Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
12280
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1) Anlage 7 2) Anlage 8
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(B)
Balt, Monika PDS 26.10.2000
Barthel (Berlin), SPD 26.10.2000
Eckhardt
Behrendt, Wolfgang SPD 26.10.2000*
Deß, Albert CDU/CSU 26.10.2000
Ehlert, Heidemarie PDS 26.10.2000
Elser, Marga SPD 26.10.2000
Flach, Ulrike F.D.P. 26.10.2000
Dr. Gehb, Jürgen CDU/CSU 26.10.2000
Glos, Michael CDU/CSU 26.10.2000
Götz, Peter CDU/CSU 26.10.2000
Großmann, Achim SPD 26.10.2000
Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 26.10.2000
Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 26.10.2000
DIE GRÜNEN
Hirche, Walter F.D.P. 26.10.2000
Hornung, Siegfried CDU/CSU 26.10.2000*
Dr. Hoyer, Werner F.D.P. 26.10.2000
Klemmer, Siegrun SPD 26.10.2000
Dr. Knake-Werner, PDS 26.10.2000
Heidi
Dr. Kohl, Helmut CDU/CSU 26.10.2000
Lippmann, Heidi PDS 26.10.2000
Matschie, Christoph SPD 26.10.2000
Müller (Jena), Bernward CDU/CSU 26.10.2000
Müller (Berlin), PDS 26.10.2000
Manfred
Neuhäuser, Rosel PDS 26.10.2000
Roth (Augsburg), BÜNDNIS 90/ 26.10.2000
Claudia DIE GRÜNEN
Scharping, Rudolf SPD 26.10.2000
Schily, Otto SPD 26.10.2000
Schmidt (Eisleben), SPD 26.10.2000
Silvia
Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 26.10.2000
Hans Peter
Schröder, Gerhard SPD 26.10.2000
Schulhoff, Wolfgang CDU/CSU 26.10.2000
Schultz (Everswinkel), SPD 26.10.2000
Reinhard
Dr. Süssmuth, Rita CDU/CSU 26.10.2000
Dr. Tiemann, Susanne CDU/CSU 26.10.2000
Wiefelspütz, Dieter SPD 26.10.2000
Wissmann, Matthias CDU/CSU 26.10.2000
Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 26.10.2000*
Zierer, Benno CDU/CSU 26.10.2000*
* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlungdes Europarates
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Antrags: Wettbewerbsfähig-
keit des deutschen Güterkraftverkehrsgewerbes
erhalten und sichern (Tagesordnungspunkt 6)
Dr. Winfried Wolf (PDS): Die CDU/CSU stimmt in
ihrem Antrag „Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Gü-
terkraftverkehrsgewerbes erhalten“ ein kakophonisches
und pharisäisches Klagelied an. Pharisäisch, weil die hier
beklagten „Wettbewerbsverzerrungen“ doch nicht allein
und nicht einmal in erster Linie Produkt der SPD-Grünen-
Regierung sind.
CDU/CSU und F.D.P. haben acht Jahre lang die Öff-
nung der EU nach Osten gefördert, wohl wissend, dass
dies zunächst in den Beitrittsländern zu hunderttausenden
Existenzvernichtungen führen würde, und mit in Kauf
nehmend, dass dies auch in unserem Land zerstörerische
Folgen haben müsste.
Jetzt, als Oppositionspartei, wird die „Liberalisierung
im europäischen Güterverkehrsmarkt“ wortreich beklagt.
Doch dies ist nur eine Klage über die eigene EU-Politik,
die seitens SPD und Grünen fortgesetzt wird.
Der Antrag ist kakophonisch, und dies bereits in der
Sprache. Da ist die Rede von „ausländischen Güterver-
kehrskraftunternehmen“, die in den „attraktiven deut-
schen Markt drängen“ würden. Kurz darauf heißt es gar,
durch diesen fremdländischen LKW-Angriff würden
entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlagen zum Stenographischen Bericht
„deutsche LKW durch gebietsfremde Fahrzeuge ... er-
setzt“. Die Wortwahl ist einfach fatal und dient, kollegial
und freundschaftlich formuliert, nicht der Völkerverstän-
digung.
Doch abgesehen von dieser Scheinheiligkeit und die-
ser unseriösen Terminologie sind es zwei besondere
Aspekte, weswegen wir den Antrag von CDU/CSU ab-
lehnen.
Da ist zum einen Punkt 6 dieses Antrags, wonach „die
mit dem Gesetz vom 24. März 1999 eingeführte ... ökolo-
gische Steuerreform aufzuheben“ sei.
Die CDU/CSU-Fraktion fordert damit ein weiteres
Mal eine ersatzlose Aufhebung der ökologischen Steuer-
reform. Bei aller Kritik an dieser Ökosteuer – eine ersatz-
lose Streichung lehnen wir ab. Diese Steuer ist sozial nicht
ausgewogen und sie hat ökologisch eine unzureichende
Wirkung. Doch die Richtung, in die sie weist, ist richtig.
Ihre ersatzlose Streichung hieße doch, dass Energie er-
neut billiger wird und der Verbrauch damit ansteigt. Eine
ersatzlose Streichung hieße andererseits aber auch, dass
der löbliche und im Detail vielfach misslungene Versuch
von SPD und Grünen, über eine Ökosteuer eine Energie-
und Verkehrswende zu erreichen, für lange Zeit von der
Tagesordnung gestrichen wäre.
Diese Politik des „weg damit“ und „weiter so“, die in
diesem CDU/CSU-Antrag zum Ausdruck kommt, ist un-
verantwortlich. Sie ist vor allem nicht zu verantworten mit
Blick auf eine drohende Klimakatastrophe und mit Blick
auf spätere Generationen, für die wir hier und heute Mit-
verantwortung tragen.
Der zweite Grund, weswegen der CDU/CSU-Antrag
abzulehnen ist, hat etwas mit seiner Borniertheit zu tun.
Ja, in unserem Land sind Arbeitsplätze als Resultat der
EU-Erweiterung und EU-Liberalisierung im LKW-Ge-
werbe bedroht. Doch wer redet von den Arbeitsplätzen in
anderen Transport-Branchen? Wer redet von den kleinen
Binnenschiffern, die kaputt gehen und die für eine ökolo-
gisch wesentlich akzeptablere Transportpolitik stehen?
Wer redet von den hunderttausenden Arbeitsplätzen bei
der Bahn in den mittel- und osteuropäischen Ländern und
in unserem Land, die mit dieser Liberalisierung zerstört
wurden und zerstört werden. Auch hier gilt: Es sind
Arbeitsplätze in einer Transport-Branche, die als umwelt-
freundlich zu gelten hat.
Überhaupt: Der Antrag zielt faktisch auf ein weiteres
Wachstum des LKW-Verkehrs, und das ist das Verkehrtes-
te, was im Rahmen des verkehrten Verkehrs gemacht
werden kann.
Der LKW-Verkehr hat sich in den letzten zehn Jahren
bereits um rund 50 Prozent erhöht. Während der Anteil
der Bahn im Güterverkehr von 20,5 Prozent im Jahr 1991
auf 15 Prozent im Jahr 1999 fiel und sich damit in Rich-
tung „bodenlos“ entwickelt, stieg der Anteil des LKW-
Verkehrs von 61 auf 70 Prozent.
Wer regelmäßig auf Autobahnen fährt, weiß, dass in-
zwischen die rechte Fahrbahn zu einem erheblichen Teil
vom LKW-Verkehr okkupiert ist und damit als Endlos-
Lager der Wirtschaft fungiert. Wenn es für die einen „just
in time“ heißt, dann heißt dies für die anderen „just im
Stau“. Eine Förderung dieser untragbaren Zustände, die
der CDU/CSU-Antrag impliziert, ist abzulehnen.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– des Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Straßenverkehrsgesetzes und ande-
rer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften
(StVRÄndG)
– der Unterrichtung der Bundesregierung zum
Bericht des Bundesministeriums für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen über Maßnahmen
auf dem Gebiet der Unfallverhütung im
Straßenverkehr und Übersicht über das Ret-
tungswesen 1998 und 1999 (Unfallverhü-
tungsbericht Straßenverkehr 1998/99) (Tages-
ordnungspunkt 11 a und b)
Rita Streb-Hesse (SPD):Um die Zielsetzung und Än-
derungen im Straßenverkehrsgesetz zu veranschaulichen,
möchte ich Sie nach Frankfurt am Main entführen: Der
Frankfurter Stadtteil Nordend liegt in der Nähe des Ban-
kenviertels und der Fachhochschule, hat eine hohe Block-
bebauung und Wohndichte, eine bevorzugte Kneipenkul-
tur und enge Straßen. Jeden Morgen quält sich eine
Blechlawine auf den Einfallstraßen durch das Viertel. Be-
rufspendler und Studenten fahren mehrfach um die
Blocks und streiten sich mit den Anwohnern um die we-
nigen Parklücken. Geparkt wird auf dem Bürgersteig, der
Straße, und auch Ein- und Ausfahrten sind nicht tabu. Der
Schulweg wird zum Parcourslauf, ebenso wie das Fahren
mit einem Kinderwagen.
Der Leiter der Frankfurter Straßenverkehrsbehörde be-
schreibt dies treffend als „Ausnahmezustand“, und dieses
Bild findet sich genauso in den Abendstunden. Ob in
Frankfurt, Wiesbaden, Köln, Berlin oder München:
Besonders Großstädte kämpfen mit zunehmendem Ver-
kehrsdruck. Mangelnder Parkraum für die Anwohner,
Pendlerströme und Parksuchverkehr, dies verringert die
Wohnqualität, verursacht Stadtflucht und gefährdet die Si-
cherheit aller.
Letzteres zeigt auch der vorliegende Unfallverhü-
tungsbericht. Rund 65 Prozent aller Unfälle mit Perso-
nenschaden passieren innerorts, die Zahl von 77 Prozent
von Kindern als Unfallopfer lässt erschrecken. Hier ist die
Bundespolitik gefordert. Ein zentraler und wichtiger
Schritt der Gesetzesnovelle ist die Schaffung einer rechts-
sicheren Grundlage für das bevorrechtigte Parken von Be-
wohnern städtischer Quartiere mit erheblichem Park-
raummangel, bekannt als Anwohnerparken.
Sie erinnern sich: Aufgrund des höchstrichterlichen Ur-
teils vom Mai 1998 zu der Klage Einzelner mussten viele
Kommunen bisher bewährte Anwohnerparkregelungen
aussetzen bzw. abschaffen – in anderen Städten herrscht
seitdem Verunsicherung über die Rechtssicherheit ihres
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Parksystems. Das Bundesverwaltungsgericht befand, dass
der Begriff „Anwohner“ nicht mit Parkzonen, die über
zwei oder drei Straßen hinausgehen, vereinbar sei. In der
Folge sind auch in Frankfurt die Anwohnerparkzonen „ge-
kippt“. Die Polizei meldet seitdem eine Verkehrszunahme
in den betroffenen Stadtteilen von rund 5 bis 7 Prozent.
Über zwei Dinge sind wir uns doch einig: Zum einen ist
das Anwohnerparksystem eine bewährte Maßnahme der
Kommunen, eine zufrieden stellende Parkraumbewirt-
schaftung zu schaffen, den Individualverkehr nicht weiter
wachsen zu lassen und Verkehrssicherheit zu fördern. Zum
anderen brauchen die Kommunen eine Rechtsgrundlage,
die ihnen den notwendigen Handlungsspielraum ermög-
licht. Im Klartext: Eine kleinräumige Begrenzung des An-
wohnerparkens ist in vielen Kommunen nicht alltagstaug-
lich. Eine straßenbezogene Regelung reicht dort nicht aus,
wo schon jetzt mehr Anwohner, die einen Parkplatz
benötigen, als Parkraum vorhanden sind – erst recht nicht
in Großstädten mit hohen Pendlerquoten.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung trägt diesem
Anliegen Rechnung: Er ermöglicht Bewohner-Parkberei-
che bis zu einer maximalen Ausdehnung von einem Kilo-
meter. Das ist praxistauglich und kommunalfreundlich, es
entspricht den Forderungen des Deutschen Städtetags.
Dieser ist es auch, der ausdrücklich darum bittet, nähere
Ausführungsbestimmungen den Kommunen zu überlas-
sen. Ich betone das nicht ohne Grund und mit einem kri-
tischen Blick zur Länderbank, denn der Bundesrat wird
die Ausführungsbestimmungen beraten. Und damit haben
Sie ja auch schon begonnen, zum Unwillen der kommu-
nalen Vertreter aller Parteien in den Städten. Diese haben
sich ausnahmslos und einstimmig gegen restriktive Vor-
gaben ausgesprochen. Wer, wie die hessische Landesre-
gierung, eine restriktive Vorgabe von maximal 50 Prozent
des Parkraums für die Bewohner fordert oder wer die
Größe der Bewohnerparkzonen nach der Einwohnerzahl
der Städte staffeln will und dabei auf die Zustimmung ei-
ner Mehrheit im Bundesrat setzen will, regelt schlicht an
den kommunalen Notwendigkeiten vorbei. Ich appelliere
an die Damen und Herren Länderminister: Haben Sie
doch ein wenig mehr Vertrauen in die politische Kompe-
tenz der Kommunalpolitiker!
Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen
zeigen dieses Vertrauen. Mit der neuen Rechtsgrundlage
werden die Kommunen gemeinsam mit den Straßenver-
kehrsbehörden vernünftige Regelungen festlegen, die An-
liegerrechte wahren und Handwerk und Gewerbebetrei-
bende berücksichtigen. Eine einseitige Privilegierung
liegt nicht im Interesse der Kommunen, und das wissen
Sie alle.
Auf einen zweiten Bestandteil des Gesetzes möchte
ich ebenfalls ausführlicher eingehen: Auto und Alkohol
gehören nicht zusammen. Gemäß unserer Ankündigung
in der Koalitionsvereinbarung wird als neuer einheitlicher
Grenzwert die 0,5-Promille-Regelung aufgenommen. Die
Vorgängerregierung war hier nicht konsequent genug:
Einerseits haben Sie bei der damaligen Änderung die 0,5-
Promille-Grenze neu eingeführt, andererseits von wirksa-
men Rechtsfolgen bei Verstößen jedoch abgesehen.
Das war ein halbherziger Vorstoß in die prinzipiell
richtige Richtung. Im Interesse einer Steigerung der Ver-
kehrssicherheit, besonders für unsere jungen und jüngsten
Verkehrsteilnehmer, wird es keine 0,8-Promille-Grenze
mehr geben. Der Verstoß gegen die 0,5-Promille-Grenze
soll mit dem Entzug der Fahrerlaubnis und einer Buß-
geldhöchstgrenze von 3 000 DM geahndet werden, ana-
log dem vorgesehenen Strafmaß bei Verstoß gegen das
Drogenverbot im Straßenverkehr.
Der Unfallverhütungsbericht hat auch hier sprechende
Zahlen: Jeder fünfte Verkehrstod ist auf Alkohol zurück-
zuführen, bei circa einem Drittel der registrierten Unfälle
spielte Alkohol eine Rolle; der Rückgang hier ist mit
2 Prozent nur geringfügig. Angaben der Frankfurter Poli-
zei zeigen einen Zuwachs der innerörtlichen Unfallzahlen
unter Alkoholeinfluss allein im letzten Jahr von 8,4 Pro-
zent. Ebenso alarmierend ist auch die Zahl der an Unfäl-
len beteiligten Fahranfänger: Jeder fünfte Unfall mit Per-
sonenschaden ging 1999 auf Fahrer im Alter zwischen
18 und 24 Jahren zurück. Experten der Polizei und der In-
stitute bestätigen uns, dass auch geringer Alkoholkonsum
die Leistungsfähigkeit mindert, das Reaktionsvermögen
beeinträchtigt. Die einheitliche Einführung der 0,5-Pro-
mille-Grenze wird Alkohol am Steuer künftig härter ahn-
den, sie unterstützt unser gemeinsames Bemühen um
mehr Verkehrssicherheit, weniger Todesfälle und weniger
Unfallverletzte. Sie ist ein glaubwürdiger und richtungs-
weisender Kompromiss zwischen den Vorstellungen
mancher Bundesländer, ein Fahrverbot schon bei null Pro-
mille bzw. bei 0,3-Promille festzulegen oder die 0,8-Pro-
mille-Regelung beizubehalten.
Dabei ist der kurvenreiche Kurs, den ein Teil der
CDU/CSU-Ländervertreter zurzeit fahren, doch erwäh-
neswert. Wie wollen vor allem die CSU-Kolleginnen und
Kollegen erklären, dass es auf der einen Seite sinnvoll ist,
für Fahranfänger die Nullpromillegrenze zu diskutieren
und einzuführen, sich aber Erwachsene ab dem 24. Le-
bensjahr getrost an eine 0,8-Promille-Grenze herantrin-
ken sollen? Diese „Logik“ kann ich nicht nachvollziehen.
Welches Lernverhalten soll das bewirken?
Die SPD-Fraktion hat hier einen klaren Kurs: Wir müs-
sen und werden eine sachliche und faktenbezogene Dis-
kussion über Maßnahmen zum Schutz junger Fahranfän-
ger führen, aber ebenso konsequent das Signal an alle
Verkehrsteilnehmer senden, dass Alkohol am Steuer für
uns keine Bagatelle ist.
Der Gesetzentwurf beinhaltet noch eine Reihe weiterer
Regelungen, die ich nur kurz benenne: Die Neuregelung
zum Verbot des Mitführens von Radar- und Laserwarn-
geräten ist wohl unstreitig – ein Vorhaben, das die
SPD-Fraktion schon im Sommer 1999 beantragt hat. Die
Änderungen zum Fahrerlaubnis- und Fahrlehrerrecht
setzen notwendige Ergänzungen der 1999 vorgenommenen
Änderungen um. Darüber hinaus sieht die Gesetzesnovelle
Änderungen beim Punktesystem, dem Kraftfahrsachver-
ständigengesetz und zur Bußgeldkatalog-Verordnung vor.
Bereits in den 30er-Jahren sagte Kurt Tucholsky: „Die
Deutschen fahren nicht Auto, um sich fortzubewegen,
sondern um Recht zu haben.“ In der heutigen Zeit gilt dies
sichtlich immer noch – oft nicht im Sinne der Verkehrssi-
cherheit. Unsere Aufgabe ist es daher, das Verkehrsrecht
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fortzuschreiben, um ein Mehr an Sicherheit und ein faires
Miteinander aller Verkehrsteilnehmer zu gewährleisten.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf kommt die Bundes-
regierung dieser wichtigen Aufgabe nach. Ich hoffe auf
eine konstruktive Diskussion in den Ausschüssen und
eine breite Zustimmung.
Eduard Lintner (CDU/CSU): Erlauben sie mir ein-
gangs – bei aller Tragik, die hinter jedem Einzelfall steht –
die Feststellung, dass es insgesamt erfreulich ist, wenn der
„Unfallverhütungsbericht Straßenverkehr 1998/99“ auch
für das vergangene Jahr von einem Rückgang der Zahl der
Getöteten berichten kann. Dabei ist besonders der signifi-
kante Rückgang der schweren Verkehrsunfälle mit Kin-
dern – von 511 1991 auf nur noch 309 im Jahre 1999 – zu
begrüßen. Diese Bilanz wird noch dadurch verbessert,
dass die Zahl der Kfzs von 1991 bis 1999 um 17,5 Prozent
auf 50,6 Millionen Autos gestiegen ist.
Tatsache ist aber auch, dass die Zahl der von der Poli-
zei erfassten Verkehrsunfälle insgesamt um 6,4 Prozent
auf 145 099 gestiegen ist, die Sachschäden um 6,8 Prozent
zugenommen haben, ebenso die Zahl der Verletzten.
Ein solch differenziertes Geschehen verlangt nach spe-
ziellen, ebenfalls differenzierenden Antworten: Generelle
Gebote oder Verbote werden der Problematik häufig nicht
gerecht. Ihnen fehlt es an Plausibilität und damit an Ak-
zeptanz. Dann aber bedarf es zur Erzwingung einer so
hohen Kontrolldichte, wie sie weder personell noch ma-
teriell auf Dauer durchgehalten werden kann, von dem
verheerenden Eindruck einmal abgesehen, den solche
dichte Polizeieinsätze hinterlassen. Mit Überzeugung und
Aufklärung ist da mehr zu gewinnen als mit Verboten und
Repression.
Ein ermutigendes Beispiel für einen solchen Weg ist
zum Beispiel die am 1. August 1998 eingeführte Rege-
lung, das Verstöße gegen das Verbot von Alkohol am
Steuer differenziert ahndet: Für 0,5 bis 0,8 Promille sind
200 DM Geldbuße und zwei Punkte in Flensburg fällig;
danach gibt es den Entzug der Fahrerlaubnis. Trotz einer
Zunahme des PKW-Bestandes im letzten Jahr stagnierte
die Zahl der durch Alkoholeinfluss bedingten Unfälle.
Nach einem deutlichen Rückgang um 13 Prozent im Jahr
davor – 1998 mit damals 15 Prozent weniger Verletzten
und 23 Prozent weniger Toten –, ist die Sicherung dieses
relativ niedrigen Niveaus im Jahr 1999 ein echter Erfolg.
Die Autofahrer und die potenziellen Mitfahrer sind of-
fenbar zusätzlich sensibilisiert worden und handeln zu-
nehmend verantwortungsbewusster als früher. Wachsen-
des Verantwortungsbewusstsein und damit freiwillige
Befolgung von staatlichen Vorgaben sind die effizienteste
Form einer Regelung überhaupt, weil der Sicherheits-
effekt dieser freiwilligen Selbstbeschränkung wirkungs-
voller ist als die unter dem Gesichtspunkt der Verhältnis-
mäßigkeit immer nur in beschränkter Zahl möglichen
Kontrollen.
Überzieht man Verbote, dann macht man ihre Beach-
tung in der Lebenswirklichkeit fast unmöglich, denn man
verspielt die freiwillige Selbstbeschränkung und riskiert,
dass die Fahrer eine Zusammenarbeit wegen Überforde-
rung praktisch verweigern. Dann wäre die höchst wün-
schenswerte Mitwirkung durch Einsicht gestört und der
Erziehungseffekt stark gefährdet.
Mit Sicherheit muss die Änderung der zum 1. Mai 1998
geltenden Promilleregelungen als vorschnell bezeichnet
werden. Um den Einfluss solcher Vorschriften auf das
Unfallgeschehen beurteilen zu können, bedarf es weit
längerer Zeiträume. Die Bundesregierung selbst stellt
auch in dem heute vorliegenden „Unfallverhütungsbe-
richt Straßenverkehr 1998/99“ ausdrücklich fest: „Die
Entwicklung des Unfallgeschehens in den zurückliegen-
den zehn Jahren ist relevant für die Abschätzung der Wir-
kung von laufenden und künftigen Verkehrssicherheits-
maßnahmen.“ Warum halten Sie sich nicht an die eigenen
Erkenntnisse?
lm Übrigen zeigen die positiven Erfahrungen mit Mo-
dellprojekten, die auf erzieherische Einwirkung auf spe-
zielle Gruppen und Verkehrsteilnehmer wie Kinder, Ju-
gendliche, Zweiradfahrer oder jugendliche Fahranfänger
gerichtet sind, dass man sehr wohl auf diese Weise posi-
tive Verhaltensänderungen erreichen kann. Umso unver-
ständlicher ist es, dass die Regierungskoalition erst ges-
tern im Verkehrsausschuss einen Antrag unserer Fraktion,
die Mittel im Haushalt 2001 um magere 4 Millionen DM
auf 26 Millionen DM zu erhöhen, abgelehnt hat. Sie set-
zen also unverändert – nach sozialistischer Denkart – auf
Gesetzeszwang und Bevormundung und halten offenbar
wenig von selbstverantwortlichem Verhalten mündiger
Bürger. Selbst nachweisbare Erfolge eines solchen Denk-
ansatzes können Sie von Ihrer eingefahrenen Denkweise
nicht abbringen.
Die im Gesetzentwurf ebenfalls vorgesehene Ermäch-
tigungsgrundlage zur Anordnung weiträumiger Bewoh-
nerparkbereiche ist nicht unproblematisch, weil sie geeig-
net ist, den für das geschäftliche und kulturelle Leben in
Städten so dringend notwendigen, der Allgemeinheit zur
Verfügung stehenden Parkraum drastisch einzuschrän-
ken. Dieser Aspekt liegt ja auch der Stellungnahme des
Bundesrats zugrunde, der die Bundesregierung auffor-
dert, die Privilegierung der Bewohner auf maximal
50Prozent des Parkraums zu begrenzen. Dem kann man
sich nur anschließen.
Alles in allem wird sich in den jetzt folgenden Aus-
schussberatungen zeigen, ob wir – was angesichts des mit
dem Gesetz verbundenen Eingriffs in die persönliche
Sphäre von Bürgerinnen und Bürgern wünschenswert
wäre – zu einer gemeinsamen Auffassung in den wichti-
gen Punkten kommen können. Den Willen dazu wünsche
ich uns allen.
Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Der Gesetzentwurf zum Straßenverkehr der
Bundesregierung sorgt für eine Reihe von Verbesserun-
gen im Straßenverkehrsrecht, die seit geraumer Zeit über-
fällig sind. Er setzt weitere Punkte aus der Koali-
tionsvereinbarung zwischen SPD und Bündnisgrünen um,
die 1998 mit guten Gründen vereinbart worden sind.
Zunächst: Die so genannte ,,Promillegrenze“ beim
Autofahren wird endlich auf den Wert 0,5 statt bisher 0,8
abgesenkt. Damit wird klar signalisiert: Alkohol trinken
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und Autofahren passt nicht zusammen. Zahlreiche Unter-
suchungen und leider auch zahlreiche Unfallanalysen
haben gezeigt: Schon zwischen 0,5 und 0,8 Promille kann
es zu beträchtlichen Einschränkungen der Fahrsicherheit
kommen. Die Konsequenz daraus kann nur lauten: Die
Sanktionen, die bisher als Folge der Überschreitung der
alten 0,8-Promille-Regelung galten, insbesondere das
Fahrverbot, müssen künftig bereits auf eine Übertretung
der 0,5-Promille-Grenze angewandt werden. Fahrverbote
kann es demnach bereits ab 0,5 Promille geben. Das „He-
rantrinken“ an einen Grenzwert wird erschwert, da
0,5 Promille bekanntermaßen schnell erreicht sind.
Es liegt im Interesse aller Verkehrsteilnehmerinnen
und Verkehrsteilnehmer, mit dieser Neuregelung, die
übrigens auch einen Beitrag zur Harmonisierung ver-
gleichbarer Regelungen in Europa darstellt, für mehr
Sicherheit und weniger Risiko auf Deutschlands Straßen
zu sorgen. Nicht nur die Autofahrerinnen und Autofahrer,
sondern auch und vor allem für die nicht motorisierten
Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer wird
diese Neuregelung zu mehr Sicherheit führen. Ich appel-
liere an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser
Neuregelung zuzustimmen und daraus keine ideologische
Debatte abzuleiten.
Einen weiteren Schritt gegen das Unfallrisiko im
Straßenverkehr stellt das ebenfalls im Gesetzentwurf der
Bundesregierung vorgesehene Verbot von Radar-
warngeräten im Fahrzeug dar. Damit wird unverant-
wortliches Rasen unter tatsächlicher oder vermeintlicher
Umgehung der polizeilichen Kontrollen erschwert bzw.
konsequenter bestraft. Geräte, die rasende Autofahrer vor
etwaigen Radarkontrollen warnen sollen, funktionieren
zwar bis heute nicht wirklich zuverlässig. Sie suggerieren
aber dennoch, getrost schneller als erlaubt fahren zu kön-
nen, da man vor dem Erwischtwerden durch Kontrollen
geschützt sei. Tempolimits wie auch deren Überwachung
sind aber nur dann sinnvoll, wenn sich der Autofahrer
gezwungen sieht, sie immer zu beachten, und wenn er im
Falle der Nichteinhaltung mit seiner Entdeckung und Be-
strafung rechnen muss.
Die neue Promille-Regelung wie auch das Verbot von
Radarwarngeräten sind keine willkürlichen Einschrän-
kungen, die einem übertriebenen staatlichen Kontroll-
bedürfnis entsprechen. Es sind vielmehr notwendige und
richtige Ergänzungen bisheriger Sicherheitsvorschriften,
die Leben retten können. Denn um nichts anderes geht es
im Straßenverkehr täglich: um Leben und Tod, um Ge-
sundheit oder Verletzungen. Wenn wir durch diese
Neuregelungen helfen können, Verkehrsunfälle und ihre
schrecklichen Folgen zu vermeiden oder zu verringern,
sind wir verpflichtet, sie möglichst schnell in Kraft zu set-
zen. Genau darum bitte ich Sie alle.
Ein dritter wichtiger Punkt der von der Bun-
desregierung vorgelegten Novelle des Straßenverkehrsge-
setzes ist die seit längerem erwartete Änderung des An-
wohnerparkens. Die bisherige Regelung war durch das
Bundesverwaltungsgericht zu Fall gebracht worden: Der
Begriff des „Anwohners“ unterstellt demnach eine enge
räumliche Beziehung zwischen Wohnung und PKW-Ab-
stellort. Die Bereiche mit Sonderparkberechtigungen
haben aber zum Teil eine Ausdehnung von bis zu tausend
Metern, sodass sie häufig aufgehoben werden mussten. In
Großstädten sind aber größere Räume zum Ausgleich
zwischen dem Angebot an Parkfläche und der tatsäch-
lichen Nachfrage erforderlich. In Zukunft wird es deshalb
möglich sein, auch großräumige Bewohnerparkbereiche
einzurichten, indem in § 6 des Straßenverkehrsgesetzes
das Wort „Anwohner“ durch „Bewohner städtischer
Quartiere mit erheblichem Parkraummangel“ ersetzt
wird. Ich glaube, auch diese sinnvolle Neuregelung sollte
fraktionsübergreifend breite Zustimmung finden.
Schließlich beschäftigt uns heute noch die Diskussion
des „Unfallverhütungsberichts Straßenverkehr“ der Bun-
desregierung für die Jahre 1998 und 1999. Er gibt einen
umfassenden Überblick über das Unfallgeschehen und
die Unfallursachen auf Deutschlands Straßen. Er berichtet
aber auch sehr genau über die zahlreichen und verdienst-
vollen Leistungen des Bundes und anderer Maßnahmen-
träger, die sich aktiv um eine Verbesserung der
Verkehrssicherheit bemühen. Er reportiert auch die For-
schungstätigkeit und die großartige Arbeit der Verbände
im Bereich der Verkehrssicherheit.
Das Ergebnis dieser Übersicht ist in einem Punkt relativ
ermutigend: Das Risiko, im Straßenverkehr tödlich zu
verunglücken, war Anfang der 90er-Jahre höher als heute.
1990 gab es in Deutschland bei rund 42 Millionen Kfz mit
einer Fahrleistung von etwa 550 Milliarden km insgesamt
11 000 Straßenverkehrstote. 1999 wurden trotz erheblich
höherer Fahrleistung mit wesentlich mehr Fahrzeugen auf
Deutschlands Straßen weniger als 7 800 Menschen töd-
lich verletzt. Rückläufig ist vor allem die Zahl der im
Straßenverkehr getöteten Kinder. Dies spricht für den Er-
folg verbesserter Sicherheitstechnik am und im Auto,
vielleicht auch für die Erfolge der Verkehrssicherheits-
erziehung.
Dennoch gibt es keinen Grund zur Zufriedenheit. Wir
müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir nach wie vor für
die beanspruchte alltägliche Automobilität einen viel zu
hohen Preis bezahlen, an den wir uns niemals gewöhnen
dürfen. Hinzu kommt, dass die Zahl der Unfälle mit Per-
sonenschäden immer noch zunimmt, von 1998 auf 1999
um fast fünf Prozent. Erst die aktuellsten, im Bericht der
Bundesregierung noch nicht erfassten Zahlen für das
erste Halbjahr 2000 zeigen Gott sei Dank auch hier eine
rückläufige Tendenz.
In jedem Falle ist jeder Verkehrstote und jeder Verletz-
te ein Opfer zu viel, ein Opfer, das jede Anstrengung
rechtfertigt, zu mehr Sicherheit im Verkehr beizutragen,
zum Beispiel auch durch die eingangs vorgestellten
Neuregelungen im Straßenverkehrsgesetz. Die immer
noch hohe Unfallzahl im Straßenverkehr ist aber auch ein
weiterer Anlass, die Bemühungen zum Ausbau und zur
Attraktivitätsverbesserung der sichereren Verkehrssys-
teme Bus und Bahn zu verstärken und durch ein beson-
deres Verkehrssicherheitsprogramm neue Impulse für
mehr Sicherheit zu geben.
Die Bundesregierung, aber auch wir alle als Verkehrs-
teilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer stehen in der
Pflicht, das Menschenmögliche zu tun, um Mobilität
sicherer zu machen. Ich erwarte und erhoffe mir dafür im
Bundestag eine breite Übereinstimmung.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12285
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Horst Friedrich (Bayreuth) (F.D.P.):Wir reden heute
über den Unfallverhütungsbericht des Bundesministeri-
ums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen für 1998 und
1999 und über den Gesetzentwurf der Bundesregierung,
der aus diesem Bericht offenbar Lehren ziehen soll.
Ich will mich gar nicht lange mit den Details aufhalten,
die im Zweifel unstrittig – es handelt sich um eine reine
Übernahme von Erfahrungen aus der Praxis in den Ge-
setzestext – sind. Hierzu gehört auch das Thema Park-
raumbewirtschaftung, bei dem das Haus auf eine höchst-
richterliche Entscheidung einigermaßen liberal reagiert
hat. Es wird dann an den Kommunen sein, nicht zu re-
striktiv vorzugehen. Nebenbei bemerkt, es zeigt sich
hieran auch, dass in den Fachabteilungen immer dann,
wenn keine ideologischen Denkverbote auf sie herunter-
prasseln, noch immer Sachkenntnis existiert.
Diese Sachkenntnis zu nutzen, sollte eigentlich auf al-
len Politikfeldern der Normalfall sein. In puncto Promil-
legrenze hat man sich allerdings von allzu viel Sachver-
stand nicht blenden lassen. Bei den alkoholverursachten
Unfällen sind nicht die Fahrer mit einem Wert von 0,5
Promille bis 0,8 Promille das Problem, sondern die „Ex-
tremtrinker“, die Werte von über 1,6 Promille aufweisen.
Es handelt sich also um Werte, die deutlich über der ab-
soluten Fahruntüchtigkeit liegen.
Wenn der Minister den Unfallverhütungsbericht seines
eigenen Hauses, der doch die Grundlage des Gesetzent-
wurfes bildet, richtig gelesen hätte, dann hätte er an der
bestehenden Promilleregelung nichts geändert. Denn
96 Prozent der Autofahrer halten sich an die Vorgabe,
nichts zu trinken; nur 4 Prozent werden überhaupt auffäl-
lig. Von diesen ist es wiederum nur ein Teil, der absolut
fahruntüchtig ist. Dieser – nur dieser – wird größer. Man
kann etwas für die Verkehrssicherheit tun, indem man die
Kontrollen verstärkt und mit gerichtsfest verwertbaren
Meßmethoden – die leider auch nicht immer zu finden
sind – arbeitet.
Auch im internationalen Vergleich muss man nur in
den Unfallverhütungsbericht schauen, um sogleich
Frankreich mit wesentlich mehr Verkehrstoten bei niedri-
gerer Promillegrenze zu finden. Dies steht im Gegensatz
zu der Gesetzesbegründung, in der von einer notwendigen
Anpassung der Grenze im internationalen Vergleich ge-
sprochen wird.
Die bestehende Grenze ist auch nicht zu kompliziert.
Man kann sie ganz einfach erklären, und jeder wird sie
verstehen: Bei unauffälligem Verhalten gilt bei 0,5 Pro-
mille Geldbuße und bei 0,8 Fahrverbot. Diese Regelung
hat sich bewährt. Bei auffälligem Verhalten dagegen galt
und gilt weiterhin die Grenze von 0,3 Promille – die ei-
gentlich strafrechtlich relevante Grenze in Deutschland.
Ihr Konzept schießt dagegen mit Kanonen auf Spatzen,
obwohl die Krähen ganz woanders sitzen. Vielleicht soll-
ten Sie mehr Zielwasser trinken.
Dr. Winfried Wolf (PDS): Ich möchte mich hier auf
den Bericht der Bundesregierung zur Unfallverhütung im
Straßenverkehr konzentrieren. Natürlich ist die in diesem
Bericht über einen längeren Zeitraum belegte rückläufige
Zahl der Straßenverkehrsopfer zu begrüßen. Gleichzeitig
bleibt es richtig, dass 7 749 Tote im bundesdeutschen
Straßenverkehr 1999 7 749 Tote zuviel und in jeden Fall
ein gewaltiger Blutzoll sind. Generell sollte der Blick
nicht allzu sehr auf die Verkehrstoten konzentriert sein.
Die Zahl der Verletzten – rund 500 000 im Jahr – und die
Zahl der Schwerverletzten – rund 100 000 im Jahr – sind
ebenfalls wichtige Größen. In einigen Teilbereichen gab
es auch Zunahmen. So im Fall der Zahl der Unfälle im
Kfz-Verkehr und im Fall der Zahl der Verletzten.
Ein besonderes Problem, das im Bericht der Bundesre-
gierung kaum angesprochen wird, stellt die enorme Dis-
krepanz auf Bundesländerebene dar. Im Grunde haben wir
hier vier erheblich auseinander liegende Gruppen. Da sind
zum einen die Stadtstaaten Hamburg, Bremen und Berlin.
In diesen gibt es „nur“ 26 bis 30 Tote auf eine Million
Einwohner. Dann haben wir zweitens die übrigen west-
deutschen Bundesländer und das Bundesland Sachsen. In
diesen liegt die Zahl der im Straßenverkehr je 1 Million
Einwohner Getöteten bei durchschnittlich 100. Drittens
haben wir die Bundesländer Thüringen und Sachsen-An-
halt mit 137 bzw. 131 Getöteten je 1 Million Einwohner.
Und schließlich haben wir die Bundesländer Brandenburg
und Mecklenburg-Vorpommern mit 187 bzw. 208 Getöte-
ten je 1 Million Einwohner.
Für die erste Kategorie gibt es eine einleuchtende Er-
klärung: In den Städten gibt es eine durchweg begrenzte
Kfz-Geschwindigkeit von normalerweise 50 km/h und
teilweise in den Wohnquartieren ein maximales Tempo
von 30 km/h. Die Spitzenwerte in den erwähnten zwei ost-
deutschen Ländern Mecklenburg-Vorpommern und Bran-
denburg, aber im Grunde auch die erheblich über dem
westdeutschen Durchschnitt liegenden Werte in Thürin-
gen und Sachsen-Anhalt sind schwer zu erklären. Dass in
diesen Ländern die Arbeitslosenrate wesentlich über dem
westlichen Durchschnitt und auch über derjenigen in
Sachsen liegt, spielt möglicherweise eine Rolle, kann aber
nicht als entscheidend erkannt werden. Sicherlich wird
ein Bündel von Ursachen hierfür eine Erklärung geben
können. Und ebenso sicher ist, dass auf diesem Gebiet er-
hebliche Anstrengungen erforderlich sind, um diese Ex-
tremwerte zumindest zu nivellieren.
Über einen längeren Zeitraum hinweg betrachtet ist
noch ein Vergleich der Entwicklung zwischen den inner-
orts Getöteten und den außerhalb geschlossener Ortschaf-
ten Getöteten von Interesse. 1991 waren es 3 349 innerorts
und 7 951 außerorts im Straßenverkehr Getötete. 1998 da-
gegen 1 098 innerorts im Kfz-Verkehr Getötete und 5 884
außerhalb geschlossener Ortschaften Getötete. Das heißt:
Anfang der Neunzigerjahre machten die innerorts Getöte-
ten noch 30 Prozent aller Straßenverkehrsopfer aus. Im
Jahr 1999 machten die innerorts Getöteten „nur“ noch
15 Prozent aller Straßenverkehrstoten aus. Es gab bei den
innerorts Getöteten also nicht nur einen Rückgang bei den
absoluten Opferzahlen, sondern vor allem auch einen
enormen Rückgang bei ihrem relativen Anteil an allen
Getöteten. Dieser Entwicklung entspricht im Übrigen die
Entwicklung der im Straßenverkehr innerorts bzw. außer-
halb geschlossener Ortschaften verletzten Menschen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012286
(C)
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(B)
Die entscheidende Erklärung für diesen Prozess lautet:
Es ist offensichtlich gelungen, in den Städten grundsätz-
lich zu einer derartigen Verkehrsberuhigung beizutragen,
dass sich diese in wesentlich größeren Verbesserungen in
der Opferbilanz niederschlug als außerhalb geschlossener
Ortschaften, wo es teilweise keine Tempolimits gibt bzw.
Autobahnen, wo Geschwindigkeitsüberschreitungen mehr
die Regel sind und wo Tempolimits weit weniger kontrol-
liert werden als in geschlossenen Ortschaften.
Zum Schluss sei auf zwei Aspekte verwiesen, die in der
vorliegenden Statistik nicht auftauchen.
Erstens der internationale Vergleich. Trotz aller lobens-
werter Fortschritte, die es bei den Straßenverkehrsopfern
gibt, steht unser Land keineswegs im EU-Vergleich am
besten da. In der BRD wurden 1997 10,4 Menschen je
100 000 Einwohner im Schnitt im Kfz-Verkehr getötet (so
die letzten verfügbaren Zahlen – in „Verkehr in Zahlen
1999“, S. 29). In allen skandinavischen Ländern liegt je-
doch dieser Wert deutlich darunter: In Finnland bei 8,5, in
Schweden bei 6,1, in Dänemark bei 9,3 und in den Nie-
derlanden bei 7,5. Auch im Vereinigten Königreich Groß-
britannien wurden im Jahr 1997 „nur“ 6,3 Menschen je
100 000 Einwohner im Kfz-Verkehr getötet – knapp
40 Prozent weniger als in der Bundesrepublik Deutsch-
land.
Zweitens der Vergleich Männer – Frauen. Dieser wird
in den uns vorliegenden Statistiken ebenfalls nicht wie-
dergegeben. Frauen verursachen im Vergleich zu Män-
nern und unter Berücksichtigung der unterschiedlichen
Fahrleistung zwar ähnlich viele Unfälle wie Männer.
Doch bei den von Frauen verursachten Unfällen kommt es
nur in der Hälfte der Fälle zu Straßenverkehrstoten und
nur zu halb so vielen Schwerverletzten wie bei den von
Männern verursachten Unfällen – wohlgemerkt immer
bei Berücksichtigung der unterschiedlichen Fahrleistun-
gen. Auch diese Tatsache sollte zu denken geben und
könnte ein Ansatzpunkt für weitere Verbesserungen in der
Unfallbilanz sein. Ziele müssen die Entschleunigung,
Tempolimits und ein Abbau des Macho-Gehabes im Ver-
kehr sein. Wobei das Letztere eng mit dem Ersteren zu-
samenhängt.
Siegfried Scheffler, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen:
Die Erhöhung der Verkehrssicherheit ist und bleibt eine
der wichtigsten Aufgaben der Verkehrspolitik. Das
BMVBW räumt der Verkehrssicherheit höchste Priorität
ein. Die zunehmende Mobilität wird nur dann akzeptiert,
wenn auch ein hohes Maß an Verkehrssicherheit gewähr-
leistet wird. Unser Verkehrssystem wird immer komple-
xer. Deshalb müssen wir bestehende Unfallgefahren be-
seitigen und künftige Sicherheitsrisiken frühzeitig erkennen,
um sie zu verhindern.
Für alle Verkehrsträger gilt grundsätzlich, dass die
Eigenverantwortung der Verkehrsteilnehmer, der Trans-
portunternehmen und der Hersteller gestärkt werden muss.
Auch der Einsatz moderner Verkehrstechnik kann zur wei-
teren Verbesserung der Verkehrssicherheit beitragen.
Um die von allen geforderte Verkehrswende zu schaf-
fen, brauchen wir zunächst eine umfassende Bestandsauf-
nahme der Verkehrsentwicklung – auch der Unfallursa-
chen und -risiken. Wir gehen diese Bestandsaufnahme in
allen Bereichen an: bei großen Projekten wie der Überar-
beitung des Bundesverkehrswegeplanes, wie auch in der
Verkehrssicherheit. Der vorgelegte Bericht zur Unfallent-
wicklung 2000 ist ein wichtiger Baustein unserer inte-
grierten Verkehrspolitik. Der Bericht steht in unmittelba-
rem Zusammenhang mit dem Verkehrsbericht 2000, den
wir in Kürze vorlegen werden. Er dient als Zwischen-
schritt für die Überarbeitung des Bundesverkehrswege-
planes. Danach folgt ein umfassendes Verkehrssicher-
heitsprogramm, das wir Anfang nächsten Jahres vorlegen
werden.
Der Unfallverhütungsbericht Straßenverkehr stellt die
Unfallsituation auf deutschen Straßen dar und informiert
umfassend über unsere Maßnahmen zur Verkehrssicher-
heit. Straßenverkehrsunfälle sind in der Regel keine
schicksalhafte, unvermeidbare Nebenerscheinung des
Straßenverkehrs, sondern in den meisten Fällen Folgen
vermeidbaren menschlichen Fehlverhaltens. Obwohl die
Zahl der tödlichen Unfälle in den letzten Jahren stetig
zurückgegangen ist, bedeuten die jährlich Tausende von
Straßenunfällen mit Personenschäden und zum Teil
schweren Verletzungen einen tiefen Einschnitt in die Le-
bensqualität – auch in das allgemeine Sicherheitsgefühl –
der Bürger und Bürgerinnen unseres Landes. Im interna-
tionalen Vergleich befindet sich Deutschland bei der Un-
fallhäufigkeit – bezogen auf die Bevölkerungszahl, den
Fahrzeugbestand und die Länge des Straßennetzes – nur
im Mittelfeld. Das muss sich ändern.
Zu den Unfallrisiken. Festzuhalten ist: Der Fahrzeug-
bestand ist gestiegen, aber das Risiko, bei einem Straßen-
verkehrsunfall getötet zu werden, ist gesunken. Die Zahl
der Verkehrsunfälle insgesamt ist leider nicht zurück-
gegangen. Positiv ist der Rückgang der schweren Ver-
kehrsunfälle bei Kindern. Dennoch bleibt viel zu tun: Die
Aufmerksamkeit der Bundesregierung gilt daher insbe-
sondere dem Schutz der schwächeren Verkehrsteilneh-
mer, von Kindern und Älteren. Nach wie vor sind junge
Fahranfänger am meisten gefährdet. Auch auf den Land-
straßen passieren überdurchschnittlich viele Verkehrsun-
fälle.
Zur Unfallentwicklung in den ersten drei Monaten
2000. Die Ad-hoc-Unfallexpertengruppe hat festgestellt:
Die erhöhten Unfallzahlen im ersten Quartal 2000 gehen
weitgehend auf eine milde Witterung und den zusätzli-
chen Schalttag im Februar zurück. Die Expertenkommis-
sion glaubt, dass sich die Unfallentwicklung nicht negativ
verändern wird. Die Expertengruppe bestätigt auch, dass
mit dem Verkehrssicherheitsprogramm, das wir Anfang
des nächsten Jahres vorlegen werden, wichtige Schritte
zur Verbesserung der Verkehrssicherheit eingeleitet wer-
den.
Mein Fazit: Die Bundesregierung wird die Verkehrssi-
cherheit kontinuierlich fördern und verbessern. Unsere
Maßnahmen tragen bereits erste Früchte und werden von
Experten bestätigt.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12287
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Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Für ein fahrrad-
freundliches Deutschland (Tagesordnung 12)
Heide Mattischek (SPD): Obwohl Berlin nicht ge-
rade die besten Rahmenbedingungen für Radler und Rad-
lerinnen bietet – schon gar nicht im Regierungsviertel –,
sehe ich hier mehr Abgeordnete, die sich des Fahrrads be-
dienen als je zuvor. Ich bedaure es außerordentlich, dass
die konstruktiven Bemühungen des ADFC um ein „fahr-
radfreundliches Regierungsviertel“ weder bei der damali-
gen Bundesregierung noch bei der Berliner Stadtregie-
rung auf Interesse gestoßen sind.
Der „1. Fahrradbericht der Bundesregierung über die
Situation des Fahrradverkehrs in der Bundesrepublik
Deutschland“ ist eine wichtige Zäsur: Die derzeitige Si-
tuation des Radverkehrs in Deutschland wird systema-
tisch dargestellt. Die grundlegenden Probleme werden be-
nannt, Vorbildleistungen im In- und Ausland aufgezeigt,
Empfehlungen zur Verbesserung des Radverkehrs formu-
liert.
Ich begrüße es sehr, dass die jetzige Bundesregierung
trotz der besonderen Zuständigkeit der Kommunen bei In-
vestitionen und bei Infrastrukturmaßnahmen auch die
Verantwortung des Bundes hervorhebt, die die frühere
Regierung eher von sich gewiesen hat. Ich freue mich des-
halb, dass die CDU/CSU-Kollegen in einem neuerlichen
Antrag dies auch so sehen. Nicht nur, weil in dem Antrag
meine Heimatstadt Erlangen lobend erwähnt wird, sehe
ich sehr viel positive Ansätze darin. Eine Reihe von For-
derungen, die Sie erheben, sind diskussionswürdig. Es
bleibt allerdings die Frage offen, warum Sie diese nicht in
den Jahren 1982 bis 1998 gestellt und erfüllt haben.
Da wir uns, Herr Kollege Börnsen, in dem Ziel einig
sind, den Fahrradanteil am Alltagsverkehr spürbar anzu-
heben, müssen wir nach Wegen suchen, dieses Ziel zu er-
reichen. Wenn wir auf diesem Weg ein gutes Stück ge-
meinsam gehen könnten, würde es der Sache nicht schaden.
Wir haben überfraktionell eine öffentliche Anhörung
zum Thema Fahrradverkehr beschlossen, die am 24. Ja-
nuar 2001 stattfinden wird. Daraus werden uns gewiss
weitere Erkenntnisse erwachsen.
Ich begrüße es sehr, dass die jetzige Bundesregierung
nicht nur einfach den Fahrradbericht vorgelegt hat, son-
dern erste Schlüsse daraus gezogen hat. Es gibt seit dem
letzten Jahr einen Bund-Länder-Arbeitskreis, der auch
den Sachverstand von Verbänden wie dem ADFC und
dem VCD mit einbezieht.
Ich erwarte, dass wir nach der Anhörung mehr darüber
wissen, welche Strategie zum Beispiel die Niederlande
entwickelt und umgesetzt haben, um dem Fahrradanteil
auf beinahe 30 Prozent anzuheben. Weder ist das Klima
dort bemerkenswert anders noch ist die Topographie in
Deutschland hauptsächlich alpin. Es gibt also noch
großen Handlungsbedarf: Die Sicherheit muss erheblich
verbessert werden, die Infrastruktur braucht erhebliche
Verstärkung, für den Imagegewinn muss etwas getan wer-
den, auch der Verbund mit ÖPNV und Fernverkehr ist
noch nicht optimal – bei aller Anerkennung des Erreich-
ten. Ein Stück Benachteiligung wird jetzt durch die Um-
wandlung der Kilometerpauschale in eine – lange gefor-
derte – Entfernungspauschale beseitigt.
Man kann es nicht oft genug sagen: Die gesamtwirt-
schaftlichen positiven Effekte des Fahrradfahrens sind
beachtlich: das Einsparpotenzial im Gesundheitssystem,
die Umsatzsteigerungen bei Reiseveranstaltern, in der
Gastronomie und im Beherbergungsgewerbe sowie
8 Milliarden DM Umsatz bei Herstellung, Handel und
Dienstleistung. Und überall bestehen noch Steigerungs-
möglichkeiten. Umso mehr ist zu begrüßen, dass im
Fahrradbericht aufgezeigt wird, dass das Fahrrad als
„System“ eine Zukunft hat, wie uns das ziemlich per-
fekte „System Auto“ täglich vor Augen führt.
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Die
Renaissance des Fahrrades hat Mitte der 70er-Jahre ein-
gesetzt. Heute gibt es 75 Millionen Räder in Deutschland.
Am Gesamtverkehrsaufkommen ist der Radverkehr bei
uns mit 12 Prozent beteiligt – bei steigender Tendenz. Wir
von der Union begrüßen diese Entwicklung und werden
sie weiter fördern.
Die Trendwende zu mehr Fahrrad hat zwei Ursachen.
Bei immer mehr Bürgerinnen und Bürgern gilt das Rad als
umweltschonendes, gesundheitsförderndes und energie-
sparendes Verkehrsmittel. Bei den Kommunen, den Bun-
desländern und den Bundesregierungen hat durch die
Energiekrise der 70er-Jahre ein Umdenkungsprozess hin
zu mehr Förderung des Fahrradverkehrs eingesetzt.
Bürgerinteresse und politischer Wille haben dazu geführt,
dass heute bereits 35 Prozent aller Radfahrer ihr Rad zur
Fahrt zu Arbeit und Ausbildung nutzen, weitere 35 Pro-
zent zum Freizeitvergnügen und fast 30 Prozent für Ein-
kaufsfahrten.
Obwohl die Städte, Gemeinden und die Länder eine
vorrangige Zuständigkeit für Investitionen in verbesserte
Radfahrbedingungen haben, hat der Bund in den vergan-
genen 20 Jahren beispielhaft gehandelt. Das Radwegesys-
tem an Bundesstraßen wurde von 6 300 Kilometern auf
heute 15 000 Kilometer mehr als verdoppelt. Allein in den
neuen Bundesländern wurde eine Erweiterung der Rad-
wege von 500 Kilometern in zehn Jahren auf jetzt fast
2 000 Kilometer erzielt. Mit Beginn dieses neuen Jahr-
hunderts sind ein Drittel aller Bundesstraßen mit Radwe-
gen versehen, das heißt, prozentual verfügen die Bundes-
straßen über doppelt so viele Radwege wie Landes- oder
Kreisstraßen. Dieses anerkennenswerte Resultat wurde
möglich, weil die GVFG-Mittel auf 1 Milliarde DM jähr-
lich aufgestockt wurden. Leider hat die derzeitige Bun-
desregierung diesen Fonds wesentlich gekürzt, zum
Nachteil des Radwegebaus, zum Nachteil der Radfahrer.
Einen Durchbruch zu mehr Rechten für Radfahrer hat
die Radfahrnovelle von 1997 gebracht, unter anderem mit
ihrer Einbahnstraßen- und Sonderstreifenregelung. Hier
erwarten wir, dass aus der Probephase eine Dauerregelung
zum Jahresende wird.
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Einen weiteren Durchbruch für eine kombinierte Fahr-
radförderung wurde die Öffnung der GVFG-Mittel auch
für die Schaffung von Bike-and-Ride-Anlagen an Bahn-
und Bushöfen. Dazu ist auch die Regelmitnahme für
Fahrräder durch die DB AG zu rechnen. Sie betrug 1991
818 000 im Schienennahverkehr und verdoppelte sich in
sieben Jahren auf 1,6 Millionen. In den Fernzügen hat sie
sich in den 90er-Jahren von anfänglich 200 000 auf mehr
als 600 000 verdreifacht.
Ein deutliches Signal hat die Bundesrepublik auch bei
der Novellierung der StVO in sieben Punkten für den
Radverkehr gesetzt. Sie wurde zu einer tatsächlichen Un-
fallverhütungsvorschrift mit dem Resultat, dass Radfahr-
unfälle von 74 000 Anfang der 90er-Jahre auf 68 879 im
Jahr 1998 gesenkt werden konnten, trotz einer Zunahme
des Radverkehrs. Doch nehmen bei Kindern und Senioren
die Radfahrunfälle leider wieder zu. Die Entscheidung der
Regierung, die Mittel für die Verkehrssicherheit um
4Millionen DM gegenüber 1999 zu kürzen, ist in diesem
Zusammenhang unverantwortlich und kontraproduktiv.
Diese wenigen Belege zeigen: Wir von der Union ha-
ben klar und konsequent eine Pro-Fahrrad-Politik betrie-
ben. Die über 60 Millionen Radfahrerinnen und Radfah-
rer in Deutschland können sich auf uns verlassen. Das
wird sich auch nicht ändern. Die rot-grüne Regierung hat
bei ihrer Fahrradpolitik in diesem Jahr mit einer Verdop-
pelung der Verwarngelder für Radfahrerinnen und Rad-
fahrer einen besonderen Akzent gesetzt. Diese Maßnah-
men hat viele Radler verärgert, fühlen sie sich doch
gestraft, obwohl sich die große Mehrheit verkehrsgerecht
verhält. Nun müssen alle für wenige Radfahr-Rambos
büßen.
Eine Alternative zum Auto ist der Drahtesel im Kurz-
streckenbereich allemal. Staaten wie Dänemark und die
Niederlande mit einem Radverkehrsanteil von 27 Prozent
machen deutlich, dass es auch bei uns noch Entwick-
lungspotenziale gibt.
Wir stellen uns für die Umsetzung dieser Perspektive
die Schaffung eines nationalen Fahrradforums vor. Der
Bund-Länder-Arbeitskreis kann dafür durchaus die Basis
sein, gemeinsam mit Pro-Fahrrad-Organisationen. Dieses
„Deutsche Fahrradforum“ hätte eine Koordinierungs-
funktion, wäre Bindeglied zwischen den verschiedenen
Ebenen, ohne in die Vorort-Kompetenz einzugreifen.
Zum Vorschlag Masterplan unterscheidet sich unsere Al-
ternative durch mehr Respekt vor der föderativen Rechts-
Struktur unseres Landes. Gemeinsam ist beiden, dass sie
sich als sachliche Folgerung aus dem ersten Fahrradbe-
richt der Bundesregierung ergeben. Diese Dokumentation
ist ein Werk aus der Ministerzeit von Matthias Wissmann.
Dass sie ungekürzt von der derzeitigen Regierung über-
nommen und zur Grundlage für die Fahrradpolitik erklärt
worden ist, spricht für die Qualität des Papiers, aber auch
für den Pragmatismus des Hauses Klimmt.
Unser heute hier vorgelegter Antrag, der Ausgangs-
punkt dieser Debatte, will in seiner Zielsetzung die At-
traktivität des Fahrradverkehrs steigern, den Mobilitäts-
raum für das Rad erweitern, die Sicherheitsbedingungen
verbessern, das Potenzial zum Umsteigen auf das Rad er-
höhen, insgesamt eine weitere Klimaverbesserung für das
Verkehrsmittel Fahrrad in unserem Land erreichen.
In zehn Punkten sehen wir konkrete Handlungsmög-
lichkeiten. Dazu gehört unter andem die Schaffung eines
bundesweiten Radwegenetzes, also Ausweisung von
Bundes-Radtouren, wie sie in der Schweiz als so genannte
nationale Routen mit Erfolg praktiziert werden, um den
touristischen Aspekt zu verstärken. Weiter halten wir auch
die Optimierung des Dienstleistungsangebotes der Bahn
für Fahrrad-Reisende für erforderlich.
Noch wenig berücksichtigt bleibt bei der Bundesre-
gierung derzeit der Tatbestand, dass das Unfallrisiko
von Radfahrern mehr als doppelt so hoch wie bei
PKW-Fahrern und Fußgängern ist. Radfahrer haben keine
Knautschzone. Je mehr wir die Sicherheit für sie verbes-
sern, umso größer ist die Bereitschaft, auf das Rad umzu-
steigen. Deshalb plädieren wir mit Nachdruck für die An-
hebung der Mittel für die Verkehrssicherheit, die
gegenüber 1999 durch die rot-grüne Regierung gekürzt
wurden. Wer für mehr Rad ist, der zeigt durch sein Ab-
stimmungsverhalten heute, ob er es auch ernst meint mit
der Förderung des Fahrradverkehrs, der sagt Ja zu unse-
rem Antrag.
Völlig unberücksichtigt bleibt bei der Regierung der
Sachverhalt, dass es zu circa 420 000 Fahrraddiebstählen
pro Jahr in unserem Land kommt – bei einer Auf-
klärungsquote von 9 Prozent und einem Versicherungs-
schaden, den wir alle zu tragen haben, in Höhe von circa
130 Millionen DM jährlich, legt man einen Fahrradwert
von nur 300 DM zugrunde. Wenn Jahr für Jahr fast eine
halbe Millionen Menschen bittere Erfahrungen mit dem
Fahrradklau machen, fördert das nicht die Attraktivität
dieses Verkehrsmittels.
Erfreulich an den vorgelegten Fahrradinitiativen ist die
weitgehende Übereinstimmung über alle Fraktionen hin-
weg. Erfreulich ist auch, dass immer mehr unserer
eigenen Kollegen als Radfahrer in Berlin und zu Hause
unterwegs sind und gute Beispiele geben.
Wenig hilfreich jedoch ist die Ausrichtung von Bundes-
kanzler Schröder in Wort und Tat, allein dem Auto offen-
sichtlich Vorrang einzuräumen. Das gilt auch für den Frak-
tionsvorsitzenden der Bündnisgrünen, Rezzo Schlauch, in
seiner kürzlich erfolgten von vielen Radfahrerinnen und
Radfahrern als provozierend empfundenen Porsche-Prä-
sentation. Peinlich muss diese Aktion auch auf die Mitglie-
der seiner Fraktion wirken, die sich seit Jahren um Pedes
und nicht um Porsche bemüht haben. Nein, wer so um das
Auto buhlt, der hat seine Glaubwürdigkeit als Radfahrer-
Partei verloren.
Wir von der Union stehen für ein ganzheitliches Ver-
kehrskonzept, das alle Verkehrsträger berücksichtigt.
Es geht von den Fragen aus: Wie sichere ich das Mobi-
litätsbedürfnis der Bürgerinnen und Bürger? Was ist öko-
logisch und ökonomisch vertretbar? Das Fahrrad stellt im
Kurzstreckenbereich durchaus eine Alternative zum Auto
dar, nicht nur der ÖPNV. Fast 50 Prozent aller PKW-Fahr-
ten liegen unterhalb der 5-Kilometer-Grenze. Wenn
Städte wie Münster und Erlangen es erreichen, dass der
Anteil der Fahrräder am Gesamtverkehr bei 40 Prozent
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liegt, dann sollten andere Kommunen, auch wenn deren
Landschaftsstruktur nicht so ideal ist, zumindest ein
25-Prozent-Ziel anpeilen – bei systematischer Förderung
des Fahrradverkehrs ein durchaus erreichbares Resultat,
wenn die Infrastruktur um das Rad, angefangen von
sicheren Parkhäusern, mit beachtet wird.
Vergessen wir bei unserer Absicht zu mehr Fahrradför-
derung nicht den Tatbestand, dass ein neues Verkehrsmit-
tel auch im Alltag – nicht nur im Freizeitverkehr – im
Kommen ist: die Inline-Skater. Auch hier sollte gelten, die
begonnene Initiative zu stärken, sie in das Gesamtver-
kehrssystem einzubinden. Wir erwarten als Grundlage
dafür einen Bericht der Bundesregierung. Wie beim Fahr-
rad geht es auch hier um ein umweltschonendes, gesund-
heitsförderndes und energiesparendes Verkehrsmittel,
und beiden ist eigen: Sie bereiten Vergnügen.
Zu Dank verpflichtet ist der Deutsche Bundestag all
denen, die auch beim Fahrradverkehr kompetent und ve-
rantwortungsbewusst mit Rat und Tat der Politik zur Seite
stehen, vom Deutschen Verkehrssicherheitsrat über den
ADFC, die Verkehrswacht und weiteren Verkehrssicher-
heitsverbänden bis hin zur Polizei und den Fachkräften in
den Schulen. Sie alle, die oft ehrenamtlich tätig sind, sor-
gen mit für ein konstruktives Klima zur Förderung des
Fahrrades.
Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):Lange Zeit wurde Radfahren von der Politik über-
sehen und unterschätzt, zumindest von der Politik auf
Bundesebene. Das Fahrrad war allenfalls ein Thema der
Kommunalpolitik, wenn überhaupt. Dort wurde das An-
liegen nach Jahrzehnten der Missachtung in den vergan-
genen zwei Dekaden zunehmend entdeckt. Ja, man kann
sagen, Radfahren erlebte eine erfreuliche Wiederent-
deckung und -nutzung. Viele umweltbewusste Kommu-
nen haben inzwischen eine Radverkehrskonzeption und
fördern Radfahren auf vielfältige Art. Auch einzelne Bun-
desländer, allen voran das rot-grün regierte Nordrhein-
Westfalen, fördern Radfahren landesweit durch Radwege
und Zuschüsse für zum Beispiel Radstationen. Die För-
derung des Radfahrens wird allgemein als Chance gese-
hen, die Verkehrsprobleme in den Städten zu mildern und
mit wenig Mitteln ein umweltfreundliches Verkehrsmittel
voranzubringen.
Meine Fraktion, die zu Recht den Ruf hat, eine fahr-
radfreundliche zu sein – darüber können die Ausflüge
unseres Vorsitzenden im Sportwagen nicht hinwegtäu-
schen –, begrüßt es gewissermaßen mit freundlichem
Radklingeln, dass sich der Bundestag mit Radfahren be-
fasst. Der erste Radbericht einer deutschen Bundesregie-
rung, eine wirklich interessante Drucksache mit vielen in-
teressanten Informationen und Daten, liegt vor. Meine
Fraktion hat diese Woche bereits eine Anhörung im
Reichstag veranstaltet mit erfreulicher Resonanz und
guten Impulsen für ein fahrradfreundliches Land. Der
Verkehrsausschuss wird im Januar 2001 eine große An-
hörung zum Radfahren machen. Das alles sind Zeichen
dafür, dass sich nun auch die Bundespolitik dem Rad zu-
wendet. Ich freue mich, dass sich auch die CDU/CSU-
Fraktion mit dem vorliegenden Antrag klar zu einer fahr-
radfreundlichen Politik bekennt.
Radfahren, das zeigen die unterschiedlichen Untersu-
chungen, Modelle und die Erfahrungen in verschiedenen
Ländern und Kommunen wie auch Beispiele im europä-
ischen Ausland, ist nicht so sehr abhängig von der Zahl
der Berge, sondern von der Politik und der Kultur eines
Landes, einer Stadt oder einer Region. Die Schweiz,
wahrlich nicht so flach wie Norddeutschland oder die
Niederlande, führt uns vor, wie man durch eine gut auf-
einander abgestimmte Politik Radfahren im Alltag wie
auch in der Freizeit und im Urlaub fördern kann. Die
Schweiz gilt inzwischen als Velo-Musterland neben den
Niederlanden. Dort gibt es nicht nur eine lange Radfahr-
tradition, sondern auch eine strategisch abgestimmte Po-
litik, die mit einem Masterplan FIETS (RAD) das Rad-
fahren systematisch gefördert hat. Man hatte aber auch
den Mut, das Autofahren in den Innenstädten einzu-
schränken. Die deutlich höheren Radverkehrsanteile in
Holland wie in einzelnen deutschen Städten wie bei-
spielsweise Troisdorf, Münster, Erlangen, Freiburg oder
in meiner Wahlkreisstadt Tübingen zeigen, dass man mit
engagierter Politik in wenigen Jahren viel erreichen kann.
Rund 30 Prozent Anteil Radverkehr in diesen positiven
Beispielen, aber 5 Prozent und weniger in anderen Kom-
munen, leider vor allem in den neuen Bundesländern.
Die Hälfte aller Autofahrten haben eine Entfernung un-
ter 6 Kilometer. Das ist die ideale Distanz fürs Rad. In die-
sem Fall ist das Rad meistens das schnellste Transport-
mittel. Wenn wir es schaffen könnten, von diesen
Kurzfahrten einen größeren Anteil aufs Rad zu verlagern,
hätten wir viel fürs Klima und die Luftreinhaltung getan.
Berechnungen des Umweltbundesamtes belegen, dass bis
zu 7 Millionen Tonnen C02-Minderung pro Jahr zu erzie-len wäre, wenn 30 Prozent dieses Autoverkehrs aufs Rad
verlagert werden könnten, oder bar bis zu 13 Millionen
Tonnen, wenn wir 30 Prozent des Autoverkehrs bis 10 Ki-
lometer umschichten könnten. Diese Mengen erreicht
man sonst nur mit massiven Eingriffen in die Wirtschaft
oder in den Autoverkehr mit einem Tempolimit.
Die spannende Frage ist: Warum wird trotz so vieler
Vorzüge so wenig Rad gefahren, im Durchschnitt in
Deutschland West circa 12 Prozent, in Deutschland Ost
9 Prozent? Es gibt leider noch zahlreiche Barrieren auf
den Straßen, in den Köpfen und in den Körpern. Es gibt
trotz eines massiven Ausbaus zu wenig Radwege bzw. si-
chere Wege und Straßen zum Radfahren. Es muss nicht
immer der teure separate Radweg auf dem Gehweg sein
mit Kanten und Absätzen, eng und zugeparkt. Oft ist ein
Sicherheitsstreifen als Fahrspur am Rande der Straße bes-
ser und billiger. Es gibt noch immer viel zu wenige sichere
Abstellplätze und es gibt nach wie vor keine wirklich gute
Mitnahmebedingungen bei öffentlichen Verkehrsmitteln.
Die Bahn hat eigens eingerichtete Fahrradabteile, eigent-
lich ein Fortschritt gegenüber früher. Gleichzeitig sind bei
manchen Wagentypen die Türen zu eng und Treppen zu
steil für passables Einsteigen. Man muss fast ein Balan-
cekünstler sein beim Ein- und Aussteigen. Ich führe dies
hier so aus, weil das Beispiel veranschaulicht, dass die
Konstrukteure und Planer die Radmitnahme nicht wirk-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012290
(C)
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(B)
lich im Kopf haben. Es mangelt an einer Kultur des Rad-
fahrens. Das muss sich ändern.
Was ist zu tun? Zunächst muss der Bund seine Verant-
wortung wahrnehmen, sich auch fürs Radfahren und den
Radwegebau zuständig zu fühlen. Ich sehe mit Freude,
dass alle Fraktionen in diese Richtung denken. Wir schla-
gen vor, dass das Verkehrsministerium alle Beteiligten
einlädt zu einem Runden Tisch Rad. Dies könnte der erste
Schritt zu einem Masterplan RAD sein, den wir wie der
VCD und der ADFC und andere Umweltorganisationen
fordern. Ein Masterplan RAD müsste Ziele, Maßnahmen
und Schritte, möglichst im breiten Konsens aller Betrof-
fenen und Verantwortlichen aller politischen Ebenen,
festlegen und eine gemeinsame Strategie beinhalten. Ein
Masterplan müsste aufzeigen, wie Deutschland zum fahr-
radfreundlichen Land gemacht werden kann. Dieser Plan
muss vor allem ein kommunikativer Prozess sein und mit
einer Kampagne „FahrRad“ verbunden werden, damit wir
es schaffen, in den nächsten 10 Jahren den Anteil des Rad-
verkehrs zu verdoppeln oder wenigstens auf 20 Prozent zu
steigern.
Die Anhörung im Januar wird uns hierzu sicher noch
weitere Anregungen geben. Wir Grünen werden dazu
gerne in Kooperation mit unserem Koalitionspartner ei-
nen Antrag erarbeiten. Ich könnte mir sogar vorstellen,
wenn ich mir die Forderungen des vorliegenden
CDU/CSU-Antrages betrachte, dass wir ein fraktions-
übergreifendes Bündnis „ProRad“ zustande bekommen.
Wir sollten es versuchen. Die Radfahrerinnen und Rad-
fahrer würden sich freuen.
Hans-Michael Goldmann (F.D.P.): Radfahren macht
Spaß! Außerdem ist es gesund, leise, schnell, flexibel,
sportlich, ökologisch und kostengünstig. Kein Wunder,
dass sich inzwischen die unterschiedlichsten Interessen-
gruppen für den Radverkehr stark machen. So ist es gut,
dass wir im Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungs-
wesen beschlossen haben, am 24. Januar 2001 eine An-
hörung zum Radverkehr durchzuführen. Schon heute gibt
mir der Tagesordnungspunkt „Für ein fahrradfreundliches
Deutschland“ Gelegenheit, mich als absoluter Fahrradfan
zu outen. Nicht nur in meiner Jugend war ich mit meiner
guten alten Rixe in Deutschland unterwegs, sondern auch
heute trägt mich meine Gazelle an vielen Wochenenden
durch die fahrradfreundliche Landschaft des Emslandes
und Ostfrieslands.
Fahrradfahren hat eine echte Renaissance in Deutsch-
land erlebt. So kommt es auch, dass bereits zum zweiten
Mal in Folge in Deutschland die Fahrradproduktionszah-
len deutlich gestiegen sind. 1999 kletterte die Zahl der bei
uns gefertigten Fahrräder auf 3,2 Millionen, das sind noch
einmal 2 Prozent mehr als im Jahr zuvor, und das sichert
viele Arbeitsplätze in einer äußerst innovativen Branche.
Gestiegen sind die Durchschnittsqualitäten, und das aus
gutem Grunde, denn die Kunden legen immer mehr Wert
auf eine hervorragende Ausstattung ihrer Fahrräder. So
sind komfortable Federungssysteme, zupackende Brem-
sen und leistungsfähige Lichtanlagen für den echten Bi-
ker heute eine absolute Notwendigkeit. Die Modelle, die
von der Fahrradindustrie angeboten werden, decken den
Tourenradbereich, das Trekking-Cross oder das MTB-
Sportive-Bike ab. Ja, sogar Rennmaschinen haben Kon-
junktur, nachdem sich auch sportliche Erfolge in diesem
Bereich eingestellt haben.
Millionen einzelne Verkehrsteilnehmer haben sich
längst für das Rad entschieden, da es auf unvergleichliche
Art Sport, Spaß und Schnelligkeit in den Alltag integriert.
Das Fahrrad ist gerade in den Städten und dicht besiedel-
ten Gegenden ein optimales Verkehrsmittel und natürlich
im Bereich des Fremdenverkehrs ein ernst zu nehmender
wirtschaftlicher Faktor. Seitens des Bundes, der Länder
und der Gemeinden sind große Anstrengungen unternom-
men worden, ein gutes Radverkehrsnetz aufzubauen.
Durch die grundlegende Novellierung der Straßenver-
kehrsordnung im Jahre 1997 sind sehr konkrete Verbesse-
rungen von der Radwegebenutzungspflicht, der Radfahr-
straße oder der Einbahnstraßenregelung für den Radfahrer
erreicht worden. Diese Schritte waren notwendig, denn
der Fahrradfahrer, der Radler ist im Konflikt mit dem mo-
torisierten Verkehr immer der Schwächere.
Wenn auch insgesamt ein positives Resümee in Bezug
auf das Fahrradfahren in Deutschland zu ziehen ist, so
kann doch nicht abgestritten werden, dass es noch Hand-
lungsbedarf gibt. Die Niederländer haben es uns vorge-
macht. Ihr Masterplan Fiets schreibt Ziele fest, die wir in
Deutschland ganz einfach übernehmen sollten: Imagever-
besserung fürs Fahrrad, Diebstahlprävention, Radrouten-
netze, Fahrradabstellanlagen an Haltestellen und Bahnhö-
fen sowie die Fahrradnutzung in der Freizeit.
Was der Masterplan Fiets für die Niederländer ist, muss
der Fahrrad-Masterplan für Deutschland sein. Mit diesem
Plan verknüpft die F.D.P. folgende Ziele:
Erstens. Umstieg vom Auto auf das Fahrrad in Verbin-
dung mit öffentlichen Verkehrsmitteln.
Zweitens. Sicherheit für Radfahrer, Fahrradparkplätze
und Diebstahlprävention.
Drittens. Vernetzung des Radverkehrs mit den Ver-
kehrs- und Transportplänen des Bundes, der Länder und
Gemeinden.
Viertens. Nutzung des Wirtschaftsfaktors Fahrrad im
Hinblick auf Herstellung, Handel, Dienstleistung und
Tourismus.
Weil wir möchten, dass immer mehr Menschen im All-
tag, im Beruf und in der Freizeit auf das Rad setzen, wer-
den wir aktiv dazu beitragen, den Radverkehr als Ge-
samtsystem zu fördern. Der VCD, der Verkehrsclub
Deutschlands hat eine breite Palette von Handlungsan-
weisungen für die Akteure aufgelistet, die am Gesamtsys-
tem Radverkehr positiv mitwirken wollen. Sie reicht vom
Bund, den Ländern und Kommunen über die Betriebe, die
Verkehrsunternehmen und Krankenkassen, die Fahrrad-
branche, die Eltern, Kindergärten und Schulen bis hin zu
den Einzelhändlern und Werbegemeinschaften sowie den
Architekten und Wohnungswirtschaftsunternehmen. Aber
auch die Tourismusbranche und die Medien werden als
wichtige Akteure richtigerweise genannt.
Radfahren macht Spaß – schon jetzt und zukünftig
noch mehr, weil wir sicherlich im Rahmen der Anhörung
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12291
(C)
(D)
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(B)
zum Fahrradverkehr in Deutschland wertvolle Anregun-
gen bekommen werden, die uns politisch so handeln
lassen werden, dass sich der Spaß und die Qualität des
Radfahrens noch steigern werden, und wir einen ent-
scheidenden Schritt zum Fahrrad-Masterplan gehen wer-
den.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
Zur Beratung der Anträge:
– Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses
– Arbeitsweise der Expertenkommission His-
torische Mitte
(Tagesordnungspunkt 14 und Zusatztagesord-
nungspunkt 12)
Monika Griefahn (SPD): Seit 1992 wird nun über die
Gestaltung des Schlossplatzes in der Berliner Mitte disku-
tiert. Ohne Zweifel ist dieser Ort ein besonderer Ort in der
Hauptstadt und verdient deshalb besondere Beachtung.
Schon in preußischer Zeit hatte er eine Strahlkraft über
Berlin hinaus und das Gesamtensemble der Berliner Mitte
– Museumsinsel, die Linden, der Pariser Platz und das
Brandenburger Tor – unterstützte diese Wirkung noch.
Seit dem Ende des Krieges, spätestens aber seit der
Sprengung des Stadtschlosses ist diese Wirkung dahin.
Erst die Zerstörung durch Bomben, dann die teilweise
Neubebauung und -gestaltung der Mitte vom Alexander-
platz zum Brandenburger Tor veränderten das Bild völlig.
Wir haben es also mit einer städtebaulichen Umwälzung
zu tun, die sowohl unter historischen als auch unter archi-
tektonischen Gesichtspunkten nicht ignoriert werden
kann.
Natürlich lädt der verwaiste Schlossplatz geradezu ein,
sich Gedanken über dessen Gestaltung zu machen. Des-
halb haben wir heute diese Debatte. Aber es kann doch
nicht im Ernst darum gehen, mit historisierenden Kon-
zepten an alten Glanz und Gloria anknüpfen zu wollen.
Das hieße, die architektonischen Realitäten der letzten
50 Jahre nicht zur Kenntnis zu nehmen. Ob man nun den
Palast der Republik oder den Marx-Engels-Platz mag
oder nicht: Sie gehören zur Geschichte der Stadt. Sie sind
Ausdruck der politischen Geschichte, dieses Landes und
sind insofern nicht weg zu diskutieren.
Das heißt aber: Wenn man sich Gedanken über die Ge-
staltung des Schlossplatzes macht, dann ist das gesamte
Umfeld dieses Geländes in die Überlegungen mit einzu-
beziehen. Nur so kann man der Geschichte der Berliner
Mitte gerecht werden. Und nur so ist es gewährleistet, das
die zukünftige Gestaltung des Schlossplatzes von der Be-
völkerung auch angenommen wird. Die alleinige Rekon-
struktion der historischen Kubatur mit ihrer historischen
Fassade ist die falsche Lösung. Sie passt nicht mehr auf
den Schlossplatz und schon gar nicht in die heutige Zeit.
Der Schlossplatz in seiner jetzigen Gestalt bietet alle
Chancen und Möglichkeiten einer Gestaltung, die sich an
den Gegebenheiten und Erfordernissen unserer zukünfti-
gen Lebenswelt orientiert.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich stelle nicht die
große baukulturelle Bedeutung des ehemaligen Stadt-
schlosses infrage. Der Schlossplatz soll auch ein Ort der
Erinnerung an die Geschichte sein. Aber gerade deshalb
kann es nicht darum gehen, die Historie einfach architek-
tonisch wieder zu beleben. Das würde weder dem Ort
noch der Zeit gerecht werden. Die Gestaltung kann nur im
Rahmen einer Gesamtkonzeption geplant werden, die
dem gesamten Umfeld des Platzes – historisch und städ-
tebaulich – gerecht wird. Dieser Ort kann daher nur öf-
fentlich, demokratisch und vor allem bürgernah gestaltet
werden. Nach meiner Auffassung widerspricht dies auch
einer rein privaten Finanzierung. Dann wäre die Gefahr
einer ausschließlich kommerziellen Nutzung viel zu groß.
Die Expertenkommission „Historische Mitte Berlins“,
die das Bundeskabinett bald einsetzen wird, wird darüber
zu befinden haben, wie der Platz genutzt werden soll, wie
welcher Bau auf der Kubatur des alten Schlosses ausse-
hen kann und welche Finanzierungskonzepte möglich
sind. Daneben soll ein städtebauliches Gesamtkonzept für
die Umgebung erstellt werden.
Diese Vorgehensweise halte ich für angemessen. Der
Kommission soll deshalb auch genug Zeit für ihre Bera-
tungen eingeräumt werden. Es wäre fatal, wenn aus Zeit-
mangel oder wegen Zeitdrucks an dieser herausragenden
Stelle in der Berliner Mitte etwas entstehen würde, das
nicht im Geringsten der Bedeutung des Ortes gerecht
würde.
Wir dürfen uns bei der Gestaltung des Schlossplatzes
nicht unter Druck setzen lassen. Wir haben es hier mit ei-
nem politischen und kulturellen Raum im humboldt-
schen Sinne zu tun, der die Elemente von Museumsinsel,
Oper und Universität ergänzen muss. Der Aspekt der Zen-
tralität dieses Ortes und die Einbeziehung dieser Idee
müssen meiner Auffassung nach die bestimmenden Ele-
mente bei der Gestaltung und Planung sein.
Deshalb muss meiner Ansicht nach zuerst die Nutzung
bestimmt werden, denn die Nutzung bestimmt auch die
anschließende Architektur. Bei der Nutzung möchte die
SPD-Fraktion eine vorwiegend öffentliche Nutzung errei-
chen. Für die öffentliche Nutzung könnte zum Beispiel
eine internationale Organisation, die den Gegensatz zwi-
schen Ost und West verbindet und in die Zukunft weist,
wie zum Beispiel die UNESCO, eine gute Institution sein.
Ein anderer interessanter Vorschlag ist der von Profes-
sor Lehmann gemachte, die Museumsinhalte aus Dahlem
als Ergänzung zur Museumsinsel für die nichteuropäische
Kulturgeschichte auf das Gelände in ein Nachfolgege-
bäude des Schlosses unterzubringen. Dieses bedeutet
aber, dass es öffentliche Nutzungen sind, die zum Teil
auch durch die öffentliche Hand mitfinanziert werden.
Interessant ist dabei auch die Auffassung von Professor
Lehmahn, dass eben auch die Dahlemer Gebäude reno-
vierungsbedürftig wären und der Mitfinanzierung bedürf-
ten, sodass diese Gelder eingespart werden könnten und
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012292
(C)
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(B)
als öffentliche Gelder mit in die Erstellung eines Gebäu-
des im Schlossareal einfließen könnten.
Die zweite Überlegung gilt der Gestaltung des Gebäu-
des und der Frage der Einbeziehung der Volkskammer.
Ich habe großen Respekt vor der Geschichte der Men-
schen in der DDR und vor denkmalgeschützten Gebäude-
teilen, die historische Bedeutung haben, nämlich des
Volkskammersaals. So gehört der Volkskammersaal si-
cherlich als ein Element mit in die Überlegung, ihn in ein
wie auch immer gestaltetes Gebäude am Schlossplatz zu
integrieren. Schwierigkeiten wird es sicherlich dabei ge-
ben, die Kubatur des Schlosses zu erhalten und trotzdem
den Volkskammersaal zu integrieren. Aber auch das ist si-
cherlich architektonisch möglich, wie wir am Potsdamer
Platz gesehen haben.
Die dritte Frage, die sich dann stellt, ist: Soll es ein mo-
dernes Gebäude oder der Wiederaufbau des Schlosses
sein? Für beides gibt es gute Argumente, Ein Wiederauf-
bau des Schlosses würde an die Tradition anschließen und
würde das Ensemble der Museumsinsel, der Humboldt-
Universität und der Oper ergänzen. Ein modernes Ge-
bäude, das zukunftsweisend ist und sich vielleicht auch
nicht architektonisch zum Beispiel an die Architektur des
Potsdamer Platzes anschließt, sondern neue Wege geht,
würde wiederum einen Blick in die Zukunft gestatten.
Sozialdemokraten sind ja auch immer gut für Kompro-
misse. Ich kann mir durchaus eine Kombination von bei-
dem vorstellen: einen Teil des Schlosses im Bauhüttever-
fahren aufzubauen, einen Teil mit der Integration des
Volkskammersaales modern zu gestalten, also eine inno-
vative Lösung für den Gesamtkomplex auf dem Schloss-
areal zu finden.
Wie gesagt, ich empfinde die Debatte heute nur als An-
regung für die Arbeitsgruppe, für die Expertenkommis-
sion, die jetzt eingerichtet werden soll. Sie wird begleitet
werden von einer Moderatorengruppe, die Regierung und
Parlamente der Bundesrepublik und des Landes Berlin
vertritt. Wir werden in den Ausschüssen – und ich bin si-
cher, dass das der Bauausschuss genauso machen wird
wie der Ausschuss für Kultur und Medien – die oder den
Vorsitzenden oder auch einzelne Mitglieder der Experten-
kommission einladen, ihre Vorstellung und die Diskus-
sion in der Expertengruppe zu hören und zu bewerten.
Klar ist, dass sich das Parlament letztendlich hinterher
ein eigenes Bild machen muss und entscheiden muss, wie
auch immer die Vorschläge aus der Expertengruppe sein
werden. In diesem Sinne werden wir auch die bestehen-
den Anträge der F.D.P., der schon eingebracht ist, und der
CDU diskutieren. Ansonsten warten wir gespannt auf die
Arbeit der Kommission und die Dynamik, die sich durch
die vielschichtigen Persönlichkeiten ergibt.
Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): Der Wiederauf-
bau des Berliner Stadtschlosses ist heute weder ab-
schließend noch vom Bundestag allein zu entscheiden.
Mit der Einsetzung einer gemeinsamen Expertenkommis-
sion haben Bundesregierung und Berliner Senat aller-
dings deutlich gemacht, dass für den Bund und die Haupt-
stadt eine Entscheidung bedarf, die wegen vieler mit dem
Stadtschloss direkt und indirekt verbundener Aspekte
nicht beliebig ausgesetzt werden kann.
Die CDU-Fraktion will mit ihrem Antrag ein Votum
des Bundestages für den notwendigen Abstimmungs- und
Entscheidungsprozess zwischen Bund und Berlin herbei-
führen:
Das Stadtschloss hat eine politische und historische
Bedeutung, die über seine offensichtliche städtebauliche
Relevanz hinausweist. Nur eine weitgehend öffentliche
Nutzung des künftigen Gebäudes an dieser prominenten
Stelle unbeschadet möglicher Beteiligung privater Inves-
toren wird dieser überragenden Bedeutung gerecht. Eine
kostenfreie Bereitstellung des Grundstückes durch den
Bund kann nur unter der Bedingung des Nachweises einer
solchen dauerhaften öffentlichen Nutzung erfolgen. Es
gibt beachtliche Argumente für eine vorrangige Nutzung
dieses Gebäudes auf diesem Gelände in unmittelbarer
Nachbarschaft zur Museumsinsel zugunsten der außer-
europäischen Sammlungen der Stiftung Preußischer Kul-
turbesitz. Eine weitgehende Wiederherstellung der alten
Fassaden sowie des Schlüter-Innenhofes des Stadtschlos-
ses würde den historischen, städtebaulichen und funktio-
nellen Verbund zur Museumsinsel besonders deutlich
zum Ausdruck bringen.
Der Beschluss des Bundestages soll zugleich eine Ori-
entierung für die von Bund und Land eingesetzte Kom-
mission sein, deren Beratungen und Vorschläge den Bun-
destag in seiner abschließenden Meinungsbildung nicht
präjudizieren können.
Dr.-Ing. Dietmar Kansy (CDU/CSU): Es ist schon
viel pro und contra Wiederaufbau des Berliner Stadt-
schlosses gesagt und geschrieben worden, teils in Respekt
vor der anderen Meinung, teils hochnäsig mit Unfehlbar-
keitsanspruch, zum Beispiel Befürworter des Wiederauf-
baus in die Walt-Disney-Welt stellend oder diejenigen mit
Totschlagsargumenten wie „Bilderstürmer“ belegend, die
der Wiederherstellung des Palastes der Republik skep-
tisch gegenüberstehen. Deshalb meine erste Bitte: Sach-
lichkeit in der Diskussion.
Meine zweite Bitte geht an die Fachleute aus den Be-
reichen Denkmalspflege Städtebau und Architektur.
Natürlich braucht die Gesellschaft deren Rat; die zwi-
schen der Bundesregierung und dem Berliner Senat ver-
einbarte Bildung einer Expertenkommission zeigt dies ja
deutlich. Dennoch sollte man die Meinung von Millionen
Nichtfachleuten nicht einfach zur Seite schieben. Was für
konservative Denkmalschützer – ich meine das hier nicht
parteipolitisch – Todsünden sind, ist für viele Millionen
Menschen ein Grund zur Freude, zum Beispiel das Kno-
chenhauer-Amtshaus in Hildesheim, das schon völlig ver-
schwunden war, die Wiederherstellung des städtebauli-
chen Ensembles in Münster, das Leibnizhaus in
Hannover, der Frankfurter Römer und – besser noch – das
Goethehaus sowie vieles andere.
Also messen wir uns beispielsweise beim Ringen um
die Zukunft des Berliner Stadtschlosses an der Streitkul-
tur von Goerd Peschken für und Wolfgang Pehen gegen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12293
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die Wiederherstellung des Schlosses in der ersten emoti-
onsgeladenen Diskussionsrunde Anfang der 90er-Jahre.
Die CDU/CSU-Fraktion plädiert in ihrem Antrag für
den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses, weil es
nach unserer Auffassung zunächst einmal ein bedeutendes
Zeugnis nicht nur der Berliner und der preußischen, son-
dern auch der gesamten deutschen Geschichte ist. Dies
mag in manchen deutschen „Political-correctness-Ohren“
vielleicht anstößig klingen. In Warschau war das nicht so
und auch in Paris würde es nicht so sein.
Insbesondere – aber nicht nur – ist festzustellen: Der
städtebauliche Ideenwettbewerb „Spreeinsel“ hat gezeigt,
dass bei allem Respekt vor moderner Stadtplanung und
moderner Architektur die entsetzliche städtebauliche
Wunde, die die Kommunisten 1950 zur Schaffung eines
Paradeplatzes der Berliner Mitte schlugen, am besten
durch die Kubatur des alten Schlosses geheilt werden
kann. Dies bedeutet natürlich noch nicht automatisch Ar-
chitektur des Schlosses. Aber bietet es sich nicht geradezu
an, wenigstens die historischen Fassaden weitgehend wie-
der herzustellen?
Das klassische Berlin westlich des Stadtschlossareals
ist doch in DDR-Zeiten im erheblichen Umfang rekon-
struiert worden: Gendarmenmarkt, Forum Friedericia-
num, Museumsinsel oder der Bereich Singakademie,
Neue Wache und Zeughaus. Wie das Kronprinzenpalais,
die Staatsoper oder die Hedwigskathedrale waren sie zwar
im Gegensatz zum Stadtschloss nicht völlig aus dem
Stadtbild verschwunden. Aber sind es nicht im Sinne kon-
servativer Denkmalspflege auch „nur“ Kopien? Nachdem
die Wiederherstellung der schinkelschen Bauakademie
und des Kommandantenhauses dieses Ensemble komplet-
tieren wird, ist zu fragen: Warum befürworten einige Kri-
tiker des Stadtschlosswiederaufbaus den Wiederaufbau
der Bauakademie, die auch völlig verschwunden war?
Bleibt die Diskussion über die Nutzung oder, besser
gesagt, über die Aufgabe. Da wird argumentiert, der Wie-
deraufbau leite sich aus keiner realen Aufgabe her und sei
auch deswegen abzulehnen. Für uns setzt der Wiederauf-
bau ein Nutzungskonzept und eine gestalterische Lösung
voraus, die der überragenden Bedeutung des Areals und
dem großen öffentlichen Interesse an seiner Gestaltung
gerecht wird. Finanzierungsmodelle unter wesentlicher
Beteiligung privaten Engagements sind unverzichtbar,
müssen aber eine maßgeblich öffentliche Nutzung er-
möglichen, zum Beispiel – aber nicht zwangsläufig – ent-
sprechend den Vorschlägen des Präsidenten der Stiftung
Preußischer Kulturbesitz.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion erwartet von der
Bundesregierung, jetzt endlich einen offiziellen Bericht
über den aktuellen Stand der Gespräche und Verhandlun-
gen, insbesondere im Hinblick auf die Expertenkommis-
sion, vorzulegen. Diese Kommission wird zwar, wie
schon gesagt, „nur“ beraten und nicht entscheiden; aber
die Zusammensetzung dürfte doch das Ergebnis wesent-
lich mitbestimmen! Deshalb meine dritte und letzte Bitte,
diesmal an die Koalitionsfraktionen und an die Bundesre-
gierung: Wenn Informationen zutreffen, dass für den
Bund in dieser Kommission nicht nur zwei Bundesminis-
ter und der sozialdemokratische Bundestagspräsident,
sondern auch noch eine weitere Koalitionsabgeordnete
vorgesehen sind, ist dies keine seriöse Behandlung der
Opposition, die früher als Regierungsfraktion in allen ver-
gleichbaren Fällen immer dafür gesorgt hat, dass mindes-
tens ein Oppositionsabgeordneter – meistens war es Peter
Conradi – beteiligt war. Denken Sie bitte noch einmal da-
rüber nach, bevor Sie in Kürze darüber entscheiden wer-
den.
Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Bislang beschränkt sich die Diskussion über
die Zukunft des Berliner Schlossplatzareals weitgehend
auf die Erörterung der Frage, ob das Stadtschloss rekon-
struiert oder der Palast der Republik erhalten werden soll.
Die Verengung der Diskussion auf Gestaltungsfragen
wird allerdings der Bedeutung dieses Areals als Aus-
gangspunkt der historischen und städtebaulichen Ent-
wicklung der Stadt nicht gerecht. Die Frage, welchen Stel-
lenwert wir der Nutzung und Gestaltung der Berliner
Mitte zukünftig zumessen wollen, aber auch die nach un-
serem Umgang mit der deutschen Geschichte, dem kultu-
rellem Erbe Preußens und der Geschichte der DDR, las-
sen sich aber nicht allein mit Gestaltungsfragen
beantworten. Von daher begrüßen wir die Entscheidung
der Bundesregierung, eine Expertenkommission einzu-
setzen, die Konzepte für die städtebauliche Entwicklung,
Nutzung und Bebauung der historischen Mitte Berlins er-
arbeiten soll – und zwar nicht nur für den Bereich von Pa-
last und Schlossplatz, sondern auch für das gesamte Um-
feld. Wir wünschen der Kommission viel Erfolg bei der
Arbeit.
Der Schlossplatz braucht eine Nutzung, die ihn zum
zentralen öffentlichen Ort mit einer demokratischen, bür-
gernahen Funktion macht. Es sollte ein Ort werden, der
nicht nur Vergangenheit repräsentiert, sondern sich be-
wusst der Lebenswelt des 21. Jahrhunderts öffnet. Der
Vorschlag des Präsidenten der Stiftung Preußischer Kul-
turbesitz, das Museum für außereuropäische Kunst am
Schlossplatz anzusiedeln, findet unsere uneingeschränkte
Zustimmung. Denkbar sind aber auch die Realisierung ei-
ner modernen Bibliothek des Landes Berlin zusammen
mit einem Medienkulturzentrum oder die Ansiedlung ei-
ner hochrangigen europäischen Organisation als Zeichen
der Integration von West- und Mittelosteuropa. Diese Vor-
schläge sind geeignet, an diesem Ort Landes-, Bundes-
und Europafunktionen gleichermaßen zur Geltung zu
bringen. Der Schlossplatz muss ein öffentlicher Ort blei-
ben. Er darf nicht privatisiert werden. Von einem Verkauf
oder einer Überlassung der Grundstücke an Private halte
ich von daher gar nichts.
Wenn für die Nutzungsziele ein stimmiges Konzept er-
arbeitet ist, kann auf tragfähiger Basis über die Gestaltung
neu nachgedacht und ein Architekturwettbewerb durch-
geführt werden. Dieser sollte ebenso offen sein für eine
Modernisierung von Teilen des Palastes wie für eine Teil-
rekonstruktion des Schlosses. Die vielen Entwürfe, die es
bereits gibt, zeigen, dass die Gestaltung immer dann an
Spannung gewinnt, wenn den Brüchen der Vergangenheit
Reverenz erwiesen und gleichzeitig Raum für Zukunft
geöffnet wird. Ich will der Arbeit der Schlossplatzkom-
mission nicht vorgreifen: Aber ich denke, eine Architek-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012294
(C)
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(B)
tur und eine Gestaltung des öffentlichen Raumes, der es
gelingt, die preußische Geschichte und die DDR-Ge-
schichte sichtbar werden zu lassen, ohne sie nur nachzu-
bauen und die gleichzeitig eine neue, zeitgemäße Gestal-
tung und Nutzung für diesen zentralen Ort der Stadt
Berlin findet, ist eine Herausforderung, der sich Politik,
Bürger und Architektur stellen sollten.
Wenn Teile des Schlosses rekonstruiert werden sollen,
dann muss sich unsere Gesellschaft – und insbesondere
die Berliner Stadtgesellschaft – dieser schwierigen Auf-
gabe in würdiger Weise stellen. Es darf nicht um auf Be-
ton geschraubten Kulissenbau über der Tiefgarage gehen.
Dann müssen nach dem Vorbild der Dresdner Frauenkir-
che eine Stiftung gegründet werden und eine Bauhütte ge-
gründet werden, die die verschüttete Baukultur und das
verlernte Kunsthandwerk in seinen vielen Facetten neu
belebt. Dafür müssen dann sicher auch in großem Umfang
Spenden geworben werden, eine Art neues „Mäzenaten-
tum“ begründet werden.
Wir sollten es uns selbst nicht zu einfach machen – es
geht nicht um Fassaden; es geht um eine lebendige und
würdige Nutzung; es geht um eine Gestaltung, die der Ge-
schichte des Ortes gerecht wird, ohne Brüche zu übertün-
chen, und nicht zuletzt um Wege, wie sich die Stadtge-
sellschaft diesen Ort wieder aneignet.
Dr. Günter Rexrodt (F.D.P.): Die F.D.P.-Bundestags-
fraktion begrüßt es außerordentlich, wenn sich die Kolle-
gen von CDU/CSU unserem Antrag zum Wiederaufbau
des Berliner Stadtschlosses heute offiziell anschließen.
Sie alle wissen, dass der F.D.P.-Antrag zur Rekon-
struktion des Hohenzollernschlosses schon seit dem
Herbst des vergangenen Jahres dem Parlament bzw. dem
Kulturausschuss zur Diskussion vorliegt.
Seither ist leider so gut wie nichts geschehen. Zwar ha-
ben mittlerweile Bündnis 90/Die Grünen in Gestalt Frau
Vollmers in dankenswerter Weise das Vorhaben der Libe-
ralen, die alte Mitte Berlins wiedererstehen zu lassen, be-
fürwortet. Doch von der SPD-Fraktion ist nichts zu hören.
Wie es diesem Kanzler und dieser Regierung eigen ist
und ihr Tun hauptsächlich charakterisiert, hat Herr
Schröder – im Schlepptau: Staatsminister Naumann –
wieder einmal eine Kommission eingesetzt. Richtiger-
weise müsste ich sagen: Er hat beschlossen, eine Kom-
mission einzusetzen – und das übrigens bereits im Früh-
jahr dieses Jahres. Die Umsetzung dieses Beschlusses
steht allerdings noch aus.
Das wenige, was man dazu aus dem Bundesbauminis-
terium, das sich in dieser Angelegenheit als wenig koope-
rativ erweist, hört, ist erschreckend: In nahezu entwürdi-
gender Weise wird um die zu berufenden Personen
politisch geschachert. Da soll beispielsweise die Frauen-
quote wichtiger sein als Sachkenntnis. Da werden Namen
von Personen in den Medien genannt, die zuvor überhaupt
nicht gefragt worden sind und deshalb jetzt dankend ab-
lehnen. Ich frage hier öffentlich: Ist das Verzö-
gerungstaktik oder Dilettantismus?
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion war von Anfang an ge-
gen die Berufung dieser Kommission. Sie ist weder sinn-
voll noch zielführend. Denn am Ende wird sie weder das
Recht noch die Pflicht haben, die Entscheidung über den
Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses zu treffen.
Diese Entscheidung ist einzig und allein Sache des Parla-
ments. Sie, meine Damen und Herrn auf den Regierungs-
bänken, können eine Kommission nach der anderen ein-
setzen. Das Entscheidungsrecht werden Sie deshalb nicht
an sich ziehen können. In dieser so wichtigen Frage müs-
sen die Abgeordneten selbst Farbe bekennen. Denn es
geht um nicht weniger als um ein Bekenntnis des Deut-
schen Bundestages zur deutschen Geschichte im Be-
wusstsein der Herausforderung der Zukunft.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit
der Wirtschaftsprüfer (Wirtschaftsprüferord-
nungs-Änderungsgesetz – WPOÄG) (Zusatzta-
gesordnungspunkt 13)
Dr. Rainer Wend (SPD): Wir beraten heute über das
Gesetz zur Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit
der Wirtschaftsprüfer, das nicht nur von den Fachverbän-
den begrüßt wurde, sondern auch im Ausschuss für Wirt-
schaft und Technologie einstimmig beschlossen wurde.
Damit tragen wir der Internationalisierung der Märkte in
sinnvoller Weise Rechnung und etablieren internationale
Standards. Insgesamt wurde die Wirtschaftsprüferord-
nung durchforstet, um sie an die Erfordernisse einer sich
verändernden Realität anzupassen. Zudem bedarf die Ein-
führung des Euro einer Regelung.
Kernpunkt des Änderungsgesetzes ist die dringend
notwendige Sicherung von Qualitätsstandards deutscher
Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, um die internationale
Konkurrenzfähigkeit dieser Gesellschaften noch weiter
zu stärken. Die Internationalisierung der Märkte macht
auch und gerade vor den Wirtschaftsprüfern in Deutsch-
land nicht Halt. Qualitätssicherung ist hier ein wichtiges
Stichwort. In den USAbereits seit Jahren praktiziert, wur-
den ähnliche Instrumente auch in vielen europäischen
Ländern bereits etabliert. In Deutschland fehlte bisher ein
adäquates Instrument. Im Rahmen der Verflechtung der
Kapitalmärkte ist die internationale Wettbewerbsfähigkeit
der deutschen Wirtschaftsprüfergesellschaften immer un-
erlässlicher.
Mit dem vorliegenden Gesetz wird das Berufsrecht der
Wirtschaftsprüfer und der vereidigten Buchprüfer in die-
sem Sinne weiterentwickelt. So wird eine obligatorische
Qualitätskontrolle für alle Berufsangehörigen eingeführt,
die gesetzliche Abschlussprüfungen durchführen. Die
vorgesehene externe Qualitätskontrolle, die so genannte
Peer Review, basiert auf der regelmäßig, alle drei Jahre
durchgeführten Kontrolle der Praxis durch einen anderen,
unabhängigen Wirtschaftsprüfer. Bei Beanstandungen
kann zukünftig ein Qualitätskontrollbeirat der Wirt-
schaftsprüferkammer Maßnahmen ergreifen, wie zum
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Beispiel Sonderprüfungen. Dies Vorgehen entspricht in-
ternationalen Standards und erhöht damit die Konkur-
renzfähigkeit der deutschen Wirtschaftsprüfergesell-
schaften deutlich.
Um die Notwendigkeit der Anpassung an internatio-
nale Gegebenheiten nochmals zu verdeutlichen: Auch
deutsche Unternehmen nutzen zunehmend Finanzierungs-
möglichkeiten internationaler, insbesondere US-amerika-
nischer Kapitalmärkte. Die amerikanische Börsenaufsicht
akzeptiert aber Abschlussprüfer nur dann, wenn sie an ei-
nem anerkannten System der Qualitätskontrolle teilneh-
men. Das hat bisher durchaus zu Problemen für deutsche
Wirtschaftsprüfergesellschaften geführt. Nicht wenige
haben Klienten an größere Gesellschaften, die internatio-
nale Standards adaptiert hatten, verloren.
Die Novelle soll auch einen Beitrag zur Verschlankung
der staatlichen Verwaltung leisten. Bürokratie soll, wo
sinnvoll, abgebaut werden. Das Gesetz sieht dementspre-
chend eine Übertragung von Zulassungsaufgaben sowie
die Aufsicht über die Berufsangehörigen und Berufsge-
sellschaften von den obersten Landesbehörden auf die
Wirtschaftsprüferkammer vor. Hierdurch wird ein Beitrag
zum Abbau von Bürokratie und zur Straffung von Ver-
waltungsverfahren geleistet. Doppelzuständigkeiten ent-
fallen. Zeitgleich bedeutet die Verantwortungsübergabe
an die Selbstverwaltungsorgane der Wirtschaftsprüfer
eine Stärkung ihrer Stellung. Nach dem Grundsatz der
Verantwortungsdelegation sollen die Länder die Möglich-
keit haben, für sich Regelungen zu finden, die im Ein-
klang mit ihren Verwaltungsmodernisierungen stehen;
denn auch hier soll der sinnvolle Abbau von Bürokratie
unterstützt werden, um Spielraum für moderne, flexiblere
Verwaltungsapparate zu lassen.
Zusammenfassend sei festgestellt, dass eine längst
überfällige Reform des Berufsrechts der Wirtschaftsprü-
fer von der neuen Koalition endlich angepackt wurde. Wir
freuen uns über die Unterstützung der Oppositionspar-
teien und sind überzeugt, dass wir damit einen wichtigen
Berufsstand unseres Landes in einer globalisierten Wirt-
schaft deutlich gestärkt haben.
Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Der vorliegende
Gesetzentwurf soll das Berufsrecht der Wirtschaftsprüfer
und der vereidigten Buchprüfer an die Veränderungen im
beruflichen Umfeld anpassen. Die massiven und schnel-
len Veränderungen in der Wirtschaft in Zeiten der Globa-
lisierung machen dies erforderlich. Oberstes Ziel muss
dabei sein, die Qualität der Berufsausübung und die Wett-
bewerbsfähigkeit des Berufsstandes zu erhalten und wei-
ter zu stärken. Dies wird durch die Einführung einer Qua-
litätskontrolle, wie es sie seit vielen Jahren in den USA
und zwischenzeitlich auch in den meisten europäischen
Staaten gibt, erreicht.
Die beim Vollzug der Wirtschaftsprüferordnung beste-
henden Doppelzuständigkeiten von obersten Landes-
behörden für Wirtschaft und der Wirtschaftsprüferkam-
mern werden beseitigt und das Verwaltungsverfahren
vereinfacht. Als Beitrag zur Entbürokratisierung ist dies
ein begrüßenswerter Ansatz.
Der Gesetzentwurf wurde im Bund-Länder-Ausschuss
„Wirtschaftliches Prüfungs- und Beratungswesen“ ohne
Differenzpunkte beraten. Der Bundesrat hat die Bundes-
regierung aufgefordert, auch im Hinblick auf das genos-
senschaftliche Prüfungssystem eine obligatorische Kon-
trolle einzuführen. Hierzu laufen bereits konsensuale
Gespräche zwischen dem Bundesministerium der Justiz
und dem Genossenschaftsverband, sodass diese Punkte
im Zuge der Novelle des Genossenschaftsgesetzes umge-
setzt werden können.
Die Haltung der Betroffenen zum vorliegenden Ge-
setzentwurf ist eindeutig: Die Berufsverbände und die
Wirtschaftsprüferkammer sind mit einer berufsständi-
schen gegenüber einer staatlichen Qualitätskontrolle ein-
verstanden. Das neue System stärkt das Vertrauen der Öf-
fentlichkeit in ihre Arbeit. Die Übertragung der Zuständigkeit
für die Bestellung von Wirtschaftsprüfern und der Aner-
kennung von Wirtschaftsprüfungsgesellschaften auf die
Kammer entspricht ebenfalls einem bereits seit langem
geäußerten Wunsch.
Die Einführung der obligatorischen Qualitätskontrolle
im Rahmen dieser 4. WPO-Novelle ist aus wirtschaftspo-
litischer Sicht dringend geboten gewesen. Die rasante
Globalisierung der Wirtschaft und die damit einherge-
hende Internationalisierung des Prüfungsmarktes erzeu-
gen einen Harmonisierungsdruck hin zu international gül-
tigen Qualitätsstandards für Prüfungsgesellschaften,
denen sich Deutschland nicht länger entziehen konnte.
Die amerikanischen Börsen verlangen von den bei ihnen
notierten Unternehmen ein entsprechendes System der
Qualitätskontrolle. Ohne es können deutsche Unterneh-
men die Möglichkeiten der Kapitalbeschaffung auf den
US-Finanzmärkten schwerer nutzen. Der internationale
Berufsverband und nicht zuletzt die entsprechenden Gre-
mien der Europäischen Kommission drängen seit langem
darauf. Die Union begrüßt daher ausdrücklich den vorlie-
genden Gesetzentwurf als Beitrag zur Steigerung der
Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands.
Abschließend einige kritische Anmerkungen zum Ge-
setzgebungsverfahren in Richtung der Regierungskoali-
tion; dies ist gerade vor dem Hintergrund eines übergrei-
fenden fachlichen Konsenses in der Sache selbst aus
unserer Sicht ärgerlich und unschön. Ich meine dabei
nicht redaktionelle Änderungen, für die wir alle vollstes
Verständnis haben. Es stimmt aber bedenklich, wenn die
rot-grüne Fraktion im Stile einer Überrumpelungstaktik
durch plötzliche Tischvorlagen im Wirtschaftsausschuss
Änderungen herbeiführt, mit denen sie im Vorfeld auf
Länderseite mehrfach gescheitert ist. Ich meine die Dele-
gationsermächtigung. Dieses alleinige Anliegen des Lan-
des Nordrhein-Westfalen ist zuvor in allen Gremien stets
zurückgewiesen worden, zuletzt im Wirtschaftsausschuss
des Bundesrates. Zur Begründung wurde jeweils ange-
führt, dass die Frage einer Delegation der Prüfungszu-
ständigkeit zusammen mit der Neuordnung der Wirt-
schaftsprüferprüfung in einer 5. WPO-Novelle geregelt
und die gegenwärtige Novelle nicht mit dieser strittigen
Frage belastet werden sollte. Das Inkrafttreten der 4.
WPO-Novelle, das wegen der Einführung des Peer Re-
view eilbedürftig ist, sollte im Hinblick auf eventuelle
Einwendungen des Bundesrates in dieser Frage nicht ver-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012296
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zögert werden. Schließlich wendet sich auch der Berufs-
stand, also Wirtschaftsprüferkammer und IDW, bisher
massiv gegen die Delegationsklausel. Nun ist diese Än-
derung doch noch durch taktisches Spiel gegen den er-
klärten Willen des Berufsstandes und ohne eingehende
Diskussion quasi hinter unserem Rücken erfolgt, mit dem
sich wohl erfüllenden Kalkül, dass die Länder deshalb
jetzt nicht noch den Vermittlungsausschuss anrufen wer-
den.
Auch die in einem Schnellschuss eines Kollegen der
SPD-Fraktion fast eingebrachte 16-Stunden-Regelung
stieß nur bei einem Teil des Berufsstandes auf Zustim-
mung und ist nun wieder vom Tisch. Das hat uns bei ei-
nem eilbedürftigen Gesetz zwei Wochen Verzögerung ge-
kostet. Dies ist unnötig und vermeidbar. Ein solches
Vorgehen ist ein unschöner Beigeschmack, auf den wir
gerne verzichtet hätten. Mehr Geradlinigkeit, einen aus-
reichenden Vorlauf bei substanziellen Änderungsanträgen
und rechtzeitige fachliche Klärung mit den Betroffenen
auch in Einzelfragen würden wir in Zukunft sehr be-
grüßen.
Dem Gesetzentwurf der Bundesregierung in der Fas-
sung der vorgelegten Änderungsanträge der Koalitions-
fraktionen stimmen wir zu.
Margareta Wolf (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Mit dem hier zur Beratung vorliegenden Ge-
setz zur Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit der
Wirtschaftsprüfer erhöhen wir die Qualität der Berufsaus-
übung und stärken das Vertrauen der Öffentlichkeit in die
Arbeit der Wirtschaftsprüfer.
Wir verfolgen dabei insbesondere folgende drei Ziele:
Erstens: Verbesserung des Systems der Qualitätskon-
trolle vor dem Hintergrund der Diskussion über eine ver-
besserte Unternehmensaufsicht, der so genannten Cor-
porate Governance. Die Rolle der Wirtschaftsprüfer im
Fall Holzmann macht die Notwendigkeit einer weiteren
Reform deutlich.
Zweitens: Angleichung an die Vorschriften der USA,
um Wettbewerbsnachteile deutscher Wirtschaftsprüfer
aufzuheben. Die rasche Einführung einer Qualitätskon-
trolle ist notwendig, denn deutsche Unternehmen nutzen
zunehmend die Finanzierungsmöglichkeiten internatio-
naler, vor allem US-amerikanischer, Kapitalmärkte. Ab-
schlussprüfer werden beispielsweise von der amerikani-
schen Börsenaufsichtsbehörde aber nur dann akzeptiert,
wenn sie an einem anerkannten System der Qualitäts-
kontrolle teilnehmen.
Drittens: Straffung des Vollzugs der Wirtschaftsprüfer-
ordnung zwischen Landesbehörden und Kammern.
Die herausragendste Änderung ist die Einführung einer
externen Qualitätskontrolle. Wirtschaftsprüfer, die ge-
setzliche Abschlussprüfungen durchführen, müssen nun
ihre Praxis alle drei Jahre durch einen anderen unab-
hängigen Wirtschaftsprüfer prüfen lassen. Dieses ist die
so genannte Peer Review. Bei Beanstandungen kann ein
Qualitätskontrollbeirat der Wirtschaftsprüferkammer
Maßnahmen ergreifen, beispielsweise eine Sonderprü-
fung anordnen oder Auflagen zur Mängelbeseitigung er-
teilen. Das Gesetz sieht ferner die Übertragung von Zu-
lassungsaufgaben von den obersten Landesbehörden auf
die Wirtschaftsprüferkammer vor. Hierdurch werden Ver-
waltungsverfahren gestrafft und ein Beitrag zum Abbau
von Bürokratie geleistet.
Die einstimmige Zustimmung aller Parteien im Aus-
schuss beweist die Richtigkeit dieses Gesetzesvorhabens.
Trotzdem gibt es noch viel zu tun. Es bedarf in Bezug auf
die Zielsetzung der Verbesserung der Corporate Gover-
nance noch weiterer Änderungen, die im Rahmen der
Kommission „Corporate Government“ beim Kanzleramt
diskutiert werden müssen. Hier gibt es beispielsweise
Forderungen, eine nach britischem Vorbild vom Peer-Re-
view-System getrennte Instanz – ein so genanntes
Board – einzurichten, die sich in Trägerschaft der Wirt-
schaftsprüferkammer befindet und durch Berufsange-
hörige und sachverständige Dritte besetzt sein und auf
Antrag oder bei öffentlicher Diskussion tätig werden
sollte.
Nicht zuletzt der Fall Holzmann hat deutlich gemacht:
Die Corporate Governance, die Unternehmensaufsicht, in
Deutschland ist nicht ausreichend. Im Rahmen der Cor-
porate Governance haben die Wirtschaftsprüfer eine
wichtige Funktion. Von ihrer Arbeit hängt beispielweise
die Wirksamkeit der Arbeit des Aufsichtsrates ab. Die
Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten von Aufsichtsräten
sind bisher aber zu gering und wurden in einzelnen Fällen
sträflich vernachlässigt. Um die Kontrollmöglichkeiten
zu verbessern, sind einschneidende Änderungen erforder-
lich, denn die Forderungen nach ausreichender Kontrolle
durch Aufsichtsrat und Hauptversammlung sind wesentli-
che Voraussetzungen für die Schaffung einer neuen Akti-
enkultur in Deutschland. Anleger müssen sich an den
Wertpapiermärkten in einem fairen, sicheren und durch-
schaubaren Umfeld engagieren können. Unter dem Druck
der internationalen Kapitalmärkte müssen deutsche Un-
ternehmen die Qualität ihrer Corporate Governance, das
Zusammenspiel von Gesetzen, Verordnungen und freiwil-
ligen Praktiken, verbessern.
Wirksame Corporate Governance zeichnet sich aus
durch Transparenz über wichtige Finanz- und Betriebs-
informationen, den Schutz und die Durchsetzbarkeit der
Rechte aller Shareholder und Aufsichtsgremien, die fähig
sind, Unternehmensstrategien ebenso wie wichtige Ge-
schäftspläne und -entscheidungen unabhängig zu ge-
nehmigen, Gremien, die weiter in der Lage sind, das nach
objektiven Kriterien ausgewählte Management selbst-
ständig einzustellen, dessen Performance und Integrität
zu überwachen und allenfalls die Mitglieder der Unter-
nehmensleitung zu ersetzen. Zweifellos stehen das Ver-
trauen der Arbeitnehmer und der Investoren sowie der Ruf
der einzelnen Unternehmen in engem Zusammenhang mit
den Corporate-Governance-Praktiken.
Ebenso wichtig für das Vertrauen der Investoren in die
Aktienmärkte, auf denen sich die Unternehmen mit Kapi-
tal versorgen, ist jedoch die Qualität des wirtschaftlichen
und politischen Umfeldes und das im jeweiligen Land üb-
liche Regelwerk der Corporate Governance. Verbesserte
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12297
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Corporate Governance in Deutschland schafft die Vo-
raussetzungen zum Erhalt von Arbeitsplätzen im welt-
weiten Wettbewerb durch eine Stärkung des Vertrauens
der Investoren, Förderung der Kapitalbildung und der
Entwicklung aktiver Aktienmärkte sowie Erleichterung
des Zugangs der Unternehmen zu Kapital zu weltweit
wettbewerbsfähigen Bedingungen.
Rainer Funke (F.D.P.): Der vorliegende Entwurf des
Wirtschaftsprüfer-Änderungsgesetzes beweist einmal
wieder, dass auch Gesetze wie guter Wein reifen müssen.
Als wir noch zu den Beratungen des KonTraG einen Peer-
review vorsehen wollten, wurde dies von den Berufsver-
bänden der Wirtschaftsprüfer entschieden abgelehnt, weil
sie der Auffassung waren, dass durch interne Qualitäts-
sicherungen der Wirtschaftsprüfergesellschaften eine
ausreichende Qualitätskontrolle gesichert werden könne.
Ich war schon damals sehr skeptisch, aber solche Bestim-
mungen der Qualitätssicherungen gegen den Berufsstand
durchzusetzen, ist auch nicht hilfreich. Ich begrüße es da-
her sehr, dass die Wirtschaftsprüferverbände inzwischen
dem vorliegenden Gesetz zustimmen. Zwischenzeitlich
hat sich auch international die Erkenntnis durchgesetzt,
dass die traditionellen Qualitätssicherungsmaßnahmen
durch eine externe Qualitätskontrolle zu ergänzen sind.
Ich begrüße auch, dass die Qualitätskontrolle durch die
Wirtschaftsprüferkammern vorgenommen wird, dies ent-
spricht unseren grundsätzlichen Bemühungen, das Subsi-
diaritätsprinzip einzuhalten. Damit zeigen auch die freien
Berufe, insbesondere in ihren verkammerten Bereich,
dass sie ihre eigenen Angelegenheiten auch in die eigenen
Hände nehmen können. Der Staat soll nur das an Aufga-
ben übernehmen, was die Kammern nicht erledigen kön-
nen. Mit dieser Qualitätskontrolle wird man sicherlich
präventiv viel erreichen können. Aber sicherlich nicht,
dass Insolvenzen und betrügerische Bilanzmanipulatio-
nen verschwinden. Zur Aufdeckung solcher Manipulatio-
nen muss auch wegen der Globalisierung unserer Wirt-
schaft das Auge des eigentlichen Wirtschaftsprüfers noch
stärker geschärft werden, deswegen muss das Ziel für den
wirtschaftsprüfenden Bereich die erstklassige Ausbildung
und die ständige Fortbildung der Wirtschaftsprüfer sein.
Nur so werden wir auch weltweit einen angesehenen Stan-
dard halten können.
Rolf Kutzmutz (PDS): Die PDS stimmt dem Gesetz-
entwurf insbesondere aus vier Gründen zu:
Erstens. Erstmals wird in Deutschland die externe
„Qualitätsprüfung“ von Wirtschaftsprüfern vorgeschrie-
ben – in der EU gab es das ansonsten nur noch in Öster-
reich nicht.
Zweitens. Diese Qualitätsprüfung – ebenso wie nun
auch die Zulassungsprüfung – wird zumindest mittelfris-
tig den bestehenden Wirtschaftsprüferkammern adminis-
trativ zugeordnet.
Drittens. Die Transparenz des Berufsregisters wird ver-
bessert, indem dort mehr aussagefähige Angaben zu den
Wirtschaftsprüfern als bisher aufgenommen werden.
Viertens. Das Berufsrecht soll in aus unserer Sicht
durchaus sinnvoller Weise gelockert werden, indem
Rechtsanwälte qua Gesetz – bisher mit Ausnahmegeneh-
migung – Chefs von Wirtschaftsprüfungsfirmen sein
dürfen, ausländische Rechts-/Patentanwälte und Steuer-
berater mit Ausnahmegenehmigung Chefs von Wirt-
schaftsprüfungsfirmen sein sollen, ausländische Wirt-
schaftsprüfer etc. Gesellschafter in deutschen Firmen
werden können.
Insbesondere die beiden erstgenannten Ziele korres-
pondieren mit PDS-Grundpositionen: Eine externe Qua-
litätsprüfung – wenngleich sie zunächst nur für Prüfer
börsennotierter Unternehmen bindend sein soll – er-
scheint angesichts der Vielzahl auch für die öffentliche
Hand teuren Wirtschaftsskandale – von Vulkan bis Holz-
mann –, an denen stets falsche oder zumindest missver-
ständliche Testate von Wirtschaftsprüfern beteiligt waren,
überfällig. Ob sich die vorgesehene Lösung bewährt, kann
natürlich erst die Praxis zeigen. Das Prüfinstrumentarium
über die Kammern erscheint keineswegs missbrauchsan-
fälliger, als es zum Beispiel eine Prüfung durch staatliche
Stellen wäre. Zugleich wird damit der aus unserer Sicht
richtige Weg fortgesetzt, Aufgaben in die Hände der
Selbstverwaltungsorganisation der Betroffenen zu legen
und damit auch die Legitimität von Pflichtmitglied-
schafts-Organisationen der Wirtschaft zu stärken.
Gleichzeitig möchten wir der Bundesregierung ans
Herz legen, den Vorschlag des Bundesrates bald umzuset-
zen, auch für genossenschaftliche Wirtschaftsprüfungs-
verbände ein System obligatorischer Qualitätskontrolle
einzuführen. Schließlich ist es in der Wirkung nun egal,
wo ein Wirtschaftsprüfer angebunden ist, wenn er
„pfuscht“.
Siegmar Mosdorf, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister für Wirtschaft und Technologie: Die Bundesre-
gierung hat am 12. April dieses Jahres das Gesetz zur Än-
derung von Vorschriften über die Tätigkeit der
Wirtschaftsprüfer beschlossen, mit dem entscheidende
Weichen für die Zukunftsfähigkeit des Berufsstands ge-
stellt werden.
Wesentliche Neuerung ist die Einführung einer obliga-
torischen Qualitätskontrolle für alle Wirtschaftsprüfer, die
die gesetzlich vorgeschriebene Abschlussprüfung durch-
führen.
Das neue System, das internationalem Standard voll
entspricht, wird die internationale Wettbewerbsfähigkeit
der Wirtschaftsprüfer und das Vertrauen der Öffentlich-
keit in ihre Arbeit stärken.
Wie sehr wir mit diesem Gesetz am Puls der Zeit liegen,
zeigt die überwältigende Zustimmung, die der Gesetzent-
wurf über alle Parteigrenzen hinweg im Wirtschaftsaus-
schuss erfahren hat.
Kernstück des Gesetzentwurfs ist die Einführung einer
externen Qualitätskontrolle für Wirtschaftsprüfer und ver-
eidigte Buchprüfer, die den internationalen Anforderun-
gen entspricht. Bereits 1997/98 bei den Beratungen zum
Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unterneh-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012298
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mensbereich war diese Forderung vereinzelt erhoben, von
der damaligen Regierung aber nicht aufgegriffen worden.
Heute sind wir uns in allen Parteien, aber auch mit dem
Berufsstand und den Ländern einig, dass es dieser Ergän-
zung des Berufsrechts dringend bedarf, und zwar zu-
nächst, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit des
Berufsstands und der Wirtschaft insgesamt zu sichern.
In vielen westlichen Industrienationen sind in den letz-
ten Jahren Systeme einer externen Qualitätskontrolle für
Wirtschaftsprüfer eingeführt worden. Die wichtigen ame-
rikanischen Börsen schreiben mittlerweile vor, dass der
Abschlussprüfer eines bei ihnen notierten Unternehmens
einem entsprechenden System der Qualitätskontrolle un-
terliegen muss. Damit deutsche Unternehmen die Mög-
lichkeiten der Kapitalbeschaffung in den USA nutzen
können, ist die Einführung der Qualitätskontrolle erfor-
derlich.
Auch die Europäische Kommission ist der Auffassung,
dass eine Qualitätskontrolle bei Wirtschaftsprüfern der
Sicherung einer hochwertigen Berufsausübung dient. Sie
wird daher in Kürze den Mitgliedstaaten die zügige Ein-
führung derartiger Konzepte empfehlen und schließt mit-
telfristig den Erlass einer entsprechenden Richtlinie nicht
mehr aus. Mit unserer Initiative greifen wir diese Ent-
wicklungen frühzeitig auf.
Die Qualitätskontrolle wird aber auch dazu beitragen,
das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Arbeit der Wirt-
schaftsprüfer zu festigen. Sie ist ein erster und wichtiger
Schritt zur Verbesserung der Unternehmenskontrolle.
Darüber hinaus hat der Bundeskanzler zu Fragen der
Corporate Governance eine hochrangige Expertenkom-
mission berufen, die ein umfassendes Konzept vorlegen
soll. Hierzu werden bald konkrete Vorschläge vorliegen,
die dann von der Bundesregierung zu bewerten und gege-
benenfalls umzusetzen sind.
In das neue System der Qualitätskontrolle werden alle
Wirtschaftsprüfer einbezogen, die gesetzliche Abschluss-
prüfungen durchführen. Die Einbeziehung aller gesetzli-
chen Abschlussprüfungen in die Qualitätskontrolle ist aus
Sicht der Bundesregierung erforderlich, um die Wettbe-
werbsfähigkeit, gerade des Mittelstandes, zu erhalten.
Um den Wirtschaftsprüfungspraxen die notwendige
Umstellung zu ermöglichen, erfolgt die Einführung in
mehreren Stufen: Praxen mit börsennotierten Mandanten
müssen eine erste Prüfung bis Ende 2002 durchgeführt
haben. Für alle anderen Praxen besteht eine Über-
gangsfrist bis Ende 2005. Parallel dazu steht die freiwil-
lige Teilnahme am System jedem Berufsangehörigen of-
fen.
Zwei weitere wichtige Neuerungen des Gesetz-
entwurfs möchte ich noch kurz erwähnen: zum einen die
Übertragung von Aufgaben im Bereich der Berufszulas-
sung von den Landesbehörden auf die Wirtschaftsprüfer-
kammer.
Derzeit bestehen bei der Bestellung von Wirt-
schaftsprüfern und der Anerkennung von Wirtschaftsprü-
fungsgesellschaften sowie bei ihrer Überwachung paral-
lele Zuständigkeiten von Landesministerien und der
Wirtschaftsprüferkammer. Die Straffung des Verwaltungs-
verfahrens und die Übertragung von Aufgaben werden zu
einer erheblichen Entlastung bei der Landesverwaltung
führen und bedeuten einen weiteren Schritt zum Abbau
von Bürokratie.
Dies liegt auf der Linie des kürzlich von Bundestag und
Bundesrat beschlossenen 7. Steuerberatungsänderungs-
gesetzes, mit dem ebenfalls Aufgaben der Berufszulas-
sung auf Selbstverwaltungsorgane übertragen wurden.
Zum anderen haben die Bundestagsausschüsse be-
schlossen, die praktischen Ausbildungszeiten zum Wirt-
schaftsprüfer um ein Jahr zu verkürzen. Die Bundesregie-
rung begrüßt dies ausdrücklich. Mit dieser Straffung der
Ausbildungsdauer wird ein wesentliches Hindernis bei
der Gewinnung von Nachwuchs im Berufsstand beseitigt.
Zudem wird damit – unter Wahrung des hohen Qualitäts-
niveaus der Ausbildung – eine Angleichung der Ausbil-
dungsdauer an das international übliche Maß erreicht.
Auch dies wird die Position der deutschen Wirtschafts-
prüfungsgesellschaften im internationalen Wettbewerb
festigen.
Die Förderung der internationalen Wettbewerbsfähig-
keit, die Sicherung eines hohen Qualitätsniveaus und die
Stärkung der Selbstverwaltung sind für mich Kernbe-
standteile einer innovativen Mittelstands- und Freiberufs-
politik. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sind wir auf
einem guten Weg.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Ziele für die Qua-
litätssteigerung in der Diabetes-Versorgung (Ta-
gesordnungspunkt 16)
Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD): Es ist heut-
zutage selten, dass man für ein gesundheitspolitisches
Projekt Lob bekommt. Es ist noch seltener, dass man für
das gleiche Projekt Lob von allen Seiten erhält. Umso be-
dauerlicher ist es, dass in der parlamentarischen Arbeit der
Stellenwert des Zukunftsprojektes Diabetes noch nicht so
erkannt worden ist. Dies sieht man an dem zweistelligen
Tagesordnungspunkt.
Umso beachtlicher ist es, wenn der wissenschaftliche
Leiter des Deutschen Diabetes-Forschungszentrums, der
Vertreter der St.-Vincent-Initiative der WHO und der In-
ternationalen Diabetes-Federation, die ja Laien mit
einschließt, Herr Prof. Dr. Werner Scherbaum, mir und
der SPD gratuliert, dass es zu dem Projekt gekommen ist,
dieses Papier aufzustellen, das er mit allem Nachdruck
von fachlich-inhaltlicher Seite unterstützt. Noch gewich-
tiger ist das Lob aus dem Kreis der Betroffenen, von dem
stellvertretenden Vorsitzenden der größten deutschen Be-
troffenenorganisation, dem Deutschen Diabetiker-Bund,
Volker Krempel, der die Initiative nicht nur befürwortet,
sondern nachdrücklich unterstützt.
Aber nicht nur Ärzteschaft und Betroffene sehen das
so, auch aus dem Kreis der gesetzlichen Krankenversi-
cherung äußert sich Herr Dr. Rolf Hoberg, der stellvertre-
tende Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12299
(C)
(D)
(A)
(B)
Wir stehen jetzt vor dem Durchbruch. Darum begrüßen
wir diese Initiative sehr, die hier von der SPD und von
Herrn Schmidbauer ergriffen worden ist, dass wir hin-
kommen zu einer leitlinienorientierten Versorgung von
Diabeteskranken, und dieses flächendeckend.
Ich zitiere auch Prof. Dr. Karl Lauterbach, Mitglied des
Sachverständigenrates des BMG: Der Sachverständigen-
rat begrüßt ausdrücklich die heute vorgetragene Initiative.
Sie entspricht Forderungen, die vom Sachverständigenrat
immer wieder gestellt werden, die aber bisher trotz stän-
diger Wiederholungen wenig – in den letzten zehn Jahren
im Prinzip – Beachtung gefunden haben. Dies betrifft
zum einen die Definition ganz konkreter Versorgungs-
ziele, indikationsspezifischer, konkreter Versorgungs-
ziele, wie es hier geleistet wird. Zum Zweiten wird von
uns die leitlinienkonforme Therapie gefordert. Evidenz-
basierte Leitlinien sollen im Vordergrund stehen, weil de-
ren Wirksamkeit für die Verbesserung der Versorgung be-
legt ist.
Das Lob tut gut, aber entscheidend ist das Ziel, das wir
mit der Qualitätssteigerung in der Diabetes-Versorgung
erreichen wollen und erreichen werden. Mit dem auf die-
sen Zielen aufbauenden Nationalen Aktionsplan Diabetes
wollen wir ein rasches Ende der Leidensgeschichte von
Diabetikern erreichen. Ich sage deswegen „Leidensge-
schichte“, weil wir heute wissen, dass die durchschnittli-
che Lebenserwartung von nicht gut eingestellten oder
nicht eingestellten oder behandelten Diabetikerinnen und
Diabetikern rund sieben Jahre niedriger ist.
Mit den „Zielen für die Qualitätssteigerung in der Dia-
betes-Versorgung“ wollen wir einen doppelten Paradig-
menwechsel in Deutschland einleiten. Es ist ein doppelter
Paradigmenwechsel, weil erstmals durch den Bundestag
für eine Gruppe chronisch Kranker ein Rechtsanspruch
auf eine patientenorientierte und qualitätsgesicherte Ver-
sorgung eingefordert wird. Diesen Stellenwert haben die
6 Millionen Betroffenen verdient, die Betroffenen der
größten Volkskrankheit. Ich gehe davon aus, dass der
Bundestag einhellig für diesen Rechtsanspruch auf eine
patientenorientierte, qualitätsgesicherte Versorgung für
chronisch kranke Menschen votiert.
Der zweite Paradigmenwechsel, den wir damit in
Deutschland einleiten, ist, dass der Bundestag erstmals in
seiner Geschichte ein gesundheitspolitisches Ziel festlegt.
Ein vorrangiges gesundheitspolitisches Ziel wird die
Qualitätssteigerung in der Diabetes-Versorgung sein. Da-
mit wird der Diabetes eine Pionierrolle bei der Versorgung
chronisch kranker Menschen eingeräumt.
Wenn dieses Zukunftsprojekt, dieser Nationale Akti-
onsplan Diabetes, für die Betroffenen in die Tat umgesetzt
wird, dann wird das eine Vorbildfunktion auch für andere
Gruppen chronisch Kranker in der Bevölkerung haben.
Die Zeit der bekennenden Sprechblasen zum Problem der
Volkskrankheiten ist nicht mehr gefragt. Gefragt ist kon-
kretes und verbindliches Handeln im Interesse 6 Milli-
onen betroffener Bürgerinnen und Bürger. Die Ernsthaf-
tigkeit unseres Zukunftsprojektes wird in der Koalition
durch entsprechend verbindliches Handeln unterlegt oder
bestätigt. Es genügt nicht, alleine ein Gesundheitsziel, ein
vorrangiges Gesundheitsziel im Bundestag festzulegen.
Das wird nur dann glaubwürdig, wenn damit verbindli-
ches Handeln der Verantwortlichen und der Betroffenen
verbunden wird.
Ich möchte unser Zukunftsprojekt anhand von vier
Punkten beschreiben.
Erstens. Die klare Zielvorgabe wird Bestandteil der
Beschlussfassung des Deutschen Bundestages. Dieses
Ziel orientiert sich an der St.-Vincent-Deklaration, die elf
Jahre alt ist. Die darin enthaltenen Ziele sind die Amputa-
tionsrate bei Diabetes-Kranken um die Hälfte zu reduzie-
ren, die Erblindungen um ein Drittel zurückzuführen,
Nierenversagen um ein Drittel zu reduzieren – um nur ei-
nige der wichtigsten Ziele zu nennen.
Zweitens. Der Plan sorgt für die Bündelung, das Zu-
sammenführen von Fachleuten und aller Kräfte. Im Ge-
gensatz zu der Versorgungslage bei den Betroffenen ist
die wissenschaftliche Basis in Deutschland sehr gut. Wir
können im internationalen Konzert sehr gut mitspielen.
Deswegen können wir auf einem profunden Fachwissen
aufbauen. Diese Fülle von Fachwissen gilt es, jetzt zu-
sammenzufassen, zu bewerten und daraus ein ganzheitli-
ches Konzept zu machen. Deshalb ist es wichtig, dass eine
Bündelung dieser Kräfte stattfindet und dass wir das Ver-
zetteln, das Nebeneinanderher-Arbeiten in verschiedenen
Aufgabenfeldern überwinden.
Drittens. Dazu brauchen wir eine Moderatorenrolle,
die Moderatorenrolle der Bundesregierung. Es freut mich
ganz besonders, dass Frau Bundesministerin Andrea
Fischer und auch Frau Staatssekretärin Christa Nickels
aktiv die Rolle der Moderation in dieser Aufgabe über-
nehmen. Diese Moderatorenrolle der Bundesregierung
wird von allen Beteiligten gewünscht, weil ohne sie das
Ziel nicht oder nur schwer erreichbar ist. Wir bedürfen
also einer Moderationsaufgabe. Ohne diese Moderation
werden wir in Deutschland nicht den Erfolg haben.
Der vierte Punkt könnte überschrieben werden mit:
„Glaubwürdigkeit durch klare Terminvorgaben“. Mit dem
Antrag wird klar vorgegeben, welche Schritte bis zu
welchem Zeitpunkt zu geschehen haben: Bis Ende 2000
ist eine Kommission mit medizinischem Fachpersonal,
Vertretern der Kostenträger, der Selbsthilfegruppen und
Patientenverbände einzusetzen, deren Aufgabe es ist, die
Ziele des Programms zu erarbeiten und deren weitere
Umsetzung zu begleiten. Bis Anfang 2001 sollen die Rah-
menbedingungen für eine verbesserte Diabetiker-Ver-
sorgung auf dem Tisch liegen. Dabei geht es auch um eine
einheitliche Dokumentation. Bis Mitte 2001 wird von der
Kommission ein Bericht mit Versorgungszielen und
Vorschlägen für notwendige Gesetzesänderungen er-
wartet. Bis Ende 2001 soll der Medizinische Dienst der
Spitzenverbände ein weiteres Kompetenz-Evaluations-
zentrum schaffen, das die Rahmenbedingungen für
die Versorgungsqualität weiterentwickelt und Struktur-
forschung veranlasst. Bis Ende 2002 soll unter Modera-
tion der Bundesregierung in Zusammenarbeit mit allen
Beteiligten im Gesundheitswesen ein Maßnahmenkatalog
erarbeitet und dem Bundestag als Basis für einen Na-
tionalen Aktionsplan Diabetes vorgelegt werden. Die
Verbindlichkeit müssen wir auf alle Fälle gewährleisten,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012300
(C)
(D)
(A)
(B)
sonst wird aus dem Zukunftsprojekt nicht die geforderte
Realität.
Wir wissen, was in Deutschland für Diabetiker
notwendig ist, um gleiche Lebenserwartung und gleiche
Lebensqualität zu erreichen. Wir haben in Deutschland
viele große und kleine Inseln, wo es in der Zwischenzeit
eine zielorientierte qualitätsgesicherte Versorgung gibt
oder in nächster Zeit geben kann. Wir haben uns in
Deutschland genügend Kenntnisse und Qualifikationen
durch wissenschaftliche Arbeiten und erfolgreiche Mo-
dellvorhaben erarbeitet und erworben. Wir können auf
dieser Basis unseres Zukunftsprojektes sehr gut aufset-
zen. Die Versorgung nach Wohnortprinzip hat keine
Zukunft. Deshalb muss die Diabetes-Versorgung zu der
flächendeckenden Regelversorgung werden.
Sollte es jetzt immer noch jemanden geben, der die
Dramatik des Versorgungsauftrages nicht sieht, sollte
dieser zum Abschluss unter dem Licht der aktuellen Daten
seinen Offenbarungseid leisten. Das sind Daten, die jeden
Verantwortlichen aufschrecken lassen: Die Schlaganfall-
rate bei Diabetikern ist doppelt so hoch, zwei von drei
Amputationen sind diabetesbedingt, 40 Prozent der Dia-
lysezugänge kommen aus dem Diabetikerbereich,
30 Prozent aller Neuerblindungen, also jede dritte
Neuerblindung, sind diabetesbedingt.
Wenn wir für diesen Zustand der Reparatur von Fol-
gekrankheiten rund 20 Milliarden DM im Jahr ausgeben,
können Sie sich denken, was wir damit alles an Präven-
tion machen könnten. Es ist eigentlich gerade zu him-
melschreiend, dass wir wahnsinnige Beträge dafür aus-
geben, dass die Betroffenen in ein dunkles Loch fallen
und dann irgendwo und irgendwann aus diesem Loch
wieder herausgezogen werden müssen. Deshalb will ich
abschließend auf den großen Wert der Prävention hin-
weisen.
Wir haben eine Steigerung der Kosten und des Leids,
des menschlichen Leids durch Diabetes zu erwarten, weil
die Alterskohorte der von Diabetes Betroffenen wächst
und weil auch die Risikofaktoren steigen, insbesondere
das Übergewicht und die Bewegungsarmut. Wir müssen
davon ausgehen, dass sich in den nächsten 30 Jahren,
wenn nichts unternommen wird, die Zahl der Diabetiker
verdoppeln wird. Allerdings ist diese Verdoppelung nicht
schicksalsgegeben, sondern kann vermieden werden.
Würden wir jetzt systematisch in die Prävention in-
vestieren, könnten wir die Kosten nicht nur stabilisieren,
sondern möglicherweise sogar senken. Es ist also aus
meiner Sicht notwendig, jetzt in die Prävention zu in-
vestieren, um in zehn Jahren – gute Präventionspro-
gramme brauchen so viel Vorlaufzeit – entsprechend die
Früchte zu ernten und eine Stabilisierung der so genann-
ten Neuerkrankungen an Diabetes zu bewirken. Mit Hilfe
der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und
durch die Selbsthilfeorganisationen und -gruppen, die
durch das Gesundheitsreformgesetz finanziell gefördert
werden, müssen wir allen Menschen mit Diabetes klar-
machen, dass sie die Verantwortung für ihre Therapie in
die eigenen Hände nehmen müssen und ihre Verantwor-
tung nicht quasi mit der Chipkarte an der Theke beim Arzt
abgeben können.
Wir sind zuversichtlich, dass die heute vorgelegte
Initiative die Rahmenbedingungen für eine Quali-
tätsverbesserung in der Diabetes-Versorgung verändern
und ein Umdenken in den Köpfen bewirken wird. Wir
verpflichten uns, im Interesse der Betroffenen und ihrer
Angehörigen jetzt die richtigen Schritte einzuleiten. Wir
wollen heute mit unserem Antrag „Ziele für die, Qual-
itätssteigerung in der Diabetes-Versorgung“ vor dem
Weltdiabetestag am 14. November dieses Zeichen setzen.
Es schafft Glaubwürdigkeit, wenn dieser mit der Regie-
rung abgestimmte Antrag – parallel zur Schirmherrschaft
von Frau Bundesministerin Fischer am 14. November in
Berlin – vom Bundestag beschlossen wird.
Ich möchte an die Kolleginnen und Kollegen der an-
deren Fraktionen appellieren: Helfen Sie mit, dass die Fol-
gen der Volkskrankheit Diabetes nicht weiter auf dem
Rücken der Betroffenen ausgetragen werden. Das Zukunfts-
projekt Diabetes verlangt keine parteipolitischen Brillen.
Dr. Harald Kahl (CDU/CSU): Der Diabetes mellitus,
die Zuckerkrankheit, und die damit in Zusammenhang
stehenden Folgeerkrankungen stellen angesichts ihrer
Häufigkeit eine Volkskrankheit dar, die zu einer empfind-
lichen Reduzierung von Leistungsfähigkeit und Lebens-
erwartung der Betroffenen führen kann. Nicht selten sind
Herzinfarkte, Nierenversagen oder Erblindung die dra-
matischen Folgen dieser Erkrankung. Allein in Deutsch-
land geht man von geschätzten 5 Millionen Menschen mit
Diabetes aus, deren Behandlung circa 10 Prozent der Ge-
samtausgaben für das Gesundheitswesen ausmacht. Da-
mit werden die gesetzlichen Krankenversicherungen und
unsere Volkswirtschaft insgesamt enorm belastet.
Initiiert durch die europäische Sektion der WHO und
die Internationale Diabetes Federation wurde deshalb be-
reits im Jahre 1989 im italienischen St.Vincent durch
Ärzte, Wissenschaftler, Politiker und Menschen mit Dia-
betes ein wichtiger Anstoß zur besseren medizinischen
Betreuung von Diabetikern gegeben. Die so genannte
St. Vincent-Deklaration setzte dabei europaweit so ehr-
geizige Ziele wie „Reduzierung der Anzahl an Amputa-
tionen, Erblindung und Nierenversagen“ um jeweils ein
Drittel durch ein Bündel von qualitätssichernden Maß-
nahmen fest. Eben dieses Maßnahmepaket findet sich
zum großen Teil im Antrag der SPD und Bündnis 90/Die
Grünen wieder, den wir hier beraten. Wenn die Koalition
heute beklagt, die alte Bundesregierung habe bei der Um-
setzung der Deklaration versagt, so verschweigt sie, dass
bisher kein europäisches Land diese Ziele erreicht hat.
Das macht deutlich, dass dieses Problem nicht kurzfristig
und schon gar nicht allein von der Politik gelöst werden
kann. In Deutschland ist es originäre Aufgabe der Selbst-
verwaltung und der Länder, Prävention, Diagnostik und
Therapie in einem Bündel qualitätssichernder Maßnah-
men umzusetzen. Im Sinne einer integrierten Versorgung
von Diabetikern ist das nur unter Einbeziehung der
Hausärzte, der ambulanten Schwerpunktpraxen stationä-
rer Einrichtungen, Krankenkassen und nicht zuletzt unter
besonderer Einbeziehung der Diabetiker selbst zu leisten.
Als beispielgebend kann auf diesem Gebiet der Frei-
staat Thüringen angesehen werden. Bereits 1995 wurden
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aufbauend auf den epidemiologischen Erkenntnissen der
früher in der ehemaligen DDR praktizierten Dispen-
saire – Betreuung von Diabetikern neue Wege der Be-
handlung eingeschlagen. Im April 1998 wurde letztlich
ein Vertragswerk der AOK und der Kassenärztlichen Ver-
einigung Thüringens unter finanzieller Beteiligung der al-
ten Bundesregierung als Modellvorhaben abgeschlossen.
So sorgen heute in Thüringen landesweit erfahrene Dia-
betikologen in derzeit 35 ambulanten Schwerpunktpraxen
gemeinsam mit über 200 Hausärzten sowie mit diabetolo-
gisch spezialisierten Kliniken und Rehabilitationszentren
für eine qualitativ hochwertige Versorgung von Patienten
mit Diabetes mellitus. Charakteristisch hierfür sind Be-
handlungskorridore zwischen Hausarzt und Schwer-
punktpraxis, die nach Qualitätskriterien regeln, wann ein
Patient vom Hausarzt an die Schwerpunktpraxis und von
da aus wieder zurück an den Hausarzt überwiesen wird.
Als Grundlage für eine wissenschaftlich fundierte Do-
kumentation über den Umfang der Behandlung dient
hierzu der Diabetes-Pass der Deutschen Diabetesgesell-
schaft. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Qua-
litätsmanagement zu. Behandlungsziele werden dabei mit
den Behandlungsergebnissen verglichen und wissen-
schaftlich vom Institut für medizinische Informatik und
Biometrie der TU Dresden kontrolliert und evaluiert.
Ein ganz wesentliches Element des Modellvorhabens
ist eine Ziel-Anreizvergütung. Dabei ist eine Zusatzver-
gütung der am System beteiligten Leistungserbringer an
die Erfüllung von Versorgungs- und Schulungsaufträgen
sowie an die Vollständigkeit der entsprechenden Doku-
mentation gebunden. Hiermit wird eine Vergütungsge-
rechtigkeit erzielt, die sich nicht an der Menge, sondern
an der Qualität der erbrachten Leistung orientiert. Ein ent-
scheidender Qualitätssprung konnte auch bei der Erbrin-
gung von Schulungsleistungen erzielt werden. Prävention
und Aufklärung spielen hierbei eine entscheidende Rolle.
Landesweit sind allein 40 regionale Selbsthilfegruppen
tätig und sowohl 1990 als auch im Jahre 2000 konnten mit
dem Infomobil „Diabetes und Hochdruck“ in insgesamt
90 Orten wichtige Informationen zur Gestaltung gesund-
heitsbewussten Verhaltens und über die Risikofaktoren
Übergewicht und Bewegungsarmut vermittelt werden.
Das Thüringer Beispiel steht jedoch nicht allein. Ähn-
lich erfolgreiche Programme sind bereits im Freistaat
Bayern, in Baden-Württemberg und in anderen Bundes-
ländern angelaufen. Wir brauchen also in Deutschland
keine neue Kommission, die Versorgungsziele definiert.
Es ist vielmehr Aufgabe der Länder, diese positiven Er-
fahrungen gemeinsam mit der Selbstverwaltung umzuset-
zen. Wir brauchen keine neuen zentralistischen Vorgaben,
sondern Freiräume für die Selbstverwaltung. Deshalb
sollte sich der Antrag auch an die Akteure richten, die
diese Forderung konkret umsetzen müssen, und er sollte
die Frage beantworten, wer das Ganze eigentlich bezahlt.
Die Tatsache, dass die Regierungskoalition erst zwei
Jahre nach der Regierungsübernahme durch Rot-Grün
diesen Antrag einbringt, macht deutlich, dass sie selber
nicht an erfolgversprechende Eingriffsmöglichkeiten des
Bundes glaubt. Warum sonst das lange Warten? Man ge-
winnt vielmehr den Eindruck, dass nichts anderes als blin-
der Aktionismus hierbei die Feder geführt hat und damit
der Öffentlichkeit angesichts des bevorstehenden Welt-
diabetestages das besondere Engagement von Rot-Grün
für eine bessere Betreuung von Diabetikern vorgegaukelt
werden soll.
Gerade die chronische Krankheit Diabetes mellitus ist
ein Beispiel dafür, wie durch ein effektives Zusammen-
wirken aller Leistungserbringer die Zahl der stationär zu
behandelnden Diabetesfälle signifikant gesenkt und einer
ambulanten Behandlung zugeführt werden kann. Das
kann jedoch nur dann funktionieren, wenn das Geld auch
der Leistung folgt und Vergütungsstrukturen geschaffen
werden, die Qualität mit finanziellen Anreizen belohnen.
Es ist ein Irrglaube, wenn man einerseits meint, eine im-
mer bessere Betreuungsqualität unter anderem auch mit
der Einbeziehung der Fußpflege, mit mehr Schulung und
Information der Patientinnen und Patienten zu erreichen,
wenn man andererseits mit der Budgetierung immer mehr
finanzielle Hürden dafür aufbaut. Das Ergebnis ist eine
Rationierung von Leistung gerade bei chronisch Kranken.
Bezeichnenderweise steht in dem Antrag kein Wort zur
Finanzierung der durchaus wünschenswerten Aufgaben.
Dabei ist es unstrittig, dass eine qualitativ höherwertige
Versorgung primär erst einmal mehr Geld kostet, zum
Beispiel durch mehr Prävention, durch umfangreichere
und qualitativ verbesserte Diagnosen und Therapien. Es
ist aber auch unstrittig, dass dieses zusätzliche Geld, wenn
es zeitig genug ausgegeben wird, ein großes Einsparpo-
tenzial beinhaltet, weil Krankheitsverläufe und Folgeer-
krankungen vermieden oder aber gemindert werden. Ein
Budget verhindert das nicht nur, sondern trägt – wie viele
Beispiele in den letzten Tagen zeigen – zu einer Rationie-
rung und damit Verschlechterung der medizinischen Ver-
sorgung chronisch Kranker bei. Wer heute Diabetikern
sogar die Erstattung der so wichtigen Blutzuckerselbst-
kontrolle mittels Teststreifen nicht mehr gewährt, kann
nicht für sich in Anspruch nehmen, Sachwalter der Pro-
bleme von Diabetikern zu sein.
Und wer den Patientinnen und Patienten glaubhaft ma-
chen will, dass sie in Zukunft eine hoch qualifizierte Ver-
sorgung unter einem gedeckelten Budget erwarten kön-
nen, belügt sie damit nicht nur, sondern koppelt das
deutsche Gesundheitswesen von der internationalen Ent-
wicklung ab.
Detlef Parr (F.D.P.):Der Antrag der SPD und der Grü-
nen zur Qualitätsverbesserung in der Diabetes-Versor-
gung beleuchtet ein wichtiges Thema, das eine ein-
gehende Diskussion verdient. Im Jahre 1998 waren
4,1 Millionen Diabetiker in Deutschland behandlungsbe-
dürftig, mit steigender Tendenz. Die Gesamtkosten der
Versorgung betragen dabei pro Jahr nach Schätzungen
etwa 15 bis 25 Milliarden DM. Manche Experten spre-
chen sogar von 30 Milliarden DM. Das verdeutlicht die fi-
nanzielle Dimension, die dieses Thema neben der
menschlichen Dimension für die Betroffenen hat.
Ich teile allerdings nicht den Grundtenor des Antrages,
dass in den letzten Jahren nichts geschehen sei. Zahlrei-
che Projekte und Ansätze sind entstanden, die dazu bei-
tragen, die Situation der Diabetiker zu verbessern. Es gibt
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heute etwa 1 500 Diabetologen in Deutschland. Ihre Zahl
ist von 1993 bis 1998 um jährlich 60 Prozent gestiegen.
Die Diabetes-Gesellschaft hat regelungsbedürftige Ver-
tragsinhalte von Diabetesvereinbarungen herausgegeben,
die eine gute Grundlage für Vereinbarungen der Kosten-
träger mit den Ärzten darstellen. In München ist man im
städtischen Krankenhaus Schwabing unter der Leitung
des Diabetologen und Chefarztes Professor Eberhard
Standel jetzt neue Wege in Richtung teilstationärer Ver-
sorgung gegangen. Entstanden ist eine spezielle Tag-
Nacht-Klinik, die die Zeit, die Diabetespatienten ande-
renfalls im Krankenhaus liegen müssten, fast um die
Hälfte verringert. Tagespatienten schlafen daheim und
kommen nach dem Frühstück fünf Tage lang in die Klinik
bis zum späten Nachmittag. Umgekehrt gehen Nachtpati-
enten nachmittags bis nach dem Frühstück am folgenden
Tag in die Klinik. Die Barmer-Ersatzkasse hat mit der
KV-Westfalen-Lippe einen Diabetesvertrag geschlossen,
der eine ergebnisorientierte Vergütung vorsieht. In Wolfs-
burg gab es ein Modellprojekt zwischen der BKK-Volks-
wagen und der Kassenärztlichen Vereinigung Nieder-
sachsen zur Früherkennung von Folgeschäden bei
Patienten mit Diabetes mellitus. Dieser „Diabetes-TÜV“
ist bei Ärzten und Patienten auf große Resonanz gestoßen.
Bereits im Jahre 1997 haben die Ersatzkassenverbände
und die Kassenärztliche Bundesvereinigung eine Diabe-
tesvereinbarung geschlossen, die insbesondere auch die
Diabetikerschulung in den Vordergrund stellt. Die Liste
der Vereinbarungen könnte ich noch deutlich verlängern.
Allerdings, auch das muss man zugeben, ist aus diesen
hoffnungsvollen Ansätzen bisher keine umfassende,
flächendeckende Optimierung der Versorgung geworden.
Die Zahl der Amputationen ist mit ca. 25 000 pro Jahr viel
zu hoch. Mit 4 00 Patienten jährlich ist die Zahl derjeni-
gen, bei denen mit der Dialyse begonnen werden muss,
ebenfalls erschreckend hoch. Gleiches gilt für die Rate
von 7 000 Diabetikern, die jährlich erblinden. Ihren An-
trag begreifen wir deshalb als Herausforderung, uns im
Gesundheitsausschuss eingehend damit zu beschäftigen,
wo heute noch im Einzelnen die Defizite liegen und wie
man sie in den Griff bekommen kann.
Katrin-Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Trotz medizinischer Behandlungsmöglich-
keiten bedeutet die Erkrankung an Diabetes eine erhebli-
che Einschränkung der Lebensqualität. Obwohl die Leis-
tungsfähigkeit eines Diabetikers gleich der eines
Gesunden ist, erfordert ein Leben mit Diabetes viel Dis-
ziplin und eine gute und richtige medizinische Behand-
lung.
Diabetes ist bisher nicht heilbar, Ärzte können den
Menschen mit medizinischen Mitteln eine höhere Le-
bensqualität geben und Spätfolgen oder zu befürchtende
Komplikationen lindern. Optimal werden die mehr als
4 Millionen Diabetiker hierzulande nicht behandelt. Eine
bundesweite Untersuchung hat gezeigt, dass bei circa
40 Prozent der über 50-jährigen Diabetiker die Stoff-
wechseleinstellung nicht akzeptabel ist, ein Grund,
warum es zu Diabetes-Folgeerkrankungen wie Erblinden,
Nierenversagen und Amputationen kommt. Nach wie vor
betreffen seit 1990 zwei Drittel aller in Deutschland
durchgeführten Amputationen Diabetiker, jeder zweite
neudialysierte Patient und jeder dritte Neuerblindete ist
ein Diabetiker. Nur durch eine rechtzeitige und intensive
Betreuung der Patienten kann dieser Missstand behoben
werden. Die Versorgung der heute rund 4 Millionen an
Diabetes erkrankten Menschen in der Bundesrepublik hat
sich unter der alten Bundesregierung nicht verbessert,
sondern im Gegenteil eher verschlechtert.
Die Diskrepanz zwischen den neuen medizinisch-
wissenschaftlichen Kenntnissen und deren Umsetzung in
der Praxis ist weiter gewachsen. In den Niederlanden sind
aufgrund einer besseren Diabetesbehandlung nur 13 Pro-
zent der Dialysen durch Diabetes bedingt. Auch die bis-
her größte Studie zu Diabetes, die Ende 1998 veröffent-
lichte United Kingdom Prospective Diabetes Study
(UKPDS) bietet den Beleg, dass Diabetesfolge-
erkrankungen verhindert werden können, je intensiver
Diabetiker behandelt werden. Sie gibt die absolute Ge-
wissheit, dass eine strenge Blutzucker- und Blutdruck-
kontrolle das Risiko diabetischer Folgeerkrankungen ver-
mindert. Britische Wissenschaftler haben rund 20 Jahre
lang mehrere tausend Diabetiker mit verschiedenen The-
rapieformen behandelt und den unterschiedlichen Erfolg
dokumentiert. Dieses weist darauf hin, dass die Diabe-
testherapie in der Bundesrepublik Deutschland dem aktu-
ellen medizinischen Wissen hinterherhinkt und eine aus-
reichende sachgerechte Versorgung nicht gewährleistet
ist. Das ist nicht nur verantwortungslos gegenüber den
Kranken, sondern auch unvertretbar im Hinblick auf die
unnötig hohen Ausgaben für die Krankenkassen. Eine
mangelhafte Versorgung führt zu höheren Kosten, die
– wie eine bereits im Jahr 1979 in Schweden vorgelegte
Studie zeigt – bei früh erkannten und gut eingestellten
Diabetikern nur einen Bruchteil betragen würden. Ob-
wohl dies schon lange bekannt ist, hat die alte Bundesre-
gierung nicht gehandelt. Sie trägt damit die Verantwor-
tung für eine nicht ausreichende Versorgung von
Diabetes-Patienten. Vielleicht hätten einige Folgeerkran-
kungen verhindert werden können.
Ich möchte eigentlich nicht mit den unnötig verursach-
ten Kosten argumentieren, die ein unzureichend oder
schlecht behandelter Patient verursacht. Denn es geht hier
um Menschen, die schlicht „besser“ und unter Umständen
auch länger leben können mit der geeigneten medizini-
schen Versorgung. Aber lassen sie mich an einem Beispiel
verdeutlichen, wie sinnvoll es ist, in einer frühen Phase
der Erkrankung in eine intensive Behandlung zu investie-
ren. Die Kosten für einen gut eingestellten Typ II Diabe-
tiker betragen 1 000 bis 1 200 DM, während ein schlecht
eingestellter Diabetiker vom Typ II 11 000 bis 13 500 DM
an Kosten verursacht. Von den Kosten für Folgeerkran-
kungen sei hier noch abstrahiert. An diesem Beispiel wird
sichtbar: Steigerungen der Qualität gehen oft mit lang-
fristigen Kostensenkungen einher. Deshalb beschreiten
wir diesen Weg schon seit der Gesundheitsreform 2000.
Die gesundheitspolitische Bedeutung von Diabetes ist
enorm. Mit mehr als 4 Millionen Erkrankten ist Diabetes
zu einer Volkskrankheit geworden. Die Wahrscheinlich-
keit, an Diabetes zu erkranken, ist damit insgesamt hoch
und nimmt mit steigendem Alter rapide zu. Frauen sind im
Übrigen besonders von dieser Krankheit betroffen. Die
Tatsache, dass unsere Gesellschaft altert, zeigt, dass die
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Bedeutung dieser Krankheit in Zukunft noch weiter zu-
nehmen wird.
Wir haben bereits mit der Gesundheitsreform 2000 we-
sentliche Schritte unternommen, um die Versorgung von
chronisch Kranken wie Diabetespatienten zu verbessern,
zum Beispiel mit der Aufnahme der Patientenschulung als
ergänzende Leistung zur Rehabilitation, mit den Rege-
lungen für eine integrierte Versorgung und mit der Ein-
führung von Qualitätssicherungsmaßnahmen.
Wir fordern in unserem Antrag, dass die Verbesserung
der Diabetes-Versorgung von der Bundesregierung als
vorrangiges Gesundheitsziel erklärt wird und konkrete
Versorgungsziele definiert werden gemäß der St. Vicent-
Deklaration von 1989, die bis 2005 umgesetzt werden
soll. Die Ziele orientieren sich an der Vermeidung der Fol-
geerkrankungen. Zur Umsetzung dieser Ziele soll daher
bis Ende 2000 eine Kommission eingesetzt werden, die
einen konkreten Maßnahmenkatalog als Basis zum „Na-
tionalen Aktionsplan Diabetes“ bis Ende 2002 erarbeiten
soll. Wir werden an der Kommission medizinisches Fach-
personal aus dem Bereich der Diabetesbehandlung, Ver-
treter der Kostenträger, der Selbsthilfegruppen und der
Patientenverbände beteiligen. Die neu zu schaffende
Kommission fordern wir auf, bis spätestens 2001 einen
Bericht über den anzustrebenden Versorgungszustand
vorzulegen.
Wir haben bereits mit der Gesundheitsreform 2000 mit
dem § 43 Abs. 3 SGB V einen erweiterten rechtlichen
Rahmen für die Krankenkassen geschaffen, Patienten-
schulungsmaßnahmen bedarfsgerecht anzubieten. Wir
wollen daher auf die Krankenkassen einwirken, diese
Schulungen auch tatsächlich anzubieten. Diese Schu-
lungsangebote, die den Umgang mit der Krankheit und
das Wissen darüber vermitteln, tragen wesentlich zu einer
besseren Bewältigung der Krankheit und damit zu einer
höheren Lebensqualität des Kranken bei. Wir wollen
ferner, dass auf die Selbstverwaltung von Ärzten und
Krankenkassen eingewirkt wird, damit die Fußpflege für
Diabetiker in den Leistungskatalog der gesetzlichen
Krankenkassen aufgenommen wird.
Der mit der Gesundheitsreform eingeschlagene Weg
der integrierten Versorgung ist auch hier fruchtbar. Wir
wollen dafür sorgen, dass innerhalb einer integrierten Ver-
sorgung von Haus- und Fachärzten sowie Kliniken auch
zum Beispiel medizinische Fußpfleger oder Ernährungs-
berater miteinander kooperieren und so eine bessere Ver-
sorgung von Diabeteskranken und eine bessere Präven-
tion von Folgekrankheiten stattfinden kann.
Der häufigen Forderung von Diabetikerverbänden,
dass der Staat eine Diabetes-Kampagne startet, tragen wir
mit unserem Antrag Rechnung. Sofern die dazu benö-
tigten Haushaltsmittel bereitgestellt werden können, wol-
len wir eine breit angelegte Aufklärung starten. Eine Auf-
klärungskampagne macht Sinn, denn für die Entstehung
von Diabetes mellitus Typ II, die so genannte Altersdia-
betes, sind zum Teil vermeidbare Risikofaktoren aus-
schlaggebend: Neben der erblichen Vorbelastung stehen
vor allem Übergewicht und Bewegungsmangel im
Vordergrund. Auf Ärzte und Krankenkassen soll einge-
wirkt werden, die medizinische Fußpflege für Diabetiker
in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkasse
aufzunehmen.
Eine Verbesserung der Diabetes-Versorgung ist längst
überfällig. Im Sinne der Patienten bitte ich Sie daher, die-
sem Antrag zuzustimmen.
Dr. Ruth Fuchs (PDS): Der Antrag der Koalitions-
fraktionen zielt auf die Verbesserung der gesundheitlichen
Versorgung diabeteskranker Menschen und verdient nach
unserer Auffassung in seinen Grundintensionen volle Un-
terstützung. Ich sage dies auch in Kenntnis des Gesund-
heitswesens der DDR, in dem es gerade für die Diabetiker
eine qualitativ hoch entwickelte Betreuung gab. Sie wäre
nicht denkbar gewesen, ohne klar definierte gesundheits-
politische Ziele und ohne ein gut koordiniertes und ge-
steuertes Handeln aller Akteure.
Die Zuckerkrankheit ist seit längerem in den ent-
wickelten Ländern eines der großen gesundheitlichen
Probleme und besonders in den höheren Altersgruppen
sind wachsende Anteile der Bevölkerung betroffen. Eine
Besonderheit besteht darin, dass Diabetes zwar nicht heil-
bar, aber im Gegensatz zu anderen chronischen Krank-
heiten sehr erfolgreich behandelbar ist. Akut auftretende
und oft lebensbedrohliche Komplikationen durch ent-
gleiste Blutzuckerwerte lassen sich heute durch engma-
schige diagnostische Kontrollen sowie gute therapeuti-
sche Führung weitgehend vermeiden. Ebenso wichtig
sind intensive Schulungsmaßnahmen für die Patienten,
mit deren Hilfe das erforderliche Ernährungsverhalten
und der richtige Umgang mit Medikamenten vermittelt
wird. Selten ist gutes Selbstmanagement der Patienten so
bedeutsam, wie bei der Zuckerkrankheit.
Aber auch die gefürchteten Folgeerkrankungen, die im
Ergebnis fortschreitender Gefäß- und Nervenschädigun-
gen vor allem zu Erblindungen, Nierenversagen und erns-
ten Herz-Kreislauf-Komplikationen führen, können heute
durch sorgfältige Stoffelwechseleinstellung, Blutdruck-
kontrollen und anderes mehr zum großen Teil vermieden
bzw. zeitlich weit hinausgeschoben werden.
Allerdings gelingt es bisher im eigenen Lande nicht
ausreichend, die vorhandenen medizinischen Möglich-
keiten und die gute infrastrukturelle Basis unseres Ge-
sundheitssystems so zur Wirkung zu bringen, dass für die
Patienten eine höchstmögliche Behandlungsqualität re-
sultiert. Noch immer werden Krankheiten zu häufig nicht
rechtzeitig erkannt und Patienten nicht engmaschig be-
treut. Vor allem aber mangelt es am Wichtigsten: An einer
bewusst organisierten und reibungslosen Kooperation
zwischen Hausärzten und diabetologisch spezialisierten
Ärztinnen und Ärzten.
Wie kann also die Diskrepanz zwischen möglicher und
tatsächlicher Qualität der Versorgung flächendeckend
überwunden werden und was kann die Politik dazu bei-
tragen? Der zur Debatte stehende Antrag ist bestrebt da-
rauf Antworten zu geben und schon das halten wir für ver-
dienstvoll.
Will man wirklich weiterkommen, muss man unseres
Erachtens allerdings die Ursachen für die bestehenden
Defizite klarer benennen. Expertenmeinungen, Studien,
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aber auch Erfahrungen aus Modellprojekten verweisen
immer wieder auf ein gleiches Ergebnis: Bei isoliert ar-
beitenden Einzelpraxen, Einzelleistungsvergütung, zu-
nehmenden innerärztlichen Verteilungskämpfen und da-
mit verbundener Sorge, Patienten durch Überweisung zu
verlieren, sind es die Strukturen und Anreize des Versor-
gungssystems, die die notwendige, auf gemeinsame Ziele
gerichtete kooperative Arbeit beeinträchtigen.
Im Gegensatz zur Bewertung im vorliegenden Antrag
hat hier auch die Gesundheitsreform 2000 keineswegs
günstigere Voraussetzungen geschaffen. Im Gegenteil:
Zurzeit erleben wir vorwiegend negative Wirkungen auch
auf die Versorgungsqualität der Diabetiker. Gerade weil
bei ihnen oft mehrere Krankheiten gleichzeitig vorliegen,
stößt ihre Behandlung unter den gegebenen Budgets nicht
selten auf finanzielle Grenzen.
Unserer Meinung nach ist damit ein Grundproblem des
Antrages angesprochen. Letztlich zielt er darauf, zeit-
gemäße medizinische Arbeitsformen in einem Versor-
gungssystem zu verankern, dessen grundlegende Struktu-
ren darauf nicht nur nicht vorbereitet sind, sondern ihnen
häufig entgegenstehen.
Auch am Beispiel der Diabetiker-Versorgung bestätigt
sich: Für notwendige Verbesserungen sind weiter rei-
chende Strukturreformen im Gesundheitswesen erforder-
lich. Zum anderen benötigen Ärzte und Patienten finanzi-
elle Rahmenbedingungen, die für alle eine Behandlung
entsprechend dem heutigen medizinischen Erkenntnis-
stand und unabhängig vom Geldbeutel ermöglichen.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Umsetzung der EU-Richtlinie über das Folge-
recht des Urhebers des Originals eines Kunst-
werkes (Folgerechtsanpassungsgesetz) (Tages-
ordnungspunkt 23)
Dirk Manzewski (SPD): Am heutigen Tag debattieren
wir hier im Deutschen Bundestag über den Entwurf eines
so genannten Folgerechtsanpassungsgesetzes, den die
Fraktion der FDP eingebracht hat.
Bei dem Thema „Folgerecht“ handelt es sich um eine
urheberrechtliche Spezialproblematik. Gegenstand des in
§ 26 Urhebergesetz normierten Folgerechts ist es, dass der
Urheber einen Anteil des Veräußerungserlöses erhalten
muss, wenn das Original seines Werkes durch einen
Kunsthändler, Versteigerer, Erwerber, Veräußerer oder
Vermittler veräußert wird. Diese Regelung dient der Stär-
kung der Rechtsposition der Urheber. Ein solcher wie im
deutschen Recht ausgestalteter urheberrechtlicher An-
spruch existiert in den anderen europäischen Ländern
nicht überall. Zu Recht weist der Gesetzesentwurf der
F.D.P. deshalb darauf hin, dass es hierdurch in der Ver-
gangenheit im Kunsthandel zu erheblichen Wettbewerbs-
verzerrungen in Europa – vor allem zum Nachteil
Deutschlands – gekommen ist. Die weitaus größte Menge
von Kunstverkäufen findet nicht zuletzt deshalb auch in
London statt.
Die Bundesregierung hat sich aus diesem Grunde ins-
besondere während ihrer EU-Präsidentschaft im 1. Halb-
jahr 1999 intensiv für die Harmonisierung des Folge-
rechts eingesetzt und setzt sich im Übrigen auch weiterhin
vehement dafür ein. Die nicht nur zuungunsten Deutsch-
lands bestehenden Wettbewerbsverzerrungen auf dem eu-
ropäischen Kunstmarkt müssen endlich beseitigt werden.
So grundsätzlich wir daher einerseits das Grundanlie-
gen der F.D.P. teilen, so müssen wir andererseits zum ge-
genwärtigen Zeitpunkt gleichwohl deren Gesetzesent-
wurf ablehnen, zum einen deshalb, weil meiner Kenntnis
nach – entgegen der Behauptung der F.D.P. – nicht die
Richtlinie selbst, sondern lediglich der so genannte ge-
meinsame Standpunkt des Europäischen Parlaments ver-
abschiedet worden ist. Es erscheint deshalb nicht un-
wahrscheinlich, dass das Europäische Parlament noch
Änderungen im Sinne einer urheberfreundlicheren Aus-
gestaltung der Richtlinie beschließt. Ich könnte mir vor-
stellen, dass dies im Übrigen auch für die von der F.D.P.
monierten langen Übergangsfristen gilt. Meiner Informa-
tion nach soll der Richtlinienvorschlag noch in der zwei-
ten Dezemberhälfte im Europäischen Parlament ab-
schließend beraten werden. Diesen Termin sollten wir
zwingend abwarten. Ein Vorgriff darauf würde vermutlich
ansonsten unnötigerweise Korrekturbedarf nach sich zie-
hen.
Zum anderen lehnen wir den Gesetzentwurf der F.D.P.
deshalb ab, weil er in Teilbereichen entweder erheblich
von der Richtlinie des Europäischen Parlaments abweicht
oder aber den dort eröffneten Spielraum der einzelnen
Mitgliedstaaten einseitig zum Nachteil der Urheber aus-
schöpft. So soll nach den Vorstellungen der F.D.P. zum
Beispiel das Folgerecht erst bei einer Veräußerung ab
4 000 Euro einsetzen. Die Richtlinie eröffnet dies aber
schon bei geringeren Veräußerungserlösen. Auch soll das
Folgerecht nur bei Veräußerungen mit Gewinn eintreten.
Dies ist weder in der Richtlinie vorgesehen noch sonst
verständlich.
Diese Aushöhlung der Schutzrechte von Urhebern hal-
ten wir nicht für akzeptabel. Dementsprechend können
wir dem auch nicht folgen. Die SPD wird sich – wie be-
reits in der Vergangenheit – auch zukünftig dafür einset-
zen, die Rechte der Urheber, wo dies berechtigt erscheint,
zu stärken.
Nicht nachvollziehbar ist für uns deshalb auch, warum
die erste Weiterveräußerung durch eine Galerie nach den
Vorstellungen der F.D.P. vom Folgerecht ausgenommen
werden sollte. Eine schlüssige Begründung hierzu findet
sich im Gesetzesentwurf der F.D.P. nicht. Ich gehe davon
aus, dass man hier einfach die konträre Auffassung des
Rates hierzu übernommen hat, die für Kunstgalerien eine
besondere Situation annimmt, weil diese oft unmittelbar
von unbekannten Künstlern Kunstwerke kaufen. Dies
überzeugt mich jedoch nicht, da das Gleiche auch oft für
Kunsthändler gilt. Worin ein Unterschied zwischen dem
Verkauf durch eine Galerie und dem durch einen Kunst-
händler liegt, der dies rechtfertigt, ist für mich derzeit
nicht ersichtlich. Eine Besserstellung des Galeristen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12305
(C)
(D)
(A)
(B)
gegenüber dem Kunsthändler erscheint mir deshalb zu-
mindest derzeit nicht sachgerecht. Hinzu kommt, dass die
F.D.P. die Einschränkung der Auffassung des Rates, der
diese Ausnahme nur gelten lassen will, wenn der erzielte
Preis bei der Weiterveräußerung 10 000 Euro nicht über-
steigt, nicht berücksichtigt.
Die verschärfte Verjährungsregelung kann ebenfalls
nicht unsere Zustimmung finden. Die Begründung der
F.D.P. hierzu ist für uns genauso wenig nachvollziehbar.
Bei jedem Verkauf von Werken ist in diesem Zusammen-
hang der Folgerechtsanspruch schon von vornherein zu
berücksichtigen. Der Veräußerer muss von Anfang an mit
Forderungen des Urhebers rechnen. Eine Rechtsun-
sicherheit kann also allenfalls darin liegen, dass sich
gegebenenfalls die dies ohnehin einkalkulierende Er-
tragserwartung – folgt man dem F.D.P.-Entwurf, die Ge-
winnerwartung – erst später bestätigt. Wenn dies als
Rechtsunsicherheit angesehen wird, so kann man meiner
Auffassung nach durchaus damit leben, zumal eine abso-
lute Höchstgrenze des Folgerechts von 12 500 Euro fest-
geschrieben worden ist
Norbert Röttgen (CDU/CSU): „Entwurf eines Geset-
zes zur Umsetzung der EU-Richtlinie über das Folgerecht
des Urhebers des Originals eines Kunstwerks“ hat die
F.D.P.-Bundestagsfraktion ihren Gesetzentwurf genannt.
„Die Folgerechtsrichtlinie wird ohne Übergangsfristen in
nationales Recht umgesetzt“, heißt es weiter.
Das Grundproblem, auf das der Gesetzentwurf der
F.D.P. trifft, besteht darin, dass er eine europäische Richt-
linie umsetzen möchte, die es überhaupt noch gar nicht
gibt und mit dem von der F.D.P. unterstellten Inhalt
höchstwahrscheinlich auch niemals geben wird. Das zeigt
der aktuelle Beratungsstand. Es gibt einen Gemeinsamen
Standpunkt des Rates, dessen Inhalt dem des Gesetzent-
wurfes der F.D.P. nahe kommt, der aber von der Kom-
mission abgelehnt wird. Die Beratungen des Rechtsaus-
schusses des Europäischen Parlaments sind noch nicht
abgeschlossen, die Behandlung im Europäischen Parla-
ment selbst ist für Dezember 2000 vorgesehen. Fest steht
allerdings, das auch das Europäische Parlament dem Ge-
meinsamen Standpunkt des Rates skeptisch gegenüber-
steht.
Der Gesetzentwurf der F.D.P.- Bundestagsfraktion ist
deshalb zumindest verfrüht, wenn nicht gar schädlich. Es
ist nach Auffassung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
unerlässlich, das endgültige Ergebnis der Beratungen ab-
zuwarten, statt jetzt vorschnell das Urheberrechtsgesetz
zu ändern, um dann möglicherweise Anfang 2001 – im
Rahmen der Umsetzung der Richtlinie – eine erneute Kor-
rektur vornehmen zu müssen. Damit würden Rechtsunsi-
cherheiten geschaffen, die für das berechtigte Anliegen
der Künstler und Galeristen in Deutschland kontrapro-
duktiv wären. Eine Harmonisierung des Urheberrechts im
nationalen Alleingang ist ein Widerspruch in sich.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hätte es sich aller-
dings gewünscht, bereits heute über die Umsetzung der
Folgerechtsrichtlinie in deutsches Recht sprechen zu kön-
nen. Wenn dies nicht der Fall ist, liegt das in erster Linie
an der zögerlichen Haltung der rot-grünen Bundesregie-
rung. Ihre eigene Zielsetzung für die deutsche Ratspräsi-
dentschaft im ersten Halbjahr 1999 war die Verabschie-
dung eines Gemeinsamen Standpunktes; erreicht hat sie
eine Vertagung. Nachvollziehbare Gründe hierfür konnte
sie auf Nachfrage unserer Fraktion nicht vorbringen. Da-
bei drängten bereits damals die zulasten der deutschen
Künstler und Galeristen bestehenden Wettbewerbsnach-
teile nach einer schnellen und effektiven Lösung. Die
Harmonisierung der bereits in 11 EU-Mitgliedstaaten be-
stehenden Reglungen zum Folgerecht im Kunsthandel tat
und tut Not. Die durch die Verzögerung für den Kunst-
standort Deutschland entstehenden Schäden werden mit
jedem Tag größer. Mit den zurzeit in Rede stehenden
Übergangsfristen für die Umsetzung der zu erwartenden
Richtlinie würden die bestehenden Wettbewerbsnachteile
zementiert.
Wir fordern die Bundesregierung daher auf, sich end-
lich nachdrücklich auf EU-Ebene für den schnellen Erlass
einer Folgerechtsrichtlinie einzusetzen. Diese muss aber
die Bedürfnisse des Kunststandortes Deutschland auch
hinreichend berücksichtigen. Ein Kompromiss auf Basis
des kleinsten gemeinsamen Nenners kann nicht das Ziel
sein. So lehnt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion eine
willkürliche optionale Untergrenze von 4 000 Euro für das
Anfallen eines Folgerechtsbeitrages ab. Auch die Festset-
zung eine absoluten Obergrenze für den zu leistenden
Folgerechtsbeitrag in Höhe von 12 500 Euro ist aus unse-
rer Sicht nicht begründbar. Es ist nicht einzusehen, warum
der Urheber auf diese Weise von der Teilhabe am wirt-
schaftlichen Erfolg ausgeschlossen werden soll.
Lassen Sie uns gemeinsam an einer europäischen Lö-
sung arbeiten, die den Kunststandort Deutschland und
ebenso eine faire Teilhabe der Kunst Schaffenden am
wirtschaftlichen Erfolg sichert. Der Gesetzentwurf, über
den wir heute sprechen, kann dies nicht leisten.
Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt lehnen wir den Entwurf
der F.D.P. ab, und zwar aus folgendem Grund: Aufgrund
der schlecht zu vermittelnden Positionen der einzelnen
Länder ist es in Brüssel bisher noch zu keiner endgültigen
Einigung zur Folgerechtsrichtlinie gekommen. Es macht
also gar keinen Sinn, eine noch nicht beschlossene
EU-Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Vielmehr
ist erst einmal abzuwarten, in welcher Form und mit
welchem Inhalt die Richtlinie in der EU letztendlich
beschlossen wird. Alles andere wäre Zeit- und Energie-
verschwendung.
Das Folgerecht, so wie es derzeit in Deutschland und
in den meisten EU-Mitgliedstaaten existiert und gehand-
habt wird, gewährleistet den bildenden Künstlern und
ihren Erben eine Beteiligung an den Einnahmen bei Wei-
terverkäufen ihrer Werke und somit an deren Wert-
steigerung. Die Problematik um das Folgerechtsgesetz
besteht vor allem darin, dass nicht alle EU-Staaten eine
solche Regelung haben. Im Sinne einer Gleichstellung der
Künstler in Europa ist eine Harmonisierung anzustreben.
Komponisten und Autoren sind durch Tantiemen selbst-
verständlich an allen Veräußerungen ihrer Werke betei-
ligt. Im Gegensatz dazu sind bildende Künstler beim
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012306
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Weiterverkauf in einigen Ländern nicht an den Einnah-
men beteiligt. So gehen beispielsweise Maler, deren
Bilder auf dem Kunstmarkt in London – dem größten in
Europa – weiterverkauft werden, leer aus; denn Groß-
britannien hat bisher kein Folgerecht eingeführt. Dasselbe
gilt für Irland, die Niederlande und Österreich.
Die EU arbeitet seit langem an einer europaweiten Har-
monisierung des Folgerechts, um Benachteiligungen in
einzelnen Staaten innerhalb der Europäischen Union
auszuschalten. Die Bundesregierung unterstützt dieses
Vorhaben tatkräftig und strebt darüber hinaus eine erwei-
terte internationale Harmonisierung über die Grenzen Eu-
ropas hinaus an. Eine Übernahme einer EU-Folgerechts-
richtlinie in nationales Recht ist für die Bundesrepublik
derzeit nicht so dringlich, wie deren Übernahme in
Staaten, die im Gegensatz zur Mehrheit der EU-Mitglied-
staaten noch gar kein Folgerecht haben. Weiterhin sind
auch zusätzliche Regelungen innerhalb des Folgerechts,
das wie gesagt in Deutschland schon praktiziert wird,
genau zu untersuchen und auf ihre Akzeptierbarkeit zu
überprüfen.
Eine Absenkung der Beteiligung der Künstler von
derzeit 5 Prozent auf 3 Prozent, wie in der EU-Richtlinie
geplant, wird wohl durch die Aufnahme des Folgerechts
in allen Staaten der EU ausgeglichen. Jedoch sind andere
Punkte zu bedenken: Über die Eingangssumme, also über
den minimalen Preis eines Werkes, bei dem das Fol-
gerecht greifen soll, muss diskutiert werden. Besonders
ist aber auch über die vorgesehene Deckelung, also die
feste Obergrenze für durch Folgerecht erzielte Einnahmen
der Künstler, zu diskutieren; denn sie stellen einen sys-
tematischen Widerspruch zum Urheberrecht dar.
Die F.D.P. handelt mit diesem Antrag voreilig. Die
Einigung in Brüssel ist frühestens im Dezember dieses
Jahres zu erwarten. Sprechen wir dann darüber!
Rainer Funke (F.D.P.) Seit langem ist der deutsche
gegenüber dem internationalen Kunstmarkt unter Wettbe-
werbsgesichtspunkten extrem benachteiligt. Lediglich in
Schweden existiert ein derartig wettbewerbsfeindliches
Folgerecht wie in Deutschland.
Ein Teil der Staaten, zum Beispiel Frankreich, kennt
das Folgerecht nur für Kunstversteigerer, andere Länder,
insbesondere Großbritannien, kennen es gar nicht. Der
daraus resultierende Wettbewerbsnachteil für die mit dem
Folgerecht belasteten Kunstmärkte führte dazu, dass sich
dieser in den EU-Staaten auf London konzentriert. Rund
80 Prozent des gesamten Kunsthandels innerhalb der
EU-Staaten werden dort abgewickelt.
Trotz jahrelanger Diskussionen – nicht zuletzt immer
wieder hinausgezögert durch den Widerstand einiger Mit-
gliedstaaten – ist es der EU-Kommission bisher nicht ge-
lungen, die Regelungen über das Urheberrecht an Kunst-
werken europaweit zu harmonisieren und damit auf dem
europäischen Kunstmarkt einheitliche Wettbewerbsbe-
dingungen zu schaffen.
Die Bundesregierung hat nichts unternommen, um die
Angelegenheit zu befördern. Im Gegenteil: Der Bundes-
kanzler hat die bereits im vergangenen Jahr verabschie-
dungsreife Folgerechtsrichtlinie auf dem Altar der Au-
toindustrie geopfert und damit die Zustimmung der briti-
schen Regierung zur Verhinderung der Altautoverord-
nung erkauft. Dies ging nicht nur zum Nachteil Herrn
Trittins, sondern auch der Künstler und Verwerter. Denn
genau diese brauchen ein einheitliches Folgerecht in Eu-
ropa, wenn junge deutsche Kunst auf dem deutschen und
europäischen Kunstmarkt eine Chance haben soll.
Zwar liegt seit März 2000 die „Richtlinie über das Fol-
gerecht des Urhebers des Originals eines Kunstwerkes“
vor; seitdem verheddert sich die Folgerechtsrichtlinie
aber im Gestrüpp der europäischen Institutionen. Mit un-
serem Gesetzentwurf für ein Folgerechtsanpassungsge-
setz wollen wir diesem Zustand der Lähmung entgegen-
wirken und dem Europäischen Parlament Beine machen.
Wir Liberalen halten es für nicht länger hinnehmbar,
dass der Gesetzgebungsprozess in Brüssel weiterhin die
Entwicklung des Kunstmarkts in Deutschland beeinträch-
tigt.
Wir wollen § 26 des Urheberrechtsgesetzes ändern und
an die wettbewerbsrechtlichen Bedingungen in anderen
EU-Staaten schnellstmöglich anpassen. Die Folgerechts-
richtlinie der EU wollen wir daher ohne Übergangsfristen
in nationales Recht umsetzen. Die bisher vorgesehenen
langen Übergangsfristen – von zum Teil bis zu 15 Jah-
ren – würden nämlich aus dem vorgesehenen Harmoni-
sierungsbeschluss ein stumpfes Schwert machen. Damit
würde kein fairer Wettbewerb hergestellt, vielmehr würde
der gegenwärtige, den Kunstmarkt in Deutschland be-
nachteiligende Rechtszustand aufrechterhalten.
Der F.D.P.-Bundestagsfraktion geht es aber auch da-
rum, andere den Wettbewerb im Kunsthandel beeinträch-
tigende Regelungen zu ändern:
Erstens. Für den Weiterverkauf von Originalen von
Kunstwerken gelten in Abhängigkeit vom Verkaufspreis
gestaffelte Abgabesätze. Die Abgabe beginnt bei 4 000 Eu-
ro und beträgt höchsten 12 500 Euro.
Zweitens. Das Folgerecht fällt erstmals nach der ersten
Veräußerung durch den Urheber an. Der bisherige Rechts-
zustand, nach dem bereits der erste Verkauf durch den
Künstler selbst folgerechtspflichtig war, hat gerade jun-
gen, noch unbekannten Künstlern in besonderer Weise ge-
schadet und die Verbreitung ihrer Werke auf dem Kunst-
markt beeinträchtigt.
Drittens. Die Folgerechtsabgabe wird nur dann fällig,
wenn die Veräußerung mit Gewinn erfolgt. Eine Abgabe-
pflicht hinsichtlich der Weiterveräußerung, die keinen
Gewinn für den Weiterveräußerer enthält, ist volkswirt-
schaftlich unsinnig. Sie belastet einseitig den Verwerter
ohne erkennbare Gründe und hemmt die Verbreitung noch
nicht etablierter und damit riskanter Kunstwerke zusätz-
lich.
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion will auch die Ver-
jährungsfristen für den Folgerechtsanspruch neu regeln.
Die bisherige zehnjährige Verjährungsfrist führte zu
erheblicher Rechtsunsicherheit, gerade wenn viele Künst-
ler ihr Folgerecht nicht wahrnehmen. Deshalb haben wir
die Geltendmachung des Abgaberechts auf ein Jahr ab
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Kenntnis der das Abgaberecht auslösenden Tatsachen fi-
xiert. Nach unserer Ansicht sollte – ohne diese Kenntnis-
nahme – der Folgerechtsanspruch generell nach fünf Jah-
ren verjähren. Diese Verjährungsvorschriften stehen im
Einklang mit den generell vom Bürgerlichen Gesetzbuch
vorgesehenen Verjährungsfristen für die Geltendmachung
von Ansprüchen, deren wesentlicher Zweck die Schaf-
fung von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit im Rechts-
verkehr ist.
Die Kritik, die an unserem Gesetzentwurf bereits im
Vorfeld der ersten Lesung vereinzelt geübt wurde, weise
ich im Namen meiner Fraktion entschieden zurück. Ich
frage diese Kritiker: Glauben Sie ernsthaft, an den beste-
henden Strukturen zum Nachteil der Verwerter und der
Künstler festhalten zu können?
Verwerter und Künstler – das möchte ich betonen:
beide! – werden von der unsererseits vorgeschlagenen
Neugestaltung profitieren: denn sie ist ausgewogen und
berücksichtigt die Interessen gerade junger Künstler und
Verwerter. Die jetzigen Regelungen hingegen bevorzugen
einseitig und in wettbewerbswidriger Weise die etablier-
ten Künstler und deren Erben.
Wir schlagen Ihnen, meine Damen und Herren von den
anderen Fraktionen, vor, auf der Grundlage unseres Ge-
setzentwurfes das Folgerecht neu zu regeln und dem
Kunstmarkt in Deutschland neuen Schwung zu geben.
Dr. Heinrich Fink (PDS): Im vorliegenden Gesetzent-
wurf der F.D.P. erkenne ich das berechtigte Anliegen, den
augenblicklichen Wettbewerbsnachteil des deutschen
Kunstmarktes gegenüber den Ländern, in denen es kein
Folgerecht gibt, abzumildern. Den für die Verwirklichung
dieses Anliegens vorgeschlagenen Weg halte ich aller-
dings unter anderem aus drei Gründen für problematisch.
Zum Ersten: Die heutige Debatte über den Gesetzent-
wurf fällt gerade in die Endphase der langjährigen
Bemühungen um eine Harmonisierung des Folgerechts
im Rahmen der Europäischen Union. Vor wenigen Tagen
wurde im Vorfeld der zweiten Lesung im zuständigen Un-
terausschuss des Europäischen Parlaments ein entspre-
chender Richtlinienvorschlag des Ministerrats beraten
und dabei wurden auch einige Änderungen vorgeschla-
gen. Deshalb wäre es gewiss sinnvoll, vor einer jeglichen
nationalen Initiative das endgültige Ergebnis des Harmo-
nisierungsprozesses abzuwarten, um dann die EU-Richt-
linie möglichst zielgenau in nationales Recht umzusetzen.
Zweifellos wäre die bevorstehende fünfte Novellierung
des Urheberrechts dafür die passende Gelegenheit.
Zum Zweiten: Ich halte es für sehr wünschenswert,
wenn Veränderungen in unserem Folgerecht im Einver-
nehmen zwischen Künstlern und Kunsthändlern erfolgen
würden. Dies ist im vorliegenden Gesetzentwurf offen-
sichtlich nicht der Fall. Und auch bei der zukünftigen Um-
setzung der EU-Richtlinie sollten wir nicht vorschnell
eine Position festschreiben, mit der die eine oder die an-
dere Seite „nicht leben“ kann. Immerhin gibt es ja einen
gemeinsamen Anknüpfungspunkt: Sowohl die Künstler-
organisationen als auch der Kunsthandel haben sich für
die europäische Harmonisierung des Folgerechts einge-
setzt. Aus deutscher Sicht galt es dabei zwei Gewich-
tungen auszutarieren: einerseits den bildenden Künstle-
rinnen und Künstlern bzw. ihren Erben eine angemessene
Beteiligung an den Wertsteigerungen der von ihnen ge-
schaffenen Kunstwerke zu sichern und andererseits die
Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Kunstmarktes zu-
mindest in Europa zu gewährleisten.
Der Gesetzentwurf der F.D.P. – und damit bin ich beim
dritten Grund meines Vorbehalts – wird diesem Interes-
senausgleich zwischen Künstlern und Kunsthandel nicht
gerecht. Der Vorschlag zielt darauf, sich bisher abzeich-
nende wichtige Punkte der EU-Richtlinie ohne die vorge-
sehenen Übergangsfristen, mit denen vor allem Großbri-
tanniens Zustimmung zur Harmonisierung erreicht
wurde, ins deutsche Urheberrecht zu übertragen. Zweifel-
los würde die damit vorgesehene Absenkung des Abgabe-
satzes von 5 auf durchschnittlich 3 Prozent unserem
Kunsthandel, an dessen Florieren natürlich auch die
Künstler ein Interesse haben, sofort zugute kommen. Den
Künstlern würde allerdings auf diese Weise für längere
Zeit das Äquivalent fehlen, mit dem die Absenkung des
Abgabesatzes ausgeglichen werden würde, nämlich die
Möglichkeit, auch an den Weiterverkäufen ihrer Werke in
London oder Wien beteiligt zu sein. Denn es ist ja wohl
davon auszugehen, dass Großbritannien und Österreich
die ihnen zugestandenen Einführungsfristen ausschöpfen
werden. Die Hoffnung, dass die Absenkung der Abgabe-
sätze zu mehr Weiterverkäufen innerhalb Deutschlands
führen würde, ist mehr als vage. Zudem stünde dieser er-
hofften Ausweitung des Anspruchs auf das Folgerecht die
im Gesetzentwurf vorgesehene Festlegung entgegen, das
Folgerecht erst bei einem Weiterverkaufserlös von
4 000 Euro einsetzen zu lassen. Fazit: Der deutsche
Kunsthandel würde zwar sofort von der vorgeschlagenen
Regelung profitieren, dies jedoch für einige Jahre auf
Kosten der anspruchsberechtigten Künstler und ihrer Fa-
milien.
Ich plädiere also für eine Weiterbehandlung des The-
mas dann, wenn die europäische Harmonisierungs-
richtlinie tatsächlich verabschiedet ist und wenn auf die-
ser Grundlage den beiden betroffenen Seiten hin-
reichende Gelegenheit gegeben worden ist, einen Aus-
gleich ihrer Interessen bei der Umsetzung in unser Urhe-
berrecht zu finden.
In der Zwischenzeit hätten wir mit dem Urheberver-
tragsrecht, der Novellierung des Künstlersozialversiche-
rungsgesetzes und mit den Ausstellungshonoraren Ge-
genstände voranzubringen, die von ungleich größerer
Reichweite, Gewichtung und Dringlichkeit als eine iso-
lierte Neuregelung des Folgerechts sind.
Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin der Justiz: Mit dem vorliegenden Gesetz-
entwurf soll eine EU-Richtlinie umgesetzt werden, die
den gesetzlichen Anspruch des Urhebers harmonisiert, ei-
nen Anteil an dem Erlös aus der Weiterveräußerung sei-
nes Werkes zu erhalten – das so genannte Folgerecht des
Urhebers. Der Gesetzentwurf geht davon aus, dass die
Richtlinie bereits in Kraft getreten ist. Das ist aber nicht
richtig. Denn das Europäische Parlament bereitet gegen-
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wärtig erst noch in zweiter Lesung seine Stellungnahme
vor. Damit ist auch noch offen, ob diese Richtlinie nicht
in wesentlichen Punkten verändert und urheberfreund-
licher gestaltet wird.
Natürlich hindert uns das nicht, bereits jetzt darüber
nachzudenken, wie wir diese Richtlinie umsetzen wollen.
Denn auch sonst warten wir nicht auf Europa, wenn wir
einen dringenden Regelungsbedarf sehen. Aber ganz so,
wie Sie, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von
der F.D.P.-Fraktion, sich das vorstellen, wird die Richt-
linie von dieser Bundesregierung nicht umgesetzt werden.
Ihr Entwurf enthält eine Reihe von Regelungen, die für
die Urheber Nachteile bringen.
Lassen Sie mich dies im Einzelnen erläutern:
Erstens. Die Umsetzung der Richtlinie wird zu einer
Absenkung des nationalen Vergütungsaufkommens füh-
ren. Das geltende Recht sieht in § 26 Urheberrechtsgesetz
bei der Veräußerung eines Werks der bildenden Künste
vor, dass dann, wenn ein Kunsthändler an der Veräuße-
rung beteiligt ist, der Urheber einen Anspruch auf 5 Pro-
zent des Verkaufspreises hat. Demgegenüber sieht die
Richtlinie mit zunehmender Höhe des Verkaufspreises
sinkende Prozentsätze für eine Beteiligung des Urhe-
bers vor. Außerdem wird eine absolute Obergrenze von
12 500 Euro eingeführt, bis zu der ein Urheber an dem
Verkaufspreis beteiligt wird. Zwar wird mit der Umset-
zung der Richtlinie ein Folgerecht in anderen Mitglied-
staaten der Europäischen Union begründet, die dies bis-
lang nicht gekannt haben. Dementsprechend kann man
sich insgesamt gleichwohl nach Umsetzung der Richtlinie
in allen Mitgliedstaaten eine Erhöhung des Vergütungs-
aufkommens erhoffen. Die Staaten, in denen es jetzt noch
kein Folgerecht gibt, werden die Frist zur Umsetzung der
Richtlinie voraussichtlich voll ausschöpfen. Damit wird
auch erst am Ende der Frist insgesamt für deutsche Ur-
heber eine Erhöhung des Vergütungsaufkommens spürbar
werden.
Zweitens. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass ein Folge-
recht des Urhebers erst bei einem Mindestverkaufserlös
von 4 000 Euro einsetzt, dem Betrag, bei dem nach dem
Entwurf der Richtlinie ein Folgerecht einsetzen muss. In
Deutschland gilt gegenwärtig eine Untergrenze von
100 DM. Wenn über eine Erhöhung dieser Untergrenze
nachgedacht werden soll, darf der neue Wert sicher nicht
der in der Richtlinie genannte sein. Auch bei weniger teu-
ren Kunstwerken soll weiterhin in Deutschland ein Fol-
gerecht bestehen. Der durch die Richtlinie eröffnete
Handlungsspielraum soll im Interesse der Urheber ge-
nutzt werden.
Drittens. Wir werden auch von der Möglichkeit Ge-
brauch machen, für die erste „Tranche“, das heißt bei Ver-
kaufspreisen von 4 000 bis 50 000 Euro, einen Folge-
rechtssatz von 5 Prozent – und nicht von 4 Prozent wie in
dem Entwurf vorgesehen – festzuschreiben, und insoweit
bei der geltenden deutschen Regelung bleiben.
Dies sind bereits gewichtige Gründe, den Entwurf der
F.D.P.-Fraktion abzulehnen. Darüber hinaus enthält der
Entwurf aber auch Regelungen, die mit dem Richtlinien-
text in seiner jetzigen Fassung nicht zu vereinbaren sind
und schon deswegen nicht befürwortet werden können.
Der erste Punkt betrifft die Regelung der Voraussetzun-
gen des Folgerechts. Nach der Richtlinie in ihrer jetzigen
Fassung ist das Folgerecht unabhängig davon, ob bei der
Veräußerung ein Gewinn erzielt wird. Der Urheber hat
also in jedem Fall Anspruch auf seinen Anteil am Erlös
der Weiterveräußerung. Nach dem Gesetzentwurf soll
demgegenüber ein Folgerecht nur bei einer Veräußerung
mit Gewinn bestehen. Das ist mit der Richtlinie nicht zu
vereinbaren. Sie stellt deswegen nicht auf den Gewinn ab,
weil sich dann die Frage stellen würde, wie denn der Ge-
winn zu berechnen wäre. Und darüber kann man lange
streiten.
Ein weiterer Punkt betrifft die Regelung der Folge-
rechtsfreiheit. Nach der Richtlinie in ihrer jetzigen Fas-
sung können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass Weiter-
veräußerungen in den ersten drei Jahren nach Erwerb
unmittelbar vom Urheber folgerechtsfrei bleiben, wenn
der bei der Weiterveräußerung erzielte Preis 10 000 Euro
nicht übersteigt. Der Vorschlag des Entwurfs, stattdessen
eine vollständige Folgerechtsfreiheit auch bei einer Wei-
terveräußerung durch eine Galerie zu gewähren, ist eben-
falls nicht mit dem Richtlinienvorschlag vereinbar. Im
Übrigen ist meiner Meinung nach auch noch zu prüfen, ob
von der Regelung in der Richtlinie – wenn es denn dabei
bleibt – überhaupt Gebrauch gemacht werden sollte.
Lassen Sie uns also erst einmal abwarten, wie der Text
der Richtlinie endgültig aussehen wird. Und wenn dies
feststeht, sollte gemeinsam mit allen beteiligten Kreisen
– den Urhebern, der VG Bild-Kunst, den Galerien und
Auktionshäusern – darüber nachgedacht werden, wie wir
denn die Richtlinie gemeinsam umsetzen wollen.
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Druck: MuK. Medien-und Kommunikations GmbH, Berlin