Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000
        Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
        12280
        (C)(A)
        1) Anlage 7 2) Anlage 8
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12281
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        Balt, Monika PDS 26.10.2000
        Barthel (Berlin), SPD 26.10.2000
        Eckhardt
        Behrendt, Wolfgang SPD 26.10.2000*
        Deß, Albert CDU/CSU 26.10.2000
        Ehlert, Heidemarie PDS 26.10.2000
        Elser, Marga SPD 26.10.2000
        Flach, Ulrike F.D.P. 26.10.2000
        Dr. Gehb, Jürgen CDU/CSU 26.10.2000
        Glos, Michael CDU/CSU 26.10.2000
        Götz, Peter CDU/CSU 26.10.2000
        Großmann, Achim SPD 26.10.2000
        Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 26.10.2000
        Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 26.10.2000
        DIE GRÜNEN
        Hirche, Walter F.D.P. 26.10.2000
        Hornung, Siegfried CDU/CSU 26.10.2000*
        Dr. Hoyer, Werner F.D.P. 26.10.2000
        Klemmer, Siegrun SPD 26.10.2000
        Dr. Knake-Werner, PDS 26.10.2000
        Heidi
        Dr. Kohl, Helmut CDU/CSU 26.10.2000
        Lippmann, Heidi PDS 26.10.2000
        Matschie, Christoph SPD 26.10.2000
        Müller (Jena), Bernward CDU/CSU 26.10.2000
        Müller (Berlin), PDS 26.10.2000
        Manfred
        Neuhäuser, Rosel PDS 26.10.2000
        Roth (Augsburg), BÜNDNIS 90/ 26.10.2000
        Claudia DIE GRÜNEN
        Scharping, Rudolf SPD 26.10.2000
        Schily, Otto SPD 26.10.2000
        Schmidt (Eisleben), SPD 26.10.2000
        Silvia
        Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 26.10.2000
        Hans Peter
        Schröder, Gerhard SPD 26.10.2000
        Schulhoff, Wolfgang CDU/CSU 26.10.2000
        Schultz (Everswinkel), SPD 26.10.2000
        Reinhard
        Dr. Süssmuth, Rita CDU/CSU 26.10.2000
        Dr. Tiemann, Susanne CDU/CSU 26.10.2000
        Wiefelspütz, Dieter SPD 26.10.2000
        Wissmann, Matthias CDU/CSU 26.10.2000
        Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 26.10.2000*
        Zierer, Benno CDU/CSU 26.10.2000*
        * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlungdes Europarates
        Anlage 2
        Zu Protokoll gegebene Rede
        zur Beratung des Antrags: Wettbewerbsfähig-
        keit des deutschen Güterkraftverkehrsgewerbes
        erhalten und sichern (Tagesordnungspunkt 6)
        Dr. Winfried Wolf (PDS): Die CDU/CSU stimmt in
        ihrem Antrag „Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Gü-
        terkraftverkehrsgewerbes erhalten“ ein kakophonisches
        und pharisäisches Klagelied an. Pharisäisch, weil die hier
        beklagten „Wettbewerbsverzerrungen“ doch nicht allein
        und nicht einmal in erster Linie Produkt der SPD-Grünen-
        Regierung sind.
        CDU/CSU und F.D.P. haben acht Jahre lang die Öff-
        nung der EU nach Osten gefördert, wohl wissend, dass
        dies zunächst in den Beitrittsländern zu hunderttausenden
        Existenzvernichtungen führen würde, und mit in Kauf
        nehmend, dass dies auch in unserem Land zerstörerische
        Folgen haben müsste.
        Jetzt, als Oppositionspartei, wird die „Liberalisierung
        im europäischen Güterverkehrsmarkt“ wortreich beklagt.
        Doch dies ist nur eine Klage über die eigene EU-Politik,
        die seitens SPD und Grünen fortgesetzt wird.
        Der Antrag ist kakophonisch, und dies bereits in der
        Sprache. Da ist die Rede von „ausländischen Güterver-
        kehrskraftunternehmen“, die in den „attraktiven deut-
        schen Markt drängen“ würden. Kurz darauf heißt es gar,
        durch diesen fremdländischen LKW-Angriff würden
        entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        Anlagen zum Stenographischen Bericht
        „deutsche LKW durch gebietsfremde Fahrzeuge ... er-
        setzt“. Die Wortwahl ist einfach fatal und dient, kollegial
        und freundschaftlich formuliert, nicht der Völkerverstän-
        digung.
        Doch abgesehen von dieser Scheinheiligkeit und die-
        ser unseriösen Terminologie sind es zwei besondere
        Aspekte, weswegen wir den Antrag von CDU/CSU ab-
        lehnen.
        Da ist zum einen Punkt 6 dieses Antrags, wonach „die
        mit dem Gesetz vom 24. März 1999 eingeführte ... ökolo-
        gische Steuerreform aufzuheben“ sei.
        Die CDU/CSU-Fraktion fordert damit ein weiteres
        Mal eine ersatzlose Aufhebung der ökologischen Steuer-
        reform. Bei aller Kritik an dieser Ökosteuer – eine ersatz-
        lose Streichung lehnen wir ab. Diese Steuer ist sozial nicht
        ausgewogen und sie hat ökologisch eine unzureichende
        Wirkung. Doch die Richtung, in die sie weist, ist richtig.
        Ihre ersatzlose Streichung hieße doch, dass Energie er-
        neut billiger wird und der Verbrauch damit ansteigt. Eine
        ersatzlose Streichung hieße andererseits aber auch, dass
        der löbliche und im Detail vielfach misslungene Versuch
        von SPD und Grünen, über eine Ökosteuer eine Energie-
        und Verkehrswende zu erreichen, für lange Zeit von der
        Tagesordnung gestrichen wäre.
        Diese Politik des „weg damit“ und „weiter so“, die in
        diesem CDU/CSU-Antrag zum Ausdruck kommt, ist un-
        verantwortlich. Sie ist vor allem nicht zu verantworten mit
        Blick auf eine drohende Klimakatastrophe und mit Blick
        auf spätere Generationen, für die wir hier und heute Mit-
        verantwortung tragen.
        Der zweite Grund, weswegen der CDU/CSU-Antrag
        abzulehnen ist, hat etwas mit seiner Borniertheit zu tun.
        Ja, in unserem Land sind Arbeitsplätze als Resultat der
        EU-Erweiterung und EU-Liberalisierung im LKW-Ge-
        werbe bedroht. Doch wer redet von den Arbeitsplätzen in
        anderen Transport-Branchen? Wer redet von den kleinen
        Binnenschiffern, die kaputt gehen und die für eine ökolo-
        gisch wesentlich akzeptablere Transportpolitik stehen?
        Wer redet von den hunderttausenden Arbeitsplätzen bei
        der Bahn in den mittel- und osteuropäischen Ländern und
        in unserem Land, die mit dieser Liberalisierung zerstört
        wurden und zerstört werden. Auch hier gilt: Es sind
        Arbeitsplätze in einer Transport-Branche, die als umwelt-
        freundlich zu gelten hat.
        Überhaupt: Der Antrag zielt faktisch auf ein weiteres
        Wachstum des LKW-Verkehrs, und das ist das Verkehrtes-
        te, was im Rahmen des verkehrten Verkehrs gemacht
        werden kann.
        Der LKW-Verkehr hat sich in den letzten zehn Jahren
        bereits um rund 50 Prozent erhöht. Während der Anteil
        der Bahn im Güterverkehr von 20,5 Prozent im Jahr 1991
        auf 15 Prozent im Jahr 1999 fiel und sich damit in Rich-
        tung „bodenlos“ entwickelt, stieg der Anteil des LKW-
        Verkehrs von 61 auf 70 Prozent.
        Wer regelmäßig auf Autobahnen fährt, weiß, dass in-
        zwischen die rechte Fahrbahn zu einem erheblichen Teil
        vom LKW-Verkehr okkupiert ist und damit als Endlos-
        Lager der Wirtschaft fungiert. Wenn es für die einen „just
        in time“ heißt, dann heißt dies für die anderen „just im
        Stau“. Eine Förderung dieser untragbaren Zustände, die
        der CDU/CSU-Antrag impliziert, ist abzulehnen.
        Anlage 3
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – des Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
        rung des Straßenverkehrsgesetzes und ande-
        rer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften
        (StVRÄndG)
        – der Unterrichtung der Bundesregierung zum
        Bericht des Bundesministeriums für Verkehr,
        Bau- und Wohnungswesen über Maßnahmen
        auf dem Gebiet der Unfallverhütung im
        Straßenverkehr und Übersicht über das Ret-
        tungswesen 1998 und 1999 (Unfallverhü-
        tungsbericht Straßenverkehr 1998/99) (Tages-
        ordnungspunkt 11 a und b)
        Rita Streb-Hesse (SPD):Um die Zielsetzung und Än-
        derungen im Straßenverkehrsgesetz zu veranschaulichen,
        möchte ich Sie nach Frankfurt am Main entführen: Der
        Frankfurter Stadtteil Nordend liegt in der Nähe des Ban-
        kenviertels und der Fachhochschule, hat eine hohe Block-
        bebauung und Wohndichte, eine bevorzugte Kneipenkul-
        tur und enge Straßen. Jeden Morgen quält sich eine
        Blechlawine auf den Einfallstraßen durch das Viertel. Be-
        rufspendler und Studenten fahren mehrfach um die
        Blocks und streiten sich mit den Anwohnern um die we-
        nigen Parklücken. Geparkt wird auf dem Bürgersteig, der
        Straße, und auch Ein- und Ausfahrten sind nicht tabu. Der
        Schulweg wird zum Parcourslauf, ebenso wie das Fahren
        mit einem Kinderwagen.
        Der Leiter der Frankfurter Straßenverkehrsbehörde be-
        schreibt dies treffend als „Ausnahmezustand“, und dieses
        Bild findet sich genauso in den Abendstunden. Ob in
        Frankfurt, Wiesbaden, Köln, Berlin oder München:
        Besonders Großstädte kämpfen mit zunehmendem Ver-
        kehrsdruck. Mangelnder Parkraum für die Anwohner,
        Pendlerströme und Parksuchverkehr, dies verringert die
        Wohnqualität, verursacht Stadtflucht und gefährdet die Si-
        cherheit aller.
        Letzteres zeigt auch der vorliegende Unfallverhü-
        tungsbericht. Rund 65 Prozent aller Unfälle mit Perso-
        nenschaden passieren innerorts, die Zahl von 77 Prozent
        von Kindern als Unfallopfer lässt erschrecken. Hier ist die
        Bundespolitik gefordert. Ein zentraler und wichtiger
        Schritt der Gesetzesnovelle ist die Schaffung einer rechts-
        sicheren Grundlage für das bevorrechtigte Parken von Be-
        wohnern städtischer Quartiere mit erheblichem Park-
        raummangel, bekannt als Anwohnerparken.
        Sie erinnern sich: Aufgrund des höchstrichterlichen Ur-
        teils vom Mai 1998 zu der Klage Einzelner mussten viele
        Kommunen bisher bewährte Anwohnerparkregelungen
        aussetzen bzw. abschaffen – in anderen Städten herrscht
        seitdem Verunsicherung über die Rechtssicherheit ihres
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        Parksystems. Das Bundesverwaltungsgericht befand, dass
        der Begriff „Anwohner“ nicht mit Parkzonen, die über
        zwei oder drei Straßen hinausgehen, vereinbar sei. In der
        Folge sind auch in Frankfurt die Anwohnerparkzonen „ge-
        kippt“. Die Polizei meldet seitdem eine Verkehrszunahme
        in den betroffenen Stadtteilen von rund 5 bis 7 Prozent.
        Über zwei Dinge sind wir uns doch einig: Zum einen ist
        das Anwohnerparksystem eine bewährte Maßnahme der
        Kommunen, eine zufrieden stellende Parkraumbewirt-
        schaftung zu schaffen, den Individualverkehr nicht weiter
        wachsen zu lassen und Verkehrssicherheit zu fördern. Zum
        anderen brauchen die Kommunen eine Rechtsgrundlage,
        die ihnen den notwendigen Handlungsspielraum ermög-
        licht. Im Klartext: Eine kleinräumige Begrenzung des An-
        wohnerparkens ist in vielen Kommunen nicht alltagstaug-
        lich. Eine straßenbezogene Regelung reicht dort nicht aus,
        wo schon jetzt mehr Anwohner, die einen Parkplatz
        benötigen, als Parkraum vorhanden sind – erst recht nicht
        in Großstädten mit hohen Pendlerquoten.
        Der Gesetzentwurf der Bundesregierung trägt diesem
        Anliegen Rechnung: Er ermöglicht Bewohner-Parkberei-
        che bis zu einer maximalen Ausdehnung von einem Kilo-
        meter. Das ist praxistauglich und kommunalfreundlich, es
        entspricht den Forderungen des Deutschen Städtetags.
        Dieser ist es auch, der ausdrücklich darum bittet, nähere
        Ausführungsbestimmungen den Kommunen zu überlas-
        sen. Ich betone das nicht ohne Grund und mit einem kri-
        tischen Blick zur Länderbank, denn der Bundesrat wird
        die Ausführungsbestimmungen beraten. Und damit haben
        Sie ja auch schon begonnen, zum Unwillen der kommu-
        nalen Vertreter aller Parteien in den Städten. Diese haben
        sich ausnahmslos und einstimmig gegen restriktive Vor-
        gaben ausgesprochen. Wer, wie die hessische Landesre-
        gierung, eine restriktive Vorgabe von maximal 50 Prozent
        des Parkraums für die Bewohner fordert oder wer die
        Größe der Bewohnerparkzonen nach der Einwohnerzahl
        der Städte staffeln will und dabei auf die Zustimmung ei-
        ner Mehrheit im Bundesrat setzen will, regelt schlicht an
        den kommunalen Notwendigkeiten vorbei. Ich appelliere
        an die Damen und Herren Länderminister: Haben Sie
        doch ein wenig mehr Vertrauen in die politische Kompe-
        tenz der Kommunalpolitiker!
        Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen
        zeigen dieses Vertrauen. Mit der neuen Rechtsgrundlage
        werden die Kommunen gemeinsam mit den Straßenver-
        kehrsbehörden vernünftige Regelungen festlegen, die An-
        liegerrechte wahren und Handwerk und Gewerbebetrei-
        bende berücksichtigen. Eine einseitige Privilegierung
        liegt nicht im Interesse der Kommunen, und das wissen
        Sie alle.
        Auf einen zweiten Bestandteil des Gesetzes möchte
        ich ebenfalls ausführlicher eingehen: Auto und Alkohol
        gehören nicht zusammen. Gemäß unserer Ankündigung
        in der Koalitionsvereinbarung wird als neuer einheitlicher
        Grenzwert die 0,5-Promille-Regelung aufgenommen. Die
        Vorgängerregierung war hier nicht konsequent genug:
        Einerseits haben Sie bei der damaligen Änderung die 0,5-
        Promille-Grenze neu eingeführt, andererseits von wirksa-
        men Rechtsfolgen bei Verstößen jedoch abgesehen.
        Das war ein halbherziger Vorstoß in die prinzipiell
        richtige Richtung. Im Interesse einer Steigerung der Ver-
        kehrssicherheit, besonders für unsere jungen und jüngsten
        Verkehrsteilnehmer, wird es keine 0,8-Promille-Grenze
        mehr geben. Der Verstoß gegen die 0,5-Promille-Grenze
        soll mit dem Entzug der Fahrerlaubnis und einer Buß-
        geldhöchstgrenze von 3 000 DM geahndet werden, ana-
        log dem vorgesehenen Strafmaß bei Verstoß gegen das
        Drogenverbot im Straßenverkehr.
        Der Unfallverhütungsbericht hat auch hier sprechende
        Zahlen: Jeder fünfte Verkehrstod ist auf Alkohol zurück-
        zuführen, bei circa einem Drittel der registrierten Unfälle
        spielte Alkohol eine Rolle; der Rückgang hier ist mit
        2 Prozent nur geringfügig. Angaben der Frankfurter Poli-
        zei zeigen einen Zuwachs der innerörtlichen Unfallzahlen
        unter Alkoholeinfluss allein im letzten Jahr von 8,4 Pro-
        zent. Ebenso alarmierend ist auch die Zahl der an Unfäl-
        len beteiligten Fahranfänger: Jeder fünfte Unfall mit Per-
        sonenschaden ging 1999 auf Fahrer im Alter zwischen
        18 und 24 Jahren zurück. Experten der Polizei und der In-
        stitute bestätigen uns, dass auch geringer Alkoholkonsum
        die Leistungsfähigkeit mindert, das Reaktionsvermögen
        beeinträchtigt. Die einheitliche Einführung der 0,5-Pro-
        mille-Grenze wird Alkohol am Steuer künftig härter ahn-
        den, sie unterstützt unser gemeinsames Bemühen um
        mehr Verkehrssicherheit, weniger Todesfälle und weniger
        Unfallverletzte. Sie ist ein glaubwürdiger und richtungs-
        weisender Kompromiss zwischen den Vorstellungen
        mancher Bundesländer, ein Fahrverbot schon bei null Pro-
        mille bzw. bei 0,3-Promille festzulegen oder die 0,8-Pro-
        mille-Regelung beizubehalten.
        Dabei ist der kurvenreiche Kurs, den ein Teil der
        CDU/CSU-Ländervertreter zurzeit fahren, doch erwäh-
        neswert. Wie wollen vor allem die CSU-Kolleginnen und
        Kollegen erklären, dass es auf der einen Seite sinnvoll ist,
        für Fahranfänger die Nullpromillegrenze zu diskutieren
        und einzuführen, sich aber Erwachsene ab dem 24. Le-
        bensjahr getrost an eine 0,8-Promille-Grenze herantrin-
        ken sollen? Diese „Logik“ kann ich nicht nachvollziehen.
        Welches Lernverhalten soll das bewirken?
        Die SPD-Fraktion hat hier einen klaren Kurs: Wir müs-
        sen und werden eine sachliche und faktenbezogene Dis-
        kussion über Maßnahmen zum Schutz junger Fahranfän-
        ger führen, aber ebenso konsequent das Signal an alle
        Verkehrsteilnehmer senden, dass Alkohol am Steuer für
        uns keine Bagatelle ist.
        Der Gesetzentwurf beinhaltet noch eine Reihe weiterer
        Regelungen, die ich nur kurz benenne: Die Neuregelung
        zum Verbot des Mitführens von Radar- und Laserwarn-
        geräten ist wohl unstreitig – ein Vorhaben, das die
        SPD-Fraktion schon im Sommer 1999 beantragt hat. Die
        Änderungen zum Fahrerlaubnis- und Fahrlehrerrecht
        setzen notwendige Ergänzungen der 1999 vorgenommenen
        Änderungen um. Darüber hinaus sieht die Gesetzesnovelle
        Änderungen beim Punktesystem, dem Kraftfahrsachver-
        ständigengesetz und zur Bußgeldkatalog-Verordnung vor.
        Bereits in den 30er-Jahren sagte Kurt Tucholsky: „Die
        Deutschen fahren nicht Auto, um sich fortzubewegen,
        sondern um Recht zu haben.“ In der heutigen Zeit gilt dies
        sichtlich immer noch – oft nicht im Sinne der Verkehrssi-
        cherheit. Unsere Aufgabe ist es daher, das Verkehrsrecht
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        fortzuschreiben, um ein Mehr an Sicherheit und ein faires
        Miteinander aller Verkehrsteilnehmer zu gewährleisten.
        Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf kommt die Bundes-
        regierung dieser wichtigen Aufgabe nach. Ich hoffe auf
        eine konstruktive Diskussion in den Ausschüssen und
        eine breite Zustimmung.
        Eduard Lintner (CDU/CSU): Erlauben sie mir ein-
        gangs – bei aller Tragik, die hinter jedem Einzelfall steht –
        die Feststellung, dass es insgesamt erfreulich ist, wenn der
        „Unfallverhütungsbericht Straßenverkehr 1998/99“ auch
        für das vergangene Jahr von einem Rückgang der Zahl der
        Getöteten berichten kann. Dabei ist besonders der signifi-
        kante Rückgang der schweren Verkehrsunfälle mit Kin-
        dern – von 511 1991 auf nur noch 309 im Jahre 1999 – zu
        begrüßen. Diese Bilanz wird noch dadurch verbessert,
        dass die Zahl der Kfzs von 1991 bis 1999 um 17,5 Prozent
        auf 50,6 Millionen Autos gestiegen ist.
        Tatsache ist aber auch, dass die Zahl der von der Poli-
        zei erfassten Verkehrsunfälle insgesamt um 6,4 Prozent
        auf 145 099 gestiegen ist, die Sachschäden um 6,8 Prozent
        zugenommen haben, ebenso die Zahl der Verletzten.
        Ein solch differenziertes Geschehen verlangt nach spe-
        ziellen, ebenfalls differenzierenden Antworten: Generelle
        Gebote oder Verbote werden der Problematik häufig nicht
        gerecht. Ihnen fehlt es an Plausibilität und damit an Ak-
        zeptanz. Dann aber bedarf es zur Erzwingung einer so
        hohen Kontrolldichte, wie sie weder personell noch ma-
        teriell auf Dauer durchgehalten werden kann, von dem
        verheerenden Eindruck einmal abgesehen, den solche
        dichte Polizeieinsätze hinterlassen. Mit Überzeugung und
        Aufklärung ist da mehr zu gewinnen als mit Verboten und
        Repression.
        Ein ermutigendes Beispiel für einen solchen Weg ist
        zum Beispiel die am 1. August 1998 eingeführte Rege-
        lung, das Verstöße gegen das Verbot von Alkohol am
        Steuer differenziert ahndet: Für 0,5 bis 0,8 Promille sind
        200 DM Geldbuße und zwei Punkte in Flensburg fällig;
        danach gibt es den Entzug der Fahrerlaubnis. Trotz einer
        Zunahme des PKW-Bestandes im letzten Jahr stagnierte
        die Zahl der durch Alkoholeinfluss bedingten Unfälle.
        Nach einem deutlichen Rückgang um 13 Prozent im Jahr
        davor – 1998 mit damals 15 Prozent weniger Verletzten
        und 23 Prozent weniger Toten –, ist die Sicherung dieses
        relativ niedrigen Niveaus im Jahr 1999 ein echter Erfolg.
        Die Autofahrer und die potenziellen Mitfahrer sind of-
        fenbar zusätzlich sensibilisiert worden und handeln zu-
        nehmend verantwortungsbewusster als früher. Wachsen-
        des Verantwortungsbewusstsein und damit freiwillige
        Befolgung von staatlichen Vorgaben sind die effizienteste
        Form einer Regelung überhaupt, weil der Sicherheits-
        effekt dieser freiwilligen Selbstbeschränkung wirkungs-
        voller ist als die unter dem Gesichtspunkt der Verhältnis-
        mäßigkeit immer nur in beschränkter Zahl möglichen
        Kontrollen.
        Überzieht man Verbote, dann macht man ihre Beach-
        tung in der Lebenswirklichkeit fast unmöglich, denn man
        verspielt die freiwillige Selbstbeschränkung und riskiert,
        dass die Fahrer eine Zusammenarbeit wegen Überforde-
        rung praktisch verweigern. Dann wäre die höchst wün-
        schenswerte Mitwirkung durch Einsicht gestört und der
        Erziehungseffekt stark gefährdet.
        Mit Sicherheit muss die Änderung der zum 1. Mai 1998
        geltenden Promilleregelungen als vorschnell bezeichnet
        werden. Um den Einfluss solcher Vorschriften auf das
        Unfallgeschehen beurteilen zu können, bedarf es weit
        längerer Zeiträume. Die Bundesregierung selbst stellt
        auch in dem heute vorliegenden „Unfallverhütungsbe-
        richt Straßenverkehr 1998/99“ ausdrücklich fest: „Die
        Entwicklung des Unfallgeschehens in den zurückliegen-
        den zehn Jahren ist relevant für die Abschätzung der Wir-
        kung von laufenden und künftigen Verkehrssicherheits-
        maßnahmen.“ Warum halten Sie sich nicht an die eigenen
        Erkenntnisse?
        lm Übrigen zeigen die positiven Erfahrungen mit Mo-
        dellprojekten, die auf erzieherische Einwirkung auf spe-
        zielle Gruppen und Verkehrsteilnehmer wie Kinder, Ju-
        gendliche, Zweiradfahrer oder jugendliche Fahranfänger
        gerichtet sind, dass man sehr wohl auf diese Weise posi-
        tive Verhaltensänderungen erreichen kann. Umso unver-
        ständlicher ist es, dass die Regierungskoalition erst ges-
        tern im Verkehrsausschuss einen Antrag unserer Fraktion,
        die Mittel im Haushalt 2001 um magere 4 Millionen DM
        auf 26 Millionen DM zu erhöhen, abgelehnt hat. Sie set-
        zen also unverändert – nach sozialistischer Denkart – auf
        Gesetzeszwang und Bevormundung und halten offenbar
        wenig von selbstverantwortlichem Verhalten mündiger
        Bürger. Selbst nachweisbare Erfolge eines solchen Denk-
        ansatzes können Sie von Ihrer eingefahrenen Denkweise
        nicht abbringen.
        Die im Gesetzentwurf ebenfalls vorgesehene Ermäch-
        tigungsgrundlage zur Anordnung weiträumiger Bewoh-
        nerparkbereiche ist nicht unproblematisch, weil sie geeig-
        net ist, den für das geschäftliche und kulturelle Leben in
        Städten so dringend notwendigen, der Allgemeinheit zur
        Verfügung stehenden Parkraum drastisch einzuschrän-
        ken. Dieser Aspekt liegt ja auch der Stellungnahme des
        Bundesrats zugrunde, der die Bundesregierung auffor-
        dert, die Privilegierung der Bewohner auf maximal
        50Prozent des Parkraums zu begrenzen. Dem kann man
        sich nur anschließen.
        Alles in allem wird sich in den jetzt folgenden Aus-
        schussberatungen zeigen, ob wir – was angesichts des mit
        dem Gesetz verbundenen Eingriffs in die persönliche
        Sphäre von Bürgerinnen und Bürgern wünschenswert
        wäre – zu einer gemeinsamen Auffassung in den wichti-
        gen Punkten kommen können. Den Willen dazu wünsche
        ich uns allen.
        Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN): Der Gesetzentwurf zum Straßenverkehr der
        Bundesregierung sorgt für eine Reihe von Verbesserun-
        gen im Straßenverkehrsrecht, die seit geraumer Zeit über-
        fällig sind. Er setzt weitere Punkte aus der Koali-
        tionsvereinbarung zwischen SPD und Bündnisgrünen um,
        die 1998 mit guten Gründen vereinbart worden sind.
        Zunächst: Die so genannte ,,Promillegrenze“ beim
        Autofahren wird endlich auf den Wert 0,5 statt bisher 0,8
        abgesenkt. Damit wird klar signalisiert: Alkohol trinken
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012284
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        und Autofahren passt nicht zusammen. Zahlreiche Unter-
        suchungen und leider auch zahlreiche Unfallanalysen
        haben gezeigt: Schon zwischen 0,5 und 0,8 Promille kann
        es zu beträchtlichen Einschränkungen der Fahrsicherheit
        kommen. Die Konsequenz daraus kann nur lauten: Die
        Sanktionen, die bisher als Folge der Überschreitung der
        alten 0,8-Promille-Regelung galten, insbesondere das
        Fahrverbot, müssen künftig bereits auf eine Übertretung
        der 0,5-Promille-Grenze angewandt werden. Fahrverbote
        kann es demnach bereits ab 0,5 Promille geben. Das „He-
        rantrinken“ an einen Grenzwert wird erschwert, da
        0,5 Promille bekanntermaßen schnell erreicht sind.
        Es liegt im Interesse aller Verkehrsteilnehmerinnen
        und Verkehrsteilnehmer, mit dieser Neuregelung, die
        übrigens auch einen Beitrag zur Harmonisierung ver-
        gleichbarer Regelungen in Europa darstellt, für mehr
        Sicherheit und weniger Risiko auf Deutschlands Straßen
        zu sorgen. Nicht nur die Autofahrerinnen und Autofahrer,
        sondern auch und vor allem für die nicht motorisierten
        Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer wird
        diese Neuregelung zu mehr Sicherheit führen. Ich appel-
        liere an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser
        Neuregelung zuzustimmen und daraus keine ideologische
        Debatte abzuleiten.
        Einen weiteren Schritt gegen das Unfallrisiko im
        Straßenverkehr stellt das ebenfalls im Gesetzentwurf der
        Bundesregierung vorgesehene Verbot von Radar-
        warngeräten im Fahrzeug dar. Damit wird unverant-
        wortliches Rasen unter tatsächlicher oder vermeintlicher
        Umgehung der polizeilichen Kontrollen erschwert bzw.
        konsequenter bestraft. Geräte, die rasende Autofahrer vor
        etwaigen Radarkontrollen warnen sollen, funktionieren
        zwar bis heute nicht wirklich zuverlässig. Sie suggerieren
        aber dennoch, getrost schneller als erlaubt fahren zu kön-
        nen, da man vor dem Erwischtwerden durch Kontrollen
        geschützt sei. Tempolimits wie auch deren Überwachung
        sind aber nur dann sinnvoll, wenn sich der Autofahrer
        gezwungen sieht, sie immer zu beachten, und wenn er im
        Falle der Nichteinhaltung mit seiner Entdeckung und Be-
        strafung rechnen muss.
        Die neue Promille-Regelung wie auch das Verbot von
        Radarwarngeräten sind keine willkürlichen Einschrän-
        kungen, die einem übertriebenen staatlichen Kontroll-
        bedürfnis entsprechen. Es sind vielmehr notwendige und
        richtige Ergänzungen bisheriger Sicherheitsvorschriften,
        die Leben retten können. Denn um nichts anderes geht es
        im Straßenverkehr täglich: um Leben und Tod, um Ge-
        sundheit oder Verletzungen. Wenn wir durch diese
        Neuregelungen helfen können, Verkehrsunfälle und ihre
        schrecklichen Folgen zu vermeiden oder zu verringern,
        sind wir verpflichtet, sie möglichst schnell in Kraft zu set-
        zen. Genau darum bitte ich Sie alle.
        Ein dritter wichtiger Punkt der von der Bun-
        desregierung vorgelegten Novelle des Straßenverkehrsge-
        setzes ist die seit längerem erwartete Änderung des An-
        wohnerparkens. Die bisherige Regelung war durch das
        Bundesverwaltungsgericht zu Fall gebracht worden: Der
        Begriff des „Anwohners“ unterstellt demnach eine enge
        räumliche Beziehung zwischen Wohnung und PKW-Ab-
        stellort. Die Bereiche mit Sonderparkberechtigungen
        haben aber zum Teil eine Ausdehnung von bis zu tausend
        Metern, sodass sie häufig aufgehoben werden mussten. In
        Großstädten sind aber größere Räume zum Ausgleich
        zwischen dem Angebot an Parkfläche und der tatsäch-
        lichen Nachfrage erforderlich. In Zukunft wird es deshalb
        möglich sein, auch großräumige Bewohnerparkbereiche
        einzurichten, indem in § 6 des Straßenverkehrsgesetzes
        das Wort „Anwohner“ durch „Bewohner städtischer
        Quartiere mit erheblichem Parkraummangel“ ersetzt
        wird. Ich glaube, auch diese sinnvolle Neuregelung sollte
        fraktionsübergreifend breite Zustimmung finden.
        Schließlich beschäftigt uns heute noch die Diskussion
        des „Unfallverhütungsberichts Straßenverkehr“ der Bun-
        desregierung für die Jahre 1998 und 1999. Er gibt einen
        umfassenden Überblick über das Unfallgeschehen und
        die Unfallursachen auf Deutschlands Straßen. Er berichtet
        aber auch sehr genau über die zahlreichen und verdienst-
        vollen Leistungen des Bundes und anderer Maßnahmen-
        träger, die sich aktiv um eine Verbesserung der
        Verkehrssicherheit bemühen. Er reportiert auch die For-
        schungstätigkeit und die großartige Arbeit der Verbände
        im Bereich der Verkehrssicherheit.
        Das Ergebnis dieser Übersicht ist in einem Punkt relativ
        ermutigend: Das Risiko, im Straßenverkehr tödlich zu
        verunglücken, war Anfang der 90er-Jahre höher als heute.
        1990 gab es in Deutschland bei rund 42 Millionen Kfz mit
        einer Fahrleistung von etwa 550 Milliarden km insgesamt
        11 000 Straßenverkehrstote. 1999 wurden trotz erheblich
        höherer Fahrleistung mit wesentlich mehr Fahrzeugen auf
        Deutschlands Straßen weniger als 7 800 Menschen töd-
        lich verletzt. Rückläufig ist vor allem die Zahl der im
        Straßenverkehr getöteten Kinder. Dies spricht für den Er-
        folg verbesserter Sicherheitstechnik am und im Auto,
        vielleicht auch für die Erfolge der Verkehrssicherheits-
        erziehung.
        Dennoch gibt es keinen Grund zur Zufriedenheit. Wir
        müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir nach wie vor für
        die beanspruchte alltägliche Automobilität einen viel zu
        hohen Preis bezahlen, an den wir uns niemals gewöhnen
        dürfen. Hinzu kommt, dass die Zahl der Unfälle mit Per-
        sonenschäden immer noch zunimmt, von 1998 auf 1999
        um fast fünf Prozent. Erst die aktuellsten, im Bericht der
        Bundesregierung noch nicht erfassten Zahlen für das
        erste Halbjahr 2000 zeigen Gott sei Dank auch hier eine
        rückläufige Tendenz.
        In jedem Falle ist jeder Verkehrstote und jeder Verletz-
        te ein Opfer zu viel, ein Opfer, das jede Anstrengung
        rechtfertigt, zu mehr Sicherheit im Verkehr beizutragen,
        zum Beispiel auch durch die eingangs vorgestellten
        Neuregelungen im Straßenverkehrsgesetz. Die immer
        noch hohe Unfallzahl im Straßenverkehr ist aber auch ein
        weiterer Anlass, die Bemühungen zum Ausbau und zur
        Attraktivitätsverbesserung der sichereren Verkehrssys-
        teme Bus und Bahn zu verstärken und durch ein beson-
        deres Verkehrssicherheitsprogramm neue Impulse für
        mehr Sicherheit zu geben.
        Die Bundesregierung, aber auch wir alle als Verkehrs-
        teilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer stehen in der
        Pflicht, das Menschenmögliche zu tun, um Mobilität
        sicherer zu machen. Ich erwarte und erhoffe mir dafür im
        Bundestag eine breite Übereinstimmung.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12285
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        Horst Friedrich (Bayreuth) (F.D.P.):Wir reden heute
        über den Unfallverhütungsbericht des Bundesministeri-
        ums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen für 1998 und
        1999 und über den Gesetzentwurf der Bundesregierung,
        der aus diesem Bericht offenbar Lehren ziehen soll.
        Ich will mich gar nicht lange mit den Details aufhalten,
        die im Zweifel unstrittig – es handelt sich um eine reine
        Übernahme von Erfahrungen aus der Praxis in den Ge-
        setzestext – sind. Hierzu gehört auch das Thema Park-
        raumbewirtschaftung, bei dem das Haus auf eine höchst-
        richterliche Entscheidung einigermaßen liberal reagiert
        hat. Es wird dann an den Kommunen sein, nicht zu re-
        striktiv vorzugehen. Nebenbei bemerkt, es zeigt sich
        hieran auch, dass in den Fachabteilungen immer dann,
        wenn keine ideologischen Denkverbote auf sie herunter-
        prasseln, noch immer Sachkenntnis existiert.
        Diese Sachkenntnis zu nutzen, sollte eigentlich auf al-
        len Politikfeldern der Normalfall sein. In puncto Promil-
        legrenze hat man sich allerdings von allzu viel Sachver-
        stand nicht blenden lassen. Bei den alkoholverursachten
        Unfällen sind nicht die Fahrer mit einem Wert von 0,5
        Promille bis 0,8 Promille das Problem, sondern die „Ex-
        tremtrinker“, die Werte von über 1,6 Promille aufweisen.
        Es handelt sich also um Werte, die deutlich über der ab-
        soluten Fahruntüchtigkeit liegen.
        Wenn der Minister den Unfallverhütungsbericht seines
        eigenen Hauses, der doch die Grundlage des Gesetzent-
        wurfes bildet, richtig gelesen hätte, dann hätte er an der
        bestehenden Promilleregelung nichts geändert. Denn
        96 Prozent der Autofahrer halten sich an die Vorgabe,
        nichts zu trinken; nur 4 Prozent werden überhaupt auffäl-
        lig. Von diesen ist es wiederum nur ein Teil, der absolut
        fahruntüchtig ist. Dieser – nur dieser – wird größer. Man
        kann etwas für die Verkehrssicherheit tun, indem man die
        Kontrollen verstärkt und mit gerichtsfest verwertbaren
        Meßmethoden – die leider auch nicht immer zu finden
        sind – arbeitet.
        Auch im internationalen Vergleich muss man nur in
        den Unfallverhütungsbericht schauen, um sogleich
        Frankreich mit wesentlich mehr Verkehrstoten bei niedri-
        gerer Promillegrenze zu finden. Dies steht im Gegensatz
        zu der Gesetzesbegründung, in der von einer notwendigen
        Anpassung der Grenze im internationalen Vergleich ge-
        sprochen wird.
        Die bestehende Grenze ist auch nicht zu kompliziert.
        Man kann sie ganz einfach erklären, und jeder wird sie
        verstehen: Bei unauffälligem Verhalten gilt bei 0,5 Pro-
        mille Geldbuße und bei 0,8 Fahrverbot. Diese Regelung
        hat sich bewährt. Bei auffälligem Verhalten dagegen galt
        und gilt weiterhin die Grenze von 0,3 Promille – die ei-
        gentlich strafrechtlich relevante Grenze in Deutschland.
        Ihr Konzept schießt dagegen mit Kanonen auf Spatzen,
        obwohl die Krähen ganz woanders sitzen. Vielleicht soll-
        ten Sie mehr Zielwasser trinken.
        Dr. Winfried Wolf (PDS): Ich möchte mich hier auf
        den Bericht der Bundesregierung zur Unfallverhütung im
        Straßenverkehr konzentrieren. Natürlich ist die in diesem
        Bericht über einen längeren Zeitraum belegte rückläufige
        Zahl der Straßenverkehrsopfer zu begrüßen. Gleichzeitig
        bleibt es richtig, dass 7 749 Tote im bundesdeutschen
        Straßenverkehr 1999 7 749 Tote zuviel und in jeden Fall
        ein gewaltiger Blutzoll sind. Generell sollte der Blick
        nicht allzu sehr auf die Verkehrstoten konzentriert sein.
        Die Zahl der Verletzten – rund 500 000 im Jahr – und die
        Zahl der Schwerverletzten – rund 100 000 im Jahr – sind
        ebenfalls wichtige Größen. In einigen Teilbereichen gab
        es auch Zunahmen. So im Fall der Zahl der Unfälle im
        Kfz-Verkehr und im Fall der Zahl der Verletzten.
        Ein besonderes Problem, das im Bericht der Bundesre-
        gierung kaum angesprochen wird, stellt die enorme Dis-
        krepanz auf Bundesländerebene dar. Im Grunde haben wir
        hier vier erheblich auseinander liegende Gruppen. Da sind
        zum einen die Stadtstaaten Hamburg, Bremen und Berlin.
        In diesen gibt es „nur“ 26 bis 30 Tote auf eine Million
        Einwohner. Dann haben wir zweitens die übrigen west-
        deutschen Bundesländer und das Bundesland Sachsen. In
        diesen liegt die Zahl der im Straßenverkehr je 1 Million
        Einwohner Getöteten bei durchschnittlich 100. Drittens
        haben wir die Bundesländer Thüringen und Sachsen-An-
        halt mit 137 bzw. 131 Getöteten je 1 Million Einwohner.
        Und schließlich haben wir die Bundesländer Brandenburg
        und Mecklenburg-Vorpommern mit 187 bzw. 208 Getöte-
        ten je 1 Million Einwohner.
        Für die erste Kategorie gibt es eine einleuchtende Er-
        klärung: In den Städten gibt es eine durchweg begrenzte
        Kfz-Geschwindigkeit von normalerweise 50 km/h und
        teilweise in den Wohnquartieren ein maximales Tempo
        von 30 km/h. Die Spitzenwerte in den erwähnten zwei ost-
        deutschen Ländern Mecklenburg-Vorpommern und Bran-
        denburg, aber im Grunde auch die erheblich über dem
        westdeutschen Durchschnitt liegenden Werte in Thürin-
        gen und Sachsen-Anhalt sind schwer zu erklären. Dass in
        diesen Ländern die Arbeitslosenrate wesentlich über dem
        westlichen Durchschnitt und auch über derjenigen in
        Sachsen liegt, spielt möglicherweise eine Rolle, kann aber
        nicht als entscheidend erkannt werden. Sicherlich wird
        ein Bündel von Ursachen hierfür eine Erklärung geben
        können. Und ebenso sicher ist, dass auf diesem Gebiet er-
        hebliche Anstrengungen erforderlich sind, um diese Ex-
        tremwerte zumindest zu nivellieren.
        Über einen längeren Zeitraum hinweg betrachtet ist
        noch ein Vergleich der Entwicklung zwischen den inner-
        orts Getöteten und den außerhalb geschlossener Ortschaf-
        ten Getöteten von Interesse. 1991 waren es 3 349 innerorts
        und 7 951 außerorts im Straßenverkehr Getötete. 1998 da-
        gegen 1 098 innerorts im Kfz-Verkehr Getötete und 5 884
        außerhalb geschlossener Ortschaften Getötete. Das heißt:
        Anfang der Neunzigerjahre machten die innerorts Getöte-
        ten noch 30 Prozent aller Straßenverkehrsopfer aus. Im
        Jahr 1999 machten die innerorts Getöteten „nur“ noch
        15 Prozent aller Straßenverkehrstoten aus. Es gab bei den
        innerorts Getöteten also nicht nur einen Rückgang bei den
        absoluten Opferzahlen, sondern vor allem auch einen
        enormen Rückgang bei ihrem relativen Anteil an allen
        Getöteten. Dieser Entwicklung entspricht im Übrigen die
        Entwicklung der im Straßenverkehr innerorts bzw. außer-
        halb geschlossener Ortschaften verletzten Menschen.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012286
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        Die entscheidende Erklärung für diesen Prozess lautet:
        Es ist offensichtlich gelungen, in den Städten grundsätz-
        lich zu einer derartigen Verkehrsberuhigung beizutragen,
        dass sich diese in wesentlich größeren Verbesserungen in
        der Opferbilanz niederschlug als außerhalb geschlossener
        Ortschaften, wo es teilweise keine Tempolimits gibt bzw.
        Autobahnen, wo Geschwindigkeitsüberschreitungen mehr
        die Regel sind und wo Tempolimits weit weniger kontrol-
        liert werden als in geschlossenen Ortschaften.
        Zum Schluss sei auf zwei Aspekte verwiesen, die in der
        vorliegenden Statistik nicht auftauchen.
        Erstens der internationale Vergleich. Trotz aller lobens-
        werter Fortschritte, die es bei den Straßenverkehrsopfern
        gibt, steht unser Land keineswegs im EU-Vergleich am
        besten da. In der BRD wurden 1997 10,4 Menschen je
        100 000 Einwohner im Schnitt im Kfz-Verkehr getötet (so
        die letzten verfügbaren Zahlen – in „Verkehr in Zahlen
        1999“, S. 29). In allen skandinavischen Ländern liegt je-
        doch dieser Wert deutlich darunter: In Finnland bei 8,5, in
        Schweden bei 6,1, in Dänemark bei 9,3 und in den Nie-
        derlanden bei 7,5. Auch im Vereinigten Königreich Groß-
        britannien wurden im Jahr 1997 „nur“ 6,3 Menschen je
        100 000 Einwohner im Kfz-Verkehr getötet – knapp
        40 Prozent weniger als in der Bundesrepublik Deutsch-
        land.
        Zweitens der Vergleich Männer – Frauen. Dieser wird
        in den uns vorliegenden Statistiken ebenfalls nicht wie-
        dergegeben. Frauen verursachen im Vergleich zu Män-
        nern und unter Berücksichtigung der unterschiedlichen
        Fahrleistung zwar ähnlich viele Unfälle wie Männer.
        Doch bei den von Frauen verursachten Unfällen kommt es
        nur in der Hälfte der Fälle zu Straßenverkehrstoten und
        nur zu halb so vielen Schwerverletzten wie bei den von
        Männern verursachten Unfällen – wohlgemerkt immer
        bei Berücksichtigung der unterschiedlichen Fahrleistun-
        gen. Auch diese Tatsache sollte zu denken geben und
        könnte ein Ansatzpunkt für weitere Verbesserungen in der
        Unfallbilanz sein. Ziele müssen die Entschleunigung,
        Tempolimits und ein Abbau des Macho-Gehabes im Ver-
        kehr sein. Wobei das Letztere eng mit dem Ersteren zu-
        samenhängt.
        Siegfried Scheffler, Parl. Staatssekretär beim Bun-
        desministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen:
        Die Erhöhung der Verkehrssicherheit ist und bleibt eine
        der wichtigsten Aufgaben der Verkehrspolitik. Das
        BMVBW räumt der Verkehrssicherheit höchste Priorität
        ein. Die zunehmende Mobilität wird nur dann akzeptiert,
        wenn auch ein hohes Maß an Verkehrssicherheit gewähr-
        leistet wird. Unser Verkehrssystem wird immer komple-
        xer. Deshalb müssen wir bestehende Unfallgefahren be-
        seitigen und künftige Sicherheitsrisiken frühzeitig erkennen,
        um sie zu verhindern.
        Für alle Verkehrsträger gilt grundsätzlich, dass die
        Eigenverantwortung der Verkehrsteilnehmer, der Trans-
        portunternehmen und der Hersteller gestärkt werden muss.
        Auch der Einsatz moderner Verkehrstechnik kann zur wei-
        teren Verbesserung der Verkehrssicherheit beitragen.
        Um die von allen geforderte Verkehrswende zu schaf-
        fen, brauchen wir zunächst eine umfassende Bestandsauf-
        nahme der Verkehrsentwicklung – auch der Unfallursa-
        chen und -risiken. Wir gehen diese Bestandsaufnahme in
        allen Bereichen an: bei großen Projekten wie der Überar-
        beitung des Bundesverkehrswegeplanes, wie auch in der
        Verkehrssicherheit. Der vorgelegte Bericht zur Unfallent-
        wicklung 2000 ist ein wichtiger Baustein unserer inte-
        grierten Verkehrspolitik. Der Bericht steht in unmittelba-
        rem Zusammenhang mit dem Verkehrsbericht 2000, den
        wir in Kürze vorlegen werden. Er dient als Zwischen-
        schritt für die Überarbeitung des Bundesverkehrswege-
        planes. Danach folgt ein umfassendes Verkehrssicher-
        heitsprogramm, das wir Anfang nächsten Jahres vorlegen
        werden.
        Der Unfallverhütungsbericht Straßenverkehr stellt die
        Unfallsituation auf deutschen Straßen dar und informiert
        umfassend über unsere Maßnahmen zur Verkehrssicher-
        heit. Straßenverkehrsunfälle sind in der Regel keine
        schicksalhafte, unvermeidbare Nebenerscheinung des
        Straßenverkehrs, sondern in den meisten Fällen Folgen
        vermeidbaren menschlichen Fehlverhaltens. Obwohl die
        Zahl der tödlichen Unfälle in den letzten Jahren stetig
        zurückgegangen ist, bedeuten die jährlich Tausende von
        Straßenunfällen mit Personenschäden und zum Teil
        schweren Verletzungen einen tiefen Einschnitt in die Le-
        bensqualität – auch in das allgemeine Sicherheitsgefühl –
        der Bürger und Bürgerinnen unseres Landes. Im interna-
        tionalen Vergleich befindet sich Deutschland bei der Un-
        fallhäufigkeit – bezogen auf die Bevölkerungszahl, den
        Fahrzeugbestand und die Länge des Straßennetzes – nur
        im Mittelfeld. Das muss sich ändern.
        Zu den Unfallrisiken. Festzuhalten ist: Der Fahrzeug-
        bestand ist gestiegen, aber das Risiko, bei einem Straßen-
        verkehrsunfall getötet zu werden, ist gesunken. Die Zahl
        der Verkehrsunfälle insgesamt ist leider nicht zurück-
        gegangen. Positiv ist der Rückgang der schweren Ver-
        kehrsunfälle bei Kindern. Dennoch bleibt viel zu tun: Die
        Aufmerksamkeit der Bundesregierung gilt daher insbe-
        sondere dem Schutz der schwächeren Verkehrsteilneh-
        mer, von Kindern und Älteren. Nach wie vor sind junge
        Fahranfänger am meisten gefährdet. Auch auf den Land-
        straßen passieren überdurchschnittlich viele Verkehrsun-
        fälle.
        Zur Unfallentwicklung in den ersten drei Monaten
        2000. Die Ad-hoc-Unfallexpertengruppe hat festgestellt:
        Die erhöhten Unfallzahlen im ersten Quartal 2000 gehen
        weitgehend auf eine milde Witterung und den zusätzli-
        chen Schalttag im Februar zurück. Die Expertenkommis-
        sion glaubt, dass sich die Unfallentwicklung nicht negativ
        verändern wird. Die Expertengruppe bestätigt auch, dass
        mit dem Verkehrssicherheitsprogramm, das wir Anfang
        des nächsten Jahres vorlegen werden, wichtige Schritte
        zur Verbesserung der Verkehrssicherheit eingeleitet wer-
        den.
        Mein Fazit: Die Bundesregierung wird die Verkehrssi-
        cherheit kontinuierlich fördern und verbessern. Unsere
        Maßnahmen tragen bereits erste Früchte und werden von
        Experten bestätigt.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12287
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        Anlage 4
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Für ein fahrrad-
        freundliches Deutschland (Tagesordnung 12)
        Heide Mattischek (SPD): Obwohl Berlin nicht ge-
        rade die besten Rahmenbedingungen für Radler und Rad-
        lerinnen bietet – schon gar nicht im Regierungsviertel –,
        sehe ich hier mehr Abgeordnete, die sich des Fahrrads be-
        dienen als je zuvor. Ich bedaure es außerordentlich, dass
        die konstruktiven Bemühungen des ADFC um ein „fahr-
        radfreundliches Regierungsviertel“ weder bei der damali-
        gen Bundesregierung noch bei der Berliner Stadtregie-
        rung auf Interesse gestoßen sind.
        Der „1. Fahrradbericht der Bundesregierung über die
        Situation des Fahrradverkehrs in der Bundesrepublik
        Deutschland“ ist eine wichtige Zäsur: Die derzeitige Si-
        tuation des Radverkehrs in Deutschland wird systema-
        tisch dargestellt. Die grundlegenden Probleme werden be-
        nannt, Vorbildleistungen im In- und Ausland aufgezeigt,
        Empfehlungen zur Verbesserung des Radverkehrs formu-
        liert.
        Ich begrüße es sehr, dass die jetzige Bundesregierung
        trotz der besonderen Zuständigkeit der Kommunen bei In-
        vestitionen und bei Infrastrukturmaßnahmen auch die
        Verantwortung des Bundes hervorhebt, die die frühere
        Regierung eher von sich gewiesen hat. Ich freue mich des-
        halb, dass die CDU/CSU-Kollegen in einem neuerlichen
        Antrag dies auch so sehen. Nicht nur, weil in dem Antrag
        meine Heimatstadt Erlangen lobend erwähnt wird, sehe
        ich sehr viel positive Ansätze darin. Eine Reihe von For-
        derungen, die Sie erheben, sind diskussionswürdig. Es
        bleibt allerdings die Frage offen, warum Sie diese nicht in
        den Jahren 1982 bis 1998 gestellt und erfüllt haben.
        Da wir uns, Herr Kollege Börnsen, in dem Ziel einig
        sind, den Fahrradanteil am Alltagsverkehr spürbar anzu-
        heben, müssen wir nach Wegen suchen, dieses Ziel zu er-
        reichen. Wenn wir auf diesem Weg ein gutes Stück ge-
        meinsam gehen könnten, würde es der Sache nicht schaden.
        Wir haben überfraktionell eine öffentliche Anhörung
        zum Thema Fahrradverkehr beschlossen, die am 24. Ja-
        nuar 2001 stattfinden wird. Daraus werden uns gewiss
        weitere Erkenntnisse erwachsen.
        Ich begrüße es sehr, dass die jetzige Bundesregierung
        nicht nur einfach den Fahrradbericht vorgelegt hat, son-
        dern erste Schlüsse daraus gezogen hat. Es gibt seit dem
        letzten Jahr einen Bund-Länder-Arbeitskreis, der auch
        den Sachverstand von Verbänden wie dem ADFC und
        dem VCD mit einbezieht.
        Ich erwarte, dass wir nach der Anhörung mehr darüber
        wissen, welche Strategie zum Beispiel die Niederlande
        entwickelt und umgesetzt haben, um dem Fahrradanteil
        auf beinahe 30 Prozent anzuheben. Weder ist das Klima
        dort bemerkenswert anders noch ist die Topographie in
        Deutschland hauptsächlich alpin. Es gibt also noch
        großen Handlungsbedarf: Die Sicherheit muss erheblich
        verbessert werden, die Infrastruktur braucht erhebliche
        Verstärkung, für den Imagegewinn muss etwas getan wer-
        den, auch der Verbund mit ÖPNV und Fernverkehr ist
        noch nicht optimal – bei aller Anerkennung des Erreich-
        ten. Ein Stück Benachteiligung wird jetzt durch die Um-
        wandlung der Kilometerpauschale in eine – lange gefor-
        derte – Entfernungspauschale beseitigt.
        Man kann es nicht oft genug sagen: Die gesamtwirt-
        schaftlichen positiven Effekte des Fahrradfahrens sind
        beachtlich: das Einsparpotenzial im Gesundheitssystem,
        die Umsatzsteigerungen bei Reiseveranstaltern, in der
        Gastronomie und im Beherbergungsgewerbe sowie
        8 Milliarden DM Umsatz bei Herstellung, Handel und
        Dienstleistung. Und überall bestehen noch Steigerungs-
        möglichkeiten. Umso mehr ist zu begrüßen, dass im
        Fahrradbericht aufgezeigt wird, dass das Fahrrad als
        „System“ eine Zukunft hat, wie uns das ziemlich per-
        fekte „System Auto“ täglich vor Augen führt.
        Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Die
        Renaissance des Fahrrades hat Mitte der 70er-Jahre ein-
        gesetzt. Heute gibt es 75 Millionen Räder in Deutschland.
        Am Gesamtverkehrsaufkommen ist der Radverkehr bei
        uns mit 12 Prozent beteiligt – bei steigender Tendenz. Wir
        von der Union begrüßen diese Entwicklung und werden
        sie weiter fördern.
        Die Trendwende zu mehr Fahrrad hat zwei Ursachen.
        Bei immer mehr Bürgerinnen und Bürgern gilt das Rad als
        umweltschonendes, gesundheitsförderndes und energie-
        sparendes Verkehrsmittel. Bei den Kommunen, den Bun-
        desländern und den Bundesregierungen hat durch die
        Energiekrise der 70er-Jahre ein Umdenkungsprozess hin
        zu mehr Förderung des Fahrradverkehrs eingesetzt.
        Bürgerinteresse und politischer Wille haben dazu geführt,
        dass heute bereits 35 Prozent aller Radfahrer ihr Rad zur
        Fahrt zu Arbeit und Ausbildung nutzen, weitere 35 Pro-
        zent zum Freizeitvergnügen und fast 30 Prozent für Ein-
        kaufsfahrten.
        Obwohl die Städte, Gemeinden und die Länder eine
        vorrangige Zuständigkeit für Investitionen in verbesserte
        Radfahrbedingungen haben, hat der Bund in den vergan-
        genen 20 Jahren beispielhaft gehandelt. Das Radwegesys-
        tem an Bundesstraßen wurde von 6 300 Kilometern auf
        heute 15 000 Kilometer mehr als verdoppelt. Allein in den
        neuen Bundesländern wurde eine Erweiterung der Rad-
        wege von 500 Kilometern in zehn Jahren auf jetzt fast
        2 000 Kilometer erzielt. Mit Beginn dieses neuen Jahr-
        hunderts sind ein Drittel aller Bundesstraßen mit Radwe-
        gen versehen, das heißt, prozentual verfügen die Bundes-
        straßen über doppelt so viele Radwege wie Landes- oder
        Kreisstraßen. Dieses anerkennenswerte Resultat wurde
        möglich, weil die GVFG-Mittel auf 1 Milliarde DM jähr-
        lich aufgestockt wurden. Leider hat die derzeitige Bun-
        desregierung diesen Fonds wesentlich gekürzt, zum
        Nachteil des Radwegebaus, zum Nachteil der Radfahrer.
        Einen Durchbruch zu mehr Rechten für Radfahrer hat
        die Radfahrnovelle von 1997 gebracht, unter anderem mit
        ihrer Einbahnstraßen- und Sonderstreifenregelung. Hier
        erwarten wir, dass aus der Probephase eine Dauerregelung
        zum Jahresende wird.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012288
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        Einen weiteren Durchbruch für eine kombinierte Fahr-
        radförderung wurde die Öffnung der GVFG-Mittel auch
        für die Schaffung von Bike-and-Ride-Anlagen an Bahn-
        und Bushöfen. Dazu ist auch die Regelmitnahme für
        Fahrräder durch die DB AG zu rechnen. Sie betrug 1991
        818 000 im Schienennahverkehr und verdoppelte sich in
        sieben Jahren auf 1,6 Millionen. In den Fernzügen hat sie
        sich in den 90er-Jahren von anfänglich 200 000 auf mehr
        als 600 000 verdreifacht.
        Ein deutliches Signal hat die Bundesrepublik auch bei
        der Novellierung der StVO in sieben Punkten für den
        Radverkehr gesetzt. Sie wurde zu einer tatsächlichen Un-
        fallverhütungsvorschrift mit dem Resultat, dass Radfahr-
        unfälle von 74 000 Anfang der 90er-Jahre auf 68 879 im
        Jahr 1998 gesenkt werden konnten, trotz einer Zunahme
        des Radverkehrs. Doch nehmen bei Kindern und Senioren
        die Radfahrunfälle leider wieder zu. Die Entscheidung der
        Regierung, die Mittel für die Verkehrssicherheit um
        4Millionen DM gegenüber 1999 zu kürzen, ist in diesem
        Zusammenhang unverantwortlich und kontraproduktiv.
        Diese wenigen Belege zeigen: Wir von der Union ha-
        ben klar und konsequent eine Pro-Fahrrad-Politik betrie-
        ben. Die über 60 Millionen Radfahrerinnen und Radfah-
        rer in Deutschland können sich auf uns verlassen. Das
        wird sich auch nicht ändern. Die rot-grüne Regierung hat
        bei ihrer Fahrradpolitik in diesem Jahr mit einer Verdop-
        pelung der Verwarngelder für Radfahrerinnen und Rad-
        fahrer einen besonderen Akzent gesetzt. Diese Maßnah-
        men hat viele Radler verärgert, fühlen sie sich doch
        gestraft, obwohl sich die große Mehrheit verkehrsgerecht
        verhält. Nun müssen alle für wenige Radfahr-Rambos
        büßen.
        Eine Alternative zum Auto ist der Drahtesel im Kurz-
        streckenbereich allemal. Staaten wie Dänemark und die
        Niederlande mit einem Radverkehrsanteil von 27 Prozent
        machen deutlich, dass es auch bei uns noch Entwick-
        lungspotenziale gibt.
        Wir stellen uns für die Umsetzung dieser Perspektive
        die Schaffung eines nationalen Fahrradforums vor. Der
        Bund-Länder-Arbeitskreis kann dafür durchaus die Basis
        sein, gemeinsam mit Pro-Fahrrad-Organisationen. Dieses
        „Deutsche Fahrradforum“ hätte eine Koordinierungs-
        funktion, wäre Bindeglied zwischen den verschiedenen
        Ebenen, ohne in die Vorort-Kompetenz einzugreifen.
        Zum Vorschlag Masterplan unterscheidet sich unsere Al-
        ternative durch mehr Respekt vor der föderativen Rechts-
        Struktur unseres Landes. Gemeinsam ist beiden, dass sie
        sich als sachliche Folgerung aus dem ersten Fahrradbe-
        richt der Bundesregierung ergeben. Diese Dokumentation
        ist ein Werk aus der Ministerzeit von Matthias Wissmann.
        Dass sie ungekürzt von der derzeitigen Regierung über-
        nommen und zur Grundlage für die Fahrradpolitik erklärt
        worden ist, spricht für die Qualität des Papiers, aber auch
        für den Pragmatismus des Hauses Klimmt.
        Unser heute hier vorgelegter Antrag, der Ausgangs-
        punkt dieser Debatte, will in seiner Zielsetzung die At-
        traktivität des Fahrradverkehrs steigern, den Mobilitäts-
        raum für das Rad erweitern, die Sicherheitsbedingungen
        verbessern, das Potenzial zum Umsteigen auf das Rad er-
        höhen, insgesamt eine weitere Klimaverbesserung für das
        Verkehrsmittel Fahrrad in unserem Land erreichen.
        In zehn Punkten sehen wir konkrete Handlungsmög-
        lichkeiten. Dazu gehört unter andem die Schaffung eines
        bundesweiten Radwegenetzes, also Ausweisung von
        Bundes-Radtouren, wie sie in der Schweiz als so genannte
        nationale Routen mit Erfolg praktiziert werden, um den
        touristischen Aspekt zu verstärken. Weiter halten wir auch
        die Optimierung des Dienstleistungsangebotes der Bahn
        für Fahrrad-Reisende für erforderlich.
        Noch wenig berücksichtigt bleibt bei der Bundesre-
        gierung derzeit der Tatbestand, dass das Unfallrisiko
        von Radfahrern mehr als doppelt so hoch wie bei
        PKW-Fahrern und Fußgängern ist. Radfahrer haben keine
        Knautschzone. Je mehr wir die Sicherheit für sie verbes-
        sern, umso größer ist die Bereitschaft, auf das Rad umzu-
        steigen. Deshalb plädieren wir mit Nachdruck für die An-
        hebung der Mittel für die Verkehrssicherheit, die
        gegenüber 1999 durch die rot-grüne Regierung gekürzt
        wurden. Wer für mehr Rad ist, der zeigt durch sein Ab-
        stimmungsverhalten heute, ob er es auch ernst meint mit
        der Förderung des Fahrradverkehrs, der sagt Ja zu unse-
        rem Antrag.
        Völlig unberücksichtigt bleibt bei der Regierung der
        Sachverhalt, dass es zu circa 420 000 Fahrraddiebstählen
        pro Jahr in unserem Land kommt – bei einer Auf-
        klärungsquote von 9 Prozent und einem Versicherungs-
        schaden, den wir alle zu tragen haben, in Höhe von circa
        130 Millionen DM jährlich, legt man einen Fahrradwert
        von nur 300 DM zugrunde. Wenn Jahr für Jahr fast eine
        halbe Millionen Menschen bittere Erfahrungen mit dem
        Fahrradklau machen, fördert das nicht die Attraktivität
        dieses Verkehrsmittels.
        Erfreulich an den vorgelegten Fahrradinitiativen ist die
        weitgehende Übereinstimmung über alle Fraktionen hin-
        weg. Erfreulich ist auch, dass immer mehr unserer
        eigenen Kollegen als Radfahrer in Berlin und zu Hause
        unterwegs sind und gute Beispiele geben.
        Wenig hilfreich jedoch ist die Ausrichtung von Bundes-
        kanzler Schröder in Wort und Tat, allein dem Auto offen-
        sichtlich Vorrang einzuräumen. Das gilt auch für den Frak-
        tionsvorsitzenden der Bündnisgrünen, Rezzo Schlauch, in
        seiner kürzlich erfolgten von vielen Radfahrerinnen und
        Radfahrern als provozierend empfundenen Porsche-Prä-
        sentation. Peinlich muss diese Aktion auch auf die Mitglie-
        der seiner Fraktion wirken, die sich seit Jahren um Pedes
        und nicht um Porsche bemüht haben. Nein, wer so um das
        Auto buhlt, der hat seine Glaubwürdigkeit als Radfahrer-
        Partei verloren.
        Wir von der Union stehen für ein ganzheitliches Ver-
        kehrskonzept, das alle Verkehrsträger berücksichtigt.
        Es geht von den Fragen aus: Wie sichere ich das Mobi-
        litätsbedürfnis der Bürgerinnen und Bürger? Was ist öko-
        logisch und ökonomisch vertretbar? Das Fahrrad stellt im
        Kurzstreckenbereich durchaus eine Alternative zum Auto
        dar, nicht nur der ÖPNV. Fast 50 Prozent aller PKW-Fahr-
        ten liegen unterhalb der 5-Kilometer-Grenze. Wenn
        Städte wie Münster und Erlangen es erreichen, dass der
        Anteil der Fahrräder am Gesamtverkehr bei 40 Prozent
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12289
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        liegt, dann sollten andere Kommunen, auch wenn deren
        Landschaftsstruktur nicht so ideal ist, zumindest ein
        25-Prozent-Ziel anpeilen – bei systematischer Förderung
        des Fahrradverkehrs ein durchaus erreichbares Resultat,
        wenn die Infrastruktur um das Rad, angefangen von
        sicheren Parkhäusern, mit beachtet wird.
        Vergessen wir bei unserer Absicht zu mehr Fahrradför-
        derung nicht den Tatbestand, dass ein neues Verkehrsmit-
        tel auch im Alltag – nicht nur im Freizeitverkehr – im
        Kommen ist: die Inline-Skater. Auch hier sollte gelten, die
        begonnene Initiative zu stärken, sie in das Gesamtver-
        kehrssystem einzubinden. Wir erwarten als Grundlage
        dafür einen Bericht der Bundesregierung. Wie beim Fahr-
        rad geht es auch hier um ein umweltschonendes, gesund-
        heitsförderndes und energiesparendes Verkehrsmittel,
        und beiden ist eigen: Sie bereiten Vergnügen.
        Zu Dank verpflichtet ist der Deutsche Bundestag all
        denen, die auch beim Fahrradverkehr kompetent und ve-
        rantwortungsbewusst mit Rat und Tat der Politik zur Seite
        stehen, vom Deutschen Verkehrssicherheitsrat über den
        ADFC, die Verkehrswacht und weiteren Verkehrssicher-
        heitsverbänden bis hin zur Polizei und den Fachkräften in
        den Schulen. Sie alle, die oft ehrenamtlich tätig sind, sor-
        gen mit für ein konstruktives Klima zur Förderung des
        Fahrrades.
        Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN):Lange Zeit wurde Radfahren von der Politik über-
        sehen und unterschätzt, zumindest von der Politik auf
        Bundesebene. Das Fahrrad war allenfalls ein Thema der
        Kommunalpolitik, wenn überhaupt. Dort wurde das An-
        liegen nach Jahrzehnten der Missachtung in den vergan-
        genen zwei Dekaden zunehmend entdeckt. Ja, man kann
        sagen, Radfahren erlebte eine erfreuliche Wiederent-
        deckung und -nutzung. Viele umweltbewusste Kommu-
        nen haben inzwischen eine Radverkehrskonzeption und
        fördern Radfahren auf vielfältige Art. Auch einzelne Bun-
        desländer, allen voran das rot-grün regierte Nordrhein-
        Westfalen, fördern Radfahren landesweit durch Radwege
        und Zuschüsse für zum Beispiel Radstationen. Die För-
        derung des Radfahrens wird allgemein als Chance gese-
        hen, die Verkehrsprobleme in den Städten zu mildern und
        mit wenig Mitteln ein umweltfreundliches Verkehrsmittel
        voranzubringen.
        Meine Fraktion, die zu Recht den Ruf hat, eine fahr-
        radfreundliche zu sein – darüber können die Ausflüge
        unseres Vorsitzenden im Sportwagen nicht hinwegtäu-
        schen –, begrüßt es gewissermaßen mit freundlichem
        Radklingeln, dass sich der Bundestag mit Radfahren be-
        fasst. Der erste Radbericht einer deutschen Bundesregie-
        rung, eine wirklich interessante Drucksache mit vielen in-
        teressanten Informationen und Daten, liegt vor. Meine
        Fraktion hat diese Woche bereits eine Anhörung im
        Reichstag veranstaltet mit erfreulicher Resonanz und
        guten Impulsen für ein fahrradfreundliches Land. Der
        Verkehrsausschuss wird im Januar 2001 eine große An-
        hörung zum Radfahren machen. Das alles sind Zeichen
        dafür, dass sich nun auch die Bundespolitik dem Rad zu-
        wendet. Ich freue mich, dass sich auch die CDU/CSU-
        Fraktion mit dem vorliegenden Antrag klar zu einer fahr-
        radfreundlichen Politik bekennt.
        Radfahren, das zeigen die unterschiedlichen Untersu-
        chungen, Modelle und die Erfahrungen in verschiedenen
        Ländern und Kommunen wie auch Beispiele im europä-
        ischen Ausland, ist nicht so sehr abhängig von der Zahl
        der Berge, sondern von der Politik und der Kultur eines
        Landes, einer Stadt oder einer Region. Die Schweiz,
        wahrlich nicht so flach wie Norddeutschland oder die
        Niederlande, führt uns vor, wie man durch eine gut auf-
        einander abgestimmte Politik Radfahren im Alltag wie
        auch in der Freizeit und im Urlaub fördern kann. Die
        Schweiz gilt inzwischen als Velo-Musterland neben den
        Niederlanden. Dort gibt es nicht nur eine lange Radfahr-
        tradition, sondern auch eine strategisch abgestimmte Po-
        litik, die mit einem Masterplan FIETS (RAD) das Rad-
        fahren systematisch gefördert hat. Man hatte aber auch
        den Mut, das Autofahren in den Innenstädten einzu-
        schränken. Die deutlich höheren Radverkehrsanteile in
        Holland wie in einzelnen deutschen Städten wie bei-
        spielsweise Troisdorf, Münster, Erlangen, Freiburg oder
        in meiner Wahlkreisstadt Tübingen zeigen, dass man mit
        engagierter Politik in wenigen Jahren viel erreichen kann.
        Rund 30 Prozent Anteil Radverkehr in diesen positiven
        Beispielen, aber 5 Prozent und weniger in anderen Kom-
        munen, leider vor allem in den neuen Bundesländern.
        Die Hälfte aller Autofahrten haben eine Entfernung un-
        ter 6 Kilometer. Das ist die ideale Distanz fürs Rad. In die-
        sem Fall ist das Rad meistens das schnellste Transport-
        mittel. Wenn wir es schaffen könnten, von diesen
        Kurzfahrten einen größeren Anteil aufs Rad zu verlagern,
        hätten wir viel fürs Klima und die Luftreinhaltung getan.
        Berechnungen des Umweltbundesamtes belegen, dass bis
        zu 7 Millionen Tonnen C02-Minderung pro Jahr zu erzie-len wäre, wenn 30 Prozent dieses Autoverkehrs aufs Rad
        verlagert werden könnten, oder bar bis zu 13 Millionen
        Tonnen, wenn wir 30 Prozent des Autoverkehrs bis 10 Ki-
        lometer umschichten könnten. Diese Mengen erreicht
        man sonst nur mit massiven Eingriffen in die Wirtschaft
        oder in den Autoverkehr mit einem Tempolimit.
        Die spannende Frage ist: Warum wird trotz so vieler
        Vorzüge so wenig Rad gefahren, im Durchschnitt in
        Deutschland West circa 12 Prozent, in Deutschland Ost
        9 Prozent? Es gibt leider noch zahlreiche Barrieren auf
        den Straßen, in den Köpfen und in den Körpern. Es gibt
        trotz eines massiven Ausbaus zu wenig Radwege bzw. si-
        chere Wege und Straßen zum Radfahren. Es muss nicht
        immer der teure separate Radweg auf dem Gehweg sein
        mit Kanten und Absätzen, eng und zugeparkt. Oft ist ein
        Sicherheitsstreifen als Fahrspur am Rande der Straße bes-
        ser und billiger. Es gibt noch immer viel zu wenige sichere
        Abstellplätze und es gibt nach wie vor keine wirklich gute
        Mitnahmebedingungen bei öffentlichen Verkehrsmitteln.
        Die Bahn hat eigens eingerichtete Fahrradabteile, eigent-
        lich ein Fortschritt gegenüber früher. Gleichzeitig sind bei
        manchen Wagentypen die Türen zu eng und Treppen zu
        steil für passables Einsteigen. Man muss fast ein Balan-
        cekünstler sein beim Ein- und Aussteigen. Ich führe dies
        hier so aus, weil das Beispiel veranschaulicht, dass die
        Konstrukteure und Planer die Radmitnahme nicht wirk-
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012290
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        lich im Kopf haben. Es mangelt an einer Kultur des Rad-
        fahrens. Das muss sich ändern.
        Was ist zu tun? Zunächst muss der Bund seine Verant-
        wortung wahrnehmen, sich auch fürs Radfahren und den
        Radwegebau zuständig zu fühlen. Ich sehe mit Freude,
        dass alle Fraktionen in diese Richtung denken. Wir schla-
        gen vor, dass das Verkehrsministerium alle Beteiligten
        einlädt zu einem Runden Tisch Rad. Dies könnte der erste
        Schritt zu einem Masterplan RAD sein, den wir wie der
        VCD und der ADFC und andere Umweltorganisationen
        fordern. Ein Masterplan RAD müsste Ziele, Maßnahmen
        und Schritte, möglichst im breiten Konsens aller Betrof-
        fenen und Verantwortlichen aller politischen Ebenen,
        festlegen und eine gemeinsame Strategie beinhalten. Ein
        Masterplan müsste aufzeigen, wie Deutschland zum fahr-
        radfreundlichen Land gemacht werden kann. Dieser Plan
        muss vor allem ein kommunikativer Prozess sein und mit
        einer Kampagne „FahrRad“ verbunden werden, damit wir
        es schaffen, in den nächsten 10 Jahren den Anteil des Rad-
        verkehrs zu verdoppeln oder wenigstens auf 20 Prozent zu
        steigern.
        Die Anhörung im Januar wird uns hierzu sicher noch
        weitere Anregungen geben. Wir Grünen werden dazu
        gerne in Kooperation mit unserem Koalitionspartner ei-
        nen Antrag erarbeiten. Ich könnte mir sogar vorstellen,
        wenn ich mir die Forderungen des vorliegenden
        CDU/CSU-Antrages betrachte, dass wir ein fraktions-
        übergreifendes Bündnis „ProRad“ zustande bekommen.
        Wir sollten es versuchen. Die Radfahrerinnen und Rad-
        fahrer würden sich freuen.
        Hans-Michael Goldmann (F.D.P.): Radfahren macht
        Spaß! Außerdem ist es gesund, leise, schnell, flexibel,
        sportlich, ökologisch und kostengünstig. Kein Wunder,
        dass sich inzwischen die unterschiedlichsten Interessen-
        gruppen für den Radverkehr stark machen. So ist es gut,
        dass wir im Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungs-
        wesen beschlossen haben, am 24. Januar 2001 eine An-
        hörung zum Radverkehr durchzuführen. Schon heute gibt
        mir der Tagesordnungspunkt „Für ein fahrradfreundliches
        Deutschland“ Gelegenheit, mich als absoluter Fahrradfan
        zu outen. Nicht nur in meiner Jugend war ich mit meiner
        guten alten Rixe in Deutschland unterwegs, sondern auch
        heute trägt mich meine Gazelle an vielen Wochenenden
        durch die fahrradfreundliche Landschaft des Emslandes
        und Ostfrieslands.
        Fahrradfahren hat eine echte Renaissance in Deutsch-
        land erlebt. So kommt es auch, dass bereits zum zweiten
        Mal in Folge in Deutschland die Fahrradproduktionszah-
        len deutlich gestiegen sind. 1999 kletterte die Zahl der bei
        uns gefertigten Fahrräder auf 3,2 Millionen, das sind noch
        einmal 2 Prozent mehr als im Jahr zuvor, und das sichert
        viele Arbeitsplätze in einer äußerst innovativen Branche.
        Gestiegen sind die Durchschnittsqualitäten, und das aus
        gutem Grunde, denn die Kunden legen immer mehr Wert
        auf eine hervorragende Ausstattung ihrer Fahrräder. So
        sind komfortable Federungssysteme, zupackende Brem-
        sen und leistungsfähige Lichtanlagen für den echten Bi-
        ker heute eine absolute Notwendigkeit. Die Modelle, die
        von der Fahrradindustrie angeboten werden, decken den
        Tourenradbereich, das Trekking-Cross oder das MTB-
        Sportive-Bike ab. Ja, sogar Rennmaschinen haben Kon-
        junktur, nachdem sich auch sportliche Erfolge in diesem
        Bereich eingestellt haben.
        Millionen einzelne Verkehrsteilnehmer haben sich
        längst für das Rad entschieden, da es auf unvergleichliche
        Art Sport, Spaß und Schnelligkeit in den Alltag integriert.
        Das Fahrrad ist gerade in den Städten und dicht besiedel-
        ten Gegenden ein optimales Verkehrsmittel und natürlich
        im Bereich des Fremdenverkehrs ein ernst zu nehmender
        wirtschaftlicher Faktor. Seitens des Bundes, der Länder
        und der Gemeinden sind große Anstrengungen unternom-
        men worden, ein gutes Radverkehrsnetz aufzubauen.
        Durch die grundlegende Novellierung der Straßenver-
        kehrsordnung im Jahre 1997 sind sehr konkrete Verbesse-
        rungen von der Radwegebenutzungspflicht, der Radfahr-
        straße oder der Einbahnstraßenregelung für den Radfahrer
        erreicht worden. Diese Schritte waren notwendig, denn
        der Fahrradfahrer, der Radler ist im Konflikt mit dem mo-
        torisierten Verkehr immer der Schwächere.
        Wenn auch insgesamt ein positives Resümee in Bezug
        auf das Fahrradfahren in Deutschland zu ziehen ist, so
        kann doch nicht abgestritten werden, dass es noch Hand-
        lungsbedarf gibt. Die Niederländer haben es uns vorge-
        macht. Ihr Masterplan Fiets schreibt Ziele fest, die wir in
        Deutschland ganz einfach übernehmen sollten: Imagever-
        besserung fürs Fahrrad, Diebstahlprävention, Radrouten-
        netze, Fahrradabstellanlagen an Haltestellen und Bahnhö-
        fen sowie die Fahrradnutzung in der Freizeit.
        Was der Masterplan Fiets für die Niederländer ist, muss
        der Fahrrad-Masterplan für Deutschland sein. Mit diesem
        Plan verknüpft die F.D.P. folgende Ziele:
        Erstens. Umstieg vom Auto auf das Fahrrad in Verbin-
        dung mit öffentlichen Verkehrsmitteln.
        Zweitens. Sicherheit für Radfahrer, Fahrradparkplätze
        und Diebstahlprävention.
        Drittens. Vernetzung des Radverkehrs mit den Ver-
        kehrs- und Transportplänen des Bundes, der Länder und
        Gemeinden.
        Viertens. Nutzung des Wirtschaftsfaktors Fahrrad im
        Hinblick auf Herstellung, Handel, Dienstleistung und
        Tourismus.
        Weil wir möchten, dass immer mehr Menschen im All-
        tag, im Beruf und in der Freizeit auf das Rad setzen, wer-
        den wir aktiv dazu beitragen, den Radverkehr als Ge-
        samtsystem zu fördern. Der VCD, der Verkehrsclub
        Deutschlands hat eine breite Palette von Handlungsan-
        weisungen für die Akteure aufgelistet, die am Gesamtsys-
        tem Radverkehr positiv mitwirken wollen. Sie reicht vom
        Bund, den Ländern und Kommunen über die Betriebe, die
        Verkehrsunternehmen und Krankenkassen, die Fahrrad-
        branche, die Eltern, Kindergärten und Schulen bis hin zu
        den Einzelhändlern und Werbegemeinschaften sowie den
        Architekten und Wohnungswirtschaftsunternehmen. Aber
        auch die Tourismusbranche und die Medien werden als
        wichtige Akteure richtigerweise genannt.
        Radfahren macht Spaß – schon jetzt und zukünftig
        noch mehr, weil wir sicherlich im Rahmen der Anhörung
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12291
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        zum Fahrradverkehr in Deutschland wertvolle Anregun-
        gen bekommen werden, die uns politisch so handeln
        lassen werden, dass sich der Spaß und die Qualität des
        Radfahrens noch steigern werden, und wir einen ent-
        scheidenden Schritt zum Fahrrad-Masterplan gehen wer-
        den.
        Anlage 5
        Zu Protokoll gegebene Reden
        Zur Beratung der Anträge:
        – Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses
        – Arbeitsweise der Expertenkommission His-
        torische Mitte
        (Tagesordnungspunkt 14 und Zusatztagesord-
        nungspunkt 12)
        Monika Griefahn (SPD): Seit 1992 wird nun über die
        Gestaltung des Schlossplatzes in der Berliner Mitte disku-
        tiert. Ohne Zweifel ist dieser Ort ein besonderer Ort in der
        Hauptstadt und verdient deshalb besondere Beachtung.
        Schon in preußischer Zeit hatte er eine Strahlkraft über
        Berlin hinaus und das Gesamtensemble der Berliner Mitte
        – Museumsinsel, die Linden, der Pariser Platz und das
        Brandenburger Tor – unterstützte diese Wirkung noch.
        Seit dem Ende des Krieges, spätestens aber seit der
        Sprengung des Stadtschlosses ist diese Wirkung dahin.
        Erst die Zerstörung durch Bomben, dann die teilweise
        Neubebauung und -gestaltung der Mitte vom Alexander-
        platz zum Brandenburger Tor veränderten das Bild völlig.
        Wir haben es also mit einer städtebaulichen Umwälzung
        zu tun, die sowohl unter historischen als auch unter archi-
        tektonischen Gesichtspunkten nicht ignoriert werden
        kann.
        Natürlich lädt der verwaiste Schlossplatz geradezu ein,
        sich Gedanken über dessen Gestaltung zu machen. Des-
        halb haben wir heute diese Debatte. Aber es kann doch
        nicht im Ernst darum gehen, mit historisierenden Kon-
        zepten an alten Glanz und Gloria anknüpfen zu wollen.
        Das hieße, die architektonischen Realitäten der letzten
        50 Jahre nicht zur Kenntnis zu nehmen. Ob man nun den
        Palast der Republik oder den Marx-Engels-Platz mag
        oder nicht: Sie gehören zur Geschichte der Stadt. Sie sind
        Ausdruck der politischen Geschichte, dieses Landes und
        sind insofern nicht weg zu diskutieren.
        Das heißt aber: Wenn man sich Gedanken über die Ge-
        staltung des Schlossplatzes macht, dann ist das gesamte
        Umfeld dieses Geländes in die Überlegungen mit einzu-
        beziehen. Nur so kann man der Geschichte der Berliner
        Mitte gerecht werden. Und nur so ist es gewährleistet, das
        die zukünftige Gestaltung des Schlossplatzes von der Be-
        völkerung auch angenommen wird. Die alleinige Rekon-
        struktion der historischen Kubatur mit ihrer historischen
        Fassade ist die falsche Lösung. Sie passt nicht mehr auf
        den Schlossplatz und schon gar nicht in die heutige Zeit.
        Der Schlossplatz in seiner jetzigen Gestalt bietet alle
        Chancen und Möglichkeiten einer Gestaltung, die sich an
        den Gegebenheiten und Erfordernissen unserer zukünfti-
        gen Lebenswelt orientiert.
        Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich stelle nicht die
        große baukulturelle Bedeutung des ehemaligen Stadt-
        schlosses infrage. Der Schlossplatz soll auch ein Ort der
        Erinnerung an die Geschichte sein. Aber gerade deshalb
        kann es nicht darum gehen, die Historie einfach architek-
        tonisch wieder zu beleben. Das würde weder dem Ort
        noch der Zeit gerecht werden. Die Gestaltung kann nur im
        Rahmen einer Gesamtkonzeption geplant werden, die
        dem gesamten Umfeld des Platzes – historisch und städ-
        tebaulich – gerecht wird. Dieser Ort kann daher nur öf-
        fentlich, demokratisch und vor allem bürgernah gestaltet
        werden. Nach meiner Auffassung widerspricht dies auch
        einer rein privaten Finanzierung. Dann wäre die Gefahr
        einer ausschließlich kommerziellen Nutzung viel zu groß.
        Die Expertenkommission „Historische Mitte Berlins“,
        die das Bundeskabinett bald einsetzen wird, wird darüber
        zu befinden haben, wie der Platz genutzt werden soll, wie
        welcher Bau auf der Kubatur des alten Schlosses ausse-
        hen kann und welche Finanzierungskonzepte möglich
        sind. Daneben soll ein städtebauliches Gesamtkonzept für
        die Umgebung erstellt werden.
        Diese Vorgehensweise halte ich für angemessen. Der
        Kommission soll deshalb auch genug Zeit für ihre Bera-
        tungen eingeräumt werden. Es wäre fatal, wenn aus Zeit-
        mangel oder wegen Zeitdrucks an dieser herausragenden
        Stelle in der Berliner Mitte etwas entstehen würde, das
        nicht im Geringsten der Bedeutung des Ortes gerecht
        würde.
        Wir dürfen uns bei der Gestaltung des Schlossplatzes
        nicht unter Druck setzen lassen. Wir haben es hier mit ei-
        nem politischen und kulturellen Raum im humboldt-
        schen Sinne zu tun, der die Elemente von Museumsinsel,
        Oper und Universität ergänzen muss. Der Aspekt der Zen-
        tralität dieses Ortes und die Einbeziehung dieser Idee
        müssen meiner Auffassung nach die bestimmenden Ele-
        mente bei der Gestaltung und Planung sein.
        Deshalb muss meiner Ansicht nach zuerst die Nutzung
        bestimmt werden, denn die Nutzung bestimmt auch die
        anschließende Architektur. Bei der Nutzung möchte die
        SPD-Fraktion eine vorwiegend öffentliche Nutzung errei-
        chen. Für die öffentliche Nutzung könnte zum Beispiel
        eine internationale Organisation, die den Gegensatz zwi-
        schen Ost und West verbindet und in die Zukunft weist,
        wie zum Beispiel die UNESCO, eine gute Institution sein.
        Ein anderer interessanter Vorschlag ist der von Profes-
        sor Lehmann gemachte, die Museumsinhalte aus Dahlem
        als Ergänzung zur Museumsinsel für die nichteuropäische
        Kulturgeschichte auf das Gelände in ein Nachfolgege-
        bäude des Schlosses unterzubringen. Dieses bedeutet
        aber, dass es öffentliche Nutzungen sind, die zum Teil
        auch durch die öffentliche Hand mitfinanziert werden.
        Interessant ist dabei auch die Auffassung von Professor
        Lehmahn, dass eben auch die Dahlemer Gebäude reno-
        vierungsbedürftig wären und der Mitfinanzierung bedürf-
        ten, sodass diese Gelder eingespart werden könnten und
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012292
        (C)
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        (A)
        (B)
        als öffentliche Gelder mit in die Erstellung eines Gebäu-
        des im Schlossareal einfließen könnten.
        Die zweite Überlegung gilt der Gestaltung des Gebäu-
        des und der Frage der Einbeziehung der Volkskammer.
        Ich habe großen Respekt vor der Geschichte der Men-
        schen in der DDR und vor denkmalgeschützten Gebäude-
        teilen, die historische Bedeutung haben, nämlich des
        Volkskammersaals. So gehört der Volkskammersaal si-
        cherlich als ein Element mit in die Überlegung, ihn in ein
        wie auch immer gestaltetes Gebäude am Schlossplatz zu
        integrieren. Schwierigkeiten wird es sicherlich dabei ge-
        ben, die Kubatur des Schlosses zu erhalten und trotzdem
        den Volkskammersaal zu integrieren. Aber auch das ist si-
        cherlich architektonisch möglich, wie wir am Potsdamer
        Platz gesehen haben.
        Die dritte Frage, die sich dann stellt, ist: Soll es ein mo-
        dernes Gebäude oder der Wiederaufbau des Schlosses
        sein? Für beides gibt es gute Argumente, Ein Wiederauf-
        bau des Schlosses würde an die Tradition anschließen und
        würde das Ensemble der Museumsinsel, der Humboldt-
        Universität und der Oper ergänzen. Ein modernes Ge-
        bäude, das zukunftsweisend ist und sich vielleicht auch
        nicht architektonisch zum Beispiel an die Architektur des
        Potsdamer Platzes anschließt, sondern neue Wege geht,
        würde wiederum einen Blick in die Zukunft gestatten.
        Sozialdemokraten sind ja auch immer gut für Kompro-
        misse. Ich kann mir durchaus eine Kombination von bei-
        dem vorstellen: einen Teil des Schlosses im Bauhüttever-
        fahren aufzubauen, einen Teil mit der Integration des
        Volkskammersaales modern zu gestalten, also eine inno-
        vative Lösung für den Gesamtkomplex auf dem Schloss-
        areal zu finden.
        Wie gesagt, ich empfinde die Debatte heute nur als An-
        regung für die Arbeitsgruppe, für die Expertenkommis-
        sion, die jetzt eingerichtet werden soll. Sie wird begleitet
        werden von einer Moderatorengruppe, die Regierung und
        Parlamente der Bundesrepublik und des Landes Berlin
        vertritt. Wir werden in den Ausschüssen – und ich bin si-
        cher, dass das der Bauausschuss genauso machen wird
        wie der Ausschuss für Kultur und Medien – die oder den
        Vorsitzenden oder auch einzelne Mitglieder der Experten-
        kommission einladen, ihre Vorstellung und die Diskus-
        sion in der Expertengruppe zu hören und zu bewerten.
        Klar ist, dass sich das Parlament letztendlich hinterher
        ein eigenes Bild machen muss und entscheiden muss, wie
        auch immer die Vorschläge aus der Expertengruppe sein
        werden. In diesem Sinne werden wir auch die bestehen-
        den Anträge der F.D.P., der schon eingebracht ist, und der
        CDU diskutieren. Ansonsten warten wir gespannt auf die
        Arbeit der Kommission und die Dynamik, die sich durch
        die vielschichtigen Persönlichkeiten ergibt.
        Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): Der Wiederauf-
        bau des Berliner Stadtschlosses ist heute weder ab-
        schließend noch vom Bundestag allein zu entscheiden.
        Mit der Einsetzung einer gemeinsamen Expertenkommis-
        sion haben Bundesregierung und Berliner Senat aller-
        dings deutlich gemacht, dass für den Bund und die Haupt-
        stadt eine Entscheidung bedarf, die wegen vieler mit dem
        Stadtschloss direkt und indirekt verbundener Aspekte
        nicht beliebig ausgesetzt werden kann.
        Die CDU-Fraktion will mit ihrem Antrag ein Votum
        des Bundestages für den notwendigen Abstimmungs- und
        Entscheidungsprozess zwischen Bund und Berlin herbei-
        führen:
        Das Stadtschloss hat eine politische und historische
        Bedeutung, die über seine offensichtliche städtebauliche
        Relevanz hinausweist. Nur eine weitgehend öffentliche
        Nutzung des künftigen Gebäudes an dieser prominenten
        Stelle unbeschadet möglicher Beteiligung privater Inves-
        toren wird dieser überragenden Bedeutung gerecht. Eine
        kostenfreie Bereitstellung des Grundstückes durch den
        Bund kann nur unter der Bedingung des Nachweises einer
        solchen dauerhaften öffentlichen Nutzung erfolgen. Es
        gibt beachtliche Argumente für eine vorrangige Nutzung
        dieses Gebäudes auf diesem Gelände in unmittelbarer
        Nachbarschaft zur Museumsinsel zugunsten der außer-
        europäischen Sammlungen der Stiftung Preußischer Kul-
        turbesitz. Eine weitgehende Wiederherstellung der alten
        Fassaden sowie des Schlüter-Innenhofes des Stadtschlos-
        ses würde den historischen, städtebaulichen und funktio-
        nellen Verbund zur Museumsinsel besonders deutlich
        zum Ausdruck bringen.
        Der Beschluss des Bundestages soll zugleich eine Ori-
        entierung für die von Bund und Land eingesetzte Kom-
        mission sein, deren Beratungen und Vorschläge den Bun-
        destag in seiner abschließenden Meinungsbildung nicht
        präjudizieren können.
        Dr.-Ing. Dietmar Kansy (CDU/CSU): Es ist schon
        viel pro und contra Wiederaufbau des Berliner Stadt-
        schlosses gesagt und geschrieben worden, teils in Respekt
        vor der anderen Meinung, teils hochnäsig mit Unfehlbar-
        keitsanspruch, zum Beispiel Befürworter des Wiederauf-
        baus in die Walt-Disney-Welt stellend oder diejenigen mit
        Totschlagsargumenten wie „Bilderstürmer“ belegend, die
        der Wiederherstellung des Palastes der Republik skep-
        tisch gegenüberstehen. Deshalb meine erste Bitte: Sach-
        lichkeit in der Diskussion.
        Meine zweite Bitte geht an die Fachleute aus den Be-
        reichen Denkmalspflege Städtebau und Architektur.
        Natürlich braucht die Gesellschaft deren Rat; die zwi-
        schen der Bundesregierung und dem Berliner Senat ver-
        einbarte Bildung einer Expertenkommission zeigt dies ja
        deutlich. Dennoch sollte man die Meinung von Millionen
        Nichtfachleuten nicht einfach zur Seite schieben. Was für
        konservative Denkmalschützer – ich meine das hier nicht
        parteipolitisch – Todsünden sind, ist für viele Millionen
        Menschen ein Grund zur Freude, zum Beispiel das Kno-
        chenhauer-Amtshaus in Hildesheim, das schon völlig ver-
        schwunden war, die Wiederherstellung des städtebauli-
        chen Ensembles in Münster, das Leibnizhaus in
        Hannover, der Frankfurter Römer und – besser noch – das
        Goethehaus sowie vieles andere.
        Also messen wir uns beispielsweise beim Ringen um
        die Zukunft des Berliner Stadtschlosses an der Streitkul-
        tur von Goerd Peschken für und Wolfgang Pehen gegen
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12293
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        die Wiederherstellung des Schlosses in der ersten emoti-
        onsgeladenen Diskussionsrunde Anfang der 90er-Jahre.
        Die CDU/CSU-Fraktion plädiert in ihrem Antrag für
        den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses, weil es
        nach unserer Auffassung zunächst einmal ein bedeutendes
        Zeugnis nicht nur der Berliner und der preußischen, son-
        dern auch der gesamten deutschen Geschichte ist. Dies
        mag in manchen deutschen „Political-correctness-Ohren“
        vielleicht anstößig klingen. In Warschau war das nicht so
        und auch in Paris würde es nicht so sein.
        Insbesondere – aber nicht nur – ist festzustellen: Der
        städtebauliche Ideenwettbewerb „Spreeinsel“ hat gezeigt,
        dass bei allem Respekt vor moderner Stadtplanung und
        moderner Architektur die entsetzliche städtebauliche
        Wunde, die die Kommunisten 1950 zur Schaffung eines
        Paradeplatzes der Berliner Mitte schlugen, am besten
        durch die Kubatur des alten Schlosses geheilt werden
        kann. Dies bedeutet natürlich noch nicht automatisch Ar-
        chitektur des Schlosses. Aber bietet es sich nicht geradezu
        an, wenigstens die historischen Fassaden weitgehend wie-
        der herzustellen?
        Das klassische Berlin westlich des Stadtschlossareals
        ist doch in DDR-Zeiten im erheblichen Umfang rekon-
        struiert worden: Gendarmenmarkt, Forum Friedericia-
        num, Museumsinsel oder der Bereich Singakademie,
        Neue Wache und Zeughaus. Wie das Kronprinzenpalais,
        die Staatsoper oder die Hedwigskathedrale waren sie zwar
        im Gegensatz zum Stadtschloss nicht völlig aus dem
        Stadtbild verschwunden. Aber sind es nicht im Sinne kon-
        servativer Denkmalspflege auch „nur“ Kopien? Nachdem
        die Wiederherstellung der schinkelschen Bauakademie
        und des Kommandantenhauses dieses Ensemble komplet-
        tieren wird, ist zu fragen: Warum befürworten einige Kri-
        tiker des Stadtschlosswiederaufbaus den Wiederaufbau
        der Bauakademie, die auch völlig verschwunden war?
        Bleibt die Diskussion über die Nutzung oder, besser
        gesagt, über die Aufgabe. Da wird argumentiert, der Wie-
        deraufbau leite sich aus keiner realen Aufgabe her und sei
        auch deswegen abzulehnen. Für uns setzt der Wiederauf-
        bau ein Nutzungskonzept und eine gestalterische Lösung
        voraus, die der überragenden Bedeutung des Areals und
        dem großen öffentlichen Interesse an seiner Gestaltung
        gerecht wird. Finanzierungsmodelle unter wesentlicher
        Beteiligung privaten Engagements sind unverzichtbar,
        müssen aber eine maßgeblich öffentliche Nutzung er-
        möglichen, zum Beispiel – aber nicht zwangsläufig – ent-
        sprechend den Vorschlägen des Präsidenten der Stiftung
        Preußischer Kulturbesitz.
        Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion erwartet von der
        Bundesregierung, jetzt endlich einen offiziellen Bericht
        über den aktuellen Stand der Gespräche und Verhandlun-
        gen, insbesondere im Hinblick auf die Expertenkommis-
        sion, vorzulegen. Diese Kommission wird zwar, wie
        schon gesagt, „nur“ beraten und nicht entscheiden; aber
        die Zusammensetzung dürfte doch das Ergebnis wesent-
        lich mitbestimmen! Deshalb meine dritte und letzte Bitte,
        diesmal an die Koalitionsfraktionen und an die Bundesre-
        gierung: Wenn Informationen zutreffen, dass für den
        Bund in dieser Kommission nicht nur zwei Bundesminis-
        ter und der sozialdemokratische Bundestagspräsident,
        sondern auch noch eine weitere Koalitionsabgeordnete
        vorgesehen sind, ist dies keine seriöse Behandlung der
        Opposition, die früher als Regierungsfraktion in allen ver-
        gleichbaren Fällen immer dafür gesorgt hat, dass mindes-
        tens ein Oppositionsabgeordneter – meistens war es Peter
        Conradi – beteiligt war. Denken Sie bitte noch einmal da-
        rüber nach, bevor Sie in Kürze darüber entscheiden wer-
        den.
        Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN): Bislang beschränkt sich die Diskussion über
        die Zukunft des Berliner Schlossplatzareals weitgehend
        auf die Erörterung der Frage, ob das Stadtschloss rekon-
        struiert oder der Palast der Republik erhalten werden soll.
        Die Verengung der Diskussion auf Gestaltungsfragen
        wird allerdings der Bedeutung dieses Areals als Aus-
        gangspunkt der historischen und städtebaulichen Ent-
        wicklung der Stadt nicht gerecht. Die Frage, welchen Stel-
        lenwert wir der Nutzung und Gestaltung der Berliner
        Mitte zukünftig zumessen wollen, aber auch die nach un-
        serem Umgang mit der deutschen Geschichte, dem kultu-
        rellem Erbe Preußens und der Geschichte der DDR, las-
        sen sich aber nicht allein mit Gestaltungsfragen
        beantworten. Von daher begrüßen wir die Entscheidung
        der Bundesregierung, eine Expertenkommission einzu-
        setzen, die Konzepte für die städtebauliche Entwicklung,
        Nutzung und Bebauung der historischen Mitte Berlins er-
        arbeiten soll – und zwar nicht nur für den Bereich von Pa-
        last und Schlossplatz, sondern auch für das gesamte Um-
        feld. Wir wünschen der Kommission viel Erfolg bei der
        Arbeit.
        Der Schlossplatz braucht eine Nutzung, die ihn zum
        zentralen öffentlichen Ort mit einer demokratischen, bür-
        gernahen Funktion macht. Es sollte ein Ort werden, der
        nicht nur Vergangenheit repräsentiert, sondern sich be-
        wusst der Lebenswelt des 21. Jahrhunderts öffnet. Der
        Vorschlag des Präsidenten der Stiftung Preußischer Kul-
        turbesitz, das Museum für außereuropäische Kunst am
        Schlossplatz anzusiedeln, findet unsere uneingeschränkte
        Zustimmung. Denkbar sind aber auch die Realisierung ei-
        ner modernen Bibliothek des Landes Berlin zusammen
        mit einem Medienkulturzentrum oder die Ansiedlung ei-
        ner hochrangigen europäischen Organisation als Zeichen
        der Integration von West- und Mittelosteuropa. Diese Vor-
        schläge sind geeignet, an diesem Ort Landes-, Bundes-
        und Europafunktionen gleichermaßen zur Geltung zu
        bringen. Der Schlossplatz muss ein öffentlicher Ort blei-
        ben. Er darf nicht privatisiert werden. Von einem Verkauf
        oder einer Überlassung der Grundstücke an Private halte
        ich von daher gar nichts.
        Wenn für die Nutzungsziele ein stimmiges Konzept er-
        arbeitet ist, kann auf tragfähiger Basis über die Gestaltung
        neu nachgedacht und ein Architekturwettbewerb durch-
        geführt werden. Dieser sollte ebenso offen sein für eine
        Modernisierung von Teilen des Palastes wie für eine Teil-
        rekonstruktion des Schlosses. Die vielen Entwürfe, die es
        bereits gibt, zeigen, dass die Gestaltung immer dann an
        Spannung gewinnt, wenn den Brüchen der Vergangenheit
        Reverenz erwiesen und gleichzeitig Raum für Zukunft
        geöffnet wird. Ich will der Arbeit der Schlossplatzkom-
        mission nicht vorgreifen: Aber ich denke, eine Architek-
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012294
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        tur und eine Gestaltung des öffentlichen Raumes, der es
        gelingt, die preußische Geschichte und die DDR-Ge-
        schichte sichtbar werden zu lassen, ohne sie nur nachzu-
        bauen und die gleichzeitig eine neue, zeitgemäße Gestal-
        tung und Nutzung für diesen zentralen Ort der Stadt
        Berlin findet, ist eine Herausforderung, der sich Politik,
        Bürger und Architektur stellen sollten.
        Wenn Teile des Schlosses rekonstruiert werden sollen,
        dann muss sich unsere Gesellschaft – und insbesondere
        die Berliner Stadtgesellschaft – dieser schwierigen Auf-
        gabe in würdiger Weise stellen. Es darf nicht um auf Be-
        ton geschraubten Kulissenbau über der Tiefgarage gehen.
        Dann müssen nach dem Vorbild der Dresdner Frauenkir-
        che eine Stiftung gegründet werden und eine Bauhütte ge-
        gründet werden, die die verschüttete Baukultur und das
        verlernte Kunsthandwerk in seinen vielen Facetten neu
        belebt. Dafür müssen dann sicher auch in großem Umfang
        Spenden geworben werden, eine Art neues „Mäzenaten-
        tum“ begründet werden.
        Wir sollten es uns selbst nicht zu einfach machen – es
        geht nicht um Fassaden; es geht um eine lebendige und
        würdige Nutzung; es geht um eine Gestaltung, die der Ge-
        schichte des Ortes gerecht wird, ohne Brüche zu übertün-
        chen, und nicht zuletzt um Wege, wie sich die Stadtge-
        sellschaft diesen Ort wieder aneignet.
        Dr. Günter Rexrodt (F.D.P.): Die F.D.P.-Bundestags-
        fraktion begrüßt es außerordentlich, wenn sich die Kolle-
        gen von CDU/CSU unserem Antrag zum Wiederaufbau
        des Berliner Stadtschlosses heute offiziell anschließen.
        Sie alle wissen, dass der F.D.P.-Antrag zur Rekon-
        struktion des Hohenzollernschlosses schon seit dem
        Herbst des vergangenen Jahres dem Parlament bzw. dem
        Kulturausschuss zur Diskussion vorliegt.
        Seither ist leider so gut wie nichts geschehen. Zwar ha-
        ben mittlerweile Bündnis 90/Die Grünen in Gestalt Frau
        Vollmers in dankenswerter Weise das Vorhaben der Libe-
        ralen, die alte Mitte Berlins wiedererstehen zu lassen, be-
        fürwortet. Doch von der SPD-Fraktion ist nichts zu hören.
        Wie es diesem Kanzler und dieser Regierung eigen ist
        und ihr Tun hauptsächlich charakterisiert, hat Herr
        Schröder – im Schlepptau: Staatsminister Naumann –
        wieder einmal eine Kommission eingesetzt. Richtiger-
        weise müsste ich sagen: Er hat beschlossen, eine Kom-
        mission einzusetzen – und das übrigens bereits im Früh-
        jahr dieses Jahres. Die Umsetzung dieses Beschlusses
        steht allerdings noch aus.
        Das wenige, was man dazu aus dem Bundesbauminis-
        terium, das sich in dieser Angelegenheit als wenig koope-
        rativ erweist, hört, ist erschreckend: In nahezu entwürdi-
        gender Weise wird um die zu berufenden Personen
        politisch geschachert. Da soll beispielsweise die Frauen-
        quote wichtiger sein als Sachkenntnis. Da werden Namen
        von Personen in den Medien genannt, die zuvor überhaupt
        nicht gefragt worden sind und deshalb jetzt dankend ab-
        lehnen. Ich frage hier öffentlich: Ist das Verzö-
        gerungstaktik oder Dilettantismus?
        Die F.D.P.-Bundestagsfraktion war von Anfang an ge-
        gen die Berufung dieser Kommission. Sie ist weder sinn-
        voll noch zielführend. Denn am Ende wird sie weder das
        Recht noch die Pflicht haben, die Entscheidung über den
        Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses zu treffen.
        Diese Entscheidung ist einzig und allein Sache des Parla-
        ments. Sie, meine Damen und Herrn auf den Regierungs-
        bänken, können eine Kommission nach der anderen ein-
        setzen. Das Entscheidungsrecht werden Sie deshalb nicht
        an sich ziehen können. In dieser so wichtigen Frage müs-
        sen die Abgeordneten selbst Farbe bekennen. Denn es
        geht um nicht weniger als um ein Bekenntnis des Deut-
        schen Bundestages zur deutschen Geschichte im Be-
        wusstsein der Herausforderung der Zukunft.
        Anlage 6
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit
        der Wirtschaftsprüfer (Wirtschaftsprüferord-
        nungs-Änderungsgesetz – WPOÄG) (Zusatzta-
        gesordnungspunkt 13)
        Dr. Rainer Wend (SPD): Wir beraten heute über das
        Gesetz zur Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit
        der Wirtschaftsprüfer, das nicht nur von den Fachverbän-
        den begrüßt wurde, sondern auch im Ausschuss für Wirt-
        schaft und Technologie einstimmig beschlossen wurde.
        Damit tragen wir der Internationalisierung der Märkte in
        sinnvoller Weise Rechnung und etablieren internationale
        Standards. Insgesamt wurde die Wirtschaftsprüferord-
        nung durchforstet, um sie an die Erfordernisse einer sich
        verändernden Realität anzupassen. Zudem bedarf die Ein-
        führung des Euro einer Regelung.
        Kernpunkt des Änderungsgesetzes ist die dringend
        notwendige Sicherung von Qualitätsstandards deutscher
        Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, um die internationale
        Konkurrenzfähigkeit dieser Gesellschaften noch weiter
        zu stärken. Die Internationalisierung der Märkte macht
        auch und gerade vor den Wirtschaftsprüfern in Deutsch-
        land nicht Halt. Qualitätssicherung ist hier ein wichtiges
        Stichwort. In den USAbereits seit Jahren praktiziert, wur-
        den ähnliche Instrumente auch in vielen europäischen
        Ländern bereits etabliert. In Deutschland fehlte bisher ein
        adäquates Instrument. Im Rahmen der Verflechtung der
        Kapitalmärkte ist die internationale Wettbewerbsfähigkeit
        der deutschen Wirtschaftsprüfergesellschaften immer un-
        erlässlicher.
        Mit dem vorliegenden Gesetz wird das Berufsrecht der
        Wirtschaftsprüfer und der vereidigten Buchprüfer in die-
        sem Sinne weiterentwickelt. So wird eine obligatorische
        Qualitätskontrolle für alle Berufsangehörigen eingeführt,
        die gesetzliche Abschlussprüfungen durchführen. Die
        vorgesehene externe Qualitätskontrolle, die so genannte
        Peer Review, basiert auf der regelmäßig, alle drei Jahre
        durchgeführten Kontrolle der Praxis durch einen anderen,
        unabhängigen Wirtschaftsprüfer. Bei Beanstandungen
        kann zukünftig ein Qualitätskontrollbeirat der Wirt-
        schaftsprüferkammer Maßnahmen ergreifen, wie zum
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12295
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        Beispiel Sonderprüfungen. Dies Vorgehen entspricht in-
        ternationalen Standards und erhöht damit die Konkur-
        renzfähigkeit der deutschen Wirtschaftsprüfergesell-
        schaften deutlich.
        Um die Notwendigkeit der Anpassung an internatio-
        nale Gegebenheiten nochmals zu verdeutlichen: Auch
        deutsche Unternehmen nutzen zunehmend Finanzierungs-
        möglichkeiten internationaler, insbesondere US-amerika-
        nischer Kapitalmärkte. Die amerikanische Börsenaufsicht
        akzeptiert aber Abschlussprüfer nur dann, wenn sie an ei-
        nem anerkannten System der Qualitätskontrolle teilneh-
        men. Das hat bisher durchaus zu Problemen für deutsche
        Wirtschaftsprüfergesellschaften geführt. Nicht wenige
        haben Klienten an größere Gesellschaften, die internatio-
        nale Standards adaptiert hatten, verloren.
        Die Novelle soll auch einen Beitrag zur Verschlankung
        der staatlichen Verwaltung leisten. Bürokratie soll, wo
        sinnvoll, abgebaut werden. Das Gesetz sieht dementspre-
        chend eine Übertragung von Zulassungsaufgaben sowie
        die Aufsicht über die Berufsangehörigen und Berufsge-
        sellschaften von den obersten Landesbehörden auf die
        Wirtschaftsprüferkammer vor. Hierdurch wird ein Beitrag
        zum Abbau von Bürokratie und zur Straffung von Ver-
        waltungsverfahren geleistet. Doppelzuständigkeiten ent-
        fallen. Zeitgleich bedeutet die Verantwortungsübergabe
        an die Selbstverwaltungsorgane der Wirtschaftsprüfer
        eine Stärkung ihrer Stellung. Nach dem Grundsatz der
        Verantwortungsdelegation sollen die Länder die Möglich-
        keit haben, für sich Regelungen zu finden, die im Ein-
        klang mit ihren Verwaltungsmodernisierungen stehen;
        denn auch hier soll der sinnvolle Abbau von Bürokratie
        unterstützt werden, um Spielraum für moderne, flexiblere
        Verwaltungsapparate zu lassen.
        Zusammenfassend sei festgestellt, dass eine längst
        überfällige Reform des Berufsrechts der Wirtschaftsprü-
        fer von der neuen Koalition endlich angepackt wurde. Wir
        freuen uns über die Unterstützung der Oppositionspar-
        teien und sind überzeugt, dass wir damit einen wichtigen
        Berufsstand unseres Landes in einer globalisierten Wirt-
        schaft deutlich gestärkt haben.
        Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Der vorliegende
        Gesetzentwurf soll das Berufsrecht der Wirtschaftsprüfer
        und der vereidigten Buchprüfer an die Veränderungen im
        beruflichen Umfeld anpassen. Die massiven und schnel-
        len Veränderungen in der Wirtschaft in Zeiten der Globa-
        lisierung machen dies erforderlich. Oberstes Ziel muss
        dabei sein, die Qualität der Berufsausübung und die Wett-
        bewerbsfähigkeit des Berufsstandes zu erhalten und wei-
        ter zu stärken. Dies wird durch die Einführung einer Qua-
        litätskontrolle, wie es sie seit vielen Jahren in den USA
        und zwischenzeitlich auch in den meisten europäischen
        Staaten gibt, erreicht.
        Die beim Vollzug der Wirtschaftsprüferordnung beste-
        henden Doppelzuständigkeiten von obersten Landes-
        behörden für Wirtschaft und der Wirtschaftsprüferkam-
        mern werden beseitigt und das Verwaltungsverfahren
        vereinfacht. Als Beitrag zur Entbürokratisierung ist dies
        ein begrüßenswerter Ansatz.
        Der Gesetzentwurf wurde im Bund-Länder-Ausschuss
        „Wirtschaftliches Prüfungs- und Beratungswesen“ ohne
        Differenzpunkte beraten. Der Bundesrat hat die Bundes-
        regierung aufgefordert, auch im Hinblick auf das genos-
        senschaftliche Prüfungssystem eine obligatorische Kon-
        trolle einzuführen. Hierzu laufen bereits konsensuale
        Gespräche zwischen dem Bundesministerium der Justiz
        und dem Genossenschaftsverband, sodass diese Punkte
        im Zuge der Novelle des Genossenschaftsgesetzes umge-
        setzt werden können.
        Die Haltung der Betroffenen zum vorliegenden Ge-
        setzentwurf ist eindeutig: Die Berufsverbände und die
        Wirtschaftsprüferkammer sind mit einer berufsständi-
        schen gegenüber einer staatlichen Qualitätskontrolle ein-
        verstanden. Das neue System stärkt das Vertrauen der Öf-
        fentlichkeit in ihre Arbeit. Die Übertragung der Zuständigkeit
        für die Bestellung von Wirtschaftsprüfern und der Aner-
        kennung von Wirtschaftsprüfungsgesellschaften auf die
        Kammer entspricht ebenfalls einem bereits seit langem
        geäußerten Wunsch.
        Die Einführung der obligatorischen Qualitätskontrolle
        im Rahmen dieser 4. WPO-Novelle ist aus wirtschaftspo-
        litischer Sicht dringend geboten gewesen. Die rasante
        Globalisierung der Wirtschaft und die damit einherge-
        hende Internationalisierung des Prüfungsmarktes erzeu-
        gen einen Harmonisierungsdruck hin zu international gül-
        tigen Qualitätsstandards für Prüfungsgesellschaften,
        denen sich Deutschland nicht länger entziehen konnte.
        Die amerikanischen Börsen verlangen von den bei ihnen
        notierten Unternehmen ein entsprechendes System der
        Qualitätskontrolle. Ohne es können deutsche Unterneh-
        men die Möglichkeiten der Kapitalbeschaffung auf den
        US-Finanzmärkten schwerer nutzen. Der internationale
        Berufsverband und nicht zuletzt die entsprechenden Gre-
        mien der Europäischen Kommission drängen seit langem
        darauf. Die Union begrüßt daher ausdrücklich den vorlie-
        genden Gesetzentwurf als Beitrag zur Steigerung der
        Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands.
        Abschließend einige kritische Anmerkungen zum Ge-
        setzgebungsverfahren in Richtung der Regierungskoali-
        tion; dies ist gerade vor dem Hintergrund eines übergrei-
        fenden fachlichen Konsenses in der Sache selbst aus
        unserer Sicht ärgerlich und unschön. Ich meine dabei
        nicht redaktionelle Änderungen, für die wir alle vollstes
        Verständnis haben. Es stimmt aber bedenklich, wenn die
        rot-grüne Fraktion im Stile einer Überrumpelungstaktik
        durch plötzliche Tischvorlagen im Wirtschaftsausschuss
        Änderungen herbeiführt, mit denen sie im Vorfeld auf
        Länderseite mehrfach gescheitert ist. Ich meine die Dele-
        gationsermächtigung. Dieses alleinige Anliegen des Lan-
        des Nordrhein-Westfalen ist zuvor in allen Gremien stets
        zurückgewiesen worden, zuletzt im Wirtschaftsausschuss
        des Bundesrates. Zur Begründung wurde jeweils ange-
        führt, dass die Frage einer Delegation der Prüfungszu-
        ständigkeit zusammen mit der Neuordnung der Wirt-
        schaftsprüferprüfung in einer 5. WPO-Novelle geregelt
        und die gegenwärtige Novelle nicht mit dieser strittigen
        Frage belastet werden sollte. Das Inkrafttreten der 4.
        WPO-Novelle, das wegen der Einführung des Peer Re-
        view eilbedürftig ist, sollte im Hinblick auf eventuelle
        Einwendungen des Bundesrates in dieser Frage nicht ver-
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012296
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        zögert werden. Schließlich wendet sich auch der Berufs-
        stand, also Wirtschaftsprüferkammer und IDW, bisher
        massiv gegen die Delegationsklausel. Nun ist diese Än-
        derung doch noch durch taktisches Spiel gegen den er-
        klärten Willen des Berufsstandes und ohne eingehende
        Diskussion quasi hinter unserem Rücken erfolgt, mit dem
        sich wohl erfüllenden Kalkül, dass die Länder deshalb
        jetzt nicht noch den Vermittlungsausschuss anrufen wer-
        den.
        Auch die in einem Schnellschuss eines Kollegen der
        SPD-Fraktion fast eingebrachte 16-Stunden-Regelung
        stieß nur bei einem Teil des Berufsstandes auf Zustim-
        mung und ist nun wieder vom Tisch. Das hat uns bei ei-
        nem eilbedürftigen Gesetz zwei Wochen Verzögerung ge-
        kostet. Dies ist unnötig und vermeidbar. Ein solches
        Vorgehen ist ein unschöner Beigeschmack, auf den wir
        gerne verzichtet hätten. Mehr Geradlinigkeit, einen aus-
        reichenden Vorlauf bei substanziellen Änderungsanträgen
        und rechtzeitige fachliche Klärung mit den Betroffenen
        auch in Einzelfragen würden wir in Zukunft sehr be-
        grüßen.
        Dem Gesetzentwurf der Bundesregierung in der Fas-
        sung der vorgelegten Änderungsanträge der Koalitions-
        fraktionen stimmen wir zu.
        Margareta Wolf (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN): Mit dem hier zur Beratung vorliegenden Ge-
        setz zur Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit der
        Wirtschaftsprüfer erhöhen wir die Qualität der Berufsaus-
        übung und stärken das Vertrauen der Öffentlichkeit in die
        Arbeit der Wirtschaftsprüfer.
        Wir verfolgen dabei insbesondere folgende drei Ziele:
        Erstens: Verbesserung des Systems der Qualitätskon-
        trolle vor dem Hintergrund der Diskussion über eine ver-
        besserte Unternehmensaufsicht, der so genannten Cor-
        porate Governance. Die Rolle der Wirtschaftsprüfer im
        Fall Holzmann macht die Notwendigkeit einer weiteren
        Reform deutlich.
        Zweitens: Angleichung an die Vorschriften der USA,
        um Wettbewerbsnachteile deutscher Wirtschaftsprüfer
        aufzuheben. Die rasche Einführung einer Qualitätskon-
        trolle ist notwendig, denn deutsche Unternehmen nutzen
        zunehmend die Finanzierungsmöglichkeiten internatio-
        naler, vor allem US-amerikanischer, Kapitalmärkte. Ab-
        schlussprüfer werden beispielsweise von der amerikani-
        schen Börsenaufsichtsbehörde aber nur dann akzeptiert,
        wenn sie an einem anerkannten System der Qualitäts-
        kontrolle teilnehmen.
        Drittens: Straffung des Vollzugs der Wirtschaftsprüfer-
        ordnung zwischen Landesbehörden und Kammern.
        Die herausragendste Änderung ist die Einführung einer
        externen Qualitätskontrolle. Wirtschaftsprüfer, die ge-
        setzliche Abschlussprüfungen durchführen, müssen nun
        ihre Praxis alle drei Jahre durch einen anderen unab-
        hängigen Wirtschaftsprüfer prüfen lassen. Dieses ist die
        so genannte Peer Review. Bei Beanstandungen kann ein
        Qualitätskontrollbeirat der Wirtschaftsprüferkammer
        Maßnahmen ergreifen, beispielsweise eine Sonderprü-
        fung anordnen oder Auflagen zur Mängelbeseitigung er-
        teilen. Das Gesetz sieht ferner die Übertragung von Zu-
        lassungsaufgaben von den obersten Landesbehörden auf
        die Wirtschaftsprüferkammer vor. Hierdurch werden Ver-
        waltungsverfahren gestrafft und ein Beitrag zum Abbau
        von Bürokratie geleistet.
        Die einstimmige Zustimmung aller Parteien im Aus-
        schuss beweist die Richtigkeit dieses Gesetzesvorhabens.
        Trotzdem gibt es noch viel zu tun. Es bedarf in Bezug auf
        die Zielsetzung der Verbesserung der Corporate Gover-
        nance noch weiterer Änderungen, die im Rahmen der
        Kommission „Corporate Government“ beim Kanzleramt
        diskutiert werden müssen. Hier gibt es beispielsweise
        Forderungen, eine nach britischem Vorbild vom Peer-Re-
        view-System getrennte Instanz – ein so genanntes
        Board – einzurichten, die sich in Trägerschaft der Wirt-
        schaftsprüferkammer befindet und durch Berufsange-
        hörige und sachverständige Dritte besetzt sein und auf
        Antrag oder bei öffentlicher Diskussion tätig werden
        sollte.
        Nicht zuletzt der Fall Holzmann hat deutlich gemacht:
        Die Corporate Governance, die Unternehmensaufsicht, in
        Deutschland ist nicht ausreichend. Im Rahmen der Cor-
        porate Governance haben die Wirtschaftsprüfer eine
        wichtige Funktion. Von ihrer Arbeit hängt beispielweise
        die Wirksamkeit der Arbeit des Aufsichtsrates ab. Die
        Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten von Aufsichtsräten
        sind bisher aber zu gering und wurden in einzelnen Fällen
        sträflich vernachlässigt. Um die Kontrollmöglichkeiten
        zu verbessern, sind einschneidende Änderungen erforder-
        lich, denn die Forderungen nach ausreichender Kontrolle
        durch Aufsichtsrat und Hauptversammlung sind wesentli-
        che Voraussetzungen für die Schaffung einer neuen Akti-
        enkultur in Deutschland. Anleger müssen sich an den
        Wertpapiermärkten in einem fairen, sicheren und durch-
        schaubaren Umfeld engagieren können. Unter dem Druck
        der internationalen Kapitalmärkte müssen deutsche Un-
        ternehmen die Qualität ihrer Corporate Governance, das
        Zusammenspiel von Gesetzen, Verordnungen und freiwil-
        ligen Praktiken, verbessern.
        Wirksame Corporate Governance zeichnet sich aus
        durch Transparenz über wichtige Finanz- und Betriebs-
        informationen, den Schutz und die Durchsetzbarkeit der
        Rechte aller Shareholder und Aufsichtsgremien, die fähig
        sind, Unternehmensstrategien ebenso wie wichtige Ge-
        schäftspläne und -entscheidungen unabhängig zu ge-
        nehmigen, Gremien, die weiter in der Lage sind, das nach
        objektiven Kriterien ausgewählte Management selbst-
        ständig einzustellen, dessen Performance und Integrität
        zu überwachen und allenfalls die Mitglieder der Unter-
        nehmensleitung zu ersetzen. Zweifellos stehen das Ver-
        trauen der Arbeitnehmer und der Investoren sowie der Ruf
        der einzelnen Unternehmen in engem Zusammenhang mit
        den Corporate-Governance-Praktiken.
        Ebenso wichtig für das Vertrauen der Investoren in die
        Aktienmärkte, auf denen sich die Unternehmen mit Kapi-
        tal versorgen, ist jedoch die Qualität des wirtschaftlichen
        und politischen Umfeldes und das im jeweiligen Land üb-
        liche Regelwerk der Corporate Governance. Verbesserte
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12297
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        Corporate Governance in Deutschland schafft die Vo-
        raussetzungen zum Erhalt von Arbeitsplätzen im welt-
        weiten Wettbewerb durch eine Stärkung des Vertrauens
        der Investoren, Förderung der Kapitalbildung und der
        Entwicklung aktiver Aktienmärkte sowie Erleichterung
        des Zugangs der Unternehmen zu Kapital zu weltweit
        wettbewerbsfähigen Bedingungen.
        Rainer Funke (F.D.P.): Der vorliegende Entwurf des
        Wirtschaftsprüfer-Änderungsgesetzes beweist einmal
        wieder, dass auch Gesetze wie guter Wein reifen müssen.
        Als wir noch zu den Beratungen des KonTraG einen Peer-
        review vorsehen wollten, wurde dies von den Berufsver-
        bänden der Wirtschaftsprüfer entschieden abgelehnt, weil
        sie der Auffassung waren, dass durch interne Qualitäts-
        sicherungen der Wirtschaftsprüfergesellschaften eine
        ausreichende Qualitätskontrolle gesichert werden könne.
        Ich war schon damals sehr skeptisch, aber solche Bestim-
        mungen der Qualitätssicherungen gegen den Berufsstand
        durchzusetzen, ist auch nicht hilfreich. Ich begrüße es da-
        her sehr, dass die Wirtschaftsprüferverbände inzwischen
        dem vorliegenden Gesetz zustimmen. Zwischenzeitlich
        hat sich auch international die Erkenntnis durchgesetzt,
        dass die traditionellen Qualitätssicherungsmaßnahmen
        durch eine externe Qualitätskontrolle zu ergänzen sind.
        Ich begrüße auch, dass die Qualitätskontrolle durch die
        Wirtschaftsprüferkammern vorgenommen wird, dies ent-
        spricht unseren grundsätzlichen Bemühungen, das Subsi-
        diaritätsprinzip einzuhalten. Damit zeigen auch die freien
        Berufe, insbesondere in ihren verkammerten Bereich,
        dass sie ihre eigenen Angelegenheiten auch in die eigenen
        Hände nehmen können. Der Staat soll nur das an Aufga-
        ben übernehmen, was die Kammern nicht erledigen kön-
        nen. Mit dieser Qualitätskontrolle wird man sicherlich
        präventiv viel erreichen können. Aber sicherlich nicht,
        dass Insolvenzen und betrügerische Bilanzmanipulatio-
        nen verschwinden. Zur Aufdeckung solcher Manipulatio-
        nen muss auch wegen der Globalisierung unserer Wirt-
        schaft das Auge des eigentlichen Wirtschaftsprüfers noch
        stärker geschärft werden, deswegen muss das Ziel für den
        wirtschaftsprüfenden Bereich die erstklassige Ausbildung
        und die ständige Fortbildung der Wirtschaftsprüfer sein.
        Nur so werden wir auch weltweit einen angesehenen Stan-
        dard halten können.
        Rolf Kutzmutz (PDS): Die PDS stimmt dem Gesetz-
        entwurf insbesondere aus vier Gründen zu:
        Erstens. Erstmals wird in Deutschland die externe
        „Qualitätsprüfung“ von Wirtschaftsprüfern vorgeschrie-
        ben – in der EU gab es das ansonsten nur noch in Öster-
        reich nicht.
        Zweitens. Diese Qualitätsprüfung – ebenso wie nun
        auch die Zulassungsprüfung – wird zumindest mittelfris-
        tig den bestehenden Wirtschaftsprüferkammern adminis-
        trativ zugeordnet.
        Drittens. Die Transparenz des Berufsregisters wird ver-
        bessert, indem dort mehr aussagefähige Angaben zu den
        Wirtschaftsprüfern als bisher aufgenommen werden.
        Viertens. Das Berufsrecht soll in aus unserer Sicht
        durchaus sinnvoller Weise gelockert werden, indem
        Rechtsanwälte qua Gesetz – bisher mit Ausnahmegeneh-
        migung – Chefs von Wirtschaftsprüfungsfirmen sein
        dürfen, ausländische Rechts-/Patentanwälte und Steuer-
        berater mit Ausnahmegenehmigung Chefs von Wirt-
        schaftsprüfungsfirmen sein sollen, ausländische Wirt-
        schaftsprüfer etc. Gesellschafter in deutschen Firmen
        werden können.
        Insbesondere die beiden erstgenannten Ziele korres-
        pondieren mit PDS-Grundpositionen: Eine externe Qua-
        litätsprüfung – wenngleich sie zunächst nur für Prüfer
        börsennotierter Unternehmen bindend sein soll – er-
        scheint angesichts der Vielzahl auch für die öffentliche
        Hand teuren Wirtschaftsskandale – von Vulkan bis Holz-
        mann –, an denen stets falsche oder zumindest missver-
        ständliche Testate von Wirtschaftsprüfern beteiligt waren,
        überfällig. Ob sich die vorgesehene Lösung bewährt, kann
        natürlich erst die Praxis zeigen. Das Prüfinstrumentarium
        über die Kammern erscheint keineswegs missbrauchsan-
        fälliger, als es zum Beispiel eine Prüfung durch staatliche
        Stellen wäre. Zugleich wird damit der aus unserer Sicht
        richtige Weg fortgesetzt, Aufgaben in die Hände der
        Selbstverwaltungsorganisation der Betroffenen zu legen
        und damit auch die Legitimität von Pflichtmitglied-
        schafts-Organisationen der Wirtschaft zu stärken.
        Gleichzeitig möchten wir der Bundesregierung ans
        Herz legen, den Vorschlag des Bundesrates bald umzuset-
        zen, auch für genossenschaftliche Wirtschaftsprüfungs-
        verbände ein System obligatorischer Qualitätskontrolle
        einzuführen. Schließlich ist es in der Wirkung nun egal,
        wo ein Wirtschaftsprüfer angebunden ist, wenn er
        „pfuscht“.
        Siegmar Mosdorf, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
        minister für Wirtschaft und Technologie: Die Bundesre-
        gierung hat am 12. April dieses Jahres das Gesetz zur Än-
        derung von Vorschriften über die Tätigkeit der
        Wirtschaftsprüfer beschlossen, mit dem entscheidende
        Weichen für die Zukunftsfähigkeit des Berufsstands ge-
        stellt werden.
        Wesentliche Neuerung ist die Einführung einer obliga-
        torischen Qualitätskontrolle für alle Wirtschaftsprüfer, die
        die gesetzlich vorgeschriebene Abschlussprüfung durch-
        führen.
        Das neue System, das internationalem Standard voll
        entspricht, wird die internationale Wettbewerbsfähigkeit
        der Wirtschaftsprüfer und das Vertrauen der Öffentlich-
        keit in ihre Arbeit stärken.
        Wie sehr wir mit diesem Gesetz am Puls der Zeit liegen,
        zeigt die überwältigende Zustimmung, die der Gesetzent-
        wurf über alle Parteigrenzen hinweg im Wirtschaftsaus-
        schuss erfahren hat.
        Kernstück des Gesetzentwurfs ist die Einführung einer
        externen Qualitätskontrolle für Wirtschaftsprüfer und ver-
        eidigte Buchprüfer, die den internationalen Anforderun-
        gen entspricht. Bereits 1997/98 bei den Beratungen zum
        Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unterneh-
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012298
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        mensbereich war diese Forderung vereinzelt erhoben, von
        der damaligen Regierung aber nicht aufgegriffen worden.
        Heute sind wir uns in allen Parteien, aber auch mit dem
        Berufsstand und den Ländern einig, dass es dieser Ergän-
        zung des Berufsrechts dringend bedarf, und zwar zu-
        nächst, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit des
        Berufsstands und der Wirtschaft insgesamt zu sichern.
        In vielen westlichen Industrienationen sind in den letz-
        ten Jahren Systeme einer externen Qualitätskontrolle für
        Wirtschaftsprüfer eingeführt worden. Die wichtigen ame-
        rikanischen Börsen schreiben mittlerweile vor, dass der
        Abschlussprüfer eines bei ihnen notierten Unternehmens
        einem entsprechenden System der Qualitätskontrolle un-
        terliegen muss. Damit deutsche Unternehmen die Mög-
        lichkeiten der Kapitalbeschaffung in den USA nutzen
        können, ist die Einführung der Qualitätskontrolle erfor-
        derlich.
        Auch die Europäische Kommission ist der Auffassung,
        dass eine Qualitätskontrolle bei Wirtschaftsprüfern der
        Sicherung einer hochwertigen Berufsausübung dient. Sie
        wird daher in Kürze den Mitgliedstaaten die zügige Ein-
        führung derartiger Konzepte empfehlen und schließt mit-
        telfristig den Erlass einer entsprechenden Richtlinie nicht
        mehr aus. Mit unserer Initiative greifen wir diese Ent-
        wicklungen frühzeitig auf.
        Die Qualitätskontrolle wird aber auch dazu beitragen,
        das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Arbeit der Wirt-
        schaftsprüfer zu festigen. Sie ist ein erster und wichtiger
        Schritt zur Verbesserung der Unternehmenskontrolle.
        Darüber hinaus hat der Bundeskanzler zu Fragen der
        Corporate Governance eine hochrangige Expertenkom-
        mission berufen, die ein umfassendes Konzept vorlegen
        soll. Hierzu werden bald konkrete Vorschläge vorliegen,
        die dann von der Bundesregierung zu bewerten und gege-
        benenfalls umzusetzen sind.
        In das neue System der Qualitätskontrolle werden alle
        Wirtschaftsprüfer einbezogen, die gesetzliche Abschluss-
        prüfungen durchführen. Die Einbeziehung aller gesetzli-
        chen Abschlussprüfungen in die Qualitätskontrolle ist aus
        Sicht der Bundesregierung erforderlich, um die Wettbe-
        werbsfähigkeit, gerade des Mittelstandes, zu erhalten.
        Um den Wirtschaftsprüfungspraxen die notwendige
        Umstellung zu ermöglichen, erfolgt die Einführung in
        mehreren Stufen: Praxen mit börsennotierten Mandanten
        müssen eine erste Prüfung bis Ende 2002 durchgeführt
        haben. Für alle anderen Praxen besteht eine Über-
        gangsfrist bis Ende 2005. Parallel dazu steht die freiwil-
        lige Teilnahme am System jedem Berufsangehörigen of-
        fen.
        Zwei weitere wichtige Neuerungen des Gesetz-
        entwurfs möchte ich noch kurz erwähnen: zum einen die
        Übertragung von Aufgaben im Bereich der Berufszulas-
        sung von den Landesbehörden auf die Wirtschaftsprüfer-
        kammer.
        Derzeit bestehen bei der Bestellung von Wirt-
        schaftsprüfern und der Anerkennung von Wirtschaftsprü-
        fungsgesellschaften sowie bei ihrer Überwachung paral-
        lele Zuständigkeiten von Landesministerien und der
        Wirtschaftsprüferkammer. Die Straffung des Verwaltungs-
        verfahrens und die Übertragung von Aufgaben werden zu
        einer erheblichen Entlastung bei der Landesverwaltung
        führen und bedeuten einen weiteren Schritt zum Abbau
        von Bürokratie.
        Dies liegt auf der Linie des kürzlich von Bundestag und
        Bundesrat beschlossenen 7. Steuerberatungsänderungs-
        gesetzes, mit dem ebenfalls Aufgaben der Berufszulas-
        sung auf Selbstverwaltungsorgane übertragen wurden.
        Zum anderen haben die Bundestagsausschüsse be-
        schlossen, die praktischen Ausbildungszeiten zum Wirt-
        schaftsprüfer um ein Jahr zu verkürzen. Die Bundesregie-
        rung begrüßt dies ausdrücklich. Mit dieser Straffung der
        Ausbildungsdauer wird ein wesentliches Hindernis bei
        der Gewinnung von Nachwuchs im Berufsstand beseitigt.
        Zudem wird damit – unter Wahrung des hohen Qualitäts-
        niveaus der Ausbildung – eine Angleichung der Ausbil-
        dungsdauer an das international übliche Maß erreicht.
        Auch dies wird die Position der deutschen Wirtschafts-
        prüfungsgesellschaften im internationalen Wettbewerb
        festigen.
        Die Förderung der internationalen Wettbewerbsfähig-
        keit, die Sicherung eines hohen Qualitätsniveaus und die
        Stärkung der Selbstverwaltung sind für mich Kernbe-
        standteile einer innovativen Mittelstands- und Freiberufs-
        politik. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sind wir auf
        einem guten Weg.
        Anlage 7
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Ziele für die Qua-
        litätssteigerung in der Diabetes-Versorgung (Ta-
        gesordnungspunkt 16)
        Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD): Es ist heut-
        zutage selten, dass man für ein gesundheitspolitisches
        Projekt Lob bekommt. Es ist noch seltener, dass man für
        das gleiche Projekt Lob von allen Seiten erhält. Umso be-
        dauerlicher ist es, dass in der parlamentarischen Arbeit der
        Stellenwert des Zukunftsprojektes Diabetes noch nicht so
        erkannt worden ist. Dies sieht man an dem zweistelligen
        Tagesordnungspunkt.
        Umso beachtlicher ist es, wenn der wissenschaftliche
        Leiter des Deutschen Diabetes-Forschungszentrums, der
        Vertreter der St.-Vincent-Initiative der WHO und der In-
        ternationalen Diabetes-Federation, die ja Laien mit
        einschließt, Herr Prof. Dr. Werner Scherbaum, mir und
        der SPD gratuliert, dass es zu dem Projekt gekommen ist,
        dieses Papier aufzustellen, das er mit allem Nachdruck
        von fachlich-inhaltlicher Seite unterstützt. Noch gewich-
        tiger ist das Lob aus dem Kreis der Betroffenen, von dem
        stellvertretenden Vorsitzenden der größten deutschen Be-
        troffenenorganisation, dem Deutschen Diabetiker-Bund,
        Volker Krempel, der die Initiative nicht nur befürwortet,
        sondern nachdrücklich unterstützt.
        Aber nicht nur Ärzteschaft und Betroffene sehen das
        so, auch aus dem Kreis der gesetzlichen Krankenversi-
        cherung äußert sich Herr Dr. Rolf Hoberg, der stellvertre-
        tende Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes:
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12299
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        Wir stehen jetzt vor dem Durchbruch. Darum begrüßen
        wir diese Initiative sehr, die hier von der SPD und von
        Herrn Schmidbauer ergriffen worden ist, dass wir hin-
        kommen zu einer leitlinienorientierten Versorgung von
        Diabeteskranken, und dieses flächendeckend.
        Ich zitiere auch Prof. Dr. Karl Lauterbach, Mitglied des
        Sachverständigenrates des BMG: Der Sachverständigen-
        rat begrüßt ausdrücklich die heute vorgetragene Initiative.
        Sie entspricht Forderungen, die vom Sachverständigenrat
        immer wieder gestellt werden, die aber bisher trotz stän-
        diger Wiederholungen wenig – in den letzten zehn Jahren
        im Prinzip – Beachtung gefunden haben. Dies betrifft
        zum einen die Definition ganz konkreter Versorgungs-
        ziele, indikationsspezifischer, konkreter Versorgungs-
        ziele, wie es hier geleistet wird. Zum Zweiten wird von
        uns die leitlinienkonforme Therapie gefordert. Evidenz-
        basierte Leitlinien sollen im Vordergrund stehen, weil de-
        ren Wirksamkeit für die Verbesserung der Versorgung be-
        legt ist.
        Das Lob tut gut, aber entscheidend ist das Ziel, das wir
        mit der Qualitätssteigerung in der Diabetes-Versorgung
        erreichen wollen und erreichen werden. Mit dem auf die-
        sen Zielen aufbauenden Nationalen Aktionsplan Diabetes
        wollen wir ein rasches Ende der Leidensgeschichte von
        Diabetikern erreichen. Ich sage deswegen „Leidensge-
        schichte“, weil wir heute wissen, dass die durchschnittli-
        che Lebenserwartung von nicht gut eingestellten oder
        nicht eingestellten oder behandelten Diabetikerinnen und
        Diabetikern rund sieben Jahre niedriger ist.
        Mit den „Zielen für die Qualitätssteigerung in der Dia-
        betes-Versorgung“ wollen wir einen doppelten Paradig-
        menwechsel in Deutschland einleiten. Es ist ein doppelter
        Paradigmenwechsel, weil erstmals durch den Bundestag
        für eine Gruppe chronisch Kranker ein Rechtsanspruch
        auf eine patientenorientierte und qualitätsgesicherte Ver-
        sorgung eingefordert wird. Diesen Stellenwert haben die
        6 Millionen Betroffenen verdient, die Betroffenen der
        größten Volkskrankheit. Ich gehe davon aus, dass der
        Bundestag einhellig für diesen Rechtsanspruch auf eine
        patientenorientierte, qualitätsgesicherte Versorgung für
        chronisch kranke Menschen votiert.
        Der zweite Paradigmenwechsel, den wir damit in
        Deutschland einleiten, ist, dass der Bundestag erstmals in
        seiner Geschichte ein gesundheitspolitisches Ziel festlegt.
        Ein vorrangiges gesundheitspolitisches Ziel wird die
        Qualitätssteigerung in der Diabetes-Versorgung sein. Da-
        mit wird der Diabetes eine Pionierrolle bei der Versorgung
        chronisch kranker Menschen eingeräumt.
        Wenn dieses Zukunftsprojekt, dieser Nationale Akti-
        onsplan Diabetes, für die Betroffenen in die Tat umgesetzt
        wird, dann wird das eine Vorbildfunktion auch für andere
        Gruppen chronisch Kranker in der Bevölkerung haben.
        Die Zeit der bekennenden Sprechblasen zum Problem der
        Volkskrankheiten ist nicht mehr gefragt. Gefragt ist kon-
        kretes und verbindliches Handeln im Interesse 6 Milli-
        onen betroffener Bürgerinnen und Bürger. Die Ernsthaf-
        tigkeit unseres Zukunftsprojektes wird in der Koalition
        durch entsprechend verbindliches Handeln unterlegt oder
        bestätigt. Es genügt nicht, alleine ein Gesundheitsziel, ein
        vorrangiges Gesundheitsziel im Bundestag festzulegen.
        Das wird nur dann glaubwürdig, wenn damit verbindli-
        ches Handeln der Verantwortlichen und der Betroffenen
        verbunden wird.
        Ich möchte unser Zukunftsprojekt anhand von vier
        Punkten beschreiben.
        Erstens. Die klare Zielvorgabe wird Bestandteil der
        Beschlussfassung des Deutschen Bundestages. Dieses
        Ziel orientiert sich an der St.-Vincent-Deklaration, die elf
        Jahre alt ist. Die darin enthaltenen Ziele sind die Amputa-
        tionsrate bei Diabetes-Kranken um die Hälfte zu reduzie-
        ren, die Erblindungen um ein Drittel zurückzuführen,
        Nierenversagen um ein Drittel zu reduzieren – um nur ei-
        nige der wichtigsten Ziele zu nennen.
        Zweitens. Der Plan sorgt für die Bündelung, das Zu-
        sammenführen von Fachleuten und aller Kräfte. Im Ge-
        gensatz zu der Versorgungslage bei den Betroffenen ist
        die wissenschaftliche Basis in Deutschland sehr gut. Wir
        können im internationalen Konzert sehr gut mitspielen.
        Deswegen können wir auf einem profunden Fachwissen
        aufbauen. Diese Fülle von Fachwissen gilt es, jetzt zu-
        sammenzufassen, zu bewerten und daraus ein ganzheitli-
        ches Konzept zu machen. Deshalb ist es wichtig, dass eine
        Bündelung dieser Kräfte stattfindet und dass wir das Ver-
        zetteln, das Nebeneinanderher-Arbeiten in verschiedenen
        Aufgabenfeldern überwinden.
        Drittens. Dazu brauchen wir eine Moderatorenrolle,
        die Moderatorenrolle der Bundesregierung. Es freut mich
        ganz besonders, dass Frau Bundesministerin Andrea
        Fischer und auch Frau Staatssekretärin Christa Nickels
        aktiv die Rolle der Moderation in dieser Aufgabe über-
        nehmen. Diese Moderatorenrolle der Bundesregierung
        wird von allen Beteiligten gewünscht, weil ohne sie das
        Ziel nicht oder nur schwer erreichbar ist. Wir bedürfen
        also einer Moderationsaufgabe. Ohne diese Moderation
        werden wir in Deutschland nicht den Erfolg haben.
        Der vierte Punkt könnte überschrieben werden mit:
        „Glaubwürdigkeit durch klare Terminvorgaben“. Mit dem
        Antrag wird klar vorgegeben, welche Schritte bis zu
        welchem Zeitpunkt zu geschehen haben: Bis Ende 2000
        ist eine Kommission mit medizinischem Fachpersonal,
        Vertretern der Kostenträger, der Selbsthilfegruppen und
        Patientenverbände einzusetzen, deren Aufgabe es ist, die
        Ziele des Programms zu erarbeiten und deren weitere
        Umsetzung zu begleiten. Bis Anfang 2001 sollen die Rah-
        menbedingungen für eine verbesserte Diabetiker-Ver-
        sorgung auf dem Tisch liegen. Dabei geht es auch um eine
        einheitliche Dokumentation. Bis Mitte 2001 wird von der
        Kommission ein Bericht mit Versorgungszielen und
        Vorschlägen für notwendige Gesetzesänderungen er-
        wartet. Bis Ende 2001 soll der Medizinische Dienst der
        Spitzenverbände ein weiteres Kompetenz-Evaluations-
        zentrum schaffen, das die Rahmenbedingungen für
        die Versorgungsqualität weiterentwickelt und Struktur-
        forschung veranlasst. Bis Ende 2002 soll unter Modera-
        tion der Bundesregierung in Zusammenarbeit mit allen
        Beteiligten im Gesundheitswesen ein Maßnahmenkatalog
        erarbeitet und dem Bundestag als Basis für einen Na-
        tionalen Aktionsplan Diabetes vorgelegt werden. Die
        Verbindlichkeit müssen wir auf alle Fälle gewährleisten,
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012300
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        sonst wird aus dem Zukunftsprojekt nicht die geforderte
        Realität.
        Wir wissen, was in Deutschland für Diabetiker
        notwendig ist, um gleiche Lebenserwartung und gleiche
        Lebensqualität zu erreichen. Wir haben in Deutschland
        viele große und kleine Inseln, wo es in der Zwischenzeit
        eine zielorientierte qualitätsgesicherte Versorgung gibt
        oder in nächster Zeit geben kann. Wir haben uns in
        Deutschland genügend Kenntnisse und Qualifikationen
        durch wissenschaftliche Arbeiten und erfolgreiche Mo-
        dellvorhaben erarbeitet und erworben. Wir können auf
        dieser Basis unseres Zukunftsprojektes sehr gut aufset-
        zen. Die Versorgung nach Wohnortprinzip hat keine
        Zukunft. Deshalb muss die Diabetes-Versorgung zu der
        flächendeckenden Regelversorgung werden.
        Sollte es jetzt immer noch jemanden geben, der die
        Dramatik des Versorgungsauftrages nicht sieht, sollte
        dieser zum Abschluss unter dem Licht der aktuellen Daten
        seinen Offenbarungseid leisten. Das sind Daten, die jeden
        Verantwortlichen aufschrecken lassen: Die Schlaganfall-
        rate bei Diabetikern ist doppelt so hoch, zwei von drei
        Amputationen sind diabetesbedingt, 40 Prozent der Dia-
        lysezugänge kommen aus dem Diabetikerbereich,
        30 Prozent aller Neuerblindungen, also jede dritte
        Neuerblindung, sind diabetesbedingt.
        Wenn wir für diesen Zustand der Reparatur von Fol-
        gekrankheiten rund 20 Milliarden DM im Jahr ausgeben,
        können Sie sich denken, was wir damit alles an Präven-
        tion machen könnten. Es ist eigentlich gerade zu him-
        melschreiend, dass wir wahnsinnige Beträge dafür aus-
        geben, dass die Betroffenen in ein dunkles Loch fallen
        und dann irgendwo und irgendwann aus diesem Loch
        wieder herausgezogen werden müssen. Deshalb will ich
        abschließend auf den großen Wert der Prävention hin-
        weisen.
        Wir haben eine Steigerung der Kosten und des Leids,
        des menschlichen Leids durch Diabetes zu erwarten, weil
        die Alterskohorte der von Diabetes Betroffenen wächst
        und weil auch die Risikofaktoren steigen, insbesondere
        das Übergewicht und die Bewegungsarmut. Wir müssen
        davon ausgehen, dass sich in den nächsten 30 Jahren,
        wenn nichts unternommen wird, die Zahl der Diabetiker
        verdoppeln wird. Allerdings ist diese Verdoppelung nicht
        schicksalsgegeben, sondern kann vermieden werden.
        Würden wir jetzt systematisch in die Prävention in-
        vestieren, könnten wir die Kosten nicht nur stabilisieren,
        sondern möglicherweise sogar senken. Es ist also aus
        meiner Sicht notwendig, jetzt in die Prävention zu in-
        vestieren, um in zehn Jahren – gute Präventionspro-
        gramme brauchen so viel Vorlaufzeit – entsprechend die
        Früchte zu ernten und eine Stabilisierung der so genann-
        ten Neuerkrankungen an Diabetes zu bewirken. Mit Hilfe
        der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und
        durch die Selbsthilfeorganisationen und -gruppen, die
        durch das Gesundheitsreformgesetz finanziell gefördert
        werden, müssen wir allen Menschen mit Diabetes klar-
        machen, dass sie die Verantwortung für ihre Therapie in
        die eigenen Hände nehmen müssen und ihre Verantwor-
        tung nicht quasi mit der Chipkarte an der Theke beim Arzt
        abgeben können.
        Wir sind zuversichtlich, dass die heute vorgelegte
        Initiative die Rahmenbedingungen für eine Quali-
        tätsverbesserung in der Diabetes-Versorgung verändern
        und ein Umdenken in den Köpfen bewirken wird. Wir
        verpflichten uns, im Interesse der Betroffenen und ihrer
        Angehörigen jetzt die richtigen Schritte einzuleiten. Wir
        wollen heute mit unserem Antrag „Ziele für die, Qual-
        itätssteigerung in der Diabetes-Versorgung“ vor dem
        Weltdiabetestag am 14. November dieses Zeichen setzen.
        Es schafft Glaubwürdigkeit, wenn dieser mit der Regie-
        rung abgestimmte Antrag – parallel zur Schirmherrschaft
        von Frau Bundesministerin Fischer am 14. November in
        Berlin – vom Bundestag beschlossen wird.
        Ich möchte an die Kolleginnen und Kollegen der an-
        deren Fraktionen appellieren: Helfen Sie mit, dass die Fol-
        gen der Volkskrankheit Diabetes nicht weiter auf dem
        Rücken der Betroffenen ausgetragen werden. Das Zukunfts-
        projekt Diabetes verlangt keine parteipolitischen Brillen.
        Dr. Harald Kahl (CDU/CSU): Der Diabetes mellitus,
        die Zuckerkrankheit, und die damit in Zusammenhang
        stehenden Folgeerkrankungen stellen angesichts ihrer
        Häufigkeit eine Volkskrankheit dar, die zu einer empfind-
        lichen Reduzierung von Leistungsfähigkeit und Lebens-
        erwartung der Betroffenen führen kann. Nicht selten sind
        Herzinfarkte, Nierenversagen oder Erblindung die dra-
        matischen Folgen dieser Erkrankung. Allein in Deutsch-
        land geht man von geschätzten 5 Millionen Menschen mit
        Diabetes aus, deren Behandlung circa 10 Prozent der Ge-
        samtausgaben für das Gesundheitswesen ausmacht. Da-
        mit werden die gesetzlichen Krankenversicherungen und
        unsere Volkswirtschaft insgesamt enorm belastet.
        Initiiert durch die europäische Sektion der WHO und
        die Internationale Diabetes Federation wurde deshalb be-
        reits im Jahre 1989 im italienischen St.Vincent durch
        Ärzte, Wissenschaftler, Politiker und Menschen mit Dia-
        betes ein wichtiger Anstoß zur besseren medizinischen
        Betreuung von Diabetikern gegeben. Die so genannte
        St. Vincent-Deklaration setzte dabei europaweit so ehr-
        geizige Ziele wie „Reduzierung der Anzahl an Amputa-
        tionen, Erblindung und Nierenversagen“ um jeweils ein
        Drittel durch ein Bündel von qualitätssichernden Maß-
        nahmen fest. Eben dieses Maßnahmepaket findet sich
        zum großen Teil im Antrag der SPD und Bündnis 90/Die
        Grünen wieder, den wir hier beraten. Wenn die Koalition
        heute beklagt, die alte Bundesregierung habe bei der Um-
        setzung der Deklaration versagt, so verschweigt sie, dass
        bisher kein europäisches Land diese Ziele erreicht hat.
        Das macht deutlich, dass dieses Problem nicht kurzfristig
        und schon gar nicht allein von der Politik gelöst werden
        kann. In Deutschland ist es originäre Aufgabe der Selbst-
        verwaltung und der Länder, Prävention, Diagnostik und
        Therapie in einem Bündel qualitätssichernder Maßnah-
        men umzusetzen. Im Sinne einer integrierten Versorgung
        von Diabetikern ist das nur unter Einbeziehung der
        Hausärzte, der ambulanten Schwerpunktpraxen stationä-
        rer Einrichtungen, Krankenkassen und nicht zuletzt unter
        besonderer Einbeziehung der Diabetiker selbst zu leisten.
        Als beispielgebend kann auf diesem Gebiet der Frei-
        staat Thüringen angesehen werden. Bereits 1995 wurden
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12301
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        aufbauend auf den epidemiologischen Erkenntnissen der
        früher in der ehemaligen DDR praktizierten Dispen-
        saire – Betreuung von Diabetikern neue Wege der Be-
        handlung eingeschlagen. Im April 1998 wurde letztlich
        ein Vertragswerk der AOK und der Kassenärztlichen Ver-
        einigung Thüringens unter finanzieller Beteiligung der al-
        ten Bundesregierung als Modellvorhaben abgeschlossen.
        So sorgen heute in Thüringen landesweit erfahrene Dia-
        betikologen in derzeit 35 ambulanten Schwerpunktpraxen
        gemeinsam mit über 200 Hausärzten sowie mit diabetolo-
        gisch spezialisierten Kliniken und Rehabilitationszentren
        für eine qualitativ hochwertige Versorgung von Patienten
        mit Diabetes mellitus. Charakteristisch hierfür sind Be-
        handlungskorridore zwischen Hausarzt und Schwer-
        punktpraxis, die nach Qualitätskriterien regeln, wann ein
        Patient vom Hausarzt an die Schwerpunktpraxis und von
        da aus wieder zurück an den Hausarzt überwiesen wird.
        Als Grundlage für eine wissenschaftlich fundierte Do-
        kumentation über den Umfang der Behandlung dient
        hierzu der Diabetes-Pass der Deutschen Diabetesgesell-
        schaft. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Qua-
        litätsmanagement zu. Behandlungsziele werden dabei mit
        den Behandlungsergebnissen verglichen und wissen-
        schaftlich vom Institut für medizinische Informatik und
        Biometrie der TU Dresden kontrolliert und evaluiert.
        Ein ganz wesentliches Element des Modellvorhabens
        ist eine Ziel-Anreizvergütung. Dabei ist eine Zusatzver-
        gütung der am System beteiligten Leistungserbringer an
        die Erfüllung von Versorgungs- und Schulungsaufträgen
        sowie an die Vollständigkeit der entsprechenden Doku-
        mentation gebunden. Hiermit wird eine Vergütungsge-
        rechtigkeit erzielt, die sich nicht an der Menge, sondern
        an der Qualität der erbrachten Leistung orientiert. Ein ent-
        scheidender Qualitätssprung konnte auch bei der Erbrin-
        gung von Schulungsleistungen erzielt werden. Prävention
        und Aufklärung spielen hierbei eine entscheidende Rolle.
        Landesweit sind allein 40 regionale Selbsthilfegruppen
        tätig und sowohl 1990 als auch im Jahre 2000 konnten mit
        dem Infomobil „Diabetes und Hochdruck“ in insgesamt
        90 Orten wichtige Informationen zur Gestaltung gesund-
        heitsbewussten Verhaltens und über die Risikofaktoren
        Übergewicht und Bewegungsarmut vermittelt werden.
        Das Thüringer Beispiel steht jedoch nicht allein. Ähn-
        lich erfolgreiche Programme sind bereits im Freistaat
        Bayern, in Baden-Württemberg und in anderen Bundes-
        ländern angelaufen. Wir brauchen also in Deutschland
        keine neue Kommission, die Versorgungsziele definiert.
        Es ist vielmehr Aufgabe der Länder, diese positiven Er-
        fahrungen gemeinsam mit der Selbstverwaltung umzuset-
        zen. Wir brauchen keine neuen zentralistischen Vorgaben,
        sondern Freiräume für die Selbstverwaltung. Deshalb
        sollte sich der Antrag auch an die Akteure richten, die
        diese Forderung konkret umsetzen müssen, und er sollte
        die Frage beantworten, wer das Ganze eigentlich bezahlt.
        Die Tatsache, dass die Regierungskoalition erst zwei
        Jahre nach der Regierungsübernahme durch Rot-Grün
        diesen Antrag einbringt, macht deutlich, dass sie selber
        nicht an erfolgversprechende Eingriffsmöglichkeiten des
        Bundes glaubt. Warum sonst das lange Warten? Man ge-
        winnt vielmehr den Eindruck, dass nichts anderes als blin-
        der Aktionismus hierbei die Feder geführt hat und damit
        der Öffentlichkeit angesichts des bevorstehenden Welt-
        diabetestages das besondere Engagement von Rot-Grün
        für eine bessere Betreuung von Diabetikern vorgegaukelt
        werden soll.
        Gerade die chronische Krankheit Diabetes mellitus ist
        ein Beispiel dafür, wie durch ein effektives Zusammen-
        wirken aller Leistungserbringer die Zahl der stationär zu
        behandelnden Diabetesfälle signifikant gesenkt und einer
        ambulanten Behandlung zugeführt werden kann. Das
        kann jedoch nur dann funktionieren, wenn das Geld auch
        der Leistung folgt und Vergütungsstrukturen geschaffen
        werden, die Qualität mit finanziellen Anreizen belohnen.
        Es ist ein Irrglaube, wenn man einerseits meint, eine im-
        mer bessere Betreuungsqualität unter anderem auch mit
        der Einbeziehung der Fußpflege, mit mehr Schulung und
        Information der Patientinnen und Patienten zu erreichen,
        wenn man andererseits mit der Budgetierung immer mehr
        finanzielle Hürden dafür aufbaut. Das Ergebnis ist eine
        Rationierung von Leistung gerade bei chronisch Kranken.
        Bezeichnenderweise steht in dem Antrag kein Wort zur
        Finanzierung der durchaus wünschenswerten Aufgaben.
        Dabei ist es unstrittig, dass eine qualitativ höherwertige
        Versorgung primär erst einmal mehr Geld kostet, zum
        Beispiel durch mehr Prävention, durch umfangreichere
        und qualitativ verbesserte Diagnosen und Therapien. Es
        ist aber auch unstrittig, dass dieses zusätzliche Geld, wenn
        es zeitig genug ausgegeben wird, ein großes Einsparpo-
        tenzial beinhaltet, weil Krankheitsverläufe und Folgeer-
        krankungen vermieden oder aber gemindert werden. Ein
        Budget verhindert das nicht nur, sondern trägt – wie viele
        Beispiele in den letzten Tagen zeigen – zu einer Rationie-
        rung und damit Verschlechterung der medizinischen Ver-
        sorgung chronisch Kranker bei. Wer heute Diabetikern
        sogar die Erstattung der so wichtigen Blutzuckerselbst-
        kontrolle mittels Teststreifen nicht mehr gewährt, kann
        nicht für sich in Anspruch nehmen, Sachwalter der Pro-
        bleme von Diabetikern zu sein.
        Und wer den Patientinnen und Patienten glaubhaft ma-
        chen will, dass sie in Zukunft eine hoch qualifizierte Ver-
        sorgung unter einem gedeckelten Budget erwarten kön-
        nen, belügt sie damit nicht nur, sondern koppelt das
        deutsche Gesundheitswesen von der internationalen Ent-
        wicklung ab.
        Detlef Parr (F.D.P.):Der Antrag der SPD und der Grü-
        nen zur Qualitätsverbesserung in der Diabetes-Versor-
        gung beleuchtet ein wichtiges Thema, das eine ein-
        gehende Diskussion verdient. Im Jahre 1998 waren
        4,1 Millionen Diabetiker in Deutschland behandlungsbe-
        dürftig, mit steigender Tendenz. Die Gesamtkosten der
        Versorgung betragen dabei pro Jahr nach Schätzungen
        etwa 15 bis 25 Milliarden DM. Manche Experten spre-
        chen sogar von 30 Milliarden DM. Das verdeutlicht die fi-
        nanzielle Dimension, die dieses Thema neben der
        menschlichen Dimension für die Betroffenen hat.
        Ich teile allerdings nicht den Grundtenor des Antrages,
        dass in den letzten Jahren nichts geschehen sei. Zahlrei-
        che Projekte und Ansätze sind entstanden, die dazu bei-
        tragen, die Situation der Diabetiker zu verbessern. Es gibt
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012302
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        heute etwa 1 500 Diabetologen in Deutschland. Ihre Zahl
        ist von 1993 bis 1998 um jährlich 60 Prozent gestiegen.
        Die Diabetes-Gesellschaft hat regelungsbedürftige Ver-
        tragsinhalte von Diabetesvereinbarungen herausgegeben,
        die eine gute Grundlage für Vereinbarungen der Kosten-
        träger mit den Ärzten darstellen. In München ist man im
        städtischen Krankenhaus Schwabing unter der Leitung
        des Diabetologen und Chefarztes Professor Eberhard
        Standel jetzt neue Wege in Richtung teilstationärer Ver-
        sorgung gegangen. Entstanden ist eine spezielle Tag-
        Nacht-Klinik, die die Zeit, die Diabetespatienten ande-
        renfalls im Krankenhaus liegen müssten, fast um die
        Hälfte verringert. Tagespatienten schlafen daheim und
        kommen nach dem Frühstück fünf Tage lang in die Klinik
        bis zum späten Nachmittag. Umgekehrt gehen Nachtpati-
        enten nachmittags bis nach dem Frühstück am folgenden
        Tag in die Klinik. Die Barmer-Ersatzkasse hat mit der
        KV-Westfalen-Lippe einen Diabetesvertrag geschlossen,
        der eine ergebnisorientierte Vergütung vorsieht. In Wolfs-
        burg gab es ein Modellprojekt zwischen der BKK-Volks-
        wagen und der Kassenärztlichen Vereinigung Nieder-
        sachsen zur Früherkennung von Folgeschäden bei
        Patienten mit Diabetes mellitus. Dieser „Diabetes-TÜV“
        ist bei Ärzten und Patienten auf große Resonanz gestoßen.
        Bereits im Jahre 1997 haben die Ersatzkassenverbände
        und die Kassenärztliche Bundesvereinigung eine Diabe-
        tesvereinbarung geschlossen, die insbesondere auch die
        Diabetikerschulung in den Vordergrund stellt. Die Liste
        der Vereinbarungen könnte ich noch deutlich verlängern.
        Allerdings, auch das muss man zugeben, ist aus diesen
        hoffnungsvollen Ansätzen bisher keine umfassende,
        flächendeckende Optimierung der Versorgung geworden.
        Die Zahl der Amputationen ist mit ca. 25 000 pro Jahr viel
        zu hoch. Mit 4 00 Patienten jährlich ist die Zahl derjeni-
        gen, bei denen mit der Dialyse begonnen werden muss,
        ebenfalls erschreckend hoch. Gleiches gilt für die Rate
        von 7 000 Diabetikern, die jährlich erblinden. Ihren An-
        trag begreifen wir deshalb als Herausforderung, uns im
        Gesundheitsausschuss eingehend damit zu beschäftigen,
        wo heute noch im Einzelnen die Defizite liegen und wie
        man sie in den Griff bekommen kann.
        Katrin-Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN): Trotz medizinischer Behandlungsmöglich-
        keiten bedeutet die Erkrankung an Diabetes eine erhebli-
        che Einschränkung der Lebensqualität. Obwohl die Leis-
        tungsfähigkeit eines Diabetikers gleich der eines
        Gesunden ist, erfordert ein Leben mit Diabetes viel Dis-
        ziplin und eine gute und richtige medizinische Behand-
        lung.
        Diabetes ist bisher nicht heilbar, Ärzte können den
        Menschen mit medizinischen Mitteln eine höhere Le-
        bensqualität geben und Spätfolgen oder zu befürchtende
        Komplikationen lindern. Optimal werden die mehr als
        4 Millionen Diabetiker hierzulande nicht behandelt. Eine
        bundesweite Untersuchung hat gezeigt, dass bei circa
        40 Prozent der über 50-jährigen Diabetiker die Stoff-
        wechseleinstellung nicht akzeptabel ist, ein Grund,
        warum es zu Diabetes-Folgeerkrankungen wie Erblinden,
        Nierenversagen und Amputationen kommt. Nach wie vor
        betreffen seit 1990 zwei Drittel aller in Deutschland
        durchgeführten Amputationen Diabetiker, jeder zweite
        neudialysierte Patient und jeder dritte Neuerblindete ist
        ein Diabetiker. Nur durch eine rechtzeitige und intensive
        Betreuung der Patienten kann dieser Missstand behoben
        werden. Die Versorgung der heute rund 4 Millionen an
        Diabetes erkrankten Menschen in der Bundesrepublik hat
        sich unter der alten Bundesregierung nicht verbessert,
        sondern im Gegenteil eher verschlechtert.
        Die Diskrepanz zwischen den neuen medizinisch-
        wissenschaftlichen Kenntnissen und deren Umsetzung in
        der Praxis ist weiter gewachsen. In den Niederlanden sind
        aufgrund einer besseren Diabetesbehandlung nur 13 Pro-
        zent der Dialysen durch Diabetes bedingt. Auch die bis-
        her größte Studie zu Diabetes, die Ende 1998 veröffent-
        lichte United Kingdom Prospective Diabetes Study
        (UKPDS) bietet den Beleg, dass Diabetesfolge-
        erkrankungen verhindert werden können, je intensiver
        Diabetiker behandelt werden. Sie gibt die absolute Ge-
        wissheit, dass eine strenge Blutzucker- und Blutdruck-
        kontrolle das Risiko diabetischer Folgeerkrankungen ver-
        mindert. Britische Wissenschaftler haben rund 20 Jahre
        lang mehrere tausend Diabetiker mit verschiedenen The-
        rapieformen behandelt und den unterschiedlichen Erfolg
        dokumentiert. Dieses weist darauf hin, dass die Diabe-
        testherapie in der Bundesrepublik Deutschland dem aktu-
        ellen medizinischen Wissen hinterherhinkt und eine aus-
        reichende sachgerechte Versorgung nicht gewährleistet
        ist. Das ist nicht nur verantwortungslos gegenüber den
        Kranken, sondern auch unvertretbar im Hinblick auf die
        unnötig hohen Ausgaben für die Krankenkassen. Eine
        mangelhafte Versorgung führt zu höheren Kosten, die
        – wie eine bereits im Jahr 1979 in Schweden vorgelegte
        Studie zeigt – bei früh erkannten und gut eingestellten
        Diabetikern nur einen Bruchteil betragen würden. Ob-
        wohl dies schon lange bekannt ist, hat die alte Bundesre-
        gierung nicht gehandelt. Sie trägt damit die Verantwor-
        tung für eine nicht ausreichende Versorgung von
        Diabetes-Patienten. Vielleicht hätten einige Folgeerkran-
        kungen verhindert werden können.
        Ich möchte eigentlich nicht mit den unnötig verursach-
        ten Kosten argumentieren, die ein unzureichend oder
        schlecht behandelter Patient verursacht. Denn es geht hier
        um Menschen, die schlicht „besser“ und unter Umständen
        auch länger leben können mit der geeigneten medizini-
        schen Versorgung. Aber lassen sie mich an einem Beispiel
        verdeutlichen, wie sinnvoll es ist, in einer frühen Phase
        der Erkrankung in eine intensive Behandlung zu investie-
        ren. Die Kosten für einen gut eingestellten Typ II Diabe-
        tiker betragen 1 000 bis 1 200 DM, während ein schlecht
        eingestellter Diabetiker vom Typ II 11 000 bis 13 500 DM
        an Kosten verursacht. Von den Kosten für Folgeerkran-
        kungen sei hier noch abstrahiert. An diesem Beispiel wird
        sichtbar: Steigerungen der Qualität gehen oft mit lang-
        fristigen Kostensenkungen einher. Deshalb beschreiten
        wir diesen Weg schon seit der Gesundheitsreform 2000.
        Die gesundheitspolitische Bedeutung von Diabetes ist
        enorm. Mit mehr als 4 Millionen Erkrankten ist Diabetes
        zu einer Volkskrankheit geworden. Die Wahrscheinlich-
        keit, an Diabetes zu erkranken, ist damit insgesamt hoch
        und nimmt mit steigendem Alter rapide zu. Frauen sind im
        Übrigen besonders von dieser Krankheit betroffen. Die
        Tatsache, dass unsere Gesellschaft altert, zeigt, dass die
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12303
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        Bedeutung dieser Krankheit in Zukunft noch weiter zu-
        nehmen wird.
        Wir haben bereits mit der Gesundheitsreform 2000 we-
        sentliche Schritte unternommen, um die Versorgung von
        chronisch Kranken wie Diabetespatienten zu verbessern,
        zum Beispiel mit der Aufnahme der Patientenschulung als
        ergänzende Leistung zur Rehabilitation, mit den Rege-
        lungen für eine integrierte Versorgung und mit der Ein-
        führung von Qualitätssicherungsmaßnahmen.
        Wir fordern in unserem Antrag, dass die Verbesserung
        der Diabetes-Versorgung von der Bundesregierung als
        vorrangiges Gesundheitsziel erklärt wird und konkrete
        Versorgungsziele definiert werden gemäß der St. Vicent-
        Deklaration von 1989, die bis 2005 umgesetzt werden
        soll. Die Ziele orientieren sich an der Vermeidung der Fol-
        geerkrankungen. Zur Umsetzung dieser Ziele soll daher
        bis Ende 2000 eine Kommission eingesetzt werden, die
        einen konkreten Maßnahmenkatalog als Basis zum „Na-
        tionalen Aktionsplan Diabetes“ bis Ende 2002 erarbeiten
        soll. Wir werden an der Kommission medizinisches Fach-
        personal aus dem Bereich der Diabetesbehandlung, Ver-
        treter der Kostenträger, der Selbsthilfegruppen und der
        Patientenverbände beteiligen. Die neu zu schaffende
        Kommission fordern wir auf, bis spätestens 2001 einen
        Bericht über den anzustrebenden Versorgungszustand
        vorzulegen.
        Wir haben bereits mit der Gesundheitsreform 2000 mit
        dem § 43 Abs. 3 SGB V einen erweiterten rechtlichen
        Rahmen für die Krankenkassen geschaffen, Patienten-
        schulungsmaßnahmen bedarfsgerecht anzubieten. Wir
        wollen daher auf die Krankenkassen einwirken, diese
        Schulungen auch tatsächlich anzubieten. Diese Schu-
        lungsangebote, die den Umgang mit der Krankheit und
        das Wissen darüber vermitteln, tragen wesentlich zu einer
        besseren Bewältigung der Krankheit und damit zu einer
        höheren Lebensqualität des Kranken bei. Wir wollen
        ferner, dass auf die Selbstverwaltung von Ärzten und
        Krankenkassen eingewirkt wird, damit die Fußpflege für
        Diabetiker in den Leistungskatalog der gesetzlichen
        Krankenkassen aufgenommen wird.
        Der mit der Gesundheitsreform eingeschlagene Weg
        der integrierten Versorgung ist auch hier fruchtbar. Wir
        wollen dafür sorgen, dass innerhalb einer integrierten Ver-
        sorgung von Haus- und Fachärzten sowie Kliniken auch
        zum Beispiel medizinische Fußpfleger oder Ernährungs-
        berater miteinander kooperieren und so eine bessere Ver-
        sorgung von Diabeteskranken und eine bessere Präven-
        tion von Folgekrankheiten stattfinden kann.
        Der häufigen Forderung von Diabetikerverbänden,
        dass der Staat eine Diabetes-Kampagne startet, tragen wir
        mit unserem Antrag Rechnung. Sofern die dazu benö-
        tigten Haushaltsmittel bereitgestellt werden können, wol-
        len wir eine breit angelegte Aufklärung starten. Eine Auf-
        klärungskampagne macht Sinn, denn für die Entstehung
        von Diabetes mellitus Typ II, die so genannte Altersdia-
        betes, sind zum Teil vermeidbare Risikofaktoren aus-
        schlaggebend: Neben der erblichen Vorbelastung stehen
        vor allem Übergewicht und Bewegungsmangel im
        Vordergrund. Auf Ärzte und Krankenkassen soll einge-
        wirkt werden, die medizinische Fußpflege für Diabetiker
        in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkasse
        aufzunehmen.
        Eine Verbesserung der Diabetes-Versorgung ist längst
        überfällig. Im Sinne der Patienten bitte ich Sie daher, die-
        sem Antrag zuzustimmen.
        Dr. Ruth Fuchs (PDS): Der Antrag der Koalitions-
        fraktionen zielt auf die Verbesserung der gesundheitlichen
        Versorgung diabeteskranker Menschen und verdient nach
        unserer Auffassung in seinen Grundintensionen volle Un-
        terstützung. Ich sage dies auch in Kenntnis des Gesund-
        heitswesens der DDR, in dem es gerade für die Diabetiker
        eine qualitativ hoch entwickelte Betreuung gab. Sie wäre
        nicht denkbar gewesen, ohne klar definierte gesundheits-
        politische Ziele und ohne ein gut koordiniertes und ge-
        steuertes Handeln aller Akteure.
        Die Zuckerkrankheit ist seit längerem in den ent-
        wickelten Ländern eines der großen gesundheitlichen
        Probleme und besonders in den höheren Altersgruppen
        sind wachsende Anteile der Bevölkerung betroffen. Eine
        Besonderheit besteht darin, dass Diabetes zwar nicht heil-
        bar, aber im Gegensatz zu anderen chronischen Krank-
        heiten sehr erfolgreich behandelbar ist. Akut auftretende
        und oft lebensbedrohliche Komplikationen durch ent-
        gleiste Blutzuckerwerte lassen sich heute durch engma-
        schige diagnostische Kontrollen sowie gute therapeuti-
        sche Führung weitgehend vermeiden. Ebenso wichtig
        sind intensive Schulungsmaßnahmen für die Patienten,
        mit deren Hilfe das erforderliche Ernährungsverhalten
        und der richtige Umgang mit Medikamenten vermittelt
        wird. Selten ist gutes Selbstmanagement der Patienten so
        bedeutsam, wie bei der Zuckerkrankheit.
        Aber auch die gefürchteten Folgeerkrankungen, die im
        Ergebnis fortschreitender Gefäß- und Nervenschädigun-
        gen vor allem zu Erblindungen, Nierenversagen und erns-
        ten Herz-Kreislauf-Komplikationen führen, können heute
        durch sorgfältige Stoffelwechseleinstellung, Blutdruck-
        kontrollen und anderes mehr zum großen Teil vermieden
        bzw. zeitlich weit hinausgeschoben werden.
        Allerdings gelingt es bisher im eigenen Lande nicht
        ausreichend, die vorhandenen medizinischen Möglich-
        keiten und die gute infrastrukturelle Basis unseres Ge-
        sundheitssystems so zur Wirkung zu bringen, dass für die
        Patienten eine höchstmögliche Behandlungsqualität re-
        sultiert. Noch immer werden Krankheiten zu häufig nicht
        rechtzeitig erkannt und Patienten nicht engmaschig be-
        treut. Vor allem aber mangelt es am Wichtigsten: An einer
        bewusst organisierten und reibungslosen Kooperation
        zwischen Hausärzten und diabetologisch spezialisierten
        Ärztinnen und Ärzten.
        Wie kann also die Diskrepanz zwischen möglicher und
        tatsächlicher Qualität der Versorgung flächendeckend
        überwunden werden und was kann die Politik dazu bei-
        tragen? Der zur Debatte stehende Antrag ist bestrebt da-
        rauf Antworten zu geben und schon das halten wir für ver-
        dienstvoll.
        Will man wirklich weiterkommen, muss man unseres
        Erachtens allerdings die Ursachen für die bestehenden
        Defizite klarer benennen. Expertenmeinungen, Studien,
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012304
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        aber auch Erfahrungen aus Modellprojekten verweisen
        immer wieder auf ein gleiches Ergebnis: Bei isoliert ar-
        beitenden Einzelpraxen, Einzelleistungsvergütung, zu-
        nehmenden innerärztlichen Verteilungskämpfen und da-
        mit verbundener Sorge, Patienten durch Überweisung zu
        verlieren, sind es die Strukturen und Anreize des Versor-
        gungssystems, die die notwendige, auf gemeinsame Ziele
        gerichtete kooperative Arbeit beeinträchtigen.
        Im Gegensatz zur Bewertung im vorliegenden Antrag
        hat hier auch die Gesundheitsreform 2000 keineswegs
        günstigere Voraussetzungen geschaffen. Im Gegenteil:
        Zurzeit erleben wir vorwiegend negative Wirkungen auch
        auf die Versorgungsqualität der Diabetiker. Gerade weil
        bei ihnen oft mehrere Krankheiten gleichzeitig vorliegen,
        stößt ihre Behandlung unter den gegebenen Budgets nicht
        selten auf finanzielle Grenzen.
        Unserer Meinung nach ist damit ein Grundproblem des
        Antrages angesprochen. Letztlich zielt er darauf, zeit-
        gemäße medizinische Arbeitsformen in einem Versor-
        gungssystem zu verankern, dessen grundlegende Struktu-
        ren darauf nicht nur nicht vorbereitet sind, sondern ihnen
        häufig entgegenstehen.
        Auch am Beispiel der Diabetiker-Versorgung bestätigt
        sich: Für notwendige Verbesserungen sind weiter rei-
        chende Strukturreformen im Gesundheitswesen erforder-
        lich. Zum anderen benötigen Ärzte und Patienten finanzi-
        elle Rahmenbedingungen, die für alle eine Behandlung
        entsprechend dem heutigen medizinischen Erkenntnis-
        stand und unabhängig vom Geldbeutel ermöglichen.
        Anlage 8
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Umsetzung der EU-Richtlinie über das Folge-
        recht des Urhebers des Originals eines Kunst-
        werkes (Folgerechtsanpassungsgesetz) (Tages-
        ordnungspunkt 23)
        Dirk Manzewski (SPD): Am heutigen Tag debattieren
        wir hier im Deutschen Bundestag über den Entwurf eines
        so genannten Folgerechtsanpassungsgesetzes, den die
        Fraktion der FDP eingebracht hat.
        Bei dem Thema „Folgerecht“ handelt es sich um eine
        urheberrechtliche Spezialproblematik. Gegenstand des in
        § 26 Urhebergesetz normierten Folgerechts ist es, dass der
        Urheber einen Anteil des Veräußerungserlöses erhalten
        muss, wenn das Original seines Werkes durch einen
        Kunsthändler, Versteigerer, Erwerber, Veräußerer oder
        Vermittler veräußert wird. Diese Regelung dient der Stär-
        kung der Rechtsposition der Urheber. Ein solcher wie im
        deutschen Recht ausgestalteter urheberrechtlicher An-
        spruch existiert in den anderen europäischen Ländern
        nicht überall. Zu Recht weist der Gesetzesentwurf der
        F.D.P. deshalb darauf hin, dass es hierdurch in der Ver-
        gangenheit im Kunsthandel zu erheblichen Wettbewerbs-
        verzerrungen in Europa – vor allem zum Nachteil
        Deutschlands – gekommen ist. Die weitaus größte Menge
        von Kunstverkäufen findet nicht zuletzt deshalb auch in
        London statt.
        Die Bundesregierung hat sich aus diesem Grunde ins-
        besondere während ihrer EU-Präsidentschaft im 1. Halb-
        jahr 1999 intensiv für die Harmonisierung des Folge-
        rechts eingesetzt und setzt sich im Übrigen auch weiterhin
        vehement dafür ein. Die nicht nur zuungunsten Deutsch-
        lands bestehenden Wettbewerbsverzerrungen auf dem eu-
        ropäischen Kunstmarkt müssen endlich beseitigt werden.
        So grundsätzlich wir daher einerseits das Grundanlie-
        gen der F.D.P. teilen, so müssen wir andererseits zum ge-
        genwärtigen Zeitpunkt gleichwohl deren Gesetzesent-
        wurf ablehnen, zum einen deshalb, weil meiner Kenntnis
        nach – entgegen der Behauptung der F.D.P. – nicht die
        Richtlinie selbst, sondern lediglich der so genannte ge-
        meinsame Standpunkt des Europäischen Parlaments ver-
        abschiedet worden ist. Es erscheint deshalb nicht un-
        wahrscheinlich, dass das Europäische Parlament noch
        Änderungen im Sinne einer urheberfreundlicheren Aus-
        gestaltung der Richtlinie beschließt. Ich könnte mir vor-
        stellen, dass dies im Übrigen auch für die von der F.D.P.
        monierten langen Übergangsfristen gilt. Meiner Informa-
        tion nach soll der Richtlinienvorschlag noch in der zwei-
        ten Dezemberhälfte im Europäischen Parlament ab-
        schließend beraten werden. Diesen Termin sollten wir
        zwingend abwarten. Ein Vorgriff darauf würde vermutlich
        ansonsten unnötigerweise Korrekturbedarf nach sich zie-
        hen.
        Zum anderen lehnen wir den Gesetzentwurf der F.D.P.
        deshalb ab, weil er in Teilbereichen entweder erheblich
        von der Richtlinie des Europäischen Parlaments abweicht
        oder aber den dort eröffneten Spielraum der einzelnen
        Mitgliedstaaten einseitig zum Nachteil der Urheber aus-
        schöpft. So soll nach den Vorstellungen der F.D.P. zum
        Beispiel das Folgerecht erst bei einer Veräußerung ab
        4 000 Euro einsetzen. Die Richtlinie eröffnet dies aber
        schon bei geringeren Veräußerungserlösen. Auch soll das
        Folgerecht nur bei Veräußerungen mit Gewinn eintreten.
        Dies ist weder in der Richtlinie vorgesehen noch sonst
        verständlich.
        Diese Aushöhlung der Schutzrechte von Urhebern hal-
        ten wir nicht für akzeptabel. Dementsprechend können
        wir dem auch nicht folgen. Die SPD wird sich – wie be-
        reits in der Vergangenheit – auch zukünftig dafür einset-
        zen, die Rechte der Urheber, wo dies berechtigt erscheint,
        zu stärken.
        Nicht nachvollziehbar ist für uns deshalb auch, warum
        die erste Weiterveräußerung durch eine Galerie nach den
        Vorstellungen der F.D.P. vom Folgerecht ausgenommen
        werden sollte. Eine schlüssige Begründung hierzu findet
        sich im Gesetzesentwurf der F.D.P. nicht. Ich gehe davon
        aus, dass man hier einfach die konträre Auffassung des
        Rates hierzu übernommen hat, die für Kunstgalerien eine
        besondere Situation annimmt, weil diese oft unmittelbar
        von unbekannten Künstlern Kunstwerke kaufen. Dies
        überzeugt mich jedoch nicht, da das Gleiche auch oft für
        Kunsthändler gilt. Worin ein Unterschied zwischen dem
        Verkauf durch eine Galerie und dem durch einen Kunst-
        händler liegt, der dies rechtfertigt, ist für mich derzeit
        nicht ersichtlich. Eine Besserstellung des Galeristen
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12305
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        gegenüber dem Kunsthändler erscheint mir deshalb zu-
        mindest derzeit nicht sachgerecht. Hinzu kommt, dass die
        F.D.P. die Einschränkung der Auffassung des Rates, der
        diese Ausnahme nur gelten lassen will, wenn der erzielte
        Preis bei der Weiterveräußerung 10 000 Euro nicht über-
        steigt, nicht berücksichtigt.
        Die verschärfte Verjährungsregelung kann ebenfalls
        nicht unsere Zustimmung finden. Die Begründung der
        F.D.P. hierzu ist für uns genauso wenig nachvollziehbar.
        Bei jedem Verkauf von Werken ist in diesem Zusammen-
        hang der Folgerechtsanspruch schon von vornherein zu
        berücksichtigen. Der Veräußerer muss von Anfang an mit
        Forderungen des Urhebers rechnen. Eine Rechtsun-
        sicherheit kann also allenfalls darin liegen, dass sich
        gegebenenfalls die dies ohnehin einkalkulierende Er-
        tragserwartung – folgt man dem F.D.P.-Entwurf, die Ge-
        winnerwartung – erst später bestätigt. Wenn dies als
        Rechtsunsicherheit angesehen wird, so kann man meiner
        Auffassung nach durchaus damit leben, zumal eine abso-
        lute Höchstgrenze des Folgerechts von 12 500 Euro fest-
        geschrieben worden ist
        Norbert Röttgen (CDU/CSU): „Entwurf eines Geset-
        zes zur Umsetzung der EU-Richtlinie über das Folgerecht
        des Urhebers des Originals eines Kunstwerks“ hat die
        F.D.P.-Bundestagsfraktion ihren Gesetzentwurf genannt.
        „Die Folgerechtsrichtlinie wird ohne Übergangsfristen in
        nationales Recht umgesetzt“, heißt es weiter.
        Das Grundproblem, auf das der Gesetzentwurf der
        F.D.P. trifft, besteht darin, dass er eine europäische Richt-
        linie umsetzen möchte, die es überhaupt noch gar nicht
        gibt und mit dem von der F.D.P. unterstellten Inhalt
        höchstwahrscheinlich auch niemals geben wird. Das zeigt
        der aktuelle Beratungsstand. Es gibt einen Gemeinsamen
        Standpunkt des Rates, dessen Inhalt dem des Gesetzent-
        wurfes der F.D.P. nahe kommt, der aber von der Kom-
        mission abgelehnt wird. Die Beratungen des Rechtsaus-
        schusses des Europäischen Parlaments sind noch nicht
        abgeschlossen, die Behandlung im Europäischen Parla-
        ment selbst ist für Dezember 2000 vorgesehen. Fest steht
        allerdings, das auch das Europäische Parlament dem Ge-
        meinsamen Standpunkt des Rates skeptisch gegenüber-
        steht.
        Der Gesetzentwurf der F.D.P.- Bundestagsfraktion ist
        deshalb zumindest verfrüht, wenn nicht gar schädlich. Es
        ist nach Auffassung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
        unerlässlich, das endgültige Ergebnis der Beratungen ab-
        zuwarten, statt jetzt vorschnell das Urheberrechtsgesetz
        zu ändern, um dann möglicherweise Anfang 2001 – im
        Rahmen der Umsetzung der Richtlinie – eine erneute Kor-
        rektur vornehmen zu müssen. Damit würden Rechtsunsi-
        cherheiten geschaffen, die für das berechtigte Anliegen
        der Künstler und Galeristen in Deutschland kontrapro-
        duktiv wären. Eine Harmonisierung des Urheberrechts im
        nationalen Alleingang ist ein Widerspruch in sich.
        Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hätte es sich aller-
        dings gewünscht, bereits heute über die Umsetzung der
        Folgerechtsrichtlinie in deutsches Recht sprechen zu kön-
        nen. Wenn dies nicht der Fall ist, liegt das in erster Linie
        an der zögerlichen Haltung der rot-grünen Bundesregie-
        rung. Ihre eigene Zielsetzung für die deutsche Ratspräsi-
        dentschaft im ersten Halbjahr 1999 war die Verabschie-
        dung eines Gemeinsamen Standpunktes; erreicht hat sie
        eine Vertagung. Nachvollziehbare Gründe hierfür konnte
        sie auf Nachfrage unserer Fraktion nicht vorbringen. Da-
        bei drängten bereits damals die zulasten der deutschen
        Künstler und Galeristen bestehenden Wettbewerbsnach-
        teile nach einer schnellen und effektiven Lösung. Die
        Harmonisierung der bereits in 11 EU-Mitgliedstaaten be-
        stehenden Reglungen zum Folgerecht im Kunsthandel tat
        und tut Not. Die durch die Verzögerung für den Kunst-
        standort Deutschland entstehenden Schäden werden mit
        jedem Tag größer. Mit den zurzeit in Rede stehenden
        Übergangsfristen für die Umsetzung der zu erwartenden
        Richtlinie würden die bestehenden Wettbewerbsnachteile
        zementiert.
        Wir fordern die Bundesregierung daher auf, sich end-
        lich nachdrücklich auf EU-Ebene für den schnellen Erlass
        einer Folgerechtsrichtlinie einzusetzen. Diese muss aber
        die Bedürfnisse des Kunststandortes Deutschland auch
        hinreichend berücksichtigen. Ein Kompromiss auf Basis
        des kleinsten gemeinsamen Nenners kann nicht das Ziel
        sein. So lehnt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion eine
        willkürliche optionale Untergrenze von 4 000 Euro für das
        Anfallen eines Folgerechtsbeitrages ab. Auch die Festset-
        zung eine absoluten Obergrenze für den zu leistenden
        Folgerechtsbeitrag in Höhe von 12 500 Euro ist aus unse-
        rer Sicht nicht begründbar. Es ist nicht einzusehen, warum
        der Urheber auf diese Weise von der Teilhabe am wirt-
        schaftlichen Erfolg ausgeschlossen werden soll.
        Lassen Sie uns gemeinsam an einer europäischen Lö-
        sung arbeiten, die den Kunststandort Deutschland und
        ebenso eine faire Teilhabe der Kunst Schaffenden am
        wirtschaftlichen Erfolg sichert. Der Gesetzentwurf, über
        den wir heute sprechen, kann dies nicht leisten.
        Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Zum gegenwärtigen Zeitpunkt lehnen wir den Entwurf
        der F.D.P. ab, und zwar aus folgendem Grund: Aufgrund
        der schlecht zu vermittelnden Positionen der einzelnen
        Länder ist es in Brüssel bisher noch zu keiner endgültigen
        Einigung zur Folgerechtsrichtlinie gekommen. Es macht
        also gar keinen Sinn, eine noch nicht beschlossene
        EU-Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Vielmehr
        ist erst einmal abzuwarten, in welcher Form und mit
        welchem Inhalt die Richtlinie in der EU letztendlich
        beschlossen wird. Alles andere wäre Zeit- und Energie-
        verschwendung.
        Das Folgerecht, so wie es derzeit in Deutschland und
        in den meisten EU-Mitgliedstaaten existiert und gehand-
        habt wird, gewährleistet den bildenden Künstlern und
        ihren Erben eine Beteiligung an den Einnahmen bei Wei-
        terverkäufen ihrer Werke und somit an deren Wert-
        steigerung. Die Problematik um das Folgerechtsgesetz
        besteht vor allem darin, dass nicht alle EU-Staaten eine
        solche Regelung haben. Im Sinne einer Gleichstellung der
        Künstler in Europa ist eine Harmonisierung anzustreben.
        Komponisten und Autoren sind durch Tantiemen selbst-
        verständlich an allen Veräußerungen ihrer Werke betei-
        ligt. Im Gegensatz dazu sind bildende Künstler beim
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012306
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        Weiterverkauf in einigen Ländern nicht an den Einnah-
        men beteiligt. So gehen beispielsweise Maler, deren
        Bilder auf dem Kunstmarkt in London – dem größten in
        Europa – weiterverkauft werden, leer aus; denn Groß-
        britannien hat bisher kein Folgerecht eingeführt. Dasselbe
        gilt für Irland, die Niederlande und Österreich.
        Die EU arbeitet seit langem an einer europaweiten Har-
        monisierung des Folgerechts, um Benachteiligungen in
        einzelnen Staaten innerhalb der Europäischen Union
        auszuschalten. Die Bundesregierung unterstützt dieses
        Vorhaben tatkräftig und strebt darüber hinaus eine erwei-
        terte internationale Harmonisierung über die Grenzen Eu-
        ropas hinaus an. Eine Übernahme einer EU-Folgerechts-
        richtlinie in nationales Recht ist für die Bundesrepublik
        derzeit nicht so dringlich, wie deren Übernahme in
        Staaten, die im Gegensatz zur Mehrheit der EU-Mitglied-
        staaten noch gar kein Folgerecht haben. Weiterhin sind
        auch zusätzliche Regelungen innerhalb des Folgerechts,
        das wie gesagt in Deutschland schon praktiziert wird,
        genau zu untersuchen und auf ihre Akzeptierbarkeit zu
        überprüfen.
        Eine Absenkung der Beteiligung der Künstler von
        derzeit 5 Prozent auf 3 Prozent, wie in der EU-Richtlinie
        geplant, wird wohl durch die Aufnahme des Folgerechts
        in allen Staaten der EU ausgeglichen. Jedoch sind andere
        Punkte zu bedenken: Über die Eingangssumme, also über
        den minimalen Preis eines Werkes, bei dem das Fol-
        gerecht greifen soll, muss diskutiert werden. Besonders
        ist aber auch über die vorgesehene Deckelung, also die
        feste Obergrenze für durch Folgerecht erzielte Einnahmen
        der Künstler, zu diskutieren; denn sie stellen einen sys-
        tematischen Widerspruch zum Urheberrecht dar.
        Die F.D.P. handelt mit diesem Antrag voreilig. Die
        Einigung in Brüssel ist frühestens im Dezember dieses
        Jahres zu erwarten. Sprechen wir dann darüber!
        Rainer Funke (F.D.P.) Seit langem ist der deutsche
        gegenüber dem internationalen Kunstmarkt unter Wettbe-
        werbsgesichtspunkten extrem benachteiligt. Lediglich in
        Schweden existiert ein derartig wettbewerbsfeindliches
        Folgerecht wie in Deutschland.
        Ein Teil der Staaten, zum Beispiel Frankreich, kennt
        das Folgerecht nur für Kunstversteigerer, andere Länder,
        insbesondere Großbritannien, kennen es gar nicht. Der
        daraus resultierende Wettbewerbsnachteil für die mit dem
        Folgerecht belasteten Kunstmärkte führte dazu, dass sich
        dieser in den EU-Staaten auf London konzentriert. Rund
        80 Prozent des gesamten Kunsthandels innerhalb der
        EU-Staaten werden dort abgewickelt.
        Trotz jahrelanger Diskussionen – nicht zuletzt immer
        wieder hinausgezögert durch den Widerstand einiger Mit-
        gliedstaaten – ist es der EU-Kommission bisher nicht ge-
        lungen, die Regelungen über das Urheberrecht an Kunst-
        werken europaweit zu harmonisieren und damit auf dem
        europäischen Kunstmarkt einheitliche Wettbewerbsbe-
        dingungen zu schaffen.
        Die Bundesregierung hat nichts unternommen, um die
        Angelegenheit zu befördern. Im Gegenteil: Der Bundes-
        kanzler hat die bereits im vergangenen Jahr verabschie-
        dungsreife Folgerechtsrichtlinie auf dem Altar der Au-
        toindustrie geopfert und damit die Zustimmung der briti-
        schen Regierung zur Verhinderung der Altautoverord-
        nung erkauft. Dies ging nicht nur zum Nachteil Herrn
        Trittins, sondern auch der Künstler und Verwerter. Denn
        genau diese brauchen ein einheitliches Folgerecht in Eu-
        ropa, wenn junge deutsche Kunst auf dem deutschen und
        europäischen Kunstmarkt eine Chance haben soll.
        Zwar liegt seit März 2000 die „Richtlinie über das Fol-
        gerecht des Urhebers des Originals eines Kunstwerkes“
        vor; seitdem verheddert sich die Folgerechtsrichtlinie
        aber im Gestrüpp der europäischen Institutionen. Mit un-
        serem Gesetzentwurf für ein Folgerechtsanpassungsge-
        setz wollen wir diesem Zustand der Lähmung entgegen-
        wirken und dem Europäischen Parlament Beine machen.
        Wir Liberalen halten es für nicht länger hinnehmbar,
        dass der Gesetzgebungsprozess in Brüssel weiterhin die
        Entwicklung des Kunstmarkts in Deutschland beeinträch-
        tigt.
        Wir wollen § 26 des Urheberrechtsgesetzes ändern und
        an die wettbewerbsrechtlichen Bedingungen in anderen
        EU-Staaten schnellstmöglich anpassen. Die Folgerechts-
        richtlinie der EU wollen wir daher ohne Übergangsfristen
        in nationales Recht umsetzen. Die bisher vorgesehenen
        langen Übergangsfristen – von zum Teil bis zu 15 Jah-
        ren – würden nämlich aus dem vorgesehenen Harmoni-
        sierungsbeschluss ein stumpfes Schwert machen. Damit
        würde kein fairer Wettbewerb hergestellt, vielmehr würde
        der gegenwärtige, den Kunstmarkt in Deutschland be-
        nachteiligende Rechtszustand aufrechterhalten.
        Der F.D.P.-Bundestagsfraktion geht es aber auch da-
        rum, andere den Wettbewerb im Kunsthandel beeinträch-
        tigende Regelungen zu ändern:
        Erstens. Für den Weiterverkauf von Originalen von
        Kunstwerken gelten in Abhängigkeit vom Verkaufspreis
        gestaffelte Abgabesätze. Die Abgabe beginnt bei 4 000 Eu-
        ro und beträgt höchsten 12 500 Euro.
        Zweitens. Das Folgerecht fällt erstmals nach der ersten
        Veräußerung durch den Urheber an. Der bisherige Rechts-
        zustand, nach dem bereits der erste Verkauf durch den
        Künstler selbst folgerechtspflichtig war, hat gerade jun-
        gen, noch unbekannten Künstlern in besonderer Weise ge-
        schadet und die Verbreitung ihrer Werke auf dem Kunst-
        markt beeinträchtigt.
        Drittens. Die Folgerechtsabgabe wird nur dann fällig,
        wenn die Veräußerung mit Gewinn erfolgt. Eine Abgabe-
        pflicht hinsichtlich der Weiterveräußerung, die keinen
        Gewinn für den Weiterveräußerer enthält, ist volkswirt-
        schaftlich unsinnig. Sie belastet einseitig den Verwerter
        ohne erkennbare Gründe und hemmt die Verbreitung noch
        nicht etablierter und damit riskanter Kunstwerke zusätz-
        lich.
        Die F.D.P.-Bundestagsfraktion will auch die Ver-
        jährungsfristen für den Folgerechtsanspruch neu regeln.
        Die bisherige zehnjährige Verjährungsfrist führte zu
        erheblicher Rechtsunsicherheit, gerade wenn viele Künst-
        ler ihr Folgerecht nicht wahrnehmen. Deshalb haben wir
        die Geltendmachung des Abgaberechts auf ein Jahr ab
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12307
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        Kenntnis der das Abgaberecht auslösenden Tatsachen fi-
        xiert. Nach unserer Ansicht sollte – ohne diese Kenntnis-
        nahme – der Folgerechtsanspruch generell nach fünf Jah-
        ren verjähren. Diese Verjährungsvorschriften stehen im
        Einklang mit den generell vom Bürgerlichen Gesetzbuch
        vorgesehenen Verjährungsfristen für die Geltendmachung
        von Ansprüchen, deren wesentlicher Zweck die Schaf-
        fung von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit im Rechts-
        verkehr ist.
        Die Kritik, die an unserem Gesetzentwurf bereits im
        Vorfeld der ersten Lesung vereinzelt geübt wurde, weise
        ich im Namen meiner Fraktion entschieden zurück. Ich
        frage diese Kritiker: Glauben Sie ernsthaft, an den beste-
        henden Strukturen zum Nachteil der Verwerter und der
        Künstler festhalten zu können?
        Verwerter und Künstler – das möchte ich betonen:
        beide! – werden von der unsererseits vorgeschlagenen
        Neugestaltung profitieren: denn sie ist ausgewogen und
        berücksichtigt die Interessen gerade junger Künstler und
        Verwerter. Die jetzigen Regelungen hingegen bevorzugen
        einseitig und in wettbewerbswidriger Weise die etablier-
        ten Künstler und deren Erben.
        Wir schlagen Ihnen, meine Damen und Herren von den
        anderen Fraktionen, vor, auf der Grundlage unseres Ge-
        setzentwurfes das Folgerecht neu zu regeln und dem
        Kunstmarkt in Deutschland neuen Schwung zu geben.
        Dr. Heinrich Fink (PDS): Im vorliegenden Gesetzent-
        wurf der F.D.P. erkenne ich das berechtigte Anliegen, den
        augenblicklichen Wettbewerbsnachteil des deutschen
        Kunstmarktes gegenüber den Ländern, in denen es kein
        Folgerecht gibt, abzumildern. Den für die Verwirklichung
        dieses Anliegens vorgeschlagenen Weg halte ich aller-
        dings unter anderem aus drei Gründen für problematisch.
        Zum Ersten: Die heutige Debatte über den Gesetzent-
        wurf fällt gerade in die Endphase der langjährigen
        Bemühungen um eine Harmonisierung des Folgerechts
        im Rahmen der Europäischen Union. Vor wenigen Tagen
        wurde im Vorfeld der zweiten Lesung im zuständigen Un-
        terausschuss des Europäischen Parlaments ein entspre-
        chender Richtlinienvorschlag des Ministerrats beraten
        und dabei wurden auch einige Änderungen vorgeschla-
        gen. Deshalb wäre es gewiss sinnvoll, vor einer jeglichen
        nationalen Initiative das endgültige Ergebnis des Harmo-
        nisierungsprozesses abzuwarten, um dann die EU-Richt-
        linie möglichst zielgenau in nationales Recht umzusetzen.
        Zweifellos wäre die bevorstehende fünfte Novellierung
        des Urheberrechts dafür die passende Gelegenheit.
        Zum Zweiten: Ich halte es für sehr wünschenswert,
        wenn Veränderungen in unserem Folgerecht im Einver-
        nehmen zwischen Künstlern und Kunsthändlern erfolgen
        würden. Dies ist im vorliegenden Gesetzentwurf offen-
        sichtlich nicht der Fall. Und auch bei der zukünftigen Um-
        setzung der EU-Richtlinie sollten wir nicht vorschnell
        eine Position festschreiben, mit der die eine oder die an-
        dere Seite „nicht leben“ kann. Immerhin gibt es ja einen
        gemeinsamen Anknüpfungspunkt: Sowohl die Künstler-
        organisationen als auch der Kunsthandel haben sich für
        die europäische Harmonisierung des Folgerechts einge-
        setzt. Aus deutscher Sicht galt es dabei zwei Gewich-
        tungen auszutarieren: einerseits den bildenden Künstle-
        rinnen und Künstlern bzw. ihren Erben eine angemessene
        Beteiligung an den Wertsteigerungen der von ihnen ge-
        schaffenen Kunstwerke zu sichern und andererseits die
        Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Kunstmarktes zu-
        mindest in Europa zu gewährleisten.
        Der Gesetzentwurf der F.D.P. – und damit bin ich beim
        dritten Grund meines Vorbehalts – wird diesem Interes-
        senausgleich zwischen Künstlern und Kunsthandel nicht
        gerecht. Der Vorschlag zielt darauf, sich bisher abzeich-
        nende wichtige Punkte der EU-Richtlinie ohne die vorge-
        sehenen Übergangsfristen, mit denen vor allem Großbri-
        tanniens Zustimmung zur Harmonisierung erreicht
        wurde, ins deutsche Urheberrecht zu übertragen. Zweifel-
        los würde die damit vorgesehene Absenkung des Abgabe-
        satzes von 5 auf durchschnittlich 3 Prozent unserem
        Kunsthandel, an dessen Florieren natürlich auch die
        Künstler ein Interesse haben, sofort zugute kommen. Den
        Künstlern würde allerdings auf diese Weise für längere
        Zeit das Äquivalent fehlen, mit dem die Absenkung des
        Abgabesatzes ausgeglichen werden würde, nämlich die
        Möglichkeit, auch an den Weiterverkäufen ihrer Werke in
        London oder Wien beteiligt zu sein. Denn es ist ja wohl
        davon auszugehen, dass Großbritannien und Österreich
        die ihnen zugestandenen Einführungsfristen ausschöpfen
        werden. Die Hoffnung, dass die Absenkung der Abgabe-
        sätze zu mehr Weiterverkäufen innerhalb Deutschlands
        führen würde, ist mehr als vage. Zudem stünde dieser er-
        hofften Ausweitung des Anspruchs auf das Folgerecht die
        im Gesetzentwurf vorgesehene Festlegung entgegen, das
        Folgerecht erst bei einem Weiterverkaufserlös von
        4 000 Euro einsetzen zu lassen. Fazit: Der deutsche
        Kunsthandel würde zwar sofort von der vorgeschlagenen
        Regelung profitieren, dies jedoch für einige Jahre auf
        Kosten der anspruchsberechtigten Künstler und ihrer Fa-
        milien.
        Ich plädiere also für eine Weiterbehandlung des The-
        mas dann, wenn die europäische Harmonisierungs-
        richtlinie tatsächlich verabschiedet ist und wenn auf die-
        ser Grundlage den beiden betroffenen Seiten hin-
        reichende Gelegenheit gegeben worden ist, einen Aus-
        gleich ihrer Interessen bei der Umsetzung in unser Urhe-
        berrecht zu finden.
        In der Zwischenzeit hätten wir mit dem Urheberver-
        tragsrecht, der Novellierung des Künstlersozialversiche-
        rungsgesetzes und mit den Ausstellungshonoraren Ge-
        genstände voranzubringen, die von ungleich größerer
        Reichweite, Gewichtung und Dringlichkeit als eine iso-
        lierte Neuregelung des Folgerechts sind.
        Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
        desministerin der Justiz: Mit dem vorliegenden Gesetz-
        entwurf soll eine EU-Richtlinie umgesetzt werden, die
        den gesetzlichen Anspruch des Urhebers harmonisiert, ei-
        nen Anteil an dem Erlös aus der Weiterveräußerung sei-
        nes Werkes zu erhalten – das so genannte Folgerecht des
        Urhebers. Der Gesetzentwurf geht davon aus, dass die
        Richtlinie bereits in Kraft getreten ist. Das ist aber nicht
        richtig. Denn das Europäische Parlament bereitet gegen-
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 200012308
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        wärtig erst noch in zweiter Lesung seine Stellungnahme
        vor. Damit ist auch noch offen, ob diese Richtlinie nicht
        in wesentlichen Punkten verändert und urheberfreund-
        licher gestaltet wird.
        Natürlich hindert uns das nicht, bereits jetzt darüber
        nachzudenken, wie wir diese Richtlinie umsetzen wollen.
        Denn auch sonst warten wir nicht auf Europa, wenn wir
        einen dringenden Regelungsbedarf sehen. Aber ganz so,
        wie Sie, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von
        der F.D.P.-Fraktion, sich das vorstellen, wird die Richt-
        linie von dieser Bundesregierung nicht umgesetzt werden.
        Ihr Entwurf enthält eine Reihe von Regelungen, die für
        die Urheber Nachteile bringen.
        Lassen Sie mich dies im Einzelnen erläutern:
        Erstens. Die Umsetzung der Richtlinie wird zu einer
        Absenkung des nationalen Vergütungsaufkommens füh-
        ren. Das geltende Recht sieht in § 26 Urheberrechtsgesetz
        bei der Veräußerung eines Werks der bildenden Künste
        vor, dass dann, wenn ein Kunsthändler an der Veräuße-
        rung beteiligt ist, der Urheber einen Anspruch auf 5 Pro-
        zent des Verkaufspreises hat. Demgegenüber sieht die
        Richtlinie mit zunehmender Höhe des Verkaufspreises
        sinkende Prozentsätze für eine Beteiligung des Urhe-
        bers vor. Außerdem wird eine absolute Obergrenze von
        12 500 Euro eingeführt, bis zu der ein Urheber an dem
        Verkaufspreis beteiligt wird. Zwar wird mit der Umset-
        zung der Richtlinie ein Folgerecht in anderen Mitglied-
        staaten der Europäischen Union begründet, die dies bis-
        lang nicht gekannt haben. Dementsprechend kann man
        sich insgesamt gleichwohl nach Umsetzung der Richtlinie
        in allen Mitgliedstaaten eine Erhöhung des Vergütungs-
        aufkommens erhoffen. Die Staaten, in denen es jetzt noch
        kein Folgerecht gibt, werden die Frist zur Umsetzung der
        Richtlinie voraussichtlich voll ausschöpfen. Damit wird
        auch erst am Ende der Frist insgesamt für deutsche Ur-
        heber eine Erhöhung des Vergütungsaufkommens spürbar
        werden.
        Zweitens. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass ein Folge-
        recht des Urhebers erst bei einem Mindestverkaufserlös
        von 4 000 Euro einsetzt, dem Betrag, bei dem nach dem
        Entwurf der Richtlinie ein Folgerecht einsetzen muss. In
        Deutschland gilt gegenwärtig eine Untergrenze von
        100 DM. Wenn über eine Erhöhung dieser Untergrenze
        nachgedacht werden soll, darf der neue Wert sicher nicht
        der in der Richtlinie genannte sein. Auch bei weniger teu-
        ren Kunstwerken soll weiterhin in Deutschland ein Fol-
        gerecht bestehen. Der durch die Richtlinie eröffnete
        Handlungsspielraum soll im Interesse der Urheber ge-
        nutzt werden.
        Drittens. Wir werden auch von der Möglichkeit Ge-
        brauch machen, für die erste „Tranche“, das heißt bei Ver-
        kaufspreisen von 4 000 bis 50 000 Euro, einen Folge-
        rechtssatz von 5 Prozent – und nicht von 4 Prozent wie in
        dem Entwurf vorgesehen – festzuschreiben, und insoweit
        bei der geltenden deutschen Regelung bleiben.
        Dies sind bereits gewichtige Gründe, den Entwurf der
        F.D.P.-Fraktion abzulehnen. Darüber hinaus enthält der
        Entwurf aber auch Regelungen, die mit dem Richtlinien-
        text in seiner jetzigen Fassung nicht zu vereinbaren sind
        und schon deswegen nicht befürwortet werden können.
        Der erste Punkt betrifft die Regelung der Voraussetzun-
        gen des Folgerechts. Nach der Richtlinie in ihrer jetzigen
        Fassung ist das Folgerecht unabhängig davon, ob bei der
        Veräußerung ein Gewinn erzielt wird. Der Urheber hat
        also in jedem Fall Anspruch auf seinen Anteil am Erlös
        der Weiterveräußerung. Nach dem Gesetzentwurf soll
        demgegenüber ein Folgerecht nur bei einer Veräußerung
        mit Gewinn bestehen. Das ist mit der Richtlinie nicht zu
        vereinbaren. Sie stellt deswegen nicht auf den Gewinn ab,
        weil sich dann die Frage stellen würde, wie denn der Ge-
        winn zu berechnen wäre. Und darüber kann man lange
        streiten.
        Ein weiterer Punkt betrifft die Regelung der Folge-
        rechtsfreiheit. Nach der Richtlinie in ihrer jetzigen Fas-
        sung können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass Weiter-
        veräußerungen in den ersten drei Jahren nach Erwerb
        unmittelbar vom Urheber folgerechtsfrei bleiben, wenn
        der bei der Weiterveräußerung erzielte Preis 10 000 Euro
        nicht übersteigt. Der Vorschlag des Entwurfs, stattdessen
        eine vollständige Folgerechtsfreiheit auch bei einer Wei-
        terveräußerung durch eine Galerie zu gewähren, ist eben-
        falls nicht mit dem Richtlinienvorschlag vereinbar. Im
        Übrigen ist meiner Meinung nach auch noch zu prüfen, ob
        von der Regelung in der Richtlinie – wenn es denn dabei
        bleibt – überhaupt Gebrauch gemacht werden sollte.
        Lassen Sie uns also erst einmal abwarten, wie der Text
        der Richtlinie endgültig aussehen wird. Und wenn dies
        feststeht, sollte gemeinsam mit allen beteiligten Kreisen
        – den Urhebern, der VG Bild-Kunst, den Galerien und
        Auktionshäusern – darüber nachgedacht werden, wie wir
        denn die Richtlinie gemeinsam umsetzen wollen.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 127. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2000 12309
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