitlich bei allen so groß geworden, dass wirdiese Befürchtung nicht haben. Aber es gibt eben ganzgute Gründe dafür, weshalb wir uns bislang mehrheitlichin den beiden großen Parteien für die Wehrpflicht aus-sprechen. Aus meiner Sicht sage ich jedenfalls: Ich hoffe,dass dies auch noch eine ganze Weile so bleibt.
Ich will am Ende denjenigen danken, die sich um Mil-derung der Belastung, die durch die Auslandseinsätze imBerichtszeitraum zu sehen war, bemüht haben. Das warendiejenigen, die sich um die zu Hause gebliebenen Fami-lien gekümmert haben; das waren diejenigen, die sich vorOrt in der Militärseelsorge – sei es bei den Katholischen,sei es bei den Evangelischen – in, wie ich finde, hervor-ragender Weise und weit über das hinaus, was sie dienst-lich hätten tun müssen, um die Soldaten gekümmert ha-ben. Wir haben im laufenden Jahr auf katholischer Seiteeinen neuen Militärbischof bekommen; er wird auch ei-nen neuen Militärdekan ernennen. Ich will mich bei dembisherigen Dekan ausdrücklich für seine Arbeit bedanken.Ich habe ganz gern mit ihm zusammengearbeitet. Ichhoffe, das Verhältnis zum neuen wird ähnlich gut werden.Danke schön.
Ausweis-
lich des Protokolls über die eben beendete Aktuelle
Stunde hat der Kollege Lothar Binding, an die Opposition
gewandt, die Worte gewählt: „Distanzieren Sie sich von
Ihrem Kanzler und von anderen Gaunern in Ihrer Partei!“
Dies ist als unparlamentarischer Sprachgebrauch zu rü-
gen.
Als nächster Redner hat der Kollege Bernd Siebert von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte icham Anfang meiner Rede darauf hinweisen, dass einigeSoldaten der Bundeswehr auf der Tribüne anwesend sind.Das ist gut und wir freuen uns, dass sie dieser Debatte fol-gen.
Der ehemaligen Wehrbeauftragten des Deutschen Bun-destages, Frau Claire Marienfeld, und all ihren Mitarbei-terinnen und Mitarbeitern danke ich für diesen umfang-reichen und detaillierten Bericht über den Zustand unsererStreitkräfte sowie insgesamt für die engagierte und erfolg-reiche Arbeit in den vergangenen Jahren gerade zum Wohlunserer Streitkräfte.
Dieser Dank gilt nicht nur diesem Bericht – ihrem letz-ten Bericht –, sondern auch den Berichten der letztenJahre, ihrer Arbeit insgesamt, ihrem beeindruckendenEngagement für die Soldatinnen und Soldaten, aber auchihrer Überparteilichkeit; diesem ganzen Hause verpflich-tet. Sie war die erste Frau in diesem Amt und sie hat ihrenMann gestanden. Frau Marienfeld hat in den vergangenenJahren auf viele Problemkreise hingewiesen und hatdurch kontinuierliches Darumkümmern viele Entschei-dungen des Ministeriums zum Wohle der Soldatinnen undSoldaten beeinflusst und herbeigeführt.Dem neuen Wehrbeauftragten, Willfried Penner, dernun schon einige Monate im Amt ist, wünsche ich diegleiche glückliche Hand, das gleiche Engagement und diegleiche Überparteilichkeit, die Frau Marienfeld ausge-zeichnet haben.
Seine Rede vorhin lässt uns guten Mutes sein. An unsererUnterstützung für Ihre Arbeit wird es nicht mangeln, HerrPenner.Viele Probleme sind noch nicht gelöst; neue werdenentstehen. Eigentlich hätten wir jetzt die Chance, vieleszu verändern und mit den anstehenden Strukturreformeneinen deutlichen Schritt nach vorne zu gehen. Wir werdensehen, ob diese Chancen genutzt werden.Die Neuausrichtung der Bundeswehr hat weitrei-chende Auswirkungen auf das Schicksal vieler Bundes-wehrangehörigerer und ihrer Familien. Daher wird die In-stitution des Wehrbeauftragten noch mehr als zuvor zumSeismograph für die Stimmung in der Truppe werden.
Das Jahr 1999 war für die Bundeswehr durch den ers-ten größeren bewaffneten Kampfeinsatz – man muss so-gar sagen: Kriegseinsatz – im ehemaligen Jugoslawiengeprägt. Es ist für uns im Deutschen Bundestag dochberuhigend zu erfahren, dass aus Sicht der Wehrbeauf-
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Uwe Göllner12190
tragten „unsere Soldaten gut ausgebildet und beispielhaftvorbereitet in den Einsatz gegangen sind“. Die Bundes-wehr leistet ausgezeichnete Arbeit. Unsere Soldaten ge-nießen auch international ob ihrer Professionalität undihrer Einsatzbereitschaft hohes Ansehen. Auf sie ist in derHeimat, aber auch im Einsatz, Verlass. Wir schulden ih-nen daher hohen Respekt für ihre ausgezeichnete Pflicht-erfüllung.
Auch unter erschwerten Bedingungen, zu denen sicher-lich viele Struktur-, Ausrüstungs- und Finanzdefizite zäh-len – der Wehrbeauftragte hat eben in seiner Rede auf ei-nige hingewiesen –, haben sie ihren Dienst getan. Es warrichtig, dass wir uns seit Jahren um eine solide Ausbil-dung gekümmert haben. Deshalb muss an dieser Stelleden Ausbildenden und denjenigen, die die politischenRahmenbedingungen hierzu gesetzt haben – das ist diealte Bundesregierung mit dem VerteidigungsministerVolker Rühe gewesen –, gedankt werden.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf ein Pro-blemfeld eingehen, welches auch in dem Bericht derWehrbeauftragten als Schwerpunkt deutlich geworden ist.Es geht um die Erhöhung der Stehzeit bei Auslands-einsätzen von vier auf sechs Monate. Sowohl bei den Sol-daten als auch bei deren Familien stößt diese Regelungganz überwiegend auf Ablehnung.
Dabei wird immer wieder auf die negativen Auswirkun-gen der langen Abwesenheitsdauer insbesondere bei Fa-milien mit kleinen Kindern hingewiesen,
die sich natürlich durch die Ausbildungszeit – HerrPenner hat schon darauf hingewiesen – noch über denZeitraum von sechs Monaten hinaus verlängert.Wir alle wissen, dass Ursache für die Einführung die-ser Verlängerung im Jahre 1999 war, dass die Finanzmit-tel, die notwendig waren, um mehr Soldaten ausbilden zukönnen, nicht vorhanden waren. Deshalb ist die Auswei-tung auf sechs Monate erfolgt. Weder BundeskanzlerSchröder noch Finanzminister Eichel waren bereit, zu-sätzliches Geld für diese Aufgaben zur Verfügung zu stel-len. Die Bundesregierung hat deshalb entschieden, dieStehzeit von vier auf sechs Monate zu erhöhen.Ich muss in aller Deutlichkeit sagen: Es kann und darfnicht sein, dass Verteidigungsminister Scharping das Spa-ren auf dem Rücken unserer Soldaten und deren Familienausträgt.
Deshalb müssen wir jetzt unsere Chance ergreifen, dieswieder zu ändern. Wenn es kein reines Lippenbekenntnisist, dass die Menschen in unseren Streitkräften das höchs-te Gut der Bundeswehr darstellen, dann müssen wir imRahmen der Strukturreform zu der alten Regelung einerviermonatigen Stehzeit zurückfinden.
An vielen Stellen des vorgelegten Berichtes finden wirAussagen, die uns nachdenklich stimmen und uns zu-gleich an unsere Verantwortung gegenüber den Soldatin-nen und Soldaten, den zivilen Mitarbeiterinnen undMitarbeitern und insbesondere deren Familien erinnernsollten: Es ist von Verunsicherung und Frustration dieRede, von der schlechten Stimmung in der Truppe. Eswerden Motivationsprobleme aufgeführt und von man-gelnden Perspektiven wird berichtet. Das muss von unssehr ernst genommen und bei den Entscheidungen der Zu-kunft berücksichtigt werden.In der Stellungnahme des Verteidigungsministeriumszu dem Bericht heißt es, dass den Soldaten in einer Phaseder Überlegungen zur Wehrdienstdauer – das scheint jetztgeregelt zu sein, aber wer weiß –, der Überlegungen zurWehrdienstform – auch dies scheint geregelt zu sein, aberwer weiß –, der Überlegungen zu Auftrag und Aufgabenund der Überlegungen zu Umfang und Ausrüstung keineabsolute Sicherheit zum Standorterhalt, keine absoluteSicherheit zu zukünftiger regionaler und funktionaler Ver-wendung und keine Sicherheit für die persönliche Lauf-bahnentwicklung gegeben werden kann. Das ist die Basisder Verunsicherungen innerhalb der Bundeswehr, nichtsanderes. Dies müssen wir bei unserem zukünftigen Han-deln berücksichtigen.Die Strukturreform der Bundeswehr führt zu einerdeutlichen Verringerung der Zahl der Soldatinnen undSoldaten und zu einer noch deutlicheren Verringerung derZahl der zivilen Mitarbeiter. Trotzdem erklärt Bundes-minister Scharping bei seinen Bundeswehrstandort-besuchen allerorten: Dieser Standort ist sicher und bleibterhalten. – In meiner nordhessischen Heimat konnte ichMinister Scharping einige Male bei diesen Besuchen be-gleiten und ebenso wie die Öffentlichkeit mit Überra-schung zur Kenntnis nehmen, dass wir zwar die Bun-deswehr verkleinern, aber trotzdem jeder dieser Standortesicher ist und bestehen bleibt.Diese Erklärungen werden sicherlich von der Realitäteingeholt werden. Das bestätigt uns auch der grüne Koali-tionspartner, der inzwischen öffentlich vorträgt – so auchin der letzten Bundestagssitzung zu diesem Thema vor14 Tagen –, dass die Grundrechenarten auch an dieserBundesregierung nicht vorbeigehen können und es des-wegen zu Standortschließungen kommen wird – auchwenn Sie im Moment nicht bereit sind, dies so zu sagen.
Die als Beruhigungspille gedachten Äußerungen ha-ben das genaue Gegenteil bewirkt, weil die Soldaten dieGrundrechenarten beherrschen.
Ich stimme der Wehrbeauftragten ausdrücklich zu, wennsie in ihrem Bericht auf diese Verunsicherung und Moti-vationsreduzierung hinweist. Der Minister ist nicht da; er
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hat sicherlich einen anderen, wichtigeren Termin. HerrStaatssekretär Kolbow, ich kann Sie nur auffordern– diese Forderung hat auch Frau Beer für die Grünen for-muliert; deswegen fühle ich mich hier in sehr guterGesellschaft –:
Stellen Sie schnell öffentlich klar, welche Standorte er-halten bleiben können und welche nicht! Dann werdenwir den Soldaten auch eine entsprechende Sicherheit fürdie Zukunft geben.
– Sie sagen, das sei Ihre Forderung. Ich will Ihnen einmalein Beispiel nennen. Insofern passt Ihr Zwischenruf ganzgut.Am 14. Juni, zufälligerweise zwei Tage, bevor meineKollegin Hannelore Rönsch und ich die Wehrbe-reichsverwaltung IV in Wiesbaden besuchen wollten,erklärte die dortige Wahlkreisabgeordnete HeidemarieWieczorek-Zeul im „Wiesbadener Kurier“ unter Beru-fung auf den Verteidigungsminister, die Erhaltung aller800 Arbeitsplätze bei der Wehrbereichsverwaltung IV inWiesbaden sei gesichert. Am 28. Juni, also ganze 14 Tages
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dass die Abgeordnete von Wiesbaden, die zufällig
auch noch Ministerin ist, diese Behauptung aufge-
stellt hat, höre ich von Ihnen.
Damit meinte sie den Fragesteller.
Sie hat es uns weder in irgendeiner Weise mitgeteilt
noch gibt es irgendwelche ernst zu nehmenden Über-
legungen. Wir sind zu diesem Zeitpunkt wirklich
noch nicht so weit.
In Wiesbaden aber erklärte die Abgeordnete, es bleibe al-
les wie bisher.
Meine Damen und Herren, Sie müssen dafür Sorge tra-
gen, die Verunsicherung der Menschen, die in der Bun-
deswehr tätig sind, zu beseitigen und nicht zu verstärken.
Offenheit und klare Information, wie sie von der Wehrbe-
auftragten gefordert sind, verringern die Unsicherheit.
Wir wissen längst, was wir von Versprechungen seitens
dieser Bundesregierung zu halten haben. Ich persönlich
empfinde es als nahezu menschenverachtend, wie Sie die
Zivilbediensteten der Wehrbereichsverwaltung IV in
Wiesbaden in den letzten Wochen mit widersprüchlichen
Aussagen hinters Licht geführt haben. Sie sollten relativ
bald sagen, welche zivilen Bediensteten schon bald ihren
Dienst anderenorts versehen oder gehen müssen. Das gilt
übrigens gleichermaßen für die militärischen Standorte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe schon mehr-
fach angesprochen, dass die Verunsicherung dadurch ver-
ringert wird, dass man mit offenen Karten spielt. Nur eine
solide Information des Parlaments, der betroffenen Bun-
deswehrangehörigen und der Öffentlichkeit ist die Basis
für eine offene Diskussion.
Eine offene Diskussion lässt klare Entscheidungen zu und
reduziert Unsicherheit. In einer Demokratie mit einer Par-
lamentsarmee gehört dies zur Voraussetzung. Dieser In-
formation und Diskussion entzieht sich Bundesminister
Scharping seit Monaten.
Wir fühlen uns über viele Entscheidungen dieser Re-
gierung, die Bundeswehr betreffend, nicht solide infor-
miert.
Wir wissen, dass solche Vorwürfe auch in den Regie-
rungsfraktionen vorgetragen werden.
Wir sind uns einig: Zu keiner Zeit in der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland fühlten sich die Abgeord-
neten dieses Hauses über die Entwicklung der Bundes-
wehr in der Zukunft so schlecht informiert wie gegen-
wärtig.
Deswegen bitte ich an dieser Stelle den Wehrbeauf-
tragten, darauf zu achten, dass die vorhandenen Tenden-
zen, sich weg von einer Parlamentsarmee hin zu einer
Regierungsarmee zu entwickeln, nicht Realität werden.
Ich bitte Sie, wenn Sie weitere deutliche Tendenzen er-
kennen, diese in Ihren nächsten Bericht aufzunehmen.
Herr Kollege,
das wäre ein schöner Schlusssatz. Den müssten Sie jetzt
auch finden.
Frau Präsidentin, dannwill ich auch gleich zum Ende kommen.Eine Umstrukturierung unserer Streitkräfte ist unum-gänglich. Da stimmen wir mit Ihnen überein. Aber dafür,wie Sie sie in Gang gesetzt haben und wie sie im Berichtder Wehrbeauftragten sichtbar gemacht wird, können Sievon uns keine Unterstützung bekommen.
Ich hoffe, dass wir in einem Jahr über einen positiverenBericht debattieren können.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Bernd Siebert12192
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Winfried Nachtwei.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! HerrPenner, ich danke Ihnen ausdrücklich für Ihren – ja, daswar es schon – ersten Zwischenbericht als Wehrbeauf-tragter, der durch seine Offenheit und den frischen Windauffiel. Das ist für mich ein Beleg dafür, dass man, um fri-schen Wind zu machen, nicht unbedingt Wehrpflichtigersein muss.
In den letzten Monaten standen die künftigen Bundes-wehrstrukturen und ihre Finanzierung im Mittelpunkt dersicherheitspolitischen Debatte. Die abschließende Bera-tung des Berichts der Wehrbeauftragten 1999 ist für micheine gute Gelegenheit, nun einmal so genannte weichere,aber nichtsdestoweniger genauso wichtige Themen anzu-sprechen, nämlich das Selbstverständnis der Soldaten undihre Stellung in der demokratischen Gesellschaft.Gestern führten der Innenausschuss und der Jugend-ausschuss eine Anhörung zum Thema „Rechtsextremis-mus“ durch. In dieser Anhörung wurde unter anderemfestgestellt, dass rechtsextreme Alltagskulturen an vielenOrten stark verwurzelt seien und dass Institutionen oftnichts dagegen unternähmen. Gefordert wurde, anknüp-fend an das Wort von Bundeskanzler Schröder vom„Aufstand der Anständigen“, der „Anstand der Zuständi-gen“.1997 wurde vermehrt über Vorfälle unter Bundes-wehrsoldaten mit rechtsextremem Hintergrund berichtet.Damals reagierte die Bundeswehrführung schnell und miteinem umfassenden Maßnahmenkatalog. Mir sind keineGroßinstitution und kein gesellschaftlicher Bereich be-kannt, in denen gegenüber rechtsextremistischen Vor-kommnissen so sehr das Hinsehen geübt und der Blick ge-schärft worden wäre.
Nach allem, was wir wissen, zeigte dies auch Wirkung.Allerdings wissen wir nicht, wie tief und nachhaltig dieseMaßnahmen wirken, ob sie „nur“ abschreckend wirkenoder auch zu einer Veränderung der Einstellung beitragen.Vor einigen Jahren schon, also 1997/98, hatten dieFraktionen von SPD sowie von Bündnis 90/Die Grünenumfassendere sozialwissenschaftliche Untersuchungengefordert, um herauszufinden, wie es mit Einstellungen,Veränderung von Einstellungen und den Möglichkeiten,Einstellungen in und außerhalb der Bundeswehr zu be-einflussen, aussieht. Wir begrüßen jetzt außerordentlich,dass das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehrmit einer solchen systematischen und empirischen Unter-suchung beginnt. Die Erkenntnisse aus solchen empiri-schen Untersuchungen sind eben eine entscheidende Vo-raussetzung dafür, dass wir auch in Zukunft in der Lagesind, diese Brandmauer gegen Rechtsextremismus undMinderheitenfeindschaft bei der Bundeswehr aufrecht zuerhalten.
Die Bundeswehr hat längst eine eigene gewachseneTradition. Mit der Teilnahme an friedensbewahrendenEinsätzen auf dem Balkan steht sie – das muss man im-mer wieder sagen –, in einem diametralen Gegensatz zudem, was die Wehrmacht vor mehr als 50 Jahren auf demBalkan getan hat. In der Vergangenheit hatten wir immermal wieder über Zeichen von vordemokratischem Tradi-tionsverständnis bei einem Teil der aktiven und ehemali-gen Soldaten zu sprechen. Das traf auch auf die Benen-nung von Kasernen zu.Bekannt ist, dass eine verklärende Haltung zurWehr-macht eine Schlüsselfunktion hinsichtlich der Ausbil-dung rechtskonservativer und vor allem rechtsextremerIdeologen ist und sozusagen eine ideologische Brückedarstellt, um auf Soldaten zu wirken. Daher ist das Zei-chen umso wichtiger, das Bundesminister Scharping am8.Mai dieses Jahres setzte, indem er in Flensburg eine Ka-serne, die bis dahin nach einem Wehrmachtsgeneral be-nannt war, nach dem Feldwebel Anton Schmid umbe-nannte, einem einfachen Soldaten in der Wehrmacht, deraber enorm mutig war bei seinem Einsatz für verfolgteMenschen und dabei auch umgebracht wurde. Dies istwirklich ein vorzügliches Zeichen. Ich gehe davon aus,dass diese auch international hoch anerkannte Kasernen-umbenennung keine Eintagsfliege ist.
Wehrbeauftragte wie Ministerium bekräftigen ihrepositive Haltung gegenüber der Wehrpflicht. Zugleichstellte die Wehrbeauftragte in ihrem Bericht aber auchfest, es werdeimmer schwieriger, den jungen Männern den Sinnder Wehrpflicht und damit die Bereitschaft zurWehrdienstleistung nahe zu bringen.Diese Schwierigkeiten werden künftig angesichts dergeplanten Reduzierung und Flexibilisierung der Wehr-pflicht wohl nicht geringer. Denn wenn ein sinkender An-teil der mindestens 150 000 zur Verfügung stehendenWehrpflichtigen einberufen wird, liegt zumindest derEindruck nahe, es handele sich um eine selektive Wehr-pflicht. Daher wäre es angebracht, im Rahmen einer vor-läufig fortbestehenden Wehrpflicht vermehrt Rücksichtauf beginnende Berufsausbildung und auf Unterneh-mensgründungen zu nehmen und zum Beispiel die Ver-fügbarkeitszeiten von Wehrpflichtigen abzusenken.Auf jeden Fall müssen Dienstungerechtigkeiten zwi-schen Wehrdienst- und Zivildienstleistenden vermiedenwerden.
Wenn nämlich nur ein Teil der zur Verfügung stehendenWehrpflichtigen einberufen würde, aber alle jungen Män-ner, die den Dienst an der Waffe verweigert haben, zur
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Leistung des Zivildienstes verpflichtet würden, dann wäredas ein Beispiel für eine solche Dienstungerechtigkeit. Zudieser darf es auf keinen Fall kommen.1999 war das Jahr – das ist heute Morgen schon mehr-fach angesprochen worden –, in dem das demokratischeDeutschland und die Bundeswehr zum ersten Mal über-haupt an einem Krieg beteiligt waren. Die Wehrbeauf-tragte stellte in ihrem Jahresbericht fest – dieser Satz ist,wie ich glaube, in der Regel überlesen worden –:Es wäre ein Gebot der Inneren Führung gewesen, ei-nen militärischen Einsatz dieser Art frühzeitig undrechtlich klar zu begründen.Das Verteidigungsministerium fordert in seiner Stel-lungnahme zum Bericht der Wehrbeauftragten von denmilitärischen Vorgesetzten neben professionellem Kön-nen auch Wertekompetenz. An dieser kritischen Feststel-lung, die sich auch an die Wehrbeauftragte richtet, wirddie gestiegene Anforderung an Politiker und militärischeVorgesetzte formuliert, Bundeswehreinsätze rechtlich,politisch und ethisch klar zu begründen und darzustellen.Vor vier Wochen legten die deutschen katholischenBischöfe ihr neues Friedenswort „Gerechter Friede“ vor.An die Stelle des Motivs vom gerechten Krieg, das unsseit Jahrhunderten bekannt ist, setzen die Bischöfe nundas Leitbild vom gerechten Frieden: Wer den Friedenwill, bereite den Frieden vor. Sie gehen ausdrücklich voneiner Ethik der Gewaltfreiheit aus und übersetzen sie indieser gewaltträchtigen Welt in die Gebote „Gewaltmin-derung“ und „Gewaltverhütung“.Die Bischöfe verkennen nicht, dass sich gerade ange-sichts der Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit – er-innert sei allein an das letzte Jahrzehnt – immer wiederKonflikte zwischen dem Gebot der Gewaltfreiheit und derstaatlichen Verpflichtung zum Schutz der eigenen Bürgerund zum Schutz vor schwersten Menschenrechtsverlet-zungen ergeben können. Die Tatsache, dass der Einsatzmilitärischer Gewalt notwendig werden kann, lässt dieBischöfe aber nicht die Tücken eines Gewalteinsatzesverkennen, der nach Feststellung der Bischöfe trotzRechtfertigung immer ein Übel bleiben würde. Das Bi-schofswort benennt deshalb klare und enge Kriterien fürhumanitäre Einsätze. Es widersetzt sich eindeutig dempropagandistischem Missbrauch des Begriffs „huma-nitäre Einsätze“ für partikulare Interessen.Das Friedenswort der katholischen Bischöfe, das, soist mein Eindruck, in der Öffentlichkeit bisher kaumwahrgenommen wurde – wenn, dann wurde es ganzschnell zu Tode gelobt –, ist für die Debatte, die wir imKontext der Bundeswehrreform und der europäischenSicherheits- und Verteidigungspolitik viel intensiver füh-ren sollten, eine große Hilfe. Es ist zur Steigerungunseres Verantwortungsbewusstseins und zur Steigerungunserer Verantwortungsfähigkeit im Hinblick auf einengerechten Frieden und die damit verbundene Rolle vonBundeswehrsoldaten hilfreich.Danke schön.
Das Wort hat
jetzt der Kollege Hildebrecht Braun.
Frau Präsi-dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Anhandvieler Einzelfälle im vorliegenden Bericht der Wehrbe-auftragten mit den Anmerkungen des Bundesverteidi-gungsministeriums wird deutlich, wo die Soldaten derSchuh drückt und wie die Bundeswehrführung darauf zureagieren gedenkt. Der Bericht wird in der Truppe undweit darüber hinaus verbreitet und er wird hier, im deut-schen Parlament, diskutiert. Wir Abgeordnete nehmen ihnsehr ernst; denn dieser Bericht macht auch deutlich, dasswir eine Parlamentsarmee haben, auf die wir stolz sind.Seit über 40 Jahren kann jeder deutsche Soldat eine Be-schwerde an den Wehrbeauftragten und damit an das deut-sche Parlament richten. Er muss nicht den Dienstweg ein-halten. Das ist sehr wichtig. Denn der Dienstweg ist, wiewir wissen, nicht nur der längste Weg; vielmehr würdeauch die Beschwerde durch die Kommentierung von allden dazwischengeschalteten Vorgesetzten – jeder Vorge-setzte würde versuchen, seine eigene Sicht der Dingeeinzubringen und sein eigenes Verhalten und das seinesTruppenteils so positiv wie möglich darzustellen – ange-reichert. Durch unser System der Beschwerden bekom-men wir ein ungeschminktes Bild von der Realität in derTruppe. Zugleich ist dies ein Frühwarnsystem über even-tuell negative Entwicklungen.
Weil jeder Vorgesetzte weiß, dass sich seine Untergebe-nen direkt an den Wehrbeauftragten wenden können, wirder in seinem Bemühen gestärkt, nicht nur korrektes Ver-halten, sondern auch das Prinzip der Kameradschaft unddas Konzept des Staatsbürgers in Uniform in allen Berei-chen zu beachten und zu fördern. Gleiches gilt für das Mi-nisterium, das nicht wegen Nichtbeachtung der Wehrbe-auftragten vom bzw. im Parlament vorgeführt werdenwill.In diesem Zusammenhang möchte ich ein Komplimentan den Vertreter des Bundesverteidigungsministeriumsrichten: Ihre Anmerkungen zu dem Bericht der Wehrbe-auftragten sind präzise und sensibel. Sie gehen auf allewichtigen Fragen ein. Sie sorgen in Ihrem Bericht für eineDarstellung, die sehr leicht lesbar ist und deswegen sehrviel mehr Wirkung entfaltet, als wenn diese Darstellung ineinem separaten Papier verbreitet werden würde.
Ich kann nur sagen: Wenn die Anmerkungen des Bundes-rechnungshofs immer so ernst genommen würden wie derBericht der Wehrbeauftragten, dann wäre die Präsidentindes Rechnungshofs sehr glücklich.
Nun zu einigen speziellen Themen, insbesondere zurpolitischen Bildung der Soldaten. Wie wichtig dieserBereich ist, ist uns allen natürlich klar. In früheren Jahrenwar es immer wieder schwierig, gerade jungen Soldatendeutlich zu machen, was es bedeutet, die Freiheit zu ver-
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Winfried Nachtwei12194
teidigen. Sicherlich, Wehrpflichtige werden auch jetztnicht in Gebiete wie das Kosovo oder nach Bosnien bzw.Mazedonien geschickt. Aber sie haben in der Regel Aus-bilder, die dort bereits gedient haben und die ihnen auseigenem Erleben heraus schildern können, was es be-deuten würde, wenn unsere deutschen Soldaten dort nichtdafür sorgen würden, dass die einen vor den anderen,beispielsweise die Gruppe der Moslems vor den Serben,geschützt würden. Es ist ein ganz wichtiger Punkt, dassaus persönlichem Erfahren heraus geschildert werdenkann, was es bedeutet, frei zu sein und vor Unfreiheit zuschützen. Denn mit der Freiheit ist es im Grunde genom-men genauso wie mit der Gesundheit: Wenn man die Frei-heit nicht hat, weiß man, wie wertvoll die Freiheit ist.Wenn man krank ist, weiß man die Gesundheit ganz an-ders zu würdigen. Denn wenn man gesund ist, nimmt mansie normalerweise als selbstverständlich hin.Meine Damen und Herren, in der Bundeswehr bestehtdie besondere Chance, unseren jungen Menschen nahezu bringen, wie dümmlich die Thesen der Rechtsextre-misten sind, denen sie zu Hause oft ausgesetzt sind. In derBundeswehr leben unsere jungen Männer mit anderen zu-sammen, die in irgendeiner Weise fremd sind, die einenanderen Dialekt sprechen oder einen anderen Glaubenhaben, die vielleicht in Russland oder in der Türkei gebo-ren sind und von denen zu Hause oft Feindbilder existie-ren.Sie leben bei der Bundeswehr gemeinsam in einerStube und erleben, wie die anderen für einen selbstVerantwortung übernehmen und sie gemeinsam einenAuftrag erfüllen. Sie erleben, dass nicht die Vorbildung,Abitur oder Hauptschulabschluss, oder die Tatsache, objemand reich oder arm ist, wichtig dafür sind, dass jemandein Freund sein kann. Vielmehr erleben sie die Eigen-schaften, die Freundschaft wirklich ausmachen, nämlichVerlässlichkeit und Kameradschaft.
Ich glaube, dadurch trägt die Bundeswehr in besonderemMaße dazu bei, dass junge Menschen gegen die Gefahrendes Rechtsextremismus gefeit werden.Ich möchte einen Punkt aufgreifen, an dem mir dieStellungnahme des Verteidigungsministeriums nicht ge-fällt. Claire Marienfeld hat Ihnen natürlich eine Steilvor-lage geliefert, als sie sagte: Teilzeitarbeit kommt für Sol-datinnen auch in Zukunft nicht in Frage. Ich bin nichtdarüber verwundert, dass das Ministerium diese Äuße-rung gerne aufgegriffen und gesagt hat: Na gut, dann soll-ten wir diese Möglichkeit auch gar nicht eröffnen.Ich bin da ganz anderer Meinung. Wir werden in Zu-kunft viele junge Frauen in der Bundeswehr haben. Daswollen mittlerweile auch alle in diesem Parlament. Da-runter werden auch viele junge Mütter sein. Es muss völ-lig klar sein, dass sich die Bundeswehr auch in diesem Be-reich nicht vom Rest der Gesellschaft absetzt, sonderndass wir junge Soldatinnen sehr wohl unterstützen, wennsie Mutter werden wollen, und wir ihnen dort, wo esmachbar ist, Teilzeit zu arbeiten, im Interesse dieser jun-gen Familien, speziell der Kinder, eine solche Chance ge-ben. Lassen Sie mich das als früherer Vorsitzender derKinderkommission im Bundestag sagen.
Hier muss auch das Verteidigungsministerium hinzu-lernen. Wir können nicht nur immer die Flexibilität derSoldaten im Einsatz loben und dann, wenn neue Aufga-benstellungen, neue Probleme auf das Ministerium zu-kommen, sagen: Wir machen es so wie bisher, als wir einereine Männerarmee hatten. – Nein, wir müssen umden-ken.Ich finde die Äußerungen zum Thema „Tragen vonSchmuck“ bei Frauen in der Bundeswehr nachgeradelächerlich. Es sind doch Peanuts, ob sich Frauen in derBundeswehr ein wenig mehr als die Männer schmückenkönnen oder nicht. Dass wir dazu eine eigene ZDV-Num-mer haben, 37/10, ist doch wirklich überflüssig. Gehenwir damit doch locker und vernünftig um, wie wir es vonden Vorgesetzten erwarten.Insgesamt ist das heutige Thema eines, bei dem wir dieDinge in großer Übereinstimmung erörtern können. Ichhalte das für gut. Die Bundeswehr ist eine gemeinsameAufgabe des gesamten Parlaments.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Winfried Wolf.
Sehr geehrte Präsidentin!Werte Kolleginnen und Kollegen! Der hier diskutierte Be-richt wird in einem Punkt immer von allen Parteien imBundestag gelobt. In dem Bericht finden sich einiger-maßen objektiv die Zustände in der Bundeswehr be-schrieben, zum Beispiel auch Zustände wie sie im Ab-schnitt „Verletzung der Menschenwürde bei Ausbil-dungsvorhaben“ zusammengefasst sind. Dort heißt es alsTeil einer Auflistung von mehreren Vorfällen:Ein Maat richtete als Gruppenführer in der Grund-ausbildung ein ungeladenes Gewehr mit der Mün-dung nacheinander auf drei Rekruten, um diese mitNachdruck zu gesteigerter Konzentration anzuhal-ten.Oder weiter:In einem anderen Fall mussten– in einer Übung –„gefangene“ Soldaten ihre komplette Bekleidung bisauf die Unterhose an „gegnerische Kräfte“ abgeben.Zu solchen Fällen vermerkt die Wehrbeauftragte richtig:Es handelt sich hier um Grundrechtsverletzungen.Der Bericht enthält ein weiteres Mal einen Abschnittzum Thema „Entwicklung von Fremdenfeindlichkeit und
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Hildebrecht Braun
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Rechtsextremismus in der Bundeswehr“. Darin wird be-tont, der Rückgang entsprechender Vorgänge in der Bun-deswehr sei kein Signal zur Entwarnung. Auch das findetunsere Zustimmung, zumal jüngste Berichte wieder voneinem Anstieg von Rassismus und Rechtsextremismusin der Bundeswehr sprechen.An die Wurzel dieses zuletzt genannten Problems wirdman im Übrigen nur dann stoßen, wenn man sich intensivmit dem Thema Traditionspflege beschäftigt. Wir erin-nern hier ein weiteres Mal daran: Vor knapp zwei Jahrenkündigte der hier im Saal anwesende StaatsministerNaumann an, dass es in zwei Jahren keine Kasernenna-men mehr geben werde, die an Nazi-Generale oder angrausame Kolonialoffiziere erinnern. Doch es gibt sie biszum heutigen Tag.Das Mindeste, was wir von der SPD und den Grünenverlangen dürfen, ist: Tilgt endgültig diese Kasernenna-men!
Wir wollen nie mehr Namen wie Lettow-Vorbeck – eingrausamer Kolonialoffizier – oder Mölder – ein Kampf-flieger der Nazis, der unter anderem in der „Legion Kon-dor“ gegen die spanische Republik im Einsatz war. Es istwahr: Scharping hat einige richtige Schritte gemacht.Aber Scharping hat mit seiner Personalpolitik genau beidiesem Thema auch Zeugnis für die Doppelbödigkeit sei-ner Politik abgelegt. Er persönlich brachte den GeneralGudera in eine Spitzenverwendung im Verteidigungsmi-nisterium. Er wurde stellvertretender Inspekteur des Hee-res. Derselbe General hat unter anderem die Wehrmachts-ausstellung als „infam“ bezeichnet.
Er hat in der „Rheinischen Post“ vom 6. November 1999ausgeführt: Die Soldaten der Wehrmacht sind währenddes Krieges politisch missbraucht worden.
Sie haben das Höchste gegeben, was ein Soldat gebenkann, ihr Leben.Der Bericht der Wehrbeauftragten ist in einem zentra-len Punkt widersprüchlich. Die im Bericht vielfach be-zeugte Sensibilität für die Grundrechte der Soldaten stehtin einem krassen Gegensatz zum NATO-Krieg gegenJugoslawien und zu der Art und Weise, wie dieser Kriegin dem Bericht reflektiert wird. Dort heißt es zum Beispielauf Seite 7 – der Bericht ist immerhin Anfang des Jahres2000 verfasst –, die Verhandlungen vom Rambouillet hät-ten das Ziel gehabt, dass „die territoriale Integrität der Re-publik Jugoslawien gewährleistet werden“ sollte; als ob inder Zwischenzeit nicht Annex B des Rambouillet-Ver-trags bekannt geworden wäre, in dem die faktische Auf-hebung der Integrität Jugoslawiens verlangt wurde.An anderer Stelle wird der Krieg, der am 24. März1999 von der NATO begonnen wurde, als „humanitäre In-tervention“ bezeichnet; als ob nicht spätestens seit demFrühjahr 2000 bekannt wäre, wie von NATO-Geheim-diensten manipuliert wurde, um den Krieg als eine solchehumanitäre Aktion darzustellen; als ob es nicht der ehe-malige Bundeswehr-Brigadegeneral Loquai gewesenwäre, der enthüllte, dass sogar der so genannte Hufeisen-plan eine Fälschung war. Es gab keinen nachweisbarenPlan serbischer Militärs dieser Art.
Aber, Herr Breuer, es gab eine generalstabsmäßige Vor-bereitung der NATO, den Angriffskrieg in dieser Art undWeise zu führen. Die Frage ist: Was hat Loquai bekom-men – vielleicht das Bundesverdienstkreuz? Nein. Viel-mehr wurde die Verlängerung seines Jobs bei der OSZEauf Intervention von Herrn Scharping gestoppt.
Werte Kolleginnen und Kollegen, es ist traurig, aberwahr, dass sich der tiefe Einschnitt, den dieser Krieg fürunser Land und für die Bundeswehr darstellt, auch im Be-richt, den wir hier diskutieren, niederschlägt und dass indiesem Bericht die entsprechenden Passagen in denDienst der Politik gestellt werden und nicht mehr in denDienst der Neutralität, die dieses Amt verdient.Ich schließe meine Ausführungen und sage bei allemRespekt vor der früheren Wehrbeauftragten und vor demneuen Wehrbeauftragten, dass wir diese Entwicklung zu-tiefst bedauern und hoffen, dass in Zukunft die geboteneNeutralität des Amtes des Wehrbeauftragten wieder ernstgenommen wird.Danke schön.
Das Wort hat
jetzt der Herr Parlamentarische Staatssekretär Walter
Kolbow.
W
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Herr Wehrbeauftragter! Zu Beginnmeiner Ausführungen möchte auch ich wie schon HerrBundesminister Scharping anlässlich der Parlamentsde-batte am 6. April 2000 der inzwischen aus dem Amt ge-schiedenen Wehrbeauftragten des Deutschen Bundesta-ges, Frau Marienfeld, für deren stets sehr engagierte,hilfreiche und vertrauensvolle Zusammenarbeit danken.
Ich freue mich auch seitens des Bundesministeriumsder Verteidigung, dass Herr Kollege Breuer wieder unteruns ist, und hoffe, dass das auf Dauer so bleibt.
Ich will sehr deutlich machen, dass der Jahresbericht1999 der Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestagesin der Tat profunde Kenntnisse der Streitkräfte und der inihnen dienenden Menschen unter Beweis stellt. Dass dasauch aus unseren Stellungnahmen einigermaßen hervor-geht, Herr Kollege Braun, haben Sie zum Ausdruck ge-
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Dr. Winfried Wolf12196
bracht, und – das wollen wir nicht verhehlen – es freut unsselbstverständlich. Wir werden uns Mühe geben, diesauch weiterhin so zu tun, um dann möglicherweise auchbreiteres Lob einholen zu können. Von der PDS erwarteich das nicht und will es auch nicht.
Der Jahresbericht stimmt in seinen Inhalten mit derBundesregierung und deren Beurteilung ausdrücklichdarin überein, dass die Menschen, die in der Bundeswehrihren Dienst leisten, deren größtes Kapital sind. Sie sindgut motiviert, hervorragend ausgebildet und leisten imAuslandseinsatz wie im Inland Außergewöhnliches. Diehier auf der Tribüne anwesenden Soldaten dürfen dies mitStolz für die Kameraden zu Hause entgegennehmen undweitergeben.Der Jahresbericht, den wir heute miteinander debattie-ren, stellt heraus, dass die Angehörigen der Bundeswehrfür ihren Dienst klare politische Vorgaben, den Rückhaltsowie die Achtung der Bürgerinnen und Bürger brauchen.Das ist heute angesichts der Veränderungen, die mit derErneuerung der Streitkräfte einhergehen, notwendigerdenn je. Denn die Bundesregierung hat die einschnei-dendste Reform seit Bestehen der Bundeswehr auf denWeg gebracht. Mit dieser Reform wollen wir moderne,gut ausgebildete bündnis- und zukunftsfähige Streitkräfteschaffen. Wir wollen selbstverständlich, Herr KollegeSiebert, und wir werden den Zeitplan dieser Reformüber-legungen einhalten und die Reform zeitgerecht umsetzen.
Die Beteiligung der Betroffenen ist sichergestellt, und Siedürfen auch von unverzüglichen Entscheidungen in denStandortfragen ausgehen.
Zeitweise auftauchenden Unsicherheits- und Verunsiche-rungskampagnen von interessierter politischer Seitewerden wir mit größter Transparenz und zeitnahester In-formation entgegentreten, und werden sie in sich zusam-menstürzen lassen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle sagen, dass wir in die-sem Hause mit Vokabeln wie „menschenverachtend“,Herr Kollege Siebert, doch sorgfältiger umgehen sollten.In dieser Bundesregierung ist niemand menschenverach-tend und in der Bundeswehr ist es auch niemand.
Herr Staatsse-
kretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Braun?
W
Gerne.
Herr Staats-
sekretär Kolbow, wir haben vorhin gehört, dass Frau
Wieczorek-Zeul, Ihre Kollegin in der Bundesregierung,
der Wehrbereichsverwaltung bei einem Treffen in Mainz
Zusagen gemacht hat. Hat mittlerweile die Bundeswehr
die Vorschläge der Kollegin aus dem Ministerium für
wirtschaftliche Zusammenarbeit nachvollzogen und kann
sie bestätigen, dass diese Aussage von Frau Wieczorek-
Zeul richtig war?
W
Die Entscheidungen über dieBundeswehr und die damit verbundenen Strukturvorha-ben trifft der Bundesminister der Verteidigung nach sei-nen Feststellungen im Verteidigungsausschuss und vordiesem Parlament auf der Grundlage einer bereits abge-schlossenen Grobplanung und einer daraus jetzt zu ent-wickelnden Feinplanung. Deswegen sage ich Ihnen: Einesolche Feinplanung ist noch nicht beendet, und damitkann nicht verbindlich und abschließend über irgendeinenStandort in der Bundeswehr irgendetwas gesagt werden.
Ich will auch darauf hinweisen, dass die Erneuerungder Bundeswehr mit einem umfangreichen Paket vonMaßnahmen einhergehen wird, das wesentlich zur Er-höhung der Attraktivität des Dienstes in den Streit-kräften beitragen soll und sich damit auch durchaus inÜbereinstimmung mit dem zu diskutierenden aktuellenBericht der Wehrbeauftragten sowie mit früheren Darle-gungen durch ihre Vorgänger befindet. Das Vorhabendeckt sich auch mit dem, was Herr Penner, der neue Wehr-beauftragte, heute vorgetragen hat. Auf die Zusammen-arbeit mit ihm freuen wir uns, sie läuft sehr gut, und zwar– was auch für unsere Entscheidungen sehr gut ist, dennnichts ist so gut, als dass es nicht noch besser werdenkönnte – in kritischem Dialog.So sollen die Soldatinnen und Soldaten, die bereits miteiner beruflichen Qualifikation in die Streitkräfte kom-men, künftig die Möglichkeit erhalten, ihre Qualifikationwährend der Dienstzeit zu erweitern; das heißt, Aktuali-sierung des Berufsförderungsdienstes, Neuordnung derUnteroffizierslaufbahn, eine spürbare Anhebung der Ein-gangsbesoldung – dies wird immer wieder in den Be-richten unserer Wehrbeauftragten angesprochen – und dieÖffnung der Bundeswehr in ihrer ganzen Vielfalt für denfreiwilligen Dienst von Frauen.Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie einen Punkt ange-sprochen haben, über den nicht einfach zu entscheidensein wird, nämlich die Teilzeitarbeit.Wir sind in diesemBereich zu einem Dialog bereit, wenn es darum geht, Ge-setze, die allgemein für Frauen geschaffen wurden, fürFrauen in den Streitkräften anwendbar zu machen. Wirwerden im Zusammenhang mit den Frauen, die zuneh-mend in die Streitkräfte kommen werden, durchaus einSpannungsfeld zu lösen haben. Ich denke aber, wir wer-den das in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Bundes-tag schaffen können.Es ist von verschiedenen Rednern in dieser Debattesehr nachdrücklich darauf hingewiesen worden, dass die
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Stehzeit von sechs Monaten für Auslandskontingentedie Bundeswehr beschwert. Wir betreiben die Umgliede-rung der Streitkräfte – das wissen Sie – von der Verteidi-gungsarmee zu einer Einsatzarmee unter der Personalvor-gabe von ungefähr 150 000 Soldatinnen und Soldatenauch deshalb, um vom Anspruch her einen Zeitraum vonzwei Jahren „auslandsfreier“ Zeit sicherstellen zu können.Wir sind guter Hoffnung, dass wir auch in diesem Zu-sammenhang genug intelligente Lösungen anbieten kön-nen, die einen solchen Zeitrahmen auch für den unzwei-felhaft nicht einfachen Bereich von Spezialisten inunseren Streitkräften sicherstellen.
Ich darf Ihnen sagen, dass bis zur endgültigen Verab-schiedung der Reform Gerüchte, falsche Meldungen undArbeitsergebnisse, die es wert sind, diskutiert zu werden,aber auch solche, die man nicht zu diskutieren braucht,immer wieder das Licht der interessierten Öffentlichkeiterblicken werden. Der Bundesverteidigungsminister hatsofort erklärt, dass Wehrdienstausnahmen für verhei-ratete Wehrpflichtige nicht geeignet sind, die Wehrge-rechtigkeit herzustellen, und hat damit aufkommendeGerüchte rasch beseitigt. Wir werden Ihnen ein Konzeptvorschlagen und Sie im Verteidigungsausschuss zur Dis-kussion darüber einladen, mit welchen Maßnahmen dieWehrgerechtigkeit im Zusammenhang mit einer Dienst-gerechtigkeit aufrechterhalten werden kann. Dies mussauch im Hinblick auf eine Akzeptanz der Wehrpflicht ge-sehen werden.Das Amt des Wehrbeauftragten trägt maßgeblich dazubei, den Geist der Demokratie und der demokratischenKontrolle in den Streitkräften erlebbar zu machen. Geradefür die jungen Grundwehrdienst leistenden Soldaten ist esunverzichtbar, zu erfahren, dass die Demokratie nicht amKasernentor endet, sondern Bestandteil unserer Wehrver-fassung ist. Nur wer Demokratie im Alltag erlebt, wird dieBereitschaft mitbringen, diese auch für andere zu schüt-zen und im Rahmen des erweiterten Aufgabenspektrumsder Bundeswehr dem Wohle und dem Schutz bedrohterMenschen zu dienen.Ich unterstreiche deutlich das, was der Wehrbeauf-tragte gesagt hat: Das Leitbild des Staatsbürgers in Uni-form und die Prinzipien der inneren Führung werden esuns nach wie vor ermöglichen, die vorhandenen Mängelin den Streitkräften, die immer wieder aufgezeigt werdenmüssen, so klein wie nur irgendwie möglich zu halten undinsbesondere das Menschenbild unserer Streitkräfte so zuerhalten, wie es seit Gründung der Bundeswehr bestandenhat, nämlich ein demokratisch geprägtes Menschenbildmit dem Respekt voreinander und mit Verantwortung für-einander, auch in einer Armee im Auslandseinsatz.Danke schön.
Zu einer Kurz-
intervention erhält die Kollegin Angelika Beer das Wort.
Danke, Frau Präsidentin.
Es ist sehr positiv zu bewerten, dass das Parlament, das
sonst sehr strittig über Verteidigungsangelegenheiten
diskutiert, heute über den Bericht der Wehrbeauftragten
so sachlich debattiert, was selten genug geschieht. Weil
Si
Ich hatte den neuen Wehrbeauftrag-
ten, Herrn Penner, so verstanden, dass es keineswegs da-
rum geht – ich glaube, hier gibt es ein Missverständnis –,
die Stehzeit generell auf vier Monate zu reduzieren. Die
Erfahrungen – das kann ich aufgrund meiner Eindrücke,
die ich bei Gesprächen mit Soldaten, die in Bosnien und
im Kosovo eingesetzt waren, gesammelt habe, nur unter-
stützen – legen eher eine Flexibilisierung der jetzigen Re-
gelungen nahe:
Erstens. Es kann für die Soldaten sinnvoll sein, ihren
Urlaub splitten zu können; denn gerade für junge Ehe-
paare bzw. Beziehungen ist es schwierig, sechs Monate
voneinander getrennt zu leben.
Zweitens. Auch der Rücktransport und kommerzielle
Urlaubsflüge aus den Einsatzgebieten müssen un-
konventioneller gehandhabt werden, damit Flexibilität
gewährleistet wird.
Drittens. Mein Eindruck ist, dass man bei den sechs
Monaten aufpassen muss, welche Bereiche sich für
flexible Regelungen eignen. Es gibt durchaus Einsatzge-
biete, in denen nach vier Monaten ein Wechsel vorge-
nommen werden kann. Aber es kann aufgrund der Erfah-
rungen vor Ort auch sinnvoll sein, wenn Führungskräfte
die Bereitschaft mitbringen, länger als sechs Monate
Dienst im Einsatzgebiet zu tun.
Trotz aller Flexibilisierung sollte die Zusage des Ver-
teidigungsministers, dass zwei Jahre zwischen jedem
Auslandseinsatz liegen werden, eingehalten werden.
Wenn darüber Konsens besteht, bin ich froh. Ich hatte ge-
rade den Eindruck, dass die Opposition das missverstan-
den hatte. Es kann, wie gesagt, nicht das Ziel sein, die Ein-
satzdauer wieder auf vier Monate zu reduzieren. Das
würde auch nicht dem Bedarf der Truppe entsprechen.
Aber wir sollten uns weiter für eine Flexibilisierung der
Regelungen, die für die sechs Monate dauernden Einsätze
gelten, einsetzen.
Vielen Dank.
Als Nächster er-
hält in der Debatte das Wort der Kollege Hans Raidel.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Dieser Bericht 1999gibt auch mir die Gelegenheit, unserer WehrbeauftragtenFrau Marienfeld noch einmal herzlich für ihre Arbeit zudanken. Und ich darf die Gelegenheit nehmen, dem neuenWehrbeauftragten Herrn Penner viel Glück und Erfolg bei
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seiner Arbeit für die Bundeswehr und damit für uns allezu wünschen.
Es ist hier von verschiedener Seite die Frage desRechtsextremismus in der Bundeswehr angesprochenworden. Auch im Bericht ist dazu eine Stellungnahme ab-gegeben worden. Meine Damen und Herren, das ist einThema, das die Gesellschaft gerade in diesen Tagenberührt, aber ich möchte doch darauf hinweisen, dass zuZeiten unserer Koalition durch Minister Rühe die not-wendigen Maßnahmen konsequent und angemessen an-gesetzt und durchgeführt worden sind
und dass der Verteidigungsausschuss gerade unter derFührung des Vorsitzenden Kurt Rossmanith dieses Themain einer sehr guten Art und Weise aufgezeigt und bewäl-tigt hat. Auf den Grundlagen, die damals geschaffen wor-den sind, kann die heutige Regierung, kann der heutigeAusschuss aufbauen und dieses Thema auch entsprechendgut bewältigen.
Ich glaube, das sollte für die heutige Arbeit auch einmalklar anerkennend gesagt werden. Sie hatten damals diesenAusschuss aus ganz anderen Überlegungen eingesetzt,
sodass ich glaube, dass wir mit dem, was ich eben darge-stellt habe, dieses Thema richtig angegangen sind.In der Bewertung, dass wir alle gemeinsam, meine Da-men und Herren, gegen Gewalt, gegen Rassismus, gegenFremdenfeindlichkeit in der Gesellschaft vorgehen müs-sen, sind wir uns einig.
Wie schwierig das im Einzelfall sein kann, zeigt die not-wendige Debatte über ein NPD-Verbot in diesen Tagen.Alle diejenigen, die es mit der Bundeswehr gut meinen,müssen hier an einem Strang ziehen. Ich teile auch dieAuffassung des Herrn Staatssekretärs, dass man sich mitmanchen Äußerungen überhaupt nicht erst auseinandersetzen sollte, weil sie wirklich am Thema vorbeigehen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Be-richt 1999 befasst sich in gewohnt sorgfältiger Weise mitdem gesamten Innenleben der Bundeswehr. Mängel wer-den aufgedeckt, Hinweise zur Beseitigung gegeben. Eswird aber auch positiv bescheinigt, dass sich im Bereichder Fürsorge vieles getan hat.Wir müssen ja die Unterschiede zwischen der früherenBundeswehr und der Bundeswehr im Bereich der neuenEinsätze feststellen. Hier war völlig neues Denken, völligneues Überlegen gefordert, seitens des Ministeriums, aberinsbesondere in der fürsorglichen Begleitung durch uns,durch das Parlament. Dabei sind wir schrittweise zu ei-nem Standard gekommen, der allseits gelobt wird.Wenn der Ausschuss nächste Woche wieder im Kosovosein und das Gespräch mit den beteiligten Soldaten führenwird, bin ich überzeugt, dass die Grundtendenz stimmt.Selbstverständlich gibt es viele Einzelfragen, Einzelfälle,die bedacht werden müssen, wo Familienschicksale an-ders bewertet werden müssen als 08/15.Ich fordere auch hier ein, dass zum Beispiel im Bereichder inneren Führung nicht diese Verbürokratisierungfortschreitet, wie wir sie bei Einzelfällen beobachten müs-sen. Das ist ein Hauptargument, warum hier und da Un-zufriedenheit vorhanden ist, sodass es überhaupt zu Be-schwerden bei der Wehrbeauftragten – früher – und beimWehrbeauftragten – jetzt – kommen kann.Wenn nämlich die Vorgesetzten oder diejenigen, diesich mit den persönlichen Fällen auseinander zu setzenhaben, den Menschen etwas mehr im Mittelpunkt sehenwürden und nicht nur die Vorschrift, wenn sie sich ver-nünftig zusammensetzen würden,
um im Einzelfall das Problem lösen zu können, wäre dasbesser, als wenn jedes Mal auf die Vorschrift X verwiesenwürde. Immer dann, wenn dem Vorgesetzten die Argu-mente ausgehen – das habe ich beim Nachprüfen oft er-fahren –, wird auf den Dienstrang gezeigt, also quasi derOber sticht den Unter.Ich habe nichts gegen das Prinzip Befehl und Gehor-sam, das muss sein, das gehört dazu, aber es kommt aufdie Ausformung und darauf an, wie man innerhalb derTruppe, innerhalb der Aufgabenerledigung miteinanderumgeht. Ich glaube, dass ich in diesem Zusammenhangkeine Einzelfälle anführen muss, obwohl ich das tunkönnte.Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, dass die innereFührung im Lichte der neuen Aufgaben, im Lichte derneuen Organisation weiter entwickelt werden muss. Dasist ein Hauptpunkt unserer Thematik insgesamt. Das isteine Hauptforderung, die wir als CDU/CSU immer schonbegleitend mit eingebracht haben. Ich bitte Sie, das neueKonzept der inneren Führung möglichst schnell zur Dis-kussion vorzulegen.
Herr Wehrbeauftragter, Sie haben das Thema Wehr-pflicht beleuchtet. Sie haben von verschiedenen Spektrengesprochen. Es muss möglich sein, an das eine zu denkenund das andere zu bedenken. Aber wir sollten uns doch ei-nig darüber sein, dass die Wehrpflicht ein entscheidenderBestandteil unserer Bundeswehr, ein entscheidender Be-standteil unserer Landes- und Bündnisverteidigung istund dies auch bleibt.
Deswegen habe ich die große Bitte, dass wir in einenWettbewerb der Ideen eintreten, dass transparent gemachtwird, was für das Land und für das Bündnis gut ist undwelche Wehrform die geeigneteste ist, um die Aufga-benerfüllung gewährleisten zu können. SchablonenhaftesDenken in diesem Bereich muss passé sein. In einer mo-dernen Struktur muss zuerst die Begründung erfolgen,
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Hans Raidel12199
warum wir junge Menschen zu dieser Pflichtaufgabeheranziehen. Man kann nicht einfach sagen, so ist es undso bleibt es. Insoweit will ich Ihnen gerne folgen. Ich willIhnen aber nicht folgen, wenn die Konsequenz Ihrer Aus-sage gewesen sein sollte, dass die Wehrpflicht abgeschafftwerden soll. Ich begrüße ausdrücklich Flexibilität. Dassdas aber als Einstieg in den Ausstieg gewertet wird, daskann nicht der Sinn und der Zweck sein. Ich möchte eineDebatte über die Bewertung. Zum Schluss können wir dienotwendige Konsequenz daraus ziehen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, insgesamtglaube ich, dass wir viel zu wenig in der Öffentlichkeitund mit der Öffentlichkeit über Sicherheitsfragen, überdie Bundeswehr diskutieren. Das ist das große Manko,das große Defizit. Das möchte ich der Regierung mit aufden Weg geben. Wenn ich Sie, Herr Staatssekretär, richtigverstanden habe, so haben Sie in einem Nebensatz gesagt,Sie laden uns zu Debatten ein. Warum haben Sie das dannin verschiedenen Bereichen bisher nicht forciert und inder Öffentlichkeit über die Bundeswehr gesprochen?Manche Missverständnisse wären dann aufgelöst worden.Manches könnte dann gemeinsam in die richtige Richtunggebracht werden. Ich will umgekehrt davon ausgehen undSie zu einem Wettbewerb der guten Ideen für eine guteBundeswehr einladen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ulrike Merten.
Frau Präsidentin! Verehrte Kol-leginnen und Kollegen! Herr Kollege Siebert, ich willmich zunächst an Sie wenden. Es steht mir eigentlichnicht zu, über Aufbau und Inhalt Ihrer Rede zu urteilen.Ich muss aber deutlich sagen, dass Sie heute das Themaverfehlt haben.
Eines möchte ich noch anfügen. Den Vorwurf, derBundesverteidigungsminister fördere die Entwicklungder Bundeswehr hin zu einer Regierungsarmee und wegvon einer Parlamentsarmee, finde ich ungeheuerlich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zuBeginn meiner Ausführungen noch einmal der Frau Wehr-beauftragten und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiternfür ihren Bericht danken.
Dieser Bericht, der 1999 entstanden ist, ging noch da-von aus, dass Frauen, die in der Bundeswehr Dienst tunwollten, auf den Sanitäts- und Militärmusikdienst be-schränkt waren. Dies ist inzwischen durch das Urteil desEuropäischen Gerichtshofes korrigiert worden. Jetzt sol-len alle Laufbahnen in der Bundeswehr für Frauen geöff-net werden; die entsprechenden Änderungen des Solda-tengesetzes stehen an.Die ersten Bewerberinnen haben sich in den vergange-nen Monaten den notwendigen Tests unterzogen. Auchwenn ein Riesenansturm, wie nicht anders zu erwarten,ausgeblieben ist, dürfen wir doch davon ausgehen, dassdas Bild und damit der Alltag der Bundeswehr stärker alsbisher von Frauen geprägt sein wird.Der 99er-Bericht beschreibt sehr eindrucksvoll die Pro-bleme von Soldatinnen im Truppenalltag. Auch wenn essich um einzelne und Gott sei Dank nicht um generelle Er-scheinungsformen handelt, tun wir im Hinblick auf die inZukunft wachsende Zahl von Frauen bei der Bundes-wehr gut daran, schon jetzt sehr genau hinzusehen.Lassen Sie mich einige Beispiele nennen: EinzelneSoldatinnen haben sich über ungerechte und schikanöseBehandlung, verbale Erniedrigungen sowie verschiedeneFormen sexueller Belästigung beklagt. So drang einHauptfeldwebel sowohl in den abgetrennten Wohnbe-reich von Unteroffizierinnen als auch in den Duschbe-reich des Sanitätstrakts ein. Sein Verhalten ahndete dasTruppengericht mit einer empfindlichen Disziplinarmaß-nahme. Ich finde, derartiges Fehlverhalten muss durch dieim Soldatengesetz geregelte Pflicht zur Kameradschaftmit dienstrechtlichen Sanktionen bestraft werden.
Da kann ich der Wehrbeauftragten nur voll und ganz zu-stimmen. Es darf unter keinen Umständen der Eindruckentstehen, derartige Dinge würden unter den Teppich ge-kehrt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es stimmt zuver-sichtlich, im Bericht zu lesen, dass die jungen Frauen in-zwischen in der Regel so selbstbewusst sind, dass sie inproblematischen Situationen ihren männlichen Kollegenangemessen und mit der nötigen Deutlichkeit begegnen.Dass sie sich gegebenenfalls zusätzlich an ihre Vorgesetz-ten und Kameraden wenden, hat nichts mit Hilflosigkeitzu tun. Es ist vielmehr konsequent und zeugt von Zivil-courage, Fehlverhalten, gleich um welches es geht, öf-fentlich zu machen.In anderen Fällen geht es nicht um besonders rüdesbzw. schikanöses Verhalten, über das die Frauen zu kla-gen hatten, sondern mehr um ihre Sorge, von ihren Vor-gesetzten besonders fürsorglich und zuvorkommend be-handelt zu werden. Machten diese Beispiele Schule,würde das nicht dazu beitragen, die Akzeptanz bei ihrenmännlichen Kollegen zu steigern. Die Kehrseite der Me-daille zu den von der Frau Wehrbeauftragten geschilder-ten Entgleisungen scheint nämlich zu sein, dass manchemännliche Vorgesetzte den unverkrampften Umgang mitweiblichen Soldaten scheuen. Ganz offensichtlich habensie Sorge, als frauenfeindlich zu gelten.Der Bericht weist noch einmal darauf hin – das ist mirin vielen Gesprächen immer wieder gesagt worden –, dassFrauen in der Bundeswehr Teilzeitarbeit wünschen. Ichstimme der Wehrbeauftragten zu, wenn sie sagt, derDienst in der Bundeswehr unterscheide sich von Tätig-
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Hans Raidel12200
keiten in Zivilberufen; Teilzeitarbeit, die gleichberechtigtauch männlichen Soldaten zugestanden werden müsste,sei für die Truppe nicht ohne weiteres umsetzbar. DieWehrbeauftragte spricht sogar von Unannehmbarkeit.
Darauf sollten wir die jungen Frauen deutlich hinwei-sen. Ich wundere mich schon sehr, dass nun der Bundes-wehrverband zur Speerspitze der Bewegung wird undausgerechnet in den Streitkräften das Prinzip der Verein-barkeit von Beruf und Familie verwirklichen will.
– Ausgerechnet in den Streitkräften.Aber zurück zum Problem. Die jungen Frauen müssensich auch unter dem Aspekt, Familie und Beruf vereinba-ren zu wollen, gut überlegen, ob die Streitkräfte wirklichder richtige Arbeitsplatz für sie sind. Das hat nichts damitzu tun, dass wir den Frauen nicht hinreichend Mut machenwollen. Das hat etwas mit Verantwortlichkeit zu tun. Wirmüssen ihnen die Möglichkeit geben, sich das vorher sehrgenau zu überlegen. Sie müssen wissen, dass die Erhal-tung der Einsatzfähigkeit maßgeblich für die Gestaltungdes Dienstes bleiben muss.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch eine Bemerkungzur Änderung des Grundgesetzes machen. Ich glaube, esentspricht dem Respekt gegenüber unserer Verfassung,wenn wir jetzt zur Öffnung der Bundeswehr für Fraueneine entsprechende Klarstellung im Grundgesetz vorneh-men und damit eine eindeutige verfassungsrechtlicheGrundlage schaffen.Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
Als Letzter in
der Debatte hat der Abgeordnete Robert Leidinger das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Wehrbeauftragter, wir
haben mit großer Aufmerksamkeit gehört, was Sie gesagt
haben. Sie haben viele Punkte angesprochen, die seit lan-
gem im Argen liegen, Stichwort: Bekleidung, Betreuung,
Heimflüge und Sanitätsversorgung. Wir wissen das. Wir
werden das in der richtigen Weise mit Ihnen, mit Ihrem
Hause, aber natürlich auch parlamentarisch beraten. Die
Bekleidung ist ein Problem, das die deutsche Armee – –
Herr Kollege,
darf ich Sie einen kleinen Moment unterbrechen. Ich je-
denfalls kann Sie kaum verstehen. Ich bitte die Technik,
das Mikrofon etwas lauter zu stellen. Und Sie müssen
mehr zum Saal gewandt sprechen, auch wenn Sie mit dem
Wehrbeauftragten reden wollen; dann sind Sie besser zu
verstehen.
Ich habe mich zu demWehrbeauftragten umgedreht. – Ich bedanke mich, FrauPräsidentin.Zu dem Kollegen Siebert möchte ich jetzt keine Be-merkung machen; da sind schon einige Worte gesagt wor-den und das muss ausreichen.Aber lassen Sie mich bitte eine Frage stellen: TrotzFriede, Freude, Eierkuchen möchte ich einmal wissen,warum immer wir Sozialdemokraten diejenigen sein müs-sen, die die Schutthaufen von Reformstaus der Politikder Konservativen wegräumen müssen.
– Da brauchen Sie gar nicht zu lachen! Das war schon1969 so. Damals mussten Helmut Schmidt, SchorschLeber und Hans Apel nach einer langen Regierungszeitder Konservativen die gleiche Arbeit machen, die heuteRudolf Scharping machen muss.
Wir stellen uns dieser Aufgabe gern; allerdings möchteich nicht immer wieder Ihr Gejammere hören. Wir könnenuns parlamentarisch über alles unterhalten; aber man kanndoch nicht so herumjammern, wenn man 16 Jahre Regie-rungszeit hinter sich hat
und einen Haufen Arbeit nicht erledigt hat. Da frage ichSie, Kollege Breuer, oder Ihre Kolleginnen und Kollegen:Warum haben Sie die Dinge, die Sie heute beklagen, da-mals nicht gemacht?
Ich erinnere mich sehr gut an die Debatte heute vor14 Tagen in diesem Hause. Da ging es um die Zukunft derBundeswehr. Auch unser Kollege Herr Polenz hat damalszu diesem Thema gesprochen. Die Rede war ein Armuts-zeugnis; im Hinblick auf die Zukunftsfragen – Fehlan-zeige. Die Opposition hat die Chance vertan, nach einerOrientierungspause dazu ein Wort zu sagen.Sie reden immer davon, dass Sie mit dieser Union denKonsens in Bezug auf die Streitkräfte fortsetzen und un-terstützen wollen. Sie sagen das dem Minister und Siesagen das bei allen möglichen Gelegenheiten. Aber Sietun nichts. Ich glaube, das Parlament muss jetzt seineHausaufgaben machen, auch die Hausaufgaben, die Sienicht erledigt haben. Wenn wir dabei zusammenarbeitenkönnen, freue ich mich sehr darüber; dann möchte auchich einen Beitrag dazu leisten. Aber das Gejammere sollteman lassen.Unsere Armee ist weder eine Scharping-Armee, nochwar sie eine Rühe-Armee. Deshalb ist der Vorwurf, esgehe um eine Regierungsarmee, den wir hier immer wie-der hören, falsch. Es ist eine Parlamentsarmee und wir,
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Ulrike Merten12201
Sozialdemokraten und alle anderen in diesem Hause, wer-den sorgfältig darauf achten, dass keine Worte in diefalsche Kehle kommen können.
Es ist ganz klar, dass hinsichtlich der Auslandsein-sätze einige Dinge zu regeln sind. Wir wissen auch, dassUnsicherheiten zu beseitigen sind. Ebenso wollen wir zu-sätzliche Belastungen vermindern. Wir tun das in einemständigen Prozess. Dazu brauchen wir die Unterstützungdes gesamten Parlaments. Auch der Wehrbeauftragte wirdseinen Beitrag leisten. Seine Berichte geben Beispieledafür, dass Soldaten in diesem schwierigen neuen Umfeldihre Sorgen haben. Wir nehmen diese Sorgen nicht nurernst, sondern wir greifen sie auch auf. Wir werden sieparlamentarisch in der Sache angehen und damit Stück fürStück Vertrauen und Sicherheit schaffen, auch hinsicht-lich der schwierigen Aufgaben heute und in der Zukunft.Ich möchte noch ein Wort zur Tradition und zu demGefühl sagen, das viele Soldaten haben. Ich war selberlange Zeit Soldat, ich habe viele Tausend Soldaten geführtund ausgebildet und ich habe immer empfunden, dass siesich in ihrer Rolle als Staatsbürger in Uniform wohl-fühlen, dass sie mit vollem Herzen dabei sind, dass sieihre Rolle nicht nur verinnerlicht haben, sondern auch inihrer praktischen Arbeit umsetzen. Deswegen bin ich auchein so großer Anhänger der Wehrpflichtarmee. Wir ha-ben mit dieser Form unserer Armee als Wehrpflichtarmeeeinen Beitrag geleistet, der beispielhaft ist. Es gibt keineBerufsarmee, die irgendwo besser sein könnte oder besserwäre als die Bundeswehr.Deswegen lassen Sie uns diesen Begriff fortschreiben.Lassen Sie uns die Bundeswehr zukunftsorientiert gestal-ten und lassen Sie uns das aufnehmen, was die jungenMenschen in die Armee hineintragen: ihren Zukunftswil-len, ihren Optimismus, ihre Leistungsbereitschaft, ihrepersönliche Initiative und auch ihre Hingabe, ihren Wil-len, einen Beitrag für diese Gesellschaft in unseren Streit-kräften zu leisten. Der Bürger in Uniform und der Bürgerin der Gesellschaft sind ein und dasselbe.Diese Armee ist gut,
diese Armee ist belastbar.
Ich füge auch hinzu: Sie will belastet werden und sie kannbelastet werden. Wir werden ihr den Respekt und die An-erkennung, die sie verdient, nicht verweigern. Wir werdensie auch fordern. Wir werden sie aber vor allem so aus-statten, dass sie ihre schwierigen Aufgaben nach innenund außen erfüllen kann.Zum Schluss möchte ich den Dank an die frühereWehrbeauftragte, der schon ausgesprochen worden ist,wiederholen, aber auch dem neuen Wehrbeauftragtennoch einmal sagen: Wir freuen uns auf die Zusammenar-beit mit Ihnen, wir freuen uns auf Ihre Beiträge; wir wis-sen, dass die Soldaten bei Ihnen gut aufgehoben sind. Wirfreuen uns auf den konstruktiven Dialog. In diesem Sinneeine gute Zusammenarbeit!Danke sehr.
Ich schließe da-
mit die Aussprache. Wir kommen jetzt zu der Beschluss-
empfehlung des Verteidigungsausschusses zu dem Jah-
resbericht 1999 der Wehrbeauftragten; das sind die
Drucksachen 14/2900 und 14/4204. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gibt es Gegenstimmen oder
Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Die Beschluss-
empfehlung ist damit mit den Stimmen des ganzen Hau-
ses angenommen worden.
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Adam, Ilse Aigner, Peter Altmaier, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Verfassungsklage der Bundesregierung gegen
das Land Nordrhein-Westfalen wegen der Ver-
letzung seiner verfassungmäßigen Pflichten ge-
genüber dem Bund im Verfahren zur Aufhe-
bung der Immunität des Abgeordneten Ronald
Pofalla
– Drucksache 14/4244 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Eckart von Klaeden.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren Kollegen! Wir sprechen heuteüber einen in der jüngeren deutschen Parlamentsge-schichte einmaligen Skandal: die widerrechtliche und dieverfassungswidrige Aufhebung der Immunität unseresKollegen Ronald Pofalla. Dieser Vorgang ist seit der Festi-gung des Immunitätsrechts in den letzten Jahrzehnten ein-malig; denn zum ersten Mal ist ein Abgeordneter desDeutschen Bundestages mit einer falschen Tatsachendar-stellung um seine Immunität gebracht worden. DieserVorgang ist einzigartig in der Parlamentsgeschichte derBundesrepublik Deutschland. Nicht die in unserem An-trag festgestellten Schlussfolgerungen sind ungeheuer-lich, sondern der Vorgang selber ist ungeheuerlich.
Es ist schon ein Justizskandal, wenn man einmal liest,wie das strafprozessuale Verfahren sein Ende gefundenhat durch die Anträge des Kollegen Pofalla gegen dieDurchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse, zu de-nen das Landgericht Kleve in seinem Beschluss vom11. August 2000 mit 31-seitiger ausführlicher Begrün-dung unter anderem feststellt:Die von der Staatsanwaltschaft vorgelegtenErmittlungsergebnisse rechtfertigten keine Durchsu-chungs- oder Beschlagnahmeanordnungen. ... Ein ...Tatverdacht lag nicht vor. ... Diese Berechnung derStaatsanwaltschaft beruht auf Annahmen, die ...
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Robert Leidinger12202
nicht ... belegt sind, sodass es sich um vage Vermu-tungen handelt, die teilweise auf unzutreffendeSchlussfolgerungen beruhen. ... Die Beschlüsse wa-ren daher … in diesem Punkte angesichts der fehlen-den Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen rechtswid-rig.
Dieser Beschluss alleine ist, was das Strafverfahren an-geht, eine schallende Ohrfeige für die Justiz in Nordrhein-Westfalen.
Aber die Angelegenheit hat noch eine andere Dimen-sion, über die wir heute sprechen müssen. Mit dem Ver-fahren ist nämlich das Immunitätsrecht des DeutschenBundestages – nicht nur das eines Abgeordneten – grobverletzt worden.
Welche Funktion hat das Immunitätsrecht? Das Immu-nitätsrecht soll das Parlament vor der tendenziösen oderwillkürlichen Strafverfolgung seiner Mitglieder schützen.Es soll also die Funktionsfähigkeit des Parlament schüt-zen.
– Deswegen, Herr Kollege von Larcher, klagen wir undwollen die Rechte des Bundestages geltend gemacht se-hen. Wir treten nicht einem Organstreitverfahren bei oderleiten es ein. Wir beantragen aus genau diesen Gründendie Eröffnung des Bund-Länder-Verfahrens vor dem Ver-fassungsgericht. Das Immunitätsrecht soll die Funktions-fähigkeit des Parlaments schützen. Es wird aber in seinGegenteil verkehrt, wenn sich nicht das gesamte Parla-ment angesichts einer solch groben Verletzung gemein-sam wehrt.Gab es einen Grund dafür, den Kollegen Pofalla einer– vielleicht tendenziösen – Strafverfolgung auszusetzen?Er hat sich im Auftrag der Unionsfraktion bei der Klärungder so genannten Hausbauaffäre des ehemaligen Staats-ministers Bodo Hombach engagiert. Er befasste sich mitden Ungereimtheiten bei Hombachs Tätigkeit als SPD-Landesgeschäftsführer in Nordrhein-Westfalen. Es kamzu einer Kleinen Anfrage und zur Befragung des Bundes-kanzlers durch den Kollegen Pofalla in einer für den Bun-deskanzler außerordentlich unangenehmen Weise. Siekönnen natürlich sagen, diese Untersuchung habe keineErgebnisse gebracht. Aber schließlich hat sie dazu ge-führt, dass der Bundeskanzler seinen – so seineeigenen Worte – „besten Mann“ auf den Balkan beförderthat.Lassen Sie uns auf das Immunitätsverfahren zu spre-chen kommen. Selbstverständlich ist der Bundestag inFällen von Immunitätsaufhebungen von einer angemesse-nen Kooperation mit denjenigen Einrichtungen abhängig,die für die Rechtspflege zuständig sind. Das sind vor al-lem Einrichtungen der Länder wie die Staatsanwaltschaf-ten und die Gerichte.Damit der Bundestag interessengerecht die Genehmi-gung einer Immunitätsaufhebung nach Art. 46 des Grund-gesetzes beschließen kann, muss sich sowohl der Bun-destag als auch die betroffene Fraktion darauf verlassenkönnen, dass die zuständigen Behörden und Gerichte dieWertungen des Grundgesetzes respektieren und durchsachgemäße Vorarbeit und Anträge dazu beitragen, dassder Bundestag sein Recht wahrnehmen und seine Pflichtgegenüber den Abgeordneten und den parlamentarischenGliederungen erfüllen kann. Es besteht die verfassungs-rechtlich niedergelegte Erwartung einer Kooperation zwi-schen den Ländern und dem Bund.
Dieses Kooperationsverhältnis wird zusätzlich verstärktdurch die in unserer Verfassung angelegte Pflicht der Län-der zu rechtmäßigem Handeln und zu vertrauensvollerZusammenarbeit mit den Organen des Bundes.Aus beiden resultiert eine besondere Sorgfaltspflichtder Länder bei der Antragstellung zur Aufhebung der Im-munität eines Mitgliedes des Deutschen Bundestages.Dies muss so sein, weil geschäftsordnungsmäßig alleinauf der Grundlage der Anträge der Strafverfolgungs-behörden entschieden wird. Das ist auch richtig so; dennnach dem Prinzip der Gewaltenteilung und gemäß unse-rer Geschäftsordnung treten wir weder im Ausschussnoch im Plenum in eine eigene Beweiswürdigung odergar in eine eigene Ermittlungstätigkeit ein. Das wäre auchgar nicht zu leisten. Sollen wir etwa eine eigene Ermitt-lungsbehörde für eine eventuell notwendige Ermittlungs-arbeit in Berlin vorhalten? Soll sich der Bundestag rich-terliche Gewalt anmaßen? Sollen wir das Prinzip derGewaltenteilung sowohl in horizontaler als auch in verti-kaler Hinsicht durchbrechen? Nein, um all das zu vermei-den, sind wir auf die vertrauensvolle Zusammenarbeit unddie Einhaltung der rechtsstaatlichen Maßstäbe durch dieLänder angewiesen.
Was sich in Nordrhein-Westfalen ereignet hat, darf sichnicht wiederholen, weder in Nordrhein-Westfalen noch ineinem anderen Bundesland. Es könnte jeden von uns tref-fen. Deshalb hat der Bundestag die Pflicht, alles zu unter-nehmen, um einem solchen Rechtsmissbrauch für die Zu-kunft einen Riegel vorzuschieben. Wir brauchen dieverfassungsgerichtliche Festlegung der Sorgfaltspflichtender Länder im Immunitätsverfahren. Das kann nur in ei-nem Bund-Länder-Streit überprüft werden.Für ein solches Verfahren ist nach dem Wortlaut desBundesverfassungsgerichtsgesetzes allein die Bundesre-gierung antragsberechtigt. Dazu soll sie mit unserem An-trag aufgefordert werden. Diese Exklusivität der alleini-gen Antragsberechtigung der Bundesregierung beruhtwohl auf dem irrtümlichen Eindruck der Grundgesetz-autoren bzw. der Gesetzgebung im Rahmen des Bundes-verfassungsgerichtsgesetzes, es handle sich beim Bund-Länder-Streit immer nur um einen Streit auf dem Gebietder Exekutive. Das Immunitätsrecht und unser Fall sindaber der beste Beweis dafür, dass dem nicht so ist.Wenn man es nun dabei belässt, dass nur die Bundes-regierung für den Bund das Verfahren einleiten kann,dann ist sie jedenfalls in ihrer Disposition nicht frei, das
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Eckart von Klaeden12203
Verfahren zu unterlassen, wenn sie als Rechte des BundesRechte anderer Verfassungsorgane oder -organteile gel-tend machen muss. Sie hat eine treuhänderische Pflicht,den Streit für den Bundestag verfassungsgerichtlichklären zu lassen. Gegen diese Verfassungsorgantreue ver-stößt die Bundesregierung, wenn sie die Klage nicht ein-reicht. Die Bundesregierung kann über die Stellung desverfahrenseinleitenden Antrages somit nicht mehr freidisponieren. Diese Pflicht intensiviert sich noch dadurch,dass die Bundesregierung am Zustandekommen derRechtsverletzung beteiligt war, da die beanstandeten An-träge der Staatsanwaltschaft über den Dienstweg auchüber das Bundesministerium der Justiz an den Deut-schen Bundestag gelangt sind.Ich möchte das gesamte Haus ausdrücklich auffordern,unserer Argumentation zu folgen und unserem Antrag zu-zustimmen. Es wäre das Ende des Immunitätsverfahrens,wenn wir im Ausschuss und im Plenum nach parteipoliti-schen Gesichtspunkten entscheiden würden. Am Erhaltdes Immunitätsrechts und seiner Funktion muss das ge-samte Parlament ein starkes parteiübergreifendes Inte-resse haben.
Es geht auch nicht darum, ob die Bundesregierung dievom Deutschen Bundestag bzw. der CDU/CSU-Fraktionvorgetragene Rechtsauffassung teilt oder nicht; denn siestellt den Antrag für den als solchen nicht prozessfähigenBund. Es geht um Rechte des Bundestages und nicht umeine möglicherweise andere Rechtsauffassung der Bun-desregierung. Ihre Ansicht müsste die Bundesregierungvor Gericht loyal zurückstellen. Der Streit besteht zwi-schen dem Bund und dem Land, nicht zwischen der Bun-desregierung und der Landesregierung. Dieser Streit be-darf der Klärung.Aus der überparteilichen Gemeinsamkeit im Bundes-tag muss auch die überparteiliche Empörung über dieeklatanten Rechtsverletzungen erwachsen.
Es besteht schließlich ein überparteiliches Interesse, Kri-tik zu üben und die Sorgfaltspflichtverletzungen zuklären.Dies muss verfassungsgerichtlich geschehen; denn esgeht nicht um einen strafrechtlichen, zivilrechtlichen oderverwaltungsrechtlichen Streit. Insofern geht die Argu-mentation der Bundesregierung fehl, Rechtsbeziehungenzwischen dem Bund und dem antragstellenden Land ineiner Immunitätssache seien nicht dem Verfassungsrechtzuzuordnen. Eine solche Argumentation ist schlicht ab-wegig. Wir brauchen eine verfassungsgerichtliche Klä-rung, weil auch Richter des Landes Nordrhein-Westfalenan dem Verfahren beteiligt waren.Ich möchte Sie daher nochmals auffordern: StimmenSie unserem Antrag zu! Sorgen Sie für eine verfassungs-gerichtliche Klärung dieses Vorganges! In vielen Sonn-tagsreden wird die Gemeinsamkeit der Demokraten be-schworen. Halten wir uns daran, auch wenn heuteDonnerstag ist.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Erika Simm.
Sehr verehrte Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr von Klaeden, wirwerden dem Antrag Ihrer Fraktion nicht zustimmen.
Wir werden aus rechtlichen, prozessualen Gründen nichtzustimmen,
vor allem aber aus Erwägungen, die mit dem Selbstver-ständnis
des Parlaments auch in seiner Beziehung zum Bundes-verfassungsgericht zu tun haben.Der Antrag suggeriert, das Bundesverfassungsgerichtmüsse eingeschaltet werden, um die Sorgfaltspflichteneines Landes festlegen zu lassen, die dieses in Verbindungmit der Aufhebung der Immunität eines Abgeordneten zubeachten hat.
Bei dem Klageweg, den die CDU/CSU hierzu be-schreiten will, sehe ich erhebliche Rechtsprobleme.
– Sie haben doch gar nicht zugehört. Woher wollen Siedenn schon wissen, dass es unglaublich ist?Ein so genannter Bund-Länder-Streit muss sich auf einverfassungsrechtliches Verhältnis beziehen. Es darf nichtnur um die Anwendung des so genannten einfachenRechts gehen.Hier beim Verfahren Pofalla aber geht es darum, ob dieStrafprozessordnung richtig angewandt wurde, ob gegenihn ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden durfteund ob Wohn- und Büroräume sowie Banken durchsuchtwerden durften. Die Staatsanwaltschaft vor Ort hat beidesbejaht. Sie ist hierin auch vom zuständigen Amtsgerichtbestätigt worden. Es hat die geplanten Durchsuchungenund Beschlagnahmen für zulässig erklärt. Diese gericht-liche Entscheidung sollte man nicht übersehen. Sie warauch für uns wichtig. Ich komme noch darauf zurück.Durch einen Beschluss des Landgerichts Kleve hat derVorgang eine andere Wendung genommen. Dieses hat imNachhinein die Durchsuchungen für rechtswidrig erklärtund festgestellt, die strafprozessualen Voraussetzungenfür den Erlass des Durchsuchungs- und Beschlagnah-mebeschlusses hätten nicht vorgelegen.
Wir bewegen uns folglich immer auf der Ebene derStrafprozessordnung, also des einfachen Rechts, und
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Eckart von Klaeden12204
nicht des Verfassungsrechts, wie es für die Zulässigkeitdes beabsichtigten Klageverfahrens notwendig wäre.Auch was die Beachtung des Immunitätsgrundsatzesangeht, braucht man nicht nach Karlsruhe zu gehen.
Ich sehe dafür auch mit Blick auf die persönliche Betrof-fenheit des Kollegen Pofalla keinen Bedarf. Auf seine Be-schwerde hat das Landgericht Kleve die Durchsuchungenals rechtswidrig bezeichnet, die Staatsanwaltschaft hatdas Ermittlungsverfahren offiziell eingestellt und der Jus-tizminister des Landes Nordrhein-Westfalen hat sich beimKollegen Pofalla ausdrücklich und öffentlich entschul-digt.
Herr Pofalla ist also in einem guten Sinne rehabilitiertworden.
Wo da noch ein Rechtsschutzinteresse für eine Klagevor dem Bundesverfassungsgericht ist, vermag ich nichtzu erkennen.
Die CDU/CSU-Fraktion möchte die Sorgfaltspflichten ei-nes Landes, konkret: einer Staatsanwaltschaft durch dasBundesverfassungsgericht geklärt wissen.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lammert?
Nein. Bei dieser Stimmung gehe
ich davon aus, dass ich eine sachliche Frage nicht zu er-
warten habe.
Die CDU/CSU-Fraktion möchte die Sorgfaltspflichten
eines Landes, konkret also einer Staatsanwaltschaft durch
das Bundesverfassungsgericht geklärt wissen,
auch um für die Zukunft – so sagt sie jedenfalls – insoweit
klare Verhältnisse zu schaffen.
Aber brauchen wir dafür das Bundesverfassungsge-
richt? Als Parlament sind wir sehr sensibel – jedenfalls
sollten wir es sein –, wenn sich ein anderes Verfassungs-
organ
– Sie lachen immer zu früh –, eine Behörde oder ein Ge-
richt mit Angelegenheiten des Deutschen Bundestages
befasst. Nach unserem Selbstverständnis sehen wir uns
durchaus in der Lage, unsere Angelegenheiten selbst zu
regeln. Das gilt auch für den hier streitigen Vorgang, und
zwar innerparlamentarisch für die Immunität und unsere
diesbezüglichen Verfahren, aber auch für das Vorfeld, also
die Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden.
Unser Immunitätsrecht und die von uns dafür festge-
legten Regeln liefern keineswegs das einzelne Mitglied
des Bundestages quasi schutzlos den Attacken einer
Staatsanwaltschaft aus.
Das sage ich gerade auch für die Kollegen unter uns, die
nicht dem Immunitätsausschuss angehören und mögli-
cherweise aufgrund von Äußerungen einzelner Kollegen
aus der Union in den letzten Monaten den Eindruck ge-
winnen mussten, sie würden gegenüber einer unberech-
tigten Durchsuchung und den daraus resultierenden nega-
tiven Folgen nicht ausreichend geschützt.
Die durch Art. 46 des Grundgesetzes gewährleistete
Immunität des Abgeordneten ist auch in Zeiten eines
gefestigten Rechtsstaates keineswegs ein Anachronismus,
sondern hat ihre Berechtigung. Gleich, worin man heute
ihre Schutzfunktion sieht, ob im Schutz vor tendenziöser
Verfolgung durch die Exekutive oder in der Sicherstel-
lung der Funktionsfähigkeit des Parlamentes oder im
Schutz des Ansehens und der Würde des Bundestages –
jedes dieser Schutzziele richtet sich an eine andere Staats-
gewalt und veranlasst sie zu einem sorgsamen Umgang
mit den Belangen des Parlaments und seiner Mitglieder.
Diese Schutzfunktion wird durch unsere einschlägigen
geschäftsordnungsrechtlichen Regelungen und die stän-
dige Praxis des Immunitätsausschusses durchaus ge-
wahrt.
Allerdings ist es auch seit vielen Jahren Konsens unter
den Abgeordneten des Deutschen Bundestages, dass Sinn
und Zweck der Immunität nicht sein kann, zu verhindern,
dass Abgeordnete strafrechtlich zur Verantwortung gezo-
gen werden können. Wir beanspruchen nach unserem de-
mokratischen Selbstbewusstsein und Selbstverständnis
keine Privilegierung gegenüber dem so genannten nor-
malen Bürger.
Wir, das heißt der Immunitätsausschuss, schauen uns
aber die Vorgänge schon genau an.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Bachmaier?
Ich bat gerade darum, keine Zwi-schenfrage zuzulassen. – Es gibt keinen Automatismusund kein Abnicken der staatsanwaltschaftlichen Anträgeohne eigene Prüfungsmöglichkeit.
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Erika Simm12205
Erlauben Sie mir, kurz unsere beiden wesentlichenVerfahren zum Beleg dafür darzustellen, dass wir kei-neswegs das willenlose Werkzeug der Strafver-folgungsbehörden sind, als das wir im Antrag derCDU/CSU dargestellt werden.
Zu Beginn einer neuen Wahlperiode genehmigt dasPlenum generell die Durchführung von Ermittlungsver-fahren mit Ausnahme solcher, die den Tatbestand der po-litischen Beleidigung betreffen. 48 Stunden, nachdem dieStaatsanwaltschaft dem Bundestagspräsidenten mitgeteilthat, dass sie gegen einen Abgeordneten ein Ermittlungs-verfahren einzuleiten beabsichtigt, wird diese generelleGenehmigung wirksam. Dieses Verfahren, das bereits inder 5. Wahlperiode festgelegt wurde, schützt den Bundes-tag und das betroffene Mitglied in einem Stadium des Er-mittlungsverfahrens vor negativer Publizität,
wo noch nicht feststeht, ob es überhaupt zu einer Anklagekommen wird.
Der Ausschuss befasst sich in diesen Fällen stets mitder Mitteilung der Staatsanwaltschaft. Wir treten zwarnicht in eine eigene Beweiswürdigung ein, lassen unskeine Akten vorlegen und vernehmen auch nicht etwa sel-ber Zeugen, aber wir prüfen, ob die Mitteilung der Staats-anwaltschaft in sich plausibel und rechtlich nachvollzieh-bar ist.
Ergeben sich dabei Zweifel, so gibt es Rückfragen, wer-den Berichte erbeten oder auch Vertreter der zuständigenStrafverfolgungsbehörden zur Erörterung der Zweifels-fragen in den Ausschuss gebeten. Die anwesenden Kolle-gen aus dem Immunitätsausschuss – auch hier sitzen wel-che – werden sich erinnern, dass wir in mehreren Fällenso verfahren sind. Wir nehmen dabei auch Fürsor-gepflichten unseren Kollegen gegenüber wahr.
– Wenn Sie das in Zweifel ziehen, dann tun Sie das auchgegenüber Ihren eigenen Kollegen!Nach der Verfassung haben wir außerdem die aus-drückliche Befugnis, die Immunität eines Abgeordnetenwieder herzustellen, wenn wir Zweifel an der Recht-mäßigkeit eines Ermittlungsverfahrens haben. In der letz-ten Legislaturperiode haben wir von dieser Möglichkeiteinmal Gebrauch gemacht; Sie wissen, um welches Ver-fahren es sich handelt.Neben dieser generellen Genehmigung zur Durch-führung von Ermittlungsverfahren bedarf die Erhebungder Anklage oder zum Beispiel eine Durchsuchung derausdrücklichen Genehmigung des Deutschen Bundesta-ges. Auch in diesem Fall läuft ein Antrag der Staatsan-waltschaft natürlich nicht ungeprüft durch. So ist es seitJahren ständige Praxis des Immunitätsausschusses, dasseine Durchsuchung erst und nur dann genehmigt wird,wenn ein richterlicher Durchsuchungsbeschluss vorliegt;das heißt, der Staatsanwalt muss sein Durchsuchungsbe-gehren vom Richter prüfen und genehmigen lassen.So geschah es auch im Verfahren gegenüber dem Kol-legen Pofalla. Der Immunitätsausschuss hat sich bei sei-ner Entscheidung auf einen zu diesem Zeitpunkt vorlie-genden gültigen Gerichtsbeschluss gestützt. Eineeventuell drohende Verjährung spielte für den Immu-nitätsausschuss dabei keine Rolle.
Insbesondere ist er nicht durch unzutreffende diesbezüg-liche Angaben zu einer übereilten Entscheidung veran-lasst worden.Dass die Durchsuchung drei Tage vor der Landtags-wahl anstand
und dass der Kollege Pofalla für ein Ministeramt in Düs-seldorf vorgesehen war, wussten die Kollegen im Aus-schuss. Dieser Aspekt ist durchaus abgewogen worden;dennoch wurde die Genehmigung der beantragten Durch-suchungen und Beschlagnahmen durch einstimmigen Be-schluss des Ausschusses empfohlen.
Dieses Parlament hat den Schutz der Immunität stetsals eigene Angelegenheit und Aufgabe verstanden. Es hatim breiten Konsens zwischen den Parteien Regeln für dasImmunitätsverfahren beschlossen. Es liegt durchaus inder Macht und der Zuständigkeit des Parlaments, imLichte neuer Erfahrungen die bisherigen Grundsätze inImmunitätsangelegenheiten zu überdenken und erforder-lichenfalls auch zu ändern.
In diesem Fall könnten wir selbstverständlich auch diestaatsanwaltlichen Ermittlungen und die Anträge – –
– Ich weiß nicht, was für eine Referendarausbildung Siehatten.
Das können nur Sie wissen.Wir können in diesem Fall natürlich auch selbst die anstaatsanwaltschaftliche Mitteilungen und Anträge zu stel-lenden Anforderungen neu bestimmen und eingehenderePrüfungen festlegen. Ob wir mit diesem Schritt gut bera-ten wären, das lasse ich dahingestellt.Der Antrag der CDU/CSU gibt den Anspruch, eigeneAngelegenheiten selbst zu regeln, ohne Not auf. Es be-steht der Verdacht, dass es sich dabei um eine vorder-
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Erika Simm12206
gründige, parteipolitischen Zwecken dienende Initiativehandelt. Der Zeitpunkt der Antragstellung spricht dafür.Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass das Immu-nitätsrecht ein Recht des ganzen Parlaments ist.
Es muss – bisher war das Konsens – in Zusammenarbeitaller Fraktionen behandelt und erforderlichenfalls weiter-entwickelt werden.
Ich bitte Sie dringlich, zu diesen Grundsätzen zurückzu-finden. Das läge im Interesse des ganzen Hauses.
Zu einer Kurz-
intervention erhält der Kollege Lammert das Wort.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das, was die Kollegin
Simm gerade offenkundig nicht nur als persönliche Mei-
nung, sondern auch als Auffassung der SPD-Fraktion
vorgetragen hat, gehört für mich als langjährigem Mit-
glied im Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Ge-
schäftsordnung des Deutschen Bundestages zu den depri-
mierendsten Erfahrungen, die ich in 20 Jahren
Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag gemacht habe.
– Im Unterschied zu manchen anderen Kollegen bin ich
über viele Jahre hinweg mit manchen Immunitätsverfah-
ren befasst gewesen.
Ich bilde mir ein, zu wissen, wovon ich spreche.
Es wäre vielleicht stilsicherer gewesen, wenn die SPD-
Fraktion nicht eine Rednerin benannt hätte, die in der glei-
chen Sache als Berichterstatterin tätig und deswegen
möglicherweise auch befangen war.
Ich bin im Übrigen zu dieser Debatte nicht mit der Ab-
sicht gekommen, mich zu Wort zu melden. Ganz im Ge-
genteil! Aber ich bin fassungslos
angesichts des Hinweises, es gehe beim Immunitätsrecht
im Allgemeinen oder gar bei dem konkreten Fall, über den
wir hier sprechen, nicht um eine Privilegierung von Ab-
geordneten. Größere Selbstverständlichkeiten brauchen
in dieser Debatte sowohl unter rechtlicher als auch unter
politischer Würdigung ganz gewiss nicht mehr vorgetra-
gen zu werden. Worum es hier angesichts der ständigen
Erfahrung, die wir mit dem Immunitätsrecht haben, geht,
ist doch ganz gewiss nicht eine Privilegierung von Abge-
ordneten. Denn allein schon die Notwendigkeit der Auf-
hebung der Immunität führt regelmäßig zu öffentlicher
Aufmerksamkeit, die so gut wie nie – völlig gleichgültig,
wie das Verfahren am Ende ausgeht – eine freundliche,
positive Berichterstattung zugunsten des betroffenen Ab-
geordneten bewirkt.
Es geht für mich um etwas völlig anderes; Frau Justiz-
ministerin, ich will Sie in diesem Zusammenhang aus-
drücklich ansprechen.
Wenn ein, wie nun von ordentlichen Gerichten festge-
stellt, „rechtswidriges“ Vorgehen gegen ein Mitglied des
Deutschen Bundestages in dieser Weise möglich ist, dann
hätte ich von Ihnen, Frau Justizministerin, gerne die Frage
beantwortet, wie Sie ausschließen wollen, dass irgendei-
nem unbescholtenen, nicht prominenten und nicht mit öf-
fentlichen Mandaten ausgestatteten Bürger dieses Landes
morgen und übermorgen Ähnliches passiert.
Ich erwarte in dieser Debatte seitens der Bundesregie-
rung – denn das ist vonseiten der SPD-Fraktion nach dem
soeben Vorgetragenen offenkundig nicht zu erwarten –
eine Antwort auf zwei konkrete Fragen: Erstens. Wollen
Sie vor dem Hintergrund des Verfahrens, über das wir hier
verhandeln, ernsthaft die Behauptung aufrechterhalten,
die geltenden Regeln unseres Immunitätsrechts schützten
wirkungsvoll vor negativer Publizität? Zweitens. Wenn
Sie, wenn ich richtig verstanden habe, dem Antrag der
CDU/CSU-Fraktion aus rechtlichen Gründen nicht zu-
stimmen wollen, auf welche andere Weise, bitte schön,
wollen Sie dann in Zukunft ausschließen, dass in ähnli-
cher Weise rechtswidrig gegen Mitglieder des Bundesta-
ges und anderer Körperschaften oder gegen nicht mit öf-
fentlichen Mandaten ausgestattete Bürgerinnen und
Bürger dieses Landes vorgegangen wird?
Da ich erst seit dieser Legislatur-periode Vorsitzende dieses Ausschusses bin, kann ich zuIhrer Behauptung, Sie seien seit zehn Jahren Mitglied desImmunitätsausschusses, wenig sagen.
Ich habe Sie allerdings nicht regelmäßig im Immunitäts-ausschuss gesehen. Aber das ist ja nicht das Entschei-dende.Ich möchte noch einmal auf Folgendes hinweisen:Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Immunitätsaus-schusses lag ein rechtsgültiger amtsgerichtlicher Be-schluss vor, der die Durchsuchungen und Beschlagnah-mungen für zulässig erklärt hat.
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Erika Simm12207
– Entschuldigung, Sie selbst wissen – auch Herr vonKlaeden hat darauf hingewiesen – wir sind kein oberesGericht. Dafür gibt es Instanzenwege der Gerichte.
Unsere Sache ist es nicht, richterliche Beschlüsse auf ihreRichtigkeit zu überprüfen.
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass alleBeschlüsse einstimmig gefasst wurden. Wenn Sie also dasVerfahren und die Anwendung des Verfahrens, das wirüber viele Jahre praktizieren, angreifen, greifen Sie auchIhre eigenen Kollegen im Immunitätsausschuss an.
Des Weiteren habe ich versucht, zu erklären, dass wirrechtlich in der Lage und auch verpflichtet sind, unsere ei-genen Angelegenheiten selbst zu regeln. Wenn Sie ein Be-dürfnis dafür sehen, an den bestehenden Regeln etwas zuändern, dann ist es Ihnen völlig unbenommen, entspre-chende Anträge im Immunitätsausschuss einzubringen.Einen solchen Antrag von der CDU/CSU haben wir bisheute nicht gesehen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Rainer Funke.
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Die F.D.P. wird dem Antrag der
CDU/CSU-Fraktion zustimmen.
Dem Kollegen Pofalla ist in gravierender Weise Unrecht
geschehen.
Mir ist klar, dass das Immunitätsrecht nicht dem Schutz des
Abgeordneten – auch nicht dem des Kollegen Pofalla –
dient, sondern dem Schutz der Arbeitsfähigkeit dieses
Hohen Hauses. Trotzdem kann nicht hingenommen wer-
den, dass aus offensichtlich politischen Gründen versucht
wurde, einem Kollegen dieses Hauses zu schaden, und
zwar nicht nur in seinem politischen Leben, sondern auch
in seiner gesamten bürgerlichen Existenz.
Natürlich weiß ich, dass in einem Wahlkampf mit har-
ten Bandagen gekämpft wird. Das wird in den letzten Ta-
gen eines Wahlkampfes immer so sein. Aber dass man
versucht, einen Kollegen niederzumachen, ihm in seiner
bürgerlichen Existenz zu schaden, ist wohl einmalig.
Ich empfinde es als einen Skandal, dass auf der Bun-
desratsbank kein Vertreter des Landes sitzt, das dafür ver-
antwortlich ist.
Diesem Kollegen, der jetzt nicht anwesend ist, müsste
man sagen, dass wir keine politische Justiz wollen. Dies
war politische Justiz!
Der Kollege Pofalla ist mit dem Antrag der Staatsan-
waltschaft und den zugrunde liegenden Ermittlungsver-
fahren völlig überraschend konfrontiert worden, ohne
dass ihm die Chance eines rechtlichen Gehörs gegeben
worden wäre. Hinzu kommt, dass die rechtlichen Erwä-
gungen hinsichtlich eines möglichen Verjährungseintritts
völlig abwegig gewesen sind. Das hätte man auch im Im-
munitätsausschuss erkennen können.
Eine Eilbedürftigkeit war unter keinem rechtlichen Ge-
sichtspunkt gegeben.
Der Deutsche Bundestag ist insofern selbst betroffen,
weil jeden von uns ein solch überraschendes Vorgehen
treffen könnte, ohne dass wir jemals mit Gesetzen in Kon-
flikt geraten wären. Auch aus diesem Grund muss der
Bundestag ein Zeichen setzen, dass ohne Gewähr des
rechtlichen Gehörs keine Aufhebung der Immunität er-
folgen darf. Rechte, die jeder Bürger hat, nämlich auf
rechtliches Gehör, müssen auch für Bundestagsabgeord-
nete gelten.
Mir ist bewusst, dass es vielerlei rechtliche Möglich-
keiten gibt, um die Rechtswidrigkeit des Verfahrens fest-
zustellen. Vor dem Landgericht Kleve ist dies bereits ge-
schehen. Sicherlich gibt es auch noch andere Wege, um
zum Bundesverfassungsgericht zu kommen, aber wegen
dieser gravierenden Angriffe auf die Rechte und die Ehre
des Kollegen Pofalla sollten alle rechtlichen Wege be-
schritten werden, die möglich sind. Deswegen stimmen
wir dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion zu.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Steffi Lemke.
WerteFrau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wirbefassen uns heute mit dem Antrag der CDU/CSU-Frak-tion auf Einleitung einer Verfassungsklage der Bundesre-gierung gegen das Land Nordrhein-Westfalen in der Sa-che.
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Dr. Norbert Lammert12208
Nach der erfolgten juristischen Prüfung dieses Antra-ges lehnt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Forde-rung der CDU/CSU-Fraktion ab. In dem Antrag derCDU/CSU-Fraktion wird verlangt, die Bundesregierungmöge ein Bund-Länder-Streitverfahren vor dem Bundes-verfassungsgericht gegen das Land Nordrhein-Westfaleneinleiten. Die Bundesregierung soll nach Ansicht derCDU/CSU in diesem Verfahren geltend machen, das LandNordrhein-Westfalen habe gegen seine verfassungs-gemäßen Pflichten gegenüber dem Bund verstoßen,
indem die Staatsanwaltschaft Kleve den Antrag auf Auf-hebung der Immunität des Abgeordneten Ronald Pofallasowie den Antrag auf Genehmigung von Durchsuchungs-und Beschlagnahmemaßnahmen beim AbgeordnetenPofalla gestellt habe.
Was mit dem Antrag verlangt wird, kann nach Auffas-sung meiner Fraktion eindeutig nicht Gegenstand einesBund-Länder-Verfahrens sein. Im Bund-Länder-Streitverfassungsrechtlicher Art kann nur die Verletzung derdem Land gegenüber dem Bund aufgrund des Grundge-setzes obliegenden Rechte und Pflichten geltend gemachtwerden. Im vorliegenden Fall handelt es sich jedoch umeine Verwaltungsmaßnahme der Staatsanwaltschaft einesLandes. Das verfassungsrechtliche Verhältnis zum Bundist nicht berührt.Verwaltungsmaßnahmen können nicht Gegenstand ei-ner Bund-Länder-Streitigkeit sein, sondern nur Rechteund Pflichten, die sich unmittelbar aus den Kompetenz-normen des Grundgesetzes ergeben. Maßnahmen oderUnterlassungen innerhalb eines Verwaltungsverfahrensscheiden aus. – So weit die Erläuterung, warum wir denvorliegenden Antrag der CDU/CSU-Fraktion nicht unter-stützen.Es macht nach unserer Ansicht keinen Sinn, auf die Zu-ständigkeit der Bundesregierung abzuheben oder einenBund-Länder-Streit aufzubauen. Damit wird aus meinerSicht von dem tatsächlichen Fehlverhalten sogar eher ab-gelenkt.Wir haben im Immunitätsausschuss und auch darüberhinaus mehrfach die Bereitschaft erklärt, die Vorgänge zudurchleuchten. Im Immunitätsausschuss ist bereits mehr-fach über das Verfahren diskutiert worden. Aber die Be-handlung der Immunitätsangelegenheit des AbgeordnetenPofalla durch den Deutschen Bundestag ist ordentlich undentsprechend den von uns selbst aufgestellten Regelun-gen erfolgt.Ich möchte daran erinnern, dass der Deutsche Bundes-tag dazu einen einstimmigen Beschluss gefasst hat. So-wohl im Immunitätsausschuss als auch hier im Plenumdes Deutschen Bundestages sind Sie, Herr Abgeordnetervon Klaeden und Herr Abgeordneter von Stetten, am Ver-fahren beteiligt gewesen und haben dem Verfahren, so wiees durchgeführt worden ist, zugestimmt.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen von Klaeden?
Nein,
ich gestatte keine Zwischenfrage.
Das heißt, der Beschluss des Immunitätsausschusses
wurde auf der Grundlage gerichtlicher Anordnungen ge-
troffen, die – wie das Landgericht Kleve inzwischen fest-
gestellt hat – rechtswidrig waren. Aber zum damaligen
Zeitpunkt konnten wir keine andere Entscheidung treffen.
Der Deutsche Bundestag tritt in Immunitätsangelegenhei-
ten in keine eigene Beweiswürdigung ein.
Von daher ist es ein Problem, dass der Abgeordnete
Lammert heute versucht hat, das Immunitätsverfahren im
Deutschen Bundestag, das von allen Fraktionen gemein-
sam getragen worden ist, selber in Zweifel zu ziehen.
Herr Abgeordneter von Stetten und Herr Abgeordneter
von Klaeden, Sie wissen, dass die Eilbedürftigkeit bei un-
serer Entscheidung im Immunitätsausschuss keine Rolle
gespielt hat und dass wir die Tatsache, dass die Landtags-
wahl in Nordrhein-Westfalen kurz bevorsteht, in unserer
Diskussion sehr wohl gewürdigt haben. Wir haben genau
darüber diskutiert und trotzdem einen einstimmigen Be-
schluss mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion gefasst.
Wäre das Immunitätsverfahren im Sinne unserer eige-
nen Regelungen nicht ordentlich verlaufen, hätte mit Si-
cherheit nicht nur die CDU/CSU-Fraktion Widerspruch
eingelegt. Ich denke, dass die Vorgänge in Nordrhein-
Westfalen weiterhin der eingehenden Überprüfung bedür-
fen, um den Abgeordneten Pofalla in den Punkten, in de-
nen ihm Unrecht geschehen ist, zu rehabilitieren und um
das Immunitätsrecht der Abgeordneten des Deutschen
Bundestages gewährleisten zu können.
Die Konstruktion einer nicht gegebenen Bund-Länder-
Streitigkeit halte ich allerdings für den falschen Weg. Der
Abgeordnete von Klaeden wies selber darauf hin, dass
man mit dem von ihm vorgeschlagenen Verfahren juristi-
sches Neuland betreten würde. Ich möchte, dass wir die-
sen Vorgang ernsthaft aufarbeiten, und würde deshalb
vorschlagen, dies in den zuständigen Gremien zu tun und
nicht auf dem Wege, den die CDU/CSU in ihrem Antrag
vorschlägt.
Zu einer Kurz-
intervention gebe ich dem Kollegen von Stetten das Wort.
Ich verstehe nicht, meine sehr verehrten Damen und Her-ren, dass die SPD diesen Antrag ablehnt. Es geht nicht da-rum, was die SPD oder die Vorsitzende des Immunitäts-ausschusses gemacht haben, sondern es geht darum, wasin Nordrhein-Westfalen schief gelaufen ist.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Steffi Lemke12209
Die Vorsitzende des Immunitätsausschusses hat ebengesagt, Herrn Pofalla sei Unrecht geschehen und das, wasuns von Nordrhein-Westfalen vorgetragen worden sei, seirechtswidrig gewesen.
– Ich dachte, Sie hätten es bewertet. Es wäre aber schongut gewesen, wenn Sie es für eigene Zwecke gebrauchthätten.Ich glaube, es ist nicht in Ordnung, dass die SPD so tut,als stellten wir über die Behandlung durch die SPD einenAntrag; wir stellen einen Antrag, das Verfassungsgerichtsolle sich mit etwas befassen, was in Nordrhein-Westfalenschief gelaufen ist. Dort ist vieles schief gelaufen undnicht umsonst sind mehrere Leute ihrer Ämter enthobenworden. Es wäre gut gewesen, wenn auch der Justizmi-nister zurückgetreten wäre. Auf diese Weise hätte er poli-tische Verantwortung übernommen.
Unabhängig davon ist vielleicht das eine oder andereim Immunitätsausschuss des Deutschen Bundestagesschief gelaufen. Wir sind schlichtweg darüber getäuschtworden, was in Nordrhein-Westfalen ermittelt und unsvorgelegt wurde. Die besondere Eilbedürftigkeit wurdewegen der angeblich drohenden Verjährung bejaht; daswar mit ein Grund, warum die Sache vor der Wahl undnicht hinterher entschieden wurde. Auch das war eineTäuschung und darüber sollte das Bundesverfassungsge-richt urteilen. Nichts anderes verlangen wir.Sie täten gut daran, diesem Antrag zuzustimmen.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Sabine Jünger.
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Wir debattieren heute über die Konse-
quenzen der unberechtigten Aufhebung der Immunität
des Kollegen Pofalla. Aber – das will ich deutlich sagen –
ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es in
Wahrheit auch um etwas anderes geht. Es scheint nicht
nur mir so, als ginge es in erster Linie um die Vorführung
der nordrhein-westfälischen Justiz.
Ich kann mich auch des Eindrucks nicht erwehren, dass
das Parlament für parteipolitische Interessen instrumenta-
lisiert werden soll.
Wenn die CDU/CSU-Fraktion in dieser Angelegenheit
meint, das Bundesverfassungsgericht bemühen zu müs-
sen, muss ich fragen: Warum haben Sie dann nicht selbst
die Initiative ergriffen?
Seitdem nunmehr klar ist, dass die Bundesregierung ge-
gen das Land Nordrhein-Westfalen keine Klage einleiten
will und ein Fristablauf droht, geht die CDU/CSU-Frak-
tion selbst nach Karlsruhe.
Das hätten Sie auch gleich tun können. Seit gestern soll
die Bundesregierung durch ein Eilverfahren gezwungen
werden, ein Bund-Länder-Streitverfahren gegen das Land
Nordrhein-Westfalen zu führen.
Eckart von Klaeden meinte auch heute wieder, die Ein-
zigartigkeit dieses Vorganges sei der Grund für den An-
trag seiner Fraktion. Aber es kann doch nicht darum ge-
hen, eine Einzigartigkeit mit einer Einmaligkeit zu
beantworten; denn einmalig wäre es schon, wenn die Bun-
desregierung gegen das Land Nordrhein-Westfalen kla-
gen würde. Auch ich habe ernsthafte Zweifel, ob ein
Bund-Länder-Streit der richtige Weg ist.
Die Immunität – darüber sind wir uns wohl alle
einig – ist ein sehr hohes Gut. Die Verletzung dieser
Schutzvorschrift durch einen rechtswidrigen Akt ist alles
andere als ein Kavaliersdelikt. Bekanntlich wurden des-
wegen in Nordrhein-Westfalen personelle Konsequenzen
gezogen und der nordrhein-westfälische Justizminister
hat sich entschuldigt. Nein, die Sache ist damit nicht aus
der Welt. Weitere sachliche Konsequenzen sind notwen-
dig, um in Zukunft solche Fehlentscheidungen wie im Fall
Pofalla auszuschließen.
Nicht zuletzt deshalb wird der Immunitätsausschuss des
Bundestages aktiv werden müssen.
So sehr der Kollege Pofalla in seiner verfassungsrecht-
lichen Stellung betroffen ist und der Streit um die Aufhe-
bung der Immunität eine verfassungsrechtliche Dimen-
sion hat, so wenig sehe ich die Ursachen für diesen Vorfall
im Verfassungsrecht und in dem Bedarf an einer verfas-
sungsgerichtlichen Klärung. Die Verbesserung des Immu-
nitätsverfahrens scheint eher das Problem zu sein, nicht
die Vorführung eines SPD-Justizministers. Auch deshalb
lehnen wir den vorliegenden Antrag ab.
Ich schließe die Aus-sprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktion der CDU/CSU auf Erhebung einer Verfassungs-klage der Bundesregierung gegen das Land Nordrhein-Westfalen, Drucksache 14/4244. Wer stimmt für diesenAntrag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Antrag istmit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünenund der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU undF.D.P. abgelehnt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten12210
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:a) Erste Beratung des von den AbgeordnetenDr. Hermann Otto Solms, Jörg van Essen,Hildebrecht Braun , weiteren Abgeord-neten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung desGrundgesetzes
– Drucksache 14/4127 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität undGeschäftsordnungRechtsausschussb) Erste Beratung des von den AbgeordnetenDr. Hermann Otto Solms, Jörg van Essen,Hildebrecht Braun , weiteren Abgeord-neten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachtenEntwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung desAbgeordnetengesetzes– Drucksache 14/4128 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord-nung
InnenausschussRechtsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich die Kol-leginnen und Kollegen, die den weiteren Beratungen imPlenum nicht folgen möchten, bitten, den Saal – nachMöglichkeit – zügig zu verlassen. – Es wäre sicherlich an-gemessen, der Diätendebatte nicht im Stehen, sondern imSitzen zu folgen. Ich bitte also die Kolleginnen und Kol-legen, die der Debatte folgen möchten, Platz zu nehmen.Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort für dieF.D.P.-Fraktion dem Kollegen Dr. Hermann Otto Solms.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das, was wir jetzt zurDebatte stellen, dient nicht der streitigen Auseinanderset-zung in diesem Hause, sondern ist der Versuch, Einver-nehmen über ein Thema zu erzielen, welches uns seit vie-len Jahren belastet. Sie alle wissen, dass es schwierig ist,jährlich über die Erhöhung der Diäten zu reden, weil inder Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, dass das Parla-ment über seine eigenen Einkünfte entscheidet und dasses deswegen um Selbstbedienung geht.Seit wir uns zum ersten Mal mit diesem Thema vor23 Jahren befasst haben – das war 1977, als die Diätenre-form in Kraft gesetzt wurde –, erleben wir jedes Jahr dasgleiche Phänomen: Es gibt erhebliche Vorbehalte gegeneine offene Diskussion über eine angemessene Anhebungder Entschädigung der Abgeordneten, weil eine solcheDiskussion insbesondere von den kritischen Betrachtun-gen der Boulevardpresse automatisch begleitet werde undweil dabei niemand politische Erfolge erzielen könne.Deswegen haben wir uns Gedanken gemacht, wie mandieses für das Parlament insgesamt und für uns alleschwierige Verfahren ändern könne in einer Form, diedies ohne eine negative öffentliche Wirkung gestaltenlässt.In diesen 23 Jahren ist es elfmal nicht zu Diätener-höhungen gekommen, obwohl das angemessen gewesenwäre. Warum? Weil es aufgrund der öffentlichen negati-ven Wirkung nicht den Mut dazu gegeben hat. Es hat vierKommissionen gegeben, die Vorschläge gemacht haben.Diese Vorschläge sind nicht berücksichtigt worden.Schließlich hat es im Jahre 1997 im Parlament einen Be-schluss mit dem Ergebnis einer stufenweisen Anpassungund einer Angleichung der Diäten etwa an das Niveau desRichteramtes R 6 oder an das des Amtes eines kommuna-len Wahlbeamten gegeben.Wie von der F.D.P. vorausgesagt, ist auch dies nichtumgesetzt worden. Die stufenweise Anpassung ist viel-mehr aus den gleichen Gründen – die öffentliche Reso-nanz – wieder unterbrochen worden. Das wundert michauch nicht, weil das Problem auf diese Weise nicht aus derWelt zu schaffen ist. Wir werden dieses Problem immerwieder haben.Auch der Vorschlag, der jetzt von der SPD vorgetragenwird, nämlich in diesem Jahr eine Erhöhung um 0,6 Pro-zent vorzunehmen, reicht offenkundig überhaupt nichtaus. Er wird aber trotzdem vorgetragen, obgleich sich hin-ter verdeckter Hand die gleichen Abgeordneten, die ihnunterstützen, wiederum beschweren, dass dies nicht an-gemessen sei. Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU,der öffentlich sagt, dies sei nicht angemessen, es müsstemehr sein, wird gleich wieder entsprechend kritisiert. Sokommen wir aus dem Dilemma nicht heraus.Ich habe mir seit langem Gedanken gemacht, wie wiraus diesem Dilemma herauskommen. Dazu hat die F.D.P.früher den Vorschlag gemacht, den ich heute aber nichtmehr mache, dass das jeweilige Parlament über die Aus-stattung des nachfolgenden Parlaments entscheiden solle.Da sich aber die wirtschaftliche Entwicklung in vier, fünfJahren dramatisch ändern kann, ist das kein zufrieden stel-lender Vorschlag.Deswegen machen wir jetzt den Vorschlag, dass eineunabhängige Kommission, beim Bundespräsidenten ein-gerichtet, über die Diätenerhöhungen entscheidet, alsonicht nur Vorschläge macht, sondern entscheidet. Wirmüssen dazu die Verfassung ändern, nämlich Art. 48Abs. 3 ergänzen. Dazu haben wir vorgeschlagen, dort fol-genden Satz 2 einzufügen:Die Höhe der Entschädigung wird von einer unab-hängigen, vom Bundespräsidenten einzusetzendenSachverständigenkommission festgelegt.
Es gibt rechtlicherseits Bedenken dahin gehend, dassdies in den engeren Bereich des demokratischen Prinzipsgehöre und einer verfassungsrechtlichen Änderung nichtanheim fallen dürfe. Dagegen gibt es wiederum Argu-mente, die da lauten, dass das bei verfassungssystemati-scher Betrachtung sehr wohl möglich sei.Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes diesesHauses kommt zu dem Ergebnis, dass eine Änderung
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Vizepräsident Rudolf Seiters12211
möglich sei, wenn das Ganze durch Gesetz definiertwerde, wenn die Kriterien objektiv festgelegt würden undwenn es nur um die Erhöhung, die Anpassung anhand ob-jektiver Kriterien gehe. Entsprechendes schlagen wir vor.Das würde uns in die Lage versetzen, in Zukunft Diskus-sionen zu entgehen und zu einer angemessenen Anpas-sung zu kommen, ohne dass wir über unser Einkommenselbst beschließen müssten. Seien wir doch ehrlich: Wirhaben doch alle Vorbehalte und innere Widerstände dage-gen, solche Beschlüsse selbst herbeizuführen.
Ich ganz persönlich sehe tatsächlich gar keine andereLösung, als einen solchen Weg zu gehen, weil alles anderenicht nur zu unangenehmen Diskussionen führt, sonderntatsächlich zu einer Beschädigung des Ansehens diesesHauses, was staatspolitisch genauso gefährlich ist wie dievorgetragenen Bedenken verfassungsrechtlicher Art.Deswegen bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-gen aus den großen Fraktionen, diese Vorschläge nichtgleich vom Tisch zu wischen. Der Antrag wird ja in dieAusschüsse überwiesen. Dort können wir konstruktivüber diese Fragen und insbesondere über ihre politischenAuswirkungen diskutieren. Wenn es bessere Vorschlägegibt, bin ich gern bereit, denen zu folgen. Da ich dieseDiskussion jedoch seit mittlerweile 25 Jahren verfolgeund kenne, muss ich sagen, dass ich bislang keinen bes-seren Vorschlag gesehen habe.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Für die SPD-Frak-
tion spricht der Kollege Dr. Uwe Küster.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Die Gesetzentwürfe derF.D.P. haben das Ziel, das Anpassungsverfahren für dieAbgeordnetenentschädigung aus der unsachlichenöffentlichen Kritik, die wir manchmal erleben, herauszu-halten. Dieser Absicht stimmen wir ausdrücklich zu. Umdies zu erreichen – so schlägt die F.D.P. vor –, müsste dasGrundgesetz geändert werden. Die Verfassung gibt unsgegenwärtig vor, die Höhe der Diäten durch ein Gesetz zubestimmen. Diesen Grundsatz hat das Bundesverfas-sungsgericht vor 25 Jahren eindeutig bestätigt.Dieses Verfahren hat zur Folge, dass wir in öffentlicherSitzung über unser Einkommen selbstständig entscheidenmüssen. Die Verfassungsmütter und -väter wollten damitTransparenz schaffen. Ich unterstütze ausdrücklich, dassdas Transparenzgebot damals in die Verfassung hinein-geschrieben wurde. Doch was geschieht durch dieses Ver-fahren in der Öffentlichkeit? Was wird von diesem kom-plexen Verfahren überhaupt veröffentlicht? Was geschiehtin den Köpfen der Bürgerinnen und Bürger?Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle wissen umdie Macht der Presse, die zum Teil sehr objektiv über un-sere Arbeit, über unseren demokratischen Streit berichtet,zum Teil aber auch Sensationshascherei betreibt. Ichmöchte gerade diesen schwierigen Akt der Selbstfindungin der Diätenfrage aus der Sensationshascherei herausho-len. Deswegen ist dieser Vorschlag aller Ehre wert.Der F.D.P.-Entwurf versucht nun, uns als Abgeordne-ten in Zukunft den Vorwurf der Selbstbedienung zu er-sparen. Wir sollen demnächst nicht mehr selbst über dieAbgeordnetenentschädigung entscheiden, sondern dies indie Hand einer Kommission geben. Das wirft natürlich dieFrage auf: Ist dies rechtlich zulässig? Ist dieses Verfahrenmachbar?Wir sind der Ansicht, dass die von der F.D.P. vorge-schlagene Verfassungsänderung grundsätzlich rechtlichmöglich ist. Diese Ansicht teile ich ausdrücklich. Aus derFülle der Elemente des Abgeordnetenrechts könnte dieHöhe der Diäten – und nur diese – aus dem dem Gesetz-geber vorbehaltenen Bereich herausgelöst und in unab-hängige Hände gelegt werden.Ich höre Bedenken der Art, dies verstoße gegen das De-mokratieprinzip; auch Sie haben es erwähnt. Andererseitsmeine ich, dass der Status des Abgeordneten des Deut-schen Bundestages auch nach dem Entwurf der F.D.P.nach wie vor in seinen wesentlichen Elementen – das istnicht nur eine Frage der Diäten – von der Verfassung undvom Gesetzgeber bestimmt wird und bestimmt bleibt. DieDiäten sind letztlich nur eine Detailfrage. Auch wenn essich um eine wichtige Detailfrage handelt – im Auge desöffentlichen Beobachters manchmal die einzige Frage –,so ist sie doch in einen angemessenen Gesamtzusammen-hang zu stellen.Nach einer ersten Sichtung haben wir also gegen IhrenEntwurf keine grundsätzlichen rechtlichen Bedenken. Al-lerdings – das möchte ich hier ausdrücklich feststellen –heißt dies nicht, wir würden dem Entwurf in dieser Formzustimmen. Wir halten den Vorschlag für diskussionswür-dig. Wir werden ihn im Rahmen der Ausschusssitzungensorgfältig prüfen.Lassen Sie uns in diesem Zusammenhang einen frühe-ren Gedanken aufgreifen: Nach einem Gesetzentwurfvom Sommer 1995 sollte die Diätenhöhe zumindest mit-telbar an die Bundesrichterbesoldung gekoppelt werden.Sie erinnern sich an diese Diskussion. Auch diesen Ge-danken sollten wir im Hinterkopf behalten.Gleichgültig, wie wir uns letztlich entscheiden: Unsergemeinsames Ziel muss sein, auch durch die Bestimmungder Höhe der Diäten das Mandat eines Bundestagsabge-ordneten attraktiv zu gestalten. Unser Parlament soll fürMitglieder aller Berufsgruppen, die mit dem hohen po-litischen Amt eines Bundestagsabgeordneten unser Lebenausgestalten wollen, attraktiv sein. Das heißt ganz kon-kret: Wir wollen auch Abgeordnete, die aus der Selbst-ständigkeit kommen. Wir wollen auch Abgeordnete, dieihre als Unternehmer gewonnene Kompetenz hier ein-bringen. Wir wollen auch Abgeordnete mit internationa-ler beruflicher Erfahrung hier im Parlament haben. DieDiätenhöhe darf dabei kein Hemmschuh sein.Lassen Sie mich jetzt konkret auf die Entwürfe einge-hen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können wir aus dreiGründen nicht zustimmen.Erstens bedarf eine weitreichende Grundgesetzände-rung einer ausführlichen interfraktionellen Diskussion.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Dr. Hermann Otto Solms12212
Eine Grundgesetzänderung im Hauruck-Verfahren gehtnicht. Wir brauchen dazu einen Meinungsbildungspro-zess, der schwierig werden wird.Zweitens stelle ich mich gegen die Schaffung immerneuer Kommissionen. Sie selbst schreiben in Ihrem Ent-wurf, es habe bereits mehrere Kommissionen zum Abge-ordnetenrecht gegeben. Ich kann mich alleine an drei er-innern. Zu welchem Ergebnis führten diese hochbesetzten Gremien? Lassen Sie mich aus Ihrem Gesetz-entwurf zitieren:Auswirkungen auf Form und Ausmaß der öffentli-chen Kritik hat die Einschaltung dieser Gremien aberkaum gehabt.Hier sind Sie in der Pflicht, uns nachzuweisen, dass dievon Ihnen vorgeschlagene Kommission anders ist. Wirsind nicht bereit, der weit verbreiteten Kommissionitisdas Wort zu reden.Drittens und letztens haben wir bereits einen anderenWeg gewählt. Wir haben mit unserem Gesetzentwurfzunächst versucht, die Preissteigerungen der nächstenJahre auszugleichen. Das System der Abgeordnetenent-schädigung wird hierdurch nicht verändert. Das gibt unsdie Freiheit, langfristig Alternativen mit der nötigenGründlichkeit zu prüfen.Die in unserem Gesetzentwurf vorgesehenen geringfü-gigen Anpassungen bis zum 1. Januar 2003 sind das Er-gebnis eines Kompromisses. Sie sind für uns auch nichtverhandelbar. Wie jedem Kompromiss liegt auch diesemein schwieriger Meinungsfindungsprozess zugrunde. Wirwollen die Entschädigung für die letzten sechs Monatedieses Jahres um 0,6 Prozent und für die Jahre 2001 bis2003 um jeweils 1,9 Prozent anheben. Diese Erhöhungentspricht ungefähr der zu erwartenden Preissteigerungs-rate. Sie führt nicht zu einer materiellen Erhöhung derEntschädigung.Unser Entwurf ist – lassen Sie mich das in aller Deut-lichkeit sagen – ausgewogen. Er passt in die politisch-so-ziale Landschaft. Die Erhöhung beweist Augenmaß. Wirzeigen soziale Sensibilität. Ich werbe für unseren Entwurfum Ihre Zustimmung. Geben auch Sie uns die Zustim-mung, die wir in der Öffentlichkeit für ihn erfahren haben!Abschließend appelliere ich an Sie: Missbrauchen Siedieses Thema nicht, um einen Schlagabtausch zu veran-stalten! Das ist ein sensibles Thema; Sie haben das deut-lich angesprochen. Wir werden Ihren Vorschlag mit dergebührenden Sachlichkeit prüfen. Ich werbe darum, dasswir die interfraktionelle Gesprächsfähigkeit aufrechter-halten.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich gebe das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Dr. Peter
Ramsauer.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Her-ren! Ich finde, dass wir hier außerordentlich sorgfältig undobjektiv über dieses Thema diskutieren, das uns alle Jahrewieder beschäftigt. Ich kann dem nur beipflichten, wasder Kollege Küster soeben vorgetragen hat, nicht in demTeil, in dem er den Diätenvorschlag der Koalition be-gründet hat,
sondern in dem Teil, in dem er für Verständnis geworbenund Respekt für die Entwürfe, die von der F.D.P. vorge-legt worden sind, geäußert hat. Ich schließe mich diesemRespekt an.Die Entwürfe der F.D.P. sind in der Tat ein sehr gut ge-meinter Versuch, uns vom Vorwurf der Selbstbedienungfreizusprechen. Der Ansatz ist gut, er ist akzeptabel. Abermeine Befürchtung ist, dass auch dieser Vorschlag unsnicht vom Vorwurf der Selbstbedienung befreien kann.
Ich möchte klipp und klar sagen: Ich halte den DeutschenBundestag nicht für einen Selbstbedienungsladen.
Von keinem oder nur den allerwenigsten in diesemHause werden dieses Gremium und der Mechanismus, deruns durch das Bundesverfassungsgerichtsurteil auferlegtist, ausgenutzt. Ich möchte keine Richterschelte betrei-ben, aber das Bundesverfassungsgericht hat uns in der Tateinen Bärendienst erwiesen. Wir müssen mit diesem Ur-teil irgendwie leben.Ich glaube, dass wir uns von dem Vorwurf der Selbst-bedienung auch mithilfe des F.D.P.-Vorschlages nichtbefreien können. Denn selbst wenn eine unabhängigeSachverständigenkommission Vorschläge unterbreitet,werden große Teile der Öffentlichkeit und auch der Me-dien vom Parlament erwarten – es gibt nie einen geeigne-ten Zeitpunkt für eine Diätenerhöhung –, dass durch einenaktiven Schritt Verzicht geübt wird. Ich will überhauptnicht bezweifeln, dass durch eine Sachverständigen-kommission ein vernünftiger, begründeter Vorschlag zu-stande kommen kann; das steht außer Frage. Aber es gibtaus der jüngsten Zeit unüberbietbare Beispiele dafür, dassletztlich doch Verzicht geübt wird.Herr Kollege Solms, Sie haben in Ihrem Beitrag die Si-tuation in der letzten Legislaturperiode dargestellt. Wirhaben in der letzten Legislaturperiode ein klares vierstu-figes Erhöhungsmuster beschlossen. Von diesem vier-stufigen Erhöhungsmuster kam die erste Stufe zustande.Bereits die zweite Stufe wurde ausgesetzt, weil der Deut-sche Bundestag durch eine Änderung des Abgeord-netengesetzes geltendes Recht aktiv verändert hat.Ein zweites Beispiel haben wir in dieser Legislaturpe-riode. Wir hatten aufgrund der Gesetzgebung der letztenLegislaturperiode die Regelung, dass der Deutsche Bun-destag in dieser Legislaturperiode innerhalb des erstenhalben Jahres nach seinem Zusammentreten, also bis zum
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Dr. Uwe Küster12213
26. April des letzten Jahres – gestern vor genau zwei Jah-ren hat sich der Deutsche Bundestag zur 14. Legislatur-periode konstituiert –, eine Diätenregelung für dieseLegislaturperiode beschließt – nach wie vor geltendesRecht. Ganz streng genommen haben wir uns selbst insUnrecht gesetzt. Der Deutsche Bundestag, der Ge-setzgeber, befolgt nicht geltendes Recht, das er selber ge-setzt hat. Der Präsident des Deutschen Bundestages hat– fast rechtzeitig – Erhöhungsvorschläge vorgelegt. DerDeutsche Bundestag ist ihnen nicht gefolgt, hat also wie-der, in diesem Fall durch passives Handeln, gesetztesRecht mehr oder weniger nicht beachtet.Das dritte Beispiel ist zwar nicht aus dem Parlament,aber es geht in die gleiche Richtung. Die beiden Minis-terpräsidenten Wolfgang Clement und Edmund Stoiberhaben eine bekannte Wirtschaftsprüfungskanzlei damitbeauftragt, ein Gutachten über die Bemessung vonMinister- und Ministerpräsidentengehältern vorzulegen,um exzellente Kräfte als Quereinsteiger für Führungs-positionen in der Politik gewinnen zu können. Als das Er-gebnis vorlag – ich habe es mir einmal angesehen; dasGutachten ist von guten Wirtschaftlern sehr plausibel er-stellt worden –, haben beide sofort erklärt: Um Gottes wil-len, wenn wir dieses Ergebnis geahnt hätten, hätten wirein solches Gutachten gar nicht in Auftrag gegeben. – Sokann das, was dabei herausgekommen ist, niemals Wirk-samkeit entfalten oder frühestens für die übernächste unddie folgenden Generationen.Wenn ich das alles zusammennehme, bleibt mir die bit-tere Erkenntnis, dass sich an dem geltenden Verfahrenletztlich wohl nichts so ändern lassen wird, dass wir unsdes Selbstbedienungsvorwurfs entledigen könnten.Es wird – ich sage es noch einmal – nie einen günsti-gen Zeitpunkt geben, zu dem man eine Diätenerhöhungbeschließen kann. Ich habe gestern mit dem Hauptstadt-korrespondenten einer großen deutschen Zeitung gespro-chen. Ich habe ihn gefragt: Was würden Sie tun, damit wiraus dieser Problematik vernünftig herauskommen? Da-raufhin hat er mir gesagt: Herr Ramsauer, ich sage Ihnenganz ehrlich, Sie können machen, was Sie wollen, wirwerden das immer verreißen. – Wenn das schon so ist, wassoll man da noch tun?
– Das ist ein sehr aufbauender Ausspruch.Natürlich ist es immer schwierig, in eigener Sache zubefinden, aber ich fürchte, wir kommen davon nicht weg.Ich glaube aber, dass wir den Vorwurf der Selbstbedie-nung, wenn wir es richtig und offensiv angehen, trotzdementkräften können, indem wir darstellen, was in diesemParlament geleistet wird. Wir brauchen uns vor nichts zuverstecken.
Es gibt eine Umfrage von Forsa, die besagt, dass55 Prozent der Menschen in unserem Land die Dotierungvon Abgeordneten und Politikern für zu hoch halten. Invielen Gesprächen, in Versammlungen im Wahlkreis usw.frage ich die Leute immer: „Was glaubt ihr denn, was Ab-geordnete verdienen?“ Meine Erfahrungen aus diesen vie-len Gesprächen sind, dass die Menschen völlig falscheVorstellungen über die tatsächlichen Dotierungen haben –völlig falsche Vorstellungen.Wenn man dann sagt: „Ein Sparkassendirektor in mei-nem Wahlkreis lacht einen Abgeordneten aus, wenn mandie Bezüge offen legt“, herrscht helles Staunen. Deswe-gen müssen wir uns, liebe Kolleginnen und Kollegen,auch in solchen Debatten – nächste Woche haben wir wie-der Gelegenheit dazu – ganz offensiv trauen, das darzu-stellen, was hier geleistet wird. Es geht nicht nur um dieFrage „eigene Sache“, es geht auch darum darzustellen,dass Dotierungen – egal, wo in unserer Gesellschaft undin der Wirtschaft – auch dem Kriterium der Leistungsge-rechtigkeit entsprechen müssen.
Wir brauchen uns mit dem, was wir hier leisten – ichglaube, dass kann man für alle Fraktionen hier im Hausesagen –, wirklich nicht zu verstecken.Über den Inhalt kann man immer geteilter Meinungsein – das ist im Streit der Politik völlig normal –, abernicht über die Leistungsgerechtigkeit als solche.Ich kenne Briefe von Rentnern und von sozialschwächer Gestellten. Ich respektiere es, wenn wir vonsolchen Menschen Bedenken mitgeteilt bekommen; ichverstehe diese Bedenken. Ich komme noch zu einem an-deren ganz wichtigen Punkt, wenn es um die Bemessungvon Dotierungen geht. Es muss uns im Parlament auch da-rum gehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir fürdie Zukunft hervorragendes politisches Personal rekru-tieren können. Wir brauchen ein Parlament mit exzellen-ten, guten Köpfen. Das ist auch etwas, was die Öffent-lichkeit erwartet. Die deutsche Öffentlichkeit will keinParlament des Mittelmaßes, sondern ein hervorragendausgestattetes Parlament. Es ist nun einmal so, dass fürjunge Menschen von 30, 35 oder 40 Jahren, wenn wir siefür solche Ämter begeistern und gewinnen wollen, natür-lich nicht mehr allein der politische Idealismus aus-schlaggebend ist, sondern es werden auch – das ist nuneinmal so – materielle Aspekte herangezogen.Hier kommt der Vergleich mit der Wirtschaft. Wenn ichmir – ganz objektiv – ansehe, was in Führungspositionender Wirtschaft, beginnend ab dem mittleren Management,jungen Menschen gezahlt wird, dann können wir bei derEntwicklung der Diäten, wie sie sich jetzt wieder ab-zeichnet, auch bei den Vorschlag, der in der nächsten Sit-zungswoche auf dem Tisch liegt, guten jungen Leutenkeine materiellen Perspektiven bieten.Ich halte das für die Entwicklung des Parlamentaris-mus für außerordentlich gefährlich; denn es wäreschlimm, wenn sich ein immer größerer Teil hier im Bun-destag aus Abgeordneten zusammensetzte, die ihr Haupt-einkommen mit anderen Tätigkeiten verdienen würden– ich möchte jetzt bewusst keine Beispiele nennen –, unddie darüber hinaus sozusagen einen Nebenverdienst miteinem Sitz im Deutschen Bundestag erzielen. Das wäreein großer Schaden für unsere parlamentarische Demo-kratie. Dazu darf es nicht kommen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Dr. Peter Ramsauer12214
Deswegen meine ich, dass wir hier schon einen richti-gen Schritt getan haben, indem wir sagen: Die Dotierungeines Bundestagsabgeordneten muss sich an der Besol-dung R 6 oder B 6 orientieren, das heißt an der Besoldungfür Bundesrichter oder von Landräten – beispielsweisekleinerer Landkreise –, denn die Abgeordneten in diesemParlament leisten insgesamt weiß Gott nicht weniger– Stichwort „Leistungsgerechtigkeit“ – als Oberbürger-meister von Städten oder als Landräte oder Personen inähnlich dotierten Positionen im öffentlichen Dienst.
Meine Damen und Herren, ich muss es noch einmal sa-gen: Der Vorschlag der F.D.P. ist wohlgemeint, ist einguter Ansatz, ist auch nicht der erste, der unternommenwird, um die Probleme zu lösen.
– Nein, ich möchte keine Absage erteilen. – Wir solltenuns in der Ausschussberatung noch einmal ganz intensivmit dieser Frage befassen. Wenn es nach mir und nachdem Willen der Kolleginnen und Kollegen meiner Frak-tion ginge, würden wir bestimmt einen gangbaren Wegwählen, wie wir uns von dem Vorwurf der Selbstbedie-nung elegant befreien könnten. Aber es bleibt bei meinemvorgetragenen Einwand, dass nämlich die Lust auf Ver-zicht
in diesem Hause am Ende wieder groß sein wird, weil derjeweilige Zeitpunkt falsch gewählt ist und der Druck vonÖffentlichkeit und Medien so stark ist, und dass daher vonVorschlägen der Sachverständigenkommission doch nichtGebrauch gemacht wird. Deswegen bleibt uns auf Dauernichts anderes übrig, als das, was wir – im wahrsten Sinnedes Wortes – verdienen, immer wieder über die Frakti-onsgrenzen hinweg glaubwürdig nach außen zu vertreten.
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Cem
Özdemir.
HerrPräsident! Meine Damen und Herren! Die F.D.P.-Fraktionhat in ihrem Gesetzentwurf zu Recht darauf hingewiesen –auch alle vorherigen Redner haben dies getan –, dass dasThema Diäten immer wieder im Mittelpunkt der öffentli-chen Kritik steht und damit das Ansehen der Abgeordne-ten berührt.Wenn man über die Höhe der Diäten diskutiert – nichtsanderes hat Ihr Gesetzentwurf zum Gegenstand –, dannmuss man auch ein Wort der Selbstkritik finden. Es gabsicherlich berechtigte Kritik der Bevölkerung, weil wir inder Vergangenheit manchmal in einer Weise gehandelt ha-ben, die nicht unbedingt das Ansehen der Parlamentarierund des Parlamentes gemehrt haben.Man muss aber eines hinzufügen: Wenn man mit denMenschen spricht, dann kann man erkennen, dass vieleDinge verwechselt werden. Das ist ja auch nicht so ein-fach: Übergangsgelder, Doppelalimentierung und Abge-ordnetendiäten. All diese Themen werden in einen Topfgeworfen und es wird fleißig umgerührt, sodass sozusagenein sehr unübersichtlicher Brei dabei herauskommt.Scherzhaft hat einmal ein Mitglied meiner Fraktion ge-sagt – ich will den Namen nicht nennen; ich glaube, erspricht wahrscheinlich im Namen des ganzen Hauses –,man könne nur wegrennen, wenn es um das Thema Diätengehe. Egal, was man in dieser Debatte sage, es seiimmer falsch. Selbst wenn man fordern würde, dass dieAbgeordnetendiäten auf Sozialhilfeniveau abgesenkt wür-den, dann würden immer noch einige sagen, es sei noch zuviel, weil die Politik so schlecht sei. Mit dieser Kritik wer-den wir leben müssen – Deutschland ist kein Einzelfall; inanderen Ländern gibt es die gleichen Diskussionen –, so-lange es Parlamente und die parlamentarische Demokratiegibt.Unsere Entscheidung, im vergangenen Jahr eine Null-runde zu machen und in diesem Jahr maßvoll um den In-flationsausgleich zu erhöhen, war eine angemessene Ant-wort. Sie zeigt, dass wir uns unserer Verantwortungbewusst sind, selber über die Höhe unseres Gehaltes ent-scheiden zu müssen, was im Erwerbsleben nicht geradeüblich ist. Unsere Entscheidung war daher sehr sinnvoll.Herr Ramsauer hat darauf hingewiesen, dass sich einManager oder ein Unternehmer weigern würde, für diesesGehalt in die Politik zu gehen. Das ist sicherlich ein be-rechtigtes Argument. Aber ich glaube, Herr Ramsauer, Siewerden mir zustimmen, dass wir Gehälter in dieser Di-mension im Rahmen einer Diätenerhöhung nie erreichenkönnen. Ein Bürger wird auch in Zukunft nicht primär ausdem Grund in die Politik gehen, um viel Geld zu verdie-nen – auch Sie haben das vorhin gesagt –, sondern weil esihm um die Sache geht. Wir wollen die Menschen so an-gemessen bezahlen, dass sie für ihre Tätigkeit nicht be-straft werden. Unsere Gehälter werden aber niemals– eine solche Diätenerhöhung fordert auch keine Fraktionin diesem Hause – mit den Gehältern von Managern undUnternehmern konkurrieren können.Zu dem F.D.P.-Vorschlag möchte ich nicht viel sagen.Zu den rechtlichen Aspekten – ich selber bin kein Jurist –hat sich Herr Küster schon geäußert. Die Expertise desBundestages habe ich gelesen; es gibt unterschiedlicheEinschätzungen. Der Vorschlag ist nicht ganz neu. Er istschon mehrfach diskutiert, geprüft und mehrfach übrigensauch verworfen worden.Ich möchte Ihren Vorschlag unter folgendem Aspektbehandeln. Ich unterstelle einmal, dass der einzige Grundfür Ihren Vorschlag ist, dass wir uns des Problems entle-digen können, dass wir uns ständig dem Vorwurf ausge-setzt sehen, dass wir über unsere Diäten selbst entschei-den, uns selbst alimentieren und uns damit selbst bedienenwürden.Hilft uns dieser Vorschlag, der Gefahr des Ansehens-verlusts entgegenzuwirken? Ich meine, nein. Ich stimmedem Argument des Herrn Kollegen Ramsauer zu, dass esder Versuch einer Flucht ist. Dadurch wird nicht eines un-serer Probleme gelöst. Wenn wir die Entscheidung darü-ber, wie viel wir an Diäten bekommen sollen, an irgend-einen Rat der Weisen delegieren, wird das nicht unser
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Dr. Peter Ramsauer12215
Problem lösen, dass wir anlässlich der Entscheidung übereine Diätenerhöhung Rechenschaft über unsere Arbeit ab-legen und Bilanz ziehen müssen.Darum glaube ich, dass der Vorschlag der F.D.P., auchwenn er interessant ist und sich charmant anhört, unserProblem vom Grundsatz her nicht lösen wird.Wir sind als Abgeordnete in der Lage, unser Gehaltselbst festzulegen. Das ist Ausfluss des Demokratieprin-zips des Grundgesetzes. Wir sollten es uns nicht so leichtmachen, diese Entscheidung an Dritte zu delegieren.– Wie gesagt, auf die rechtlichen Bedenken gehe ich garnicht ein.Ich möchte zum Schluss noch eines sagen: Ich glaube,dass die Debatte um die Höhe der Diäten verantwor-tungsvoll zu führen ist. Mann sollte hier weder überziehennoch sollte man seinen eigenen Beruf schlecht machen,indem man sagt: Wir Abgeordnete müssen uns für dasschämen, was wir tun. Die Kollegen haben schon daraufhingewiesen: Wir müssen uns nicht für das schämen, waswir tun. Jeder hier nimmt seinen Beruf ernst. Jeder tut,was er kann; jeder setzt sich ein – das war der Grund, dasswir in die Politik gegangen sind. Darum können wir unsmit Fug und Recht hinter den Beschluss stellen, den wirhier präsentieren, dass wir die Diäten um die Inflations-rate erhöhen. Das ist eine Maßnahme mit Augenmaß, dienicht überzogen ist.Danke sehr.
Das Wort für die
Fraktion der PDS hat nunmehr die Kollegin Dr. Barbara
Höll.
Herr Präsident! Meine lieben
Kollegen und Kolleginnen! In der bisherigen Debatte wa-
ren eigentlich die Beiträge aller Fraktionen von denselben
Zweifeln und Hoffnungen geprägt.
Der Vorschlag der F.D.P., eine unabhängige Exper-
tenkommission einzusetzen, die die Last von uns nimmt,
durch Entscheidung in eigener Sache für uns selbst be-
stimmen zu dürfen und zu müssen – über die richtige
Höhe der Entschädigung für unsere Tätigkeit, über die Al-
tersversorgung und damit zusammenhängende Fragestel-
lungen –, ist zunächst einmal begrüßenswert. Die Kom-
mission soll uns von der „Plage“ befreien, dass wir uns
selbst Gutes tun. Sie soll uns vom Geruch des Selbstbe-
dienungsladens befreien und die Gefahr des Missbrauchs
unserer Entscheidungskompetenz in eigener Sache besei-
tigen.
Die Hoffnungen, die mit der Übertragung dieser
Entscheidungskompetenz auf die mit diesem Gesetzent-
wurf beantragte Expertenkommission verbunden sind,
mögen nicht trügen. Dennoch habe ich Zweifel, ob sich
die öffentliche Meinung dadurch wesentlich ändern
würde. Denn wer schützt uns vor dem Vorwurf, ob unab-
hängige Experten auch tatsächlich unabhängig ent-
scheiden?
Ich denke, dass wir die Frage grundsätzlicher angehen
müssen. Wir müssen durch mehr Transparenz und durch
unsere Tätigkeit hier das Ansehen des Parlaments erhöhen
und bewirken, dass das Erscheinungsbild des Politikers
und der Politikerin wieder positiv wird.
Unser ehemaliger Kollege Gerhard Zwerenz hat in sei-
nem Buch über den Deutschen Bundestag geschrieben:
Für Menschen, die wenig Geld in diesem Lande verdie-
nen, ist die Abgeordnetenentschädigung sehr hoch. Für
Menschen, die sehr viel verdienen, ist es sie eher niedrig.
Für Menschen mit einem mittleren Einkommen ist sie an-
nehmbar.
Wir sind Vertreterinnen und Vertreter der gesamten Be-
völkerung. Ich denke, wir dürfen in dieser Diskussion
nicht immer den Vergleich mit einem Unternehmensbera-
ter oder Unternehmer heranziehen. Es stellt sich nämlich
die Frage der Bewertung von Arbeit, egal welcher Art. Ich
nehme jetzt bewusst ein extremes Beispiel, nämlich die
Hausfrau, die sechs Kinder erzieht: Sie bekommt kein
Geld dafür, leistet aber unwahrscheinlich viel. – Für die
Festlegung einer Bemessungsgrundlage müssen also viel-
fältige Überlegungen angestellt werden. Ich denke, für die
Bewertung dieser beiden Gesetzentwürfe brauchen wir
eine ausführliche Debatte.
Ich möchte noch einen Punkt herausheben. Logischer-
weise wird von der F.D.P. eine Grundgesetzänderung be-
antragt. Ich habe allerdings Zweifel, ob wir unsere Ge-
setzgebungskompetenz an eine Kommission übertragen
dürfen. Darüber müssen wir noch einmal diskutieren. Das
Parteiengesetz gesteht der unabhängigen Parteienfinan-
zierungskommission in § 18 Abs. 6 und 7 zu, dass sie dem
Bundestag zwar Empfehlungen unterbreiten kann, aber
nicht selbst entscheidet.
Ich denke, dieser Punkt ist sicherlich einer der strittigs-
ten. Ich hoffe, dass wir in gemeinsamer Diskussion hier zu
einem vernünftigen, praktikablen Ergebnis kommen.
Ich bedanke mich.
Als letzter Rednerin
in dieser Debatte gebe ich der Kollegin Anni Brandt-
Elsweier für die SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter HerrPräsident! Meine Damen und Herren! Als letzte Rednerinzu diesem Thema kann man sich im Wesentlichen nurwiederholen. Aber da müssen wir jetzt gemeinsam durch.Die Höhe und Ausgestaltung der Abgeordnetenent-schädigung wird mit schöner Regelmäßigkeit im Bundes-tag diskutiert. Es ist auch ein Thema, das die Öffentlich-keit jederzeit mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Dennes lohnt sich immer wieder für die Heraufbeschwörungdes Bildes des „raffgierigen“ Abgeordneten, der sichselbst mal wieder ein großes Stück vom Kuchen geneh-migt, während die Abgeordneten das einfache Volk zumSparen auffordern.
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Cem Özdemir12216
Da erscheint natürlich die Einrichtung einer unabhän-gigen Kommission, die vom Bundespräsidenten zur Er-mittlung und Festsetzung der angemessenen Abgeordne-tenentschädigung eingesetzt werden soll, als die Lösungaller Probleme.Diese Lösung – das ist hier schon gesagt worden – istja nicht neu und, wie wir alle wissen, verfassungsrechtlichproblematisch. Führende Verfassungsrechtler vertretendie Auffassung, dass eine solche Entscheidungsverla-gerung gegen das Demokratie- und Rechtsstaatsprin-zip verstoße. Sie argumentieren, die Verantwortung kön-ne nicht einer Kommission überlassen werden, die einerdemokratischen Legitimation entbehre.Art. 48 Abs. 3 Satz 3 des Grundgesetzes legt die Rege-lung der Entschädigung durch Gesetz ja ausdrücklich fest.Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner grundlegen-den Entscheidung von 1975 dazu gesagt – ich zitiere –:In einer parlamentarischen Demokratie lässt es sichnicht vermeiden, dass das Parlament in eigener Sacheentscheidet, wenn es um die Festsetzung der Höheund um die nähere Ausgestaltung der mit demAbgeordnetenstatus verbundenen finanziellen Rege-lungen geht.Aber ich gebe gern zu, dass uns die Einsetzung einerderartigen Kommission vieles erleichtern würde. Derewige Vorwurf der Selbstbedienung – er ist hier bereitshäufig zitiert worden – wäre vom Tisch und die anhal-tende Diskussion über die Berechtigung der Abgeordne-ten, über ihre eigene Entschädigung zu befinden, wäreendlich beendet.Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen – auch das ist be-reits gesagt worden –, wir sollten darüber nachdenken, obwir es uns damit nicht allzu einfach machen. Denn bei derPrüfung über die Höhe der Abgeordnetenentschädigungenhandelt es sich ja in erster Linie um eine politische undnicht um eine rechtliche Frage. Eine Verlagerung dieserEntscheidung auf eine Kommission könnte den Anscheinerwecken, die Politikerinnen und Politiker würden sich ausder Verantwortung stehlen. Es würde noch zusätzlich denohnedies schon existierenden Eindruck unterstützen, dasGanze sei eine irgendwie unseriöse Angelegenheit, bei derwir Abgeordneten etwas zu verbergen hätten.Nicht ohne Grund hat das Bundesverfassungsgericht inseinem bereits erwähnten Urteil darauf gedrungen, dassdie Transparenz des Verfahrens klar und deutlich seinmuss. Ich zitiere nochmals:In einem solchen Fall verlangt aber das demokrati-sche und rechtsstaatliche Prinzip, dass der gesamteWillensbildungsprozess für den Bürger durchschau-bar ist und das Ergebnis vor den Augen der Öffent-lichkeit beschlossen wird.In diesem Sinne hat sich auch die Kommission unab-hängiger Sachverständiger zur Parteienfinanzierung be-reits in der 12. Legislaturperiode geäußert. Sie ist der Auf-fassung, dass das Parlament seine eigenen Entscheidungenselbst zu verantworten hat und gegebenenfalls auch der öf-fentlichen Kritik hieran Rechnung tragen muss.Ich bin der Ansicht – auch das ist bereits gesagt wor-den –, dass wir grundsätzlich dazu stehen sollten, wennwir über eine Erhöhung der Abgeordnetenentschädigungselbst entscheiden. Wenn wir unseren Wählerinnen undWählern deutlich machen, was wir dafür zu leisten habenund wie viel Zeit und Stress unter anderem das Mandatbeansprucht, dann können wir dies auch offensiv vertre-ten.Die Entscheidung über die eingebrachten Gesetzent-würfe ist also keinesfalls einfach. Sie müssen einer sorg-fältigen politischen und rechtlichen Prüfung unterzogenwerden.Die von Ihnen, meine Damen und Herren von derF.D.P., vorgeschlagene Änderung des Entschädigungssys-tems bedarf sicherlich gründlicher Diskussion und Aus-sprache, insbesondere die von Ihnen beabsichtige Ände-rung des Grundgesetzes, die wir nicht im Vorübergehenvornehmen können. Wenn wir das Fundament unserer be-währten Rechtsordnung ändern, sind eingehende Beratun-gen vonnöten. Ich denke, eine entsprechende Verfassungs-änderung sollte von allen Fraktionen des Hauses getragenwerden, insbesondere wenn bei der Ausgestaltung derAbgeordnetenentschädigung vom bisherigen Prinzip ab-gewichen wird. Wir werden deshalb im weiteren Gesetz-gebungsverfahren prüfen, inwieweit hier ein gemeinsamesVorgehen möglich ist.
Ich schließe die Aus-sprache.Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfeauf den Drucksachen 14/4127 und 14/4128 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 sowie die Zusatz-punkte 8 und 9 auf:6. Beratung des Antrags der Abgeordneten RenateBlank, Wilhelm Josef Sebastian, Dirk Fischer
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSUWettbewerbsfähigkeit des deutschenGüterkraftverkehrsgewerbes erhalten und si-chern– Drucksache 14/4150 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten HorstFriedrich , Hans-Michael Goldmann,Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der F.D.P.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Anni Brandt-Elsweier12217
Wettbewerbsnachteile für deutsches Güter-kraftverkehrsgewerbe beseitigen– Drucksache 14/4396 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten DirkFischer , Dr.-Ing. Dietmar Kansy,Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSUWeißbuch über Harmonisierungsdefizite beiVerkehrsdienstleistungen– Drucksache 14/4378 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
FinanzausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Wie ichsehe, ist das Haus damit einverstanden.Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Rednerdem Kollegen Wilhelm Josef Sebastian für die Fraktionder CDU/CSU das Wort.
Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben un-seren Antrag eingebracht, weil wir wissen, dass das Gü-terkraftverkehrsgewerbe dringend unserer Hilfe bedarf.Es häufen sich die berechtigten Rufe der Unternehmerund Beschäftigten nach Hilfe des Staates in einer äußerstprekären Lage. Die Hilferufe sind vielerorts mittlerweileohnmächtiger Wut gewichen. Dies haben uns die demons-trierenden LKW-Fahrer hier vor wenigen Wochen vordem Brandenburger Tor gezeigt.Wie hieß so schön der Wahlspruch der SPD vor derBundestagswahl? – Wir machen nicht alles anders, abervieles besser. Meine Damen und Herren, Sie machennichts besser; Sie machen gar nichts.
Seit zwei Jahren sehen Sie tatenlos zu, wie sich dieschwierige Lage des Güterkraftverkehrsgewerbes immerweiter verschlechtert.
Jetzt, nachdem die Lage fast aussichtslos ist, es bei man-chen Betrieben schon fünf nach zwölf und nicht mehr fünfvor zwölf ist, sind immer noch keine konkreten Hilfs-maßnahmen erkennbar.Wir sehen nur Betroffenheitserklärungen des HerrnBundeskanzlers und des Herrn Verkehrsministers, aberTaten sind kaum erkennbar. Wie dieser Antrag und dieNotwendigkeit von Hilfen eingeschätzt werden, sieht manja darin, dass sich der Verkehrsminister heute nicht selbstder Sache hier annehmen wird. Der Bundeskanzler gibtBinsenweisheiten von sich, wenn er gegenüber der „Deut-schen Verkehrs-Zeitung“ Anfang Oktober erklärt:Im europäischen Binnenmarkt liege unser Ansatz-punkt für den Abbau von Wettbewerbsbenachteili-gungen.Wenn es des Beweises für Tatenlosigkeit noch bedurfthätte, so wäre er in der ergänzenden Anmerkung vonKanzler Schröder zu finden,…die Beteiligten sollen die Gespräche wieder auf-nehmen.Wer ist denn eigentlich Beteiligter, liebe Kolleginnen undKollegen von den Regierungsparteien, wenn nicht die Re-gierung eines Landes, in dem im europäischen Vergleichweitaus der meiste Güterkraftverkehr stattfindet und dasdas Transitland Nummer eins in Europa ist, in dem aberdie weitaus schlechtesten Rahmenbedingungen für Spedi-teure herrschen?Der Herr Minister strotzt ja geradezu vor Tatendrang,wenn er auf unsere Anfrage nach europäischen Initiativenerklärt:Einigungen setzen einen Konsens unter den Mitglied-staaten der EU voraus. Deswegen führt die Bundes-regierung weiterhin auch direkte Gespräche mit deneuropäischen Nachbarn.Keine Konzepte, keine Inhalte – diese Antwort spricht er-neut für sich!
Wenn man Wettbewerbsnachteile für deutsche Unterneh-mer ausmacht – in diesem Sinne haben Sie uns ja geant-wortet –, muss man auch handeln. Die von den jeweiligenNationalregierungen in ihren Ländern gemachte Politikunterscheidet sich nämlich eklatant. Unser Herr Ver-kehrsminister und unser Herr Bundeskanzler sind aberMitglied einer dieser Regierungen.
Ich will Ihre Einsicht in die Realität nicht in Abredestellen. Umso schlimmer ist es aber, dass Sie von Ihremgrünen Koalitionspartner in die falsche Richtung getrie-ben werden.
Die Fakten sind uns allen bestens bekannt: Die Kfz-Steuer auf LKWs in Deutschland ist die höchste in Eu-ropa. Ein deutscher 40-Tonner kostet im Vergleich zu ei-nem niederländischen pro Jahr etwa 3 500 DM mehr, imVergleich zu einem belgischen 4 100 DM mehr und imVergleich zu einem französischen 4 500 DM mehr. Im Be-reich der Mineralölsteuer kostet ein deutscher 40-Tonnerbei durchschnittlicher Fahrleistung und durchschnittli-chem Verbrauch pro 100 Kilometer ab nächstem Jahr43 400 DM, ein französischer 30 700 DM und ein nieder-ländischer 29 000 DM. Es handelt sich also um eine Wett-bewerbsverzerrung in gewaltigem Ausmaß.
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Vizepräsident Rudolf Seiters12218
Am 27. September erklärte der Verkehrsminister imVerkehrsausschuss, dass er die EU-Kommission gebetenhabe, die von den Mitgliedern der Union unlängst zur Ab-federung der hohen Energiepreise vorgenommenen Maß-nahmen in Bezug auf das EU-Beihilferecht zu prüfen.Was heißt eigentlich „gebeten“? An dieser Stelle mussmassiv widersprochen werden: Es muss gehandelt wer-den. Der Minister erklärt wiederholt, dass die verschie-densten Maßnahmen eingeleitet wurden. Sagen Sie unseinmal klar und deutlich, welche einzelnen Maßnahmenkonkret und mit welchem Erfolg eingeleitet wurden!Übrigens, das beste Bild für Ihre Politik bot unsere ges-trige Ausschusssitzung. Es stand der Punkt „Vorschlag derEU-Kommission für eine Entscheidung des Rates zur Er-mächtigung Italiens, die Verbrauchsteuern auf bestimmteMineralöle mit besonderen Verwendungszwecken zu staf-feln“ auf der Tagesordnung. Wenn diesem Vorschlag ge-folgt wird, bedeutet dies ein Absenken der Mineralöl-steuer für italienische LKWs um 12 Pfennig pro Liter.Unsere Fraktion stellte den Antrag, dass der Minister inBrüssel bei der EU dafür eintreten solle, dass dieser An-trag abgelehnt wird.Sie können raten, wie die Abstimmung im Ausschussausging. Die Kollegin Mattischeck begründete die Ableh-nung der SPD-Fraktion mit den höheren Mineralölpreisenin den anderen Ländern der EU. Frau Mertens von derSPD meinte – jetzt wird es noch viel abenteuerlicher –:Wenn unser Umgangston freundlicher gewesen wäre,dann hätte man über unseren Antrag reden können.
Wer unseren Kollegen Michael Meister kennt, weiß,dass er immer freundlich und korrekt ist.
Das heißt, im Ausschuss muss unser Antrag freundlichvorgetragen werden und mit einem Bitte, bitte verbundensein, damit wir vielleicht einmal die Aussicht haben, dassunsere Anträge genehmigt werden. Wenn ich an meinenzwölfjährigen Sohn den Wunsch herantrage, dass er mirbei der Programmierung des Videorecorders helfe, dannentgegnet er mir: Papa, sag zuerst einmal: Bitte, bitte,großer König. – Wir werden zukünftig also immer bitte,bitte sagen müssen.
Ich weiß aber auch, warum die Regierung in dieser Sa-che bis heute nichts unternommen hat: Die Brummifahrer,die vor dem Brandenburger Tor standen, haben nicht bitte,bitte gesagt und keine Blümchen mitgebracht, sondern siehaben ihren Unmut zum Ausdruck gebracht. Nur wennman in Zukunft bitte, bitte sagt, dann kann man vielleichthoffen, irgendetwas zu bekommen. Vielleicht soll hiervielleicht irgendwann wieder der Hofknicks eingeführtwerden.
Dazu kommt ein Bundeskanzler, der uns fast verbietet,bei den Bürgern gewisse Themen anzusprechen, die nichterwünscht sind. Wir sind in dieses Haus gewählt, um unsder Probleme der Menschen anzunehmen, um Lösungenzu suchen und Hilfe zu leisten. Beim Transportgewerbegeht es um über 40 000 Unternehmer und um über380 000 Beschäftigte. Nach Auskunft der Verbände sind10 000 mittelständische Unternehmen mit 100 000 Be-schäftigten in höchster Gefahr.
Es geht um Arbeitsplätze. Bei der Aktion Holzmann wa-ren es vielleicht freundliche Bauarbeiter, denen damalsgeholfen worden ist. Es besteht dringender Handlungsbe-darf. Wir haben einen Antrag formuliert, um diesem Ge-werbe zu helfen.Ich darf Sie, die Bundesregierung und die sie tragen-den Fraktionen, auffordern: Handeln Sie endlich konkretund stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu! Hilfewird dringend benötigt; das Gewerbe wird sonst in denRuin geführt. Es ist noch nicht zu spät.Vielen Dank.
Für die SPD-Frak-
tion spricht die Kollegin Angelika Graf.
Sehr verehrterHerr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbe-sondere von der CDU/CSU! Ich habe Ihren Antrag mit Da-tum vom 26. September, den Sie heute hier vorlegen, sehraufmerksam gelesen, insbesondere den Teil, den Sie derAnalyse des Problems widmen. Im Interesse derSache bedauere ich allerdings, dass Sie nicht die vielumfassendere und meiner Ansicht nach auch viel sach-kundigere Analyse des BGL vom selben Tag, vom26. September, die Ihnen sicherlich auch vorliegt, über-nommen haben. Dann hätten Sie aber vielleicht auf dasDatum der LKW-Demonstration auf dem Deckblatt unddamit auf ein Stück Populismus verzichten müssen. Es seiIhnen gegönnt.Der BGL beschreibt genau, warum es im Gewerbegärt. Seine Aussagen sind dabei viel gehaltvoller als das,was Sie, Herr Sebastian, heute dargeboten haben. Es heißtda nämlich wörtlich – man beachte die Reihenfolge –:Auslöser dieser Entwicklung sind Überkapazitäten,illegale Konkurrenz, Sozialdumping durch osteu-ropäisches Fahrpersonal auf EU-Fahrzeugen und diein jüngster Zeit dramatische Entwicklung im Mine-ralölsektor.
– Da hat er Recht, richtig. – Der Verband fährt fort:Preisdumping und eine nach unten führendeWettbewerbsspirale haben in nahezu allen europä-ischen Ländern zu gefährlichen Turbulenzen ge-führt. Ordentliche und gut geführte mittelständische
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Wilhelm Josef Sebastian12219
Transportunternehmen mit Standort Deutschland ha-ben in diesen Umfeld kaum eine gute Zukunftsper-spektive, weil sie nicht mehr auf ihre Kosten kom-men.Damit wir uns recht verstehen: Ich will die Belastun-gen der Branche durch die starke Steigerung der Sprit-preise, die vorwiegend von der Preispolitik der Ölkon-zerne und dem Dollarkurs abhängen – das haben wir hierschon mehrfach rauf und runter diskutiert –, nicht kleinreden. Die Dieselpreise in Deutschland sind übrigens– Sie haben das auch erwähnt, Herr Sebastian – im Ver-gleich zu anderen europäischen Ländern wie Dänemark,Italien, Schweden, Frankreich, den Niederlanden und vorallen Dingen Großbritannien deutlich günstiger. Die Ge-spräche mit Vertretern des Gewerbes zeigen genauso wiedie übrigens – da muss ich Ihrem Antrag ganz deutlich wi-dersprechen – ganz hervorragende Antwort der Bundes-regierung auf Ihre Kleine Anfrage vom 26. November,dass die Ökosteuer bei der Kostenentwicklung nur einerelativ geringe Rolle spielt. Ich sage „relativ“, weil esselbstverständlich Fuhrunternehmer gibt, für die jederPfennig Erhöhung des Spritpreises eine existenzielle Be-drohung darstellt, weil sie wegen der Praktiken, die derBGL auch angesprochen hat, der Konkurrenz nichts mehrentgegensetzen können.Ich will Ihnen nun vorrechnen, dass die Abschaffungder Ökosteuer, die eine zentrale Forderung Ihres Antragesausmacht, nicht wesentlich zur Verbesserung der Situa-tion des Fuhrgewerbes beitragen würde. Wenn nämlich,woran ich nicht zweifle, die Kraftstoffkosten Ende 1999laut Antwort der Bundesregierung auf Ihre Anfrage15 Prozent der Transportkosten ausmachten, so kannman in einem einfachen Dreisatz errechnen, dass die Öko-steuer 1999/2000, die übrigens über die Senkung derLohnnebenkosten direkt zur Verbesserung der Wirt-schaftslage in unserem Land
und damit auch zur Verbesserung der Auftragslage für dieFuhrunternehmen beiträgt, nur etwa 1 Prozent der Trans-portkosten ausmacht – nur 1 Prozent!
– Ich erkläre Ihnen den Dreisatz im trauten Gespräch gern.Sie können sich darauf verlassen, dass er stimmt.
Die Scheinheiligkeit, die Sie auf der Demonstrationgezeigt haben, spricht Bände.
Die Personalkosten nämlich, die im Gewerbe zu Bucheschlagen, wenn man zu deutschen Normallöhnen be-schäftigt, betragen in etwa ein Drittel der Trans-portkosten. Betrachten wir diese Relationen und die Ihnenallen sicherlich geläufigen Aussagen des BGL zum Aus-maß des Sozial- und Lohndumpings, das die Preisedrückt, so liegt auf der Hand, warum die Unternehmer dieKostensteigerungen durch den Anstieg der Spritpreisenicht verkraften bzw. nicht mehr weitergeben können.Dazu kommen Überkapazitäten, nicht nur durch den Falldes Kabotageverbotes zum 1. Juli 1998, sondern auchdurch das Entstehen von Kleinstbetrieben durch das Out-sourcing der Fuhrparks vieler Unternehmen.Diese Überkapazitäten hätten wohl auch ohne den Preis-anstieg der Mineralölprodukte über kurz oder lang zu ei-ner Reihe von Firmenaufgaben geführt. Auch der BGLsagt dies. Die Bekämpfung der Scheinselbstständigkeitwar deshalb eine ganz wichtige Maßnahme zur Existenz-sicherung der mittelständischen Fuhrunternehmen.
Eine der Hauptursachen für den ruinösen Wettbewerbim Fuhrgewerbe liegt aber ohne Zweifel in der von Ihnenangesprochenen, aber auch vom BGL deutlich themati-sierten Subvention für das Gewerbe im EU-Ausland, derBekämpfung Sie im Gegensatz zu dem, was Sie vorhinverkündet haben, in der Vergangenheit eben nicht ent-sprechend angegangen sind.
Ich habe Ihnen schon in der Aktuellen Stunde vor we-nigen Wochen vorgehalten, dass die Verhandlungen zurAbschaffung der Kabotage in der EU, die in Ihrer Regie-rungszeit stattgefunden haben, dafür unbedingt hätten ge-nutzt werden müssen. Fehlanzeige! Die Kollegin Wetzelwird diesen Vorgang und insbesondere auch Ihre Rolle da-bei sicherlich noch genauer unter die Lupe nehmen. Feststeht, dass unser Verkehrsminister auf europäischer Ebeneim Nachhinein nun alles tut, um diese Chancenungleich-heit zu bekämpfen.Mindestens ebenso wettbewerbsverzerrend sind aberdie verschiedenen Formen von Lohn- und Sozialdum-ping. Das Thema illegale Kabotage hat ja – Gott seiDank – inzwischen auch in Ihre Diskussionen Einzug ge-halten. Wir werden mit der Einführung der europä-ischen Fahrerlizenz für Fahrer aus Drittländern hoffent-lich schon bald zu einem Ergebnis kommen. Auch das ha-ben wir übrigens schon lange vor dem 26. September2000, also vor dem Tag der Demonstration, getan.
– Da habt ihr wirklich geschlafen, meine Lieben.Meine eigenen Recherchen, auch über die Netze, diehinter diesen Praktiken der illegalen Kabotage stehen,haben mich zu der festen Überzeugung gebracht, dass wires mit einer Form von organisierter Kriminalität zu tunhaben, die nicht nur den anständigen deutschen mittel-ständischen Fuhrunternehmen zu schaffen macht, son-dern auch der Volkswirtschaft schweren Schaden zufügt.Der BGL spricht von bis zu 5 Milliarden DM, die an Steu-ern und Sozialabgaben ausfallen.Wie läuft so etwas ab? Litauische, slowakische odertschechische Fahrer sitzen auf dem Bock eines italieni-schen, belgischen oder niederländischen LKW zu einemPreis von höchstens 5 bis 7 DM – manchmal sind es so-gar nur 2 DM – pro Stunde respektive 10 Pfennige pro ge-fahrenem Kilometer. Sie schaffen damit eine Konkur-
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Angelika Graf
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renzsituation, in der kein anständiges deutsches Unter-nehmen mithalten kann. Übrigens: Eine Fahrleistung ei-nes solchen LKW von 27 000 Kilometern im Monat, wieaus einer mir vorliegenden Ermittlungsakte hervorgeht,macht klar, welches hohe Sicherheitsrisiko mit demGanzen verbunden ist; denn der Fahrer kann diese Fahr-leistung nur erbringen, wenn er sämtliche Lenk- und Ru-hezeiten nicht einhält.Ein aktuelles Beispiel für die volkswirtschaftliche Di-mension der illegalen Praktiken möchte ich Ihnen nennen.Ich habe Haftbefehle gesehen, erlassen auf Veranlassungdes bei der Bekämpfung illegaler Beschäftigung sehr re-gen Hauptzollamtes Rosenheim. Dabei geht es um eineFirma, der vorgeworfen wird, durch Geschäftsverbindun-gen nach Italien und in die Slowakei – offensichtlich sindhier zum Teil Scheinfirmen am Werk – seit 1995 jeweils100 bis 160 slowakische Fahrer in den innereuropäischenVerkehr eingeschleust und illegal beschäftigt zu haben.Allein in einem Zeitraum von sieben Monaten in den Jah-ren 1997 und 1998 wurden der SozialversicherungBeiträge in Höhe von über 323 000 DM vorenthalten.Rechnet man den Schaden auf die Zeit seit 1995 hoch, soergibt sich allein in diesem Fall für die Sozialversicherungein Ausfall von insgesamt etwa 5 Millionen DM. Damitist allerdings die Frage, was in die Sozialversicherung ein-gegangen wäre, wenn die Fahrer vernünftig bezahlt wor-den wären, und wie hoch der Gewinn dieses Unterneh-mens dank der illegalen Beschäftigung war, überhauptnoch nicht beantwortet.Unser Antrag, den wir heute nicht behandeln, der sichaber mit der Vorbereitung der Einführung der europä-ischen Fahrerlizenz beschäftigt und die Kompetenzen desBundesamtes für Güterverkehr erweitern soll, wird wohlin nächster Zeit in diesem Hohen Hause beschlossen wer-den. Ich finde, das ist ein erster Schritt. Des Weiteren ha-ben wir am vergangenen Mittwoch gemeinsam – einstim-mig – die Aufstockung der Mittel für das Bundesamt fürGüterverkehr beschließen können.
Gegen die Praktiken der illegalen Kabotage, die auchnicht vom Himmel gefallen sind, sondern seit Jahren gangund gäbe sind, wird diese Bundesregierung hart vorge-hen – insbesondere bei den schwarzen Schafen der Bran-che.
Uns liegt der Schutz unserer mittelständischen Fuhr-unternehmer – das haben Sie offensichtlich leider nichtverstanden – sehr am Herzen: Wir tun mehr, als Sie in derVergangenheit jemals getan haben.
Wir handeln nämlich wirklich, wohingegen Sie sich inEuropa nicht für die Fuhrunternehmer eingesetzt haben.Sie haben stattdessen zugeschaut, wie sich denn die Dingeso entwickeln. Dafür spricht unter anderem auch, dass wires geschafft haben, bei den Ökopunkten die für die Durch-fahrt durch Österreich nötig sind, einen Kompromiss aus-zuhandeln. Diese Ökopunkteregelung ist noch zu IhrerRegierungszeit mit Österreich abgeschlossen worden.Wir müssen nun schauen, dass wir für unser Gewerbe dieKastanien aus dem Feuer holen.Fazit: Sie haben nicht mit Ihrem Verhalten bei derDemo am 26. September 2000, wohl aber mit einigen For-derungen, die Sie in Ihrem Antrag nun erheben – offen-sichtlich von uns abgeschrieben –, gezeigt, dass Sie dieBrisanz des Themas anscheinend inzwischen doch er-kannt haben. Viele Ihrer Forderungen sind allerdingsangesichts der Aktivitäten der Bundesregierung und derKoalitionsfraktionen ziemlich kalter Kaffee. Was Sie for-dern, ist alles schon passiert.
Man muss dazu noch etwas sagen: Insbesondere mitder Forderung nach Abschaffung der Ökosteuer
liegen Sie – wie gesagt, ich erkläre Ihnen die Sache mitdem Dreisatz gerne, Herr Kollege – völlig daneben.
Ich erteile dem Kolle-
gen Horst Friedrich, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsiden-tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kolleginnenund Kollegen! Das deutsche Güterkraftverkehrsgewerbebefindet sich tatsächlich in einer entscheidenden Situa-tion, was die Existenzfähigkeit der großen Mehrheit derUnternehmer – in aller Regel kleine und mittelständischeFirmen –, angeht. Jetzt kommt die Regierungskoalitionund sagt: Wir kämpfen gemeinsam für die EU-Fahrerli-zenz.Liebe Frau Kollegin Graf, das ist ja alles schön undrichtig; das machen wir auch. In Kenntnis der Zeitkorri-dore können Sie davon ausgehen, dass wir schätzungs-weise in vier bis fünf Jahren eine gemeinsame Regelunghaben. Dann allerdings ist es für die meisten der jetzt akutbedrohten Unternehmen zu spät. Sie brauchen dann dieseLizenz nicht mehr, weil sie mittlerweile den Gang zumKonkursrichter antreten mussten. Deswegen kommt esdarauf an, kurzfristig nationale Maßnahmen zu be-schließen, um dann mittel- und langfristig internationaleeuropäische Regeln zu beschließen.
Es wäre besser, wenn Sie, liebe Frau Kollegin Graf, un-seren Vorschlägen folgen würden, die sich in das einrei-hen, was wir schon gemacht haben. Wir haben 1992 dieKfz-Steuer für deutsche LKW von 10 500 DM auf
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Angelika Graf
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3 000 DM drastisch reduziert – im Übrigen gegen IhreStimmen.
Wenn Sie uns jetzt vorwerfen, wir hätten die Lage desdeutschen Gewerbes verschlechtert, dann sind die letztenJahre offensichtlich an Ihnen vorbeigegangen. Wo brenntes denn jetzt? Alle Länder um uns herum – ich zitiere auseiner offiziellen Antwort der Bundesregierung vom Okto-ber 2000 auf eine Kleine Anfrage von uns – beschließenRegelungen nationaler Art. Die Niederlande haben für daserste Quartal 2000 – es ist mittlerweile von der EU-Kom-mission genehmigt – 17 Pfennig, für das zweite Quartal14 Pfennig, für das dritte 11 und für das vierte 7 PfennigSteuererstattung pro Liter Diesel beantragt. In Frankreichist seit dem 12. Januar die teilweise Rückerstattung derMineralölsteuer für Dieselkraftstoff rückwirkend ab Ja-nuar 1999 möglich. Italien hat das Gleiche beantragt. Diefinnische Regierung hat beschlossen, die Kraftfahrzeug-steuer für die höchste Stufe abzuschaffen, und die belgi-sche Regierung hat eine Senkung der Steuer bei der Haft-pflicht- und Schadensversicherung für alle Fahrzeugebeschlossen. Frankreich, die Niederlande und Italien ha-ben die Kommission von den Grundprinzipien ihres Ver-gütungsverfahrens in Kenntnis gesetzt. Der Rat hat diesenMitgliedstaaten die Anwendung bis zum 31. Dezember2000 gestattet; offensichtlich mit Zustimmung der deut-schen Bundesregierung – ich habe zumindest nichts an-deres gehört – und nicht gegen sie. Also werfen Sie unsnicht Tatenlosigkeit vor, wenn Sie selber nichts machen.
Ich habe am letzten Sonntag vor Ort mit den bayeri-schen Verbänden gesprochen. Sie fordern ein ganzesBündel an Maßnahmen. Alle fordern – auch der BGL, dernur von Fahrerlizenz spricht; deswegen kann man nichtallein mit dem BGL reden –, dass zunächst die deutscheKraftfahrzeugsteuer auf das im europarechtlichen Rah-men zulässige Mindestmaß reduziert wird. Das könnenwir ganz alleine machen, dazu brauchen wir niemandenzu fragen. Als weitere Forderung wird – auch vom BGL –die Aussetzung zumindest der weiteren Stufen der Öko-steuer erhoben, damit der Kraftstoff nicht noch weiter ver-teuert wird. Es ist ein Märchen, wenn man behauptet, diemit der Ökosteuer verbundene Senkung der Renten-beiträge würde die Unternehmen entlasten. Die Senkungder Rentenversicherungsbeiträge bewirkt bei den Verbän-den im Verkehrsgewerbe eine maximale Kosteneinspa-rung von 10 Prozent der Zusatzkosten aus der Ökosteuer,während die restlichen 90 Prozent bei den Unternehmenverbleiben. Das ist die Realität und das sollten Sie akzep-tieren.
Sorgen Sie dafür, dass die Umstellung der LKW-Mautvon der Zeitbezogenheit auf die Streckenbezogenheit fürdas deutsche Gewerbe belastungsneutral erfolgt. LassenSie die Finger von der Verlängerung der Abschrei-bungsfristen. Es ist ein Wahnsinn, ein Anachronismus, inder jetzigen Zeit wirtschaftlicher Bedrängnis das Ge-werbe mit einer Verlängerung der Abschreibungsfristenzu „belohnen“. Sie verzögern damit den Austausch alterInvestitionsgüter durch moderne, ganz zu schweigen da-von, dass Sie die sowieso nur gering ausgeprägte Eigen-kapitalbasis weiter schwächen.Wenn all das erledigt ist – wir können all das kurzfris-tig national machen, wenn der politische Wille dazu vor-handen ist –, müssen wir die nächsten Schritte angehen:hinsichtlich der Bekämpfung der illegalen Beschäftigung,der EU-Fahrerlizenz und der Schaffung einheitlicher eu-ropäischer Regelungen. Was Sie vorschlagen, ist für unsder vierte Schritt und nicht der erste. Wenn wir noch län-ger darüber diskutieren, ob wir den vierten Schritt vordem ersten machen sollen, und Sie nicht national handeln,haben Sie eine erste Grundlage dafür geschaffen, dass dasmittelständische deutsche Transportgewerbe vom Marktverschwindet. Das sind leider die Realitäten und deswe-gen fordere ich Sie auf:
Werden Sie lernfähig und schauen Sie sich unseren Antragan, in dem alles Notwendige steht. Wenn Sie es in dieserReihenfolge machen, klappt es auch wieder mit dem deut-schen Gewerbe.Danke schön.
Ich erteile nun demKollegen Albert Schmidt vom Bündnis 90/Die Grünendas Wort.Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die heutige Diskussion über die von der Unionund der F.D.P. eingebrachten Anträge ist schon wesentlichsachlicher als damals, auf dem Höhepunkt der Proteste,die Aktuelle Stunde, wo die Emotionen im Parlament na-turgemäß etwas stärker aufwallten.Ich freue mich, dass Ihre Anträge mir Gelegenheit ge-ben, eine ernsthafte Beratung über die Verbesserung derChancen des deutschen Speditionsgewerbes im europä-ischen Markt anzustoßen. Ich stelle fest, dass einigePunkte – zumindest in dem Antrag der Union – nicht nurdiskussionswürdig, sondern sogar konsensfähig sind. Ichhabe vor allem festgestellt, dass im Unterschied zumF.D.P.-Antrag im Antrag der Union die Ökosteuer nurnoch unter Punkt 6 rangiert. Alle anderen Punkte sind we-sentlich stärker in Richtung auf den Kern des Problemskonzentriert.Das Problem besteht nicht darin – das wissen Sie ge-nau so gut wie ich –, dass zu wenige Firmen ihre Güter aufder Straße transportieren wollen; das Problem bestehtvielmehr darin, dass niemand ordentlich dafür bezahlenwill. Das heißt, das Speditionsgewerbe ist eine Branche,die boomt wie keine andere. Es liegt also nicht an derschlechten Auftragslage.
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Die Prognosen für die künftigen Jahre sind geradezu be-drohlich gut; denn wenn das, was vorhergesagt wordenist, wirklich auf uns zurollen sollte, Herr KollegeFriedrich – das sage ich ohne jede parteipolitische Fär-bung –, dann stehen wir alle gemeinsam vor einem Rie-senproblem. Dann wird überall nicht nur die rechte Spur,sondern auch die linke Überholspur der Autobahn dichtsein, wie das bereits jetzt auf vielen Autobahnen der Fall.
Deshalb haben wir ein gemeinsames Interesse, den Ver-kehr von der Straße auf die Schiene zu verlagern. Dafürtun wir auch etwas. Aber das ist nicht das Thema der heu-tigen Diskussion. Wir müssen uns jetzt ernsthaft überle-gen, was die Liberalisierung des europäischen Güter-verkehrsmarktes für das mittelständische deutscheSpeditionsgewerbe bedeutet.Lassen Sie mich noch eine Randbemerkung machen,die ich mir nicht verkneifen kann und die ich gar nicht po-lemisch meine. Wo waren, als in den 90er-Jahren bei derDeutschen Bahn nicht 10 000, sondern über 100 000Arbeitsplätze abgebaut wurden, die Blockaden, Ihre Pro-teste und Ihre Parlamentsanträge? Ich habe damals davonnichts gesehen und gehört. Das ist ein Beispiel dafür, dassin Deutschland mit zweierlei Maß diskutiert wird, wennes um Arbeitsplätze im Güterverkehr geht.Ich möchte jetzt auf die konkreten Vorschläge einge-hen, insbesondere auf Nr. 2 des Antrages der CDU/CSU-Fraktion. Dort wird gefordert, die Bundesregierung mögeden Güterverkehrsmarkt nur schrittweise für die bei-trittswilligen Staaten aus Mittel- und Osteuropa öffnenund die grenzüberschreitende wie innerstaatliche Kabo-tage nicht radikal freigeben. Diese Forderung ist richtig.Sie entspricht exakt der Strategie, die die Bundesregie-rung verfolgt. Wir sollten im Wesentlichen drei Punkte beider Marktöffnung nach Osten beachten, wenn wir demübergeordneten Ziel eines fairen Wettbewerbs letztlichdienen wollen und Übergangsfristen für das deutsche Gü-terkraftverkehrsgewerbe aushandeln wollen.Erstens. Wir müssen den Staaten aus Mittel- und Ost-europa schon vor ihrem Beitritt zur EU einen ersten Zu-gang zum internationalen Verkehrsmarkt ermöglichen,um einerseits das deutsche Güterkraftverkehrsgewerbeauf die bevorstehende vollständige Marktöffnung vorzu-bereiten und um dadurch andererseits – das ist sehr wich-tig – auf ein größeres Entgegenkommen bei den Staaten,die jetzt beitrittswillig sind und die sich später mit uns imWettbewerb befinden, hoffen zu können, wenn wir Über-gangsfristen für unser Gewerbe fordern.Zweitens. Erst nach dem Beitritt der Staaten aus Mit-tel- und Osteuropa kann ihnen ein gewisser Marktzugangim Bereich des grenzüberschreitenden Verkehrs ermög-licht werden und können erste Schritte zur Freigabe derKabotage eingeleitet werden.Drittens. Erst einige Jahre nach dem Beitritt dieserLänder ist eine umfassende Freigabe der Kabotage sinn-voll und möglich.Lassen Sie mich das ein bisschen konkretisieren. Wennwir im ersten Schritt signalisieren – hier stimme ich exaktmit den Forderungen des CDU/CSU-Antrags überein –,dass wir etwas wollen, nämlich Übergangsfristen, dasswir aber auch bereit sind, etwas zu geben, nämlich ein be-grenztes Kontingent an Genehmigungen für den grenz-überschreitenden Verkehr, dann leiten wir einen Prozessdes Gebens und des Nehmens ein, der uns die spätere Ver-ständigung erleichtern wird.Beim zweiten Schritt, bei der begrenzten Liberalisie-rung, muss mit Kontingenten für Kabotagegenehmigun-gen gearbeitet werden. Im letzten Schritt kann die Kabo-tage, wie gesagt, völlig freigegeben werden, allerdingserst in dem Moment, wenn sich in den beigetretenen Staa-ten ein Lohnniveau herausgebildet hat, das mindestensdem Durchschnitt des europäischen Lohnniveaus ent-spricht. Erst dann kann die Freigabe der Kabotage zu fai-ren Wettbewerbsbedingungen führen. – Ich sehe an demKopfnicken verschiedener Kolleginnen und Kollegen,dass wir uns darüber auf einer sachlichen Ebene verstän-digen können.Lassen Sie mich noch auf die Einführung einer EU-weit gültigen und rechtsverbindlichen Fahrerlizenz – daslässt sich immer vortrefflich fordern – eingehen. Wir allewissen – Sie genauso gut wie wir; Sie haben das auchschon versucht, als Sie noch in der Regierungsverantwor-tung waren –, dass alle 15 Partnerstaaten überzeugt seinmüssen, bevor eine solche Fahrerlizenz eingeführt wer-den kann. Das wird später, wenn die Beitrittskandidatenhinzugekommen sind, noch schwieriger werden. Ich haltedie Einführung einer solchen Fahrerlizenz trotzdem fürunverzichtbar, und zwar als Nachweis eines legalen Be-schäftigungsverhältnisses im Mitgliedstaat des Unterneh-menssitzes. Das ist gerade das Problem, unter dem dieSpeditionen heute wirklich zu leiden haben. Wenn Sie mitden Spediteuren fünf Sätze wechseln, dann geben diesezu: Unser Hauptproblem ist nicht die Ökosteuer, sondernneben der gesamten Energiepreisentwicklung natürlichganz besonders die Frage des Lohndumpings. Wenn heuteein bulgarischer Fahrer für 2 DM pro Stunde zu haben ist,dann tut sich der deutsche Kollege, der mindestens 16oder 18 DM zahlen muss, einfach schwer, in einem sol-chen ruinösen Wettbewerb zu konkurrieren. Das hat abermit der Ökosteuer nicht das Geringste zu tun.Deshalb müssen wir im Güterkraftverkehrsgesetz Än-derungen vornehmen. Das bedeutet, wir müssen eine Ver-pflichtung für den Nachweis der Fahrerlizenz bzw. derenamtlich beglaubigte Übersetzung einführen. Wir müssendiese Verpflichtung aber auch auf die Verlader ausweiten,dürfen sie also nicht nur auf die Transportunternehmenselbst beschränken, und wir müssen darauf hinwirken,dass bei Nichtbeachtung eine beträchtliche Erhöhung an-gedrohter Bußgelder umgesetzt wird.Lassen Sie mich abschließend – ich sehe, die Redezeitgeht zu Ende man muss sie auch nicht immer bis zur letz-ten Sekunde ausreizen – noch sagen: Die Mineralölsteuerist ganz sicher nicht das Hauptproblem des Gewerbes.Das wissen Sie auch. Wären wir damals Ihrem Rat ge-folgt und hätten wir zum Beispiel die Aussetzung dernächsten Stufe der Ökosteuer beschlossen, so wäre diesejetzt schon wieder kompensiert durch die Erhöhung umvier Pfennig von vorgestern. Und ich garantiere Ihnen,sie wäre sogar überkompensiert worden; denn jede Preis-senkung, die wir steuerlich durch indirekte Subvention
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veranlassen, führt sofort dazu, dass die Erzeugerländerund die multinationalen Konzerne ihrerseits einenPreisaufschlag vornehmen. Das führt uns also in die Irre.Lassen Sie uns über die wirklichen Probleme in denAusschussberatungen sachlich diskutieren. Ich bin über-zeugt, dort kommen wir sehr nahe zusammen.
Das ist immer so:
Wenn man zum Schluss kommen will, braucht man meis-
tens noch eine ganze Minute. Aber das war ja in Ordnung.
Jetzt gebe ich bekannt, dass der Kollege Dr. Winfried
Wolf von der PDS seine Rede zu Protokoll gegeben
hat1). – Damit sind Sie einverstanden.
Damit erteile ich der Kollegin Renate Blank,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die Demonstration des Güterkraft-
verkehrgewerbes vom vergangenen September, die Gott
sei Dank friedlich geblieben ist, hat deutlich gemacht,
dass das Gewerbe mit dem Rücken zur Wand steht. Lei-
der war der Minister nicht anwesend und auch keiner sei-
ner fünf Staatssekretäre. Sie, Frau Präsidentin, mussten
für die SPD so ein bisschen die Kohlen aus dem Feuer ho-
len.
Nein, ich habe für das
Parlament reagiert, weil die Demonstranten vor dem
Reichstag standen.
Gut. – Die Verkehrsmi-nister anderer europäischer Länder handeln für ihr Ge-werbe; der deutsche Verkehrsminister plant dagegenhöhere Straßenbenutzungsgebühren für den LKW undlässt das Verhalten der EU-Mitgliedstaaten nur „prüfen“.Immer nur prüfen und nicht handeln zeichnet die Politikder rot-grünen Bundesregierung aus, wo doch gerade jetztangesichts der vielfältigen Wettbewerbsverzerrungen, derSozialdumpingpraktiken, der explodierenden Kraftstoff-preise und der Wirkungen der so genannten ÖkosteuerHandeln mit einem Sofortprogramm angezeigt wäre.
Dem Bundesverkehrsminister ist es offenbar gleich-gültig – heute ist er ja auch nicht hier –, dass sich die Wett-bewerbssituation in Europa immer krasser zulasten desdeutschen Transportgewerbes verschiebt. Andere Länder,wie Frankreich, Belgien, die Niederlande und Italien, sub-ventionieren ihr Gewerbe. Dies ist nachweisbar.Ein Beispiel hat Kollege Sebastian schon angeführt.Der deutsche Verkehrsminister hat zugestimmt, dass Ita-lien die Möglichkeit einer Staffelung der Verbrauchsteuerauf bestimmte Mineralölprodukte eingeräumt wird.
Das verschlechtert die Wettbewerbssituation des deut-schen Gewerbes noch weiter. Die Bundesregierung wirdso ihrer Verantwortung für das deutsche Güterkraftver-kehrswesen nicht gerecht.Ja, die Bundesregierung ignoriert sogar die Bedeutungdes deutschen LKW-Gewerbes für den Gütertransport so-wie für Wirtschaft und Arbeitsmarkt insgesamt. Dies istangesichts der über 380 000 Beschäftigten in diesemwichtigen Wirtschaftssektor unverantwortlich.
Die Belastungen für einen LKW liegen in Deutschlandim Durchschnitt bei 43 000 DM, in Frankreich bei30 000 DM und in den Niederlanden bei 28 000 DM. DieSituation im deutschen Gewerbe verschärft sich täglich.Viele Firmen stehen kurz vor dem Konkurs oder denkenans Ausflaggen. Dabei entgehen dem Fiskus jährlich Ein-nahmen pro LKW von rund 120 000 DM. Wenn die Fir-men ausflaggen, wird es keinen einzigen LKW wenigerauf unseren Straßen geben; es ändern sich nur die Kenn-zeichen.
Zudem versucht die Bundesregierung ständig, die Aus-wirkungen der Ökosteuer auf das deutsche Gewerbe zuverharmlosen. Bundeskanzler Schröder hat noch imWahlkampf 1998 getönt: Bei 6 Pfennig Ökosteuer istEnde der Fahnenstange.
Anstatt sich der Probleme ernsthaft anzunehmen, istdie Bundesregierung weiter wild entschlossen, mit denErhöhungen bei der Ökosteuer und der Einführung derLKW-Vignette zum 1. Januar 2001 noch eins drauf-zusetzen.Kollege Schmidt von den Grünen hatte heute Abendwohl Kreide gefressen – ich wundere mich ein wenig –,denn normalerweise freut er sich doch immer, wenn esdem LKW schlecht geht. Ich wollte Ihnen schon empfeh-len, die Güter künftig mit dem Pferdefuhrwerk oder demPlanwagen zu transportieren; aber am besten zögen Siedann einen Ochsenkarren selbst.Aber Sie begreifen anscheinend endlich, dass Wirt-schaftswachstum auch etwas mit Verkehrsleistungen zutun hat und die Bahn derzeit nur in der Lage ist, einenkleinen Zuwachs beim Gütertransport zu bewerkstelli-gen. Wahrscheinlich wird sich das auch in Zukunft nichtändern. Dies sollte Ihnen, Kollege Schmidt, spätestens imZuge der Anhörung zur Bahnreform
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1) Anlage 2aufgegangen sein. Zudem finden 80 Prozent aller LKW-Fahrten im Nahverkehr – bei Entfernungen unter 100 Ki-lometern – statt; diese Transporte können nicht auf dieSchiene verlagert werden. Selbst Bahnchef Mehdorn gibtzu, dass Güterverkehr auf der Schiene bei einer Entfer-nung von weniger als 150 Kilometern nicht sinnvoll ist.Experten behaupten sogar, derartiger Güterverkehrrechne sich nicht bei einer Entfernung unter 400 Kilome-tern.Im Güternahverkehr gibt es zum Nutzfahrzeug keineAlternative. Die Flächenerschließung und damit auch dieErschließung wirtschaftsschwacher Regionen kann nurder Straßengüterverkehr leisten. Über 10 000 Gemeindenin Deutschland haben keinen Gleisanschluss, das heißt,sie sind bei der Ver- und Entsorgung auf den LKW ange-wiesen.
Bei Nr. 3 unseres Antrages, der grauen und illegalenKabotage sowie der illegalen Beschäftigung, sind wirhoffentlich auf einem guten Weg. Kollegin Graf, auch Siehaben das schon angedeutet. Ich gehe davon aus, dass eineErgänzung des Güterkraftverkehrgesetzes durch eineFahrerlizenz und die Kontrolle der Einhaltung vonarbeitsgenehmigungs-, aufenthalts- und sozialversi-cherungsrechtlichen Bestimmungen mit entsprechendenBußgeldern – ich glaube, das ist wichtig – etwas bringt.Unsere Unterstützung für solche Maßnahmen haben Sie.
Die Einführung der streckenbezogenen nutzungsab-hängigen LKW-Gebühr muss für das deutsche Güter-kraftverkehrsgewerbe wettbewerbsverträglich gestaltetwerden. Ich bin ja noch nicht überzeugt davon, dass dieUmstellung der zeitbezogenen auf die streckenbezogeneGebühr ab 2003 erfolgen kann. Es darf aber auf keinenFall geschehen, dass auf der Basis des so genanntenPällmann-Gutachtens eine bis zu zehnfache Belastungdes Gewerbes in Angriff genommen wird; diese Ab-zockerei des Gewerbes wird mit uns nicht zu machen sein.Wahrscheinlich wollen Sie dann das Gutachten, das ausmeiner Sicht eine sehr gute Diskussionsgrundlage fürkünftiges verkehrspolitisches Handeln darstellt, still undheimlich im Papierkorb verschwinden lassen. Dies wäreallerdings eine Brüskierung der Kommission.Nun eine Anmerkung zu den Ökopunkten im Straßen-transit Österreich: In einer Ausschussdrucksache legenSie dar, dass der Rat im September einen Kompromiss er-zielt hat, nämlich die Kürzung der Ökopunkte um rund1 Million Punkte; das sind circa 150 000 Fahrten. Alleinauf deutsche Unternehmen entfallen 35 Prozent der Kür-zung. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen,dass dies die Begeisterung des Gewerbes, insbesondereder süddeutschen Unternehmen, hervorruft, zumal dieKapazitäten auf der Schiene äußerst unzureichend sind.
Meine Damen und Herren, der Vorschlag des Minis-ters, dem Gewerbe über die KfW zinsverbilligte langfris-tige Darlehen zur Verfügung zu stellen, zeigt, dass hierabsolut keine Sachkenntnis vorhanden ist; ja, ich findeden Vorschlag sogar ungeheuerlich. KfW-Darlehen wer-den über die Hausbank ausgereicht. Wie soll denn, wenndas Kreditvolumen einer Firma bereits bei der Hausbanküber das Limit hinaus in Anspruch genommen worden ist– was ja bei den Firmen, die in Bedrängnis geraten sind,derzeit der Fall ist –, zusätzlicher Kredit gewährt werden?
Es kann höchstens eine Umschuldung ins Auge gefasstwerden; aber auch dann muss der Kredit zurückgezahltwerden. Wenn nicht durch andere Maßnahmen sofort ge-handelt wird, was ich von der rot-grünen Bundesregie-rung keinesfalls erwarte, dann verzögert dieser Vorschlag,den ich wirklich ungeheuerlich finde – und ich kommeaus dem Kreditgewerbe –, lediglich das Sterben und treibtviele Firmen halt später in den Ruin. Das Gewerbe musssich bei diesem Vorschlag eigentlich auf den Arm genom-men fühlen.
Herr Staatssekretär, geben Sie doch an Ihren Ministerweiter, dass der Transport von Waren unseren Wohlstandsichert! Setzen wir diesen Wohlstand nicht leichtsinnigaufs Spiel! Sie müssen handeln und dürfen nicht tatenloszusehen, wie unser deutsches Gewerbe Bankrott geht.Betätigen Sie sich doch als Nothelfer für das deutsche Gü-terkraftverkehrsgewerbe! Es würde sich im Interesse derUnternehmen und der Arbeitsplätze lohnen.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoali-tion, stimmen Sie unserem Antrag zu! Als Sie noch in derOpposition waren, waren alle Punkte immer auch Ihr An-liegen. Jetzt können Sie zeigen, wie ernst es Ihnen damitwar.
Jetzt erteile ich der
Kollegin Dr. Margrit Wetzel, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die extremen Störungen aufdem Transportmarkt hat der BGL richtig beschrieben.Auch im Antrag der CDU/CSU-Fraktion ist eine ganzeMenge richtig beschrieben, und zwar exakt die Teile, dieSie aus den von uns vorher vorgelegten Anträgen schlichtabgeschrieben haben,
um die Übereinstimmung mit unseren Positionen deutlichzu machen.Aber in Ihrem Antrag ist noch etwas ausgesprochenrichtig formuliert, und zwar schreiben Sie:
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Die Beseitigung der Harmonisierungsdefizite im Be-reich der Steuer- und Sozialvorschriften im europä-ischen Güterkraftverkehrsmarkt ist erklärtes Ziel ei-ner zukunftsorientierten Verkehrspolitik.Das ist völlig richtig. Sie haben aber vergessen dazuzusa-gen, dass diese Defizite das Ergebnis von 16 Jahren libe-raler Wirtschaftspolitik ohne Harmonisierung sind.
Ich möchte Sie daran erinnern: Als Herr WissmannVerkehrsminister wurde, hat er die Kabotagefreigabe ein-geleitet, ohne die Chance, dabei eine Harmonisierung her-auszuhandeln, zu nutzen. Es hat nichts in RichtungStraßenbenutzungsgebühr, nichts in Richtung Steuern,nichts in Richtung Arbeits- und Sozialkosten, nichts inRichtung Sicherheitsstandards gegeben. Das war seineerste Amtshandlung und damals hat das Gewerbe genausogeklagt wie jetzt. Das ist acht Jahre her und die Klagensind in der ganzen Zeit die gleichen geblieben. Sie habenin dieser Zeit nichts gemacht.
Deshalb möchte ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen:Wir haben es satt, dass Sie jede Gelegenheit nutzen, hierden Standort schlecht zu reden und zu versuchen, uns dieSchuld für Dinge, die Sie verbockt haben, in die Schuhezu schieben.
Werfen wir doch einmal einen Blick auf den Trans-portmarkt!Auch Herr Schmidt hat das schon angespro-chen: Dies ist einer der interessantesten Märkte, derwirklich nur wächst. Deutschland ist das TransitlandNummer eins. Es gibt einen deutlichen Umschlagzu-wachs bei den europäischen Seehäfen. Daraus folgenTransportaufträge. Der grenzüberschreitende Güterkraft-verkehr nimmt durch die Öffnung Osteuropas und durchdie Arbeitsteilung in den EU-Mitgliedsländern drama-tisch zu. Der Straßengüterverkehr hat von diesem Kucheneinen enormen Anteil abbekommen. Das muss man ein-fach sehen.Wenn ich bedenke, dass Sie uns 1,5 Billionen DM anStaatsschulden hinterlassen haben, muss ich Sie fragen:Wie können Sie ernsthaft eine Subventionierung einesVerkehrsträgers erwarten, der im Vergleich zu Bahn undSchiff den größten Anteil am Transportmarkt hat? Daswäre auch ökologisch überhaupt nicht zu verantworten.Recht haben Sie natürlich damit, dass wir die Rah-menbedingungen für einen fairen Wettbewerb in der EUschaffen müssen. Das haben Sie in der Vergangenheit ver-säumt. Daran arbeiten wir.
Wenn wir einen weiteren Blick auf den Markt werfen,dann erkennen wir, dass es der harte Konkurrenzkampfund das Preis- und Sozialdumping sind, die zu Konzen-tration und Kooperation geführt haben. Die erfolgte Kon-zentration wird daran deutlich, dass die Zahl der Insol-venzen im Bereich der Güterkraftverkehrsunternehmenrückläufig ist, zugleich aber bei den Neuzulassungen vonLKWs Rekordzahlen erreicht werden. So viel zum Thema„Überkapazitäten“, mit denen die Großen die Kleinenschlucken! Sie beklagen dann, dass die Kleinen demWettbewerb nicht standhalten können.Es ist bedenklich, dass der Anteil ausländischer Unter-nehmen am grenzüberschreitenden Verkehr 75 Prozentbeträgt. Aber sehen wir uns doch einmal an, wie vieleinnerdeutsche Transporte tatsächlich in Kabotage vonausländischen Unternehmen durchgeführt werden! Dasist de facto nur ungefähr 1 Prozent. Das heißt, genau indiesem Markt haben die kleinen und mittelständischenUnternehmer nach wie vor ihre Zukunft, wenn es uns ge-lingt, sie wettbewerbsfähig zu machen.Noch ein Wort zu dem Preisdumping zwischen denGroßen und den Kleinen, bei dem die Kleinen unterliegenmüssen. In der Bundesrepublik machen die Transportkos-ten nur 2 Prozent der Produktionskosten der deutschenWirtschaft aus; die Kraftstoffkosten liegen übrigens beiunter 1 Prozent.
Wenn es dann heißt, dass steigende Transportkosten nichtweitergegeben werden können, dann ist das doch ein deut-licher Beleg dafür, dass hier die Dumpingpraktiken undder Verdrängungswettbewerb der agierenden Unterneh-men wirken.Lassen Sie mich ein Wort zu der Sorge hinsichtlich derOsterweiterung sagen. Diese Sorge ist aus Ihrer Sichtnatürlich insofern begründet, als damals bei der Kabota-gefreigabe unendlich viele Fehler gemacht wurden. AberSie können uns glauben, dass wir in der Lage sind, aus denFehlern, die Sie in der Vergangenheit gemacht haben, zulernen. Deshalb wird die Osterweiterung sehr sorgfältigvorbereitet.Sie haben in Ihrem Antrag sehr vernünftige Vorschlägedazu gemacht,
die durchaus in etwa das beschreiben, was die Regierungbei den Verhandlungen permanent tut; Sie beschreiben ander Stelle nichts anderes als tatsächliches Regierungshan-deln. Die Regierung ist dabei, die Rahmenbedingungenfür den fairen Markt und den fairen Wettbewerb zu si-chern, und geht dabei auch die Harmonisierung der Steu-ern und Abgaben an. Wir werden endlich die fahrleis-tungsbezogene Schwerverkehrsabgabe bekommen, diewichtig ist, damit alle LKW, die unsere Infrastruktur be-nutzen, zur Deckung der Kosten beitragen. Die Regierungverhandelt, ganz wie Sie es vorschlagen – insofern ist dasschlicht und einfach Verhandlungsgegenstand und nichtnur Beschlusslage –, mit den Beitrittsländern über einenStufenplan, um ganz langsam eine Liberalisierung zuerreichen; denn man hat aus den Fehlern der Vergangen-heit gelernt. Deshalb wage ich auch zu bezweifeln, dassdie konkreten Übergangsfristen, die Sie nennen, tatsäch-lich realistisch sind. Man sollte sich da nicht zu früh fest-legen.
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Dr. Margrit Wetzel12226
Wir müssen auch sehen, dass mit Osteuropa ein neuer,ganz gewaltig wachsender und hochinteressanter Marktvor uns liegt, in dem im Moment die osteuropäischen undinternationalen Unternehmen die Nase vorn haben. Esliegt also an uns, hier neue Kunden zu gewinnen und ei-nen neuen Markt zu erschließen. Durch die ausgeprägteInvestitionstätigkeit der deutschen Wirtschaft, die nachdem Beitritt dort erfolgen wird, ergeben sich ganz andereChancen, auch im Hinblick auf unsere Unternehmen.Wenn Sie Übergangsfristen verlangen, müssen Sie be-denken, dass wir unsere Umweltstandards, Verkehrssi-cherheitsstandards und die Qualität der Leistung durch-setzen wollen. Vertrauen wir doch darauf, dass dieOsteuropäer ihre Länder auf westlichen Lebensstandardbringen wollen, dass sie eine Angleichung der Lebens-verhältnisse wollen, die eine Angleichung der Löhne mitsich bringen wird. Weil es zu dieser Angleichung kommenwird, müssen wir unsere kleinen Transportunternehmenfür den Wettbewerb fit machen. Das geht nur durch Ko-operation, Kundenbindung, Qualitätssicherung, Leistung,moderne Technik, moderne Logistik und indem sie denelektronischen Markt als Chance begreifen. Wenn sieheute mit uns gemeinsam daran arbeiten, dann werden siemorgen im Wettbewerb bestehen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/4150, 14/4396 und 14/4378 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses
zu der Streitsache vor dem Bundesverfas-
sungsgericht 2 BvF 1/00
– Drucksache 14/4354 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Rupert Scholz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Auch das ist
so beschlossen.
Dann eröffne ich die Aussprache und erteile dem Kol-
legen Alfred Hartenbach für die SPD-Fraktion das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundes-tag wurde vom Bundesverfassungsgericht zu einer Stel-lungnahme in einem Normenkontrollverfahren aufge-fordert, welches von der hessischen Landesregierunggegen Normen ihrer eigenen Landesverfassung beantragtwurde. Die hessische Landesregierung beantragt dieFeststellung der Nichtigkeit von Art. 78 Abs. 2 und 3 derhessischen Landesverfassung. Sie möchte den in derLandesverfassung verankerten Prüfungsmaßstab für dieGültigkeit von Wahlen beseitigt wissen, einen Prüfungs-maßstab, wonach eine Wahl ungültig ist, wenn das Wahl-ergebnis durch gegen die guten Sitten verstoßende Hand-lungen maßgeblich beeinflusst wurde.Sie wendet sich auch gegen die in der hessischen Lan-desverfassung geregelte Zusammensetzung des Wahlprü-fungsgerichts aus den beiden höchsten Richtern – ich be-tone, unabhängigen Richtern – des Landes Hessen unddrei gewählten Abgeordneten.
– Das war ein schlimmes Wort, mein lieber Herr vonStetten.Meine Damen und Herren, wir debattieren heute nichtüber die Frage, warum eine Landesregierung ihre Da-seinsberechtigung auf ein Wahlergebnis stützt, dessenÜberprüfung am Maßstab der guten Sitten um jeden Preisverhindert werden soll. – Jetzt könnt ihr klatschen.
Der Deutsche Bundestag wird auch keine Stellung-nahme dazu abgeben, warum eine angeblich wertkonser-vative Partei nun plötzlich den Maßstab der guten Sittenaus der Verfassung gestrichen haben will.
Heute geht es ausschließlich um eine Entscheidungüber folgende Frage: Soll sich der Deutsche Bundestagdurch eine Stellungnahme an dem Normenkontrollver-fahren in Karlsruhe beteiligen? Besteht ein bundespoliti-sches Interesse an einer derartigen Beteiligung? – BeideMale lautet die Antwort eindeutig Ja.
Wie Sie alle wissen, wurde über diese Frage im Rechts-ausschuss kontrovers abgestimmt.
CDU/CSU und F.D.P. machen geltend, das Bundesverfas-sungsgericht überprüfe nur das Landesrecht. Die Angele-genheit betreffe daher nur das Land Hessen.
Selbstverständlich überprüft das Bundesverfassungsge-richt hessisches Landesrecht. Aber Maßstab dieser Über-prüfung ist das Grundgesetz, also Bundesrecht.
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Dr. Margrit Wetzel12227
Es ist die Auslegung dieses Bundesrechts, das letztlichden Ausgang dieses Verfahrens bedingt.Die hessische Landesregierung ist natürlich in großerNot und in dieser großen Not kam sie auf die Idee, derin der hessischen Landesverfassung verankerte Maßstabder guten Sitten – ich muss das bei Ihnen immer wieder-holen: der guten Sitten – verstoße gegen das Demokra-tieprinzip und damit gegen Art. 28 des Grundgesetzes.Sie behauptet des Weiteren, die Zusammensetzung desWahl-prüfungsgerichtes verstoße gegen das Rechts-staatsprinzip und damit ebenfalls gegen Art. 28 desGrundgesetzes.Das Bundesverfassungsgericht wird daher zu denGrenzen der Verfassungsautonomie der Länder undzwangsläufig auch zu den grundgesetzlichen Anforderun-gen an die gesetzliche Ausgestaltung von WahlprüfungenAusführungen machen. Die Gerichtsentscheidung wirdeine Präzisierung des Art. 28 Grundgesetz – Bundesrecht,Herr von Stetten;
ich muss es immer wiederholen – erbringen, und zwareine Überprüfung, inwieweit dieser im Hinblick auf dasDemokratie– und Rechtsstaatsgebot den Ländern in derAusgestaltung ihrer Verfassung Grenzen setzt. Die Ent-scheidung wird daher über Hessen hinaus für sämtlicheBundesländer Bedeutung erlangen. Außerdem ist zu er-warten, dass das Bundesverfassungsgericht Leitlinienvorgibt, denen auch eine mögliche künftige bundesge-setzliche Regelung der Wahlprüfung Rechnung zu tragenhat.Hieraus ergibt sich eindeutig das bundespolitische In-teresse. Es ist offensichtlich ein Scheinargument, wennseitens der F.D.P. und der CDU/CSU behauptet wird, hierstünde nur Landesrecht in Frage. Es ist die Tragweite desGrundgesetzes, über die in Karlsruhe entschieden wird.Warum fürchten nun Sie von der Opposition einerechtswissenschaftliche Untersuchung eines Verfassungs-streitfalles
durch einen vom Bundestag beauftragten Wissenschaft-ler? Ich verstehe ja gut, dass die hessische Landesregie-rung mit ihrer Klage verhindern möchte, dass die berüch-tigte Kampagne der CDU gegen die doppelteStaatsbürgerschaft vom Wahlprüfungsgericht am Maß-stab der guten Sitten – ich wiederhole das immer, damitdas in Ihren Kopf hineingeht: am Maßstab der guten Sit-ten – überprüft wird. Es soll offensichtlich ungeklärt blei-ben, ob die Wähler durch die Finanzierung dieser Kam-pagne aus schwarzen Kassen in einer gegen die gutenSitten – merken Sie sich diesen Begriff: gegen die gutenSitten – verstoßenden Weise beeinflusst worden sind. DasWahlprüfungsgericht hat weiterhin zu überprüfen, obdiese möglicherweise unlautere Beeinflussung derWähler wahlentscheidend war.Die Regierung Koch fürchtet das klare Licht einer ge-richtlichen Untersuchung. Deshalb greift die hessischeLandesregierung die in Art. 78 Abs. 2 und 3 der hessi-schen Landesverfassung geregelte Wahlprüfung an undscheut auch nicht davor zurück – Herr von Stetten hat daseben wieder gesagt –, die beiden höchsten Richter desLandes Hessen zu diffamieren und ihnen Befangenheitvorzuwerfen.
Die Landesregierung tut alles – sie ist heute nicht ver-treten, obwohl sie sich etwas hinter die Ohren schreibenkönnte –,
um dieses Wahlprüfungsgericht, welches seit 50 Jahreneinwandfrei arbeitet, zu behindern.
Bereits im Februar hat das Wahlprüfungsgericht gebeten,dass man ihm die Akten vorlegt. Die Landesregierung hatgenauso zögerlich gehandelt, wie sie dies im Hinblick aufden Untersuchungsausschuss des Bundestages und dendes Landes Hessen gemacht hat.Der Vorsitzende des Wahlprüfungsgerichtes hat voreinem Monat noch einmal eine Frist gesetzt, die Aktenbinnen eines Monats herauszugeben. Nichts ist bisher ge-schehen. Der hessische Justizminister fühlt sich offen-sichtlich nicht als Wahrer des Rechts in seinem Land, son-dern als Sachwalter von CDU-Interessen.
Das ist mittlerweile bei CDU-Justizministern nichtsNeues. Wir kennen noch andere Beispiele aus anderenBundesländern. Über diesen Punkt sollten Sie einmalnachdenken.Ich verstehe nicht, warum sich die Abgeordneten derOpposition vor den Karren einer Taktik spannen lassen,durch die zugunsten vordergründiger Ziele leichtfertigeine Landesverfassung diskreditiert wird.
Ich betone es noch einmal: Heute geht es nicht um dieVorgänge in Hessen. Es geht um die Auslegung unseresGrundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht undunsere Beteiligung hieran.In diesem Zusammenhang bedauere ich es außeror-dentlich, dass auch die Bundestagsfraktion der F.D.P. wi-der besseres Wissen durch Frau Wagner, die stellvertre-tende hessische Ministerpräsidentin, in ein Boot mit derCDU gezwungen wurde, ein Boot, dessen Löcher ganz of-fensichtlich mit Schwarzgeld gestopft sind.
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Alfred Hartenbach12228
Der Kollege van Essen hat in der Sitzung des Rechts-ausschusses darauf hingewiesen, dass die Beteiligung desBundes an dem Verfassungsstreitverfahren Geld kostet.
Darauf muss ich erwidern, Herr van Essen: Hätten Siedafür gesorgt, dass Ihr Landesvorsitzender Gerhardt
vor einem Jahr etwas mehr Rückhalt bekommen hätte,
dann müssten wir heute über diese Frage gar nicht disku-tieren. Sie als Liberale hätten erreichen können, dass diehessische Landesregierung eben nicht dieses unsäglicheNormenkontrollverfahren angestrengt hätte. Die CDU/CSU, vertreten durch ihren rechtspolitischen Sprecher,Norbert Geis – er war erst ein Brandstifter und erscheintdann hier nicht;
auch das wird in der Rechtspolitik der CDU/CSU langsamüblich, siehe Bosbach –, hat vor einiger Zeit erklärt: Wirwollen mit der Mehrheit unserer Stimmen den Bundestagzu einer Beteiligung zwingen.Es ist doch demokratisch – oder wollen Sie das mitt-lerweile leugnen? –, dass Entscheidungen mit Mehrheitgetroffen werden. Ich habe dargelegt, dass die Tatsache,dass Landesrecht überprüft wird, kein Argument gegendie bundespolitische Bedeutung dieser Überprüfung amMaßstab des Bundesrechtes darstellt. Mich wundert Ihremotionaler Aufwand. Ich muss fragen: Ist für Sie dasdemokratische Recht und die aus freien Wahlen hervor-gegangene Legitimität der Mehrheit, in ihrem Sinne zuentscheiden, ein undemokratischer Vorgang? Da zeigtsich, was 16 Jahre Kohl in Ihren Köpfen angerichtet ha-ben.
Es geht Ihnen da wohl wie Ihrem Parteifreund Koch,der demokratische Institutionen in dem Augenblick in-frage stellt, in dem dieser brutalstmögliche Aufklärer miternsthafter Aufklärung bedroht wird. Sie haben sogarAngst davor, dass der Maßstab dieser Aufklärung, näm-lich die guten Sitten, erhalten bleibt. Schaffen Sie heuteKlarheit! Stimmen Sie zu, die Prüfung dieser Fragen von-seiten des Bundestages durch einen Wissenschaftler be-gleiten zu lassen!Ich appelliere an den hessischen Ministerpräsidenten,Roland „Pattex“ Koch, der an seinem Sessel klebt, end-lich dem Ratschlag des Herrn Laurenz Meyer, den Sie jaganz gut kennen, vom 16. Februar nachzukommen; diesist in einer Presseerklärung der nordrhein-westfälischenCDU nachzulesen. Auch Meyer hält einen Rückzug deshessischen CDU-Ministerpräsidenten Roland Koch of-fenbar für unvermeidlich. Ehrlichkeit gilt für alle, sagt er.Kochs Glaubwürdigkeit sei beschädigt. – Lassen Sie unsdazu beitragen, dass in Hessen wieder vernünftige Ver-hältnisse einkehren!Danke schön.
– Die Wahrheit ist für Sie immer peinlich; das weiß ich.
Herr Kollege, den
Ausdruck „geistiger Brandstifter“ halte ich für nicht sehr
parlamentarisch.
Ich erteile Herrn Dr. Freiherr von Stetten, CDU/CSU-
Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Die Entgleisungen des Kollegen Hartenbach ver-deutlichen die Hektik und die Unsicherheit der SPD.
Die CDU/CSU und mit ihr die F.D.P. haben aus gutenGründen und wohl überlegt beantragt, dass der DeutscheBundestag zu der hessischen Streitsache vor dem Bun-desverfassungsgericht keine Stellungnahme abgibt, undzwar, um sich aus diesem Rechtsstreit herauszuhalten,weil sonst der vom Bundestag zu beauftragende Vertreterzu einem vernichtenden Urteil über Art. 78 Abs. 2 und 3der hessischen Verfassung in Verbindung mit Einzelbe-stimmungen des hessischen Wahlprüfungsgesetzes kom-men müsste.So fürchterlich verwunderlich wäre eine solch negativeStellungnahme dieses Vertreters schon deshalb nicht, weildie hessische Verfassung vom 1. Dezember 1946 stammtund Bestimmungen enthält, die nach dem Grundgesetzaus dem Jahre 1949 verfassungswidrig sind. So sind dortunter anderem das Verbot des Streiks und – man höre undstaune – die Todesstrafe festgeschrieben. Es ist also an derZeit, auch andere Artikel zu überprüfen.Auch das Wahlprüfungsgesetz vom 5. August 1948
– nein, die Todesstrafe steht noch in der hessischen Ver-fassung; wenn Sie es nachlesen wollen: Art. 21 – ent-stammt einer Zeit, in der es noch keine gefestigte Rechts-ordnung in den Ländern gab, weil die BundesrepublikDeutschland noch gar nicht existierte und somit dasGrundgesetz noch nicht in Kraft war.Nun ist es eine ureigen hessische Angelegenheit, ihreVerfassung und ihre Gesetze auf die Vereinbarkeit mitdem Grundgesetz und den Gesetzen der BundesrepublikDeutschland zu überprüfen und sie gegebenenfalls zu än-dern. Die CDU/CSU hält es daher mit Rücksicht auf dasföderale System und die Grundsätze guter Bund-Länder-Beziehungen für unnötig und überflüssig, zumindest aber
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Alfred Hartenbach12229
für entbehrlich, eine Stellungnahme zum verfassungs-gerichtlichen Streit abzugeben.Die Regierungskoalition aus SPD und Grünen will et-was anderes – welcher Teufel Sie geritten hat, weiß ichnicht, Herr Hartenbach –,
sodass wir auf die Einzelheiten des Wahlprüfungssys-tems und -verfahrens eingehen müssen. Etwas grob aus-gedrückt, deutet dieses System auf eine abenteuerlicheRechtsprechung hin. Da soll ein Gericht, das laut Hessi-schem Staatsgerichtshof eigentlich kein Gericht ist, einenBeschluss fassen oder ein Urteil fällen, das sofort rechts-kräftig ist und somit mindestens der Rechtsstaatsgarantiedes Grundgesetzes widerspricht und mit dem alle rechts-staatlichen Besetzungs- und Befangenheitsregeln außerKraft gesetzt werden.
Dies ist wie im finsteren Mittelalter, als die Richter vonGottes Gnaden über sich selbst und eigene Angelegenhei-ten urteilten.
Als politisches Schmierentheater wäre das alles ja nochzu ertragen, wenn nicht – das ist das Besondere daran –die höchsten Richter Hessens, der Präsident des Verwal-tungsgerichtshofes, Bernhard Heitsch, und die Präsiden-tin des Oberlandesgerichtes Frankfurt, Brigitte Tilmann –beide aktive Wahlkämpfer, direkt oder indirekt, für dieSPD –, über die Nichtigkeit der von der CDU gewon-nenen Wahl mit entscheiden würden. Damit fügen sie derJustiz und dem Ansehen der Richter schweren Schadenzu.Schon normaler Anstand und Sitte, erst recht dieSelbstbeurteilung als Richter gebieten diesen beiden Prä-sidenten, sich als befangen abzulehnen, wenn sie darüberentscheiden, ob die Wahl wegen gegen die guten Sittenverstoßender Handlungen gewonnen wurde. Gemeint istder Aufruf der CDU „Ja zur Integration – Nein zur dop-pelten Staatsbürgerschaft“, der zu Millionen Unterschrif-ten führte, die angeblich nur deswegen gesammelt werdenkonnten, weil die Aktion mit unzulässigen Geldmitteln fi-nanziert wurde.Beide Richter haben – im Übrigen unter Umständenschon entgegen dem Gebot der richterlichen Zurückhal-tung in öffentlichen und politischen Angelegenheiten – inden Landtagswahlkampf bzw. den gleichzeitig stattfin-denden Bürgermeisterwahlkampf in Darmstadt durch öf-fentliche Anzeigen mit Namen, zum Teil sogar mit Titel,eingegriffen.
Schon im Vorfeld haben sie praktisch ihre Entscheidunggetroffen und wollen diese nunmehr, allen rechtlichen Ge-pflogenheiten zum Trotz, durch eine pseudogericht-liche Entscheidung untermauern. Dies, lieber HerrHartenbach, ist viel eher sittenwidrig als der Wahlkampfder CDU.
Die Richter nutzen nicht einmal die Chance, durchAussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung des Bun-desverfassungsgerichts aus dieser Parteienverstrickungherauszukommen. Im Gegenteil: Unter abenteuerlicherInterpretation einer Entscheidung des Hessischen Staats-gerichtshofes vom 20. Juli 1988 – fast ein Jahr vor der be-wussten Hessenwahl – wird der Berichterstatter ange-spornt, das Verfahren „zügig fortzusetzen“. So besteht dieGefahr, dass ein angeblich nicht existierendes Gericht mitbefangenen „Entscheidungsträgern“ im Schweinsgaloppeine angeblich nicht aufschiebbare Entscheidung trifft,einzig und allein um die Partei zu treffen, die durch ihrenWahlsieg den Ministerpräsident der SPD, Eichel, aus demSattel gehoben hat.Dabei will man natürlich auch die ungeliebte Regie-rung Koch und den Koalitionspartner F.D.P. treffen, wohl-wissend, dass auch eine rechtswidrige und unwirksameEntscheidung Stimmung macht. Sie wird nicht halten.Aber zunächst einmal ist das Parlament ausgehebelt unddie SPD wird ihr politisches Süppchen daraus kochen.Im Übrigen sind auch die drei Abgeordneten des Hes-sischen Landtages Stefan Grüttner, Jörg-Uwe Hahn undManfred Schaub unter Umständen wegen Befangenheitzur Entscheidung nicht befugt – wenn es denn ein Gerichtund kein Ausschuss ist –, weil sie positiv oder negativ vonder Auflösung des Landtages betroffen sind.Nicht nachzuvollziehen ist insoweit auch die Entschei-dung des Hessischen Staatsgerichtshofs, dass die anderen107 Abgeordneten des Hessischen Landtages, über die indiesem Wahlprüfungsverfahren mitentschieden wird,kein Beteiligungsrecht haben. Auch dies widersprichtdem allgemeinen verwaltungsgerichtlichen Beteiligungs-und Beitrittsgedanken und dem allgemeinen Gedankenauf rechtliches Gehör. Aus all diesen rein formalen juris-tischen Gründen ist eine eventuell ergehende Entschei-dung des Wahlprüfungsgerichts nichtig.Aber auch aus materiell-rechtlichen Gründen kanndie bereits angekündigte Entscheidung keinen Bestandhaben. Nur mit bedingungslosen, blinden Parteischeu-klappen von SPD-Parteigenossen kann der Wahlkampfder CDU als „sittenwidrig“ bezeichnet werden. Es ist ge-radezu lachhaft, wenn die milliardenschwere SPD derCDU unlautere Machenschaften vorwirft, weil diese un-ter Umständen im Wahlkampf eigene Gelder aus derSchweiz genutzt und damit für die SPD einen Wettbe-werbsnachteil im Wahlkampf geschaffen habe.
– Herr Hartenbach, hören Sie doch einmal zu.Schlagworte wie „mit Millionen aus der Schweiz dieWahl verfälscht“ brechen doch schlichtweg in sich zu-sammen, wenn die Zahlen auf den Tisch gelegt werden.
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Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten12230
Die CDU hat im Wahlkampf 4 Millionen DM ausgegebenund die ach so wettbewerbsbenachteiligte SPD 6 Milli-onen DM, also 50 Prozent mehr.
– Nicht Jürgen Meyer, Hans Meyer. Das habe ich deutlichgesagt.
– Lieber Kollege Hartenbach, ich habe gesagt: Der juris-tische Kollege Professor Hans Meyer, nicht unser KollegeJürgen Meyer. Sie sollten ein bisschen zuhören, lieberHerr Kollege. Das wäre ganz gut. –
Er muss das auch niederschreiben. Er wird das sicherlichin wohlgesetzten Worten wesentlich ausführlicher tun alsich.Ich appelliere an Sie, meine Damen und Herren Kolle-gen von der SPD und den Grünen, die Beschlussempfeh-lung des Rechtsausschusses abzulehnen.Wir von der CDU/CSU waren und sind der Meinung,dass sich der Deutsche Bundestag aus dieser rein hessi-schen SPD-Justizaffäre heraushalten sollte und dass dasBundesverfassungsgericht von sich aus ohne Stellung-nahme des Bundestages entscheiden sollte. Das Bundes-verfassungsgericht ist dazu berufen, nicht wir.
Es entspricht auch den langjährigen Gepflogenheiten die-ses Hauses, sich nicht in Angelegenheiten der Länder ein-zumischen. Sie, meine Damen und Herren von der SPDund den Grünen, hätten die heutige peinliche kontroverseAuseinandersetzung, die dem Ansehen der Justiz nichtdient, vermeiden können, wenn Sie weise nach dieser De-vise gehandelt hätten.
Wir lehnen die Beschlussempfehlung des Rechtsaus-schusses daher nachdrücklich ab und werden ganz auf dasBundesverfassungsgericht vertrauen.Danke schön.
Ich erteile das Wortdem Kollegen Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/DieGrünen.
legen! Zunächst ist es ja schon einmal erfreulich, dass nunauch vonseiten der CDU klargestellt wurde, dass derRechtsausschuss des Deutschen Bundestages bisher nochnicht entschieden hat, dass die Wahl in Hessen illegal ge-wesen sei und deswegen wiederholt werden müsse. Viel-mehr geht es lediglich darum, dass der Rechtsausschusseine Stellungnahme des Deutschen Bundestages zu derNormenkontrollklage des Landes Hessen gegen die hes-sische Verfassung für richtig hält. Wir wollen nichts an-deres, als dass eine Stellungnahme dazu abgegeben wird.Es geht noch gar nicht darum, was in der Stellungnahmedrinstehen wird. Dass Sie sich so dagegen wehren, mussganz andere Gründe haben.
Auf diese Gründe komme ich jetzt zu sprechen:Erstens ist es keineswegs so, dass über dem hessischenWahlprüfungsgericht nur der liebe Gott steht, sondern da-zwischen sitzen noch die Richter des Bundesverfassungs-gerichts. Darauf können Sie sich verlassen. Jede andereBehauptung wäre unrichtig.
Zweitens wollen wir gerne an den Maßstäben desGrundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, nicht ander hessischen Verfassung, messen lassen, ob es – daraufwurde ja bereits hingewiesen – gegen die guten Sitten ver-stößt, wenn eine im Bundestag vertretene Partei Millionenin die Schweiz verschiebt und dann, um diese Verschie-bungsaktion und vor allen Dingen die Rückführung die-ser Gelder zu verdecken, jüdische Vermächtnisse erfindet.
Ob hier ein Verstoß gegen die guten Sitten vorliegt, sollam Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gemes-sen werden.Weiterhin soll festgestellt werden, ob der Rücktransferdieser in die Schweiz verschobenen Millionen Einflussauf die letzte Wahl zum Hessischen Landtag gehabt hat.Es sind Gelder in die Schweiz geflossen, es sind Gelderzurückgeflossen, davon sind Gelder in den hessischen
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Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten12231
Wahlkampf gegeben worden, und mit den Geldern aus derSchweiz wurde unter anderem die Zentrale der hessischenCDU in Wiesbaden, die dann auch Wahlkampfzentralewar, gekauft.
Wir wollen nun feststellen, ob das gegen die guten Sittenverstößt. Wenn das gegen die guten Sitten in diesemLande verstößt und dieser Verstoß gegen die guten Sittenursächlich das Wahlergebnis beeinflusst hat, stellt sich dieFrage, ob es mit dem Grundgesetz der BundesrepublikDeutschland vereinbar ist, wenn man das Ergebnis einersolchen Wahl für ungültig erklärt und die Wahl wiederho-len lässt. Darum geht es.
Drittens geht es um das, was der Kollege Geis imRechtsausschuss von sich gegeben hat.
– Doch, ich war da. – Er äußerte dort nämlich Bedenken,ob die Mitglieder des Wahlprüfungsgerichts in Hessen indieser Sache urteilen können, da sie einer Partei an-gehören.
In diesem Punkt äußerte er Bedenken. Ich kann dazu nursagen: Wenn Sie diese Kriterien anwenden, müssen Siesehr, sehr vorsichtig sein, weil Sie dann sogar Problememit den Urteilen der Richter des Bundesverfassungsge-richts haben müssten.
Wenn ich mich recht erinnere, waren auch maßgeblicheRichter und Präsidenten dieses Gerichts vor ihrer Tätig-keit im Bundesverfassungsgericht in politischen Parteienaktiv, die sie dann für diese Ämter nominiert haben. Dasheißt, auch der Teil der Normenkontrollklage, der sich da-gegen wendet, dass diese Richter urteilen dürften, obwohlsie nach dem hessischen Gesetz in dieses Wahlprüfungs-gericht bestellt wurden, ist bedenkenswert. Wir wollendoch nur, dass der Deutsche Bundestag, beispielsweisenach Diskussionen im Rechtsausschuss, dazu eine Stel-lungnahme abgibt.Viertens. Warum haben es die Hessische Landesregie-rung, die hessische CDU und die Bundes-CDU über alldie Jahrzehnte eigentlich nicht vermocht, die ganze Kri-tik, die man jetzt, auch in dem Schriftsatz, wortreich übt,vorzutragen? Warum ist man bei bisherigen Entscheidun-gen dieses Wahlprüfungsgerichts immer davon ausgegan-gen, dass sie zutreffend, richtig und zu befolgen sind? Nurweil die Entscheidungen Ihnen gefallen haben? Sie kön-nen doch die Quasirechtsprechung dieses Wahlprüfungs-gerichts –
– Rechtsprechung im eigentlichen Sinne ist es ja nicht –nicht vom Ergebnis abhängig machen, nur weil in diesemFall die Gültigkeit der hessischen Landtagswahl auf demSpiel steht und weil Sie wissen, dass in dem Verfahren desWahlprüfungsgerichts all das gegen die guten Sitten Ver-stoßende, das die hessische CDU angerichtet hat, ans Ta-geslicht kommt und auch überregional immer wieder vonNeuem diskutiert wird.
Wir wollen, dass diese eminenten Verstöße gegen dieguten Sitten in diesem Land auf die Tagesordnung kom-men. Damit soll sich auch der Deutsche Bundestag be-schäftigen und er soll eine Stellungnahme dazu abgeben.
Damit würden dem Bundesverfassungsgericht zusätzli-che Anhaltspunkte gegeben, über diese Verfassungsklagegerecht zu entscheiden.
Wir sind dafür, der Empfehlung des Rechtsausschusses zufolgen und eine Stellungnahme des Bundestages herbei-zuführen. Wir hoffen, dass Sie sich an der Ausarbeitungdieser Stellungnahme beteiligen.
Zu einer Kurzinter-
vention gebe ich dem Kollegen Geis das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Bei der Verfassungs-
klage der hessischen Regierung geht es allein um ein lan-
desrechtliches Problem. Es geht nicht um die Frage, ob
die Wahl sittenwidrig ist oder nicht. Vielmehr geht es al-
lein darum, ob ein solches Wahlprüfungsgericht, das sich
aus drei Landtagsabgeordneten und zwei unabhängigen
Richtern zusammensetzt, in der Lage ist, einen Entscheid
zu treffen, ob das Ergebnis einer Wahl weit mehr als ein
Jahr nach dem Wahltag Gültigkeit besitzt. Wir meinen,
dass wir diese Frage nicht zum Gegenstand einer
Stellungnahme des Bundestages machen sollten, da es
sich um eine landesrechtliche Regelung handelt, über die
allein das Bundesverfassungsgericht urteilen sollte.
Wir sehen hinter dieser Beschlussempfehlung einen
politischen Zweck: Sie wollen natürlich alles auf die
Spitze treiben, was man auf die Spitze treiben kann. Sie
sind aber meiner Meinung nach auf dem Holzweg. Um Ihr
Ziel zu erreichen, ist diese Stellungnahme kein geeignetes
Instrument.
Wollen Sie antworten,Herr Kollege Ströbele? – Nein. Dann erteile ich dem Kol-legen Jörg van Essen, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
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Hans-Christian Ströbele12232
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Der Kollege Hartenbach hat sich in
seinen umfassenden Ausführungen nahezu mit der ge-
samten hessischen Landespolitik befasst, nur nicht mit der
Frage, über die wir heute zu entscheiden haben.
Wir haben heute darüber zu entscheiden, ob der Bundes-
tag in diesem Verfassungsstreitverfahren eine Stellung-
nahme abgeben soll. Nur wenn die Argumente so schwach
wie in der Rede des Kollegen Hartenbach sind, weicht
man so deutlich aus.
Der Sachverhalt lässt sich ganz kurz und ganz klar dar-
stellen: Hessen ist das einzige Bundesland, in dem es ein
Wahlprüfungsgericht gibt. Das ist angerufen worden.
Das zu tun ist das gute Recht derjenigen, die diesen Schritt
getan haben.
Das wird vom Bundestag nicht zu kritisieren sein; denn
darüber hat man woanders zu entscheiden.
Die Institution des Wahlprüfungsgerichtes ist aber zu
hinterfragen. Auch in der Debatte hier ist deutlich gewor-
den: Es ist doch seltsam, dass Politiker, die offensichtlich
nicht unabhängig sein können, plötzlich einen Richtersta-
tus innehaben und auch noch in einer Frage entscheiden
müssen, die sie selbst betrifft.
Es geht nämlich darum, ob der Landtag gegebenenfalls
aufgelöst wird und neu gewählt werden muss.
Das ist eine Frage, die doch der Prüfung unterzogen
werden kann und muss.
Sie kann vor allen Dingen deshalb einer Prüfung unterzo-
gen werden, weil die unabhängigen Richter da sogar die
Minderheit bilden: Sie sind nur zwei, während die ande-
ren, die Politiker, die Mehrheit bilden.
Das ist ein Vorgang, den man nur in Hessen kennt. Des-
halb kann ich überhaupt nicht erkennen, wieso uns das
hier im Bundestag beschäftigen sollte und warum wir uns
in irgendeiner Weise an dem Verfahren beteiligen sollten.
Es ist doch seltsam: Bei einem anderen Verfahren vor dem
Bundesverfassungsgericht, in dem es um einige Regelun-
gen der Länder hinsichtlich der Besoldung von Funkti-
onsträgern in den Fraktionen ging, haben wir gesagt: Wir
beteiligen uns nicht, weil das spezielle Länderregelungen
sind.
Jetzt geht es wieder um Länderregelungen und plötzlich
soll ein Professor mit einem Gutachten beauftragt werden.
Wir als F.D.P. sagen dazu ein klares Nein, weil wir
nicht erkennen können, dass das Bundesverfassungsge-
richt dadurch eine breitere Erkenntnismöglichkeit hat. Ich
denke, wir haben auch immer eine Verpflichtung gegen-
über dem Steuerzahler. Wenn es keine neuen Erkenntnisse
gibt und wir auch gar keine eigenen Rechte haben, die
verletzt sein können, dann haben wir die Verpflichtung,
Steuergelder nicht auszugeben.
Das ist für uns ein entscheidender Gesichtspunkt. Deshalb
sagen wir Nein dazu, dass hier ein Professor mit einem
Gutachten beauftragt werden soll.
Herzlichen Dank.
Jetzt erteile ich das
Wort der Kollegin Dr. Evelyn Kenzler, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Das bekannte Sprichwort„Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte“ stimmtzwar oft, aber nicht immer. Nachdem diese Frage bereitsausführlich im Rechtsausschuss selbst besprochen wurdeund die gegensätzlichen Standpunkte des Für und Widerausgetauscht wurden – einschließlich der dazugehörigenFingerhakeleien unter den Obleuten –, hält sich meineFreude über den heutigen Debattenpunkt sehr in Grenzen.Ich halte die Aufblähung zu einem halbstündigen Debat-tenpunkt schlicht für überflüssig. Die gegensätzlichenMeinungen hierzu sind ausgetauscht. Eine Abstimmungüber die Beschlussempfehlung des Rechtsausschussesohne Aussprache hätte es auch getan.Ich stelle damit nicht die Bedeutung dieser Streitsachefür das Land Hessen, einschließlich seines Wahlprüfungs-gerichts, in Abrede. Auch wenn die CDU-geführte hessi-sche Landesregierung ihr Normenkontrollbedürfnis imHinblick auf Art. 78 der Landesverfassung reichlich spätentdeckt, und zwar justament in dem Augenblick, in demsich die Bestimmung gegen sie selbst richten könnte, hatsie dennoch selbstverständlich das Recht, einen entspre-chenden Antrag beim Bundesverfassungsgericht einzurei-chen. Allerdings ist diese späte Besinnung politisch nichtgerade glaubwürdig. Aber darum geht es wohl in Hessenschon seit längerer Zeit nicht mehr.
Davon unabhängig kann dieser Schritt allerdings sogarzu einer größeren Rechtsklarheit und damit auch zu einerpolitischen Entlastung für das Wahlprüfungsgerichtführen, da die gesamte Debatte aufgrund der Spenden-affäre extrem parteipolitisch überlagert und emotionsge-laden ist. Auch wenn die hessische Finanzaffäre nach wie
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vor sehr schlagzeilenträchtig ist und ihre Akteure offen-sichtlich nichts unversucht lassen, damit dieser Zustandnoch lange anhält, geht es heute allein um die Frage, obder Bundestag zu dieser Streitsache eine Stellungnahmeabgeben soll oder nicht. Dies hätte allerdings auch gut undgerne ohne Debatte entschieden werden können.Nachdem sich meine Fraktion im Rechtsausschusszunächst der Stimme enthalten hat, werden wir jetzt derBeschlussempfehlung nach nochmaliger Prüfung zustim-men. Da der Bundestag durch dieses Normenkontrollver-fahren in mehrfacher Hinsicht tangiert ist und auch einbundespolitisches Interesse zu bejahen ist und da die Ar-beitsergebnisse des Untersuchungsausschusses Einflussauf das Wahlprüfungsverfahren in Hessen haben können,halte ich eine Stellungnahme für sachgerecht, zumal derentscheidende Senat offensichtlich auch Wert darauf legt.Sowohl der Streitanlass – der Einsatz verschleiertenAuslandsvermögens im hessischen Wahlkampf durch dieCDU – als auch die kleinliche und peinliche Weiter-führung der parteipolitischen Auseinandersetzung umeine Stellungnahme des Deutschen Bundestages vor demBundesverfassungsgericht zeugen jedoch nicht von hoherStreitkultur. Die CDU würde an dieser Stelle wohl von„Leitkultur“ sprechen. Aber keine Angst: Wenn nach derEntscheidung des Wahlprüfungsgerichts in Hessen daspolitische Chaos ausbrechen sollte, dann wird das Bun-desverfassungsgericht es wieder einmal richten müssen.
Ich schließe die Aus-sprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-fehlung des Rechtsausschusses zu der Streitsache vor demBundesverfassungsgericht, Drucksache 14/4354. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe!– Enthaltungen? – Gegen die Stimmen von CDU/CSUund F.D.P. ist die Beschlussempfehlung angenommen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neurege-lung der sozialversicherungsrechtlichen Behand-lung von einmalig gezahltem Arbeitsentgelt
– Drucksachen 14/4371, 14/4409 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für GesundheitHaushaltsausschuss gemäß § 96 GONach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich sehekeinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Die Kolleginnen und Kollegen mögen sich bitte ent-scheiden, ob sie herausgehen oder sich hinsetzen wollen;stehen bleiben geht nicht. – Das ist an sich ein interessan-tes Thema. Sie können ruhig hier bleiben.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundes-minister Walter Riester.Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: Frau Präsidentin! Meine Damen und Her-ren! Völlig zutreffend sagte die Präsidentin, dass es umein sehr wichtiges Thema geht, wichtig vor allem für meh-rere Millionen arbeitslose Menschen. Es geht um die Be-handlung der Einmalzahlungen. Es geht darüber hinausum die Verlängerung von arbeitsmarktpolitischen Instru-menten und die Fortsetzung der Konsolidierung des Bun-deshaushaltes.Ich komme zuerst zum Komplex der Einmalzahlungen.Das Bundesverfassungsgericht hat am 22. Juni dieses Jah-res verlangt, die Fehler der alten Regierung in dieserFrage zu korrigieren. Schon 1995 – ich erinnere daran –hat das Bundesverfassungsgericht in einem Richterspruchdargelegt, dass Einmalzahlungen dort einbezogen wer-den müssen, wo Lohnersatzleistungen erfolgen. DieserRichterspruch ist ignoriert worden.
Das Bundesverfassungsgericht erklärt zu dieser „Glanz-tat“ – ich zitiere –:Für die vom Gesetzgeber vorgenommene Einschät-zung der künftigen Entwicklung der Lohnersatzleis-tungen waren schon zum Zeitpunkt der Gesetzge-bungsberatung keine hinreichenden Anhaltspunktegegeben.
Doch nicht die Verursacher, sondern die Betroffenenhatten diese unsoziale Politik auszubaden. Unsere Auf-gabe ist es jetzt, diese Altlasten abzutragen. Ich sage Ih-nen: Das ist finanziell kein Pappenstiel. Die Mehrkosten,die der Bundesanstalt für Arbeit entstehen, betragen indiesem Jahr rund 2,4 Milliarden DM, im nächsten Jahr3,7 Milliarden DM und in den Folgejahren rund 3 Milli-arden DM.
Angesichts dieser Ausgabenlasten ist klar: Eine rück-wirkende volle Erstattung aller Leistungsansprüche istleider nicht möglich. Das wären 18 Milliarden DM alleinbei den Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit gewesen,für die natürlich keine Rücklagen gebildet wurden.
Wenn nun – mir ist das gerade heute in der Arbeits- undSozialministerkonferenz passiert – gerade von der Uniondie Forderung kommt, den Arbeitslosenversicherungs-beitrag abzusenken, dann muss ich Ihnen sagen: Wärendafür Rücklagen gebildet worden – Sie müssen es nur ein-mal hochrechnen –, dann könnten wir heute über eine Ab-senkung von 0,25 Prozentpunkten sprechen. Ich würdedas gerne machen, aber wir können es nicht. Wir müssenAltlasten abtragen.
Wie erfüllen wir nun das Urteil des Bundesverfas-sungsgerichtes? Uns geht es vor allem darum, dass die
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Dr. Evelyn Kenzler12234
Betroffenen – oder jetzt auch Begünstigten – möglichstschnell unbürokratisch zu ihren Leistungen kommen.Deswegen werden wir in diesem Jahr eine Pauschalierungvon 10 Prozent vornehmen, genau wie es das Bundesver-fassungsgericht empfohlen hat. Diese 10 Prozent – dassagte ich Ihnen – sind 2,4 Milliarden DM in diesem Jahr;ab dem nächsten Jahr werden wir die für neue AnsprücheEinmalzahlungen in die genaue Berechnung von Arbeits-losengeld und Krankengeld einbeziehen.Darüber hinaus ist es dringend erforderlich, mindes-tens drei arbeitsmarktpolitische Instrumente zu verlän-gern. In der Situation, in der wir uns befinden, ist esnotwendig, die strukturbedingte Förderung von Arbeit-nehmern im Rahmen von Kurzarbeit über das Jahr 2002hinaus bis zum Ende des Jahres 2006 zu verlängern. Wirsind zweitens der Meinung, dass die Strukturanpassungs-maßnahmen über den gleichen Zeitraum hin verlängertwerden müssen. Wir sind zum Dritten der Auffassung,dass die Sonderregelungen zu den Arbeitsbeschaffungs-maßnahmen in den neuen Bundesländern, nach denen einLohnkostenzuschuss bis zu 100 Prozent gezahlt werdenkann, vor dem Hintergrund der Situation über das Jahr2002 hinaus verlängert werden müssen.Ein weiterer Punkt, meine Damen und Herren, ist dieKonsolidierung des Bundeshaushaltes.Wir sind in dergünstigen Lage, dass aufgrund der Maßnahmen, die wirergriffen haben, aufgrund der ökonomischen Verbesse-rungen, aufgrund des Wachsens der Beschäftigungszahlum rund 1 Million innerhalb von zwei Jahren und auf-grund der Entlastungen der Bundesanstalt für Arbeit eineSituation auftritt, in der wir zwei arbeitsmarktpolitischeMaßnahmen aus dem Haushalt des Bundes in den derBundesanstalt für Arbeit überführen können. Es geht umdie künftige Finanzierung des Sonderprogramms zur Wie-dereingliederung Langzeitarbeitsloser und um die teil-weise vom Bund getragenen Strukturanpassungsmaßnah-men für Arbeitslosenhilfebezieher. Beide Maßnahmenwerden wir integrieren. Wir können das vor dem Hinter-grund der positiven Entwicklung, die nicht zuletzt am Er-gebnis unserer Arbeit zu sehen ist. Darüber können wiruns freuen.Zusammenfassend geht es bei dem Gesetz einerseitsum ein Wegräumen von Altlasten – das wird teuer, aber esmuss gemacht werden – und andererseits um die Ent-wicklung von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, dieuns die Möglichkeit bieten, Arbeitslosigkeit weiterhin zubekämpfen.
Als nächsten Redner
erteile ich dem Kollegen Heinz Schemken, CDU/CSU-
Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister,wenn es so ist, dass die Frage der Verfassungswidrigkeitfür Sie einen so hohen Stellenwert hat, frage ich Sie aus-drücklich, warum Sie das Ganze nicht unmittelbar im De-zember 1998 geregelt haben.
Sie können ja nicht nur das Gute übernehmen; Sie über-nehmen die laufenden Geschäfte einer Politik, die ja nichterst 1998 begonnen hat. Es gibt gute und schlechte Dinge.Ich muss zugeben, dass das Bundesverfassungsgerichtam 24. Mai 2000 entschieden hat. Es geht um die Be-rechnung der kurzfristigen beitragsbezogenen Lohner-satzleistungen; der Minister hat das schon dargestellt. Ichmeine, dass wir diesem Bundesverfassungsgerichtsurteil– so, aber dann auch wirklich wie der Minister die Ver-fassungssicherheit beschworen hat – in der Tat gerechtwerden müssen.Das vorgesehene Gesetz wird diesem Anspruch nichtgerecht.
Die Regelung wird ihm deshalb nicht gerecht, weil in Zu-kunft nicht nur die Belastungen zu bewältigen sind, son-dern weil das bürokratische Verfahren dazu führt, dass dasGanze nicht nur für die Sozialversicherungsträger und fürdie Betriebe, sondern auch für die Beitragszahler ver-kompliziert wird.Deshalb sind wir der Meinung, dass es dem Verfas-sungsanspruch nicht gerecht werden kann, wenn man die-jenigen, die den Einspruch eingelegt haben, nach dem21. Juni 2000 anders bemisst als die Übrigen, die erst zumspäteren Zeitpunkt berücksichtigt werden.Wir sind der Meinung, wenn wir vor dem Hintergrundder 10 Prozent dies regeln wollen, muss das auch einerverfassungsrechtlichen Prüfung standhalten. Die Ände-rung sollte daher eingeführt werden, auch wenn es keineBeanstandungen gab. Darauf werden wir achten. Nachdem jetzt vorgelegten Regelungsentwurf sind gerichtlicheKlagen bereits vorprogrammiert, und ich will dazu alsZeugen den Ihnen nicht ganz fremden Deutschen Ge-werkschaftsbund aufrufen. Er hat Ihnen ja dazu verholfen,dass Sie seit 1998 Mehrheiten haben und dieses Problemnunmehr regeln können. Der Gewerkschaftsbund hat Be-troffenen, die Musterprozesse anstrengen wollen, bereitsseine Hilfe zugesagt. Sie werden sicherlich nicht dagegensein, dass der DGB sein soziales Empfinden äußert unddie Regierung dadurch in Schwierigkeiten bringt.
Wir sind übrigens der Meinung – das gilt sowohl fürdie Krankenkassen als auch für die Arbeitslosenversiche-rung –, dass Sie die Geldbeträge, die Sie im Zuge der Neu-regelung aufwenden müssen, den Arbeitslosenhilfeemp-fängern im Rahmen der Reform der Rentenversicherungbereits genommen haben. Hier kürzen Sie bei der Bemes-sung der Rente und treffen damit mit den Empfängern vonArbeitslosenhilfe die ganz Schwachen, die erst spätermerken werden, dass in ihre späteren Rentenansprücheeingegriffen wurde.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Bundesminister Walter Riester12235
Ich halte es deswegen für richtig, dass wir bei solchenSchuldzuweisungen sehr moderat verfahren. Auch wir ha-ben schon – wir haben 1983 eine SPD-Regierung ab-gelöst, und dazu könnte ich Ihnen manches sagen – ver-fassungswidrige Gesetze geändert, die Sie beschlossenhatten.
Das kommt ja alles wieder; dann sind wir auch in der Ver-legenheit, etwas neu regeln zu müssen. Ich fordere Siealso auf, die notwendigen Änderungen ordentlich durch-zuführen. Darum geht es letztlich.Sie wissen, ich bin sehr moderat und nehme nieman-den persönlich in die Pflicht. Aber diejenigen, die keinenWiderspruch eingelegt haben, weil ihnen verschiedeneSpitzenverbände und Sozialpartner erklärten, Wider-sprüche seien nicht notwendig, weil eine mögliche Ände-rung bei einem entsprechenden Urteil des Bundesverfas-sungsgerichts für alle Betroffenen gelten würde, würdendurch Ihr jetziges Vorhaben in ihrem Vertrauen enttäuscht.
Hierbei sind diejenigen im Wort, die das damals erklärthaben. Die Zusicherung, die Leistung nachträglich zu ge-währen, basiert übrigens auch auf der SGB-Vorschrift des§ 44 und muss deshalb eingelöst werden.Die rückwirkende Geltung für die Betroffenen wirduns in den weiteren Beratungen beschäftigen. Wir sindauch bereit, daran mitzuwirken, weil wir die Auffassungdes Bundesverfassungsgerichts voll und ganz teilen. Wirfordern eine wasserdichte Lösung ein, weil wir das Themazur Zufriedenheit aller lösen wollen. Sonst handeln wiruns nur noch einmal Ärger ein.
Insofern ist eine Regelung auch für diejenigen zu treffen,die damals keine Rechtsmittel ergriffen haben. Nur das istkorrekt und glaubwürdig.Hinsichtlich der Einmalzahlung, der Beitragserhebungund der Beitragsbemessungsgrenze stellen wir fest, dassdas Problem nicht nur für diejenigen besteht, derenJahresentgelt teilweise über der Bemessungsgrenze liegt,sondern auch diejenigen trifft, deren Jahresentgelt unter-halb der Beitragsbemessungsgrenze liegt.Ich sage noch einmal: Wir sind bereit, an einer Ände-rung mitzuwirken. Wir sind dazu aber nur dann bereit,wenn den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts vollund ganz gefolgt wird.Wir werden in den weiteren Beratungen im Ausschussund im Plenum ausreichend Gelegenheit haben, unsereVorstellungen einzubringen. Wir hoffen, dass wir damitdem hohen Anspruch, der soeben von Herrn MinisterRiester postuliert wurde, gerecht werden und auf dieseWeise das Versprechen einlösen können, das die Trägerder Krankenversicherungen und die Regierungsvertreterden betroffenen Versicherten gegeben haben. In diesemSinne wünschen wir uns eine gemeinsame Regelung.Schönen Dank.
Nun hat das Wort die
Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen undKollegen! Herr Schemken, es ist interessant anzuschauen,welche Pirouetten Sie hier vorführen.
Sie haben gerade an die Adresse des Ministers gesagt,dass wir, wenn uns die Verfassungswidrigkeit der bisheri-gen Regelung der Einmalzahlungen von Anfang an be-wusst gewesen wäre, direkt nach der Regierungsüber-nahme im Jahre 1998 hätten handeln müssen. HerrSchemken, ich möchte Ihnen mit Konfuzius sagen: GehenSie nie durch eine Glastüre, wenn sie geschlossen ist. Siemüssen sich fragen lassen, warum Sie nicht schon 1995gehandelt haben, als Sie an der Regierung waren undIhnen das Bundesverfassungsgericht verfassungswidri-ges Handeln bescheinigt hat. Wie viel ist Ihnen, HerrSchemken, verfassungsmäßiges Handeln eigentlich wert?
Wir müssen jetzt eine sozial fragwürdige und unge-rechte Hinterlassenschaft der alten Bundesregierung – dasist uns vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteilverbrieft aufgegeben worden – beseitigen. Es ist selbst-verständlich, dass den Beiträgen der Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer entsprechende Leistungen gegenüber-gestellt werden müssen. Das Urteil des Bundesverfas-sungsgerichts ist nichts anderes als eine zweite, späte Ohr-feige für die alte Bundesregierung.
Einmalzahlungen müssen bei den Arbeitslosengeld-,Krankengeld- und Übergangsgeldberechnungen berück-sichtigt werden. Die jetzige Bundesregierung wirdschneller tätig, als es das Bundesverfassungsgericht vor-geschrieben hat. Bereits ab Juni dieses Jahres gibt esÜbergangsregelungen, die eine pauschalierte Anhebungdes Arbeitslosengeldes, des Krankengeldes und des Über-gangsgeldes vorsehen. Wir haben also direkt nach demUrteil des Bundesverfassungsgerichts dafür gesorgt, dassdie Gelder in die Taschen der betroffenen Versichertenfließen. Schneller kann man nicht reagieren!Ab dem 1. Januar 2001 werden dem Weihnachtsgeldund anderen Einmalzahlungen entsprechende Versiche-rungsleistungen gegenübergestellt. Dies ist sozialer, alsbei den Beiträgen anzusetzen, wie das beispielsweise dieF.D.P.-Fraktion vorschlägt; denn der Ansatz bei denBeiträgen würde einmal mehr zu einer Aushöhlung unse-rer sozialen Sicherungssysteme führen. Nur mit der Si-cherung der Beitragseinnahmen für die sozialen Siche-rungssysteme kann gewährleistet werden, dass dasArbeitslosengeld und das Krankengeld in angemessenerHöhe gezahlt werden können und dass die Beiträge stabilbleiben.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Heinz Schemken12236
– Ich glaube Ihnen, Herr Niebel, dass Ihre Fraktion das fürQuatsch hält. Gerade an dieser Stelle wird deutlich, dassder Weg der Bundesregierung richtig ist, die Beitrags-satzstabilität nicht durch Einschränkung der Leistungenzu sichern, sondern – so wie wir das machen – durch ei-nen vernünftigen Konsolidierungskurs und einen ver-nünftigen wirtschaftspolitischen Kurs die Arbeitsmarkt-politik voranzubringen, die Arbeitslosigkeit zu verringernund dadurch Spielräume für Beitragsentlastungen zuschaffen. Das geschieht übrigens auch durch die Öko-steuer.
– Herr Niebel, Sie werden später reden. Dann werden Sieuns Ihre Vorstellungen erklären.
– Ich habe längst verstanden, dass Sie hier einmal mehreinen unsozialen Vorschlag gemacht haben. Das habenSie schon öfter getan.Es ist nie versprochen worden – auch nicht von denKrankenkassen; das ist falsch dargestellt worden –, Leis-tungen rückwirkend zu gewähren. Die Krankenkassen ha-ben lediglich vorgeschlagen, rückwirkend allen Bezie-hern von Krankengeld eine Nachzahlung zukommen zulassen. Das würde – das entspricht auch dem, was Sie ge-fordert haben – alleine für die Krankenkassen eine zu-sätzliche Belastung von mehr als 15 Milliarden DM be-deuten. Wenn wir das zuließen, würde das bedeuten, dasswir die Kosten, die entstehen würden, wenn wir Ihre Hin-terlassenschaft und die Folgen Ihres unsozialen Handelnsaus den letzten Jahren beseitigen wollten, über Beitrags-erhöhungen auf die heutigen Beitragszahler überwälzenwürden. Das wäre überhaupt nicht im Sinne der Solidar-gemeinschaft. Deswegen wollen wir das auch nicht.
Meine Damen und Herren, ein weiterer Punkt, in demvorliegenden Gesetzentwurf – er enthält ja vieles – ist dieSenkung der Bemessungsgrundlage für die Krankenversi-cherungsbeiträge von Arbeitslosenhilfeempfängern auf58 Prozent. Ich gebe hier freimütig zu – wir treten ja nochin die Gesetzesverhandlungen ein –, dass uns die im letz-ten Jahr erfolgte Absenkung der Bemessungsgrundlagefür Arbeitslosenhilfeempfänger in Bezug auf die Renten-versicherung und die in diesem Jahr erfolgte Absenkungin Bezug auf die Krankenversicherung aus sozialpoliti-scher Sicht wirklich erhebliche Bauchschmerzen machenund weh tun.
Ich muss aber, was die Krankenkassen anbelangt, hin-zufügen, dass keine Leistungseinschränkungen für dieVersicherten eintreten werden.
– Mit Verschwendung hat das überhaupt nichts zu tun, wieHerr Niebel von der F.D.P. immer wieder dazwischenruft,
sondern es hat etwas damit zu tun, dass wir die Gewähr-leistung von sozialen Leistungen sicherstellen müssen.Ein weiterer Punkt in unserem Gesetzespaket ist dieVerlängerung der Geltungsdauer der Strukturanpassungs-maßnahmen, des Kurzarbeitergeldes und der Sonderrege-lungen für die Teilzeitarbeit, beispielsweise bei ABM. Wirwissen alle, dass die Arbeitsmarktsituation gerade in denneuen Bundesländern immer noch nicht unseren Wün-schen entspricht, dass sie schwierig ist.
Das ist ein Grund mehr, warum wir diese Maßnahmenfortführen müssen, genauso wie wir übrigens für dienächsten Jahre die Fortführung des JUMP-Programmsfestgeschrieben haben.
Die vorgeschlagenen Maßnahmen bedeuten für die Zu-kunft eine Verstetigung der Arbeitsmarktpolitik und eineEntlastung des Arbeitsmarktes. Da geht es, Herr Niebel– an die denken Sie natürlich nie –, um die von Langzeit-arbeitslosigkeit Betroffenen,
denen wir weiterhin Brücken in den ersten Arbeitsmarktbauen müssen. Dass Sie das nicht interessiert, haben wirschon hinlänglich erfahren.
Eine aktive Arbeitsmarktpolitik und eine Sicherung dersozialen Leistungen bei gleichzeitiger Stabilisierung derBeitragssätze, das ist der Ansatz unseres Konzeptes,
dem das Konzept der F.D.P. weit entfernt gegenübersteht.Das wird uns auch gleich vorgeführt werden.Wir jedenfalls werden mit diesem Gesetzentwurf dieAltlasten der alten Bundesregierung beseitigen und wei-tere positive Schritte für die Arbeitsmarktpolitik vorbe-reiten.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Kol-
lege Dirk Niebel, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Ach, Frau Dückert, Sie ha-ben wieder einmal bewiesen – wie übrigens auch Ihre Vor-redner –, dass einzig und allein die F.D.P., hier einen an-deren Ansatz hat und nur sie den Menschen in diesemLand zutraut, in der Lage zu sein, mit ihrem Geld zu wirt-schaften.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Dr. Thea Dückert12237
Das Bundesverfassungsgericht hat nicht ohne Grundder Bundesregierung die Wahl gelassen, ob sie bei denBeiträgen oder ob sie bei den Leistungen ansetzen will.Die Bundesregierung weitet die Leistungen aus, statt denMenschen das Geld in ihren Taschen zu lassen.
Das ist das Prinzip „linke Tasche, rechte Tasche“. Mannimmt den Bürgerinnen und Bürgern ihr schwer verdien-tes Geld aus der linken Tasche, katalysiert es durch einenteuren Verwaltungsapparat und gibt es ihnen dann vor-zugsweise zweckgebunden und um die Verwaltungskos-ten vermindert in die rechte Tasche wieder zurück. Das isttypisch deutsch. Der deutsche Michel mit seiner Schlaf-mütze wird von Vater Staat an der Hand durchs Leben ge-führt.Unser Ansatz ist ein anderer.
Die Menschen in diesem Land sind erwachsen und wis-sen am besten, was mit ihrem Geld anzufangen ist.
Sie hatten die Wahl zwischen geringeren Einnahmenauf der einen Seite und Mehrausgaben auf der anderenSeite.
Kein einziger Leistungsempfänger hätte auch nur eineneinzigen Pfennig weniger bekommen, wenn Sie die Ein-malzahlungen beitragsneutral geregelt hätten. Auf der an-deren Seite hätten Sie allerdings bei den Lohnzusatzkos-ten gespart. Sie hätten mehr Spielraum für die Schaffungvon Arbeitsplätzen bekommen. Sie hätten die Möglich-keit geschaffen, durch mehr Beitragszahler – denn manschafft mehr Beschäftigung, wenn die Lohnnebenkostengeringer sind – noch mehr Beiträge einzunehmen und diegesamte Beitragszahlergemeinschaft zu entlasten.
Die Bundesanstalt für Arbeit hätte keine einzige Leistungeinschränken müssen.Ihre Gegenargumente sind geradezu hanebüchen. Dawird jetzt tatsächlich erzählt, dass, wenn man die Berück-sichtigung von Einmalzahlungen auf der Beitragsseite re-geln würde, derzeitige Arbeitsentgelte möglicherweise inEinmalzahlungen umgewandelt werden müssten.
– So etwas Groteskes, liebe Kollegin, habe ich in diesemHause noch nie gehört.Stattdessen weiten Sie die Leistungen immer weiteraus. Das kostet die gesetzlichen Krankenversicherungenallein durch die Nachzahlungen nur an diejenigen, dieKlage oder Widerspruch eingelegt haben, 1,5 Milliar-den DM, wobei die zukünftigen Mehrausgaben noch garnicht berücksichtigt sind. Der Minister hat die Mehrkos-ten der Bundesanstalt für Arbeit berechnen lassen: Sie be-tragen in diesem Jahr 2,4 Milliarden DM und im nächstenJahr 3,7 Milliarden DM. Herr Riester, angesichts dessensagen Sie, diese Belastungen seien der Grund dafür, dassSie die Beiträge nicht senken können! Wenn Sie auf derBeitragsseite einsparen würden, wären das allein bei derBundesanstalt für Arbeit 0,25 Beitragspunkte wenigerund wir hätten schon jetzt mehr Spielraum, neue Be-schäftigung in diesem Land zu schaffen.
Sie wälzen, weil Sie, wie schon gesagt wurde, in die-sen Gesetzentwurf unheimlich viel hineingestopft haben– zum Beispiel die Strukturanpassungsmaßnahmen oderdas Jugendarbeitslosenprogramm JUMP –, Kosten vomSteuerzahler auf die Beitragszahler ab. Sie bereinigenIhren eigenen Haushalt und nennen das auch noch hoch-trabend „sparen“. Ich persönlich nenne das einen Griff indie Tasche der Menschen, die in diesem Land das Wirt-schaftswachstum erarbeiten müssen. Darüber hinaus,Herr Riester – das sei Ihnen nachgesehen, weil Sie keinBundestagsmandat haben –, entziehen Sie diese Leistun-gen dem Zugriff des Parlaments und dessen Kontrolle, in-dem Sie sie in die Selbstverwaltung der Bundesanstaltüberführen.
Die Absenkung der Bemessungsgrundlage für die ge-setzliche Krankenversicherung bei Arbeitslosenhilfeemp-fängern verursacht bei den Krankenversicherungen proJahr 1,2 Milliarden DM Mindereinnahmen – und das an-gesichts der finanziellen Lage, in der sie sich derzeitig be-finden. Sie aber vergießen Krokodilstränen, wenn Sie for-dern, den Krankenkassen mehr Geld zukommen zulassen. Das ist unredlich und unehrlich. Dies betrifftebenso die Fristverlängerung für Strukturanpassungs-maßnahmen und die Regelungen zum Kurzarbeitergeldbis 2006 und die Sonderregelung von Teilzeit-ABM inden neuen Bundesländern bis 2002. Sie stellen wie immer,seit Sie regieren, die Weichen exakt in die falsche Rich-tung. Sie haben sich ein Ei gebastelt, an dem Sie jetzt eineganze Zeit lang flickschustern, anstatt zu beginnen, dau-erhaft an der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu arbei-ten. Arbeitslosigkeit könnten Sie bekämpfen, indem Siedurch mehr Beschäftigung mehr Beitragszahler gewin-nen. Mehr Beschäftigung erreichen Sie, indem Sie denArbeitgebern Geld in der Tasche lassen, um in diesemLand Arbeitsplätze zu schaffen, und indem Sie den Ar-beitnehmern Geld in der Tasche lassen, damit sie Beiträgezahlen und Sie die Beiträge dann senken können. Daswäre der richtige Weg, anstatt Leistungen zu gewähren,die dieses Ziel konterkarieren.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Dirk Niebel12238
Herr Riester, das Verfassungsgericht hat Ihnen dieMöglichkeit gegeben, auszuwählen, was der richtige Wegist. Trauen Sie den Menschen in diesem Land zu, dass siein der Lage sind, die wesentlichen Weichen in ihrem Le-ben selbst besser zu stellen, als es der Staat für sie tunkann! Der Staat war schon immer der schlechtere Unter-nehmer in diesem Land. Er ist, seit Sie regieren, mit Si-cherheit auch der schlechtere Ratgeber. Ich bitte Sie ganzherzlich: Ergreifen Sie die Chance, die Ihnen das Verfas-sungsgericht geboten hat. Lassen Sie den Menschen dasGeld, das sie verdienen, in der Tasche. Das hilft im End-effekt uns allen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Pia Maier.
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Es ist schon faszinierend, was für Wendungen
und Drehungen Sie hier angesichts des Sachverhalts voll-
ziehen, dass zwei Bundesregierungen unterschiedlicher
Farbgebung einfach nicht in der Lage waren, ein
Bundesverfassungsgerichtsurteil umzusetzen.
Lassen Sie mich noch einmal sagen, worum es geht:
Einmalzahlungen, zum Beispiel Urlaubs- und Weih-
nachtsgeld, auf die Sozialversicherungsbeiträge erhoben
werden, müssen bei Lohnersatzleistungen wie Arbeitslo-
sen- oder Krankengeld berücksichtigt werden. Beide
Bundesregierungen der letzten Jahre haben es nicht ge-
schafft, diesen logischen Sachverhalt zu regeln.
Die neue Bundesregierung unternimmt nun wirklich
notwendige Schritte, löst das Problem aber nur zum Teil,
indem sie neu entstehende Ansprüche zwar verfassungs-
gemäß behandelt, bei den Altfällen aber ab dem Tag der
Urteilsveröffentlichung pauschal erhöht; auf die kriti-
schen Details dieser Regelung komme ich noch zu spre-
chen. Sie tut es beim Krankengeld, beim Übergangsgeld,
beim Unterhaltsgeld und beim Arbeitslosengeld. In Bezug
auf diese beitragsfinanzierten Leistungen wurden nun sei-
tens der Bundesregierung Urteile gefällt.
Weiterhin ausdrücklich ausgenommen wird von Ihnen
die Arbeitslosenhilfe. Sie ist natürlich nicht beitragsfinan-
ziert; das Argument der Beitragsgerechtigkeit zählt hier
also nicht. Sie können doch niemandem logisch erklären,
warum eine Leistung, die an der Lohnhöhe bemessen
wird, einen Teil des erhaltenen Lohnes nicht mit ein-
schließt. Als nichts anderes denn als Lohn werden diese
Einmalzahlungen nun einmal empfunden, zumal Sie ja
auch weiterhin auf diese – so wie auf den Lohn – Sozial-
versicherungsbeiträge erheben. Auch das hätten Sie
schließlich ändern können; entsprechende Zahlen sind
genannt worden.
Sie reißen eine neue Gerechtigkeitslücke auf. In der
Begründung Ihres Gesetzentwurfes sagen Sie deutlich,
worum es Ihnen geht. Die Arbeitslosenhilfe soll so gering
wie möglich gehalten werden, damit die Betroffenen
niedrig entlohnte Tätigkeiten annehmen müssen. Sie nen-
nen das Anreiz. Das klingt in den Ohren der Betroffenen
ziemlich zynisch.
Ein Punkt der Neuregelung ärgert mich ganz beson-
ders: Obwohl das schon lange bekannt ist, haben sie keine
Nachzahlungen für den Zeitraum seit dem ersten Bundes-
verfassungsgerichtsurteil vorgesehen. Ich weiß, dass Sie
diese nicht leisten wollen. Aber Sie müssen sich nun vor-
werfen lassen, dass Sie die Menschen um ihre Ansprüche
bringen, die im guten Glauben an die Rechtstaatlichkeit
davon ausgegangen sind, dass der Gesetzgeber umsetzt,
was laut Verfassung geboten ist. Das hätte ich von einer
sozialdemokratischen Regierung erwartet.
Stattdessen belohnen Sie nun aus Kostengründen die,
die dem Sozialstaat nicht mehr vertrauen und immer und
grundsätzlich Widerspruch einlegen. Die Krankenkassen
hatten im Vertrauen auf eine zügige Regelung ihren Mit-
gliedern angeraten, keinen Widerspruch einzulegen. Die
Mitglieder, die sich brav verhalten haben, müssen sich
jetzt doppelt veräppelt vorkommen.
Lassen Sie mich zum Schluss darauf hinweisen, dass
Sie mit diesem Gesetzentwurf die Finanzierung der Struk-
turanpassungsmaßnahmen und des Programms zur Be-
kämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit auf die Bundesan-
stalt für Arbeit verlagern. Damit machen Sie aus steuer-
finanzierten Aufgaben, also Aufgaben der Allgemeinheit,
beitragsfinanzierte, als wären Langzeitarbeitslose und die
Strukturdefizite im Osten nur ein Problem von Arbeitge-
bern, Arbeitnehmern und Arbeitsnehmerinnen. Hiermit,
mit der weiteren Entkopplung von Lohn und Arbeitslo-
senhilfe und mit der Schlechterstellung der Arbeitslosen-
hilfe gegenüber dem Arbeitslosengeld ziehen Sie sich aus
der direkten staatlichen Bekämpfung der Massenarbeits-
losigkeit zurück und drängen die Menschen, die unter die-
sen Missständen zu leiden haben, weiter in die Armut.
Ihnen ist die Konsolidierung des Bundeshaushalts wichti-
ger als die Unterstützung dieser Betroffenen, die weiter-
hin Arbeitsplätze haben möchten.
Wir wollen existenzsichernde Arbeitsplätze für alle,
die arbeiten wollen und können, und wir wollen, dass alle
Betroffenen eine angemessene Erhöhung ihrer Leistun-
gen erhalten,
und zwar unabhängig davon, ob es sich um Arbeitslosen-
geld, Arbeitslosenhilfe oder Krankengeld handelt, ob sie
Widerspruch eingelegt haben oder nicht.
Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner istder Kollege Franz Thönnes, SPD-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Dirk Niebel12239
Meine sehr geehrten Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist dasübliche Spiel, das wir immer wieder in diesem Hause er-leben: Diejenigen, die den Staatshaushalt mit 1,5 Billio-nen DM an die Wand gefahren haben,
die die Arbeitslosigkeit auf über 4 Millionen Betroffenehochgefahren haben, die den Arbeitnehmern das Geld ausder Tasche gezogen und von unten nach oben umverteilthaben, wollen heute mit Reden über die linke und dierechte Tasche den Eindruck erwecken, sie wüssten es bes-ser. Das geht so nicht.
– Herr Niebel, das war nicht einmal Mittelklasse.
Bei dem Gesetzentwurf, den wir heute beraten, geht esim Kern um Verfassungsgerechtigkeit und um Verläss-lichkeit.
Ich kann eigentlich nur an das erinnern, was unser Kol-lege Hans Büttner bei den damaligen Gesetzesberatungenvorausgesagt hat, indem er dem damaligen Arbeitsminis-ter ins Stammbuch geschrieben hat: Dieses Gesetz wird ir-gendwann im Rhein versinken, weil es nicht verfassungs-konform ist. – Genau das ist eingetroffen.
Deswegen ist es notwendig, dass wir das bestehende Ge-setz jetzt ändern. Denn die alte Regierung hat mit ihrengesetzlichen Regelungen gegen die Verfassung verstoßen.Das Schlimme ist: Sie hat gleich zweimal dagegen ver-stoßen. Wissen Sie, wie man das nennt? Das nennt manWiederholungstäter und Sie lernen noch nicht einmal da-raus.
Kollege Schemken, das Verfassungsgericht hat demGesetzgeber auferlegt:Der Gesetzgeber hat durch geeignete Regelungen si-cherzustellen, dass einmalig gezahlte Arbeitsentgeltebei den Lohnersatzleistungen berücksichtigt werden,soweit über deren Gewährung für die Zeit nach dem1. Januar 1997 noch nicht bestandskräftig entschie-den worden ist. Dem Gesetzgeber bleibt es unbe-nommen, statt einer individuellen Neuberechnungder Altfälle aus Gründen der Verwaltungspraktikabi-lität die Bemessungsentgelte pauschal um 10 vomHundert anzuheben. Denn um diesen Prozentsatzerhöhen sich im Durchschnitt die Lohnersatzleistun-gen bei Berücksichtigung einmalig gezahlter Arbeits-entgelte, wenn aufgrund der vorliegenden Informa-tionen über die Lohnstruktur bei ganzjährigen Be-schäftigungsverhältnissen ... davon ausgegangenwird, dass die Mehrzahl der Versicherten ein Weih-nachts- und Urlaubsgeld erhält.Dem kommen wir jetzt nach; daran halten wir uns; daswird nun umgesetzt.
Der Gesetzentwurf stellt ebenfalls klar: Einmalzahlun-gen werden in der Zukunft bei der Berechnung des Ar-beitslosengeldes, des Krankengeldes und anderer Ersatz-leistungen berücksichtigt. Bei Altfällen, also Fällen, indenen Klage oder Widerspruch erhoben wurde, und beiÜbergangsfällen, das heißt in dem Bereich, in dem es biszum In-Kraft-Treten der jeweiligen Neuregelung An-sprüche gibt, wird das Bemessungsentgelt der jeweiligenLeistung in Anlehnung an die eben zitierte, vom Bundes-verfassungsgericht klar formulierte Vorgabe pauschal um10 Prozent erhöht. Das schafft Sicherheit, das schafft Ver-lässlichkeit und das ist verfassungsgerecht.Der Anspruch auf Kurzarbeitergeld besteht derzeit biszum 31. Dezember 2002. Damit wird in diesem Bereichbei Leistungsbezügen, die nach dem 1. Januar 2001 be-ginnen, keine Möglichkeit mehr bestehen, die längstmög-liche Bezugsfrist von 24 Monaten voll auszuschöpfen.Wir wissen alle, wie sinnvoll es ist, Zeiten der Kurzar-beit für die Weiterbildung zu nutzen. Deshalb sollten indiesen Zeiten Qualifizierungsmaßnahmen durchgeführtwerden. Dauert die Kurzarbeit länger als sechs Monate, sosind Maßnahmen zur beruflichen Eingliederung sogarzwingend vorgeschrieben. Wir stellen anhand der Praxisin der Vergangenheit fest, dass es dadurch zu einer Stei-gerung der Qualifizierungsquote gekommen ist.Wir sprechen gerne und oft vom lebensbegleitendenLernen, Herr Kollege Niebel. Eigentlich wäre es jetzt not-wendig, hier zu handeln, der Globalisierung und ihrenFolgen gerecht zu werden und den Anpassungsprozess zubegleiten. Deswegen muss man auch hier fordern: Wei-terbilden statt Entlassen, Qualifizieren statt Reduzieren.Wir schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe, wenn wir dieArbeitslosigkeit mit dem Weiterbildungsbedarf verbindenund die Befristung des Kurzarbeitergeldes von 2002 aufEnde 2006 verlängern. Das bringt Planungssicherheit, dasist Verstetigung der Arbeitsmarktpolitik und das ist Ver-lässlichkeit.
Sie wissen ebenso, dass Arbeitslose und von Arbeitslo-sigkeit bedrohte Arbeitnehmer durch Strukturanpassungs-maßnahmen gefördert werden können. 90 200 Menschenwaren das Ende September dieses Jahres in den neuenLändern. Wir stellen fest, dass es nicht möglich ist, dieHöchstförderungsdauer von 36 bis 48 Monaten auszu-schöpfen, wenn wir jetzt keine Verlängerung anstreben.Deswegen sagen wir auch hier: Im Interesse der Versteti-gung der Arbeitsmarktpolitik und auch hinsichtlich derTräger, der Länder und der Kommunen, die erheblicheKofinanzierungsmittel bereitstellen, wollen wir die Befris-tung bis zum 31. Dezember 2006 verlängern. Dabei ist
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012240
weiterhin sichergestellt, dass Arbeitslosenhilfebezieherbei Strukturanpassungsmaßnahmen angemessen zu be-rücksichtigen sind. Das bringt Planungssicherheit, das istVerstetigung der Arbeitsmarktpolitik und das ist Verläss-lichkeit.
– Ich wiederhole das, weil das bei Ihnen manchmal zumeinen Ohr rein- und zum anderen wieder rausgeht undnichts dazwischen ist, was es aufhalten könnte.
Der dritte Punkt der Verlässlichkeit besteht schlicht-weg darin, dass wir noch immer eine hohe Zahl von Ar-beitsbeschaffungsmaßnahmen haben. Auch diese Rege-lung ist befristet. Wir wollen sie bis zum 31. Dezember2002 verlängern, was zusätzliche Verlässlichkeit bedeu-tet.Um Verlässlichkeit geht es auch bei der dringend not-wendigen Haushaltskonsolidierung. Hier muss die Ar-beitsmarktpolitik ebenfalls ihren Beitrag leisten. Wir ha-ben durch den eingeleiteten Kurs dieser Regierung einehervorragende Entwicklung:
Im Juni 2000 hatten wir 38,5 Millionen Beschäftigte; dasist 1 Million mehr als zum 1. Januar 1999.
Das war die höchste Zahl der Erwerbstätigen seit 1991.Wir hatten im September die niedrigste Arbeitslosen-rate in einem September seit 1993.
Das zeigt schlichtweg: Die gute Haushaltspolitik, dieSteuerpolitik, die Finanzpolitik, die Qualifizierungspoli-tik, die Investitionen in Forschung und Bildung zahlensich aus; die Politik dieser Regierung wirkt!
Deswegen können wir jetzt, wenn wir feststellen, dassdie Ausgaben für das Arbeitslosengeld aufgrund desRückgangs der Arbeitslosigkeit sinken, die Kosten derKonsolidierung des Haushaltes, da wir die Neuverschul-dung begrenzen und die Staatsverschuldung langsamabbauen wollen, verlagern, indem wir sie auf die Bundes-anstalt für Arbeit übertragen. Auch in diesem Zu-sammenhang sei noch einmal daran erinnert, dass es zumersten Mal seit 1997 keinen direkten Bundeszuschussmehr für die Bundesanstalt für Arbeit geben soll.
Das haben Sie in Ihrer Zeit nie fertig gebracht.Das heißt im Klartext: Der Kurs, der hier eingeschla-gen wird, schafft auch hinsichtlich der Finanzpolitik Ver-lässlichkeit und ist zukunftsgerecht.Das Fazit dieser gesetzlichen Neuregelung ist: Erstens.Einmalzahlungen wie Weihnachts- und Urlaubsgeld wer-den in die Berechnung des Arbeitslosen- und Kranken-geldes einbezogen und führen so zu höheren Leistungen.Das ist gut und gerecht gegenüber den Beitragszahlern so-wie gegenüber der Verfassung.Zweitens – –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Thönnes, bevor Sie zum zweiten Punkt kommen: Gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckelburg?
Ich bin jetzt in Anbetracht der
Redezeit schon beim Abspann.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ihre restliche Redezeit
geht Ihnen nicht verloren.
Deswegen würde ich jetztgern weitermachen.
Zweitens. Befristete arbeitsmarktpolitische Instru-mente werden verlängert und berücksichtigen damit ins-besondere die Situation bestimmter Gruppen, die von Ar-beitslosigkeit betroffenen sind, und die Lage in den neuenLändern. Das ist gut und gerecht gegenüber den Arbeits-losen, das ist gut und gerecht gegenüber den Trägern, ge-genüber den Kommunen und insbesondere den neuenLändern.Drittens. Die gute wirtschaftliche Entwicklung lässt eszu,
dass der Bundeshaushalt von der Finanzierung arbeits-marktpolitischer Maßnahmen entlastet werden kann. Ander Verstetigung der aktiven Arbeitsmarktpolitik wirdfestgehalten. Das ist gut und gerecht für die weitere Kon-solidierung der Staatsfinanzen.
Das ist auch gut und gerecht gegenüber den Notwendig-keiten einer beschäftigungswirksamen Wirtschaftspolitik.Das sichert die Chancen für Innovationen in unseremLand und für Investitionen in Bildung und Forschung.Kurzum, um Ihnen das so auch ganz einfach und ver-ständlich zu sagen: Verlässlichkeit und Verfassungsge-rechtigkeit
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Franz Thönnes12241
werden auch hier Stück für Stück wieder Praxis in diesemLand, was bei Ihnen nicht drin war.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der letzte Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Wolfgang Zöller für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Werte Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesverfas-sungsgericht hat im Mai 2000 entschieden, dass es derGleichheitssatz gebietet, einmal gezahltes Arbeitsentgeltzum Beispiel bei der Berechnung des Krankengeldes zuberücksichtigen.
Es ist eine Neuregelung bis zum 30. Juni 2001 erforder-lich.Welche Lösung schlägt Rot-Grün vor?
Einmalig gezahltes Arbeitsentgelt wird in die Berechnungdes Krankengeldes einbezogen. Über diesen Sachverhaltgibt es parteiübergreifend Konsens.Jetzt begehen Sie aber zwei, wie ich meine, entschei-dende Fehler.
Erstens. Die Bemessungsgrundlage für den Beitrag zurKrankenversicherung wird für Bezieher von Arbeitslo-senhilfe von 80 auf 58 Prozent vermindert. Dies führt zuMindereinnahmen in der gesetzlichen Krankenversi-cherung von über 1,2 Milliarden DM im nächsten Jahr.Das heißt, die Einnahmeseite der gesetzlichen Kranken-versicherung wird von Ihnen einmal mehr wesentlich ver-schlechtert.
Welche Auswirkungen das im Übrigen gerade auf die ge-setzliche Krankenversicherung in den neuen Ländernhat –, denn dort ist die Arbeitslosenquote sehr hoch, wirdvon Ihnen völlig ignoriert.
Zweitens – jetzt komme ich zu Ihnen, Herr Thönnes: IhreRegelung soll nur für Personen gelten, die geklagt haben.Damit zeigen Sie keine Verlässlichkeit. Vielmehr begehenSie Vertrauensbruch, wie er schlimmer noch nicht da war.Ich werde Ihnen das beweisen.
Sie mögen formaljuristisch Recht haben. Aber wiewollen Sie den Bürgern gegenüber diesen Gesetzentwurferklären und rechtfertigen?Da verkünden die Spitzenverbände der Krankenversi-cherungen, dass ein Widerspruch gegen Krankengeldbe-scheide zur Wahrung etwaiger Ansprüche nicht notwen-dig ist. Da verkündet der Parlamentarische Staatssekretärim Bundesministerium für Arbeit – ich zitiere eine dpa-Meldung –:Das Bundesarbeitsministerium hat von Rückforde-rungen der Sozialbeiträge auf Einmalzahlungen wiedem Weihnachtsgeld abgeraten und die Kampagneder Bild-Zeitung zur Rückzahlung als Unsinn kriti-siert.
Für den Einzelnen gibt es überhaupt keine Notwen-digkeit, die Antragsformulare auf Rückerstattungauszufüllen und wegzuschicken.
Es gebe keine Notwendigkeit zu klagen, sagte der Parla-mentarische Staatssekretär Gerd Andres, SPD, der Deut-schen Presse-Agentur in Berlin.
Er wies darauf hin, dass sich die Spitzenverbände der So-zialversicherungen zur Rückzahlung bereit erklärt haben,falls dies vom Bundesverfassungsgericht aufgrund dervorliegenden Klagen so entschieden werde.
Da bezeichnet Arbeitsminister Riester Anträge auf Rück-forderung der von Urlaubs- und Weihnachtsgeld einbe-haltenen Sozialversicherungsbeiträge als unnötig. Ent-sprechende Empfehlungen würden die Bürger nurverunsichern.
Heute legen Sie einen Gesetzentwurf vor, der die rück-wirkende Umsetzung des Beschlusses des Bundesverfas-sungsgerichtes nur auf die Personen beschränkt, die ge-klagt haben.
Herr Minister, Sie haben den Bürgerinnen und Bürger be-wusst die Unwahrheit gesagt.
Sie in der Regierung tragen mit dazu bei, dass der Ein-druck entsteht: Die Bürger, die sich auf die Aussagen derRegierung verließen, sind verlassen, und die, die geklagthaben, gelten wieder als die Cleveren in unserem Land.Die Gutgläubigen sind wieder die Dummen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Franz Thönnes12242
Der Gesetzentwurf, den Sie heute vorlegen, verdientdie Bezeichnung „Einmalzahlungs-Neuregelungsgesetz“nicht.
Er müsste „Vertrauensbruchgesetz“ heißen. Diese Be-zeichnung würde dem Inhalt des Gesetzes eher gerecht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache.Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksachen 14/4371 und 14/4409 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist offen-sichtlich nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so be-schlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 sowie den Zusatz-punkt 11 auf:9. Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Teil-zeitarbeit und befristete Arbeitsverträge undzur Änderung und Aufhebung arbeits-rechtlicher Bestimmungen– Drucksache 14/4374 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für TourismusZP 11 Erste Beratung des von den AbgeordnetenDr. Heinrich L. Kolb, Dr. Irmgard Schwaetzer,Rainer Funke, weiteren Abgeordneten und der Frak-tion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Intensivierung der Beschäftigungs-förderung– Drucksache 14/4103 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für TourismusNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Zur Einführung hat derBundesminister für Arbeit und Sozialordnung, WalterRiester, das Wort.Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: Frau Präsidentin! Meine Damen und Her-ren! Mit dem Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Ar-beitsverträge greifen wir zwei Missstände auf: erstens denMangel an Teilzeitarbeitsplätzen und zweitens den Miss-brauch von befristeten Arbeitsverträgen. Das Beschäfti-gungsförderungsgesetz wird abgelöst und eine moderneRechtsgrundlage für Teilzeitarbeit und befristete Arbeits-verträge wird geschaffen. Die Regelungen setzen auf Fle-xibilität und Rechtsklarheit. Genau das brauchen wir.Ich komme zur Teilzeitarbeit. Etwa 3 Millionen Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer wünschen sich Teil-zeitarbeit und wünschen sich, ihre Arbeitszeit zu verrin-gern. Hier liegt ein ungenutztes Beschäftigungspotenzial.Das IAB, das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsfor-schung der Bundesanstalt für Arbeit, schätzt ein, dass esüber Teilzeit langfristig rund 1 Million zusätzlicheBeschäftigungsverhältnisse gibt. Wir haben in unseremLand im Vergleich mit anderen europäischen Ländern lei-der nur eine sehr geringe Anzahl von Teilzeitar-beitsplätzen. Die Teilzeitquote bei uns beträgt gerade ein-mal 18,5 Prozent. Zum Vergleich: Die Niederlande habeneine Teilzeitquote von 38,7 Prozent. Wir haben in diesemBereich also einen erheblichen Nachholbedarf.Wir wollen Teilzeitarbeit natürlich nicht gesetzlichverordnen. Das wäre der falsche Weg. Nach dem Gesetzkann der Arbeitnehmer Teilzeit nicht einseitig beanspru-chen. Wir wollen aber, dass alle Arbeitnehmer, Männerwie Frauen, Hochqualifizierte wie Unqualifizierte, Teil-zeitarbeit einfordern und umsteigen können, wenn sie eswollen. Wir fordern von dem Arbeitgeber, der sich mitdem Teilzeitwunsch seiner Arbeitnehmer beschäftigenmuss, dies ernsthaft zu tun und die Frage zunehmenderTeilzeitarbeit in den Betrieben offensiv anzugehen.
– Ich habe dieses Thema mit dem Wirtschaftsminister dis-kutiert. Er hat gesagt, dies sei eine blanke Selbstverständ-lichkeit. Das Traurige ist, dass diese blanke Selbstver-ständlichkeit in den Betrieben häufig nicht beachtet wird.Wir brauchen deswegen eine Unterstützung der Teilzeit-arbeit.
Diese Unterstützung für Teilzeitarbeit sollen alle Ar-beitnehmer erfahren, die mindestens sechs Monate in ei-nem Betrieb gearbeitet haben. Für Teilzeitbeschäftigtewollen wir die Möglichkeit schaffen, später auf einenVollzeitarbeitsplatz zurückzukehren, wenn es im Betriebein Angebot für einen Vollzeitarbeitsplatz gibt. Wir wol-len nicht „einmal Teilzeit, immer Teilzeit“, sondern wirwollen Flexibilität ermöglichen. Gleichzeitig wollen wirsicherstellen, dass es keine Diskriminierung von Teilzeit-beschäftigten gibt. Deswegen muss garantiert sein, dassTeilzeitbeschäftigte beispielsweise an Aus- und Weiter-bildungsmaßnahmen im Betrieb in gleichem Maße teil-nehmen können wie Vollzeitbeschäftigte.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Wolfgang Zöller12243
Nun gibt es bereits erste Reaktionen. Beispielsweisehabe ich vor kurzem gelesen, dass der Präsident des Haupt-verbandes des Deutschen Einzelhandels, Herr Franzen, er-klärt hat, es stelle einen Systembruch unserer Rechtsord-nung dar, wenn der Arbeitnehmer einen geschlossenenVertrag einseitig ändern dürfte. Dem Herrn Präsidentenmöchte ich zunächst einmal raten, in das Gesetz zuschauen, bevor er zu solchen Aussagen kommt. DerArbeitnehmer kann seinen Arbeitsvertrag nicht einseitigändern. Er muss seinen Wunsch auf Teilzeitarbeit beimArbeitgeber anmelden und mit ihm hierüber eine Verein-barung treffen. Eine einseitige Änderung ist also nichtmöglich.Zudem sehen wir im Gesetz vor, dass der Wunsch aufTeilzeitarbeit nur in Betrieben mit mehr als 15 Arbeit-nehmern geltend gemacht werden kann. Es sind immer-hin über 87 Prozent der Betriebe, die weniger als 15 Be-schäftigte haben. Damit sind schon 25 Prozent dersozialversicherungspflichtig Beschäftigten von dieserRegelung ausgenommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Ja.
Herr Minister, Sie ha-ben eben gesagt: „in Betrieben mit mehr als 15 Arbeit-nehmern“. Im Gesetzentwurf steht: bei „Arbeitgebern“mit mehr als 15Arbeitnehmern. Würden Sie mir darin zu-stimmen, dass dies ein Unterschied ist? Wie wollen Sie esim Gesetzgebungsverfahren denn jetzt handhaben?Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: So, wie es im Gesetzentwurf steht: In Be-trieben mit mehr als 15 Beschäftigten wollen wir diesenTeilzeitanspruch verwirklicht sehen.
– Ich habe Ihnen gerade darauf geantwortet.Mit diesem Gesetz werden wir in den Betrieben auchein Mehr an Transparenz über die Möglichkeiten der Teil-zeit schaffen. Wir wollen, dass freie Arbeitsplätze im Be-trieb, wenn die Möglichkeit besteht, auch als Teilzeit-arbeitsplätze ausgeschrieben werden. Wir wollen, dassArbeitgeber interessierte Arbeitnehmer über Teilzeit- undVollzeitarbeitsplätze informieren, und wir wollen, dasseine Beratung mit dem Betriebsrat über Teilzeitarbeits-plätze erfolgt und der Betriebsrat auch unterrichtet wird.– Dies ist ein Impuls. Ich kann nur dazu einladen, ihn mas-siv zu unterstützen.Nun weiß ich, dass Fakten allein häufig nicht überzeu-gen. Denjenigen in der Union, die noch immer nicht über-zeugt sind, rate ich, sich an den bayerischen Ministerprä-sidenten zu halten, der vor vier Wochen im „Spiegel“erklärt hat, die Möglichkeit des Erziehungsurlaubs, diewir jetzt eröffnen, reiche nicht aus. Er möchte zudem ei-nen „Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit auch in der freienWirtschaft durchsetzen“.
Das halte ich für eine mutige Aussage.Nicht ganz so mutig war es, dass er dies drei Wochenspäter in der „FAZ“ doch sehr relativierte und seine Aus-sage plötzlich nur noch auf Eltern mit Kleinkindern be-zog.
– Nein, nein. Weil Sie es so gerne hören, HerrSinghammer, möchte ich seine Aussage vollständig zitie-ren.
– Ja, ganz langsam, um es genießen zu können. – HerrStoiber hat die Bundesregierung, vor allem die Familien-ministerin, angegriffen:Es muss nicht nur der Erziehungsurlaub von drei aufacht Jahre verteilt werden können, wir wollen zudemeinen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit auch in derfreien Wirtschaft durchsetzen.
So will es der bayerische Ministerpräsident. Nach all dem,was ich so höre, befürchte ich, dass ihm die Wirtschaftganz schön einheizen wird.Nun komme ich zum zweiten Teil, der Flexibilisie-rung von Arbeitsverträgen. Hierzu gab es ja zwei Ex-trempositionen: Einerseits wurde vonseiten der Gewerk-schaften und von einem Teil der Betriebsräte massivgefordert, das Beschäftigungsförderungsgesetz ersatzlosauslaufen zu lassen. Andererseits wurde von einem Teilder Wirtschaft die Position vertreten, das Beschäftigungs-förderungsgesetz solle, ohne es zu verändern, unbefristetin Kraft gesetzt werden. Ich halte beide Positionen fürnicht sachgerecht.Wir brauchen eine Flexibilisierung. Dafür haben wir inder Wirtschaft im Moment im Wesentlichen vier Instru-mente: Überstunden, Leiharbeit über das Arbeitnehmer-überlassungsgesetz, das zunehmende Outsourcing überOrganisationsveränderungen und die befristeten Arbeits-verhältnisse. Ich denke, es wäre falsch, von einer dieserMöglichkeiten abzusehen, weil wir davon ausgehen müs-sen, dass dann – bei einem unveränderten Bedarf an Fle-xibilisierung – nur an den anderen Stellschrauben umsoschneller gedreht wird.Meine Damen und Herren, deswegen sind wir dafür.Wir brauchen befristete Arbeitsverhältnisse. Wir brau-chen sie beispielsweise im positivsten Sinne auch alsBrücke zu Dauerarbeitsverhältnissen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Bundesminister Walter Riester12244
Wir brauchen befristete Arbeitsverhältnisse zur Erleichte-rung der Übernahme von Auszubildenden. Wir brauchennatürlich auch dann befristete Arbeitsverhältnisse, wennAuftragsschwankungen da sind und wir nicht klar abse-hen können, ob wir zu Dauerbeschäftigung kommen.All das ist sicherlich unbestritten. Für all das gab esaber im Kern eigentlich schon immer – wenn sachlicheGründe vorlagen – die Möglichkeit der Befristung.Zum Katalog der Sachgründe.Wir haben ihn ausge-weitet, beispielsweise in dem Punkt, der mir in der Vor-diskussion immer wieder begegnet. Es ist festgelegt, dassbefristete Beschäftigung von Werkstudenten oderAuszubildenden natürlich weiterhin möglich ist, weil dieErleichterung des Übergangs in Beschäftigung ein sachli-cher Grund ist – als solchen haben wir ihn auch aufge-nommen –, sodass es darüber überhaupt keine Diskussio-nen geben muss.Es gibt jetzt darüber hinaus die Möglichkeit, ein Ar-beitsverhältnis mit Befristung auch ohne sachlichenGrund aufzunehmen. Wir behalten damit die Möglichkeitbei, innerhalb eines Zeitraums von zwei Jahren auch ohnesachlichen Grund eine erleichterte Befristung im Umfangvon zwei Jahren einzugehen. Was wir aber unbedingt aus-schalten möchten, ist die eingerissene Praxis, eine Befris-tung ohne sachlichen Grund mit einer Befristung mitsachlichem Grund zu kombinieren und dann wieder eineBefristung ohne sachlichen Grund anzuhängen, also sogenannte Kettenarbeitsverträge, die sich entwickelt ha-ben. Diesen Missbrauch wollen wir ausschalten.
– Nein, nein. Das ist ein eindeutiger Missbrauch. So wares nicht gedacht.Wir haben uns immer dafür eingesetzt, dass eine Be-fristung mit sachlichem Grund möglich ist.
Wir haben darüber hinaus auch Ja dazu gesagt, für eineDauer von zwei Jahren eine Befristung ohne sachlichenGrund zu machen. Wir haben nie Ja zu der Praxis der Ket-tenverträge gesagt, die eingerissen ist. Diese Praxis mussverhindert werden, weil auch Arbeitnehmer nach einembestimmten Zeitpunkt klar wissen müssen, woran siesind. Darauf haben Arbeitnehmer einen Anspruch. DieserMissbrauch muss korrigiert werden. Den werden wir kor-rigieren.
Ich will gern das aufgreifen, was Sie gesagt haben. Esgibt Arbeitnehmer, für die eine Befristung auch dauerhaftunbestritten besser ist als dauerhafte Arbeitslosigkeit.
Das sind diejenigen, Herr Kolb, die bisher ab 60 Jahrendauerhaft befristet beschäftigt werden konnten. Wir sen-ken diese Grenze, weil wir bedauerlicherweise feststellen,dass die Integration von Arbeitslosen in den erstenArbeitsmarkt auch mit 58 Jahren kaum noch möglich ist.
Dem werden wir gerecht. Wir wollen eine sachgerechteEntscheidung.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe Ih-nen gesagt, wir wollen die Möglichkeit der Teilzeit aus-weiten, wir wollen gegen den Missbrauch der Kettenar-beitsverträge vorgehen, wir wollen aber auch Teilzeitfördern und weiterhin die Möglichkeit von befristeten Be-schäftigungsverhältnissen eröffnen.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt die Kollegin Brigitte Baumeister.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! 6Millionen Ar-beitnehmer sind in der Bundesrepublik Deutschland Teil-zeit beschäftigt und mehr als 2 Millionen Arbeitnehmerhaben ein befristetes Arbeitsverhältnis. Sie stimmen mirsicherlich alle zu, dass dies zur Entlastung des Arbeits-markts beiträgt.
Sie stimmen mir sicherlich auch zu, dass es noch einenMangel an Teilzeitarbeit gibt.
Herr Minister, hier stimmen wir Ihnen zu. Dass wir mehrTeilzeitarbeit brauchen, auch im Sinne der Flexibilisie-rung der Arbeitswelt, die uns in Zukunft ins Haus steht,ist, glaube ich, auch unbestritten.Sie haben gesagt, Herr Minister Riester, dies müssteeigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Das, was Siein Ihr Gesetz geschrieben haben, ist ein Rechtsanspruch.Das heißt für mich, das heißt für die CDU/CSU: mehrDruck, mehr Bürokratie und damit mehr Beschäftigungfür die Arbeitgeber.
Die EU-Richtlinien zu Teilzeitarbeit und befristetenArbeitsverträgen machen eine Umsetzung in nationalesRecht nötig. Das gestehen wir Ihnen zu. Zudem läuft dasbisherige Beschäftigungsförderungsgesetz am 31. Dezem-ber aus. Auch vor diesem Hintergrund besteht natürlichHandlungsbedarf. Aber lesen Sie einmal die EU-Richtli-nie und halten Sie sich einmal ihr Ziel vor Augen! Dortsteht, dass die Entwicklung der Teilzeitarbeit auf freiwil-liger Basis zu fördern und zu einer flexiblen Organisationder Arbeitszeit beizutragen sei, die den Bedürfnissen derArbeitgeber und Arbeitnehmer Rechnung trage.
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Bundesminister Walter Riester12245
Darin ist nicht die Rede von Ansprüchen und daraus kannich keinen Rechtsanspruch ableiten. Hier steht die Frei-willigkeit im Vordergrund.
Der jetzt von der Bundesregierung vorgelegte Gesetz-entwurf verfehlt das Ziel, Herr Gilges, in diesem Punktganz deutlich.
Er wird deshalb von uns abgelehnt; denn er behindert dieSicherung und die Schaffung neuer Arbeitsplätze undbringt zusätzliche Reglementierungen für die Unterneh-men.
Ich möchte hier auf ein paar Regelungen in Ihrem Ge-setzentwurf eingehen und Ihnen verdeutlichen, welchePunkte wir beklagen und so nicht akzeptieren können.Es gibt hier einen Rechtsanspruch für Arbeitnehmer,jederzeit von Vollzeit auf Teilzeit zu gehen, wenn nicht– diese Einschränkung gibt es, das ist richtig – betriebli-che Gründe dem entgegenstehen.Es werden die Möglichkeiten eingeschränkt, befristeteArbeitsverhältnisse abzuschließen. Der Arbeitgeber wirddadurch gezwungen, seine Planung und seine Organisa-tion auf den Arbeitnehmer abzustellen. Das ist nach mei-nem Empfinden angesichts der unternehmerischen Wirk-lichkeit nicht praktikabel.Es gibt sehr wohl gute Beispiele, wo Teilzeitarbeitheute schon funktioniert. Es gibt aber auch viele Betriebe,wo dies eben aufgrund der Organisation und der Produk-tion überhaupt nicht möglich ist und sich somit von selbstausschließt. Die CDU/CSU fordert daher die Bundesre-gierung auf, von einem nahezu unbeschränkten Rechtsan-spruch des Arbeitnehmers auf Teilzeitarbeit im Gesetzabzusehen.Ich bin auch der Meinung, dass noch nicht abschl-ießend geklärt ist, ob dieser Anspruch auf Teilzeitarbeitverfassungsrechtlich unbedenklich ist. Es kann nach mei-nem Empfinden nicht sein, dass ein geschlossener Ver-trag, so wie im Gesetzentwurf vorgesehen, von einerVertragsseite geändert werden kann. Sie haben das zwargerade ausgeschlossen, ich würde das aber ganz gerneprüfen lassen. Wenn dies in der Tat so wäre, würde damitunternehmerisches Handeln eingeschränkt. Ich halte esdeshalb für nicht völlig ausgeschlossen, dass es in diesemZusammenhang zu Klagen vor dem Bundesverfassungs-gericht kommen wird.Sie, Herr Riester, haben Äußerungen des Ministerprä-sidenten von Bayern angeführt. Ich kann mir sehr gut vor-stellen, dass wir in den Ausschussberatungen auf die ausBayern kommende Vorlage eingehen, entsprechend dersachliche Gründe, die für eine Teilzeitarbeit vorliegen,auch geltend gemacht werden können.Ich möchte dies ganz besonders an drei Personengrup-pen festmachen. Bei Personen, die Kinder erziehen – überderen Alter möchte ich mich jetzt gar nicht auslassen; da-rüber können wir uns noch trefflich im Ausschuss unter-halten –, könnten wir einen Schritt nach vorne tun, indemwir deutlich machen, dass uns die Familien wertvoll sind.Damit würde der lang gehegte Wunsch, den ich schon seitBeginn meiner politischen Tätigkeit in mir trage, nämlichVereinbarkeit von Beruf und Familie, endlich Wirklich-keit.
Ich möchte aber zu dem oben genannten Personenkreisauch gerne diejenigen zählen, die Schwerstpflegebedürf-tige vor Ort pflegen.
Ich möchte auch diejenigen einschließen, die aufgrundihrer gesundheitlichen Situation vermindert erwerbstätigsind. Auch an diese sollten wir denken.Wenn wir uns diese Personenkreise ganz besondersvornehmen und unser Augenmerk hierauf richten, dannwürde das im Übrigen auch den Beschlüssen von CDUund CSU, die sie auf ihren Parteitagen zur Vereinbarkeitvon Familie und Beruf getroffen haben, Rechnung tragen.Ich möchte auch noch auf einige kritische Punkte IhresGesetzentwurfes in diesem Hohen Hause zu sprechenkommen.Wir lehnen es insbesondere ab, dass ein Rechtsan-spruch auf Teilzeit fürArbeitnehmer in leitenden Posi-tionen verankert wird. Wenn es eine Möglichkeit für Per-sonen in leitender Funktion gibt, Teilzeit zu arbeiten, dannist die Wahrnehmung dieser Möglichkeit eine Selbstver-ständlichkeit. Ich habe meine Zweifel. Während meinerberuflichen und meiner politischen Tätigkeit habe ichDerartiges in keinem einzigen Unternehmen gesehen.
Ein Anspruch auf Verringerung der Arbeitszeit sollauch möglich sein, wenn keine Einigung mit dem Ar-beitgeber erzielt wurde. Ich kann mir gar nicht vorstellen,wie das nach Ihrer Vorstellung funktionieren soll. Entwe-der gibt es eine Einigung mit dem Arbeitgeber – dann hatdas Einvernehmen des Arbeitgebers vorgelegen – oder,wenn keine Einigung erzielt worden ist, es kommt zu ei-ner Klage vor irgendeinem Arbeitsgericht. In diesem Fallkann ich mir allerdings nicht vorstellen, dass a) der For-derung nach Teilzeit entsprochen wird und b) das Arbei-ten in diesem Betrieb noch Spaß macht.Für überzogen halte auch ich den in Ihrem Gesetzent-wurf verankerten Anspruch, Teilzeitbeschäftigten dieRückkehr zur Vollzeitbeschäftigung zuzugestehen.Wenn dies in Gänze realisiert wird, dann steht der Arbeit-geber vor unlösbaren Problemen. Zwar könnte ich mirvorstellen, dass jemand, der vollzeitbeschäftigt und da-nach für einen begrenzten Zeitraum teilzeitbeschäftigtwar, mit seinem Arbeitgeber selbstverständlich darübernachdenken kann und soll, ob es möglich ist, wieder voll-zeitbeschäftigt zu werden; als generellen Anspruch lehneich dies aber ab.Ebenso lehne ich die Verpflichtung der Arbeitgeber aufInformation über freie Voll- und Teilzeitstellen ab. Ichhabe mir einmal Gedanken gemacht, wie das in einem
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Brigitte Baumeister12246
größeren Betrieb funktionieren soll. Damit verbunden istein Übermaß an Bürokratie. So, wie es der Gesetzentwurfvorschreibt, lässt es sich überhaupt nicht realisieren.Selbstverständlich gibt es in vielen Betrieben einen Aus-hang über offene Stellen. Auf diese Stellen kann man sichnatürlich bewerben. Dass die Unternehmen in dieser Hin-sicht verpflichtet werden sollen, das will mir nicht so ganzeinleuchten.Ähnliche Probleme habe ich mit der Verpflichtung desArbeitgebers, Teilzeitarbeitnehmern Aus- und Weiter-bildung zu ermöglichen. Aus- und Weiterbildung findetschon heute häufig statt, wenn dies im Interesse beiderSeiten, also dem der Arbeitgeber und dem der Arbeitneh-mer, liegt. Das geht im Übrigen auch aus einer vorliegen-den EU-Richtlinie hervor. Ich persönlich halte aber dengesetzlichen Anspruch für reichlich überzogen.
Ich möchte noch einige wenige Worte – meine Rede-zeit ist wirklich fortgeschritten – zu den befristeten Ar-beitsverhältnissen sagen, die Sie hier kritisiert haben. Ichwill Sie auf einen Missstand aufmerksam machen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, Sie
müssen sich wirklich ganz kurz fassen.
Ich möchte nur
wenige Sätze sagen. – Herr Minister Riester, ich war
Werkstudentin in einem Unternehmen.
– Das ist richtig. Trotzdem kann ich mich an die Zeit noch
erinnern. Sie war ganz nett. – Wenn jemand nach Beendi-
gung des Studiums entsprechend Ihrem Gesetzentwurf ei-
nen befristeten Arbeitsvertrag eingehen möchte, dann
wäre dies nicht über eine einfache Neueinstellung mög-
lich, sondern es müsste ein sachlicher Grund dafür ange-
geben werden. Ich halte das für eine eklatante Benachtei-
ligung. Deshalb sind wir auch mit diesem Teil Ihres
Gesetzentwurfs nicht einverstanden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt die
Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch imBündnis für Arbeit ist festgestellt worden, dass die Ar-beitszeitbedürfnisse der Beschäftigten in der Bundesrepu-blik im internationalen Vergleich wirklich nicht hinläng-lich berücksichtigt werden. Es gibt eine ganze Reihe vonUmfragen, die belegen, dass es sowohl Vollzeitbeschäf-tigte gibt, die den Wunsch nach Reduzierung ihrer Ar-beitszeit besitzen, als auch Teilzeitbeschäftigte, die in ei-nem flexiblen Rahmen mehr arbeiten möchten.Dieser Gesetzentwurf versucht, die Möglichkeiten derAufstockung bzw. der Reduzierung von Arbeitszeit zu er-weitern; es geht um mehr Beweglichkeit bei der Arbeits-zeitgestaltung. Die EU-Richtlinien schreiben vor, dasswir in diesem Punkt eine Anpassung vornehmen müssen;das gesteht sogar die Opposition zu. Wir machen damit ei-nen weiteren wichtigen Schritt, das eben angesprochenebrachliegende Teilzeitpotenzial – auch das Potenzial, fürdie Beschäftigten mehr Zeitsouveränität zu schaffen –,das in der Bundesrepublik Deutschland vorhanden ist,stärker zu nutzen.
Es geht also um mehr Flexibilität für die Arbeitnehme-rinnen und die Arbeitnehmer, aber auch für die Arbeitge-ber, die durch eine einvernehmliche und flexible Arbeits-zeitgestaltung Effektivitätsgewinne durchaus erzielenkönnen. Es geht auch darum – das hat uns zum Beispieldas europäische Nachbarland Niederlande gezeigt –, ar-beitsmarktpolitisch positive Effekte zu erzielen.Die europäischen Richtlinien sind ja mit den Sozial-partnern verhandelt worden, das heißt auch unter Einbe-ziehung der Arbeitgeber. Vor diesem Hintergrund ver-stehe ich noch sehr viel weniger, wieso die Wellen jetzt sohoch schlagen können, wenn wir den Anspruch auf Teil-zeitarbeit auch gesetzlich festschreiben wollen. Es gilthierbei, dass Freiwilligkeit weiterhin erwünscht und ge-wollt ist und überhaupt nicht behindert wird. Es geht aberauch darum, dass wir einen Anreiz schaffen, zwischen Ar-beitnehmern und Arbeitgebern zu einem vernünftigen In-teressenausgleich zu kommen. Der Arbeitszeitwunsch derArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer muss ernst genom-men werden. Tarifvertragliche, betriebliche oder indivi-duelle Vereinbarungen können vor diesem Hintergrundnatürlich weiterhin getroffen werden, wie zum Beispiel inder Chemieindustrie. Hier wird nichts verhindert, hierwird aber Druck gemacht, die Bedürfnisse nach Zeitsou-veränität ernsthaft zu überprüfen.
Es geht überhaupt nicht um willkürliche Setzungen,beispielsweise von Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mern, die jetzt plötzlich über ihre Arbeitszeiten bestim-men könnten. Es ist doch albern, hier eine solche Diskus-sion zu führen. Natürlich ist es so, Frau Baumeister, dassVerträge immer zweiseitig geschlossen und nicht einsei-tig verändert werden können. Ich finde, dass in dieserganzen Debatte die Kampfrhetorik überwiegt und dass siemit der Realität wenig zu tun hat;
denn die Möglichkeiten der Arbeitgeber sind doch vor-handen. Wenn zum Beispiel betriebliche Gründe geltendgemacht werden, ist eine Ausdehnung der Teilzeitarbeiteinseitig durch den Arbeitnehmer und die Arbeitnehmerinüberhaupt nicht möglich. Außerdem gilt diese Regelungnur für Betriebe mit mehr als 15 Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmern, wir haben das gerade gehört. 80 bis90 Prozent der Betriebe liegen unter dieser Grenze; eingroßer Teil der Betriebe wird davon also gar nicht betrof-fen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Brigitte Baumeister12247
Da gehen Frau Stamm und Herr Stoiber sogar weiter: Siehaben nämlich ohne Größenbeschränkung Teilzeitarbeitfür alle Betriebe gefordert.
Wir haben in diesem Gesetzentwurf aber auch die be-fristeten Arbeitsverhältnisse in dem Sinne neu geregelt,dass wir die EU-Richtlinien einholen müssen. Viele Juris-ten haben deutlich gemacht, dass das Europarecht ver-langt, dass die flexiblen Beschäftigungsverhältnisse in derBundesrepublik Deutschland auf eine eindeutige Rechts-basis gestellt werden.
Es gibt kaum einen Rechtsbereich, der Richter so be-flügelt hat wie der Tatbestand der befristeten Beschäfti-gungsverhältnisse. Deswegen ist das Gesetz so ausgestal-tet, dass die Grundsätze der Rechtsprechung übernommenwerden. Dadurch werden wir mehr Klarheit herstellenkönnen.Das Kernstück ist und bleibt weiterhin die gesetzlicheRegelung über die Zulässigkeit der Befristung. An die-ser Stelle – Frau Baumeister, da verstehe ich Ihren Ein-wand gar nicht – ist auch besonders aufgeführt, dass dieTatsache, dass jemand Werkstudentin bzw. Werkstudentoder ehemalige Auszubildende bzw. ehemaliger Auszu-bildender ist, ein sachlicher Grund ist, sie oder ihn wei-terhin in diesem Betrieb zu beschäftigen. Das ist docheher ein Fortschritt. Ich verstehe also Ihre Auslassungenhier gar nicht.In diesem Zusammenhang ist uns von grüner Seiteauch besonders wichtig, dass die Befristung ohne sach-lichen Grund weiterhin erhalten bleibt. Das ist ein Sach-verhalt, der in der Vergangenheit immer wieder zuAuseinandersetzungen geführt hat. Aber die Prognosenund die Ängste, dass in der Bundesrepublik Deutschlandsozusagen uferlos mit befristeten Arbeitsverhältnissen ge-arbeitet wird, hat sich nicht bewahrheitet. Wir befindenuns im guten europäischen Mittelfeld. Die flexiblen Re-aktionsmöglichkeiten der Unternehmen wollen wir wei-terhin erhalten. Die Zunahme bei den befristetenBeschäftigungsverhältnissen in der Vergangenheit liegteindeutig in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und vor al-len Dingen auch Strukturanpassungsmaßnahmen begrün-det.Einschränkungen erfahren die heutigen Regelungenjedoch, indem Kettenbefristungen zwischen Arbeitsver-trägen mit sachlicher Begründung und Arbeitsverträgenohne sachliche Begründung verhindert werden. Ichdenke, es handelt sich um eine Minderheit von Fällen, beidenen Arbeitnehmer mit solchen Kettenverträgen kon-frontiert werden. Meine Fraktion hätte in diesem Bereichdeswegen keinen großen Handlungsbedarf gesehen. Aufder anderen Seite wird nun sichergestellt, dass ein Miss-brauch, also diese Form von Kettenverträgen, ausge-schlossen wird, indem nur noch bei Neuanstellungen eineBefristung ohne sachlichen Grund ermöglicht wird.Im Ganzen wird die Befristung ohne sachlichen Grundweiterhin ermöglicht; das ist uns wichtig. Das ergibt eineErleichterung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer, die das 58. Lebensjahr vollendet haben. Dies ist eineVerbesserung für ältere Arbeitnehmer, die bei der Ar-beitssuche gerade auf dem engen Arbeitsmarkt in Ost-deutschland helfen soll.Im weiteren Verfahren müssen wir über einige büro-kratische Hürden, die im Gesetz stehen, beispielsweisebezüglich der Schriftform, noch diskutieren. Das braucheich hier nicht weiter auszuführen. Das sind Details, überdie wir uns im weiteren Verfahren noch unterhalten müs-sen.Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Der renommierte KonstanzerArbeitsrechtler Professor Rüthers hat unlängst lakonischfestgestellt: Arbeitsverhältnisse sind in Deutschland bes-ser als die Ehe geschützt. Diesem zutreffenden Urteilkann ich nur hinzufügen: Die einzige Chance, unserer Ar-beitsgesetzgebung zu entkommen, ist, um im Bild zu blei-ben, ein Enthaltsamkeitsgelübde. Im Klartext heißt das:Es wird nicht mehr eingestellt. Ich frage Sie: Ist es wirk-lich das, was Sie wollen?Was Sie von Rot-Grün uns vorgelegt haben, missach-tet die marktwirtschaftliche Grundregel, nach der immernoch die Unternehmen die Arbeitsplätze schaffen. HerrRiester, Sie waren gestern beim Gemeinschaftsausschussder Deutschen Gewerblichen Wirtschaft. Die einhelligeAblehnung, die Ihrem Gesetzentwurf entgegenschlug,muss Sie doch nachdenklich gemacht haben.
– Henkel, Hundt, um nur diese beiden zu nennen.
– Das waren die Hauptredner, Herr Gilges.
Die Beurteilung war deutlich: Der ohnehin festgefahrenedeutsche Arbeitsmarkt wird von Ihnen noch weiter ze-mentiert, sodass er sich nicht einmal mehr einen Millime-ter bewegen kann.Ich will einmal das, was Sie hier vorschlagen, untersu-chen. Dabei will ich vorausschicken: Ich stimme Ihnenzu, dass wir ein Mehr an Teilzeitarbeit brauchen. Auchwir sind dafür, die Quote bei der Teilzeitarbeit zu erhöhen,aber nicht mit den Mitteln, die Sie vorschlagen.Herr Minister Riester, nach Ihrer Vorstellung kann einArbeitnehmer nach sechs Monaten Betriebszugehörigkeitzu seinem Chef gehen und ihm mitteilen, dass er gedenkt,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Dr. Thea Dückert12248
zukünftig Teilzeit, also beispielsweise zehn Stunden we-niger pro Monat, zu arbeiten. Bei dieser Gelegenheit kanner ihm seinen selbst ausgearbeiteten Arbeitszeitplan über-reichen.Darauf werden Sie sagen: Der Arbeitgeber kann gegendieses Ansinnen mit betrieblichen Gründen argumentie-ren. Diese haben Sie zwar umrissen, aber sie sindschwammig genug, um für zahlreiche Auseinanderset-zungen zu sorgen. Ich sage Ihnen: Die Einseitigkeit istnicht das Ende der Fahnenstange. Wenn es Streit gibt,dann landet das Ganze beim Arbeitsgericht. Wie die Pra-xis bei deutschen Arbeitsgerichten aussieht, wissen wir.Ich sage Ihnen voraus: Sie werden damit in diesem Be-reich nicht mehr Beschäftigung schaffen.
Herr Riester, Sie haben mich mit Ihrem Versprechervon vorhin neugierig gemacht. Ich gehe nicht davon aus,dass Sie den Gesetzentwurf nicht gelesen haben. In demGesetzentwurf steht, dass Arbeitgeber mit weniger als15 Arbeitnehmern vom Anspruch auf Verringerung derWochenarbeitszeit ausgenommen sind. Sie haben von„Betrieb“ gesprochen. Ich hoffe doch sehr, dass es beiIhrem Versprecher bleibt. Ansonsten hätten wir eineklammheimliche Abkehr vom bisherigen Betriebsbe-griff, den wir zum Beispiel im Betriebsverfassungsgesetzhaben.Dies hätte die seltsame Wirkung, dass bei einem Ar-beitgeber – nehmen wir als Beispiel eine Parfümerieket-te –, der fünf Betriebe und in jeder Filiale fünf Beschäf-tigte hat, damit insgesamt über dem Schwellenwert liegt,in einer der Filialen eine Mitarbeiterin sagen könnte: Icharbeite jetzt nur noch Teilzeit. – Dabei ist jedoch klar, dasses bei fünf Beschäftigten zu unverhältnismäßig großenAnpassungsschwierigkeiten kommen muss. Das kanndoch nicht in Ihrem Interesse sein. Ich fordere spätestensbei den Beratungen im Ausschuss ein, dass Sie hier klarFarbe bekennen.
Ich will ein zweites Beispiel nennen, das aus meinerSicht, Herr Riester, nicht schlüssig ist.
– Das habe ich mir selbst aufgeschrieben; ich mache mirnämlich, Frau Lotz, zu den Gesetzen, die Sie vorlegen,Gedanken.
Ich habe dabei den Vorteil, dass ich aus eigener unterneh-merischer Erfahrung sprechen kann, und Sachkenntnis istja bei der Beurteilung von Vorlagen manchmal nicht ganzfehl am Platz.Als zweiten Punkt will ich ansprechen: GeringfügigBeschäftigte sind nach Ihrem Gesetzentwurf auch Teil-zeitbeschäftigte. Das heißt im Klartext: Wenn ich einenMitarbeiter für 500 DM im Monat einstelle,
ist dieser teilzeitbeschäftigt und hat nach § 9 Ihrer VorlageAnspruch auf die nächste frei werdende Vollzeitstelle –vorausgesetzt, dass er seinen Wunsch angemeldet hat undseine Qualifikation auf diese Stelle passt. Das kann jawohl nicht ernst gemeint sein. Oder wollen Sie damit die630-Mark-Verträge für die Zukunft endgültig abschaffen?
Also, hier widersprechen Sie sich.Ich möchte noch etwas zu den befristeten Beschäfti-gungsverhältnissen sagen. Sie haben, Herr Riester – daserkenne ich ja an –, immerhin dem gewerkschaftlichenDruck widerstanden, die befristeten Beschäftigungsver-hältnisse gänzlich abzuschaffen. Aber Ihre Rezepturdurch das vorgelegte Gesetz ist falsch; Sie haben immernoch zu viel Engelen-Kefer und zu wenig Neue Mitte. Da-rüber müssen Sie noch einmal nachdenken.Besonders problematisch finde ich die Vorschrift in§ 14 Abs. 2 Satz 2 Ihres Gesetzes, wonach ein Arbeitge-ber einen Arbeitnehmer nur einmal in dessen Berufslebenbefristet einstellen kann und der Arbeitnehmer ansonstenals unbefristet eingestellt gilt.
Ich stelle mir vor, wie dieses zukünftig zu dokumentierenist. Wenn ein Arbeitnehmer, der irgendwann einmal ein-gestellt war, nach 20 Jahren wieder beschäftigt wird, ist erdann urplötzlich befristet eingestellt? Sie schlugen vor,den Mann für ein Jahr befristet zu beschäftigen. Nach Ih-rer Vorschrift dürften Sie ihm dann erstmals nach einemJahr ordentlich kündigen.Diese drei Beispiele – ich hätte gerne mehr gebracht,aber meine Redezeit ist so kurz – zeigen, dass der Ge-setzentwurf so, wie er hier auf dem Tisch liegt, absolut un-ausgegoren ist. Deswegen kann man dem Hohen Haus dieZustimmung zu dieser Vorlage wirklich nicht empfehlen.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt Kollege Dr. Klaus Grehn.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Herr Kollege Riester und die Re-gierungskoalition, in der Philosophie, dass die Verteilungvon Arbeit – als eine von mehreren Möglichkeiten –Arbeitsplätze schaffen kann und soll, können wir Ihnenfolgen. Das ist eine Position, die wir seit langer Zeit ver-treten. Die Verteilung von Arbeit kann Arbeitsplätzeschaffen und zur Senkung der Arbeitslosigkeit beitragen.Ob das aber gelingt, hängt vom Detail, vom Wie einerRegelung ab.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Dr. Heinrich L. Kolb12249
Das Ergebnis des Beschäftigungsförderungsgesetzes,ein Gesetzgebungsverfahren, das unsere Oppositionskol-legen eingeleitet haben, hat die IG Metall als vernichtendeingeschätzt. Die Erwartungshaltung, dass durch das Ge-setz Arbeitsplätze geschaffen werden, war groß. Und wasist daraus geworden?Der Beweis– ich zitiere aus der Vorstandsvorlage der IG Metall –tatsächlicher zusätzlicher Einstellungen kann nichterbracht werden. Es ist kein gesamtgesellschaftli-cher Beschäftigungseffekt nachzuweisen. Das Be-schäftigungsförderungsgesetz hat kontraproduktiveBeschäftigungseffekte hervorgebracht.Das hängt damit zusammen, dass das Ziel unter anderemUmverteilung war, dies aber nicht erreicht worden ist.Der Optimismus, der hier teilweise herrscht, dass dasneue Gesetz ins Schwarze trifft, scheint mir nicht ge-rechtfertigt. Das Gesetz trägt der Wechselwirkung von Ar-beitszeit und Lohn nicht Rechnung – es sei denn, Sie ha-ben im Auge, dass Lohnausgleich gezahlt wird; aber dasist wohl nicht der Fall. Denn Teilzeitarbeitmuss man sichleisten können. Es gibt Menschen, die sich aufgrund ihrerLohngruppe Teilzeitarbeit nicht leisten können, auchwenn sie gerne Teilzeit arbeiten würden. Eine Verkäufe-rin mit Kindern, die 1 200 DM monatlich verdient, kannnicht Teilzeit arbeiten.
Das wissen Sie genauso gut wie ich.Hier sind wir bei den Irrtümern der Statistik: Sie habenvon den drei Millionen Arbeitnehmern, die das IAB ge-nannt hat, gesprochen; auch ich habe darüber gelesen. Ichhalte Ihnen entgegen: Nach der Statistik besteht inDeutschland pro Familie der Wunsch nach durchschnitt-lich drei Kindern, geboren werden aber durchschnittlichnur 1,2 Kinder.
Die Frage ist, welche Bedingungen vorhanden sein müs-sen, damit die Einzelnen ihren Kinderwunsch realisieren.Diejenigen, die sich Kinder wünschen, aber zu wenigGeld haben, um davon zu leben, werden ihren Kinder-wunsch nicht realisieren. Deshalb kann man diese Statis-tik nicht als Beispiel anführen. Während man sich in dengehobenen Positionen unserer Gesellschaft Teilzeitarbeitleisten kann, ist dies in anderen Bereichen tatsächlichnicht möglich. Deshalb konzentriert sich das Problem derTeilzeitarbeit auf die schlecht bezahlten Arbeitsplätze unddas betrifft in Deutschland überwiegend die Frauen. Des-halb habe ich Zweifel daran, ob der Gesetzentwurf wirk-lich in die richtige Richtung geht.
Diese Tatsachen hebeln die Zielrichtung des Gesetzent-wurfs aus.Sie führen an, dass nur sachliche Gründe zu einer Ab-lehnung des Wunsches nach Teilzeitarbeit führen können.Aber was sind sachliche Gründe? Sie haben versucht,diese sachlichen Gründe näher zu benennen. Wenn aberkeine weitere Präzisierung erfolgt, kann man letztlich al-les unter diesen Begriff fassen, und das hebelt Ihre Ziel-stellung aus.
Es gibt Gründe, den Wunsch nach Teilzeitarbeit abzu-lehnen, aber der Ermessensspielraum ist in diesem Fallsehr weit. Das Gesetz legt fest, dass in bran-chenspezifischen Tarifverträgen andere Bedingungenfestgelegt werden können. Dabei frage ich mich: Wennbranchenspezifische Tarifverträge die genannten sachli-chen Gründe aushebeln können, was Sie gesetzlich fest-schreiben wollen, warum machen Sie dann eigentlich dasGesetz? Wird auf diese Weise nicht den Gewerkschaftendie Verantwortung zugeschoben, die die Tarifverträge mitaushandeln müssen?Es gibt eine Reihe von Sachargumenten. Doch bei allerAnerkennung des Bemühens, eine Lösung herbeizu-führen und der genannten Philosophie Rechnung zu tra-gen, werden die Anhörung und die weitere Diskussionzeigen, dass Nachbesserungen durchaus notwendig sind,um die Zielstellung zu erreichen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Olaf Scholz für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren hierüber ein wichtiges Gesetzesvorhaben, das sich mit einemzentralen Thema beschäftigt: Wie können wir mit der Ar-beitsmarktpolitik Flexibilität und soziale Sicherheitmit-einander in Einklang bringen?
Ich glaube, es besteht kein großer Erklärungsbedarfhinsichtlich der Notwendigkeit, dass wir für die Weiter-entwicklung des Arbeitsmarktes mehr Flexibilität benöti-gen. Aber es bestehen – das ist sehr deutlich geworden –unterschiedliche Auffassungen darüber, wie Flexibilitätaussehen soll. Wenn ich mir das Maß der Flexibilität beiF.D.P. und CDU/CSU, so wie es hier zum Ausdruck ge-kommen ist, ansehe, muss ich feststellen, dass dies mehrdem Bild des 19. Jahrhunderts entspricht als den Erfor-dernissen der Gegenwart.
Man trifft eine politische Aussage, wenn man sagt, be-stimmte Dinge sollten nur auf freiwilliger Basis gewährtwerden. Warum dehnen Sie diese Diskussion nicht auf dasBundesurlaubsgesetz und ähnliche Regelungen aus, beidenen Sie auch sagen könnten, es sei doch selbstver-
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Dr. Klaus Grehn12250
ständlich, dass ein Arbeitnehmer Urlaub hat; wenn er da-nach fragt, erhält er ihn meistens auch. Wir haben ausguten Gründen dafür gesorgt – auch mit Ihnen zusammen–, dass es dafür gesetzliche Regelungen gibt. Wir habenden Eindruck gewonnen, Sie halten die Teilzeitentwick-lung für ganz sinnvoll, wollen aber keine Rechtsan-sprüche in diesem Zusammenhang gewähren. Wir habeneine andere Vorstellung:
Wir haben das Bild einer modernen Bürgergesellschaftvor Augen und diese ist nicht autoritären Beziehungen or-ganisiert. Sie ist so organisiert, dass es Rechtsansprüchewechselseitiger Art gibt, und diese müssen geregelt wer-den. Das ist der große gesetzgeberische Fortschritt, derhier zum Ausdruck kommt.
Wir werden damit auch den Anforderungen gerecht,die die Europäische Union an uns gestellt hat. Die Euro-päische Union hat viele Beschlüsse zur Entwicklung dersozialen Sicherheit gefasst. Aber in all den Beschlüssen– egal, ob sie in Dublin, in Essen oder auf dem großenGipfel in Lissabon gefasst worden sind – ist immer aufden Doppelaspekt hingewiesen worden, nämlich dassFlexibilität mit Sicherheit verbunden werden muss, dassdie Interessen der Unternehmer und der Arbeitnehmer inEinklang gebracht werden müssen und dass man sichgewissermaßen sicher bewegen können muss. Dies alleswird durch das jetzige Gesetz möglich gemacht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Scholz,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Meckelburg?
Ich gestatte die Zwischenfrage.
Ich muss diese
Zwischenfrage einfach stellen, um bei dem jetzigen
Schaulaufen ein gewisses Maß an Fairness herzustellen.
Es ist interessant, wer Zwischenfragen zulässt und wer
nicht.
– Das ist ein internes Problem der Fraktion.
Herr Scholz, finden Sie nicht, dass Sie einen zu großen
Popanz um den von Ihnen so großartig und glorreich ver-
kündeten Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit machen – Sie
haben gesagt, dass Sie Bürgerrechte durchsetzen wollen;
ich habe ja Verständnis dafür, dass eine entsprechende
Regelung für Kleinbetriebe beschlossen werden soll –,
wenn Sie bedenken, dass nur 13 Prozent der Beschäftig-
ten – der Minister hat vorhin darauf hingewiesen, dass
87 Prozent der Beschäftigten nicht in den Genuss der
neuen Regelung kommen werden – einen solchen Rechts-
anspruch haben werden?
– Ob das nun 13 Prozent der Betriebe oder der Beschäf-
tigten sind, können wir noch im Ausschuss klären.
Was wollen Sie den 87 Prozent sagen, die die neue
Regelung gar nicht nutzen können, nachdem Sie so groß-
artig von einem Bürgeranspruch geredet haben?
Zunächst einmal: Es geht, wie wirwissen, nach den Statistiken, die zugrunde gelegt wordensind, um 87 Prozent der Betriebe und nicht um 87 Prozentder Beschäftigten; denn die Betriebe können eine unter-schiedliche Struktur aufweisen.Wir sind keine Menschen, die mit Gesetzen über dieWelt herfallen. Wir glauben vielmehr, dass es notwendigist, vernünftig abzuwägen. Wir sind der Meinung: Ers-tens. Größere Unternehmen haben größere Spielräume,um die entsprechenden Anpassungsentscheidungen zutreffen, die sich im Zusammenhang mit der Durchsetzungvon Teilzeitinteressen ergeben.Zweitens. Die größeren Unternehmen sind nach unse-rer Meinung der geeignete Ort, um herauszufinden, obsich die neue Teilzeitregelung auch auf kleinere Betriebeausdehnen lässt. Im Übrigen glaube ich, dass es so etwaswie eine meinungsbildende Wirkung gibt: Wenn die neueTeilzeitregelung, die rechtlich verankert ist, in den größe-ren Unternehmen gut funktioniert, dann werden auch diekleineren Unternehmen den Rechtsanspruch auf Teilzeit-arbeit als selbstverständlich empfinden und ihn durchset-zen.
Wir stehen unter Handlungsdruck, weil zwei Richtli-nien der Europäischen Union umgesetzt werden müssen.Die Umsetzung der einen Richtlinie, nämlich die zur Teil-zeitarbeit, ist schon seit Anfang dieses Jahres überfällig.Die Richtlinie über die Befristung von Beschäftigungs-verhältnissen muss im nächsten Jahr umgesetzt werden.Insofern ist es gut und sinnvoll, dass wir uns im Rahmender von mir skizzierten Beschlüsse bewegen wollen.Die Regelung des Rechtsanspruches auf Teilzeitar-beit, die hier mehrfach diskutiert und nun beschlossenworden ist, ist auch deshalb wichtig, weil sich die Euro-päische Union ein großes Ziel gesetzt hat, nämlich die Be-schäftigungsquote zu erhöhen. Wir haben eine zu niedrigeBeschäftigungsquote in Europa. Bedauerlicherweise istdie Bundesrepublik Deutschland – das muss ich Ihnen an-gesichts Ihrer langen Regierungszeit sagen – im Hinblickauf die Beschäftigungsquote das Schlusslicht. Es ist eineunserer wichtigsten Aufgaben, dafür zu sorgen, dass mehrMenschen Beschäftigung finden und dass mehr Men-schen arbeiten. Aber das funktioniert nur, wenn wir für ei-nen geeigneten Rahmen sorgen und Regelungen schaffen,durch die Familienleben und Arbeitsleben vereinbar wer-den und die den Anforderungen, die an die Menschen ge-richtet werden, gerecht werden. Damit würden wir einenwichtigen Beitrag zur Verbesserung der Beschäftigungs-quote leisten. Das sollten wir unbedingt zustande bringen.
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Olaf Scholz12251
Wir stellen einen Handlungsrahmen zur Verfügung, deres den einzelnen Betrieben ermöglicht, Teilzeitarbeit– wenn man sie denn haben möchte – zum Normalfall zumachen. Wenn man sich große alte Gesetze wie das Bür-gerliche Gesetzbuch anschaut, dann wird man feststellen,dass auch dort viele Dinge für den Fall geregelt werden,dass sich etwas ändert. Wir haben nun den Anspruch aufTeilzeitarbeit neu geregelt. Wir verstehen diese Regelungals Service des Gesetzgebers. Wenn wir meinen – das be-kunden zumindest alle gemeinsam immer wieder –, dassTeilzeitarbeit eine größere und wichtige Rolle in der Zu-kunft spielen soll, dann müssen wir versuchen, zu beden-ken, welche Interessen der Einzelne verfolgt, wenn er sei-nen Anspruch auf Teilzeitarbeit geltend macht, wenn erdas wieder rückgängig machen möchte, wenn er qualifi-ziert werden möchte und wie er entlohnt werden möchte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Scholz,
es gibt eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Grehn. Las-
sen Sie diese auch zu?
Ja, bitte.
Ich mache es auch ganz kurz.
Sie haben von der Besetzung der Teilzeitarbeitsplätze
gesprochen. Wie kommt man, da der Arbeitgeber nach
dem Gesetzentwurf freie Arbeitsplätze grundsätzlich als
Teilzeitarbeitsplätze ausschreiben soll, eigentlich wieder
in Vollzeitarbeitsplätze?
– Ja, der Arbeitgeber hat freie Arbeitsplätze grundsätzlich
als Teilzeitarbeitsplätze auszuschreiben.
Im Gesetzentwurf steht, dass erdas auch so zu tun hat, weil er nämlich angeregt werdensoll, darüber nachzudenken, ob dieser Arbeitsplatz nichtnur von Vollzeitarbeitskräften, sondern auch von Teilzeit-arbeitskräften wahrgenommen werden kann, und weilihm Folgendes passieren soll: Er möchte die Stelle ei-gentlich als Vollzeitstelle besetzen, schreibt sie aber soaus, wie das im Gesetz beschrieben ist, und stellt fest: Eshaben sich zwei tolle teilzeitinteressierte Arbeitnehmerin-nen beworben. Da nimmt er doch diese beiden, statt dieStelle mit einer Arbeitnehmerin zu besetzen. Das will derGesetzgeber hier anregen.
– Nein, das wird jetzt verbessert. Das ist etwas, was wirgewissermaßen als Unterstützung für die Menschen zurVerfügung stellen.Der zweite Teil, mit dem wir etwas zur Flexibilität tunund gleichzeitig Sicherheit gewährleisten, ist die Neure-gelung der Befristung. Zum Ersten geben wir die langebekannte Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zurSachgrundbefristung im Gesetz wieder. Das ist wichtig,weil es nicht sein kann, dass man lange Urteile lesenmuss, um sich mit einem wichtigen Lebenssachverhaltauszukennen. Es ist wichtig, dass jetzt endlich eine Kodi-fizierung stattfindet, in der man das, was in langer Recht-sprechung erarbeitet worden ist, wiederfinden kann.Zum Zweiten werden die Erfahrungen mit dem bishe-rigen Gesetz über die sachgrundlose Befristung, also demBeschäftigungsförderungsgesetz, ausgewertet. In diesemZusammenhang gibt es eine Erfahrung, die wir von unse-rer Seite aus freimütig zugestehen wollen: Die vielenHoffnungen, die sich manche von Ihnen gemacht haben,dass das zu einer großen Aufweichung des Arbeitsrechts-systems in unserem Land führen würde, sind nicht einge-treten. Auch die vielen Befürchtungen, die bei Gewerk-schaften und bei vielen von uns existiert haben, sind nichteingetreten. Es hat gar keine massive Ausweitung befris-teter Beschäftigung in unserem Lande gegeben. Deshalbist es wichtig, dass man dieses Instrument gewissermaßenaufrechterhält, es aber von den Missbrauchsmöglichkei-ten befreit, die bisher bestanden haben.
Die wichtigste Missbrauchsmöglichkeit, die es gegebenhat, ist die, dass Menschen über lange Zeit immer wieder inneuen befristeten Beschäftigungsverhältnissen angestelltworden sind: ein paar Monate mit einer Sachgrundbefris-tung, dann zwei Jahre mit Beschäftigungsförderungsge-setz, wieder ein paar Monate mit einer Sachgrundbefris-tung, dann wieder nach Beschäftigungsförderungsgesetz.Diese Regelung ist jetzt endgültig unterbunden worden,
aber, Herr Kollege, in einer völlig einwandfreien Weiseund nicht so, wie Sie es sich vorgestellt haben. Es stehtnicht im Gesetz, dass man, wenn man einmal aufgrund ei-ner sachgrundlosen Befristung beschäftigt war, nie wiederin diesem Unternehmen angestellt werden kann
oder nie wieder befristet beschäftigt werden kann. DasEinzige, was unterbunden wird, ist, erneut auf die sach-grundlose Befristung zurückzugreifen. Es ist aber sehrwohl möglich, dass man als Schwangerschaftsvertretungeingestellt wird oder was ansonsten seit Jahrzehnten inder Rechtsprechung als Befristungsgrund akzeptiert wird.Ich glaube, dass dieses Gesetz auch im Bereich der Be-fristung das Doppelziel erreicht, das ich beschriebenhabe, nämlich dass man einerseits die notwendigen Flexi-bilisierungsmöglichkeiten schafft, das Ganze aber ande-rerseits in einen solchen Rahmen stellt, dass die Men-schen, die darauf angewiesen sind, dass Gesetze ihnenSicherheit verschaffen, diese auch bekommen. Ichglaube, das ist besser geworden, als es bisher der Fall war.
Ich will ein weiteres Argument nennen, auch gegen-über denjenigen, die von gewerkschaftlicher Seite denjetzt gewählten Schritt vielleicht als etwas zu weit gehend
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Olaf Scholz12252
empfinden, weshalb ich glaube, dass es notwendig ist,dass wir die sachgrundlose Befristung auch weiterhin auf-rechterhalten. Es hat sich gezeigt, dass viele der sach-grundlosen Befristungen, die in der Vergangenheit ge-wählt worden sind, nur deshalb zustande gekommen sind,weil sie das einfachere Verfahren sind. Lediglich 13 Pro-zent der Befristungen sind ausschließlich auf der rechtli-chen Grundlage des Beschäftigungsförderungsgesetzeserfolgt, die anderen wären auch immer schon mit Sachbe-fristung möglich gewesen. Insofern ist wahrscheinlich vorallem eine Entbürokratisierung für die Arbeitgeberent-scheidung eingetreten – etwas, was wir für sehr sinnvollhalten und was wir durch das Gesetzesvorhaben, das wirvorgelegt haben, natürlich gern unterstützen.Vor allem aber tritt eines ein – und das ist uns ein ganzwichtiges Anliegen –: In der Tat gibt es Beschäftigte, beidenen es wichtig ist, dass die Arbeitgeber über eine ge-wisse Zeit hinweg die Sicherheit gewinnen, dass sie sichauch längerfristig mit ihnen zusammentun wollen. Das istein Problem des Arbeitsmarktes, das wir auch an andererStelle immer wieder besprechen. Das wird unter „Em-ployability“ diskutiert. Ich glaube, es ist sinnvoll, einengesetzlichen Rahmen zu haben, mit dem diese Menschenin Beschäftigung integriert werden; denn das sollte füruns alle die wichtigste Aufgabe sein.Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der letzte Redner die-
ser Debatte ist der Kollege Johannes Singhammer für die
Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsi-dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diesesvon Rot-Grün vorgelegte Teilzeitgesetz schafft Vollbe-schäftigung für Rechtsanwälte und Gerichte.
Herr Riester, dieses Teilzeitgesetz ist eine volle PackungDynamit für den Betriebsfrieden. Nicht nur zum Teil,sondern voll und ganz werden die Planungssicherheit unddie Dispositionsmöglichkeit von Unternehmen beein-trächtigt. Der Mittelstand wird belastet
und viele fühlen sich ans Gängelband genommen.
Das, was Sie hier als schöne Verpackung anbieten, hateinen schlechten Inhalt, und die angeblich uneinge-schränkte Wohltat für Arbeitnehmer wird sich als vollerNachteil für den Standort Deutschland und damit auch fürdie Arbeitsplätze in Deutschland erweisen.
Das ist ein schlampiges Gesetz mit schädlichen Wirkun-gen.
Ich nenne Ihnen die Schwachstellen im Einzelnen.Erstens. Entgegen allen hier vorgebrachten Beteuerun-gen gibt es keinerlei europarechtliche Verpflichtung, die-ses konkrete Gesetz mit einem solchen Anspruch vorzu-legen, wie Sie es formuliert haben.
Es existiert keinerleit derartige europäische Vorschrift.
– Ich stelle jetzt nur einmal Behauptungen von Ihnen rich-tig.Zweitens. Sie wollen mit Ihrem Gesetzentwurf bewir-ken, dass jeder Arbeitnehmer künftig selbst entscheidenkann, wie viele Stunden er pro Woche arbeitet und ob erMontag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag oder Freitagzur Arbeit kommen will. Das bedeutet – das sage ich Ih-nen hier – Zündstoff im partnerschaftlichen Umgang derKollegen im Betrieb.Fragen Sie doch einmal eine Verkäuferin, was sie da-von hielte, wenn ihre Kollegin ihre Arbeitszeit um meh-rere Stunden reduzieren würde und sie deshalb künftig amFreitagnachmittag allein im Geschäft bedienen müsste.Fragen Sie doch einen Automechaniker, der im Teamarbeitet, auf den Punkt genau Aufträge zu erfüllen hat unddabei unter Zeitdruck steht, was passierte, wenn in einemsolchen Team jemand seine Arbeitszeit reduzieren wollte,um beispielsweise einer Nebentätigkeit nachgehen zukönnen. – So steht es in Ihrem Gesetz.Fragen Sie auch einmal die Mitarbeiter eines Teams imHochtechnologiebereich, in dem viele Kollegen zusam-menarbeiten, was sie davon hielten, wenn dort jemandseine Arbeitszeit reduzierte und sagte: Ich arbeite nurnoch vormittags, weil ich da fit bin, nachmittags will ichnicht mehr so viel arbeiten.
Sie legen hiermit in den Betrieben viele Lunten.
Unfaires und unpartnerschaftliches Verhalten wird pro-grammiert. Die Arbeitsplätze in Deutschland werdennicht sicherer und im Standortwettbewerb wird Deutsch-land mit Ihrem Vorschlag keine Pluspunkte sammeln.
Der betriebliche Aufwand wird erhöht, wenn bei-spielsweise Personaldaten von Mitarbeitern künftig le-benslang aufbewahrt werden müssen, wenn eine Aus-schreibungspflicht besteht, wenn neue Prüfungspflichtenfestgeschrieben werden. Das alles muss ja dokumentiertwerden und beweisfähig sein. Das ist ein neuer, unerhörthoher Aufwand. Das wird den Standort Deutschland nicht
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Olaf Scholz12253
aufwerten und die Produktionskosten in Deutschlandnicht senken, sondern sie wachsen lassen. Die Prozessan-fälligkeit des deutschen Arbeitsmarkts wird weiter zuneh-men.
Ich sage Ihnen schon heute voraus: Umgehungstatbe-stände, halbillegales Verhalten oder sogar Gesetzesbruchwerden zu- und nicht abnehmen, weil man natürlich Aus-weichtatbestände suchen wird.
– Ich komme schon noch dazu. Haben Sie bitte noch ei-nen kleinen Moment Geduld. Deshalb sage Ihnen auch,dass dieser Entwurf so, wie Sie ihn vorgelegt haben, un-sere Zustimmung nicht finden kann.
Wir wollen den Erhalt der befristeten Arbeitsverhält-nisse. Wir wollen die Fortsetzung einer sozial verantwor-tungsvollen Partnerschaft. Wir wollen statt eines Durch-einanders in den Betrieben Berechenbarkeit und wirwollen den Betriebsfrieden bewahren. Wir wollen Teil-zeitarbeit fördern,
aber mit den richtigen rechtlichen Rahmenbedingungen.Wir wollen keinen allgemeinen, uferlosen Teilzeitan-spruch, sondern vor allem die Förderung von zwei Grup-pen – und damit komme ich zu den Äußerungen desbayerischen Ministerpräsidenten–, die eine besondereUnterstützung benötigen.Wir brauchen Teilzeit vor allem für junge Ehepaare, fürjunge Mütter und junge Frauen und vielleicht auch für denein oder anderen jungen Vater, die Kindererziehung undBeruf besser miteinander vereinbaren wollen.
Herr Grehn, hier haben sie Recht: Wenn wir die demo-graphische Katastrophe für die sozialen Sicherungssys-teme abwenden wollen, brauchen wir in Deutschlandwieder mehr Kinder. Der Kinderwunsch ist vorhanden.Allerdings ist die Vereinbarkeit von Kindererziehung undBeruf vielfach nicht gegeben. Wir wollen es vermeiden,dass junge Eltern, junge Frauen vor allem, vor die aus-weglose Entscheidung zwischen Kindern und Karrieregestellt werden.
Deshalb macht eine familienfreundliche Teilzeit für El-tern, die ein betreuungspflichtiges Kind haben, Sinn. Da-rauf sollten wir uns konzentrieren.
Sinn macht auch ein Anspruch auf Teilzeit für Arbeitneh-mer, die pflegebedürftige Familienangehörige haben. Dahaben Sie uns an Ihrer Seite.
Allerdings gilt in beiden Fällen:
Betriebliche Erfordernisse müssen natürlich beachtetwerden; das sage ich hier ganz deutlich. Auch sollten wirbei der weiteren Beratung die Erfahrungen gerade ausdem öffentlichen Dienst berücksichtigen, wo ein An-spruch auf Teilzeit in weiten Bereichen besteht.Wir brauchen vor allem ein Gesetz, Herr Minister, dasnicht weit hinter der betrieblichen Realität zurückbleibt.In der betrieblichen Praxis werden doch dann, wenn eintüchtiger Mitarbeiter oder eine tüchtige MitarbeiterinTeilzeit in Anspruch nehmen will, bereits jetzt häufigMöglichkeiten gefunden, eine Vereinbarung zu treffen,weil ein Chef einen tüchtigen Mitarbeiter nicht verlierenwill.Jetzt wollen Sie hier eine Vielzahl von Regularien undVorschriften einführen, die der betrieblichen Praxis letzt-lich hinterherhinken. Machen Sie lieber ein Gesetz, dasZukunftswirkung hat und die Realität berücksichtigt, aberkein Gesetz, das weit hinter der Wirklichkeit herhinkt;denn dann wäre es richtiger, Sie würden es sofort in derMottenkiste verstauben lassen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 14/4374 und 14/4103 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartmut
Büttner , Dr.-Ing. Paul Krüger,
Günter Nooke, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Einsatz von Bildauswertungssystemen bei der
Rekonstruktion vorvernichteter Stasi-Unterla-
gen
– Drucksache 14/3770 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen
Länder
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
CDU/CSU-Fraktion der Kollege Hartmut Büttner.
FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! In den letzten Ta-
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Johannes Singhammer12254
gen der DDR, als sich abzeichnete, dass die zweite deut-sche Diktatur zu Ende gehen würde, ergriff die damali-gen Machthaber und auch ihre Vasallen die Panik. Allesan belastendem Material sollte vernichtet werden, sofernes vernichtet werden konnte. Dies war gar nicht so ein-fach. Die SED-Diktatur und ihr „Schwert und Schild“, dieStasi, sind nicht zuletzt an den Massen von Papier erstickt.Zwischen Wichtigem, sehr Wichtigem und Banalemblickte bei den Unmengen von Akten kaum noch jemanddurch.Die Hoffnung, möglichst alles an belastendem Mate-rial verbrannt oder zerrissen zu haben, war Gott sei Dankein wenig trügerisch. Bis heute müssen viele kleine undgroße Täter zittern, ob denn nicht tatsächlich noch ir-gendwo Akten herumschwirren; denn das MfS war nebenaller Unmenschlichkeit eine bürokratische, eine – könnteman sagen – typisch deutsche Behörde. Neben dem Ori-ginal gab es immer wenigstens einen Durchschlag, meis-tens sogar mehrere. Die Kopierwut der DDR-Bürokratenreichte von der Kreisbehörde über den Bezirk bis Ostber-lin und eigentlich sogar bis Moskau.Der Durchschlag ist bei vielen, die Menschenrechteverletzt und die Diktatur durch ihr Tun am Leben gehal-ten haben, in den letzten Jahren oft zum einzigen Belegfür ihr schändliches Tun geworden. Neben diesem intak-ten Durchschlag waren es aber auch immer wieder zu-sammengesetzte Schnipsel von vorvernichtetem Mate-rial, die den Tätern von gestern zum Verhängnis wurden.So wurde durch dieses Material beispielsweise einHerr Professor Bress aus Kassel enttarnt. Bress hatte mehrals 30 Jahre für das Agentenhonorar von 350 000 DM imWesten für die Stasi spioniert. Ebenso fanden sichentscheidende Beweise gegen den Thüringer Landes-bischof Ingo Bräcklein oder den Literaten Sascha Ander-son unter diesen zusammengesetzten Schnipseln.Aber auch Materialien von ausgespähten Stasi-Opfernwurden entdeckt, etwa wichtige Akten über BärbelBohley oder Werner Fischer.Immerhin gelang es in den letzten Jahren im bayeri-schen Zirndorf einer Projektgruppe mit 40 Mitarbeitern,circa 350 000 dieser Einzelblätter in Puzzlemanier zu-sammenzusetzen. Diese Puzzlearbeit ist wie das Aus-schöpfen des Ozeans mit einem Teelöffel. Wenn die Ge-schwindigkeit von heute beibehalten wird, dann habenwir die Chance, in 375 Jahren mit dieser Arbeit fertig zuwerden.
Es gibt allerdings – das wird die Betroffenen vielleichtnicht ganz so freuen – neue technische Möglichkeiten.Mittels einer modernen Bildverarbeitung ist es möglich,die Rekonstruktionszeit erheblich abzukürzen. Wegen desNeuigkeitsgrades der angestrebten Lösungen sollte dasProjekt nach unserer Meinung in einem mehrstufigenAusschreibungsverfahren schrittweise präzisiert undletztlich an den günstigsten Anbieter vergeben werden.Maßgebliche Kriterien sollten vor allem die Dauer derRekonstruktion, Qualität, Zuverlässigkeit und nicht zu-letzt der Preis sein.Wir wollen gemeinsam mit der Behörde der Bundes-beauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheits-dienstes der ehemaligen DDR, dass der Deutsche Bun-destag dieses Verfahren vorantreibt. Diese Behörde warbisher immer als Gauck-Behörde bekannt. Ob sie bald ge-nauso kurz „Birthler-Behörde“ genannt werden kann,wird sich in den nächsten Monaten und Jahren erweisen.Ein wichtiges Kriterium hierfür wäre die Weiterführungdes Aufarbeitungsprozesses.Wir müssen auch bald entscheiden, ob die Arbeit inZirndorf ganz eingestellt oder ob neue Verfahren ange-wandt werden sollen. Die andere mögliche Alternative,noch mehr als 300 Jahre zu warten, wird wohl niemand indiesem Haus als solche ansehen wollen.
Wir sollten bei dieser Frage, wie bei allen Einzelfragen,die den Stasi-Bereich betreffen, die Zusammenarbeit vonUnion und F.D.P. mit den heutigen Regierungsparteienweiterführen. Deshalb möchte ich die SPD – ich hoffe,dass auch ein Redner aus der SPD-Fraktion spricht undnicht nur, wie angekündigt, ein Mitglied der Bundesre-gierung –, die Grünen und die F.D.P. herzlich einladen, dieUmsetzung unserer Initiative zu diskutieren und mög-lichst gemeinsam zu gestalten.
Die PDS hat – aus sehr guten Gründen – bei allen Fra-gen der Stasi-Problematik bisher niemals mitgewirkt. Diegroßartige Akzeptanz des Stasi-Unterlagen-Gesetzes beiden Menschen in den neuen Bundesländern ist geradedurch die Zusammenarbeit der großen Mehrheit diesesDeutschen Bundestages immer wieder gestärkt worden.Ich denke, wir sollten uns auch bei dieser aktuellen Frageso verhalten und zusammenarbeiten. Ich darf Sie herzlicheinladen, mit uns gemeinsam zu diskutieren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Bundesregie-
rung spricht jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Fritz Rudolf Körper.
F
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Die zuständige Behörde – an den weiblichenArtikel muss man sich erst gewöhnen –, die der zuständi-gen Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staats-sicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, ist – das kannich mit Fug und Recht sagen – seit längerem intensivbemüht, das derzeitige und von meinem Vorredner be-schriebene aufwendige manuelle Verfahren zur Rekon-struktion und Ordnung der vom Ministerium für Staats-sicherheit in Wendezeiten zerrissenen und in rund15 600 Säcken verbrachten Stasi-Unterlagen durch ein ge-eignetes – ich betone: geeignetes – IT-Verfahren abzu-lösen.Ziel ist es und Ziel muss es sein, durch den Einsatz mo-derner Technologien der Informationstechnik die Rekon-struktion der zerrissenen Seiten und deren inhaltliche
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Hartmut Büttner
12255
Ordnung zu beschleunigen, um sie recherchierbar zu ma-chen und damit im Sinne des Stasi-Unterlagen-Gesetzesverwenden zu können.Ich will aber auch hinzufügen: Zurzeit gibt es auf demMarkt kein System, das die Anforderungen der Behördeder Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssi-cherheitsdienstes erfüllen könnte. Für die Behörde, diedie alleinige fachliche Verantwortung trägt, ist eine Be-schleunigung der Bearbeitung der vorvernichteten Unter-lagen nur dann vertretbar, wenn am Ende des Prozessesrecherchierbare Unterlagen zur Verfügung gestellt wer-den können.Für die Erstellung geordneter und somit recherchierba-rer Unterlagen gibt es derzeit keinen überzeugenden tech-nischen Lösungsansatz. Ich glaube, das ist auch unum-stritten.Technisch machbar, wenn auch mit einem enormen fi-nanziellen, personellen und zeitlichen Aufwand verbun-den, erscheinen die bisher angebotenen Lösungen zumelektronischen Eingeben – „scannen“ genannt – der zer-rissenen Seiten und zu deren Rekonstruktion zu nur mit-hilfe der Informationstechnik lesbarem, ungeordnetemMaterial. Damit wäre allerdings nur ein nicht ausreichen-des Teilergebnis erzielt. Denn wenn im Ergebnis der Re-konstruktion nur weiteres ungeordnetes Material entsteht,wird lediglich der bereits vorhandene, noch zu er-schließende Bestand von circa 64 000 laufenden MeternStasi-Unterlagen um circa 30 Millionen ungeordnete Sei-ten bzw. rund 4 000 laufende Meter vergrößert.Ein Zugriff und damit eine Nutzung der Unterlagenim Sinne unseres Gesetzes wird aber nicht erreicht, weiles zum Beispiel weder ein Inhaltsverzeichnis noch dieMöglichkeit der Suche nach Stichwörtern gibt. Folge:20 bis 25 zusätzlich einzustellende Archivare müssten dienotwendigen Erschließungsarbeiten erledigen.Bei dieser Sachlage ist festzustellen, dass die Behördeder Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen durchihre Aktivitäten – das möchte ich deutlich sagen; das giltnatürlich auch für den Vorgänger – bereits jetzt das auchmit der Antragstellung seitens der CDU/CSU-Fraktionangestrebte Ziel eindeutig verfolgt. Demzufolge, lieberKollege Hartmut Büttner – so darf ich hinzufügen –, be-darf es eigentlich eines entsprechenden Beschlusses desDeutschen Bundestages nicht.Hinsichtlich der sachlichen Rechtfertigung des bishermanuell mit großem Aufwand betriebenen Puzzles undder Überlegungen zu einer sinnvollen und damit auch ver-tretbaren Beschleunigung des Verfahrens dürfte es keine– so hoffe ich – Meinungsverschiedenheiten geben.Von den im gesamten Archivbereich der Bundesbeauf-tragten vorhandenen circa 15 600 Säcken mit zerrissenenUnterlagen des Staatssicherheitsdienstes sind gegenwär-tig 183 bearbeitet und die zerrissenen Seiten und Vor-gänge wieder rekonstruiert. Beispiele sind eben auchschon genannt worden.Dabei ist deutlich geworden, dass die betreffenden Un-terlagen vorwiegend aus den letzten Jahren des Staatssi-cherheitsdienstes stammen und damit einen unmittelbarenEinblick in die und einen Eindruck von der Tätigkeit desMinisteriums für Staatssicherheit in dieser politisch undgesellschaftlich wichtigen und bewegten Zeit ermögli-chen. Das betrifft sowohl Vorgänge in der DDR als auchin der Bundesrepublik Deutschland.Erkennbar wird auch, nach welchen Prioritäten dieVernichtungsaktionen in der Wendezeit erfolgten. DerStaatssicherheitsdienst war vor allem daran interessiert,die zu diesem Zeitpunkt noch tätigen inoffiziellen Mitar-beiter durch Vernichtung der sie betreffenden Unterlagenzu schützen. Deshalb bleibt das, was sich die Behörde derBundesbeauftragten vorgenommen hat, von Interesse,auch wenn über konkrete Erwartungen hinsichtlich desInhalts und des Wertes der noch zu bearbeitenden Mate-rialien auf der Basis der bisherigen Erfahrungen im Mo-ment nur spekuliert werden kann.Festzuhalten ist ferner, dass über den Einsatz vonBildauswertungssystemen bei der Rekonstruktion dervom Ministerium für Staatssicherheit vorvernichtetenUnterlagen erst dann entschieden werden kann, wenn alletechnischen Fragen, also Fragen im Sinne der Anforde-rungen der Behörde, geklärt sind. Außerdem darf nichtvergessen werden, dass auch die Finanzierbarkeit gesi-chert sein muss.Ich denke, dass wir das alles in Ruhe und Sachlichkeitdiskutieren sollten. Vielleicht ist hierfür eine andere Stelleviel geeigneter als eine solche öffentliche Plenardebatte.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der nächste Redner ist
der Kollege Rainer Funke für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Auch zehn Jahre nach der Wiederverei-nigung ist die Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssi-cherheitsdienstes der DDR noch nicht abgeschlossen.Das Interesse der Stasi-Opfer an den über sie angelegtenAkten ist ungebrochen, wie die Anfragen gegenüber derGauck-Behörde – ich nenne noch ihre alte Bezeichnung –belegen. Deshalb liegt es nahe, das Aktenmaterial, dasdie Stasi in den letzten Tagen der DDR zu vernichten ver-sucht hat, zu rekonstruieren und seiner Bestimmung nachdem Stasi-Unterlagen-Gesetz zuzuführen.Es handelt sich um schätzungsweise 15 000 Säcke– Herr Körper hat sogar 15 600 Säcke gezählt – mit etwa33 Millionen Blatt. In mühevoller manueller Kleinarbeitsind bislang etwa 350 000 Einzelblätter wieder zusam-mengesetzt und nutzbar gemacht worden. Wenn die Be-rechnungen zutreffen – da sind wir ziemlich einer Mei-nung –, dann bräuchten wir für die Rekonstruktion derAkten 375 Jahre. Das ist etwas lang. Auch wenn wir100 Jahre weniger bräuchten – was vielleicht möglichwäre –: Es ist für jedermann offensichtlich, dass mittelsmanueller Rekonstruktion eine vollständige Auswer-tung der Aktenschnipsel in absehbarer Zeit nicht möglichwäre.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper12256
Daher erscheint der Antrag der CDU/CSU-Fraktion,das Verfahren mithilfe moderner technischer Möglichkei-ten, wie etwa der modernen Bildverarbeitung, zu be-schleunigen, auf den ersten Blick als folgerichtig. DerErschließungszeitraum soll dem Antrag zufolge dadurchauf fünf bis zehn Jahre verkürzt werden können.Was im Antrag allerdings verschwiegen wird, sind dieKosten, die dadurch entstehen würden – nämlich Kostenin Höhe von 18 Millionen DM.
Spätestens hier muss man sich die Frage nach dem Kos-ten-Nutzen-Verhältnis stellen. Als kaufmännisch Täti-ger bin ich an dieser Frage natürlich interessiert. 18 Mil-lionen DM sind kein Pappenstil, Herr Büttner. Deshalbmuss die Frage erlaubt sein, ob der zu erwartende Infor-mationsgewinn derart hoch ist, dass er den Einsatz dieserSumme rechtfertigt.Ich muss gestehen, dass die F.D.P.-Fraktion diesbezüg-lich Bedenken hat. Für Einstellungen in den öffentlichenDienst spielen Auskünfte der Gauck-Behörde immer we-niger eine Rolle. Im Übrigen endet die Möglichkeit, fürdiesen Zweck Auskünfte einzuholen, ohnehin im Jahre2006, sodass bei einem Erschließungszeitraum von fünfbis zehn Jahren nur ein Teil der rekonstruierten Unterla-gen hierfür zur Verfügung stünde.Das macht den hohen finanziellen Aufwand zusätzlichfragwürdig. Zu berücksichtigen ist auch, dass der Haus-halt der Gauck-Behörde für das Jahr 2001 im Haushalts-ansatz ohnehin bereits um 4 Millionen DM aufgestocktworden ist, wenn auch nur durch höhere Personalausga-ben bedingt.Wir werden das Kosten-Nutzen-Verhältnis bei der Be-ratung des Antrages sorgfältig untersuchen müssen. Wirnehmen Ihre Einladung zur gemeinsamen Beratung gernean. Sie müssen aber wissen, worin unsere Bedenken be-stehen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Kol-lege Christian Ströbele für die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen.
legen! Nachdem ich diesen Antrag gelesen hatte, habe ichnach dem Grund für diesen Antrag gesucht. Ich habe ver-sucht, mich sachkundig zu machen. Ich dachte, dass beider Gauck-Behörde vielleicht schon lange das Bedürfnisbesteht, neue Maschinen einsetzen bzw. dieses Verfahreneinführen zu können, dass sich aber die böse Bundesre-gierung aufgrund des unendlichen Sparzwanges weigert,dafür Geld herauszurücken.Wir haben uns also nach dem Grund erkundigt. DieNachricht, die wir – wahrscheinlich auch Sie – daraufhinvon dieser Behörde bekommen haben, war, dass sie dasgar nicht beantragt hat und es dort auch große Zweifelgibt, ob das überhaupt sinnvoll ist.
Ich frage mich: Warum diskutieren wir dann im Deut-schen Bundestag darüber?
Es ist jetzt zwar schon spät am Abend, aber trotzdem wirdman diese Frage stellen dürfen.Ich bin nun kein Spezialist für Akten der Gauck-Behörde.
Aber ich habe gelernt, dass es mindestens drei verschie-dene Kategorien von Akten gibt: Zu der ersten Kategoriegehören die aufgearbeiteten Akten; diese sind zugäng-lich und werden auf Anfragen von Personen oder Behör-den zur Verfügung gestellt. Zur zweiten Kategoriegehören die Akten, mit denen bis heute nicht recherchiertwerden kann. Diese Akten können bei Auskünften überoder bei Anfragen von Personen aus der ehemaligen DDRnicht hinzugezogen werden, weil sie noch gar nicht zu-gänglich sind. Die dritte Kategorie stellen die Papier-schnipsel dar.Bei der zweiten Kategorie geht es um 64 000 Meter– ich habe immer gedacht, da sei vielleicht eine Null zuviel –, also um 64 Kilometer, Akten. 64 Kilometer sindganz schön lang. Ich müsste mit meinem Fahrrad eineganze Woche radeln, allein um daran vorbeizufahren
– ich fahre nicht so schnell –, abgesehen von der Zeit, dieich bräuchte, um diese Akten zu lesen, damit zu arbeiten.Diese Akten sind bis heute nicht so aufbereitet, dass manetwas mit ihnen anfangen kann. Herr Kollege Büttner,dafür, was man machen kann, um diese Akten schnell derGauck/Birthler-Behörde zur Erledigung ihrer Aufgabenzur Verfügung stellen zu können – diese Akten machen ei-nen sehr viel größeren Teil aus als die Akten, um die es Ih-nen mit Ihrem Antrag geht –, haben Sie kein Konzept.Nein, Sie sagen: „Hier haben wir noch 15 600 Säcke“ –minus 183 Säcke, da der Inhalt dieser Säcke schon zu-sammengesetzt wurde. Sie möchten also durch das Zu-sammensetzen der Seiten für 4 000 Meter Akten zusätz-lich sorgen. Das macht noch einmal einen halben odereinen ganzen Tag Radfahren aus. Ich kann wenig Sinndarin sehen; dies bezieht sich auch auf die Methode.Dies wurde mir auch von der Gauck-Behörde mitge-teilt: Man hat sich bei Computerunternehmen erkundigt,welche modernen Anlagen es gibt, um diese Papier-schnipsel so aufbereiten zu können, dass man wieder voll-ständige Seiten hat und etwas damit anfangen kann. Aberseitens der Behörde wird gesagt: Das nützt uns überhauptnichts. Selbst wenn alle diese Seiten wieder zusam-mengesetzt worden sind – also nicht diese 183 Säcke, son-dern auch der Rest –, dann werden diese erst einmal zuden 64 000 Metern Akten gelegt; anders geht es nicht. So-mit kommen noch einmal circa 4 000 Meter hinzu. Ich
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Rainer Funke12257
frage mich: Ist es wirklich sinnvoll, dafür 150 Millio-nen DM auszugeben? Wäre es nicht viel sinnvoller undrichtiger, erst einmal den anderen riesigen Berg an Aktenzugänglich zu machen?Wir müssen also erst einmal bei der zweiten Kategorieder Akten weiterkommen. Ich glaube, dass wir uns auf dasUrteil der Fachleute der Gauck/Birthler-Behörde verlas-sen können. Bisher sagen sie: Wir brauchen eine solcheAnlage nicht. Die Maschinen erleichtern uns allenfallsdas Zusammensetzen der Akten, aber nicht die Verwert-barkeit, dass man recherchieren kann.Solange das nicht geschieht, sollte man – so denkeich – die Arbeit erst einmal darauf konzentrieren – immermit dem guten Rat der Gauck-Behörde –, was manzunächst macht, wofür man zunächst Geld ausgibt undwas man in den nächsten Jahren leisten kann.Sie haben da eine Rechnung mit 365 oder 375 Jahrenaufgemacht. Sie haben keine Rechnung aufgemacht, wielange es eigentlich noch dauert, bis diese 64 000 MeterAkten der Recherchierbarkeit, der Nutzbarkeit zugeführtwerden können. Das wird wahrscheinlich noch ein viellängerer Zeitraum sein.Wir sollten diesen Antrag angesichts der hohen Kostenund der möglichen Sinnlosigkeit sehr kritisch prüfen, soll-ten den guten Rat der Gauck-Behörde einholen und soll-ten fragen: Haltet ihr das wirklich für erforderlich oder istes nicht besser, den einen oder anderen Mitarbeiter zu-sätzlich bei der Gauck-Behörde einzustellen, der erst ein-mal dafür sorgt, dass man mit dem Material auch etwasanfangen kann, dass man es zu den Zwecken nutzen kann,für die es die Gauck-Behörde gibt? Deshalb haben wirgroße Skepsis. Aber wir haben noch Gelegenheit, darüberzu reden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Ulla Jelpke für die PDS-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Herr Büttner, um es mit den Worten IhresKollegen zu sagen: Als ich diesen Antrag gelesen habe,habe ich nicht nur gedacht, dass der Inhalt schlecht ist,sondern auch, dass die Verpackung schlecht ist.
Ich will in aller Kürze versuchen zu begründen, warumwir diesen Antrag ablehnen werden.
Erstens. Sie stellen einen zeitlich wie finanziell völligunbestimmten Antrag. Sie wollen ein mehrstufiges Aus-schreibungsverfahren, Prototypen entwickeln lassen usw.Was das kosten soll, wie lange das dauern soll, das alleslassen Sie offen. Sie selbst sprechen von einem zu erwar-tenden Neuheitsgrad der angegebenen Lösung. Ich habemich, ehrlich gesagt, gefragt, was das soll. Entweder ken-nen Sie eine Technologie oder Sie kennen keine. DieFrage, wie viele Millionen hier verpulvert werden, bleibtin Ihrem Antrag ebenfalls völlig ungeprüft.Zweitens. Über alles das, denke ich, könnte man janoch diskutieren, wenn Sie Ihren Antrag wenigstens miteinem dringlichen gesellschaftlichen Bedürfnis begrün-den würden. Das fehlt völlig. Natürlich gibt es die Inte-ressen der Opfer der Stasi. Sie haben nämlich ein legiti-mes Interesse daran, für ihr Leid, für Verfolgung bzw. füran ihnen begangene Straftaten, entschädigt zu werden.Um es ganz deutlich zu sagen: Dafür sind auch wir im-mer eingetreten. Ich weiß nicht, ob Sie in dieser Zeit imInnenausschuss gefehlt haben. Wir sind zu jeder Zeitdafür eingetreten, dass die Stasi-Unterlagen für die Öf-fentlichkeit und für die Opfer zugänglich sein müssen.
– Dazu komme ich gleich. Darüber können wir noch dis-kutieren.Auf jeden Fall möchte ich Sie an diesem Punkt erst ein-mal korrigieren, Herr Büttner. Wie gesagt, ich habe denEindruck. Da haben Sie gefehlt.In diesem Fall geht es tatsächlich auch um die Frageder Verhältnismäßigkeit, nämlich darum, wie ein Antraghier eingebracht wird. Ich habe mir auch die Frage ge-stellt, warum Sie das im Parlament machen. Ich habe denEindruck: Das ist ein rein populistischer Antrag. Ich weißnicht, wen Sie damit bedienen wollen. Ich glaube jeden-falls, dass Sie den Opfern damit keinen großen Gefallentun.
Unabhängig davon: Wir haben immer kritisiert – dassage ich als jemand, die aus Westdeutschland kommt –,dass gerade Ihre Fraktion diese Aufarbeitung sehr einsei-tig betrieben hat.Ich möchte nämlich daran erinnern, dass Geheim-dienste in diesem Land überall Daten gesammelt haben.Ich will das nicht auf eine Ebene mit der Stasi stellen.Aber es hat immer das Sammeln von Daten gegeben. Eswurden intime Daten gesammelt. Diese Daten haben bei-spielsweise in Westdeutschland dazu geführt, dass es inden 50er-Jahren eine Kommunistenhatz, eine Verfolgung,Berufsverbote zu Tausenden gab. Diese Akten haben ge-rade die davon betroffenen Opfer bis heute nicht ein ein-ziges Mal einsehen können. Ich habe noch nie von IhrerSeite gehört, dass Sie dafür eintreten, dass auch dieseSeite der Geschichte aufgearbeitet wird.
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Hans-Christian Ströbele12258
– Herr Büttner, seitdem Sie in der Opposition sind, wer-den Ihre Beiträge von Monat zu Monat schlechter und in-haltsleerer.
Vielleicht sollten Sie einmal überprüfen, was für eine Op-positionspolitik Sie hier machen.Eines ist jedenfalls klar: Geheimdienste stehen immerin der Gefahr, durch von ihnen angelegte Datensammlun-gen Menschen- und Bürgerrechte zu verletzen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Jelpke,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. Solange
die Geschichte hier einseitig aufgearbeitet wird – wobei
wir an sich immer für eine Aufarbeitung der Geschichte
gewesen sind –, ist es nicht korrekt, wenn Sie immer wie-
der versuchen, die PDS in dieses Licht zu rücken. Das ent-
spricht nicht der Realität. Machen Sie erst einmal Ihre
Hausaufgaben, dann können wir weiterreden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/3770 an die in der Tagesordnung auf-geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf.a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Straßenverkehrsgesetzes und ande-rer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften
– Drucksache 14/4304 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
InnenausschussRechtsausschussb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBericht des Bundesministeriums für Verkehr,Bau- und Wohnungswesen über Maßnahmenauf dem Gebiet der Unfallverhütung imStraßenverkehr und Übersicht über das Ret-tungswesen 1998 und 1999– Unfallverhütungsbericht Straßenverkehr1998/99 –– Drucksache 14/3863 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitNach einer interfraktionellen Vereinbarung war für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kollegin-nen und Kollegen Rita Streb-Hesse, Eduard Lintner,Albert Schmidt, Horst Friedrich, Dr.Winfried Wolf sowieder Parlamentarische Staatssekretär Siegfried Schefflerhaben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) – Ich sehe dazukeinen Widerspruch im Saal.Interfraktionell wird deshalb jetzt die Überweisung derVorlagen auf den Drucksachen 14/4304 und 14/3863 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüssevorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Auch dasist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten WolfgangBörnsen , Dirk Fischer (Hamburg),Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSUFür ein fahrradfreundliches Deutschland– Drucksache 14/3773 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
InnenausschussFinanzausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für TourismusHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Die Kolleginnen und Kollegen Heide Mattischeck,Wolfgang Börnsen, Winfried Hermann sowie Hans-Michael Goldmann haben ihre Reden zu Protokollgegeben.2) – Auch dagegen sehe ich keinen Widerspruch.Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Gustav-AdolfSchur für die PDS-Fraktion.Gustav-Adolf Schur (von der PDS mit Beifallbegrüßt): Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kol-legen! Radsportstatistiker wollen herausgefunden haben,dass ich in meinem Leben circa zehnmal um die Erde ge-radelt bin.
Also wird mich wohl kaum jemand für nicht kompetenthalten, wenn ich hier bei einer Diskussion über den Fahr-radverkehr rede. Vor dem Hintergrund dieser Kompetenzsage ich: Wir sind für alle Anträge, die den Benutzern vonFahrrädern irgendwelche Vorteile sichern. Dabei mussdas Fahrrad keineswegs neu erfunden werden. Aber esmuss einiges für diejenigen getan werden, die es benutzen
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Ulla Jelpke12259
1) Anlage 32) Anlage 4und somit auch, ob bewusst oder unbewusst, etwas fürihre Gesundheit und die Umwelt tun.
Das sollte eigentlich im Interesse jeder Bundesregierungliegen, ganz gleich, von welcher Partei sie gestellt wird.
– Ich möchte sehr um Aufmerksamkeit bitten. – Noch ei-nes will ich ihnen dazu sagen: Beim Radfahren glättensich die Gesichtszüge.Drei Minuten Redezeit reichen nun nicht aus, um aufalle zehn Punkte des Antrages einzugehen. Aber ich plä-diere mit Nachdruck für den geforderten Maßnahmen-katalog, durch den insbesondere das Unfallrisiko der Radfahrenden Kinder reduziert werden kann.Wir unterstützen auch jeden Schritt, der dazu führt,dass die Fahrradfreundlichkeit der Deutschen Bahnzunimmt. Vielleicht hält man uns entgegen, dass in ICEmit Neigetechnik keine Fahrradständer montiert werdenkönnen.
Wenn die Ölpreise aber weiter so drastisch steigen, wirdman sich manches einfallen lassen müssen, was man imMoment noch für abwegig hält.
Genauso galt noch vor fünf Jahren der von meiner Kol-legin Enkelmann eingebrachte Antrag als abwegig, derdafür sorgen sollte, dass eine Planungsgruppe „Fahrrad-freundliches Regierungsviertel“ installiert wird, um dieVoraussetzungen dafür zu schaffen, dass zwischen denMinisterien und dem Bundestag in Berlin auch Fahrrad-wege angelegt werden. Heute hätte das den Abgeordnetendie Chance geboten, mit gutem Beispiel voranzufahren.Ich wäre garantiert mit von der Partie gewesen, selbst aufdie Gefahr hin, eine weitere Erdumrundung per Drahteselin Angriff nehmen zu müssen.
Abwegig war der Antrag nicht deshalb,
weil er schlecht war oder von der PDS kam, sondern weiler an selbst geschaffenen Tabuzonen rührte und damit jeg-liche Veränderung utopisch werden ließ.Ein Beispiel: 1975 – ich wiederhole: 1975! – sagteKanzler Helmut Schmidt zum 25-jährigen Jubiläum desDeutschen Sportbundes, dass der Schulsport in der BRDmiserabel sei.
Heute, 25 Jahre später, ist er katastrophal,
und zwar deshalb, weil sich alle so lange hinter Bund-und Länderkompetenzen versteckt haben, bis das An-liegen auf der Strecke geblieben ist. Wenn dann zusätz-lich, wie es beim Thema Fahrrad der Fall ist, den Kom-munen der schwarze Peter zugeschoben werden kann,dann ist ein genereller Baustopp vorprogrammiert. Sopraktizierter Föderalismus führt zu Kleinstaaterei.Noch einmal: Wir sind für alle Anträge, die fahrrad-freundlich sind. Wir wollen das Fahrrad nicht neu erfin-den, sondern nur ordentlich mit ihm fahren. Das gehtschneller. Glauben Sie mir, ich habe da meine Erfahrun-gen. Ich lade Sie herzlich ein!Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3773 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef
Parr, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Dr. Irmgard
Schwaetzer, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der F.D.P.
Präimplantationsdiagnostik rechtlich absi-
chern
– Drucksache 14/4098 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
F.D.P.-Fraktion fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Zunächst erteile ich dem
Kollegen Detlef Parr für die F.D.P.-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Wir sind erfreut, bei der Beratung dieses An-trags fünf Minuten reden zu dürfen, weil wir einegrundsätzliche öffentliche Debatte über Chancen und Ri-siken der modernen Fortpflanzungsmedizin in Deutsch-land für dringend erforderlich halten.
Frau Nickels, zu diesem Thema gab es bereits im Maiein wichtiges Symposium, das das BMG in Zusammen-
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Gustav-Adolf Schur12260
arbeit mit dem Robert Koch-Institut dankenswerterweiseveranstaltet hat. Das reicht aber nicht. Wir brauchen eineDiskussion über dieses Thema in diesem Parlament.
Im Vorfeld des genannten Symposiums hat Frau Mi-nisterin Fischer zu Recht erklärt – ich zitiere hier gerne –:Die Möglichkeiten der modernen Fortpflanzungsme-dizin wecken beim einzelnen Menschen verständlicheWünsche und finden eine zunehmende Akzeptanz. Al-lerdings darf die Faszination des Wünschbaren nichtden Blick für daraus resultierende Gefahren verstellen.Ich hoffe, dass aus diesem Diskussionsprozess trag-fähige Lösungen erwachsen, die der Gesetzgeber auf-greifen kann.Die F.D.P. eröffnet heute mit ihrem Antrag „Präim-plantationsdiagnostik rechtlich absichern“ die Debattehier im Bundestag. Wir Volksvertreter müssen uns recht-zeitig mit den aufgeworfenen Fragen auseinander setzen.Wir müssen rechtzeitig versuchen, die notwendige Trans-parenz in den wissenschaftlichen Elfenbeinturm zu brin-gen, um zu den von der Ministerin angesprochenen trag-fähigen gesetzgeberischen Lösungen zu kommen.Durch die Präimplantationsdiagnostik ist es möglich,Embryonen, die mithilfe künstlicher Befruchtung erzeugtwurden, vor ihrer Einpflanzung in den Mutterleib aufschwerste genetische Schädigungen zu untersuchen. Da-mit eröffnet sich für genetisch vorbelastete Paare dieMöglichkeit, sich ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Zumgegenwärtigen Zeitpunkt gibt es leider sehr unterschied-liche Auffassungen, ob das Embryonenschutzgesetz diePräimplantationsdiagnostik gestattet oder nicht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Parr, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hüppe?
Natürlich.
Herr Kollege Parr, da
sich die F.D.P. offensichtlich schon sehr intensiv mit der
Präimplantationsdiagnostik beschäftigt hat, darf ich Sie
fragen, ob Sie einen ethischen Unterschied zwischen der
Polkörperdiagnostik und der PID sehen? Können Sie mir
ganz konkret wenigstens eine genetische Krankheit nen-
nen, die mit der Polkörperdiagnostik nicht festgestellt
werden könnte, sondern nur mit der PID?
Kollege Hüppe, wir werden diese
Frage im Ausschuss intensiv diskutieren. Ich bin der Mei-
nung, dass die Präimplantationsdiagnostik im Bereich der
Mukoviszidose – Freunde von mir haben ein Kind mit
dieser Schädigung; ich habe mit dem Leiden dieses Kin-
des und dem damit verbundenen Leid der Eltern sehr per-
sönliche Erfahrungen gemacht – ein Beispiel für das ist,
wonach Sie gefragt haben.
– Wir werden darüber ja intensiv im Ausschuss diskutie-
ren.
Ich beklage besonders, dass den betroffenen Paaren im
Moment nur die Möglichkeit eröffnet ist, sich ihren
Kinderwunsch mit dieser Methode im Ausland zu erfüllen.
Fast alle europäischen Länder wenden die Präimplanta-
tionsdiagnostik an, Herr Hüppe. Man muss sich fragen,
warum wir in Deutschland so einen Schutzzaun errichten.
Weltweit sind nach Anwendung dieser Diagnostik bisher
424 gesunde Kinder geboren worden. Ganz selbstverständ-
lich wenden wir in Deutschland zurzeit nur die pränatale Dia-
gnostik an. Hier und weltweit steigt die Zahl derer stark an,
die während einer bereits bestehenden Schwangerschaft
mithilfe der pränatalen Diagnostik bestimmte Risiken ab-
klären lassen. Gerade für vorbelastete Paare bedeutet sie al-
lerdings eine sehr große seelische und eine sehr große kör-
perliche Belastung, wenn es – möglicherweise wiederholt –
wegen Gesundheitsgefährdung der Mutter zum Abbruch der
Schwangerschaft kommt. Viele Betroffene ringen sich des-
halb zum Verzicht auf das Kind durch.
Wir erwarten, Herr Hüppe, dass die Präimplantations-
diagnostik nur in sehr begrenztem Umfang zur Anwen-
dung kommt. Wir wollen aber den Paaren, die betroffen
sind, helfen und wirklich dafür Sorge tragen, dass sie
nicht ins Ausland gehen müssen. Es ist eben eine unüber-
sehbare Tatsache: Wenn sich deutsche Paare heute helfen
lassen wollen, dann gehen sie zum Beispiel an die Uni-
versität nach Lübeck und lassen sich dort beraten, um
Hinweise zu erhalten, wie sie sich ihren Kinderwunsch
über Umwege in europäische Nachbarländer erfüllen
können. Das wollen wir zugunsten dieser Paare ändern.
Wir dürfen sie nicht länger mit ihren Problemen alleine
lassen. Wir müssen auch in unserem Land die Möglich-
keit der PID eröffnen. Deswegen möchte ich Sie ganz
herzlich bitten, in den Ausschussberatungen sachlich und
mit der nötigen Ernsthaftigkeit und Seriosität über diese
Frage zu diskutieren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Parr,
auch der Kollege Seifert möchte eine Zusatzfrage stellen.
Auch die werde ich gerne zu-
lassen.
Herr Kollege Parr, Sie sprachen
gerade davon, dass dieses Verfahren nur für ganz wenige
Ausnahmefälle in Anwendung gebracht werden soll. Aber
steht denn nicht in Ihrem eigenen Antrag, dass Sie davon
ausgehen, dass es dann von immer mehr Menschen ge-
nutzt wird, sodass es am Ende eine Art Bevölkerungs-
screening geben wird, also eine Vorauswahl – nicht mehr
Wunschkinder, sondern Kinder nach Wunsch?
Das steht ausdrücklich nicht imAntrag. Wir haben ihn sehr offen formuliert. Wir
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Detlef Parr12261
schließen aber aus, dass es zu „Kindern auf Bestellung“kommt. Eine solche Diskussion wollen wir nicht führen.Dazu darf es sicherlich nicht kommen.
Wir haben die Kriterien beschrieben. Wir haben unddarauf festgelegt, dass die medizinischen Zulassungskri-terien sehr eng gezogen werden sollen und dass das Straf-recht ein hohes Schutzniveau und Rechtssicherheit füralle Beteiligten garantieren soll. All diese Hürden sindwichtig. Der Indikationsbereich muss sehr eng gezogenwerden, sodass wir mit unserem Antrag hoffentlich keineDammbrüche auslösen, die wir gar nicht wollen. Wir wol-len auf diesem engen Feld zu einer klaren rechtlichenRegelung kommen. Ich denke, darauf könnten wir unsauch am ehesten verständigen. Wir beziehen uns dabei un-ter anderem auf Professor Hepp aus München, der unterdiesen Voraussetzungen die Einführung der PID inDeutschland für möglich hält.Ich möchte abschließend noch drei Punkte erwähnen:Die Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalzhat sich im vergangenen Jahr unter Berücksichtigung desengen Rahmens für die Erarbeitung einer rechtlichenGrundlage für die PID eingesetzt. Die Bundesärztekam-mer hat im Februar dieses Jahres einen Richtlinienentwurfvorgelegt, der eine eng umgrenzte berufsrechtliche Zulas-sung der PID anstrebt. Und auch auf dem bereits erwähn-ten Symposium sind eine Vielzahl von Experten zu Wortgekommen, die bei Abwägung der rechtlichen, morali-schen und ethischen Fragen zu dem Schluss kommen, dassman die Sonderstellung Deutschlands in Europa aufgebenund die Präimplantationsdiagnostik auch bei uns zulassenkönne.Ich hoffe, dass wir im Ausschuss eine sachliche, nachvorne gerichtete Diskussion eröffnen können, damit wirden Paaren, die wirklich in Nöten sind, in der Weise hel-fen können, wie es im europäischen Ausland bereits heutemöglich ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die nächste Rednerinfür die SPD-Fraktion ist die Kollegin Dr. Carola Reimann.Dr. Carola Reimann (von der SPD mit Beifallbegrüßt): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!Abends halb zehn in Deutschland: Im Deutschen Bundes-tag hat die Stunde der Fachleute begonnen. So könnte manin Anlehnung an eine Werbung sagen. Tatsächlich will ichIhnen gleich zu Beginn die ganz große Spannung nehmen:Die SPD-Fraktion wird dem vorliegenden Antrag nichtzustimmen.Wir sind dagegen, kurzfristig einen Bereich aus der ge-netischen Diagnostik und der Fortpflanzungsmedizin he-rauszugreifen und dazu ein neues Gesetz zu schaffen. DiePräimplantationsdiagnostik ist nur ein Teilbereich der ge-netischen Diagnostik, die sich zurzeit insgesamt mitgroßer Dynamik entwickelt. Die Entschlüsselung des ge-netischen Erbguts, des Genoms, durch das Human-Genom-Projekt wird in den kommenden Monaten zu Er-gebnissen führen, die sehr schnell in genetische Testsys-teme münden werden.Diese Untersuchungen erkennen monogenetische Er-krankungen, also Erkrankungen, die auf Veränderungeneines einzigen Gens zurückzuführen sind, oder Verände-rungen des Chromosoms ganz allgemein. Die Zahl dermonogenetischen Erkrankungen wird zurzeit auf 4 000geschätzt. Nicht nur das Angebot an Tests wird schnellsteigen. Auch die Automatisierung der Gentests durch dieVerwendung so genannter Biochips eröffnet in Zukunftdie Möglichkeit einer breiten Anwendung.Dieser Bereich befindet sich in einem ungeheuren Um-bruch, ohne dass die juristischen Definitionen, die Siejetzt vornehmen wollen, in jedem Augenblick wissen-schaftlich bestätigt werden können.
Allgemein bekannt ist die pränatale Diagnostik.Hierbei wird der Fötus im Mutterleib untersucht. DiePräimplantationsdiagnostik untersucht im Gegensatzdazu nicht nur vorgeburtlich, sondern in vitro, also nochim Reagenzglas und damit vor der Einpflanzung der be-fruchteten Eizelle in die Gebärmutter, den Embryo. Alleindas wirft eine Vielzahl von Fragen auf und lässt die Präim-plantationsdiagnostik in der Fachwelt zu einem sehr um-strittenen Feld der genetischen Diagnostik werden.
Ich will an dieser Stelle ausdrücklich die Initiative lo-ben, für diesen wichtigen Themenkomplex mehr Öffent-lichkeit zu schaffen, um uns die Gelegenheit zur Debattezu bieten. Aber die PID kann nur im Kontext mit der Fort-pflanzungsmedizin und den ethischen Fragestellungender Biomedizin betrachtet werden.
Grundlage und Voraussetzung für die Präimplantations-diagnostik ist die Durchführung einer künstlichen Befruch-tung. Künstliche Befruchtungen werden in Deutschland inetwa 100 so genannten reproduktionsmedizinischen Zen-tren vorgenommen. Sie können mittels verschiedener Ver-fahren durchgeführt werden. Allen Verfahren ist gemein-sam, dass eine Eizelle und eine Samenzelle außerhalb desKörpers der Frau verschmolzen werden.Ich will an dieser Stelle noch einmal betonen, dass esnicht das Ziel der In-vitro-Fertilisation ist, Embryonenkünstlich zu erzeugen, um diese zu testen.
Ziel dieser künstlichen Befruchtungen ist es vielmehr,Paaren zu Kindern zu verhelfen, denen auf natürlichemWege die Erfüllung ihres Kinderwunsches versagt bleibt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Detlef Parr12262
Aber diese In-vitro-Fertilisations-Techniken haben derMedizin in den vergangenen Jahren Möglichkeiten eröff-net, an die zunächst niemand gedacht hat. Bei der Präim-plantationsdiagnostik werden Embryonen vor der Ein-pflanzung in die Gebärmutter molekulargenetisch getestetund auf genetische Veränderungen untersucht. Das Zielist, nur diejenigen Embryonen in die Gebärmutter zu im-plantieren, die keine genetischen Schäden aufweisen.In den vergangenen Wochen heizten Berichte aus denUSA über die gezielte Zeugung passender Geschwister– passend im Sinne medizinischer Kompatibilität – dieDiskussion an und ließen erneut Ängste vor der Zeugungvon Menschen nach Maß entstehen.
Viele von uns beschleichen dabei genau dieselben Be-fürchtungen, die uns das Klonen von Menschen strikt ver-bieten lassen, wenn sie von den Möglichkeiten der vorge-burtlichen Diagnostik und der möglichen Selektion hören.Sicherlich haben einige von Ihnen noch den Fall derschwer kranken Sechsjährigen vor Augen, die seit ihremzweiten Lebensjahr an einer seltenen Blutkrankheit, derFanconi-Anämie, leidet. Im September hat sie einenBruder bekommen, der im Reagenzglas gezeugt wurde.Er wurde aus insgesamt 15 Embryonen durch Präim-plantationsdiagnostik ausgewählt. Vor der Implantationin die Gebärmutter ließen seine Eltern testen, ob erStammzellen für die Heilung seiner Schwester spendenkann. Unmittelbar nach der Entbindung wurden aus demNabelschnurblut des neugeborenen Kindes Stammzellenzur Therapie der schwer erkrankten Schwester gewon-nen.Der Fall hat heftige Kontroversen darüber ausgelöst,ob es ethisch vertretbar ist, außerhalb des Mutterleibs ge-zeugte Kinder gezielt als Stammzellspender zu verwen-den.Die Präimplantationsdiagnostik – kurz PID genannt –wird in Deutschland nicht durchgeführt, wohl aber in denUSA und in einigen europäischen Nachbarländern, zumBeispiel in den Niederlanden. Weltweit – Kollege Parr hates schon gesagt – sind bislang ungefähr 400 Kinder nachPID zur Welt gekommen.In Deutschland wurde im Frühjahr dieses Jahres vonder Bundesärztekammer die kontroverse Diskussion zurPID in der Fachwelt angestoßen, mit dem Vorschlag einerRichtlinie zum begrenzten Einsatz der PID auch inDeutschland.Für Paare mit schweren Erberkrankungen im fami-liären Umfeld eröffnet die In-Vitro-Fertilisation in Kom-bination mit der Präimplantationsdiagnostik die Chanceauf eine Schwangerschaft ohne den Konflikt einer mögli-chen Abtreibung nach Tests in den ersten Schwanger-schaftswochen. Aber was ist eine schwere Erbkrankheit,die es rechtfertigt, die Implantation zu unterlassen? Fürdie einen zählt dazu das Down-Syndrom, für die anderenist die Stoffwechselerkrankung Mukoviszidose eineschwere Erbkrankheit.Bleibt die Präimplantationsdiagnostik gänzlich verbo-ten, haben Paare mit Kinderwunsch trotz genetischer Vor-belastung nach wie vor nur zwei Alternativen: Sie könnendas Risiko eingehen, ein krankes Kind zu bekommen,oder sie nehmen den Konflikt eines Schwangerschaftsab-bruchs in Kauf. Denn nach der Implantation des Embryosgestattet das geltende Recht den Test und die Abtreibung.Die Probleme der Paare werden so nicht gelöst.
Darüber hinaus ist umstritten – das klang schon an –,ob die PID mit dem Embryonenschutzgesetz vereinbarist. Während die Bioethik-Kommission des LandesRheinland-Pfalz zu dem Schluss kommt, die Präimplan-tationsdiagnostik werde durch das Embryonenschutzge-setz nicht in jedem Fall verboten, wird diese Einschätzungvon anderen Juristen nicht geteilt. Das Embryonenschutz-gesetz verbietet die fremdnützige Verwendung von Em-bryonen und die Untersuchung an Embryonen im Stadiumder zellulären Totipotenz. Totipotent ist eine Zelle dann,wenn aus ihr ein ganzes Individuum entstehen kann. Andiesen Zellen ist daher auch die Untersuchung im Rahmender Präimplantationsdiagnostik verboten.Nach Abschluss des Acht-Zell-Stadiums gelten dieZellen des Embryos als pluripotent. Untersuchungen imStadium der Pluripotenz können demzufolge durchge-führt werden. Aber auch die Grenzen zwischen Totipotenzund Pluripotenz werden wissenschaftlich noch diskutiert.Der Widerspruch in der Bioethik-Kommission in Rhein-land-Pfalz trat auf, weil die Kommission davon ausgeht,dass im Acht-Zell-Stadium keine Totipotenz mehr vor-liegt. Doch diese Annahme wird auch von Wissenschaft-lerinnen und Wissenschaftlern sehr wohl infrage gestellt.Bei der Diskussion über Totipotenz und Pluripotenzsprechen wir im Übrigen über ein Stadium, das im Falleeiner natürlichen Schwangerschaft im Körper der Fraukeiner Untersuchung zugänglich ist. Und noch ein leben-spraktischer Gesichtspunkt: Bei der Empfängnisverhü-tung mit Hilfe der Spirale wird der Embryo in genau die-sem Stadium an der Einnistung in die Gebärmuttergehindert. Denn der Schutz des Embryos bei einer natür-lichen Schwangerschaft beginnt erst mit der Nidation, derEinnistung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutter.Im Zusammenhang mit der PID wirft das die Frage auf:Wie ist der Status des Embryos in vitro zu bewerten?Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies sind meiner An-sicht nach die zentralen Konfliktfelder im Bereich derPräimplantationsdiagnostik. Es sind Fragen, die nicht inKürze abschließend beantwortet werden können. Hinterdiesen Konflikten stehen letztendlich zwei Fragen: Gibtes ein Recht auf ein eigenes Kind? Und wenn ja: Gibt eseinen Anspruch auf ein gesundes Kind? Die Notwendig-keit einer breiten Diskussion des Themas ist ganz offen-kundig vorhanden. Denn diese Fragen lassen sich nichteinfach und zügig beantworten – im Übrigen offenbarauch von Ihnen nicht. Als das Gesundheitsministerium imFrühjahr dieses Jahres zur Diskussion einlud, gab es nurwenig Resonanz; dazu wird Frau Kollegin Nickels sichernoch Genaueres sagen.Das Gesundheitsministerium hat im Mai dieses Jahreseine dreitägige Dialogveranstaltung durchgeführt. Sie
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Dr. Carola Reimann12263
stellte den Start zur Vorbereitung eines umfassenden Ge-setzentwurfs zur Fortpflanzungsmedizin dar – es bedurftealso nicht Ihres Antrages und Ihrer Aufforderung. Bei demSymposium wurden unter anderem Fragen zum Status desEmbryos in vitro, der Präimplantationsdiagnostik und derneuen Möglichkeiten der medizinisch unterstützten Fort-pflanzung sehr kontrovers diskutiert. Spätestens dieseVeranstaltung machte deutlich: Die Präimplantationsdia-gnostik kann nicht losgelöst von den Möglichkeiten undRisiken der medizinisch unterstützten Fortpflanzung dis-kutiert werden.Der Bundestag hat darüber hinaus im März dieses Jah-res eine Enquete-Kommission „Recht und Ethik dermodernen Medizin“ eingerichtet, die sich zurzeit inten-siv mit der Präimplantationsdiagnostik befasst. Am13. November wird die Kommission zu diesem Themaeine Anhörung durchführen. Ich halte es für mehr als ge-boten, die Empfehlung der Enquete-Kommission zu die-sem Thema zu hören und zu berücksichtigen.
Außerdem halte ich es für falsch, nur die Regierung zumHandeln aufzufordern. Wir versagen uns damit als Parla-mentarierinnen und Parlamentarier die Möglichkeit, dieFrage im notwendigen Umfang selbst zu beraten.Wer die Präimplantationsdiagnostik jetzt zu schnell er-laubt, lässt eventuell eine Selektion zu, die von unsererGesellschaft nicht getragen wird. Wer jedoch Eltern miteinem hohen Risiko zu Erbkrankheiten die Untersuchungder Embryonen verbietet, nimmt möglicherweise Abtrei-bungen billigend in Kauf. Auch das kann daher keine be-friedigende Lösung sein. Außerdem ist für uns alle si-cherlich klar: Die Entscheidung können und wollen wirnicht nur Ärzten und Wissenschaftlern überlassen, son-dern wir wollen eine verbindliche gesetzliche Regelunghierfür in Deutschland schaffen.
Vor diesem Hintergrund plädiere ich für eine breit an-gelegte und intensive Diskussion des komplexen undzugegebenermaßen nicht ganz einfachen Themas. Wirwollen ohne jeden Aktionismus zu einer überlegten Ent-scheidung gelangen, die von einem breiten gesellschaftli-chen Konsens getragen wird. Zurzeit ist die PID bei unsverboten, ein hastiges Erlauben der PID – wenn auch aufbestimmte Gruppen begrenzt – wird dem Problem nichtgerecht,
ebenso wenig wie ein schneller Beschluss zur Regelungeines einzelnen Teilbereiches.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin
Dr. Reimann, dies war – zu später Stunde – Ihre erste
Rede, noch dazu zu einem, wie Sie selbst gesagt haben,
nicht ganz einfachen Thema. Im Namen aller Kolleginnen
und Kollegen möchte ich Sie ganz herzlich dazu beglück-
wünschen.
Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Hubert Hüppe für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Ich möchte vorweg sagen, Herr Kol-lege Parr: Wenn man schon früher so hätte verfahren kön-nen, wie Sie es heute vorschlagen – Sie haben das Beispielder Mukoviszidose genannt –, hätten das ein Karl Jaspersoder ein Chopin nicht überlebt; denn beide wiesen das ge-netische Merkmal für Mukoviszidose auf. Ich denke, eswäre schlimm, wenn wir uns an der genetischen Ausstat-tung des Menschen orientieren würden.
Meine Damen und Herren, die F.D.P. will mit ihremAntrag die so genannte Präimplantationsdiagnostik recht-lich absichern. Das ist aus zwei Gründen für mich relativunverständlich: Erstens hat der Bundestag die Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“gerade deswegen eingesetzt, um mit Sachverständigensolche Themen eingehend zu beraten. Herr Parr, Sie alsErstunterzeichner des Antrags müssten das eigentlichwissen, denn Sie sind ja selbst Mitglied der Enquete-Kommission. Deshalb müssten Sie eigentlich auch wis-sen, dass wir am 13. November eine öffentliche Exper-tenanhörung zu eben diesem Thema durchführen werden.Der zweite Grund, warum ich diesen Antrag nicht ver-stehen kann, ist: Die PID ist geregelt, nämlich im Em-bryonenschutzgesetz, und nach diesem Gesetz ist sieverboten.
Nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 des Embryonenschutzgesetzes dür-fen Eizellen nur befruchtet werden, um eine Schwanger-schaft herbeizuführen. Darüber hinaus verbietet § 2 Abs. 1,dass ein außerhalb des Mutterleibs gezeugter Embryo zueinem nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck verwen-det wird.Wir sollten es also klar und deutlich benennen: Die PIDdient nicht dem Lebenserhalt des Embryos, sondern derSelektion erbkranken Nachwuchses. Die F.D.P. spricht inihrem Antrag mit dankenswerter Klarheit – ich bitte da-rum, sich diese Wörter besonders vor Augen zu führen –von „Aussonderung genetisch geschädigter Embryonen“und deren „Verwerfung“. Dies ist – ich kann es nicht an-ders nennen – Eugenik.Es geht auch nicht darum, eine Schwangerschaft her-beizuführen, was § 1 Abs. 1 Nr. 2 des Embryonenschutz-gesetzes als Voraussetzung nennt. Die betroffenen Paaresind vielmehr sehr wohl in der Lage, Kinder zu bekom-men; sie wissen nur nicht, ob diese möglicherweise gene-tische Merkmale aufweisen, die ihren Ansprüchen nichtentsprechen. Es geht also nicht um die Überwindung derSterilität, sondern es geht darum, Selektion zu betreiben.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Dr. Carola Reimann12264
Das ist der einzige Sinn der PID.Geradezu naiv ist es, wenn die F.D.P. glaubt, die PIDwürde nur mit Blick auf schwere genetische Schädenangewandt. Die Pränataldiagnostik – einige Beispielewurden schon genannt – hat gezeigt, dass das nicht funk-tioniert. Die neueste Technikfolgenabschätzungsstudiebelegt die ungeheuerliche Erhöhung etwa der Zahl derFruchtwasseranalysen bei einem gleichzeitig relativenRückgang der Zahl der Beratungen.Frau Dr. Reimann, es gibt – das steht im Gegensatz zudem, was Sie gerade behauptet haben – keine eugenischeIndikation. Es wurde immer gesagt, die Behinderung ei-nes ungeborenen Kindes reicht als Grund für dessen Tö-tung nicht aus.
Wenn es sich anders verhalten sollte, dann müssen wir unsdarüber Gedanken machen, ob es richtig ist, dass im Rah-men der Pränataldiagnostik alles gemacht werden darf.Ich möchte auf die Technikfolgenabschätzungsstudievon 1992/93 zurückkommen. Im Rahmen dieser Studiewurden 1 157 Schwangere an der Uniklinik Münster ge-fragt, was sie tun würden, wenn ihr ungeborenes Kindgenetisch zur Fettleibigkeit – es geht also nur um Fettlei-bigkeit – neigt. 18,9 Prozent der Befragten haben gesagt:In diesem Fall würde ich mein Kind abtreiben. Ich denke,das zeigt, dass wir die PID nicht in den Griff bekommenkönnen.Im Ausland wird die PID schon zur Geschlechtswahleingesetzt. Wer das falsche Geschlecht hat, der wird schonim Reagenzglas abgetötet. Deshalb ist auch die Argumen-tation der F.D.P. nicht richtig, die lautet: Wir müssen diePID anwenden, weil sie auch im Ausland angewendetwird. Wenn wir dieser Argumentation folgen, dann müs-sen wir wirklich alles zulassen und dann können wir unsnur noch auf das niedrigste moralische Niveau einigen,das von dem Staat bestimmt wird, der das meiste zulässt.Wir sollten gerade aufgrund unserer Geschichte davor ge-warnt sein, nicht alles zu machen, was technisch möglichist.Wie weit die PID gehen könnte, wird in einem Inter-view der „Welt“ mit Professor Diedrich vom 8.März 2000deutlich – ich zitiere –:Die Welt: Der Embryo kann aber auch wie seine El-tern nur Überträger eines Erbleidens sein. Soll erdann leben oder sterben?Diedrich: Ich würde dazu raten, den Embryo in dieGebärmutter zu transferieren. Aber die Entscheidungmüssen die Eltern treffen.Professor Diedrich – das muss man wissen – gehört zu denAutoren des Richtlinienentwurfs der Bundesärztekam-mer. Er will natürlich selber die Methode der PID in Lü-beck anwenden. Er vermittelt schon jetzt Patienten insAusland. Aber was bedeutet seine Aussage? Sie bedeutet,dass ein Embryo getötet werden kann, nicht weil er selbsteine Krankheit bekommt, sondern weil – mit einer ganzgeringen Wahrscheinlichkeit – die nächste Generation,also das Kind des Embryos, erkranken könnte. Damitwürde man die Eugenik auf die zweite Generation aus-dehnen. Das zeigt meiner Meinung nach die Gefahr auf,wie weit die PID gehen kann.Ich habe schon eben gefragt: Warum reden wir nichtüber die Alternativen, etwa über die Polkörperdiagnose?Das war auch ein Thema in unserer Arbeitsgruppe der En-quete „Fremdsamenspende“. Wenn man über diesesThema spricht, dann muss man bedenken, dass es auch dieAlternative der Adoption und auch den Verzicht auf Kin-der gibt. Wir müssen auch den Mut haben zu sagen: Esgibt keinen Rechtsanspruch auf ein Kind ohne Erbkrank-heiten. Das Kind hat einen Anspruch, weil es ein Menschist. Zu einer solchen Aussage sollten wir uns durchringen.Meine Redezeit ist leider zu Ende. Deshalb möchte ichdie F.D.P. zum Schluss auffordern: Ziehen Sie Ihren An-trag zurück; warten Sie die Ergebnisse der Enquete ab;öffnen Sie nicht unüberlegt Tore, die wir hinterher nichtmehr schließen können!Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Ilja Seifert von der
PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Wer die Präimplantationsdiagnostik rechtlichabsichern will, der will sie zulassen. Das kann der einzigeZweck Ihres Antrages sein. Von offener Debatte, HerrParr, kann nicht die Rede sein. Sie wollen ein ganz be-stimmtes Ziel erreichen und ich kann im Namen der PDSsagen: Wir wollen dieses Ziel nicht,
und zwar – viele Gründe sind hier schon genannt wor-den – aus ganz klaren ethischen Gründen. Der Standort-grund, den Sie genannt haben, dass angeblich alle ringsum Deutschland herum das machen würden und nur wirarmen, verhungerten Deutschen würden das nicht kön-nen, kann wirklich nicht das ausschlaggebende Argumentsein. Es tut mir Leid.Die ethischen Gründe, weshalb wir das nicht wollen,sind klar benennbar: Die Präimplantationsdiagnostik istdas Einfallstor für das Kind nach Wunsch. Das Kind wirddann in Zukunft nicht mehr nur danach ausgesucht wer-den, ob es ein Junge oder ein Mädchen, ob es blauäugigoder braunäugig wird. Vielmehr können wir dann auchGenerale oder Models und eines Tages vielleicht auchDreibeinige oder Siebenbeinige – ich weiß nicht, was ge-rade praktischer ist – auf Wunsch bestellen. Es tut mirLeid, Designermenschen will die PDS nicht.
– Nein, das ist nicht unglaublich,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Hubert Hüppe12265
– ich habe sehr gut zugehört –, das ist die Logik, die in derEntwicklung dieser Technologie steckt.
Auch wenn Sie noch so enge Kriterien anlegen wollen:Wenn Sie es erlauben, muss die gesamte Technik hervor-gebracht werden; es müssen die Menschen ausgebildetwerden, die das können; es müssen die Apparate herge-stellt werden, die man dazu braucht; es muss die Logistikhergestellt werden, die man dazu braucht; und mit dieserLogistik, mit diesen Menschen, mit diesen Apparatenkann ich dann auch all das machen, wovon ich gerade alsHorrorvision gesprochen habe. Ich möchte, dass dieseHorrorvision nie Wirklichkeit wird, und ich möchte auch,dass die Voraussetzungen dafür überhaupt nicht geschaf-fen werden.Meine Damen und Herren, wenn Sie von Standortlogikreden, dann reden Sie bitte von einer Standortlogik, diemenschlich ist und die nicht nur dem Gewinn einigerPharmakonzerne, einiger Gerätehersteller und einigenwenigen Wissenschaftlern dient, die Lorbeeren erntenund vielleicht den Nobelpreis bekommen, dafür aber dieMenschheit umweltresistent machen. Es tut mir Leid, ma-chen Sie die Umwelt resistent, aber nicht die Menschenumweltresistent.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Professor
Edzard Schmidt-Jortzig von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Vielen Dank.
Ich hatte mich an sich schon beim Kollegen Hüppe ge-
meldet, aber im Grund geht das, was ich sagen will, auch
an Ihre Adresse, lieber Kollege Seifert.
Ich glaube, Sie missverstehen unseren Antrag. Es geht
nämlich darum, für dieses hochproblematische Feld klare
Regelungen einzufordern. Es ist natürlich sehr ehrenvoll,
aus der geltenden Rechtslage heraus zu sehen: Es ist alles
verboten, also findet es nicht statt. Das Gegenteil ist aber
der Fall. Sie wissen wie ich, dass man über die Regelun-
gen im Embryonenschutzgesetz anderer Meinung sein
kann und dass zumindest der Verdacht besteht, dass auch
in Deutschland schon PID betrieben wird. Sie kennen die
Presseerklärung, in der die Vermutung geäußert wird, dass
auch bei uns in Deutschland eine hohe Zahl von künstlich
erzeugten Embryonen existiert. Wie anders könnten sie
entstanden und implantiert sein, wenn man nicht doch an
dem Embryonenschutzgesetz herumhantieren könnte?
Also, ich bitte doch darum, unseren Antrag ernst zu
nehmen und zu erkennen, dass wir auf einer verlässlichen
Rechtsgrundlage bestehen wollen, dass die Ergebnisof-
fenheit das Entscheidende bei diesem Antrag ist und noch
nicht festgestellt wird, wie es laufen sollte.
Ich finde es eigentlich auch nicht gut, obwohl ich dafür
Verständnis habe, dass Sie beklagen, man werde hier der
Enquete-Kommission irgendetwas vorwegnehmen, weil
jetzt gerade – das ist ja richtig – die Expertenanhörung
dazu stattfinde. Aber bei Ihnen habe ich den Eindruck,
dass Sie schon vor der Expertenanhörung und vor dieser
Diskussion ganz genau wissen, wohin es gehen soll. Das
mag ja sein, aber dann werfen Sie bitte anderen nicht vor,
dass das bei denen möglicherweise anders ist. Ich sage Ih-
nen ausdrücklich: Es besteht Ergebnisoffenheit; nur, wir
wollen eine definierte Regelung dafür. Die brauchen wir,
gerade wenn diese Entwicklungen tatsächlich so gefähr-
lich sind, wie sie sich darstellen.
Herr Kol-
lege Hüppe, bitte.
Herr Kollege Professor
Schmidt-Jortzig, man braucht schon sehr viel Fantasie,
um den Antrag so auszulegen, dass die F.D.P. möglicher-
weise auch zu dem Ergebnis kommen könne, die PID
nicht zuzulassen.
Wenn man die Rede von Herrn Parr – darauf habe ich
mich ja bezogen – gehört hat, weiß man, dass er gesagt
hat: Wir wollen das, was Paare im Ausland tun, auch deut-
schen Paaren hier in Deutschland ermöglichen. Man sollte
doch schon ehrlich sagen, worum es geht.
Herr Schmidt-Jortzig, Sie waren bei der Beratung am
Montag anwesend, auf der wir dies besprochen haben.
Die beiden Sachverständigen sagten dort, dass die PID
nach der jetzigen Regelung des Embryonenschutzgeset-
zes verboten sei. Nehmen Sie das doch zur Kenntnis!
In der Tat – das ist ja das Schlimme – gibt es die Ver-
mutung, dass es schon heute überzählige Embryonen in
Deutschland gibt. Das weiß aber niemand offiziell. Nie-
mand sagt es. Es gab dazu eine Anfrage des Kollegen
Kauder von der CDU/CSU, aber auch die Bundesregie-
rung konnte nicht sagen, wie viele Embryonen es hier
gibt.
Lassen Sie uns doch darüber sprechen, wie wir den
Missbrauch – darüber, dass es Missbrauch ist, sind wir
uns doch einig – in den Griff bekommen. Wie können wir
diejenigen, die Gesetze brechen – denn es verstößt gegen
das Embryonenschutzgesetz –, strafrechtlich besser ver-
folgen? Lassen wir uns doch nicht dazu hinreißen zu sa-
gen: Weil es einige missbrauchen, müssen wir es jetzt für
alle zulassen. – Das kann nicht richtig sein; denn es gibt
keine Gleichheit im Unrecht, sondern wir müssen das Un-
recht bekämpfen, damit die, die sich vernünftig verhalten
und das Embryonenschutzgesetz richtig anwenden, nicht
denen gegenüber benachteiligt werden, die nur Geschäfte
machen und die sogar mit menschlichem Leben Ge-
schäfte machen.
Kollege
Seifert, bitte.
Herr Kollege Schmidt-Jortzig,ich bin Ihnen ja dankbar für Ihre Intervention und es tut
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Dr. Ilja Seifert12266
mir wirklich Leid, aber ich habe keinen Anlass, die Er-gebnisoffenheit Ihres Antrages zu erkennen. Darin steht –ich kann es gern zitieren –:Insbesondere ist die Möglichkeit zu würdigen, mit-hilfe der Präimplantationsdiagnostik zum frühest-möglichen Zeitpunkt schwerste genetische Schädi-gungen ... zu verhüten.Das heißt, Sie gehen erst einmal davon aus, dass es zuge-lassen wird, und sagen dann, was damit gemacht wird.Sagen Sie bitte einmal: Was ist denn eine „schwerstegenetische Schädigung“? Wir haben bei der letzten An-hörung der Enquete-Kommission gehört, dass sich diestatistische Lebenserwartung von Menschen, die Muko-viszidose haben, immer weiter erhöht. Wir haben vonMenschen gehört, die schon ihr Leben lang mit so ge-nannten schwersten genetischen Schädigungen leben, unddass es unter Umständen andere Krankheiten gibt, die sieeben wegen dieser Schädigungen nicht bekommen.Das, was Sie schwerste genetische Schädigungen nen-nen, ist Teil des Menschseins, wenn man die Menschheitnicht auf eine Norm reduzieren will. Allein diese Wort-wahl zeigt, dass es bei Ihnen überhaupt nicht um eineergebnisoffene Diskussion geht. Ich habe kein Hehl da-raus gemacht, dass mein Ergebnis feststeht; das ist wahr,dafür schäme ich mich auch nicht. Ich bin dafür, be-stimmte Dinge nicht zu tun, weil sie nicht mehr zurück-zuholen sind, wenn sie einmal in der Welt sind, und weildie Gefahren, die davon ausgehen, mindestens so großsind wie die, die von der Atombombe ausgehen. Das willich nicht und das will die PDS nicht.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Annette Widmann-
Mauz von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Klage da-
rüber, dass wir ungefragt ins Leben geworfen werden, ist
gewiss nicht neu. Sie bekommt aber einen neuen Adres-
saten. Mit der Präimplantationsdiagnostik stehen wir im
Begriff, Hand an uns zu legen. Der Mensch als Züchter
seiner selbst? Homo faber – Fluch oder Segen?
Statt es dem Zufall der Natur zu überlassen, bestimmt
immer häufiger wissenschaftliche Präzision den berech-
tigten Kinderwunsch vieler Eltern. Im Reagenzglas ge-
zeugte Embryonen sind dabei nicht nur eine Hoffnung für
unfruchtbare Paare, sondern jetzt auch für Paare mit ho-
hem genetischen Risikofaktor. Ich bin mir der leidvollen
Erfahrung von Eltern bewusst, die nach vielen Jahren der
seelischen Belastung durch PID endlich Hoffnung auf ein
gesundes Kind haben.
Aber es gibt auch Eltern, die das „qualitativ hochwer-
tige“ Kind wollen. Erste Erfahrungen im Ausland, insbe-
sondere in den USA, zeigen, dass PID nicht nur bei erb-
kranken Menschen, sondern mittlerweile auch zum
Menschendesign eingesetzt wird. Wunschbabys aus dem
Internet. Kalifornische In-Vitro-Labors machen das heute
schon möglich. Die Eltern kreuzen ihre Optionen an: eu-
roamerikanisch, asiatisch oder afrikanisch, intelligent und
natürlich wohlgeformt – alles nur eine Sache des Preises.
Mir geht es hier aber nicht um Designerbabys. Ich glaube,
wir sind uns in diesem Hohen Hause einig, dass wir alle
keine Menschenzüchtung wollen; das dürfen und das wer-
den wir nicht zulassen. Genau darum geht es ja auch der
F.D.P. in ihrem Antrag.
Aber wir haben eine klare rechtliche Einordnung der
PID. Sie ist nach unserem Embryonenschutzgesetz nicht
zulässig. Die Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P.
müssen sich schon sagen lassen, dass sie mit diesem An-
trag den zweiten Schritt vor dem ersten machen. Bevor ein
Fortpflanzungsmedizingesetz beraten wird, müssen wir
zunächst einmal klären, ob wir eine Zulassung der PID
überhaupt wollen, und wenn ja, inwieweit und unter wel-
chen Bedingungen. Die Frage, die sich mir dabei ganz
grundsätzlich stellt und die wir zunächst beantworten
müssen, lautet: Kann es ein Recht auf gesunde Kinder ge-
ben?
In Deutschland gibt es bisher keine breite gesellschaft-
liche Diskussion über PID. Die heutige Debatte ist ein An-
fang, aber mehr auch nicht. Noch zu viele Fragen und Wi-
dersprüche stehen im Raum. Genau deshalb haben wir ja
auch die Enquete-Kommission zu diesem Thema einge-
richtet.
Ist es nicht widersprüchlich, einen künstlich gezeugten
Embryo bis zu seiner Implantation strikt zu schützen, ihn
dann aber im weiteren Verlauf der Schwangerschaft auf-
grund des § 218 Abs. 2 Strafgesetzbuch praktisch schutz-
los zu machen?
Bis zu einem sehr späten Zeitpunkt kann ein Fötus ab-
getrieben werden, wenn nach einer pränatalen Diagnostik
Risiken zu erwarten sind. Die Tatsache, dass derselbe Em-
bryo auf diese Weise im Reagenzglas höheren Schutz als
später im Mutterleib genießt, lässt sich kaum bestreiten.
Andererseits besteht zugleich ein Unterschied. Die PND
hat eine lebenserhaltende Funktion. Sie hat das Ziel,
Schädigungen von Mutter und Kind zu vermeiden. Die
PID indes will Kinder mit Schädigungen vermeiden. Sie
bewirkt Selektion. Eine ethische Gleichsetzung fällt da
schwer.
Frau Kol-
legin Widmann-Mauz, lassen Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Knoche zu?
Ja.
Bitte
schön, Frau Kollegin Knoche.
Frau Kollegin Widmann-Mauz, Sie haben in Ihren Darle-gungen etwas angesprochen, was in der öffentlichen
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Dr. Ilja Seifert12267
Diskussion – erstaunlicherweise insbesondere durch dieÄrzteschaft – transportiert wird, dass nämlich ein direkterZusammenhang zwischen dem Dienstleistungsangebotder Ärzteschaft, eine Präimplantationsdiagnostik durch-zuführen, und dem § 218 StGB hergestellt wird. Sind Siemit mir der Meinung, dass es nach dem gültigen § 218StGB im Grunde keinen geschützteren Ort für einen Em-bryo als den Mutterleib gibt und dass es darüber hinauseine völlig andere Sache ist, ob eine Frau mit dem Wissenum die genetische Beschaffenheit ihres noch nicht gebo-renen Kindes einen existenziellen Schwangerschaftskon-flikt erlebt und sich dann entscheidet, ob sie ein Kind aus-tragen kann oder nicht? Es gibt also ein völlig anderesKonflikt- und strafrechtliches Behandlungsfeld in Zu-sammenhang mit § 218 StGB als bei der Tatsache, dassein in der Petrischale existierender Embryo auf einen fik-tiven Wunsch hin getestet und vielleicht verworfen wird.
Frau Knoche,
ich kann Ihnen zustimmen, dass es in der Frage der Aus-
legung des § 218 StGB einen direkten Zusammenhang
und eine vergleichbare Beurteilung des Lebens im Rea-
genzglas und des Lebens im Mutterleib so nicht gibt. Für
viele betroffene Eltern stellt sich die rechtliche Einord-
nung, die für uns auch die ethische Grundlage ist, nicht in
dem Maße. Sie haben den berechtigten Wunsch, ein ge-
sundes Kind zu bekommen. Ich denke, ich habe in meinen
Ausführungen deutlich gemacht, dass der berechtigte
Wunsch noch nicht das Recht auf ein gesundes Kind und
damit die Selektion anderer Kinder, die dann nur zum
Zwecke der Aussonderung auf die Welt gekommen
wären, bedeuten kann.
Deshalb glaube ich, dass es wichtig ist, dass wir die
Ängste und Sorgen der betroffenen Eltern sehr ernst neh-
men, aber auch deutlich machen, dass es ein Unterschied
ist, ob ein Kind schon entstanden ist und man nun die
Sorge hat, ob es gesund zur Welt kommt, oder ob man von
vornherein den Wunsch hat, lediglich ein gesundes Kind
zur Welt zu bringen. Ich denke, dass das klar ist und dass
wir an dieser Stelle übereinstimmen.
Die guten Absichten der Bundesärztekammer, den Ein-
satz der PID auf Paare mit hohem genetischen Risikofak-
tor beschränken zu können, sind Wunschdenken. Das se-
hen im Übrigen viele Mitglieder der Bundesärztekammer
ähnlich. Die Spirale des technisch Machbaren wird sich
weiter drehen. Stärker noch als bei der PND wird der
Druck auf betroffene Paare immer größer. Die Büchse der
Pandora droht dabei weiter geöffnet zu werden.
Die Hemmschwelle, sich gegen ein behindertes Kind
zu entscheiden, ist sicherlich geringer – dies zeigen auch
Interviews der letzten Tage –, wenn der Embryo sozusa-
gen „nur“ im Reagenzglas und noch nicht im Körper der
Frau existiert. Müssen wir aber nicht die Sorge haben,
dass mit den Behinderungen auch Behinderte abgeschafft
werden sollen? Kann es der Gesellschaft gelingen, präna-
tale Selektion zu betreiben und gleichzeitig Behinderten
postnatale Solidarität zu garantieren?
Allein anhand dieser zwei Fragen wird deutlich, wie
vielschichtig und sensibel die Diskussion ist. Die Gesell-
schaft – das heißt wir alle – muss sich ganz grundsätzlich
darüber verständigen, ob das Verbot der PID im Embryo-
nenschutzgesetz weiterhin Bestand haben soll. Bevor wir
diesen Schritt nicht getan haben, macht auch der Antrag
der F.D.P. keinen Sinn.
Als letzte
Rednerin hat für die Bundesregierung die Parlamentari-
sche Staatssekretärin Christa Nickels das Wort.
C
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Es ist schon sehr verwunderlich,dass die F.D.P. mit ihrem Antrag heute das Thema„Präimplantationsdiagnostik“ auf die Tagesordnung desParlamentes setzt. Ich teile ausdrücklich die Meinung, dieSie, Frau Widmann-Mauz, gerade dargelegt haben. DieGründe sind absolut einleuchtend; darum wundert michdas Verhalten der F.D.P. sehr.Es ist das gute Recht der Opposition, die Regierungzum Handeln aufzufordern. Aber ich kann nicht nach-vollziehen, warum sie sich dazu Themen aussucht, dieexistenzielle Fragen berühren und an denen – das möchteich betonen – die Regierung schon längst und mit großerSorgfalt arbeitet.Wie jeder weiß, befand sich das Bundesministeriumfür Gesundheit zusammen mit anderen Ressorts in einemsechsmonatigen intensiven Vorbereitungsprozess, um imMai einen dreitägigen großen Kongress zur Fortpflan-zungsmedizin durchführen zu können. Wir hatten über600 Teilnehmer aller Disziplinen und Fachrichtungen so-wie – was uns sehr wichtig war – der gesellschaftlichenVerbände und der Betroffenen. Man redet ja immer davon,man wolle Leid vermeiden. Wir haben den Behindertendort ausdrücklich die Möglichkeit gegeben, sich mitihrem Sachverstand und ihrer Erfahrung einzubringen.Dieser Kongress hat in der Fachwelt und bei all denen,die an diesem Thema politisch interessiert sind – das sindnatürlich in besonderer Weise die behinderten Men-schen –, in hohem Maße Aufmerksamkeit erzeugt. Ichglaube – das ist hier parteiübergreifend gesagt worden –,dass wir mit diesem Kongress eine neue Qualität der De-batte um die Fortpflanzungsmedizin in Deutschland er-reicht haben, und zwar auf dem aktuellen Stand.Am Ende der Veranstaltung war klar – das ging auchschon seit 1994 aus der Tatsache hervor, dass Kompeten-zen, die der Bund im Bereich der Fortpflanzungsmedizinbis dahin nicht hatte, dem Bund grundgesetzlich zu-geschrieben worden sind, wir also auch bestimmte, bishernicht geregelte Bereiche regeln mussten –, dass es einenBedarf an neuen gesetzlichen Regelungen im Bereich derFortpflanzungsmedizin gibt und wir daran arbeiten müs-sen.Seither werden im Ministerium die Vorbereitungen fürden Gesetzgebungsprozess getroffen, und auch in dervom Bundestag eingesetzten Enquete-Kommission – da-rum, Herr Parr, ist das, was Sie sagen, nicht richtig, dass
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Monika Knoche12268
dieses Thema mit Ihrem doch sehr bescheidenen kleinenAntrag hier im Parlament zum ersten Mal auf die Tages-ordnung gesetzt wird – wird in einer äußerst soliden De-batte, intensiv und mit einem Arbeitsprogramm, das auchwirklich detailliert abgesprochen, hoch kompetent ausge-legt ist und nicht an Effekthaschereien anknüpft, die die-ses Thema nicht verträgt, über diese Probleme diskutiert.
Frau Kol-
legin Nickels, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Schmidt-Jortzig?
C
Ja, bitte schön.
Bitte
schön, Herr Schmidt-Jortzig.
Ich habe nur
eine ganz kleine und schlichte Frage. Wenn das alles so
des Teufels ist, warum arbeitet das Ministerium an einem
Gesetzentwurf zur Fortpflanzungsmedizin?
C
Lieber Herr KollegeSchmidt-Jortzig, ich weiß nicht, ob Sie mir richtig zu-gehört haben. Ich habe überhaupt nicht erklärt, dass dasalles des Teufels sei. Das wäre auch völliger Unsinn.
Das können Sie weder aus meiner Rede, noch aus meinerArbeit, die ich bisher im Ministerium geleistet habe, nochaus der Arbeit des Ministeriums ableiten. Ich habe darge-legt, wie intensiv, gründlich und mit der Enquete-Kom-mission abgestimmt, wir arbeiten. Ich habe weiter darge-legt, dass aufgrund dieses rasanten Fortschrittes, der auchviele Bereiche ungeregelt lässt, und durch die neuenKompetenzen, die der Bund seit 1994 hat, bestimmte Be-reiche neu geregelt werden müssen. Das, was Sie mit Ih-rer Frage ausgedrückt haben, können Sie aus dem, was ichgerade gesagt habe, überhaupt nicht ableiten. Ich würdeSie auch bitten, meine Rede einmal nachzulesen.
Richtig ist: Wir wollen weiterhin in aller Sorgfalt ander Lösung der Probleme arbeiten. Wir bereiten im Mi-nisterium diese notwendigen Regelungen vor und – ichsagte es schon – wir versuchen das auch mit der Enquete-Kommission abzustimmen, weil es eben ein sehr wichti-ges Thema ist.Mit diesen Regelungserfordernissen sind schwierigsterechtliche, ethische und gesellschaftspolitische Fragestel-lungen verbunden. Darum ist das übliche Verfahren – dieRegierung macht einen Gesetzentwurf, den dann dieMehrheit nach Debatte und Beratung in den Ausschüssenund mit eventuellen Ergänzungen im Bundestag be-schließt – hier für uns ausgeschlossen. Wir im Gesund-heitsministerium halten das Thema für so außerordentlichwichtig, dass wir eine breite Debatte über die Fraktions-grenzen hinweg für notwendig erachten – ähnlich wie dasauch im Bereich der Organtransplantation geschehen ist.
Bundesministerin Andrea Fischer hat genau aus die-sem Grund bereits am 30. Juni dieses Jahres – liebe Kol-legen von der F.D.P., ich würde Sie bitten, sich das einmalzu merken und in Ihrer Fraktion nachzufragen – allenFraktionen des Deutschen Bundestages angeboten, einenGedankenaustausch über die weitere Vorgehensweise beidiesem Gesetz zu führen. Eine Reaktion vonseiten derOpposition steht aber bis heute noch aus. Lediglich diePDS hat sich positiv zu diesem Anliegen geäußert. Dage-gen hat die Ministerin vonseiten der Union oder von derF.D.P. keine Antwort zu diesem wichtigen Thema erhal-ten. Es wundert mich sehr, dass Sie auf dieses Angebotüberhaupt nicht eingehen, aber dann hier mit einem wirk-lich bescheidenen Antrag vorpreschen und auch noch be-haupten – völlig zu Unrecht –, sie seien diejenigen, diediese Debatte initiierten. Ich finde, bestimmte Bereichesollten von parteipolitischem Kalkül einfach verschontbleiben.
Es ist schon sehr viel zum Inhalt des Antrages gesagtworden. Ich will das nicht wiederholen. Sie, Herr Parr, ha-ben auf eine entsprechende Frage von Herrn KollegenHüppe als Beispiel für eine Präimplantationsdiagnose dieMukoviszidose genannt. Ich verstehe nicht, dass Sie dasals Beispiel nehmen. Ich finde, dass der Herr KollegeSeifert Recht hat. Sonst ist gerade die F.D.P. immer dieje-nige Fraktion, die sehr stark auf die Möglichkeiten desmedizinischen und technischen Fortschritts verweist.Herr Kollege Seifert hat Recht: Gerade im Bereich derMukoviszidose hat die Medizin erfreulicherweise er-staunliche Fortschritte erzielt, um die Folgen dieser Er-krankung zu lindern und das Leben für die Betroffenen le-benswert zu machen.
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die nicht bereit sind, zum Beispiel durch barrierefreiesBauen dafür Sorge zu tragen, dass wir trotz bestimmterEinschränkungen am Leben teilhaben können. Meine Er-krankung nimmt mir nicht die Möglichkeiten zur Le-bensfreude und zur Teilhabe, sondern die Ignoranz, diein der Gesellschaft noch immer vorherrscht. – DieseWorte waren sehr eindrucksvoll. Mit diesem Beispielwollte ich die Problematik, um die es hier geht, verdeut-lichen.Herr Kollege Parr, Sie haben gesagt, dass Sie nicht ver-stehen, warum sich die Bundesrepublik Deutschland aufdiesem Gebiet so schwer tut, und haben gefragt, warumwir diese Sonderregelung brauchen. Dazu möchte ich Fol-gendes sagen: Es gab in Deutschland zwölf schrecklicheJahre. Es ist ein positives Ergebnis, dass wir folgendeLehre aus der Geschichte gezogen haben: Wenn es umgrundsätzliche Fragen der Menschenwürde und umgrundlegende ethische Fragen geht, dann sind wir glück-licherweise sehr vorsichtig und besonnen. Dieses Erbesollten wir nicht verspielen, sondern nutzen. Parlamentund Ministerium stehen in diesem Punkt in gutem Gleich-klang.Danke schön.
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4098 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung soll
abweichend von der Tagesordnung beim Ausschuss für
Gesundheit liegen. Sind Sie damit einverstanden? – Das
ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 sowie den Zu-
satzpunkt 12 auf:
14. Beratung des Antrags Dr. Norbert Lammert, Dirk
Fischer , Dr.-Ing. Dietmar Kansy, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses
– Drucksache 14/3673 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Pau,
Heinrich Fink, Roland Claus und der Fraktion der
PDS
Arbeitsweise der Expertenkommission His-
torische Mitte
– Drucksache 14/4402 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Vertreter
der Fraktionen SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen
und F.D.P. wollen ihre Reden zu Protokoll geben.1) Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Ich eröffne die Aussprache und rufe den Redner der
PDS-Fraktion, Herrn Professor Dr. Heinrich Fink, auf.
Ihm stehen allerdings aufgrund der Vereinbarung nur drei
Minuten Redezeit zur Verfügung.
Sehr verehrter Herr Präsi-dent! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn wirheute zum wiederholten Male über das Areal des heutigenSchlossplatzes sprechen, so deshalb, weil es einen bekla-genswerten Grund dafür gibt: Der Schlossplatz ist heutedie architektonische Wunde im Herzen Berlins. Gleichdreifach war die Bebauung dieses Platzes im abgelaufe-nen Jahrhundert in das Räderwerk von Geschichte, Poli-tik und Ideologie geraten wie wohl keine andere in dieserStadt: zum ersten Mal, als vom Stadtschloss gegen Endedes von Hitlerdeutschland entfesselten Weltkrieges sym-bolhaft nur eine Ruine blieb – die Ruine hätte man aller-dings aufbauen können –; zum zweiten Mal, als man inder DDR gegen den Wiederaufbau der Schlossruine ent-schied und später den Palast der Republik errichtete;zum dritten Mal, als die heute Regierenden diesen Platzmit dem Palast wohl nicht ganz ohne Absicht durchUntätigkeit zum Schandfleck verkommen ließen.So beklagenswert jede der erwähnten Zäsuren in derGeschichte des Schlossplatzes im Nachhinein sein mag,so wenig Verständnis kann ich für die nunmehr zehn-jährige Verweigerung seiner Neugestaltung aufbringen.Die PDS erwartet daher als vordringlichste Aufgabe, dassdie schon so lange angekündigte Expertenkommissionnun endlich zusammentritt und mit ihrer Arbeit beginnt.
Damit dies in konstruktiver Weise geschieht, sollte sienicht mit Vorgaben belastet werden, die ihr die Erkennt-nisfreiheit zur Lösung der Frage von Palast und/oderSchloss schon von vornherein beschneiden.Ich erwähne den Palast, weil im Antrag der CDU da-von sicherlich ganz bewusst keine Rede mehr ist. Wennich mich für die Entscheidungsfreiheit der Kommissionausgesprochen habe, so beziehe ich mich auf die schluss-endliche bauliche Substanz auf dem Schlossplatz und aufihre Kubatur. Unabhängig von der letztendlichen archi-tektonischen Lösung sollte aus Sicht der PDS die funk-tionelle Bestimmung des Schlossplatzareals ein Ziel ha-ben: Es sollte als Teil des Dreiecks Regierungsvier-tel – Potsdamer Platz – Historische Mitte der öffentlichen
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Parl. Staatssekretärin Christa Nickels12270
1) Anlage 5Nutzung vorbehalten bleiben, und zwar nicht teilweise,nicht maßgeblich, sondern in seiner Gesamtheit.
Das war schon einmal so: Berlins Mitte wurde von sei-nen Bürgern und ihren Gästen angenommen und verlangtnach der Wiedervereinigung geradezu danach, es wiederzu werden. In diesem Sinne ist auch das Anliegen enga-gierter Bürger wie der Initiative „Pro Palast“ zu verstehen,zu der sich Menschen aus Ost und West vereinigt habenund die für eine Zugangsmöglichkeit für alle Bürger, wiesie auch beim Palast der Republik gegeben war, streitet.Der Möglichkeiten und der bemerkenswerten Vor-schläge, wie der Schlossplatz für die Öffentlichkeit zu-rückgewonnen werden kann, gibt es inzwischen viele. Obdie außereuropäische Sammlung der Stiftung Preußi-scher Kulturbesitz, ob eine Bibliothek, ob das Haus derKulturen der Welt: Sie alle und noch andere könnten demPlatz im besten Sinne neues, wirkliches Leben verleihen.Ich möchte, wie schon in unserem vorliegenden Antragzum Ausdruck kommt, die Erwartung ausdrücken, dassdie Expertenkommission so unabhängig und – um nicht indas Getriebe künftiger Wahlkämpfe zu geraten – auch soschnell wie möglich zu einem Ergebnis kommt.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/3673 und 14/4402 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses zu dem
Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Rosel
Neuhäuser, Petra Pau und der Fraktion der PDS
Schaffung der gesetzlichen Voraussetzungen
für die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis für
lange in Deutschland lebende Ausländerinnen
und Ausländer
– Drucksachen 14/2066, 14/2509 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Rüdiger Veit
Meinrad Belle
Marieluise Beck
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses zu dem
Antrag der Abgeordneten Petra Pau, Ulla Jelpke,
Heidemarie Lüth, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS
– Drucksachen 14/26, 14/2979 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Peter Kemper
Erwin Marschewski
Marieluise Beck
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Ulla Jelpke von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Bevor ich auf die beiden Anträge – also den An-trag zur so genannten Altfallregelung als auch den Antragzur Abschaffung des Flughafenverfahrens –, über die wirheute Abend zu später Stunde diskutieren, konkret ein-gehe, möchte ich vorweg betonen, dass wir bezüglich die-ser Inhalte nicht alleine dastehen. Die katholische und dieevangelische Kirche unterstützen diese Anträge in ihrerZielrichtung. Auch Flüchtlingsorganisationen, AmnestyInternational und diverse andere Menschenrechtsorgani-sationen haben sich über Jahre hinweg dafür eingesetzt.Worum geht es in unseren Anträgen? Zunächst zurso genannten Altfallregelung. Hierbei geht es um eineGruppe von Menschen, die oft schon seit vielen Jahren inDeutschland leben – nicht selten zehn Jahre und länger –,die hier ihren Lebensmittelpunkt haben und hier arbeiten,deren Kinder hier zur Schule gehen, deren Aufenthalt aberseit vielen Jahren ungeklärt ist.Genau vor einem Jahr wurde die Altfallregelung be-schlossen. Damals wurde von der Bundesregierung pro-gnostiziert, dass dadurch etwa 23 000 Menschen einenaufenthaltsrechtlichen Status bekommen. Wie immergab es lange Debatten nicht nur im Innenausschuss, son-dern auch auf Länderebene. Vor allen Dingen dieCDU/CSU hat dafür gesorgt, dass es sehr regressiveRichtlinien zur Auslegung der so genannten Altfallrege-lung gegeben hat, sodass, wie man heute sagen muss, da-durch nur etwa 14 000 Menschen eine Aufenthaltsgeneh-migung bekommen haben.Was ist der Grund dafür, dass den Menschen hier keinAufenthaltsstatus eingeräumt wird? Häufig haben dieseMenschen keinen gültigen Pass ihres Heimatlandes mehr,da die abgelaufenen Pässe nicht verlängert werden. Des-wegen lehnen es die deutschen Behörden ab, ihnen hiereinen festen Aufenthaltsstatus zu gewähren.Überhaupt nicht verstehen kann ich, warum Men-schen, die vor zehn Jahren oder auch später aus Jugosla-wien zu uns geflohen sind, ganz pauschal von dieser Alt-fallregelung ausgenommen wurden. Sie werden generellnicht berücksichtigt, und zwar mit der Begründung sei-tens der Behörden, dass man sie eigentlich wiederzurückschicken wollte, dass sich aber die jugoslawischenBehörden geweigert haben, sie zurückzunehmen. Ich
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Dr. Heinrich Fink12271
meine, dass man hier wirklich von Menschenrechtsver-letzungen sprechen muss. Es kann einfach nicht angehen,dass Menschen, die so lange in diesem Land leben, keinenaufenthaltsrechtlichen Status bekommen.
Wir haben in dem Antrag aufgeführt, welche Personenunserer Meinung nach hier dringend einen Aufenthalts-status bekommen sollten: Menschen, die länger als fünfJahre hier leben, und Alleinerziehende. Aus zeitlichenGründen kann ich sie nicht alle aufzählen. Wichtig ist mir,dass gerade der Aufenthalt von Menschen, die sich imKirchenasyl befinden, mit denen ich häufig gesprochenhabe und die über Jahre hier illegal leben, legalisiert wer-den muss.Die Flüchtlingsorganisationen schlagen allesamt vor– das steht nicht in unserem Antrag –, § 100 des Auslän-dergesetzes zu einer permanenten Altfallregelung zu ma-chen, sodass die Illegalisierung tatsächlich systematischaufgehoben werden könnte.Zum Schluss möchte ich Sie darauf hinweisen, dass infast allen westeuropäischen Ländern gesetzliche Initia-tiven zur Legalisierung von Illegalen gelaufen sind, inBelgien, in Spanien, in Italien. Dort hat man per GesetzAmnestien festgelegt und diesen Menschen dadurchtatsächlich geholfen. Das ist das Ziel dieses Antrags. Ichmeine, an diesen Ländern sollten wir uns ein Beispiel neh-men, auch wenn ich weiß, dass hier heute beide Anträgeabgelehnt werden.Zum Flughafenverfahren. Das Flughafenverfahren be-schäftigt uns eigentlich seit Jahren. Es ist so, dass dieMenschen dort menschenunwürdig untergebracht sind.Das hat sich bis heute nicht geändert. Sie werden im Rah-men des Flughafenverfahrens wie in einem Gefängnis ge-halten. Wer sich das einmal angeschaut hat, kann über-haupt nicht verstehen, dass unschuldige Menschen, diehierher geflohen sind und deren einziges Verschuldendarin liegt, dass sie um Aufnahme ersuchen und Asylan-träge stellen, unter so unmenschlichen Bedingungen ge-halten werden.
Viele von Ihnen werden jetzt sagen, das sei ja alles eineSache der Freiwilligkeit. In der Tat ist es so. Eigentlichmüssten die Menschen spätestens nach 23 Tagen aus demFlughafenverfahren herausgenommen werden. In diesemSinne kann es also keine Freiwilligkeit geben. Die Alter-native zum Transitverfahren, zum Knast am Flughafen istdas Abschiebegefängnis.Im Flughafenverfahren findet keine Haftprüfung statt.In den Räumen sind die Menschen aufs Engste zusam-mengepfercht. Für mich ist nach wie vor das Schlimmste,dass man dort auch Kinder unterbringt. Der Bundestag hathier vor einiger Zeit zwar beschlossen, dass die Kinder-rechtskonvention endlich unterzeichnet werden soll. DerInnenminister verweigert das aber nach wie vor. So wer-den Kinder immer noch im Rahmen dieses Verfahrensdort festgehalten. Gerade jetzt ist bekannt geworden, dassein 14-jähriger Tamile über längere Zeit dort gewesen ist.Er sollte abgeschoben werden. Es ist zum Glück durch öf-fentlichen Protest gelungen, das zu verhindern.In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinwei-sen, dass auch der UNHCR sehr scharfe Kritik an diesemVerfahren geübt hat, dass Menschenrechtsorganisationenimmer wieder darauf verwiesen haben, dass die Men-schen dort viel zu lange festgehalten werden. Bei einemBesuch, den ich selber dort einmal abgestattet habe, saßenvon 70 Menschen zehn Menschen fast ein Jahr dort, einJahr unter Bedingungen, die schlechter sind als die inGefängnissen hierzulande. Man hat nicht einmal die Mög-lichkeit eines Hofgangs; man ist dort unter schlimmstenBedingungen zusammengepfercht.
Frau Kol-
legin Jelpke, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. – Das
Flughafenverfahren gehört ganz generell abgeschafft.
Es ist menschenunwürdig. Deswegen fordern wir Sie auf:
Nehmen Sie das ernst, was Kirchenorganisationen und
Menschenrechtsorganisationen seit vielen Jahren fordern!
Tun Sie endlich etwas und lehnen Sie diesen Antrag nicht
ab!
Als
nächster Redner hat der Kollege Rüdiger Veit von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Heute Morgen hat meine Fraktionskollegin Hedi Wegeneranlässlich der Debatte zum 50. Jahrestag der Europä-ischen Menschenrechtskonvention darauf hingewiesen,dass es nicht nur ausreicht, an einem solchen Tag Fest-tagsreden zu halten, sondern dass es auch nötig ist, ganzkonkret die Menschenrechtslage vor Ort und vielleichtsogar auch im europäischen Haus zu betrachten. Einkonkretes, in der Bundesrepublik Deutschland ange-wandtes Verfahren, das sie kritisch hinterfragt hatte, istdas Flughafenverfahren. Hier ging es nicht nur um dieUnterbringungssituation – dazu wird der Kollege Hans-Peter Kemper anschließend etwas sagen –, sondern ebenauch um die in meinen Augen unerträglich stark angestie-gene Verweildauer der Asylsuchenden im Unterbrin-gungsgewahrsam.
Ich möchte an der Stelle ausdrücklich sagen, dass dieKoalitionsfraktionen sich darum bemühen werden, diesenZustand möglichst bald nachhaltig und in rechtsstaatlicheinwandfreier Weise zu verändern und hier Abhilfe zuschaffen.
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Ulla Jelpke12272
– Wir sind bemüht; wir werden uns weiter bemühen. JedeZeitform greift hier, Frau Kollegin Beck. Wir müssen abervor allen Dingen zu einem Ergebnis kommen.Ich bitte um Nachsicht, dass ich diesen Vorgriff aufeinen Aspekt des Tagesordnungspunktes, zu dem der Kol-lege Kemper noch sprechen wird, gemacht habe. Aber ichdenke, es gehört am Ende eines solchen Tages dazu, dassman auch einmal auf konkrete Situationen eingeht.Nun zur Frage der Altfallregelung. Es gibt in der Poli-tik ja manchmal auch noch Überraschungen. Ich jeden-falls – das sage ich ganz offen – war sehr überrascht, dassim Zuge der Innenministerkonferenz vom 19. Novem-ber 1999 in Görlitz von den Länderinnenministern inÜbereinstimmung mit dem Bundesinnenminister eineAltfallregelung beschlossen wurde. Auch wenn es daraninhaltliche Kritik geben mag, auf die ich noch eingehenwerde, ist es, wie ich denke, ein Verdienst des Bundesmi-nisters Otto Schily, dass überhaupt eine Altfallregelungzustande gekommen ist; denn die Alternative hierzu wäregewesen, gar nichts zu tun. Deswegen verdient er an die-ser Stelle unsere Anerkennung für seinen Einsatz.
Ich bin dafür durchaus dankbar, auch wenn, wie bei un-seren Debatten im Innenausschuss deutlich geworden ist,alle Fraktionen mit Ausnahme der CDU/CSU – das ver-steht sich; denn diese Partei und ihre Länderinnenministerhaben das bei den Konferenzen immer verhindert – darinübereinstimmen, dass diese Regelungen eigentlich nichtweit genug gehen. Wir alle waren ja auch sehr skeptisch,ob die gefundene Regelung überhaupt nur annähernd soviele Asylsuchende bzw. hier im Verfahren befindlicheAsylbewerber begünstigen könnte, wie dies bei der Alt-fallregelung von 1996 der Fall war, in deren Genuss be-kanntlich etwa 7 800 Personen kamen.Ein weiteres Mal war ich überrascht, als am Anfangdieser Woche im Rahmen der Vorbereitung dieses Tages-ordnungspunktes die Zahlen aus der vorläufigen Statistikder Länderinnenminister bekannt geworden sind. Ent-gegen unseren Befürchtungen wurden immerhin über14 000Menschen begünstigt. Darüber hinaus gibt es nochüber 7 000 Anträge – ich nehme allerdings an, dass es imErgebnis über 10 000 Anträge sein werden –, über die inden Bundesländern noch entschieden werden muss, übri-gens bis zum 31. Dezember dieses Jahres. Hierzu habensich die Innenminister ausdrücklich verpflichtet.Zwischen den einzelnen Bundesländern gibt es aberauch ganz erhebliche Unterschiede. Wen wollte es wun-dern, dass die entsprechenden Ausführungserlasse in Bay-ern und vor allen Dingen im Saarland besonders restriktivausgefallen sind? Damit liegen sie natürlich auch in derPraxis bei der positiven Bescheidung der Anträge weitzurück. Es ist allerdings hervorzuheben, dass das LandNordrhein-Westfalen nach heutigem Stand bereits fast50 Prozent aller Anträge auf Erteilung einer Aufenthalts-befugnis gemäß der Altfallregelung stattgegeben hat.
Ich würde mich freuen, wenn alle so gehandelt hätten wieNordrhein-Westfalen; dann hätten wir weniger Probleme.Aber auch die Zahlen aus Niedersachsen und Rheinland-Pfalz fallen ganz erfreulich aus.Die offenkundig unterschiedliche Behandlung von Alt-fällen in den einzelnen Bundesländern könnte man als zu-sätzliches Argument dafür nehmen, dass eine einheitlichebundesgesetzliche Regelung nötig sei. Eine solche Ände-rung des Ausländergesetzes – das will ich Ihnen ganz of-fen sagen –, für die in der Tat § 100 in Betracht kommenkönnte, scheitert schlicht und ergreifend an der fehlendenZustimmung des Bundesrates. Eine derartige Gesetzesän-derung wäre nämlich zustimmungspflichtig. Bekanntlichhaben die sozialdemokratisch geführten Landesregierun-gen seit der Landtagswahl in Hessen – wer in diesem Saalwürde das mehr bedauern als ich, der ich aus Hessenkomme – dort keine Mehrheit mehr.Sosehr ich es selber bedauere: Wir sollten erkennen,dass wir uns von dieser Vorstellung verabschieden müs-sen.
Allein unsere Kräfte im Bundestag reichen für eine ent-sprechende Gesetzesänderung jedenfalls nicht aus, auchwenn die Anzahl der tatsächlichen Befürworter womög-lich weit größer ist als die in derjenigen Fraktion, die die-sen Antrag eingebracht hat.Der Gedanke, wie wir mit sich in Deutschlandlangjährig aufhaltenden Ausländern, die jetzt und auf ab-sehbare Zeit die Voraussetzungen für eine Einbürgerungnicht erfüllen können, umgehen wollen, bleibt aber aufder Tagesordnung.
– Nicht nur Ihre Fraktion, liebe Frau Jelpke, wird wiedereinen Antrag einbringen, sondern auch weitere Fraktio-nen, und zwar aus anderen Gründen.Wenn wir im Zusammenhang mit der noch zu führen-den Debatte über eine neue Regelung der Zuwanderungdie Personengruppe derjenigen Ausländerinnen und Aus-länder betrachten, die schon lange hier leben und die auf-grund von Voraussetzungen, die sie nicht erfüllen, nichteingebürgert werden können – ihre Kinder sind hier ge-boren und haben ihre Ausbildung hier gemacht –, dannmuss uns doch klar werden, dass es unter demographi-schen Gesichtspunkten keinen Sinn macht, Menschen ausdem Ausland nach Deutschland zu holen – egal, ob ausökonomischen oder aus humanitären Gründen –, währendwir gleichzeitig diejenigen mit Gewalt aus dem Land he-rausdrängen, die schon eine wesentliche Integrationsleis-tung vollbracht haben. Jedem von uns muss einleuchten,dass wir auf diese Frage eine gemeinsame Antwort wer-den finden müssen. Ich hoffe sehr, dass das noch in dieserLegislaturperiode gelingt.Wir brauchen von Ihrem neuen Generalsekretär, LaurenzMeyer – er unterstellt uns, wir wollten das Problem aus-sitzen –, jedenfalls keine Nachhilfe. Wir wollen die Ange-legenheit regeln. Ich füge hinzu: Wir werden auch für
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Rüdiger Veit12273
diejenigen Asylsuchenden, die bereits seit langem hier le-ben und sich einer weitgehenden Integration unterzogenhaben, im Zuge dieser Beratungen eine Lösung findenmüssen. Diese Menschen brauchen Perspektiven. Ichwiederhole: Das Thema bleibt auf der Tagesordnung.
Als
nächster Redner hat der Kollege Erwin Marschewski von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Frau Kollegin Jelpke, es ist schon wie der Versuch, denTeufel mit dem Beelzebub auszutreiben, wenn sich dieNachfolgeorganisation der SED auf das Kirchenasyl be-ruft.
Zur Sache selbst. In der Union gibt es eine Diskussionüber die Zuwanderung, weil dies ein wichtiges Thema ist.Dabei ist eines klar: Wir wollen nicht speziell diesesThema im nächsten Bundestagswahlkampf behandeln.Dazu müssen aber bestimmte Voraussetzungen erfülltsein:Erstens. Die Bundesregierung muss ein Zuwande-rungsbegrenzungskonzept vorlegen. Die Kommissionmuss endlich zu Ergebnissen kommen.Zweitens. Wir haben ein hervorragendes Integrations-programm vorgelegt, das Sie einfach abgelehnt haben, ob-wohl Sie kein eigenes Konzept besitzen. Das ist schlimm.Wir brauchen nämlich ein Integrationsprogramm.
– Frau Beck, wir wissen, dass zu viele Menschen zu unskommen, die keine Chance haben, in Deutschland einenArbeitsplatz zu bekommen. Gleichzeitig kommen zu we-nige, die eine Chance auf einen Arbeitsplatz haben. Ge-rade deswegen ist die Steuerung der Zuwanderung drin-gend vonnöten.
Ich bin mit dem Bundesinnenminister völlig einer Mei-nung: In dieser Frage darf es keine Denkverbote geben.Ich bin nicht darauf aus, das individuelle Grundrecht aufAsyl zu ändern. Aber wenn es dringend notwendig ist,dann müssen wir auch über Änderungen des Grundgeset-zes und des Asylrechts reden.Die Zuwanderung wird durch die beiden von der PDSimmer wieder eingebrachten Anträge – weder durch Ab-schaffung des Flughafenverfahrens noch durch eine neueAltfallregelung – natürlich nicht begrenzt. Herr Kollege,es ist richtig, dass wir damals der einen Altfallregelungzugestimmt haben. Das war gut so.Bei der Flughafenregelung ist die Situation aber einbisschen anders. Ihre Abschaffung ist nicht gerechtfertigt;denn die Flughafenregelung ist notwendig, da sie einHauptproblem in der Ausländerpolitik – die Rückführungvon Asylbewerbern, deren Antrag abgelehnt worden ist– bewältigt. Außerdem bietet die Flughafenregelung Vor-teile: Wir können – das haben wir bei den Gesprächenüber eine Neuregelung des Asylrechts vor ungefährsechs Jahren so gewollt – vor der Einreise über den An-trag eines Asylbewerbers entscheiden. Bei Ablehnung desAntrags ist die Rückführung des Asylbewerbers ohneweiteres möglich. Es ist auch vertretbar – über dieseRegelung kann man zwar reden; aber sie ist vertretbar –,dass sich Asylbewerber 19 Tage lang auf dem Flughafenaufhalten.Ich meine, dass entgegen dem PDS-Antrag weder dieWürde der Asylsuchenden beeinträchtigt noch derenRechtsschutzmöglichkeit eingeschränkt wird. Eines istaber klar: Wir müssen die Verfahren so ausgestalten, dassdie Menschen so wenig wie möglich belastet werden. Dasgilt natürlich insbesondere für minderjährige Kinder; dasist keine Frage. Sie wissen, die Länder sind dafür zustän-dig. Ich will nicht immer auf die alte rot-grüne Landesre-gierung in Hessen verweisen. Aber ich muss sagen, dassunter ihr damals in Frankfurt am Main diese Problematikleider nicht gelöst worden ist. Ich habe Gespräche mitdem hessischen CDU-Innenminister geführt. Wir sind da-bei, dieses Problem für die Kinder und auch für die ande-ren betroffenen Menschen vernünftig zu regeln. Die Lagehat sich inzwischen auch gebessert. Trotzdem ist dieNichtbeachtung der Regelung damals durch die rot-grüneLandesregierung in Frankfurt am Main kein Grund dafür,die Flughafenregelung ersatzlos abzuschaffen.Auch weitere Altfallregelungen führen zu mehr un-kontrollierter Zuwanderung; denn es spricht sich dochin den Herkunftsländern herum, dass man am Asylver-fahren nur vorbeigehen muss und man dann auf Dauer un-kontrolliert in Deutschland verbleiben kann. Daherglaube ich, dass das keine brauchbare Regelung ist. EinMehr an unkontrollierter Zuwanderung brauchen wir inDeutschland überhaupt nicht. Was wir brauchen, ist einekontrolliertere Zuwanderung sowie die Möglichkeit derSteuerung der Zuwanderung.
Ich sage noch einmal: Ich hoffe, dass die Kommissionnun endlich zu einem Ergebnis kommt. Man muss dochnicht so lange tagen, wenn eigentlich völlig klar ist, wiewir das regeln können. Ich kann Ihnen sagen, wie wir dasregeln können: Wir legen eine Gesamthöchstzahl fest– das ist überhaupt kein Problem – und überlegen dannnatürlich, wie viele Menschen aus den verschiedenen Re-gionen der Welt – so ähnlich steht es im F.D.P.-Antrag –in Deutschland bleiben können. Das ist doch ganz ein-fach. Sie haben den F.D.P.-Entwurf; Sie haben unsere Vor-schläge und das Papier von Wolfgang Bosbach. Sie brau-chen diese vernünftigen Vorschläge – mit denen derInnenminister im Grunde einverstanden ist, wie er mir im-mer persönlich sagt – nur zu übernehmen.
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Rüdiger Veit12274
Die Kommission muss zu einem Ergebnis kommen,und zwar schnell. Wir müssen uns Klarheit darüber ver-schaffen, wer und wie viele Ausländer nach Deutschlandkommen und hier bleiben sollen. Wir müssen Kriterienfür die Aufnahme festlegen und wir müssen vor allenDingen die rechtmäßig in Deutschland lebenden auslän-dischen Mitbürger integrieren. Wir brauchen Integrations-bemühungen. Ich habe in Bezug auf diese Position vonunserer glanzvollen Bundesregierung noch gar nichtsgehört. Das ist bedauerlich.
– Das war doch nun wirklich anders gemeint, Herr Kol-lege. Ich denke, dass Sie trotz der späten Stunde verste-hen, was ich damit gesagt haben will.Darüber hinaus müssen wir die unkontrollierte Zuwan-derung verhindern. Wir brauchen Verhandlungen auf eu-ropäischer Ebene zum Thema Visumsregelung. FrauStaatssekretärin, vielleicht sagen Sie gleich, welche Er-folge Sie in den zwei Jahren Ihrer Regierungszeit auf die-sem Gebiet zu verzeichnen hatten. Wir brauchen Burden-sharing.Wir müssen vor allen Dingen über Asylanträge schnel-ler entscheiden. Ich will gar nicht die Gerichtsverfahrenkippen; ich bin selbst an der Schaffung dieser Lösung imGrundgesetz und im Asylverfahrensgesetz beteiligt gewe-sen. Ein Jahr Gerichtsweg ist aber zu lang. Wir müssenmehr Richter in den Bundesländern einstellen, die schnel-ler entscheiden. In Nürnberg wird relativ schnell ent-schieden – drei Monate im Durchschnitt. Es wäre inhu-man, die Menschen so lange hier zu lassen, nur um siedann wieder auszuweisen.Wir müssen auch darüber nachdenken, dasAsylbewerberleistungsgeld dem europäischen Durch-schnitt anzupassen. Überhaupt müssen wir auf Europa-ebene über entsprechende Regelungen reden.
Wir müssen ein klares Nein zur Familienzusammen-führungsrichtlinie sagen. Dazu werden wir einen Antragin den Bundestag einbringen. Diese Richtlinie der Euro-päischen Gemeinschaft dehnt den Familienbegriff aus, er-weitert den Angehörigennachzug und verkürzt die Fris-ten. Nun habe ich gehört, der Herr Bundesinnenministerhabe eine interne Konferenz durchgeführt. Dort sei manzu dem Ergebnis gekommen, diese Richtlinie solle nichtakzeptiert werden; er wolle dagegen sprechen. So hat sichder Bundesinnenminister sehr oft geäußert. Er hat gesagt:Die Grenze der Belastbarkeit ist überschritten. Die Frak-tion hat gesagt: Minister, in diesem Punkt liegst du falsch.Er hat gesagt: Das subjektive Asylgrundrecht muss abge-schafft werden. Die Koalition aus SPD und Grünen hatgesagt: Herr Minister, da liegen Sie falsch.Ich will deswegen im Deutschen Bundestag über die-sen Bereich diskutieren, weil dieser Bundesinnenministerüberhaupt nicht die Kraft hat, von dem, was er an rechtenSprüchen von sich gibt, auch nur ein Minimum durchzu-setzen.
Wir brauchen eine anständige und aufrichtige Auslän-derpolitik. Was man sagt, muss stimmen. Dabei gehen wirvon einem Punkt aus: Der Zuzug von Ausländern bietetChancen.
Darin sind wir einer Meinung. Das habe ich auch von die-ser Stelle aus immer gesagt. Aber der Zuzug schafft dannRisiken, wenn die Integrationsprobleme nicht gelöst wer-den. Wir müssen diese Menschen dazu bringen, unsereSprache zu erlernen. Wir müssen sie dazu anhalten, dieszu tun. Als Beispiel hierfür nenne ich die Niederlande.Darüber hinaus sind auch ein weitergehendes Bleibe-recht und ständig neue Altfallregelungen nicht immerhuman. Das hat die Vergangenheit gezeigt. Ähnliches giltfür die Abschaffung der Flughafenregelung. Unser Ziel– das sage ich noch einmal – ist: Steuerung und vor allenDingen Integration. Diese Probleme haben wir damals ge-meinsam gelöst. Dabei denke ich an die Asylberatungenvor fünf Jahren. Wenn wir dieses Problem noch vor derBundestagswahl gemeinsam lösen, dann ist unser Ziel er-reicht, dieses schwerwiegende, wichtige und problemati-sche Thema nicht im Wahlkampf zu behandeln. Dafürmüssen Sie die Voraussetzungen schaffen.Herzlichen Dank.
Alsnächste Rednerin hat die Kollegin Marieluise Beck vomBündnis 90/Die Grünen das Wort.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Es reizt mich sehr, Herr Marschewski, aufIhren Rundumschlag einzugehen. Aber das kann ich mirleider deswegen nicht erlauben, weil ich der Meinung bin,dass die Kolleginnen und Kollegen von der PDS-Fraktionein Recht darauf haben, die beiden Themen, die heute auf-grund zweier Anträge zur Debatte stehen, zu erörtern.Nur ein paar Worte dazu: Wenn Sie tatsächlich der An-sicht sind, dass wir eine gänzlich unkontrollierte Zuwan-derung haben, dann muss man allerdings fragen: Was hatdie alte Regierung 16 Jahre lang getan? Hat sie den Zu-stand einer vollkommen unkontrollierten Zuwanderungherbeigeführt? Dies wäre dann die Bilanz Ihrer Regie-rungszeit. Ich weiß nicht, ob Sie wirklich mit dieser Bi-lanz dastehen wollen.
So unkontrolliert ist die Zuwanderung gar nicht. Wirhaben bei der Einwanderung eine Menge Tatbestände, dierechtlich normiert sind.Das Gleiche gilt natürlich für die Integrationspolitik.Wenn Sie jetzt feststellen, dass es keine Integrationspoli-tik gibt, dann heißt das, dass in Ihrer 16-jährigen
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Erwin Marschewski
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Regierungszeit nichts passiert ist. Es ist in der Tat wenigpassiert. Wir haben angefangen, das anzugehen.
Die rechtliche Gleichstellung ist ein zentraler Teil der In-tegrationspolitik. Auch das neue Staatsbürgerschaftsrechtgehört dazu. Es ist ein Teil der Integrationspolitik.
Über alles andere werden wir später diskutieren. Auchdie Tatsache, dass Sie alles für klar halten, verwundertmich. Ich weiß nicht, warum die Union in diesem Zusam-menhang eine Kommission eingesetzt hat, wenn ihr allesklar ist. Sie scheint bei diesem Thema noch im Nebel zutappen; das merkt man auch in dieser Debatte.Nun zu den beiden Anträgen, die heute zur Debatte ste-hen. Es geht einmal um die Altfallregelung. Es war in derTat so – Kollege Veit hat schon darauf hingewiesen –, dasses unendlich schwer war, mit den Ländern überhaupt zueiner gemeinsamen Altfallregelung zu kommen. Es musseine gemeinsame Regelung gefunden werden, weil derBund nicht alleine handeln kann, sondern auf den Kon-sens mit den Landesinnenministern angewiesen ist.Auch wir hätten uns eine deutlich großzügigere Alt-fallregelung gewünscht, und zwar nicht nur deshalb, weiles für die Menschen, die nun schon vor Jahren ihre Kof-fer ausgepackt haben, unter humanen Gesichtspunktensinnvoll wäre, sondern auch deshalb, weil solche Altfall-regelungen der Befriedung der gesamten Gesellschaftdienen.Auf ihre Skepsis kann ich Ihnen nur antworten: VieleIhrer Kollegen tragen bei mir als der Ausländerbeauftrag-ten Einzelfälle vor. Sie haben in ihrer Gemeinde dieseoder jene Familie, die dort schon seit sechs, acht oder zehnJahren angepasst, unauffällig, bescheiden und arbeitsamlebt, und zwar immer mit einem unsicheren Status. Siefragen uns dann: Könnt ihr nicht etwas tun? Alle, die Kir-chen, die Bürgermeister, der kleine Unternehmer, der siebeschäftigt, wollen, dass die Menschen ein Bleiberechterhalten, und sie plädieren dafür, dass in diese Richtungetwas auf den Weg gebracht wird. Wenn dieses Themadann auf die politische Ebene gehoben wird, verweigernSie sich einer grundsätzlichen Regelung. Das ist das Di-lemma, mit dem wir es zu tun haben.Wir haben glücklicherweise – das war sehr umstritten –die Vietnamesen in die Altfallregelung aufnehmen können.Das war sehr lange offen. Ich bin froh, dass wenigstens dasgeglückt ist. Es ist in der Tat so, dass die Auslegung derRegelung vor Ort sehr unterschiedlich gehandhabt wird: re-striktiv insbesondere in Baden-Württemberg, Bayern undleider auch in Berlin und sehr viel offener und großzügigerin den nördlichen Ländern, insbesondere in den rot-grüngeführten Ländern.Vor dem Hintergrund, dass es hier um die Befriedungder gesamten Gesellschaft geht, bin ich der Meinung, dasswir alles tun sollten, die Länder dazu aufzufordern, dieSpielräume, die sie haben, im Sinne von humanitären Lö-sungen auszunutzen.
Erlauben
Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bulling-Schröter?
Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Ja, wenn Sie meine Redezeit entsprechend
verlängern.
Bitte
schön.
Kollegin Beck, Sie wa-ren ja in Bayern und haben die restriktive Politik des In-nenministers Beckstein angemahnt. Sie erhielten in die-sem Zusammenhang eine große Presseresonanz. Ich findegut, dass über dieses Thema diskutiert wird.Ich habe genau zu diesem Thema an die Bundesregie-rung eine Kleine Anfrage gerichtet, und zwar dahin ge-hend, ob die Politik des bayerischen Innenministers demBeschluss der Innenministerkonferenz und der Altfallre-gelung der Bundesregierung entspricht. Ich dachte näm-lich, dass die Bundesregierung genau diese restriktiveHandhabung geißelt oder sich zumindest dementspre-chend äußert. Leider wurde die Kleine Anfrage von derBundesregierung dahin gehend beantwortet, dass die Alt-fallregelung, so wie sie jetzt in Bayern praktiziert wird,konform zu den Vereinbarungen der Innenministerkonfe-renz sei.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Ich bin die Ausländerbeauftragte der Bun-desregierung und befinde mich immer wieder – das liegtin der Natur des Amtes – in maßvoller Differenz zur Re-gierung. Deswegen war mein Wirken in Bayern folgen-dermaßen: Ich habe dazu aufgefordert, die Spielräume zunutzen, die die Regelung hergibt. Man kann in der Tatnicht sagen, Bayern bewege sich jenseits der Verord-nungslage. Aber man kann sagen: Es gibt Spielräume undandere Länder zeigen, dass sie genutzt werden. – In Bay-ern werden sie nicht genutzt. Das ist die Differenz, um diees geht.Nun noch kurz zum Flughafenverfahren. Das Flugha-fenverfahren steht seit seiner Einführung zu Recht in derKritik. Die Verhältnisse vor Ort sind unerträglich. Ichmöchte an dieser Stelle sehr deutlich meinen Respekt ge-genüber dem Flughafensozialdienst ausdrücken. Wennnicht vor Ort so unermüdlich – trotz vieler Rückschlägeund schwieriger Erlebnisse, die man dort ständig hat –gewirkt würde, hätten wir noch mehr dramatische Situa-tionen.
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Marieluise Beck
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Es ist erst einige Monate her, dass sich dort eine Frau dasLeben genommen hat, weil sie nicht mehr weiter wusste.Die Verfahren sind insbesondere nicht auf unbeglei-tete, minderjährige Jugendliche zugeschnitten. Auch dieUnterbringungssituation ist sehr mangelhaft. Es wird eineandere Unterbringungssituation geben – leider erst imHerbst 2001 –, was aber nicht das Problem löst, dass einelange Verweildauer – bis zu 300 Tage – nicht akzeptabelist.Unser Gesetz sieht vor, dass die Verweildauer nichtlänger als 19 Tage sein soll. Vonseiten der Ausländerbe-auftragten wurde in einem Lagebericht empfohlen, dassdie Verweildauer auf keinen Fall länger als 30 Tage betra-gen darf. Wir werden weiterhin mit Nachdruck an einerLösung arbeiten. Es ist in der Tat eine Gratwanderung fürden Rechtsstaat, dass wir dort Verhältnisse haben, dienahe an eine Gefängnisunterbringung heranreichen. Des-wegen muss dafür eine rechtsstaatliche Grundlage vor-handen sein; Freiwilligkeitserklärungen sind in der Tathöchst problematisch. Deshalb muss ein Weg gefundenwerden, damit die langen Verweildauern, wie wir sieheute noch häufig haben, in Zukunft der Vergangenheitangehören werden. Auch unbegleitete Minderjährigegehören nicht in den Transitbereich des Flughafens.Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Max Stadler von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Die Anträge der PDS geben mirGelegenheit, die Praxis des Flughafenverfahrens als daszu bezeichnen, was sie ist, nämlich als einen Skandal derdeutschen Asylpolitik. Man kann es nicht anders sagen,obwohl die F.D.P. im Zuge des Asylkompromisses demFlughafenverfahren mehrheitlich zugestimmt hat und da-ran auch heute noch festhält. Diese Tatsache hat uns abernie daran gehindert, die Praxis dieses Verfahrens zu kriti-sieren. An dieser Kritik hat sich auch nichts geändert, seitRot-Grün an der Regierung ist.Wir wissen alle, dass Cem Özdemir nicht zu Übertrei-bungen neigt. Seit die Grünen an der Bundesregierung be-teiligt sind, äußert er sich bevorzugt staatsmännisch
und deswegen erscheint er mir als ein geeigneter Kron-zeuge. Ich erwähne seine Bewertungen in der „FAZ“ vom6. Juni dieses Jahres, in denen er das Flughafenverfahrenals unmenschlich bezeichnet, die Zustände als unhaltbarkritisiert, feststellt, dass in der Praxis rund die Hälfte derAsylbewerber länger in den Einrichtungen verweilenmuss, als das Gesetz dies zulässt, und dazu mahnt, drin-gend die bauliche Situation durch Erweiterungen und Er-neuerungen zu verändern.Ich frage mich nur: Wenn dies alles so unmenschlichist, warum ändert sich dann nichts daran? Der Verweis aufdas Land Hessen nützt nichts; denn nach Art. 84 Abs. 3des Grundgesetzes trägt die Bundesregierung die Verant-wortung für den verfassungsgemäßen Vollzug der Flug-hafenregelung. Seinerzeit hat Cem Özdemir die Hoffnunggeäußert, dass auch der Koalitionspartner nach einem Be-such in Frankfurt zu dem Entschluss kommen wird, dasVerfahren zu verkürzen. Offenbar bestand für die SPDnoch keine Gelegenheit, Frankfurt zu besuchen, weil sichseither noch nichts getan hat.
Da sehr oft auf die europäischen Standards verwiesenwird – das macht auch Erwin Marschewski gerne, manch-mal nicht zu Unrecht –, muss ich Sie daran erinnern, dassFrankreich eine ähnliche Flughafenregelung hat wie wir,aber mit einem ganz rigorosen Vollzug: Wenn dort binnen18 Tagen – die Regelung ist damit ähnlich der unseren mit19 Tagen – keine Entscheidung getroffen ist, werden dieAsylbewerber ohne Rücksicht auf den Stand des Verfah-rens in das Land gelassen. Die Asylberechtigung wirddann im Land geprüft und nicht in einem fortgesetztenFlughafenverfahren.Wenn Sie nicht wollen, dass auch bei uns solche dras-tischen Regelungen eingeführt werden, muss die Regie-rung endlich handeln. Versprechungen, wie sie der Kol-lege Veit – erfreulicherweise – heute wieder abgegebenhat, haben wir lange genug gehört.Etwas günstiger sieht die Bilanz hinsichtlich der Alt-fallregelung aus. Sie ist immerhin zustande gekommen.Wir wussten allerdings von Haus aus, dass der unter-schiedliche Vollzug in den einzelnen Bundesländern zueinem Problem wird. Wir sind uns mit Frau Jelpke darineinig, dass diese Altfallregelung auch ihre Lücken auf-weist. Ich hoffe, dass hierdurch der Zuwanderungskom-mission Impulse für eine Neuregelung gegeben werden.Unsere Vertreterin in der Kommission, Cornelia Schmalz-Jacobsen, hat sich am 22. Oktober 2000 in der „Welt amSonntag“ dahin gehend geäußert, dass traumatisierte Bür-gerkriegsflüchtlinge, etwa aus Bosnien, ein Bleiberechterhalten und Asylbewerber, die schon seit Jahren inDeutschland leben, als Einwanderer behandelt werdensollten und ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft in Aus-sicht gestellt werden sollte. Darüber muss in dieser Kom-mission diskutiert werden. Aber das reicht nicht.Ich sage denen, die noch skeptisch sind – denn es gibtja auch Gegenargumente für die Altfallregelung –: Die öf-fentliche Diskussion hat sich gewandelt. Heute haben die-jenigen, die eine Altfallregelung aus humanitären Grün-den wünschen, Verbündete in der Wirtschaft, wie sich inBaden-Württemberg zeigt, wo es eine entsprechende Ini-tiative der F.D.P. gibt. Dort werden zum Beispiel dieBürgerkriegsflüchtlinge, die bestens integriert sind, alsArbeitskräfte eingesetzt. Es ist nicht einzusehen, warumsie nach Hause geschickt werden sollen, wenn sie zumBeispiel im Handwerk, in der Gastronomie und im Gar-tenbau dringend benötigt werden.Wir haben auch im Bundestag eine Initiative auf denWeg gebracht, die zum Ziel hat, dass Asylbewerber vom
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Marieluise Beck
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ersten Tag an arbeitsberechtigt sind; denn Sozialneid – dasist der kritische Punkt – entsteht, wenn die öffentlicheHand für Asylsuchende aufkommen muss. Dem treten wirentgegen, indem wir diese Menschen in die Lage verset-zen – das ist auch human –, selbst für ihren Unterhalt zusorgen. Rot-Grün hat hier eine Menge nachzuholen.
Als letz-
ter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort
jetzt der Kollege Hans-Peter Kemper von der SPD-Frak-
tion.
Sehr geehrter Herr Prä-sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchtezunächst zwei Vorbemerkungen machen. Die eine richtetsich an die Adresse des geschätzten Herrn KollegenMarschewski. Herr Marschewski, ich stimme mit Ihnenvollkommen überein: Wir brauchen eine bessere Integra-tion der hier lebenden Asylbewerber. Wir brauchen einbesseres Miteinander von Ausländern und Deutschen.Aber ich bitte Sie eindringlich, dies auch den KollegenKoch und Rüttgers mit auf den Weg zu geben; denn dieAktion, die diese vom Stapel gelassen haben, war gemes-sen an dem, was wir brauchen, kontraproduktiv. Vielleichtkönnen Sie denen das einmal mitteilen.
Die zweite Vorbemerkung geht an die Adresse meineslieben Kollegen Max Stadler. Wir haben gemeinsamFrankreich besucht und haben uns das dortige Flughafen-verfahren in der Praxis angesehen. Sie haben natürlichvöllig Recht: Asyl begehrende Menschen werden dort inder Tat nach kurzer Zeit ins Land gelassen, wenn es nichtgelingt, das Verfahren vernünftig abzuschließen. Aber dasist nur die eine Hälfte der Wahrheit. Die zweite Hälfte derWahrheit haben Sie nicht gesagt: 90 Prozent derjenigen,die ins Land gelassen werden, werden anschließend mitHaftbefehl gesucht. Die Polizei sucht genau die Personen,die man vorher gehen lassen musste. 90 Prozent stellenkeinen Asylantrag und tauchen stattdessen in die Illega-lität ab.
Das hätten Sie ehrlicherweise erwähnen müssen.Das Flughafenverfahren wurde für die Asylsuchendeneingeführt, die ohne gültige Papiere und aus sicherenDrittstaaten auf dem Luftweg in die Bundesrepublik kom-men. Sie dürfen pro forma erst gar nicht in die Bundesre-publik einreisen. Diese Regelung gilt im Prinzip auf alleninternationalen Flughäfen, insbesondere auch auf demFrankfurter Flughafen.Die PDS, insbesondere Frau Jelpke, hat hier eine sau-bere Analyse der Situation auf dem Frankfurter Flughafenvorgetragen. Ich kann dieser Analyse zwar in großen Tei-len zustimmen. Aber Sie kommen zu einem falschenSchluss: Die Abschaffung des Flughafenverfahrens kannnicht die Lösung sein; vielmehr müssen die Lebensbedin-gungen der Menschen auf dem Flughafengelände verbes-sert werden. Hier sind wir also völlig einer Meinung.Darum bemühen wir uns auch. Die Abschaffung des Flug-hafenverfahrens wäre das falsche Signal.Das Flughafenverfahren ist aus präventiven Gründeneingeführt worden. 1993 gab es 20 000 Versuche, überFrankfurt einzureisen. 1999 lag die Zahl unter 1 000. Wirwerden das Flughafenverfahren nicht abschaffen, weilwir seine präventive Wirkung nicht beseitigen wollen. DieRechtmäßigkeit des Flughafenverfahrens ist gerichtlichüberprüft worden. Laut Bundesverfassungsgericht ist esmit der Verfassung, mit den Grundrechten und mit derMenschenwürde vereinbar. Das wissen Sie genauso gutwie ich. Deswegen werden wir an diesem Verfahren fest-halten. Ich möchte Ihre Bedenken gar nicht kleinreden. Esmuss – das ist keine Frage – eine Menge verbessert wer-den.Die Mitglieder der SPD-Arbeitsgruppe sind mehrfachin Frankfurt gewesen und haben sich vor Ort die Situationder Menschen auf dem Flughafengelände angeschaut.
Im Übrigen sind auch die Berichterstatter aus dem Innen-ausschuss dort gewesen. Das Bild, das sich uns darbot,war nicht schön: Familien wurden gemeinsam mit Allein-reisenden untergebracht. Das ist inhuman. Die sanitärenEinrichtungen waren in einem sehr schlechten Zustand.Hier muss eine Menge getan werden; das ist keine Frage.Eine Intimsphäre war so gut wie nicht gegeben. Wir wa-ren uns alle einig: Hier sind erhebliche Verbesserungennotwendig.Es ist zwar etwas geschehen, aber zu wenig: Die Mit-arbeiter des Flughafensozialdienstes kümmern sich nunrund um die Uhr um die Asylbewerber. Familien und Al-leinreisende sind zumindest teilweise getrennt unterge-bracht. Die sanitären Verhältnisse sind verbessert worden.Es sollte ein neues Gebäude errichtet werden. Eigent-lich sollte es jetzt seiner Fertigstellung entgegensehen.Dem ist allerdings nicht so. Man hat noch nicht einmal mitdem Bau begonnen. Das hängt mit der Flughafenplanungzusammen; denn dieses Gebäude ist möglicherweise fürdie Flughafenerweiterung eingeplant. Das Land Hessenhat jetzt den Umbau eines anderen Gebäudes vorgeschla-gen. Möglicherweise werden die baulichen Veränderun-gen besser als die ursprünglich geplanten. Aber – auch dasmuss man sagen – der Bau wird sich mindestens bis Ok-tober nächsten Jahres hinziehen, so Gott will. Wir müssendarauf drängen, denke ich, dass dieser Bau schneller vor-angetrieben wird. Diese Verzögerungen sind mehr als är-gerlich.Solange eine vernünftige Unterbringung nicht gewähr-leistet ist – da bin ich mit meinen Kolleginnen und Kolle-gen und auch mit Herrn Veit einig –, brauchen wir Über-gangsregelungen, insbesondere auch im Hinblick auf dieKinder. Das ist mehrfach betont worden und ich will esnicht wiederholen.
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Dr. Max Stadler12278
Aber wir müssen auch Druck auf das Land Hessen aus-üben. Diesbezüglich bin ich anderer Meinung als Sie,Herr Stadler. Das Land Hessen ist hier zuständig. Das istdurch das Bundesverfassungsgericht festgestellt worden.Das Land Hessen ist für die Unterbringung, für die Be-reitstellung der Gebäude zuständig. Ich fordere die Bun-desregierung auf, massiv Druck auf das Land Hessen aus-zuüben und gemeinsam mit dem Land Hessen hier zuÄnderungen zu kommen.Es ist die deutliche Kritik geübt worden, dass die Ver-weildauer zu lang ist. Das ist keine Frage; aber das liegtnicht am Flughafenverfahren. Das Flughafenverfahren istnach knapp drei Wochen beendet. Die Menschen, die län-ger dort sind, sind dies aufgrund einer Freiwilligkeitser-klärung, obwohl man durchaus darüber streiten kann, obder Begriff „Freiwilligkeitserklärung“ richtig ist, wenndie Alternative die Abschiebehaft ist.Aber bei allem Mitgefühl darf man auch nicht verges-sen, dass die Gründe für das längere Verweilen bei den imFlughafen befindlichen Personen zu suchen sind. Das sindMenschen, die die Maschine mit Pass und mit Ticket be-treten haben und ohne Pass und ohne Ticket in Frankfurtlanden. Die Verschleierung der Identität im eigenen Landist ja fluchttypisch. Darüber brauchen wir uns nicht zu un-terhalten. Aber wenn diese Menschen bei uns sind, hindertsie nichts daran, ihre wahre Identität und ihre wahrenFluchtgründe offen zu legen und mit zur Identifizierungbeizutragen. Das wird eben nicht gemacht.Ich denke, da müssen wir eine klare Linie zeigen. Nachmeinem Dafürhalten müssen wir deutlich machen, dasswir nicht die begünstigen, die sich illegal verhalten. Werhier ohne gültige Papiere einreist oder die Papiere ver-nichtet, der richtet sich nach dem Regiebuch der Schleu-serorganisationen. Das können wir nicht unterstützen.Wenn wir dem nachgeben würden, würden die, die sich il-legal verhalten, besser gestellt als die, die hier einreisen,ihre Personalien bekannt geben und, so wie es sich gehört,um Asyl nachsuchen. Letztere werden dann unter Um-ständen schneller abgeschoben als diejenigen, die ihrewahre Identität verschleiern.
Ich denke, das wäre das falsche Signal. Wir müssen dieLebensbedingungen deutlich verbessern. Aber das Flug-hafenverfahren werden wir beibehalten.Schönen Dank.
Ichschließe die Aussprache.Wir kommen zu der Beschlussempfehlung des Innen-ausschusses zum Antrag der Fraktion der PDS zur Ertei-lung einer Aufenthaltsbefugnis für lange in Deutschlandlebende Ausländer, Drucksache 14/2066.Der Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/2509, denAntrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussem-pfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Somit istdie Beschlussempfehlung mit den Stimmen aller Fraktio-nen bei Gegenstimmen der PDS-Fraktion angenommenworden.Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu demAntrag der Fraktion der PDS zur Abschaffung des Flug-hafenverfahrens auf Drucksache 14/2979. Der Ausschussempfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/26 abzulehnen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Somit ist die Beschlussemp-fehlung mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen ange-nommen.Ich rufe Zusatzpunkt 13 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung von Vorschriften über die Tätig-
– Drucksache 14/3649 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 14/4262 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Rainer WendEs liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen der SPDund des BÜNDNISES 90/DIE GRÜNEN vor.Es ist vereinbart worden, dass die Reden zu diesem Ta-gesordnungspunkt zu Protokoll gegeben werden.1) SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zurÄnderung von Vorschriften über die Tätigkeit der Wirt-schaftsprüfer auf den Drucksachen 14/3649 und 14/4262.Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD undder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir zu-erst abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ände-rungsantrag auf Drucksache 14/4268 zustimmen wollen,um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? –Dann ist der Antrag, wie ich sehe, einstimmig ange-nommen.Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in derAusschussfassung mit der soeben beschlossenen Ände-rung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Dann ist der Gesetzentwurfin zweiter Beratung einstimmig angenommen.Interfraktionell ist vereinbart, trotz Annahme einer Än-derung in der zweiten Beratung jetzt unmittelbar in diedritte Beratung einzutreten. Sind Sie damit einverstan-den? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Hans-Peter Kemper12279
1) Anlage 6Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Dann ist der Gesetzentwurf in dritter Le-sung einstimmig angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten HorstSchmidbauer , Gudrun Schaich-Walch,Marga Elser, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPD sowie der Abgeordneten KatrinGöring-Eckardt, Kerstin Müller , RezzoSchlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENZiele für die Qualitätssteigerung in der Diabe-tes-Versorgung– Drucksache 14/4263 –Auch hier ist vereinbart, dass die Reden zu Protokollgegeben werden.1) Sind Sie damit einverstanden? – Das istder Fall.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/4263 an den in der Tagesordnung aufge-führten Ausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einver-standen? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung sobeschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:Erste Beratung des von den Abgeordneten RainerFunke, Hans-Joachim Otto , Dr. EdzardSchmidt-Jortzig, weiteren Abgeordneten und derFraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Umsetzung der EU-Richtlinieüber das Folgerecht des Urhebers des Originals
– Drucksache 14/3555 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und MedienAuch zu diesem Tagesordnungspunkt ist vereinbartworden, die Reden zu Protokoll zu geben.2) Sind Sie da-mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann wird so ver-fahren.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-fes auf Drucksache 14/3555 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andereVorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Über-weisung so beschlossen.Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-tages für morgen, Freitag, den 27. Oktober 2000, 9 Uhr,ein. Die Sitzung ist geschlossen.