Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Zunächst müssen wir eine Wahl der Mitglieder im Stif-
tungsrat der Stiftung „Humanitäre Hilfe für durch Blut-
produkte HIV-infizierte Personen“ vornehmen, da ihre
Amtszeit am 30. Juli dieses Jahres endet. Gemäß § 8
Abs. 1 des HIV-Hilfegesetzes werden zwei Mitglieder
für den Stiftungsrat vom Deutschen Bundestag benannt.
Die Fraktion der SPD schlägt den Kollegen Horst
Schmidbauer und die Fraktion der
CDU/CSU den Kollegen Gerhard Scheu vor. Sind Sie
damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch.
Dann sind die beiden Kollegen als Mitglieder für den Stif-
tungsrat „Humanitäre Hilfe“ benannt.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
verbundene Tagesordnung dieser Woche um weitere Zu-
satzpunkte erweitert werden. Die Punkte entnehmen Sie
bitte der folgenden Zusatzpunktliste:
1. Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten Hübner, Fred
Gebhardt, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS: Eine nachhaltige demokratische und so-
ziale Entwicklung in Kolumbien unterstützen – Drucksache
14/3782 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
2. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Haltung
der Bundesregierung zur öffentlichen Kritik am Bericht
der Bundesregierung über die Wirkungen der Nutzungs-
entgeltverordnung
3. Vereinbarte Debatte zur Steuerpolitik
4. Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Ar-
tikel 77 des Grundgesetzes zu dem
Gesetz zur Senkung der Steuersätze und zur Reform der Unter-
nehmensbesteuerung –
Drucksache 14/2683, 14/3074, 14/3366, 14/3640, 14/3760 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Joachim Poß
Beratung des Antrags der Abgeordneten Brunhilde Irber,
Dr. Eberhard Brecht, Annette Faße, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Sylvia Voß, Matthias
Berninger, Thea Dückert, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Hildebrecht Braun , Rainer Brüderle,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. sowie der
Abgeordneten Rosel Neuhäuser, Dr. Heinrich Fink, Rolf
Kutzmutz, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS: Siche-
rung der Volksfeste, des Markthandels und des Schaustel-
lergewerbes – Drucksache 14/3786 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
6. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sammelübersicht 182 zu Petitionen
– Drucksache 14/3793 –
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sammelübersicht 183 zu Petitionen
– Drucksache 14/3794 –
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sammelübersicht 184 zu Petitionen
– Drucksache 14/3795 –
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sammelübersicht 185 zu Petitionen
– Drucksache 14/3796 –
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sammelübersicht 186 zu Petitionen– Drucksache 14/3797 –7. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:Absenkung der Beiträge für die Bezieher von Arbeitslosen-hilfe und die Folgen für die gesetzlichen Krankenkassen8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim Tappe,Dr. Werner Schuster, Wilhelm Schmidt , Dr. PeterStruck und der Fraktion der SPD sowie der AbgeordnetenDr. Angelika Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, KerstinMüller , Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Friedensbemühungen am Horn vonAfrika verstärken – Drucksache 14/3767 –9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner Schuster,Joachim Tappe, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der10749
114. SitzungBerlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000Beginn: 9.00 UhrFraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller ,Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN: Demokratische und friedliche Kräfte im Sudan un-terstützen – Drucksache 14/3768 –10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim Tappe, Dr.Werner Schuster, Wilhelm Schmidt , Dr. PeterStruck und der Fraktion der SPD sowie der AbgeordnetenDr. Angelika Köster-Loßack, Kerstin Müller , RezzoSchlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Konflikt in der Region der Großen Seen eingedämmt –nicht gelöst – Drucksache 14/3791 –11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten Hübner, FredGebhardt, Heidi Lippmann, weiterer Abgeordneter und derFraktion der PDS: Abschiebestopp für Flüchtlinge ausÄthiopien und Eritrea – Drucksache 14/3547 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Auswärtiger AusschussAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung12. Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach,Hermann Bachmaier, Bernhard Brinkmann , wei-teren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Ab-geordneten Volker Beck , Marieluise Beck (Bremen),Claudia Roth , weiteren Abgeordneten und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Beendigung der Diskriminierunggleichgeschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspartnerschaf-ten – Drucksache14/3751 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Auswärtiger AusschussInnenausschussFinanzausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für Arbeit und SozialordnungVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungHaushaltsausschuss13. Beratung des Antrags der Abgeordneten Alfred Hartenbach,Margot von Renesse, Hans-Joachim Hacker, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der SPD sowie der AbgeordnetenVolker Beck , Hans-Christian Ströbele, Marieluise Beck
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN: Einbeziehung von eingetragenenLebenspartnerschaften in die Hinterbliebenenversorgung– Drucksache 14/3792 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungVerteidigungsausschuss14. Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach,Hermann Bachmaier, Bernhard Brinkmann , wei-teren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Ab-geordneten Volker Beck , Hans-Christian Ströbele,Kerstin Müller , Rezzo Schlauch und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss15. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergän-
14/1932 –
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
– Drucksache 14/3802Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Michael LutherReinhard Schultz
bb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäߧ 96 der Geschäftsordnung– Drucksache 14/3803Berichterstattung:Abgeordnete Susanne JaffkeHans Georg WagnerOswald MetzgerDr. Günter RexrodtDr. Uwe-Jens RösselVon der Frist für den Beginn der Beratung soll – soweites bei einigen Tagesordnungspunkten erforderlich ist –abgewichen werden.Des Weiteren wurde vereinbart, die Tagesordnungs-punkte 19 „Keine Hermesbürgschaften für den Ilisu-Stau-damm“ und 21 a und b „Änderung des Grundgesetzes –Artikel 16“ abzusetzen.Der Gesetzentwurf „Verbesserung der Zusammenar-beit von Arbeitsämtern und Trägern der Sozialhilfe“, derbisher als Tagesordnungspunkt 27 c ohne Debatte über-wiesen werden sollte, soll heute mit 30 Minuten als letz-ter Tagesordnungspunkt beraten werden.Außerdem mache ich auf nachträgliche Ausschuss-überweisungen im Anhang zur Zusatzpunkteliste auf-merksam:Der in der 64. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlichdem Ausschuss für Tourismus zur Mitberatung über-wiesen werden.Gesetzentwurf von den Abgeordneten Dr. GuidoWesterwelle, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, RainerFunke, weiteren Abgeordneten und der Fraktionder F.D.P. zur Aufhebung des Ladenschlussge-setzes – Drucksache 14/1671 –überwiesen:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für TourismusDer in der 106. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich demAuswärtiger Ausschuss zur Mitberatung überwiesenwerden.Antrag der Abgeordneten Adelheid Tröscher,Friedhelm-Julius Beucher, Lothar Mark, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD sowie derAbgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller , RezzoSchlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Präsident Wolfgang Thierse10750
GRÜNEN: Entwicklungszusammenarbeit mitKuba – Drucksache 14/3128 –überwiesen:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung
Auswärtiger AusschussAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für TourismusHaushaltsausschussDer in der 111. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Fi-nanzausschuss zur Mitberatung überwiesen werden.
Guttmacher, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der F.D.P.: Wohngeld erhöhen, Bürokratieabbauen, Länderkompetenz stärken: Reform-chancen beim sozialen Wohnungsbau konse-quent nutzen – Drucksache 14/3676 –überwiesen:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialordnungHaushaltsausschussSind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-sen.Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 7 a bis c:a) – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Bernd Reuter, Dieter Wiefelspütz,Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD, denAbgeordneten Wolfgang Bosbach, Friedrich Merz,Michael Glos und der Fraktion der CDU/CSU, denAbgeordneten Volker Beck , Kerstin Müller
, Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN, den Abgeordneten JürgenW. Möllemann, Dr. Max Stadler, Dr. WolfgangGerhardt und der Fraktion der F.D.P. sowie denAbgeordneten Ulla Jelpke, Dr. Gregor Gysi undder Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Er-innerung, Verantwortung und Zukunft“– Drucksache 14/3206 –
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung,Verantwortung und Zukunft“– Drucksache 14/3459 –
aa) Beschlussempfehlung und Bericht desInnenausschusses
– Drucksache 14/3758 –Berichterstattung:Abgeordnete Bernd ReuterMartin HohmannVolker Beck
Dr. Max StadlerUlla Jelpke
– Drucksache 14/3759 –Berichterstattung:Abgeordnete Hans Georg WagnerHans Jochen HenkeOswald MetzgerDr. Günter RexrodtDr. Uwe-Jens Rösselb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses zu demAntrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Dr.Heinrich Fink, Dr. Barbara Höll, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der PDSZügige Entschädigung für Zwangsarbeiterin-nen und Zwangsarbeiter und Errichtung einerBundesstiftung– Drucksachen 14/1694, 14/3758 –Berichterstattung:Abgeordnete Bernd ReuterMartin HohmannVolker Beck
Dr. Max StadlerUlla Jelpkec) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Dr. Christa Luft, Heidemarie Ehlert,Dr. Barbara Höll, weiteren Abgeordneten und derFraktion der PDS eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Änderung des Einkommensteuer-gesetzes– Drucksache 14/472 –
aa) Beschlussempfehlung und Bericht desFinanzausschusses
– Drucksache 14/3731 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Barbara Höll
– Drucksache 14/3737 –Berichterstattung:Abgeordnete Hans Jochen HenkeHans Georg WagnerOswald MetzgerDr. Günter RexrodtDr. Christa LuftIch weise darauf hin, dass wir über den Gesetzentwurfzur Errichtung einer Stiftung namentlich abstimmen wer-den.Zu diesem Gesetzentwurf liegt ein gemeinsamer Ent-schließungsantrag der Fraktionen der SPD, BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN, F.D.P. und der PDS vor. Nach ei-ner interfraktionellen Vereinbarung sind für die Ausspra-che eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wi-derspruch. Dann ist es so beschlossen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Präsident Wolfgang Thierse10751
Ich begrüße zu diesem Tagesordnungspunkt einigeausländische Gäste, darunter Abgeordnete des polni-schen Parlamentes, des Sejm, sehr herzlich. Seien Sieuns willkommen!
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Beauf-tragte des Bundeskanzlers, Graf Lambsdorff.Dr. Otto Graf Lambsdorff, Beauftragter des Bundes-kanzlers für die Stiftungsinitiative Deutscher Unterneh-men: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen!Meine Herren! Am 14. April hat der Deutsche Bundestagden von allen Fraktionen eingebrachten Entwurf einesGesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Ver-antwortung und Zukunft“ in erster Lesung behandelt.Heute – knapp drei Monate später – stehen Sie vor derzweiten und dritten Lesung. Kaum ein Wort, kaum einSatzzeichen ist unverändert geblieben.Die Berichterstatter und der Bundesminister der Fi-nanzen haben eine wahrlich eindrucksvolle Arbeit geleis-tet, um im Gesetzentwurf mit dem Rhythmus deutsch-amerikanischer Verhandlungsrunden, aber auch mit denAbsprachen mit deutschen Unternehmen, Osteuropäernund vielen Opfergruppen Schritt zu halten. Herr Bosbach,Sie haben die Papierflut, die dadurch entstanden ist, zuRecht beklagt. Im Arbeitskreis war sie noch viel größer.Wir haben volles Verständnis für Ihre Klagen.Dass es gelungen ist, die Allparteienkoalition zusam-menzuhalten, ist in meinen Augen eine große politischeLeistung, für die Frau Jelpke, Herr Beck, Herr Bosbach,Herr Reuter und Herr Stadler und nicht zuletzt HerrWiefelspütz gemeinsam verantwortlich zeichnen.
Meine Damen und Herren, am 14. April 2000 habe ichIhnen die vorausgegangenen Etappen unseres Verhand-lungsprozesses vorgestellt. Es sind zwei wesentlicheSchritte hinzugekommen. Am 22. Mai 2000, nach langen,zum Teil öffentlich geführten Debatten, hat ein amerika-nischer Reparationsverzicht den Weg zum Abschlussfrei gemacht. Im deutsch-amerikanischen Regierungsab-kommen wird dazu ausgeführt werden:The United States will not raise any reparation claimsagainst Germany.Auf Deutsch: Die Vereinigten Staaten werden keine Re-parationsansprüche gegen Deutschland geltend machen.Es ist leicht zu behaupten, dass die US-Regierung hiernur Evidentes bestätigt. Das Thema Reparationen hatkomplizierte Diskussionen erfordert. Die Beratung durchProfessor Frowein, Direktor des Max-Planck-Instituts fürausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, wardabei besonders hilfreich.Am vergangenen Pfingstmontag haben wir uns endlichnach weiteren dramatischen Diskussionen auf denRechtsfrieden geeinigt, der in einem Briefwechsel zwi-schen dem außen- und sicherheitspolitischen Berater desBundeskanzlers, Michael Steiner, dem National SecurityAdvisor, Sandy Berger, und der Rechtsberaterin des ame-rikanischen Präsidenten, Frau Nolan, festgehalten ist.Erst unsere Intervention, die die Angelegenheit auf dieEbene Bundeskanzleramt-Weißes Haus brachte, ermög-lichte es, in einer äußerst schwierigen Verhandlungsphasedie Bedenken des amerikanischen Justizministers zuüberwinden. Der so erzielte Rechtsfrieden wird auch dortgreifen, wo anhängige Klagen etwa nicht zurückgenom-men oder neue Klagen erhoben werden.Wir befinden uns jetzt in der Endphase der Redaktiondes deutsch-amerikanischen Regierungsabkommenszur Rechtssicherheit und der Abschlusserklärung derKonferenzteilnehmer – jeweils mit einer Reihe von Anla-gen. Diese Texte werden voraussichtlich am 17. Juli 2000anlässlich eines feierlichen Abschlussplenums unter-schrieben werden: von der deutschen und der amerikani-schen Regierung, den fünf mittel- und osteuropäischenStaaten Polen, Russland, Tschechische Republik, Ukraineund Weißrussland, von Israel und der Claims Conference,von der Stiftungsinitiative Deutscher Unternehmen undvon den an den Plenarsitzungen beteiligten US-Anwälten.Mit diesem Gesetz und diesen begleitenden Texten istvon deutscher Seite alles getan, damit die Auszahlungenan die Partnerorganisationen in diesem Jahr beginnenkönnen. Über eine Million ältere und alte Menschen ha-ben darauf 55 Jahre oder zumindest seit Beginn der Ge-spräche vor eineinhalb Jahren gewartet. Die meisten lebenin Osteuropa und die Sterberate scheint nach jüngeren In-formationen aus Russland noch viel höher zu sein, als wires bisher angenommen haben.Bei den Diskussionen über viele juristische Detailssind die Bilder der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen undZwangsarbeiter häufig verblasst. Heute haben wir allenAnlass, wieder an sie zu denken.
Bundespräsident Rau hat uns am 17. Dezember 1999 da-rauf verpflichtet, das Leid der Zwangsarbeiter als Leid an-zuerkennen und das Unrecht, das ihnen angetan wordenist, Unrecht zu nennen.Wie ich schon am 14. April 2000 hervorheben konnte,unterstützten die meisten der fast 2 000 Zuschriften, dieich in diesen Monaten erhielt, das Vorhaben der Bundes-stiftung. Vor einigen Wochen hatte ich ein persönlichesErlebnis in Berlin. Bei der Hauptversammlung der Deut-schen Lufthansa standen Aktionäre auf und fragten nachdem Beitrag der Gesellschaft zur Stiftungsinitiative. Ichhatte eigentlich angenommen, sie würden ihn eher kriti-sieren. Aber ausnahmslos alle fragten, ob die Lufthansanicht mehr tun könne, als 40 Millionen DM zu zahlen.Eine erstaunliche und erfreuliche Erfahrung!
Es erreichten mich aber auch fragende Briefe, vielevon ehemaligen deutschen Zwangsarbeitern der unmittel-baren Nachkriegszeit in Polen, in Russland, in der Tsche-chischen Republik, aber auch im Westen. In vielen Brie-fen war das Anliegen nicht Entschädigung, sondern das
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Präsident Wolfgang Thierse10752
Bedürfnis, das eigene durchaus vergleichbare Leid nichtvergessen zu lassen. Dafür habe ich tiefes Verständnis.
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, drei Fra-gen des Gesetzentwurfes anzusprechen.Erstens. Der Bundestag wird in seiner Entschließungdazu auffordern, dass wir auch für die ehemaligenZwangsarbeiter aus jenen Ländern Sorge tragen, die nichtmit am Verhandlungstisch saßen: etwa aus der Slowakei,aus Slowenien, aus Ex-Jugoslawien. Viele sind als „dis-placed persons“ nach Frankreich, England, Amerika aus-gewandert oder leben in anderen Staaten in der Diaspora.Wir wissen, dass sich die 540 Millionen DM, die dafür imGesetz vorgesehen sind, als zu knapp erweisen könnten.Genau weiß es niemand. Wir haben uns gemeinsam mitDeputy Secretary Eizenstat darüber Gedanken gemacht,wie wir eine annähernd vergleichbare Entschädigung si-cherstellen können. Es geht dabei um nicht ausgeschöpftePlafonds, Gelder aus dem US-Fonds, Mittel aus demSchweizer Bankenvergleich und Zinsen aus dem Stif-tungskapital. Es wird eine zentrale Aufgabe des Stif-tungskuratoriums sein, die materielle Gerechtigkeit zuüberwachen.Der Innenausschuss schlägt Ihnen vor, die Internatio-nal Organization for Migration als siebte Partnerorga-nisation mit der Aufgabe zu betrauen, den so genannten„Rest der Welt“ zu betreuen, und ihr dafür von Anfang aneinen Platz im Kuratorium einzuräumen. Ich begrüßedies.
Mit dem In-Kraft-Treten des Gesetzes, also in wenigerals einem Monat, beginnt die höchstens einjährige An-tragsfrist für die Zahlungen. Dann müssen die 80 IOM-Büros weltweit in der Lage sein, die Anträge entgegenzu-nehmen und ihre Prüfung einzuleiten. Die anderen Part-nerorganisationen, die über Datenbanken und Personalverfügen, sind gegenüber der IOM im zeitlichen Ablaufim Vorteil. Ich meine, dass wir der IOM mit einer ange-messenen Anschubfinanzierung helfen müssen, den Ab-stand zu anderen Partnerorganisationen im Interesse derOpfer zu verringern.
Zweitens. Die baltischen Staaten fordern, eigene Pla-fonds und die Verteilung durch eigene Opferorganisatio-nen vorzusehen. Ähnliches gilt für eine Reihe andererStaaten und Organisationen. Ich erwähne nur Slowenien,die Slowakei oder die Polen in Amerika. BundeskanzlerSchröder hatte mich eingeladen, ihn in der vergangenenersten Juniwoche auf eine Reise in das Baltikum zu be-gleiten, eine Region, die, wie manche von Ihnen wissen,mir und meiner Familie nicht völlig unvertraut ist. Umsomehr kann ich daher die Zurückhaltung der baltischen Be-troffenen gegenüber dem Vorschlag verstehen, die Zah-lungen über die Partnerstiftungen in Minsk und Moskauzu erhalten.Ich habe meinen baltischen Gesprächspartnern vorge-schlagen, in ihren Staaten Annahmeorganisationen einzu-richten, deren Vertreter die Anträge in der Landesspracheentgegennehmen und nach Moskau bzw. Minsk weiterlei-ten. Auch die Auszahlung sollte vor Ort erfolgen. Aber ei-gene Plafonds für die baltischen Staaten sind nicht mög-lich, weil sie die im Dezember abgeschlossene Auftei-lungsdiskussion erneut eröffnen und außerdem einenPräzedenzfall schaffen würden, auf den sich alle anderenStaaten zu Recht berufen könnten.Ich betone, dass ich für das politische Anliegen durch-aus Verständnis habe, und zwar umso mehr, als jetzt Mos-kau erneut das Märchen verbreitet, das Baltikum sei derSowjetunion freiwillig beigetreten.Herr von Stetten und ich, wir haben inzwischen unse-ren Wettstreit, wer denn von uns beiden baltischer sei,friedlich beigelegt.
Erst in dem Moment, in dem der Deutsche Bundestagfestgestellt hat, dass mit der Abweisung der in den USAanhängigen Klagen der Rechtsfrieden hergestellt ist, wirddie Stiftung berechtigt und verpflichtet, ihre Auszahlun-gen zu beginnen. Das Wort „Konsens“, Herr Bundes-kanzler, habe ich, wie Sie wissen, bewusst vermieden.
Ich halte fest: Die vor einem US-Richter zusammen-geführten Sammel- und Einzelklagen müssen vom Tisch.Ob dies auch für die letzte Klage etwa vor einem Einzel-staatsgericht in Kentucky gilt, mag der Bundestag zu ge-gebener Zeit entscheiden. Er hat sich das im Gesetz zuRecht vorbehalten.Auch ich hätte mir eine mutigere erneute Verpflich-tung der deutschen Wirtschaft vorstellen können. Aberich vertraue auf die von der deutschen Wirtschaft gege-bene Zusage, der Stiftung insgesamt 5 Milliarden DM zurVerfügung zu stellen. Es ist ein öffentliches Ärgernis, dassdie Mehrzahl der Unternehmen noch immer nicht der Stif-tungsinitiative beigetreten ist.
Die Gründungsunternehmen der Stiftungsinitiativewaren sicherlich zu optimistisch und fangen erst jetzt an,Klartext zu sprechen. Ich sage auch hier ganz deutlich:Kein deutsches Unternehmen, auch wenn es erst nachdem Kriege gegründet wurde, darf sich von der Stiftungs-initiative ausschließen. Es gibt keinen Grund, sich der Ge-samtverantwortung der deutschen Wirtschaft zu entzie-hen.
Diejenigen, die sich nicht durch die Vergangenheit be-lastet fühlen, sollten sich mit den Aufgaben des Zukunfts-fonds identifizieren können, der in der Stiftung einezentrale Bedeutung hat. Denen, die aus verständlichenGründen den einen oder anderen Einwand gegen das Stif-tungsgesetz haben, möchte ich mit aller Deutlichkeit zuverstehen geben, dass Moral und Geschäft selten so nahebeieinander lagen wie bei diesen Verhandlungen. Die
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Dr. Otto Graf Lambsdorff10753
Stiftung schützt unmittelbar deutsche Interessen in denUSA, nämlich unsere Exporte und Investitionen. Sie si-chert damit auch Arbeitsplätze in Deutschland. Sie fördertden Handelsaustausch zwischen den Ländern und dasVertrauen in die Märkte. Damit trägt sie entscheidend zurErhaltung der guten deutsch-amerikanischen Beziehun-gen bei. Eine Fortsetzung der Gerichtsverfahren in Ame-rika mit aller öffentlichen Begleitmusik hätte dasdeutsch-amerikanische Verhältnis schwer belastet.Meine Damen und Herren, ich stehe heute sicherlichdas letzte Mal vor Ihnen im Bundestag, der, wie Sie wis-sen, einen großen Teil meines Lebens ausgemacht hat. Ichhätte mir allerdings nie träumen lassen, den letzten Auf-tritt von der rot-grünen Regierungsbank aus zu bestreiten;aber so ist die Welt.
Herr Bundeskanzler, ich werden Ihnen in Kürze Voll-zug melden. Ich hoffe, dass ich Ihnen allen mit dieser Auf-gabe, die ich in vollem Bewusstsein der damit verbunde-nen Verantwortung übernommen habe, einen Dienst er-weisen konnte.
Ich will nicht schließen, ohne denjenigen Dank zu sa-gen, deren Mithilfe für das Gelingen unerlässlich war.Mein Dank geht zuerst an Deputy Secretary StuartEizenstat, an seinen unermüdlichen Mitstreiter Botschaf-ter J. D. Bindenagel und an Dr. Manfred Gentz, den Spre-cher der Stiftungsinitiative Deutscher Unternehmen.
Nicht zuletzt geht mein Dank an Otto Löffler vom Bun-desfinanzministerium und an die hochmotivierten Mitar-beiter meines kleinen Arbeitsstabes, vor allem an dessenLeiter Michael Geier.
Meine Damen und Herren, Ihre heutige Entscheidungwird helfen, die Vergangenheit nicht zu vergessen und denWeg in eine Zukunft zu stärken, in der sich solche Unta-ten nicht wiederholen werden. Bitte, stimmen Sie demGesetzentwurf zur Errichtung der Stiftung „Erinnerung,Verantwortung und Zukunft“ zu.Vielen Dank.
Lieber Kollege
Lambsdorff, ich darf Ihnen im Namen des ganzen Hauses
unseren herzlichen Dank für Ihre Arbeit aussprechen.
Nun erteile ich dem Kollegen Wolfgang Bosbach,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine große Mehrheitder Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion im DeutschenBundestag wird dem Gesetzentwurf zur Errichtung derStiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ heutezustimmen.
Dies geschieht allerdings nicht deshalb, weil sie der Auf-fassung ist, dass im Verlaufe der Beratungen über diesenGesetzentwurf alle offenen Fragen beantwortet, alle Pro-bleme gelöst, ein Höchstmaß an Gerechtigkeit gegenüberallen Opfern und eine hundertprozentige Rechtssicherheiterzielt worden seien, sondern in der Überzeugung, dassdurch dieses Gesetz eine entscheidende Voraussetzungdafür geschaffen wird, dass 55 Jahre nach dem Ende desZweiten Weltkrieges und damit auch der Naziherrschaftden ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangarbei-tern, die verschleppt, entrechtet, misshandelt und ausge-beutet wurden, spät – für viele leider zu spät – in Form ei-ner humanitären Geste ein Stück Gerechtigkeit und Wie-dergutmachung für erlittenes Leid widerfährt. Dies giltinsbesondere für jene Opfer, die bis heute die umfangrei-chen Entschädigungs- und Wiedergutmachungsleistun-gen der Bundesrepublik nicht in Anspruch nehmen konn-ten.Dieses Gesetz ist nicht zuletzt – in Verbindung mit denBegleitabkommen und mit den völkerrechtlich verbindli-chen Erklärungen der Verhandlungspartner – eine ent-scheidende Voraussetzung dafür, dass deutschen Firmenim In- und Ausland und insbesondere in den USA ein ho-hes Maß an Rechtssicherheit und Rechtsfrieden und einweitgehender Schutz vor administrativen Schikanen ga-rantiert wird.Wer will bestreiten – darauf hat Graf Lambsdorff zuRecht hingewiesen –, dass auf diesem ebenso wichtigenwie sensiblen Gebiet der Entschädigung für nationalsozi-alistische Zwangsarbeit Geschäft und Moral eng beiein-ander liegen?Angesichts der Klagen, insbesondere der Sammelkla-gen und der Droh- und Boykottkulisse in den USA, habendie deutschen Unternehmen ein berechtigtes und nach-vollziehbares Interesse daran, dass die schwierigen undkomplexen humanitären, aber auch rechtlichen Fragenund Anliegen möglichst rasch zur Zufriedenheit aller Be-teiligten auf Dauer, endgültig geklärt werden.Wenn einige Kolleginnen und Kollegen unserer Frak-tion dem Gesetzentwurf dennoch nicht zustimmen kön-nen, dann bedeutet das weder, dass diese Kolleginnen und
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Dr. Otto Graf Lambsdorff10754
Kollegen für das humanitäre Anliegen der Stiftung oderfür die berechtigten Interessen der deutschen Wirtschaftkein Verständnis hätten, noch, dass sie dem Leid und demUnrecht, das den ehemaligen Zwangsarbeitern zugefügtwurde, gar gleichgültig gegenüberstehen. Bei ihnen über-wiegt die Sorge, dass durch diese Stiftung zwar Unrechtzumindest teilweise wieder gutgemacht werden soll,gleichzeitig aber neue Ungerechtigkeiten entstehen könn-ten, dass zwar formal von einer abschließenden Rege-lung zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Un-rechts gesprochen wird, dass aber tatsächlich schon baldneue Forderungen gestellt und akzeptiert werden könntenund dass sich auch der vereinbarte Rechtsfrieden mögli-cherweise als trügerische Hoffnung erweisen könnte.Auch wenn ich selber mit der großen Mehrheit meinerFraktion bei Abwägung aller Argumente zu dem Ergebniskomme, dass ich dem Gesetzentwurf trotz der auch hierschon angesprochenen Probleme in einzelnen Detailfra-gen, die nicht verschwiegen, sondern offen angesprochenwerden sollten, aus Überzeugung zustimme, so darf ichdennoch darum bitten, die Argumente derjenigen Kolle-ginnen und Kollegen, die eine andere Auffassung vertre-ten, nicht als schlichtweg unbegründet abzulehnen oderihrem Nein eine Motivlage zu unterstellen, die tatsächlichnicht vorhanden ist.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dankt Ihnen, lieberGraf Lambsdorff, für Ihre umsichtige und kluge Verhand-lungsführung. Gerne wiederhole ich das, was ich bereitsbei Einbringung des Gesetzentwurfes gesagt habe: Siewaren zur richtigen Zeit der richtige Mann am richtigenOrt. Ohne Ihr unermüdliches Engagement in dem lang-wierigen und schwierigen Verhandlungsprozess wäre dieEinigung nicht zu erzielen gewesen. Die Opfer und unserLand haben Ihnen viel zu verdanken.
Unser aller Dank gebührt aber auch den Mitarbeiterin-nen und Mitarbeitern Ihres Arbeitsstabes. Auch sie habenviel mehr als nur ihre Pflicht getan und einen wichtigenBeitrag dazu geleistet, dass wir diesen Gesetzentwurfheute abschließend beraten und verabschieden können.
Die Haltung der Unionsfraktion zu einigen besonderswichtigen Punkten des gemeinsamen Gesetzentwurfesaller im Bundestag vertretenen Fraktionen haben wir ineiner gesonderten Erklärung zur Abstimmung zusammen-gefasst. Lassen Sie mich zu einigen Punkten Stellungnehmen:Die gelegentlich geäußerte Kritik, es werde aber auchallerhöchste Zeit, dass sich die Bundesrepublik Deutsch-land 55 Jahre nach dem Ende der Nazi-Barbarei endlicheinmal des Themas Entschädigung für NS-Unrecht an-nehme, ist zumindest in dieser Form nicht nachvollzieh-bar. Diese Stiftungsinitiative zur Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern knüpft an das Entschädigungs- undVersöhnungswerk an, das schon Anfang der 50er-Jahreunter Bundeskanzler Konrad Adenauer begründet wurde.Leider gab es in den letzten Monaten nur wenige Veröf-fentlichungen, in denen darauf hingewiesen wurde, dassdie Bundesrepublik in den vergangenen Jahrzehnten be-reits über 104Milliarden DM an Wiedergutmachungsleis-tungen erbracht hat. Auf den Wert der D-Mark von heuteumgerechnet ergibt dies einen Betrag von 200 Milliar-den DM. Auch zukünftig werden wir auf der Grundlagedes schon jetzt geltenden Rechts und ohne Berücksichti-gung des hier in Rede stehenden Stiftungsvermögensnoch weitere 20 Milliarden DM als Entschädigungsleis-tungen zu zahlen haben.Es muss erlaubt sein, auch im Deutschen Bundestageinmal darauf hinzuweisen, dass sich unser Land in denvergangenen Jahrzehnten, wenn auch manchmal quälend,so doch redlich darum bemüht hat, die dunklen Kapitelseiner Geschichte nicht zu verdrängen oder gar zu ver-gessen, sondern aufzuarbeiten und aus ihnen für die Zu-kunft notwendige Konsequenzen zu ziehen. Wir habenden Worten stets auch Taten folgen lassen. In diesem Zu-sammenhang darf ich ausdrücklich darauf hinweisen,dass für die Unionsfraktion das Kapitel Reparationen spä-testens seit dem Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertra-ges vom 12. September 1990 endgültig abgeschlossen ist,
dass für uns auch heute im Zusammenhang mit diesemGesetzentwurf keinerlei Veranlassung besteht, mit ande-ren Staaten über Reparationsforderungen zu sprechenoder gar zu verhandeln, und dass sich an dieser Haltungauch zukünftig nichts ändern wird.Bislang haben alle Bundesregierungen, auch diese, ausguten Gründen folgenden Rechtsstandpunkt vertreten:Soweit ausländische Zwangsarbeiter außerhalb des Bun-desentschädigungsgesetzes, einschließlich Art. 6 desBEG-Schlussgesetzes, Schadensersatzansprüche geltendmachen, stehe dem das Londoner Schuldenabkommenaus dem Jahre 1953 entgegen. Bei Forderungen nach Ent-schädigung wegen Zwangsarbeit handele es sich umReparationszahlungen im Zusammenhang mit dem Zwei-ten Weltkrieg. Dies gelte auch für Forderungen ehemali-ger Zwangsarbeiter gegenüber privaten Unternehmen.Eine völlig andere Frage ist es jedoch, ob man dasThema Entschädigung für Zwangsarbeit wegen der be-sonderen historischen Verantwortung insbesondere ge-genüber den noch lebenden Opfern nicht eher unter hu-manitären als unter rechtlichen Aspekten betrachtenmuss. Gerade aufgrund dieser Überlegung wurden in derVergangenheit zunächst mit elf westlichen Staaten Glo-balabkommen zur Wiedergutmachung abgeschlossen.Darüber hinaus hat die Bundesrepublik nach dem Ab-schluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages als humanitäre Ges-te für die Errichtung von Stiftungen in Warschau, Mos-kau, Kiew und Minsk sowie für die Einrichtung desdeutsch-tschechischen Zukunftsfonds Beträge in Höhevon insgesamt 1,5 Milliarden DM zur Verfügung gestellt.Diese Beträge sollten auch ehemaligen Zwangsarbeiternzugute kommen.Mit der neu zu gründenden Bundesstiftung soll nuneine umfassende und abschließende Regelung erreichtwerden, die insbesondere auch jenen alten, kranken undgebrechlichen Opfern zugute kommen soll, die bislang
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aus unterschiedlichsten Gründen noch keine Chance hat-ten, aus den umfangreichen Wiedergutmachungspro-grammen eine finanzielle Leistung zu erhalten. Geradeweil es ein wichtiges Ziel und Anliegen dieser Stiftung ist,das Kapitel Wiedergutmachung nationalsozialistischenUnrechts umfassend und abschließend zu regeln, mussdafür gesorgt werden, dass die zur Verfügung stehendenMittel die Leistungsberechtigten und insbesondere dienoch lebenden Opfer auch tatsächlich so rasch wie mög-lich und in voller Höhe erreichen.Diese Stiftungsinitiative soll keine institutionelle För-derung betreiben, keine Sachinvestitionen tätigen odergar den Aufbau neuer Bürokratien finanzieren. Sie soll ge-genüber den Opfern, gegenüber jedem einzelnen ehema-ligen Zwangsarbeiter, durch eine Entschädigung in Formeiner humanitären Geste ein Stück Wiedergutmachungleisten. Die Verantwortung dafür, dass die Stiftungsmittelnicht in irgendwelchen Administrationen versickern odergar zweckwidrig verwendet werden, tragen die Partneror-ganisationen, das noch zu bildende Kuratorium und derStiftungsvorstand – nicht allein gegenüber dem deutschenSteuerzahler, der mit circa 7,5 Milliarden DM belastetwird, sondern auch und in erster Linie gegenüber den Op-fern der Nazi-Diktatur.Die Unionsfraktion – ich glaube, dies auch im Namender anderen Fraktionen des Hauses sagen zu können – istmit Ihnen, Graf Lambsdorff, über die drohende Unterfi-nanzierung der so genannten sechsten Partnerorganisa-tion, der International Organization for Migration, be-sorgt. Sie soll jene Opfer nicht jüdischen Glaubens be-treuen und entschädigen, die in den Ländern leben, dieüber keine eigene Partnerorganisation verfügen. Für dieFrage, ob überhaupt ein Leistungsanspruch geltend ge-macht werden kann und, wenn ja, in welcher Höhe, kön-nen nach übereinstimmender Auffassung aller Berichter-statter nur das Lebensschicksal des Opfers, also dessenLeid und das an ihm begangene Unrecht, maßgeblichsein, nicht jedoch die Frage, welcher Glaubensgemein-schaft das Opfer angehört und in welchem Land das Op-fer heute lebt.
Es darf im Ergebnis nicht so sein, dass ein heute inFrankreich oder in England lebender ehemaliger polni-scher Zwangsarbeiter nicht jüdischen Glaubens nur des-halb eine geringe oder möglicherweise überhaupt keineEntschädigung erhält, weil er nach dem Kriege – aus wel-chen Gründen auch immer – aus Polen nach Frankreichoder England ausgewandert ist. Diese Stiftungsinitiativesoll zumindest ein Stück Wiedergutmachung leisten unddamit der Gerechtigkeit dienen. Sie darf keine neuen Un-gerechtigkeiten schaffen.Angesichts des zur Verfügung stehenden Datenmateri-als hätte es nahe gelegen, an eine andere Verteilung unddamit gleichzeitig an eine Revision des Allokationsbe-schlusses zu denken. Damit wäre jedoch der gesamte –ich betone: der gesamte – Verhandlungsprozess mit einemvöllig ungewissen Ausgang neu eröffnet worden. Unsergemeinsames Ziel war es jedoch, den Gesetzgebungsvor-gang noch vor der parlamentarischen Sommerpause ab-zuschließen, das heißt vor der Sitzung des Bundesrates am14. Juli, damit das Gesetz möglichst rasch in Kraft tritt.Angesichts des Umstandes, dass pro Jahr etwa 10 Prozentder ehemaligen Zwangsarbeiter sterben, muss es unser ge-meinsames Anliegen sein, dass schon in wenigen Mona-ten mit den ersten Akontozahlungen an die Opfer begon-nen werden kann.
Wir alle wollen die jetzt noch lebenden Opfer erreichen,nicht deren Hinterbliebene.Zu den Problemen, über die wir im Zuge der Verhand-lungen und Beratungen über diesen Gesetzentwurf in denvergangenen Wochen sehr intensiv gesprochen haben,gehörte auch der Wunsch der Opfer in den baltischenStaaten,mit der Geltendmachung ihrer Ansprüche nicht andie Stiftungen in Moskau und Minsk verwiesen zu werden.Das Anliegen ist verständlich; in dem gewünschten Um-fange konnten wir ihm leider nicht entsprechen, denn imErgebnis hätte auch das bedeutet, dass zumindest der Allo-kationsbeschluss infrage gestellt worden wäre – mit mögli-cherweise unabsehbaren Folgen. Jedenfalls hätten wir un-ser Ziel, das Gesetzgebungsverfahren noch vor der parla-mentarischen Sommerpause abzuschließen, um möglichstbald mit Zahlungen zu beginnen, nicht erreichen können.Wir sind froh, dass wir dieses Ziel erreicht haben. Dasverdanken wir auch meinem Freund Bernd Reuter. Ich darfmich im Namen der Fraktionen herzlich für deine guteVerhandlungsführung bedanken. Du warst ein guter Mo-derator und hast uns sehr geholfen.
Und ob zu einem späteren Zeitpunkt mit den übrigen Ver-handlungspartnern ein Einvernehmen auch in dieser Fragehätte erzielt werden können, ist höchst ungewiss.Wichtig wird es jetzt sein, dass im Gesetzesvollzug, inder praktischen Abwicklung durch die zuständigen Part-nerorganisationen in Moskau und Minsk die berechtigtenInteressen der baltischen Staaten unter Berücksichtigungder Auffassungen des Deutschen Bundestages, die sich inder Begründung des Gesetzestextes wiederfinden, ausrei-chend berücksichtigt werden. Dies gilt insbesondere füretwaige Widerspruchsverfahren.Für die Unionsfraktion ist dieser Gesetzentwurf auchdeshalb von Bedeutung, weil wir mit ihm den Blick nichtnur zurück, sondern auch nach vorne richten. Die Idee derGründungsunternehmen der Stiftungsinitiative der deut-schen Wirtschaft war es, das Stiftungsvermögen jeweilszur Hälfte für individuelle Entschädigungsleistungen ei-nerseits und für zukunftsbezogene Projekte andererseitszur Verfügung zu stellen.Ich persönlich und mit mir viele Kolleginnen und Kol-legen bedauern es sehr, dass der Gedanke eines großzügigausgestatteten Zukunftsfonds, der ja aus seinen Erträg-nissen auf Dauer tätig sein soll, in den vergangenen Mo-naten immer mehr an Strahlkraft verloren hat. Im Zugeder Verhandlungen sank sein Anteil am Stiftungsvermö-gen von zunächst 10 Prozent auf nunmehr 7 Prozent. Undwenn von diesem Betrag auch noch 100MillionenDM fürForderungen aus Versicherungsansprüchen bereitgestellt
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werden müssten, hätten wir eine Untergrenze erreicht, dienicht weiter unterschritten werden darf.Wir sehen in dem Zukunftsfonds die besondereChance, nicht nur als Mahnung für kommende Genera-tionen die Erinnerung an das NS-Unrecht wach zu halten,sondern auch der Ausbreitung von extremistischem undrassistischem Gedankengut sowie totalitären Systemenaller Art entgegenzuwirken. Es ist unbedingt notwendig,dass der Zukunftsfonds Schwerpunkte auf solche Projektelegt, die dem Jugendaustausch, der Versöhnung, der Völ-kerverständigung, der Achtung von Menschenrechten,aber auch der Pflege von Beziehungen zu den überleben-den Opfern dienen.Auch vor dem Hintergrund dieses wichtigen Projektes,dessen Bedeutung nicht unterschätzt werden sollte, istdie – nach wie vor zu beklagende – mangelnde Bereit-schaft vieler Wirtschaftsunternehmen, sich an der Auf-bringung des Fondsvermögens zu beteiligen – mildeformuliert –, mehr als nur enttäuschend. Etwa200 000 Unternehmen aller Branchen wurden von denSpitzenverbänden der deutschen Wirtschaft aufgefordert,der Initiative beizutreten, und wenn es stimmt, dass bis-lang nur gut 1,5 Prozent der Unternehmen der Aufforde-rung gefolgt sind, dann ist das für die deutsche Wirtschaftkein Ruhmesblatt.
Dies muss insbesondere für diejenigen Unternehmen ent-täuschend sein, die durch die Gründung der Stiftungsinitia-tive Verantwortung übernommen haben, und für solche Fir-men, die erst vor wenigen Jahren gegründet wurden, diealso nie in das nationalsozialistische Unrechtssystem ver-strickt waren und die sich trotzdem mit zum Teil erheb-lichen Beträgen engagieren.Von denjenigen Unternehmen, die sich bislang vor-nehm zurückhalten, wurde zunächst eingewandt, manmüsse das Ergebnis der internationalen Verhandlungenabwarten. Die Verhandlungen sind seit vier Monaten ab-geschlossen. Dann wurde vorgetragen, dass auch Rechts-sicherheit und dauerhafter Rechtsfrieden, vor allen Din-gen in den USA, gewährleistet sein müssten. Auch dieseschwierige Problematik wurde in der Zwischenzeit zurZufriedenheit aller Beteiligten, nicht nur der Bundesre-gierung, sondern auch der deutschen Wirtschaft, gelöst.Wir alle wissen, dass es hundertprozentigen Rechts-schutz auch und gerade in den USA nicht geben kann.Aber wenn nicht nur die Bundesregierung, sondern auchführende Repräsentanten der deutschen Wirtschaft erklä-ren, dass das erzielte Verhandlungsergebnis für sie auch inpuncto Rechtssicherheit befriedigend sei, dann kann einBeitritt zur Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaftnicht mehr unter Hinweis auf angeblich fehlende Rechts-garantien der USA verweigert werden.Wenn heute dieser Gesetzentwurf – wie ich hoffe, miteiner breiten Mehrheit dieses Parlamentes – verabschie-det wird, dann gibt es insbesondere für jene Firmen, dieim Dritten Reich Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbei-ter beschäftigt haben, keinen einzigen vernünftigenGrund mehr dafür, sich nicht mit einem angemessenenBetrag am Stiftungsvermögen zu beteiligen.
Diese Stiftungsinitiative kann und darf nicht ein Projektdes Staates und relativ weniger Unternehmen bleiben.Hier geht es vielmehr, wie gerade die kommunalen Akti-vitäten zeigen, um eine gesamtstaatliche Initiative und umeine gesamtstaatliche Verantwortung, der sich mehr alsnur 1,5 Prozent aller Unternehmen stellen müssen.Wenn man in diesem Zusammenhang berücksichtigt,dass die Wirtschaftsunternehmen ihre Beträge steuerlichabsetzen können und dass infolgedessen der deutscheSteuerzahler durch die Addition von direkten Zahlungenund Steuermindereinnahmen wirtschaftlich betrachtetdrei Viertel aller Lasten trägt, dann sollte es eigentlicheine Selbstverständlichkeit sein, dass die heute noch feh-lenden 1,8 Milliarden DM aus den Kreisen der deutschenWirtschaft bald aufgebracht werden.
Einig sind wir uns auch darin, dass die Auszahlungder Stiftungsmittel an die Partnerorganisationen und andie Opfer grundsätzlich erst dann erfolgen kann, wenn dievor den US-Gerichten anhängigen Klagen konsolidiertbzw. abgewiesen sind. Die Bereitschaft, diese Klagen –umgangssprachlich formuliert – zu erledigen, wird nachaller Lebenserfahrung nach Auszahlung des Geldes starknachlassen. Deshalb muss es bei folgender Reihenfolgebleiben: erst Konsolidierung und Abweisung der Klagen,dann die Auszahlung der Stiftungsmittel an die Partneror-ganisationen und an die Opfer.Abschließend darf ich noch einmal auf die Erklärungunserer Fraktion hinweisen, insbesondere auf Ziffer 11:Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert die Bun-desregierung auf, mit denjenigen Staaten, die nachdem Ende des Zweiten Weltkrieges Deutsche ver-schleppt und unter unmenschlichen Bedingungen zurArbeit gezwungen haben, oder mit deren Nachfolge-staaten Kontakt aufzunehmen mit dem Ziel, dassauch die noch lebenden deutschen Opfer von diesenStaaten eine – der deutschen Regelung entspre-chende – Entschädigung in Form einer humanitärenGeste erhalten.
Viele Mitbürgerinnen und Mitbürger haben die Ver-handlungen in den vergangenen Monaten mit großem In-teresse verfolgt, insbesondere jene, die selber verschleppt,gequält und unter grausamen Bedingungen in Russlandoder in anderen Staaten Zwangsarbeit verrichten mussten.Vermutlich ist es politisch nicht korrekt, wenn auch an de-ren Schicksal erinnert wird. Es geht uns nicht um Auf-rechnung, es geht uns auch nicht darum, den Eindruck zuvermitteln, als habe es hüben und drüben in gleicherWeise Unrecht gegeben und daher sei man quitt, als müsseein Schlussstrich gezogen werden. Es wäre geradezutöricht, eine solche Auffassung zu vertreten. Aber es musserlaubt sein, in dieser Debatte darauf hinzuweisen, dassauch viele Deutsche Opfer von Ausbeutung unter un-menschlichen Bedingungen waren.Die heute noch lebenden deutschen Opfer werden nichteine finanzielle Entschädigung erwarten oder diese gar
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einklagen. Aber zumindest auf eine humanitäre Geste ha-ben sie am Ende dieses Jahrhunderts bzw. zu Beginn ei-nes neuen Jahrhunderts ebenso ein Recht wie alle anderenOpfer von Unmenschlichkeit und Tyrannei auch.Danke schön.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Bernd Reuter, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr ver-ehrten Damen und Herren! Das Gesetz zur Errichtung derStiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, daswir heute in zweiter und dritter Lesung behandeln undverabschieden wollen, ist ein Meilenstein in der Nach-kriegsgeschichte Deutschlands. Dieses Gesetz symboli-siert die historische und moralische Verantwortung desdeutschen Volkes, auch hier für nationalsozialistischesUnrecht, dem dunkelsten Kapitel unserer Geschichte,Verantwortung zu tragen. Menschen aus vielen LändernEuropas wurden von Deutschen verschleppt, misshandeltund durch Zwangsarbeit getötet. Die Sklaven- undZwangsarbeit hatte oft nur ein Ziel, nämlich Leben zu ver-nichten. Ich habe wie viele andere Bundestagskolleginnenund -kollegen erschütternde Berichte über die Leidens-wege von überlebenden Opfern gehört.Mit der Errichtung der Stiftung „Erinnerung, Verant-wortung und Zukunft“ setzen wir ein Zeichen der Ent-schuldigung und Versöhnung an alle Opfer, an „die Un-tergegangenen und die Geretteten“, wie sie Primo Levinannte. Es ist nicht übertrieben, diese Stiftung 55 Jahrenach Ende des Krieges als einen historisch bedeutsamenSchritt zu bezeichnen.
Mit aller Deutlichkeit möchte ich betonen, dass es sichhier nur um eine humanitäre Geste handeln kann. Auchmit noch so großem finanziellen Aufwand kann das un-endliche Leid der Zwangsarbeit nicht wirklich wiedergutgemacht werden.
Aber wir können dieses Leid anerkennen und unsere hi-storische Verantwortung annehmen. Dies ist die Grund-lage unserer Gesetzesinitiative. Dass alle Fraktionen desDeutschen Bundestages gemeinsam diesen Gesetzent-wurf tragen, zeigt, dass sich der Deutsche Bundestag sei-ner Verantwortung bewusst ist.Mit dieser Stiftung dürfen wir keinen Schlussstrichunter unsere Geschichte ziehen. Die Ungeheuerlichkei-ten, die Menschen anderen Menschen angetan haben,dürfen wir nicht vergessen. Denn nur so stellen wir sicher,dass sich in der Zukunft ein System wie das NS-Regimenicht wiederholt.
Die künftigen Generationen sollen in einer gesichertenDemokratie, frei von Repressionen und in freundschaftli-chem Einvernehmen mit anderen Staaten leben können.Dabei möchte ich nicht versäumen, auch an die jünge-ren Mitbürgerinnen und Mitbürger in unserem Lande zuappellieren, die Erinnerung an die deutsche Vergangen-heit wach zu halten und dafür Sorge zu tragen, dass sichdie Geschichte nicht wiederholt.
Mit der heutigen Verabschiedung des Gesetzentwurfesist sichergestellt, dass die Stiftung mit ihrer Arbeit inKürze beginnen kann. Auch hierbei werden wir als Parla-mentarier im Kuratorium intensiv mitarbeiten. Ich unter-streiche, was mein Kollege Wolfgang Bosbach gesagt hat:Noch in diesem Jahr sollte mit der Auszahlung an diemeist hoch betagten Opfer begonnen werden.Die Voraussetzungen dafür sind geschaffen. Der Bun-desfinanzminister wird sicherstellen, dass der Bund dieStiftung mit der vereinbarten Summe von 5 Milliar-den DM ausstattet, und zwar noch in diesem Jahr. In ei-nem Brief an Bundesfinanzminister Hans Eichel hat dieStiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft nochmalsversichert, dass sie in ihren Bemühungen, die vollen5 Milliarden DM zu sammeln, nicht nachlassen wird unddass das Geld rechtzeitig zur Auszahlung zur Verfügungsteht. Herr Gibowski, der Sprecher dieser Initiative, hatheute Morgen im Deutschlandfunk erklärt, dass die heu-tige Verabschiedung des Gesetzentwurfes durch denDeutschen Bundestag helfen wird, den Druck auf die In-dustrie zu erhöhen, damit die Sammelaktion erfolgreichabgeschlossen werden kann.
Durch dieses Gesetz, das deutsch-amerikanische Re-gierungsabkommen und die gemeinsame Erklärung alleran den Verhandlungen beteiligten Parteien haben wir einausreichendes Maß an Rechtssicherheit für die deut-schen Unternehmen erreicht. Deshalb gibt es für deutscheFirmen keinen vernünftigen Grund mehr, sich der Stif-tungsinitiative nicht anzuschließen.
Ich fordere alle Unternehmen nachdrücklich auf, sich ih-rer historischen Verantwortung bewusst zu werden. Diedeutsche Wirtschaft muss ihren finanziellen Beitrag von5 Milliarden DM umgehend leisten.
Es ist überdies notwendig, dass alle Firmen, die Zwangs-arbeiter beschäftigt haben, ihre Firmenarchive für denNachweis der Leistungsberechtigung öffnen.
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Das Gleiche gilt auch für die Bundesländer und für dieKommunen. Der Internationale Suchdienst des RotenKreuzes in Arolsen ist durch geeignete Maßnahmen undAufstockung des Personals in die Lage zu versetzen, denOpfern schnell und unbürokratisch den Nachweis derLeistungsberechtigung zu liefern. Das gilt vor allem fürjene sechste Partnerorganisation, die Internationale Orga-nisation für Migration – sie wird manchmal auch siebtePartnerorganisation genannt –, die für alle Opfer im „Restder Welt“ zuständig ist.Eine Gleichbehandlung aller Opfer nach dem vorlie-genden Gesetz, unabhängig von ihrem jetzigen Wohnsitzund ihrer Nationalität, ist oberstes Gebot. Das gilt nichtnur für die Bearbeitung ihrer Anträge, sondern vor allemfür den Erhalt gleicher Leistungen. Ein ehemaligerZwangsarbeiter, der heute in Slowenien wohnt, darf beigleichem Schicksal der Verfolgung nicht weniger erhaltenals ein Opfer in einem anderen Land.
Aufgrund der geschätzten Zahl dieser Opfer ist zu be-fürchten – das ist auch bei Graf Lambsdorff und bei HerrnBosbach angeklungen –, dass die vorgesehenen Mittel fürdie sechste Partnerorganisation in Höhe von 540 Milli-onen DM vermutlich nicht ausreichen werden. Deshalbmuss sichergestellt werden, dass alle Mittel, die in ande-ren Bereichen nicht in Anspruch genommen werden, andie sechste Partnerorganisation fließen, damit keineneuen Ungerechtigkeiten entstehen.
Die Stiftung ist auch berechtigt, Zuwendungen von Drit-ten anzunehmen und sich um weitere Zuwendungen zubemühen. Wer schon jetzt einen Beitrag leisten will, kanndies tun. Das Bundesfinanzministerium hat dafür einKonto eingerichtet, auf dem bereits Beiträge eingegangensind. Bei der Aufteilung des Stiftungsvermögens ist si-chergestellt, dass 8,1 Milliarden DM den Opfern direktzugute kommen. 1 Milliarde Mark werden für Vermö-gensschäden bereitgestellt.Besondere Aufmerksamkeit gilt dem Fonds „Erinne-rung und Zukunft“. Er ist mit 700 Millionen DM aus-gestattet; wir hätten allerdings gerne 1 Milliarde DMvorgesehen. Es geht darum, eine dauerhafte Aufgabe zubewerkstelligen, Projekte der Völkerverständigung undVer-söhnung zu finanzieren, Jugendaustausch und Zu-sammenarbeit auf humanitärem Gebiet sowie die Aufar-beitung der Geschichte zu organisieren. Wir dürfen dieZahlungen an die Opfer nicht gegen diesen Zukunftsfondsausspielen. Beide Dinge gehören gemeinsam in unsere Ini-tiative.
Es war ein ungewöhnliches Gesetzgebungsverfahren.Ich möchte an dieser Stelle den Beteiligten aus allen Frak-tionen des Deutschen Bundestages und den beteiligten Mi-nisterien für die Zusammenarbeit herzlich danken. Meinbesonderer Dank und meine Anerkennung gilt dem Beauf-tragten des Bundeskanzlers, Graf Lambsdorff. Es ist nichtzuletzt sein bleibendes Verdienst, dass wir heute dieses Ge-setz verabschieden können.
Das Ergebnis vieler Beratungen liegt uns heute vor. Esgeht nicht um theoretische und juristische Formulierun-gen, gespickt mit Zahlen; es geht um menschliche Schick-sale. Wer noch immer Zweifel hat, diesem Gesetz zuzu-stimmen, dem empfehle ich eindringlich, den Artikel übereinen ehemaligen polnischen Zwangsarbeiter zu lesen, derin der Zeitschrift „Publik-Forum“ abgedruckt war und denich allen Abgeordneten in die Fächer habe legen lassen.Dieser polnische Zwangsarbeiter ist der einzige Überle-bende einer 23-köpfigen jüdischen Familie. Er hat in zwei-dreiviertel Jahren sechs Konzentrationslager durchlittenund hat überlebt. Dieser Mann wartet nun auf unser Ge-setz: Er möchte mit seiner Frau noch einmal in seinem Le-ben nach Israel fahren und möchte das Geld dafür nutzen.Nach der Lektüre dieses Artikels dürfte eigentlich keinMitglied dieses Hohen Hauses diesem Gesetz seine Zu-stimmung verweigern.Ich danke Ihnen.
Ich erteile dem Kolle-
gen Max Stadler, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehrgeehrten Damen und Herren! Wenn es nach einem so lan-gen Verhandlungsprozess und nach so schwierigen Bera-tungen zu einem konkreten Ergebnis kommt, dann stelltsich bei denen, die daran beteiligt waren, schon eine ge-wisse Zufriedenheit ein. Für Selbstzufriedenheit ist den-noch kein Anlass: Uns ist bewusst, wie begrenzt unsereMöglichkeiten sind, mit einer humanitären Geste den Op-fern der Zwangsarbeit im Nazistaat unsere Reverenz zuerweisen, und uns ist bewusst, dass diese humanitäre Ges-te für viele Opfer zu spät kommt. Den Opfern gilt daherder erste Gedanke in dieser Debatte.Ich bin froh, dass im Zuge dieses Verhandlungsprozes-ses die rein juristische Betrachtungsweise verlassen wor-den ist, die uns in der Vergangenheit daran gehindert hat,das Problem zu lösen. Eine weitere Debatte um die Fra-gen, ob Ansprüche juristisch oder nur moralisch gerecht-fertigt seien, ob Verjährung vorliege oder nicht und werdenn der eigentliche Anspruchspartner sei, die öffentlicheHand oder die Privatfirmen, hätte nicht weitergeführt. Mitdem jetzt vorliegenden Stiftungsgesetz stellen sich derDeutsche Bundestag und die Stiftungsinitiative der deut-schen Wirtschaft der historischen Verantwortung.
Der Bundestag hat das getan, was seine Pflicht war undwas er nach diesen vielen Jahren und Jahrzehnten wenig-stens tun konnte. Er hält das den Opfern gegebene
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Versprechen, das Ergebnis der verdienstvollen Verhand-lungen von Graf Lambsdorff noch vor der Sommerpausein ein konkretes Gesetz umzusetzen. Das waren wir denOpfern schuldig; das sind wir auch der Stiftungsinitiativeder deutschen Industrie und ihren berechtigten Interessenschuldig gewesen.
Jetzt sind andere am Zuge. Die Stiftungsinitiative wirdvon uns nachdrücklich in ihrem Bemühen unterstützt, end-lich den zugesagten Gesamtbetrag von 5Milliarden DM indie Stiftung einzubringen. Alle anderen Redner haben esauch schon gesagt – ich wiederhole es für die F.D.P.-Frak-tion –: Jetzt gibt es keine Ausreden mehr.
Am Zuge sind auch die Anwälte, die insbesondere in denSammelklagen in den USA die Kläger vertreten und dieauf ihre Weise ja auch einen Beitrag geleistet haben, um dieLösung der Problematik voranzutreiben. Aber diese Sam-melklagen müssen jetzt erledigt werden, damit – so ist esvereinbart – mit der Auszahlung an die Opfer begonnenwerden kann.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich kurz auf dasGesetzgebungsverfahren zurückblicken; denn es warschon so ungewöhnlich, dass es noch einer Erwähnungwert ist. In letzter Zeit ist eine berechtigte Debatte überdie Frage entstanden, ob denn Konsensrunden das ange-messene Mittel zur Lösung von Problemen seien. In derTat entspricht es dem traditionellen, vom Angelsächsi-schen her geprägten Demokratiemodell, dass sich die kla-ren Vorstellungen von Regierungsseite einerseits und Op-position andererseits deutlich gegenüberstehen und auchzueinander in Kontrast gebracht werden. In diesem Ge-setzgebungsverfahren haben wir uns eher am SchweizerKonkordanzmodell orientiert. Das heißt, in völlig unge-wöhnlicher Weise haben sich alle Fraktionen des Deut-schen Bundestages in den Beratungen bemüht, die vorlie-genden Entwürfe, die von der Bundesregierung und denFraktionen eingebracht wurden, gemeinsam zu verbes-sern.Ein solches Verfahren, das man im Bundestag nurhöchst selten erlebt, fand seine Rechtfertigung darin, dasshier eben nicht die übliche Auseinandersetzung zwischenRegierung und Opposition stattgefunden hat, sonderndass der Deutsche Bundestag als Gesamtheit Partner in ei-nem internationalen Verhandlungsprozess gewesen istund die Aufgabe hatte, die Ergebnisse dieses Verhand-lungsprozesses gemeinsam umzusetzen.Die Verhandlungen der Berichterstatter mit den Minis-terien und dem Arbeitsstab von Graf Lambsdorff warenaußerordentlich konstruktiv. Ich will damit das Konsens-modell nicht für weitere Fälle empfehlen, aber es ist dochfestzuhalten, dass alle Seiten dieses Hauses in dem Ge-setzgebungsverfahren ihre Vorstellungen nicht nur vortra-gen konnten, sondern dass für das bessere Argument dieechte Chance bestanden hat, sich durchzusetzen.Meine Damen und Herren, wir haben intern vereinbart,entgegen dem, was noch in der ersten Lesung üblich ge-wesen ist, mit Dankesarien sparsam umzugehen, weil esvielleicht dem Ernst der Thematik nicht angemessenwäre, wenn wir uns selber zu sehr auf die Schulter klopf-ten. Ich fand die Zusammenarbeit mit den Berichterstat-tern der anderen Fraktionen jedoch so bemerkenswert,dass ich sie hier doch hervorheben und sagen möchte:Alle, die beteiligt waren – Ulla Jelpke, DieterWiefelspütz, Bernd Reuter, Volker Beck, WolfgangBosbach und Martin Hohmann –, haben ihren Anteil da-ran. Diesen Dank möchte ich gern hier aussprechen.
Die so ungewöhnlich strukturierten Beratungen derBerichterstatter und des Innenausschusses haben nachmeinem Urteil auch deutliche Verbesserungen gegenüberden Ursprungsentwürfen gebracht. Ich erinnere an einigeMonita, die wir von der F.D.P. in der ersten Lesung vor-getragen haben, aber vor allem an Anliegen, die sich ausder äußerst interessanten Anhörung des Innenausschus-ses ergeben haben. Ich nenne fünf Punkte:Es ist in den Verhandlungen seit dem Allokationsbe-schluss vom 23. März offen thematisiert worden, dass diefinanzielle Ausstattung für die Opfer derjenigen Staaten,die nicht am Verhandlungsprozess beteiligt waren, mögli-cherweise nicht ausreichen wird. Genaues weiß man erst,wenn die Anträge gestellt und bewertet worden sind. Inunseren Beratungen ist dieses Thema jedenfalls ganz of-fen angesprochen worden. Lösungsmöglichkeiten sindaufgezeigt worden, und sofern diese nicht ausreichen soll-ten, bringt der Deutsche Bundestag heute mit einem Ent-schließungsantrag deutlich zum Ausdruck, dass das Pro-blem, sollte es denn eines sein, gelöst werden wird. Dassind wir dem Gedanken der Gleichbehandlung allerOp-fer schuldig, und deswegen ist der Entschließungsantragneben dem Gesetz ebenfalls von großer Bedeutung.
Wir konnten erreichen, dass es eine Gleichbehandlungder Opfer hinsichtlich der von ihnen aufgewendeten Ver-fahrenskosten geben wird. Auch das ist für die einzelnenBetroffenen von größter Bedeutung.Die Zusammensetzung des Kuratoriums ist größerund nach unserer Meinung auch sinnvoller ausgestaltetgeworden. Endlich ist aus dem Gesetzentwurf der Absatzentfernt worden, der einige Vertreter bestimmter Staatenvon der weiteren Mitarbeit im Kuratorium nach der erstenAmtszeit ausgegrenzt hätte. Dies war völlig unverständ-lich, das konnten wir so nicht belassen.Schließlich haben wir Mechanismen gefunden, die esermöglichen, dass bei der Auszahlung der ersten Rate fle-xibler vorgegangen wird, als dies der Ursprungsentwurfvorgesehen hatte; denn die Zielsetzung besteht nun ein-mal darin, so rasch wie möglich so viel wie möglich vonden zur Verfügung stehenden Mitteln an die Opfer auszu-zahlen. Die Einbeziehung nationaler Opferverbände istein Ergebnis der schon von mir erwähnten Anhörung desInnenausschusses.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Dr. Max Stadler10760
Meine Damen und Herren, es stellt sich die Frage: Er-leben wir heute den Abschluss eines historischen Vor-gangs? Man ist geneigt zu sagen: Wir sind nahe daran.Hoffen wir, dass die letzten Hürden, die außerhalb diesesParlaments liegen, ebenfalls noch überwunden werden.Erst dann, wenn das Ziel erreicht wird, noch in diesemJahr die ersten Auszahlungen an die Opfer tatsächlichdurchzuführen, können wir wirklich zufrieden sein.Vielen Dank.
Ich erteile dem Kolle-
gen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute bringenwir ein Gesetzeswerk zum Abschluss, für das unsere Frak-tion seit 15 Jahren gekämpft hat: eine Bundesstiftung fürdie ehemaligen Zwangsarbeiter unter Beteiligung derdeutschen Wirtschaft. Angesichts des Unrechts, das die-sen Menschen angetan wurde, war es für uns immer un-verständlich und inakzeptabel, dass sie vom deutschenEntschädigungsrecht ausgeschlossen waren.Der Holocaust an Juden, Sinti und Roma ist meinerGeneration aus dem Schulunterricht bekannt gewesen. Erbedeutete millionenfache Deportation, Vernichtungsla-ger, für die Sklavenarbeiter auch Vernichtung durch Ar-beit. Über das Schicksal der anderen deportierten zivilenZwangsarbeiter und Kriegsgefangenen hingegen habe ichin der Schule nichts erfahren: nichts davon, dass unge-horsamen Zwangsarbeitern so genannte Arbeitserzie-hungslager angedroht wurden, nichts davon, dass die Be-dingungen dort vielfach den Bedingungen von KZs ver-gleichbar waren, nichts davon, dass in diesen LagernMenschen zu Wracks gemacht wurden, nicht wenigeschon nach wenigen Wochen starben.Juden hatten einen Davidstern zu tragen. Wenig be-kannt ist, dass Polen ein „P“ und Russen und Ukrainer ein„Ost“ auf ihrer Kleidung tragen mussten. Habe ich in derSchule erfahren, dass diese Menschen vielfach um ihrenLohn gebracht und am Arbeitsplatz geschlagen wurden,dass sie unterernährt und oftmals ohne medizinische Ver-sorgung leben mussten, dass für sie als so genannteFremdvölkische der sexuelle Kontakt zu Deutschen mitder Todesstrafe bedroht war? Nein, diese Wahrheit warweithin verschüttet geblieben.Das ganze Ausmaß des nationalsozialistischenZwangsarbeitersystems ist uns erst durch die bahnbre-chenden Arbeiten von Ulrich Herbert bewusst geworden.Erst in den letzen 15 Jahren sind erschütternde Doku-mentationen über die Lebens- und Leidensbedingungendieser NS-Opfer erstellt worden. Sie machen auch deut-lich, wie das Räderwerk des NS-Staates mit der Ausbeu-tung durch die Privatwirtschaft verzahnt war.Diese Dokumentationen und die vielen Briefe, die wirals Abgeordnete in den letzen Wochen von den überle-benden Opfern bekommen haben, zeigen mir vor allem:Wir als Deutscher Bundestag müssen und wollen unsstellvertretend für das deutsche Volk bei denen entschul-digen, denen man so etwas angetan hat.
Auch wenn unser Staat und die Gerichte es lange nichtwahrhaben wollten: Der Einsatz von Zwangsarbeiternwar nationalsozialistisches Unrecht und dieses Gesetz istdie späte Anerkenntnis dieses Tatbestandes.Ich will Ihnen aus einer bemerkenswerten Lokalstudieaus Goslar einige Briefe zitieren. Diese hat FriedhartKnolle unter dem Titel „Gebt uns unsere Würde wieder“zusammengestellt. Eine Frau aus der Ukraine, die als jun-ges Mädchen im Frühjahr 1942 nach Grauhof im Harzverschleppt wurde, schreibt:Nach langer Fahrt musste ich vom 30.April 1942 biszum 6./7. April 1945 in der MineralwasserfabrikHarzer Grauhof-Brunnen in Goslar gemeinsam mit11 weiteren jungen Frauen Zwangsarbeit leisten. Ichwar im dortigen Zwangsarbeiterlager unter gefäng-nisartigen und schlimmen Bedingungen eingesperrt.So gab es zum Beispiel kein Haarwaschmittel; wirmussten dafür die Soda benutzen, ... mit allen ge-sundheitlichen Folgen wie zum Beispiel Haarausfallbei uns. Wir durften das Lager in der ersten Zeit bisauf die Produktionsräume und unsere Unterkunftnicht verlassen; erst viel später erhielten wir zwei bisdrei Stunden Freigang täglich. Wir litten ständigHunger, es gab nur schlechtes Essen, das zudem häu-fig durch Kakerlaken und Glasscherben gefährlichverunreinigt war. ... Es herrschte uneingeschränkterArbeitszwang; wir wurden geschlagen und Trittegehörten zu den Alltäglichkeiten. Unser Meisterhat uns so häufig und intensiv schikaniert, dass ichseinerzeit mehrfach an Selbstmord gedacht habe.An die Autoren der Ausstellung schrieb Anastasia B. ausBogdanowka folgenden Brief, den ich auszugsweise zi-tiere:Ich wurde am 25. Mai 1943 nach Deutschland ver-schleppt. Ich war damals 18 Jahre alt. Wir wurdennach Goslar gebracht und dann in der ZinkhütteOker/Harz eingesetzt. Wir haben im Lager gewohntund unsere Bewacher haben uns nicht wie Menschengehalten. Unser Arbeitstag war 11 Stunden lang, dieDeutschen arbeiteten 6 Stunden. Am Tag haben wir130 g Brot bekommen, nicht reines Brot, sondern mitSägemehl. Unsere Arbeit war sehr schwer. ... MeinBein wurde verletzt und zwei Wochen habe ich keinBrot bekommen. Dann habe ich gebetet, dass ichvielleicht irgendeine Arbeit bekomme im Sitzen,dass ich wenigstens meine Brotration bekomme. ...Die deutschen Mütter kamen zu unserem Lager mitKindern; sie waren sehr gut angezogen. Sie habenuns angespuckt. Und wir jungen schönen Mädchenmussten schweigend stehen und unter Tränen dieseSpucke im Gesicht wegwischen. ... Die Erinnerungist schmerzhaft und bitter. Ich habe keine Gesund-heit, das, was wir erlebt haben, wie wir als Menschengedemütigt wurden, so etwas wünsche ich keinemMenschen, nicht einmal meinen Feinden. ... Viel-leicht werde ich auch nie Hilfe bekommen, aber ichhoffe und warte, vielleicht kommt zu meiner kleinenRente etwas dazu.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Dr. Max Stadler10761
Ich hoffe, die gute Nachricht für diese Frau – hoffentlichlebt sie noch – ist heute, dass bald eine Zahlung, eine hu-manitäre Hilfe für sie erfolgt – als Versöhnungsgeste desdeutschen Volkes.
Dass diese zitierten Beispiele keine Einzelbeispielewaren, sondern der Regelfall, sieht man an der Vielzahlvon rechtlichen Sonderregelungen des NS-Regimes ge-rade für NS-Verfolgte und für die Opfer slawischer Ab-stammung.Auch die geschilderten Lebensumstände der in Goslareingesetzten Zwangsarbeiter, etwa bei den Firmen Che-mische Fabrik Borchers, Harzer Grauhof-Brunnen, LutheBleiwerk oder dem Reichsbahnbetriebsamt Goslar, warensicherlich keine Sonderfälle. Wir könnten auch Hamburg,Hannover, Stuttgart, München, Berlin oder Köln nehmen.Aber ich frage beispielsweise: Gehört Harzer Grauhof-Brunnen zu denen, die sich nach 1945 bei den Opfern ent-schuldigt und ihnen einen finanziellen Ausgleich gezahlthaben? Nein. Gehören zum Beispiel Harzer Grauhof-Brunnen oder die Chemische Fabrik Borchers aus Goslaroder ihre Rechtsnachfolger zu den Mitgliedern der Stif-tungsinitiative der deutschen Wirtschaft?Wie viel ha-ben sie gezahlt? Das wüssten wir gerne. In der veröffent-lichten Mitgliederliste der Stiftungsinitiative der deut-schen Wirtschaft sind diese Betriebe nicht verzeichnet.Gerade die Unternehmen, die oder deren Rechtsvor-gänger sich Sklaven und Zwangsarbeiter beschafft undeingesetzt haben, sind aber in einer besonderen Pflicht.Ich frage zum Beispiel die Firma Haribo in Bonn, warumsie nicht an der Stiftungsinitiative beteiligt ist. Ich fragedie Firma Richard Hengstenberg, ich frage die Edeka-Zentrale AG in Hamburg,
ich frage die Sektkellerei Henkel und Söhne, ich frage dieStollwerck AG in meinem Wahlkreis in Köln, ich frage dieBierbrauerei Warsteiner und ich frage die Südfleisch Hol-ding AG in München, warum sie sich bis heute ihrerhistorischen Verpflichtung entziehen.
Selbst wenn man nicht wie wir von Bündnis 90/DieGrünen eine besondere rechtliche Verantwortung der Fir-men für den Zwangsarbeitereinsatz bejaht und man sichstattdessen das Paradigma der deutschen Wirtschaft zu Ei-gen macht, es gehe heute allein um Verantwortung der ge-samten deutschen Wirtschaft, muss man sich fragen: Wobleibt die angemessene finanzielle Bereitschaft des Trans-portgewerbes, wo der Bauwirtschaft, wo schließlich desMedienbereichs, der die mangelnde Zahlungsbereitschaftdurch Zeitungen, Zeitschriften usw. hundertfach öffent-lich dokumentiert und auch beklagt hat?
Kollege Beck, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Eckhardt?
Ja.
Herr Kollege Beck, Sie ha-
ben mehrere Firmen aus meiner Heimatstadt genannt. Ich
weiß nicht, wie gut Sie recherchiert haben. Ist Ihnen be-
kannt, dass die Firmen heute zu Konzernen gehören, die
sich an der Initiative beteiligt haben, etwa die Firma
Borchers über Bayer Leverkusen?
Das ist mir so nicht bekannt. Sollte es in Einzelfällen der
Fall sein, würde ich das begrüßen. Ich habe versucht zu
recherchieren. Ich habe es bei den Goslarer Firmen sehr
bewusst als Frage formuliert. Bei den anderen Firmen
weiß ich aber, dass sie nicht in der Liste auftauchen; da
gibt es eine Kontinuität.
Ich denke, wir sollten den Schwerpunkt hier vor allen
Dingen darauf legen, dass der Stiftungsinitiative der deut-
schen Wirtschaft nur eineinhalb Prozent, wie Kollege
Bosbach vorhin gesagt hat, beigetreten sind. Das ist der
Skandal. Jeder, der dabei ist, ist okay und jeder, der fehlt,
muss aufgefordert werden, endlich mitzumachen.
Kollege Beck, gestat-
ten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Deß,
CDU/CSU-Fraktion?
Bitte schön.
Herr Kollege Beck, ich
möchte fragen: Haben Sie geprüft, ob die SPD für ihre
Verlagsanteile bezahlt hat?
Ich finde diese Frage der Debatte nicht angemessen undbeantworte Sie deshalb nicht.
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Volker Beck
10762
Meine Damen und Herren, nun zum Medienbereich.Warum ist die Bertelsmann AG zum Beispiel dabei – waszu begrüßen ist –, nicht aber die Holtzbrinck-Gruppe?Wichtig ist natürlich nicht nur, wer zahlt, sondern auch,in welcher Höhe gezahlt wird. Wenn uns die Stiftungs-initiative berichtet, es gebe historisch belastete Firmen,die sich mit einmalig 50 000 DM an den Fonds freikaufenwollten, während junge unbelastete IT-Firmen den x-fa-chen Betrag freiwillig bezahlten, dann ist das ein unmo-ralisches Angebot und eine Beleidigung der Opfer.
Das Gesetz gewährt allen Unternehmen ausreichendeRechtssicherheit. Diese gibt es aber nur, wenn auch diezugesagten 5 Milliarden DM möglichst bald eingezahltwerden. Gefordert sind hier an erster Stelle die ehemali-gen Profiteure der Zwangsarbeit.Ich habe die Schreiben der Opfer gewählt, weil sie zei-gen, dass es angesichts des unermesslichen Leids unan-gemessen wäre, davon zu sprechen, wir könnten mit die-sem Stiftungsgesetz das an Sklaven- und Zwangsarbeiternverübte Leid wieder gutmachen oder es auch nur ange-messen entschädigen.10 Milliarden DM sind eine beachtliche Summe. Aberangesichts des Leids der Opfer ist dies eine Summe, diewir als Bundestag nur als humanitäre finanzielle Zuwen-dung begreifen können. Gleichwohl hat sie für Zwangs-arbeit und Vermögensschäden abschließenden Charakter.Den zumeist verarmten Opfern, die auf dieses Geld dring-lich warten, ist es aber vielleicht auch egal, welchen Na-men wir dieser Zuwendung geben, wenn sie diese nurendlich bald erleben dürfen.Eine moralische Qualität bekommt diese Zahlung abererst dann, wenn wir uns zu dem Unrecht bekennen unduns dafür entschuldigen, was den Opfern im NamenDeutschlands angetan wurde. Nur so können wir denMenschen auch ihre verlorene Würde wiedergeben. Dashat unser Bundespräsident Johannes Rau vor allen ande-ren in der Öffentlichkeit zu Recht herausgestellt.An der moralischen Qualität der Debatte hat es bei denAuseinandersetzungen über die Höhe des Fonds, den Ver-teilungsschlüssel und die Rechtssicherheit für Firmen inden letzten eineinhalb Jahren manchmal gefehlt. Das hatbei den Opfern zu Recht oft Bitterkeit hinterlassen. Frak-tionsübergreifend wollen wir Abgeordneten dazu beitra-gen, dieser moralischen Qualität wieder ihren Platz zu ge-ben.Wir stellen nun durch dieses Gesetz fest: Der national-sozialistische Staat hat Sklaven- und Zwangsarbeiterndurch Deportation, Inhaftierung, Ausbeutung bis hin zurVernichtung durch Arbeit und durch eine Vielzahl weite-rer Menschenrechtsverletzungen schweres Unrecht zuge-fügt. Deutsche Unternehmen, die an diesem Unrecht be-teiligt waren, tragen dafür historische Verantwortung undmüssen ihr gerecht werden.Wir wollen bei der Gesetzgebung Regelungen finden,die dem Schicksal der Opfer angemessen sind. Dies hatmanches Mal auch öffentlich ausgetragenen Streit mit derWirtschaft, zum Teil auch mit einigen Fachbeamten derBundesregierung bedeutet. Aber es war die Sache um derOpfer willen wert.Wir haben als Deutscher Bundestag trotz der Beson-derheit des Beratungsverfahrens, das Herr Stadler betonthat, nicht nur einfach als Notar agiert. Wir haben im Sinneder Opfer und der maximalen Gerechtigkeit versucht, alleSpielräume zu nutzen, um unserer Verantwortung als Ge-setzgeber bei dieser historischen Aufgabe gerecht zu wer-den.Die größte Gefahr, die dieser Gesetzgebungsprozessbeinhaltet, ist, dass die Opfer, die von der IOM entschä-digt werden sollen – also die nicht jüdischen Opfer außer-halb des Bereiches der osteuropäischen Versöhnungsstif-tungen – zum Teil gar nichts oder ungleich weniger er-halten als die Opfer, die von anderen Organisationenentschädigt werden sollen. Hier hat der Deutsche Bun-destag in seiner Entschließung der vier Fraktionen zumAusdruck gebracht, dass wir bei der Administration in derStiftung, aber auch darüber hinaus, eine ganz besondereVerantwortung sehen. Wir haben die Verantwortungdafür, dass alle Opfer für gleiches Leid auch gleiche Ent-schädigungen bekommen.
Wir lösen heute das Versprechen an die Opfer ein, dasGesetz noch vor der Sommerpause zu verabschieden. Wirhaben damit auch die Voraussetzungen dafür geschaffen,dass die Opfer noch in diesem Jahr eine erste Auszahlungerhalten. Wir hoffen nun, dass die Rücknahme der Klagenin den USAeingeleitet wird. Die weiteren Geschicke wer-den in die Hände des Kuratoriums und der Partnerorgani-sationen gelegt. Wir wünschen uns und den Opfern, dasssie ihre schwierige Aufgabe verantwortungsbewusst undzügig wahrnehmen.Lassen Sie mich zum Schluss für das gute Klima in denBerichterstattergesprächen sowie für die vorzügliche Ar-beit und Unterstützung durch den Arbeitsstab Lambsdorffund für die Verhandlungsführung durch Graf Lambsdorffdanken. Ich möchte auch einen Dank an einen unsererMitarbeiter, Herrn Saathoff, anschließen, der mit seinerFachkompetenz in den Berichterstattergesprächen bei-spiellos für alle Fraktionen hilfreiche Zuarbeit im Diensteder Sache geleistet hat.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Ulla Jelpke, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Wie Sie in den Beiträgen heute Morgen schonvernommen haben, hat es bei der Vorbereitung des vorlie-genden Gesetzesentwurfs weit auseinander liegende In-teressen gegeben. Unser Leitmotiv bei diesen Verhand-lungen und auch bei diesem Gesetz war und ist die Ent-schädigung der Opfer. Das Nürnberger Gericht hat nach
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Volker Beck
10763
1945 die Zwangsarbeit für Millionen von Menschen, vorallem aus Osteuropa, richtig als ein „Verbrechen gegendie Menschlichkeit“ eingestuft. Für dieses Verbrechenmuss endlich gezahlt werden.
Für die PDS-Fraktion will ich mich deshalb an dieserStelle noch einmal bei allen noch lebenden NS-Opfernund ihren Angehörigen ausdrücklich für diese Verbrechenund für das ihnen angetane Leid entschuldigen, auchdafür, dass erst 55 Jahre nach Kriegsende etwas für sie ge-tan wird.
Wir werden auch in Zukunft mit diesen Opfern solidarischsein und helfen, wo wir können.Wir werden dem Gesetz trotz vieler Bedenken und Kri-tik zustimmen. Die 10 Milliarden DM, die nun an ver-mutlich 1,6 Millionen noch lebende Opfer und ihre An-gehörigen gezahlt werden, sind nur ein Tropfen auf denheißen Stein. Selbst die VW-Regelung, die eine Zahlungvon immerhin 10 000 DM pro Person vorsah, hätte denOpfern – wenn man alle entschädigt hätte – etwas mehrGerechtigkeit gebracht. Das hatten wir auch mit unseremursprünglichen Antrag gefordert. Jetzt erhalten dieZwangsarbeiter, die im KZ waren, wahrscheinlich etwasmehr, aber die anderen leider nur halb so viel.Trotzdem bestreiten wir nicht: Es gibt Verbesserungengegenüber dem ersten Entwurf. Es sind Verbesserungen,die vor allem dem Druck und den Protesten der Opfer, ih-rer Anwälte und der osteuropäischen Länder zu verdan-ken sind. Ich möchte mich an dieser Stelle bei diesen be-danken, da sie uns viele Vorschläge eingereicht haben, umdie Gesetzesarbeit zu verbessern und zu erleichtern.
Ich möchte mich auch dafür bedanken, was schonmeine Kolleginnen und Kollegen getan haben, dass dieAtmosphäre, in der diese Verhandlungen stattgefundenhaben, ausgesprochen angenehm war. Ich brauche nichtzu wiederholen, dass es in der Tat ein außergewöhnlicherProzess war.Anlässlich des heutigen Tages ist es mir wichtig, stell-vertretend für viele von ihnen einen Menschen zu nennen.Er heißt Hans Frankenthal.
Er war der Sohn eines jüdischen Viehhändlers und wurdebereits 1940 mit 14 Jahren von den Nazis zu Straßenbau-arbeiten gezwungen. 1943 deportierten ihn die Nazis mitseiner Familie nach Auschwitz. In seinem Buch „Verwei-gerte Rückkehr“ schildert Hans Frankenthal sein Zwangs-arbeiterleben. Er schreibt – ich zitiere –:Wenn man nicht irgendwie einen Druckposten be-kam, überlebte man keine acht Wochen.Hans Frankenthal überlebte Auschwitz, die Zwangsarbeitim Lager Monowitz und das KZ Mittelbau-Dora. 1945wurde er in Theresienstadt befreit.Hans Frankenthal hat wie viele andere jahrzehntelangfür die Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter gekämpft,zuletzt als Mitglied im Landesverband der Jüdischen Ge-meinden von Westfalen, im Zentralrat der Juden inDeutschland und als stellvertretender Vorsitzender desAuschwitz-Komitees.Hans Frankenthal ist im Dezember vergangen Jahresgestorben. Er gehört damit zu den NS-Opfern, die keineEntschädigung mehr für die Zwangsarbeit bekommen.Ich finde das auch an diesem Tag nach wie vor beschä-mend.Ein weiterer Punkt. In dem Gesetz findet sich ein klei-ner Titel von 50 Millionen DM. Dieses Geld ist insbeson-dere für Opfer medizinischer Versuche und so genann-ter Kinderheimfälle vorgesehen. Tausende von Kindern,vor allem so genannte schlechtrassische Kinder von Ost-arbeiterinnen, starben in den mörderischen Kinderheimender NS-Zeit. Auch die Menschenversuche in den KZs, fürdie nunmehr eine Entschädigung gezahlt werden soll, fan-den vielfach auf direkten Wunsch deutscher Pharmaun-ternehmen statt. Dass für diese Opfer nur 50 MillionenDM bereitgestellt werden, liegt einzig und allein daran,dass sie in den USA gegen Konzerne wie VW und Bayergeklagt haben. Die 50 Millionen DM, mit denen die Kla-gen abgewendet werden sollen, entsprechen gerade ein-mal 5 Prozent eines Jahresgewinns von VW und Bayer.Diese Klagen abzuwenden und das Ansehen der Indu-strie wieder herzustellen ist in meinen Augen das domi-nierende Motiv bei der Bundesregierung und vor allembei der Industrie. Das soll hier nicht verschwiegen wer-den. In der Erklärung, die das Presse- und Informations-amt der Bundesregierung am 16. Februar 1999 bei derGründung der Stiftungsinitiative veröffentlicht hat, ist essehr deutlich ausgesprochen worden. Darin heißt es – ichzitiere –: Die Stiftungsinitiative wolleKlagen, insbesondere Sammelklagen in den USA, ...begegnen und Kampagnen gegen den Ruf unseresLandes und seiner Wirtschaft den Boden ... entzie-hen.Ich erinnere an den Schweizer Bankenvergleich, indem sich Schweizer Banken zu Zahlungen von Milliar-denhöhe verpflichtet haben. Für die deutsche Industrie,die ganz andere Verbrechen während der NS-Zeit began-gen hat als die Schweizer Banken, drohen ganz andere Ur-teile und viel höhere Zahlungen. Das zu verhindern warund ist das dominierende Motiv bei der Industrie und lei-der auch bei der Bundesregierung. Es geht und ging ihnen,wenn überhaupt, nur in zweiter Linie um die Opfer.Die Industrie zahlt laut Gesetz 5 Milliarden DM. InWirklichkeit muss man davon 2,5 Milliarden DM abzie-hen. Diese bekommt die Industrie vom Finanzamt zurück.Zieht man dann noch die 1 bis 1,2 Milliarden DM ab, diefür die so genannten Arisierungsschäden vorgesehen sind,also für Versicherungsbetrug und Arisierungsgewinne derBanken, dann bleiben nur 1,3 bis 1,5 Milliarden DMübrig, die die Industrie für Zwangsarbeiterinnen undZwangsarbeiter zahlt – hoffentlich! Denn bis heute istnoch unklar, wann das Geld wirklich vorhanden sein wird.Noch unsicherer ist es, wann das Geld wirklich bei den
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Ulla Jelpke10764
Opfern ankommt. Das Verhalten der Industrie ist undbleibt ein Skandal.
Wissenschaftler, wie Professor Kuczynski, habenschon vor einiger Zeit ausgerechnet, dass die deutsche In-dustrie in der NS-Zeit den Zwangsarbeiterinnen undZwangsarbeitern allein an Löhnen einen Betrag – umge-rechnet auf heutige Preise – von 180 Milliarden DMvorenthalten hat. Verglichen damit sind die 1,5 Milliar-den DM, die die Industrie nun zuzahlt, einfach kläglich.Wir haben – darauf habe ich schon hingewiesen – Ver-besserungen im Gesetz erreicht. Ich nenne jetzt einige, diefür uns wichtig sind: Die zuerst vorgesehene Regelung,Landarbeiter und Nichtdeportierte auszugrenzen, istdurch eine Öffnungsklausel korrigiert werden. Die Opfer,die gegen die deutsche Industrie geklagt haben, müssenjetzt nicht ihre eigenen Gerichts- und Anwaltskosten zah-len. Das Kuratorium ist durch Opfer und Vertreter vonPartnerorganisationen vergrößert worden, die nicht amVerhandlungstisch gesessen haben. Auch die verharmlo-sende Sprache – das ist nicht ganz unwichtig; im erstenGesetzentwurf war noch von „Geschehnissen“ und „Ver-strickungen“ die Rede – ist weitgehend verschwunden. Inder Präambel werden Täter und Opfer deutlich beim Na-men genannt.Wichtig bleibt das Problem, dass der im Gesetz vorge-sehene Betrag für die Opfer, die nicht am Verhand-lungstisch gesessen haben, nicht ausreicht. Der Entschlie-ßungsantrag ist zwar ein Versuch, dafür den Bundestagbzw. die Bundesregierung in die Pflicht zu nehmen, aberich sage: Papier ist geduldig. Uns wäre es lieber gewesen,wenn die Lösung dieses Problems im Gesetz geregeltworden wäre. Ich erkläre hier klipp und klar für meineFraktion: Wenn das Geld am Ende nicht reicht, dann mussnachgezahlt werden. Darauf werden wir bestehen.
Die Industrie und auch die CDU/CSU – damit kommeich zum Schluss – möchte dieses Gesetz gerne als Schluss-strichgesetz sehen. Für uns ist das Gesetz kein Schluss-strich, weder bezüglich der Entschädigung der Zwangs-arbeiterinnen und Zwangsarbeiter noch der anderenOpfer – für die schon gar nicht –, die bislang noch keineEntschädigung für ihr Leid und keine Rehabilitierung er-halten haben. Für sie werden wir uns auch in Zukunft ein-setzen, und zwar sowohl im Parlament als auch außerhalbdes Parlaments. Einen Schlussstrich unter die NS-Zeitund die in ihr begangenen Verbrechen wird es mit uns nie-mals geben.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Dietmar Nietan, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zu Beginn meinerAusführungen den Menschen Dank sagen, denen hiernoch keiner gedankt hat. Ich möchte all denjenigen Danksagen, die wie Lothar Evers und andere über viele Jahrehinweg die Opfer von NS-Verbrechen beraten und ihnenin all den Jahrzehnten Mut gemacht haben, nicht dieHoffnung aufzugeben,
dass ihnen irgendwann doch noch Gerechtigkeit wider-fährt. Auch diesen Menschen muss man heute Dank sa-gen.Ich möchte auch Deidre Berger und den anderen Kol-leginnen und Kollegen vom American Jewish CommitteeDank sagen, die mit ihrer mutigen Aktion, die Namen derFirmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben und die da-mals noch nicht der Stiftungsinitiative beigetreten waren,ins Internet zu stellen, Öffentlichkeit hergestellt habenund auf dieses düstere Kapitel das Licht geworfen haben,das es verdient hat.
Ich möchte an dieser Stelle auch meinen Fraktionskol-leginnen und -kollegen Andrea Nahles, Simone Violka,Michael Roth, Christoph Moosbauer und ChristianSimmert vom Bündnis 90/Die Grünen Dank sagen. Ge-meinsam mit diesen Kolleginnen und Kollegen habenauch gerade wir jungen Abgeordneten von Anfang an dieDiskussion nicht nur in unserer Fraktion, sondern auchmit vielen Vertretern der NGOs über das Stiftungsgesetzund insbesondere über den Zukunftsfonds geführt, weilwir dies als Verpflichtung auch unserer jungen Generationansehen. Ich danke in diesem Zusammenhang auch mei-ner Fraktion, dass sie mir als Vertreter der jungen Gene-ration die Möglichkeit gibt, dies heute hier zu sagen.Es ist sehr oft gesagt worden, dass dies heute eine hi-storische Stunde sei. Zwar teile ich diese Einschätzung –es ist ein historischer Moment, weil wir uns zu unsererVerantwortung bekennen –, aber ich empfinde diesen Mo-ment auch als einen Moment, der mich beschämt. 55 Jahrehaben die Opfer darauf warten müssen, dass das an ihnenbegangene Unrecht endlich anerkannt wird. 55 Jahre ha-ben Menschen warten müssen, denen von Nazideutsch-land unendlich großes Leid angetan wurde.Wir wissen nicht, wie viele von ihnen daran zerbrochensind. Wir wissen nicht, wie viele von ihnen in dem Be-wusstsein gestorben sind, dass ihnen auch die Nachfahrender Täter eine Entschädigung und damit die Anerkennungdes an ihnen begangenen Unrechts letztlich versagt ha-ben. Das ist, wie ich finde, schon etwas, was einem bei al-lem Frohsein darüber, dass wir weitergekommen sind, im-mer noch beschämen muss.Trotz dieses bitteren Beigeschmacks möchte ich demBundeskanzler ausdrücklich dafür danken, dass er sichanders als sein Vorgänger intensiv für die zügige Reali-sierung der längst überfälligen Entschädigungsleistungen
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Ulla Jelpke10765
eingesetzt hat. Herr Bundeskanzler, an dieser Stelle ge-bührt Ihnen unser Dank.
Mein Dank gilt aber auch den mittlerweile fast 3 000Unternehmen, die sich in der Stiftungsinitiative zusam-mengeschlossen haben. Diese Unternehmen – ich betone:nur diese 3 000 Unternehmen – bekennen sich zu der Ver-antwortung; aber es handelt sich gerade einmal um ganze1,4 Prozent der Gesamtzahl. Anders herum gesagt: 98,6Prozent der deutschen Unternehmen denken bisher nichtdaran, gesellschaftliche Mitverantwortung für diesen Be-reich zu übernehmen.Ich halte es in diesem Zusammenhang für einen Skan-dal, dass es junge Menschen gibt, die gerade eine Firmagegründet haben und sich trotzdem, obwohl sie mit dieserganzen Sache persönlich nichts zu tun haben, an der Stif-tungsinitiative beteiligen, während es andere, saturiertegroße Unternehmen gibt, die es bis heute nicht für nötigerachten, dabei mitzumachen. Man kann es nicht deutlichgenug sagen: Das ist ein Skandal.
Es ist schon höchst interessant, dass nun ins Felde ge-führt wird, dass zuerst die Rechtssicherheit – das ist derausschlaggebende Punkt – zu 100 Prozent garantiert seinmüsse, bevor man sich beteiligen könne. In diesem Sinneäußern sich gerade solche Personen, die sonst immer sa-gen, der Staat möge sich doch aus möglichst allen Dingenheraushalten. Von der amerikanischen Regierung verlan-gen sie jetzt, den unabhängigen Gerichten genau zu sagen,wie man Rechtssicherheit herzustellen hat.Auch wenn ich akzeptiere, dass Rechtssicherheit fürdie deutschen Firmen zweifellos eine wichtige Frage ist,muss ich ehrlich sagen: Wenn man die Frage der Rechts-sicherheit vor die Entschädigung der Opfer – unsereigentliches Anliegen – stellt, dann offenbart man eineGeisteshaltung, die nicht nur eine Geringschätzung derdurch die Gewaltenteilung garantierten Unabhängigkeitder Gerichte darstellt, sondern auch die Opfer erneut alsMittel für einen ökonomischen Zweck missbraucht. Dasdarf man nicht durchgehen lassen. Wir als Bundestagsab-geordnete müssen ein deutliches Zeichen setzen, dass diezügige Entschädigung aller Opfer, die noch leben, für unsweiterhin im Vordergrund aller Bemühungen stehenmuss.
Im Zentrum unserer Anstrengungen muss ebenfallsstehen – das sage ich auch als Vertreter der jungen Gene-ration –, den Opfern dadurch gerecht zu werden, dass wirdurch den Zukunftsfonds einen Beitrag dazu leisten, dassdie Erinnerung an das, was ihnen angetan wurde, nie ver-blasst. Allein dieser Auftrag – die Erinnerung an Verfol-gung, Ausbeutung und Vernichtung der Opfer des Natio-nalsozialismus auch dann noch bei den zukünftigen Ge-nerationen wach zu halten, wenn die Opfer gestorben sindund sie den jungen Menschen ihr Schicksal nicht mehrselbst als Zeitzeugen berichten können – rechtfertigt es,einen Teil der Mittel der Stiftung den noch lebenden Op-fern nicht direkt zukommen zu lassen, sondern in den Zu-kunftsfonds fließen zu lassen.Für mich ist der Zukunftsfonds der Teil der Stiftung,der den Opfern gewidmet werden muss, die mittlerweileschon verstorben sind. Ihnen kann man keine materielleEntschädigung mehr zukommen lassen. Aber indem manwegweisende, neue Projekte durch diesen Zukunftsfondsfördert, mit denen der Jugendaustausch und das Wachhal-ten bzw. die Erinnerung unterstützt werden, kann man ih-nen noch gerecht werden; darin liegt die wesentliche Be-rechtigung des Zukunftsfonds. Wenn man es so versteht,dann muss jedem Versuch, den Zukunftsfonds als Stein-bruch zu benutzen, um irgendwelche anderen Angelegen-heiten, die man in den Verhandlungen nicht geregelt hat,bezahlen zu können, widerstanden werden. Wir müssenjeden Schritt in diese Richtung zurückweisen.
Es geht bei diesem Zukunftsfonds nicht darum, Presti-geprojekte zu fördern – bei einigen Vorschlägen der Wirt-schaft hatte ich diesen Eindruck –; vielmehr geht es da-rum, vielen jungen Menschen – gerade von unten – inDeutschland, in Israel und in den mittel- und osteuropä-ischen Staaten die Möglichkeit zu geben, einander zu be-gegnen. Das sollte aber immer vor dem Hintergrund desSichvergegenwärtigens der Geschichte des Holocaust undseiner Einmaligkeit geschehen. Es geht darum, die Erin-nerung an die Unvergleichbarkeit wach zu halten und indie Zukunft zu retten. Dadurch können für junge Men-schen Brücken gebaut werden, damit sie durch das Lernenaus der Vergangenheit in der Lage sind, eine menschli-chere Zukunft ohne Faschismus, ohne Rassismus undohne Fremdenhass zu gestalten.
Ich glaube, das ist gerade auch für uns als junge Gene-ration sehr wichtig; denn es darf in keiner Weise einenSchlussstrich geben. Mich irritiert, in welcher Art undWeise jetzt einige davon reden, dass man den Gerichtenvorschreiben kann, in Bezug auf finanzielle Fragen einenSchlussstrich zu akzeptieren. Wir sollten wirklich in allerDeutlichkeit sagen: Diesen Schlussstrich darf es nicht ge-ben.Erlauben Sie mir zum Schluss, etwas von dem zu zi-tieren, was uns Elie Wiesel am 27. Januar dieses Jahreshier an dieser Stelle gesagt hat:Wer einen Schlussstrich ziehen will, hat es schonlängst getan. Er hat nicht nur das Blatt gewendet,sondern es aus seinem Bewusstsein gerissen. Wersich dazu herbeilässt, die Erinnerung an die Opfer zuverdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal.Das, meine Damen und Herren, darf in Deutschland niepassieren.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Dietmar Nietan10766
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Hans-Peter Uhl, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! GestattenSie auch mir zu Anfang eine Bemerkung zur Arbeitdes Beauftragten der Bundesregierung, des GrafenLambsdorff. Völlig unbestritten haben Sie, Herr KollegeGraf Lambsdorff, vor einem Jahr ein unglaublich schwe-res Erbe von Ihrem Vorgänger übernommen.
Ohne Rücksicht auf Ihre Gesundheit haben Sie sich einemnervenaufreibenden Verhandlungsmarathon zur Verfü-gung gestellt. Dabei waren Sie auch ungerechtfertigtenAngriffen ausgesetzt. Deswegen gebührt Ihnen heuteumso mehr der Respekt und der Dank des Hohen Hauses.
Zu Recht, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen,trägt die Stiftung den Titel „Erinnerung, Verantwortungund Zukunft“; denn ohne Erinnerung und Übernahme derVerantwortung für das Geschehene kann es keine gedeih-liche Zukunft geben, kein friedliches Miteinander unterNachbarn. Wir beweisen heute unsere Verantwortung vorder historischen Wahrheit. Der deutsche Staat und diedeutsche Wirtschaft wollen mit dieser Stiftung die bereitsgeleisteten Wiedergutmachungszahlungen noch einmalergänzen und dadurch abermals ein Zeichen der Versöh-nung setzen.Das Wachhalten der Erinnerung an das vergangeneLeid darf aber nicht dazu führen, dass das Erinnern zur al-leinigen Verpflichtung der Deutschen wird.Die richtige Erinnerung darf nicht bei unserer scho-nungslosen Aufdeckung von Verbrechen durch die Nazi-herrschaft stehen bleiben. Ohne jede Aufrechnungsab-sicht muss festgestellt werden: Das Unrecht des Naziregi-mes hat letztlich auch das Unrecht an vielen Deutschenausgelöst. Aber ebenso gilt, dass ein Unrecht das andereUnrecht niemals rechtfertigen kann.
Es kann kein Aufrechnen geben, weder für uns noch fürandere. Erinnern kann nicht teilbar sein.Heute erinnern wir an die Opfer des Naziregimes undübernehmen wieder Verantwortung. Gerade heute ist esdeshalb aber auch eine Verpflichtung des Deutschen Bun-destages, jener unschuldigen Deutschen zu gedenken, de-nen als Zwangsarbeiter schweres Leid und grausamsteBehandlung widerfahren sind. So müssen wir uns daranerinnern, wie der jüdische Deutsche Hans-Georg Adler,der während des Zweiten Weltkriegs in Theresienstadt in-haftiert war, die Verhältnisse im ehemaligen KZ The-resienstadt im Jahre 1946, also nach dem Krieg, schil-derte:Bestimmt gab es unter ihnen welche, die sichwährend den Besatzungsjahren manches haben zu-schulden kommen lassen, aber die Mehrzahl, darun-ter viele Kinder und Halbwüchsige, wurden bloßeingesperrt, weil sie Deutsche waren.Er fährt fort:Nur weil sie Deutsche waren ...? Der Satz klingterschreckend bekannt; man hatte bloß das Wort „Ju-den“ mit „Deutsche“ vertauscht. ... Die Menschenwurden elend ernährt, misshandelt und es ist ihnenum nichts besser gegangen, als man es von deutschenKonzentrationslagern her gewohnt war.Wir stimmen der Zwangsarbeiterentschädigung zu.Aber wir müssen auch an das Folgende erinnern: Alleinin einem von 1 255 polnischen Arbeits- und Deportati-onslagern kamen beispielsweise von 8 064 Insas-sen 6 488 Deutsche ums Leben. Darunter waren auch628 Kinder, die wirklich nichts für Hitlers Herrschaftkonnten. Viele der Zwangsarbeiter ließ man verhungern,prügelte sie zu Tode oder erschoss sie. Wer nicht arbeitenkonnte, wurde ermordet.Wir stimmen heute der Zwangsarbeiterentschädi-gung zu. Aber wir müssen auch daran erinnern: In derTschechoslowakei gab es 2 061 Arbeits-, Straf- und Inter-nierungslager. In Jugoslawien gab es 1 562 Lager. Dortwurde zwischen Arbeitslagern und Lagern für Arbeitsun-fähige unterschieden. In diesen letzteren Lagern wurdendie Menschen systematisch vernichtet. Im größten ju-goslawischen Vernichtungslager, Rudolfsgnad, sind von33 000 deutschen Insassen 9 503 umgebracht worden,darunter 491 Kinder unter 14 Jahren.Wir stimmen der Zwangsarbeiterentschädigung zu.Aber wir müssen auch an die 700 000 deutschen Zivilis-ten erinnern, darunter viele Frauen und Kinder, die nach1945 zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert wur-den.
Hunderttausende von deutschen Kriegsgefangenenmussten sich völkerrechtswidrig in Sibirien bis Mitte der50er-Jahre zu Tode schuften. Weit über 2 Millionen Deut-sche sind nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges durchVertreibung, Internierung und Zwangsarbeit zu Tode ge-kommen. All dies geschah übrigens in demselben Zeit-raum, als in den Nürnberger Prozessen gegen NazigrößenTodesurteile wegen ebendieser Straftaten, also wegen De-portation, Zwangsarbeit und Vernichtung, ausgesprochenwurden.Verantwortung beginnt mit der Wahrhaftigkeit und sieendet mit ihr. Ob Christ, Jude oder Atheist, ob Pole, Russeoder Deutscher: Was man ihnen in den Arbeitslagern desZweiten Weltkrieges und danach angetan hat, waren Ver-brechen gegen die Menschlichkeit. Der englische Be-richterstatter Bashford schrieb bereits im Sommer 1945an das englische Außenamt:Die Konzentrationslager sind nicht aufgehoben, son-dern von den neuen Besitzern übernommen worden.... In Swientochlowice, einem Ort in Oberschlesien,müssen Gefangene, die nicht verhungern oder zuTode geprügelt werden, Nacht für Nacht bis zumHals im kalten Wasser stehen, bis sie sterben. In
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Breslau gibt es Keller, aus denen Tag und Nacht dieSchreie der Opfer dringen.In einem Bericht an den amerikanischen Senat vom28. August 1945 heißt es:Man hätte erwarten dürfen, dass nach der Ent-deckung der Scheußlichkeiten, die sich in denKonzentrationslagern der Nazis ereigneten, niemalswieder Derartiges geschehen würde; das aber scheintleider nicht so zu sein.So wie das Erinnern unteilbar und Leid nicht teilbar ist,so ist auch die Verantwortung für Verbrechen nicht teilbar.Willy Brandt kniete in Auschwitz nieder. RomanHerzog bat im Warschauer Getto um Vergebung. Deut-sche haben sich zu Recht für deutsche Untaten immerwieder entschuldigt und um Vergebung gebeten. Wir ver-missen aber, dass sich auch die Gegner von einst ihrerVerantwortung stellen. Eine wahre Aussöhnung kann esaber nicht geben, wenn das Leid des einen anerkannt unddas Leid des anderen geleugnet wird.
Der Dichter sagt:Wer sich nicht erinnert und damit die eigene Verant-wortung leugnet, der sät die Blumen des Bösen: Aufdieser Saat der Selbstgerechtigkeit blüht keine Zu-kunft und gedeiht keine gute Nachbarschaft in Eu-ropa.Wir stimmen der Stiftung zu, aber in unserer heutigenFraktionserklärung fordern wir diejenigen Staaten auf,„die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Deutscheverschleppt und unter unmenschlichen Bedingungen zurArbeit gezwungen haben, den noch lebenden deutschenOpfern eine der deutschen Regelung zur Zwangsarbeiter-frage entsprechende Entschädigung in Form einer huma-nitären Geste zu gewähren“.Wer dies verweigert mit der Begründung, dass dasdeutsche Leid auf das Konto der Nazis gehe, vergisstzweierlei: Zum einen war der Zweite Weltkrieg zu diesemZeitpunkt bereits zu Ende. Zum anderen wurden dieseVerbrechen zumeist an unschuldigen Zivilisten begangen.Wir wollen nur, dass die Prinzipien der Wahrhaftigkeitund Gerechtigkeit für alle Menschen, also auch für Deut-sche, gelten. Vaclav Havel hat Recht, wenn er fordert: Je-des Volk sollte sich um einen ehrlichen Umgang mit sei-ner Geschichte bemühen.Die Geschichte kennt keinen Schlussstrich. Das wissenwir. Verantwortung für die Zukunft bedeutet deshalb, dasswir die Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalso-zialismus fortführen werden. Wohl aber muss es für dieMenschen in diesem Lande die Gewissheit geben, dassdie materiellen Wiedergutmachungsleistungen irgend-wann ein Ende haben. Denn über 70 Prozent der heute le-benden Deutschen sind nach 1945 geboren.Als Opposition gehen wir davon aus, dass die Bundes-regierung, die die entscheidenden Gespräche geführt hat,den Gesamtkomplex der Entschädigung nun so geregelthat, dass sich die vielfältig geäußerte Besorgnis, es könnezu immer neuen Nachforderungen kommen, als haltlos er-weist. Wir sind aber umso mehr überrascht über den heutevorgelegten gemeinsamen Entschließungsantrag derSPD, der F.D.P., der Grünen und der PDS. Darin wirdnämlich unmissverständlich die Bereitschaft zu neuen fi-nanziellen Leistungen bereits jetzt in Aussicht gestellt.Wir lehnen das ab.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ – dieser Titelder Stiftung ist Ausdruck des deutschen Bemühens umVersöhnung und materiellen Ausgleich für das von deut-scher Seite verursachte Leid. Über ein halbes Jahrhundertnach dem Ende des Zweiten Weltkrieges muss es aberauch für Deutsche eine historische Gerechtigkeit geben.Wir fordern nicht mehr und nicht weniger als diese Ge-rechtigkeit.Wir Deutschen werden das Leid, das unsere Vorväteranderen angetan haben, bestimmt nicht vergessen. Abernur mit Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit schaffen wirVertrauen und nur mit Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeitschaffen wir eine wahre Versöhnung zwischen den Völ-kern im zusammenwachsenden Europa.
Ich erteile dem Kolle-
gen Christian Simmert, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen undHerren! Ich bin froh und dankbar, hier im Deutschen Bun-destag eine Entscheidung mit treffen zu können, die aller-dings schon längst hätte getroffen werden müssen.Für uns alle ist das Gesetz zur Entschädigung derZwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ein historischerSchritt, vor allem für die Opfer, von denen nach so vielenJahrzehnten leider nur noch zu wenige diesen Augenblickerleben können.Dieser historische Schritt kann aber nicht der letzteSchritt in der Auseinandersetzung um die deutsche Ver-gangenheit sein – weder im politischen noch im gesell-schaftlichen Raum. Vielmehr muss ein neues Kapitel inder Erinnerungsarbeit aufgeschlagen werden, ein Kapitel,das gerade der jungen Generation eine Auseinanderset-zung mit Naziterror, Holocaust und Zwangsarbeit ermög-licht.
Das Gesetz zur Entschädigung von ehemaligenZwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern ist keinSchlussstrich und darf kein Schlussstrich sein. Ich denke,das haben die Beteiligten mit dem Titel der Stiftungs-initiative „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ aus-drücken wollen.Gerade der Zukunftsfonds hat in diesem Sinne einezentrale Bedeutung. Dieser kann mit dafür sorgen, dass
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Dr. Hans-Peter Uhl10768
nicht Schlussstrichgedanken vorherrschen, sondern dieErinnerungsarbeit eine neue Dimension bekommt. Wennimmer weniger Zeitzeuginnen und Zeitzeugen jungenMenschen unmittelbar aus ihren Erfahrungen berichtenkönnen, dann werden wir lernen müssen, neue Wege derErinnerung zu gehen. Der Zukunftsfonds sollte deshalbbesonders für neue, innovative Projekte genutzt werden,die sich gerade dieser Entwicklung stellen.Was können zukünftige Generationen nicht nur überdie deutsche Vergangenheit erfahren, sondern vor allemdaraus lernen? Wie kann Erinnerungsarbeit in Schulennicht verschult, sondern lebendig gestaltet werden, unddies vor dem Hintergrund, dass sich Europa näher kommtund sich unsere Gesellschaft verändert? Wie gehen jungeMenschen in einem anderen kulturellen Kontext mit derdeutschen Vergangenheit um und welche Verantwortungleiten sie für sich daraus ab? Neue und alte Fragen müs-sen gerade für die junge Generation und die zukünftigenGenerationen immer wieder beantwortet werden. Schondeshalb kann es keinen Schlussstrich geben.Es wäre jedoch falsch, zu glauben, dass sich die Erin-nerungsarbeit in Zukunft „nur“ auf den Zukunftsfonds derStiftungsinitiative beschränkt. So wichtig der Fonds ansich ist, so wichtig ist es auch, dass die bisherigeErinnerungsarbeit weiterhin geleistet und finanziert wird.
Grundvoraussetzung für die Stiftungsinitiative gene-rell und damit auch für den Zukunftsfonds ist jedoch, dassdie deutsche Wirtschaft endlich ihren Teil der Verant-wortung annimmt. Es kann nicht sein – auch ich finde dasbeschämend –, dass es noch immer Unternehmen gibt, dieZwangsarbeiter beschäftigt haben und die sich jetzt ihrerVerantwortung entziehen wollen, junge Unternehmenaber, die es erst seit kurzem gibt, Mitglied der Stiftungs-initiative sind. Es geht bei der Entschädigung ehemaligerZwangsarbeiter um die moralische Gesamtverantwortungder deutschen Wirtschaft. Vor dem Hintergrund von Fu-sionen und den Summen, die dabei im Spiel sind, kann ichmich des Eindrucks nicht erwehren, dass es für einige Un-ternehmen eher um Peanuts geht als um einen finanziel-len Kraftakt.Auch ich möchte mich für die gute Zusammenarbeitbedanken. Ich hoffe, dass wir in Zukunft an diesemThema weiterarbeiten und gemeinsam für eine Erinne-rungsarbeit eintreten, die diesen Namen auch verdient.Danke schön.
Ich erteile das Wort
dem Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Prä-
sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen
Sie mich zum Ende dieser sehr bewegenden Debatte,
nachdem Graf Lambsdorff als Beauftragter der
Bundesregierung schon vorgetragen hat, wie diese Stif-
tungsinitiative zustande gekommen ist, für die Bundesre-
gierung noch wenige Bemerkungen machen.
Wir dürfen nie vergessen, welch unvergleichliche Ver-
brechen in der Zeit zwischen 1933 und 1945 von unse-
rem Lande ausgegangen sind. 55 Millionen Tote und die
systematische Ausrottung ganzer Völker und Ethnien mit
der unglaublichen Begründung, dass das eigentlich gar
keine Menschen seien, gehören in diese Phase. Sich daran
zu erinnern ist schmerzhaft. Die deutsche Nachkriegsge-
schichte ist sehr schmerzhaft und auch sehr wider-
sprüchlich verlaufen. Aus dieser Geschichte auszutreten
ist niemandem erlaubt. Auch jetzt noch, da eine andere
Generation hier sitzt, haben wir Verantwortung.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich bitte doch wenigstens bei diesem
Thema um eine gewisse Ruhe, damit der Redner über-
haupt noch zu verstehen ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir tra-gen Verantwortung, weil wir das Erbe nicht ausschlagenkönnen, das Gute nicht – das wollen wir auch nicht –, aberdas Schlechte ebenso wenig.Deswegen tragen wir Verantwortung dafür, dass sichdas Geschehene in der Zukunft nie wiederholt. So sindübrigens viele meiner Generation überhaupt zum politi-schen Engagement gekommen: Sie wollten nie wieder soetwas wie das erleben, was wir von 1933 bis 1945, aus-gehend von Deutschland, erlebt haben.
Wir haben uns schwer getan. Wir haben uns bemüht,wieder gutzumachen – wenn das denn überhaupt geht. Je-denfalls kann dieses Leid auf materiellem Wege nichtwirklich ausgeglichen werden. Aber man kann sich be-mühen. Ich will ausdrücklich betonen: Das ist seit Anfangder 50er-Jahre geschehen; dieser Hinweis ist richtig. DieVereinten Nationen haben das deutsche Vorgehen in die-sem Zusammenhang als eine beispielhafte Aufarbeitungvon Krieg und Diktatur anerkannt.Aber wir haben lange gebraucht. Das, worüber wirheute diskutieren und was wir heute entscheiden wollen,hätte vielleicht schon viel früher entschieden werden kön-nen.
Aber da dies bisher nicht der Fall gewesen ist, müssen wirdies jetzt tun.
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Christian Simmert10769
Ich freue mich darüber – dazu möchte ich herzlichenDank sagen –, dass es in diesem Hause bei dieser Gesetz-gebung die Zustimmung aller Fraktionen und wohl fastaller Mitglieder geben wird. Dies ist keine Schluss-strichgesetzgebung in dem Sinne, dass wir uns danachumdrehen und sagen könnten: Damit ist für uns die Zeitvon 1933 bis 1945 ein für alle Mal historisch abgeschlos-sen. Das wird sie nie sein.
Wir versuchen aber, materiell zu einem Ergebnis zu kom-men.Dass wir im Rahmen des Haushaltes – ich sage das alsFinanzminister – weiter helfen werden, dass wir weiterEntschädigungsleistungen erbringen – etwa 150 000Rentnerinnen und Rentner bekommen weiter Entschädi-gungsleistungen; das muss auch so sein –, ist auch hiereine humanitäre Geste unsererseits.Ich will – wie alle anderen Redner auch – zuallererstGraf Lambsdorff sehr herzlich dafür danken, dass er dieseaußerordentlich schwierige Frage sehr sensibel und sehrbestimmt zu einem Ergebnis geführt hat.
Ich sage Dank auch an die amerikanische Regierungund stellvertretend an Stuart Eizenstat, den stellvertreten-den Finanzminister und für Graf Lambsdorff führendenGesprächspartner auf der anderen Seite des Verhand-lungstisches.
Ich sage Dank an die Stiftungsinitiative der deutschenWirtschaft sowie ganz besonders an Herrn Dr. Gentz undan die an die Spitze der Initiative getretenen Unterneh-men, die es geschafft haben, dass alle anderen Unterneh-men ihrem Beispiel folgen, egal ob sie Zwangsarbeiter be-schäftigt haben oder nicht.
Denn hier wird von denjenigen, die sich engagieren, einebeispielhafte Initiative geleistet. Wenige fragen danach,ob sie rechtlich verpflichtet sind oder nicht. DiejenigenUnternehmen, die nach dem Krieg neu gegründet wordensind und historisch mit der Entschädigung der Zwangsar-beiter nichts zu tun haben, aber die wie wir als Bürgerin-nen und Bürger begreifen, dass wir nicht aus der Ge-schichte austreten können, geben ein hervorragendes Bei-spiel. Diejenigen, die schon in der Vergangenheit dabeigewesen sind, hätten nun allen Grund, sich jetzt auch anden Entschädigungszahlungen zu beteiligen.
Für die Bundesregierung ist aber auch klar: Hier wirdkein neues Kapitel im Hinblick auf Reparationen eröffnet.Dieses Kapitel ist abgeschlossen. Die Bundesregierungund das ganze deutsche Volk leisten zum Beispiel im Rah-men ihrer Hilfe zur Integration der mittel- und osteu-ropäischen Länder in die Europäische Union großeAnstrengungen. Unsere eigentliche Zukunftsaufgabe ist –denn das ist die Lehre, die wir aus der Vergangenheit zuziehen haben –, alle diese Länder zu einem vereinigtenEuropa zusammenzuschließen
und zu helfen, dass sie dieselbe Entwicklung nehmen, wiewir sie, ökonomisch gesehen, erfahren haben. Das ist un-ser Zukunftsbeitrag, den wir – ich hoffe, das bleibt auchso – gerne leisten wollen. Ich wiederhole es: Reparationenhaben keine Zukunft. Es wird von Deutschland aus keineDebatten darüber geben. Dazu werden wir nicht mehr dieHand reichen.
Eine humanitäre Geste aber musste von uns ausgehen –das ist die Errichtung dieser Stiftung –, wenigstens heute,wenn dies schon in den vergangenen Jahren nicht geleis-tet worden ist. Die Stiftung kann auch unmittelbar tätigwerden. Dies setzt allerdings voraus, dass alle, die an demTisch gesessen haben, an dem Graf Lambsdorff für unsdie Verhandlung führte, ihren Beitrag dazu leisten. Dassage ich mit Nachdruck gerade angesichts der Sammel-klagen in den Vereinigten Staaten und denen, die noch an-gedroht werden.Ich unterstreiche ausdrücklich, dass es im Rahmen die-ser Stiftung möglich sein wird – das ist die Position derBundesregierung –, alle gerecht zu behandeln. Das be-zieht sich auch auf diejenigen, die nicht am Verhand-lungstisch gesessen haben. Wir sollten auch so schnell wieirgend möglich mit den Auszahlungen beginnen; denn dieMenschen sind alt. Graf Lambsdorff hat darauf hingewie-sen, wie viele Menschen sozusagen wegsterben. Wenigs-tens unsere Geste sollte diese Menschen noch erreichenund etwas versöhnen.
Deswegen sind wir an einer schnellen Auszahlung inte-ressiert.Lassen Sie mich noch eines sagen: Es ist ein gutes Zei-chen, dass alle Fraktionen bzw. fast alle Mitglieder desDeutschen Bundestages zustimmen. Das symbolisiert un-sere ausgestreckte Hand gegenüber den Opfern. Wir wis-sen, dass dies keinen Schlussstrich darstellt. Es ist viel-mehr die Verpflichtung, für alle Zukunft dafür zu sorgen,in unserem Lande und überall, dass Menschen als Men-schen behandelt werden und nicht so, wie wir es in denzwölf Jahren von 1933 bis 1945 – dies hatte auch großeNachwirkungen – erlebt haben.Herzlichen Dank für Ihre Zustimmung.
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Bundesminister Hans Eichel10770
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die
Grünen, der F.D.P. und der PDS sowie der Bundesregie-
rung eingebrachten Gesetzentwurf zur Errichtung einer
Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“,
Drucksachen 14/3206, 14/3459 und 14/3758. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Die Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen verlangen namentliche Ab-
stimmung. Ich bitte also die Schriftführerinnen und
Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Bevor ich die Abstimmung eröffne, möchte ich mittei-
len, dass zahlreiche Erklärungen zur Abstimmung zu Pro-
tokoll gegeben worden sind.1) Ich erspare mir die Verle-
sung der Namen, da dies sehr lange dauern würde. Ich
möchte nur noch darauf hinweisen, dass der Kollege
Volker Beck eine schriftliche Erklärung zur Aussprache
abgegeben hat.2)
Sind alle Urnen besetzt? – Dann können wir mit der
Abstimmung beginnen. Ich eröffne die Abstimmung. –
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stim-
me noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich
schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das
Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt ge-
geben.3)
Wir setzen die Beratungen fort und kommen jetzt zur
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktio-
nen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, F.D.P. und PDS
auf Drucksache 14/3790. Wer stimmt für diesen Ent-
schließungsantrag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen, F.D.P. und PDS gegen die Stim-
men der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus-
schusses zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem Ti-
tel „Zügige Entschädigung für Zwangsarbeiterinnen und
Zwangsarbeiter und Errichtung einer Bundesstiftung“.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksa-
che 14/1694 für erledigt zu erklären. Die PDS-Fraktion ist
damit einverstanden. Damit ist dieser Antrag erledigt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der PDS zur Änderung des Einkommensteu-
ergesetzes auf Drucksache 14/472. Der Finanzausschuss
empfiehlt auf Drucksache 14/3731, den Gesetzentwurf
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Stimmenthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD,
CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. abgelehnt
worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung
die weitere Beratung.
Ich rufe Zusatzpunkt 3 auf:
Vereinbarte Debatte zur Steuerpolitik
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kollege
Joachim Poß, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine liebenKolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag ent-scheidet heute über eine wichtige Frage des StandortsDeutschland: über den Fortgang des wirtschaftlichen Auf-schwungs, über die weitere Rückführung der Arbeitslosig-keit und über massive Steuerentlastungen für Arbeitneh-mer, Wirtschaft und Mittelstand. Ich habe keine Zweifel,dass der Deutsche Bundestag dem Vermittlungsergebniszum Steuersenkungsgesetz mit überzeugender Mehrheitzustimmen wird.
– Herr Fromme, mit Ihrer Stimme wird man nicht rechnenkönnen, aber, ehrlich gesagt, beruhigt mich das eher.
Alle müssen wissen, dass die Wachstumsaussichtenohne diese Steuerreform erheblich zurückgeschraubt wer-den müssen. Das DIW zum Beispiel rechnet für dasnächste Jahr mit einem Wachstum von nur noch 2 Prozentstatt der ursprünglich erwarteten 2,75 Prozent. Bei derEntscheidung, die wir heute Morgen treffen, geht es ganzkonkret um Arbeitsplätze und neue Chancen für Arbeits-lose in Deutschland.
Das müssen Sie von der Opposition bedenken und wis-sen. Das müssen die Ministerpräsidenten der Länder amnächsten Freitag bedenken, wenn sie über dieses Vermitt-lungsergebnis abstimmen. Das gilt insbesondere für dieunionsgeführten oder von der Union mitregierten Lan-desregierungen.
Ich verhehle aber nicht: Das gilt auch für sozialdemokra-tische Ministerpräsidenten. Es muss bedacht werden, washier auf dem Spiel steht.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000 10771
1) Anlagen 7–202) Anlage 213) s. Seite 10773Sie werden sich in den nächsten acht Tagen entschei-den müssen, ob Sie der totalen Blockadestrategie desHerrn Merz folgen wollen.
Denn dann kann die Steuerreform endgültig scheitern.Die Landesregierungen sollten sich vor Augen führen,was das bedeutet. Herr Merz behauptet: Kein Gesetz istbesser als dieses Gesetz. So lautet seine Kernbotschaft.
Eigentlich können die Länder, egal ob SPD- oderCDU-geführt, diese Botschaft nicht teilen. Sie wissennämlich: Verhandlungsgegenstand war zumindest ausSicht der CDU/CSU bisher leider nicht unser Steuerre-formkonzept, auf dem Spiel stand das politische Prestigedes Fraktionsvorsitzenden Merz.
Das hat er selbst so gewollt und deshalb war Herr Merzbisher eine schwere Hypothek für das Vermittlungsver-fahren. Es ist eine sehr teure Rehabilitationsmaßnahme,die hier durchgeführt wird.
Es ist nicht hinzunehmen, dass sich das negativ auf dieChancen unserer Republik auswirkt. Die Opposition ist indieses Vermittlungsverfahren offensichtlich ohne den Wil-len zu einer Vermittlung gegangen.
Das ist das Entscheidende.
Dagegen sind SPD und Grüne der Union ein großes Stückentgegengekommen, zum Beispiel beim Spitzensteuer-satz, beim Tarif und beim so genannten Optionsmodell.Das alles soll jetzt wegen des verbissenen Kampfs desHerrn Merz um sein politisches Profil nicht in Kraft tre-ten?
Ist es denn nicht so, dass es mittlerweile in der Union hin-ter vorgehaltener Hand heißt: „Kein Merz ist besser alsdieser Merz“?
Das Steuersenkungsgesetz sieht Steuerentlastungenfür alle vor: Arbeitnehmer, Mittelstand und Großunter-nehmen. Es begünstigt Arbeiter, Angestellte, Freiberufler,kleine, mittlere und große Personenunternehmen sowieKapitalgesellschaften. Die Steuerentlastungen sind mas-siv. Das Steuersenkungsgesetz hat nach dem Ergebnis desVermittlungsverfahrens ein Entlastungsvolumen von rund50 Milliarden DM. Was ist das für eine Logik, Herr Merz:Keine Entlastung ist besser als diese Entlastung von50 Milliarden DM?Darum geht es: Wollen Sie den Menschen wirklichweismachen, dass das geltende Vollanrechnungsverfah-ren bei der Körperschaftsteuer es wert ist, auf diese Steu-erentlastung verzichten zu müssen? Ein Lediger mit ei-nem Einkommen in Höhe von 70 000 DM muss im Jahre2005 – das wird voraussichtlich das Durchschnittsein-kommen sein – 2 640 DM weniger und ein Verheiratetermuss 3 316 DM weniger im Jahr zahlen. Darauf sollen dieSteuerzahler wegen dieses durchsichtigen Spiels, das aufder rechten Seite des Hauses gespielt wird, verzichten?Das kann doch wohl nicht wahr sein!
Ich will hier nicht in den Streit über das Für und Widerdes Vollanrechnungsverfahrens und des von uns vorge-schlagenen Halbeinkünfteverfahrens einsteigen. Abereines sollten die Menschen wissen: Den Systemwechselzum Halbeinkünfteverfahren hat eine Kommission vorge-schlagen, die mit Wissenschaftlern, Steuerexperten vonWirtschaft und Gewerkschaften, Verbänden, mit Rechts-anwälten und Praktikern der Finanzverwaltung besetztwar, also mit Leuten, die wissen, wovon sie sprechen, weilsie aus der Praxis kommen.
Wenn Herr Merz sich auf Professoren stützt,
– natürlich wissen die etwas; ich stelle deren Autorität garnicht infrage; selbstverständlich gibt es Argumente für dasVollanrechnungsverfahren; dies haben wir auch in derDiskussion im Vermittlungsausschuss nicht infrage ge-stellt –,
denen zur fehlenden Europatauglichkeit des Vollanrech-nungsverfahrens nur einfällt, dass man ja über alle be-troffenen Doppelbesteuerungsabkommen neu verhandelnkann, darf man sich nicht wundern, wenn sich alle überMerz wundern.
Dies gilt umso mehr, als Herr Merz am 15. Fe-bruar 2000, damals noch als stellvertretender Fraktions-vorsitzender, der „FAZ“ gesagt hat, man könne über einenErsatz des derzeit geltenden Vollanrechnungsverfahrenssprechen. Die Union sei hier nicht für alle Tage festgelegt. –Welch eine Formulierung! Das heißt, man hat sich aufdiese Frage möglicherweise nur bis zum 14. Februar fest-gelegt und dann wird man weitersehen. Man kann imZweifel für alles auf ein Zitat zurückgreifen. Welch ein fa-tales Spiel, meine Damen und Herren!
Herr Merz, Sie sollten sich wieder an das erinnern, wasSie als stellvertretender Fraktionsvorsitzender gesagt ha-ben. Ist es nicht höchste Zeit, dass Sie Ihre vorgeschobe-nen Argumente, dass es um einen Systemwechsel oder um
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Joachim Poß10772
die angeblich fehlende Gleichmäßigkeit der Besteuerunggehe, beiseite räumen und sich dem Kern nähern? Zu un-serem Konzept gibt es nämlich keine vernünftige und vorallen Dingen finanzierbare Alternative.
Mit unserem Kompromissangebot im Vermittlungsver-fahren haben wir die bereits im Gesetzentwurf vorgese-hene Steuerentlastung um weitere 5 Milliarden DM aus-geweitet. Dies können wir mit Blick auf die Haushalte desBundes und der Länder noch verantworten, weil wir un-ser Konsolidierungsziel, im Jahre 2006 ohne Neuver-schuldung auszukommen, damit noch darstellen und auchdie Länder damit noch verfassungsmäßige Haushalte ver-abschieden können. Wir halten an unseren Leitplankenfest: Haushaltssanierung auf der einen und Steuerent-lastung auf der anderen Seite.
Das sind die Markenzeichen dieser Koalition: Nachhal-tigkeit der Finanzpolitik und Generationengerechtigkeit.Dies spiegelt sich auch in unserem Kompromissvorschlagim Vermittlungsverfahren wider.Dagegen sind Ihre Vorschläge – was alle wissen – nichtfinanzierbar.
Dies hat Herr Merz in einem Interview mit der „FinancialTimes“ am 20. Juni zugegeben; sehr zum Ärger der CSUund von Herrn Faltlhauser. Herr Merz, warum wollen Sieplötzlich keinen Spitzensteuersatz von 35 Prozent mehr?Dies ist doch Gegenstand Ihres Konzeptes. Glauben Sie,die Bürger nehmen solche Zickzackerklärungen einesFraktionsvorsitzenden noch ernst? Sie wussten doch, dassein Spitzensteuersatz von 35 Prozent nur zu finanzierenist – darüber gibt es zig Äußerungen –, wenn zum Beispieldie Steuerfreiheit von Sonntags-, Feiertags- und Nachtar-beitszuschlägen abgeschafft wird. Nur unter solchen Um-ständen ist das möglich. Da sage ich Ihnen für die Sozial-demokraten: Mit der SPD wird es keine Absenkung desSpitzensteuersatzes zulasten von Krankenschwestern,Facharbeitern, Handwerksgesellen und anderen Arbeit-nehmern geben.
Dabei kennen wir die steuersystematischen Argumenteund wissen auch, dass der Ball eigentlich ins Feld der Ta-rifparteien gehört.
Aber so kann man eine Praxis, die sich in 50 Jahren ein-geschliffen hat und deren Änderung auch während IhrerRegierungsverantwortung, Herr Gerhardt, nur zaghaft an-gepackt wurde, leider nicht ändern. Eines muss klar sein:Eine Krankenschwester muss zu den Gewinnern der Steu-erreform gehören und darf am Ende nicht dafür bluten,dass Sie, Herr Gerhardt, hier wahnsinnige, unfinanzier-bare Tarife vorschlagen. Das ist doch der Punkt.
– Die profitiert auch von den Tarifsenkungen, HerrGerhardt. Schauen Sie einmal nach. Möglicherweise ge-bricht es Ihnen auch an dieser Stelle wieder an Sach-verstand.
Auch die größte Oppositionspartei im Bundestag hatneben ihrer Rolle, die Regierung zu kontrollieren, eine ge-samtgesellschaftliche Aufgabe. Herr Merz und alle an-deren, Sie sind doch auch Ihren Wählerinnen undWählern verpflichtet – und die wollen jetzt auch entlastetwerden, ob sie Mittelständler sind oder Arbeitnehmer.
Wir haben eine Entscheidungsgrundlage geschaffen, inder sich nicht nur die Vorstellungen der Sozialdemokratenund der Grünen wiederfinden, sondern auch Ihre Vorstel-lungen.
Das jetzt vorliegende Gesetz ist für uns, für Sie und für dieBundesländer akzeptabel. Es ist ein Gesetz, das die Wirt-schaft jetzt braucht. Es ist ein Gesetz, auf das die Arbeit-nehmer nicht länger warten wollen. Wer sagt: „Lieberkein Gesetz als dieses Gesetz“, der will das Scheitern derReform.
Ich bin aber zuversichtlich, dass wir heute und auch inder nächsten Woche, am 14. Juli, eine Mehrheit für die po-litische Vernunft und die Interessen aller Steuerzahler er-reichen, eine Mehrheit für mehr Arbeitsplätze und denAbbau der Arbeitslosigkeit.
Bevor ich dennächsten Redner aufrufe, gebe ich Ihnen das von denSchriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergeb-nis der namentlichen Abstimmung über den Entwurfeines Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung,Verantwortung und Zukunft“ bekannt. Abgegebene Stim-men 620. Mit Ja haben gestimmt 556, mit Nein haben ge-stimmt 42, Enthaltungen gab es 22.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Joachim Poß10773
Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 620ja: 556nein: 42enthalten: 22JaSPDGerd AndresIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHermann BachmaierErnst BahrDoris BarnettDr. Hans Peter BartelsEckhardt Barthel
Klaus Barthel
Ingrid Becker-InglauWolfgang BehrendtDr. Axel BergHans-Werner BertlFriedhelm Julius BeucherPetra BierwirthRudolf BindigLothar Binding
Kurt BodewigKlaus BrandnerAnni Brandt-ElsweierWilli BraseDr. Eberhard BrechtRainer Brinkmann
Bernhard Brinkmann
Hans-Günter BruckmannEdelgard BulmahnUrsula BurchardtDr. Michael BürschHans Büttner
Marion Caspers-MerkWolf-Michael CatenhusenDr. Peter DanckertDr. Herta Däubler-GmelinChristel DeichmannKarl DillerPeter DreßenRudolf DreßlerDetlef DzembritzkiDieter DzewasDr. Peter EckardtSebastian EdathyLudwig EichMarga ElserPeter EndersGernot ErlerAnnette FaßeLothar Fischer
Gabriele FograscherIris FollakNorbert FormanskiRainer FornahlHans ForsterDagmar FreitagLilo Friedrich
Harald FrieseAnke Fuchs
Arne FuhrmannProf. Monika GanseforthKonrad GilgesIris GleickeGünter GloserUwe GöllnerRenate GradistanacGünter Graf
Angelika Graf
Dieter GrasedieckKerstin GrieseWolfgang GrotthausKarl Hermann Haack
Hans-Joachim HackerKlaus HagemannManfred HampelChristel HanewinckelAlfred HartenbachAnke HartnagelKlaus HasenfratzNina HauerHubertus HeilReinhold HemkerFrank HempelRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogMonika HeubaumReinhold Hiller
Stephan HilsbergGerd HöferJelena Hoffmann
Walter Hoffmann
Iris Hoffmann
Frank Hofmann
Ingrid HolzhüterEike HovermannChristel HummeLothar IbrüggerBarbara ImhofBrunhilde IrberGabriele IwersenRenate JägerJann-Peter JanssenIlse JanzProf. Dr. Uwe JensVolker Jung
Johannes KahrsUlrich KasparickSabine KaspereitSusanne KastnerHans-Peter KemperKlaus KirschnerMarianne KlappertSiegrun KlemmerWalter KolbowFritz Rudolf KörperKarin KortmannAnette KrammeNicolette KresslVolker KröningAngelika Krüger-LeißnerHorst KubatschkaErnst KüchlerHelga Kühn-MengelUte KumpfKonrad KunickDr. Uwe KüsterWerner LabschBrigitte LangeChristian Lange
Detlev von LarcherChristine LehderWaltraud LehnRobert LeidingerDr. Elke LeonhardEckhart LeweringGötz-Peter Lohmann
Christa LörcherErika LotzDr. Christine LucygaDieter Maaß
Winfried ManteDirk ManzewskiTobias MarholdLothar MarkUlrike MascherChristoph MatschieHeide MattischeckMarkus MeckelUlrike MehlUlrike MertenAngelika MertensProf. Dr. Jürgen Meyer
Ursula MoggSiegmar MosdorfMichael Müller
Jutta Müller
Christian Müller
Franz MünteferingAndrea NahlesVolker Neumann
Gerhard Neumann
Dr. Edith NiehuisDr. Rolf NieseDietmar NietanEckhard OhlLeyla OnurManfred OpelHolger OrtelAdolf OstertagKurt PalisAlbrecht PapenrothProf. Dr. Martin PfaffGeorg PfannensteinJohannes PflugProf. Dr. Eckhart PickJoachim PoßKarin Rehbock-ZureichDr. Carola ReimannMargot von RenesseRenate RennebachBernd ReuterDr. Edelbert RichterReinhold RobbeGudrun RoosRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Birgit Roth
Gerhard RübenkönigMarlene RupprechtThomas SauerDr. Hansjörg SchäferGudrun Schaich-WalchRudolf ScharpingBernd ScheelenSiegfried SchefflerHorst SchildDieter SchlotenHorst Schmidbauer
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Dagmar Schmidt
Wilhelm Schmidt
Regina Schmidt-ZadelHeinz Schmitt
Carsten SchneiderDr. Emil SchnellWalter SchölerOlaf ScholzKarsten SchönfeldFritz SchösserOttmar SchreinerGerhard SchröderGisela SchröterDr. Mathias SchubertRichard Schuhmann
Brigitte Schulte
Reinhard Schultz
Volkmar Schultz
Ewald SchurerDr. R. Werner SchusterDietmar Schütz
Dr. Angelica Schwall-DürenRolf SchwanitzBodo SeidenthalErika SimmDr. Sigrid Skarpelis-SperkDr. CornelieSonntag-WolgastWieland SorgeWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltLudwig StieglerRolf StöckelRita Streb-HesseReinhold Strobl
Dr. Peter StruckJoachim StünkerJoachim TappeJörg TaussJella TeuchnerDr. Gerald ThalheimWolfgang ThierseFranz ThönnesUta Titze-StecherAdelheid TröscherHans-Eberhard UrbaniakRüdiger VeitSimone ViolkaUte Vogt
Hans Georg WagnerHedi WegenerDr. Konstanze Wegner
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer10774
Wolfgang WeiermannReinhard Weis
Matthias WeisheitGunter WeißgerberDr. Ernst Ulrich vonWeizsäckerJochen WeltDr. Rainer WendHildegard WesterLydia WestrichInge Wettig-DanielmeierDr. Margrit WetzelDr. Norbert WieczorekHelmut Wieczorek
Jürgen Wieczorek
Heidemarie Wieczorek-ZeulDieter WiefelspützHeino Wiese
Brigitte Wimmer
Engelbert WistubaBarbara WittigDr. Wolfgang WodargHanna Wolf
Waltraud Wolff
Heidemarie WrightDr. Christoph ZöpelPeter ZumkleyCDU/CSUUlrich AdamIlse AignerPeter AltmaierNorbert BarthleDr. Wolf BauerGünter BaumannBrigitte BaumeisterMeinrad BelleDr. Sabine Bergmann-PohlOtto BernhardtDr. Joseph-Theodor BlankRenate BlankDr. Heribert BlensFriedrich BohlDr. Maria BöhmerJochen BorchertWolfgang BosbachDr. Wolfgang BötschDr. Ralf BrauksiepePaul BreuerCajus CaesarWolfgang DehnelHubert DeittertRenate DiemersThomas DörflingerHansjürgen DossMarie-Luise DöttMaria EichhornRainer EppelmannAnke Eymer
Ilse FalkDr. Hans Georg FaustUlf FinkIngrid FischbachDirk Fischer
Dr. Gerhard Friedrich
Dr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeDr. Heiner GeißlerMichael GlosDr. Reinhard GöhnerPeter GötzKurt-Dieter GrillHermann GröheManfred GrundGottfried Haschke
Gerda HasselfeldtNorbert Hauser
Helmut HeiderichUrsula HeinenManfred HeiseSiegfried HeliasHans Jochen HenkePeter HintzeKlaus HofbauerKlaus HoletschekDr. Karl-Heinz HornhuesJoachim HörsterHubert HüppeGeorg JanovskyDr.-Ing. Rainer JorkBartholomäus KalbIrmgard KarwatzkiEckart von KlaedenUlrich KlinkertManfred KolbeNorbert KönigshofenEva-Maria KorsThomas KossendeyDr. Martina KrogmannDr.-Ing. Paul KrügerDr. Hermann KuesKarl LamersDr. Norbert LammertHelmut LampDr. Paul LaufsKarl-Josef LaumannWerner LensingUrsula LietzWalter Link
Eduard LintnerDr. Klaus W. Lippold
Wolfgang Lohmann
Dr. Michael LutherErich Maaß
Erwin Marschewski
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterDr. Angela MerkelFriedrich MerzHans MichelbachMeinolf MichelsBernward Müller
Bernd Neumann
Claudia NolteGünter NookeFriedhelm OstEduard OswaldDr. Peter PaziorekAnton PfeiferDr. Friedbert PflügerBeatrix PhilippRonald PofallaRuprecht PolenzMarlies PretzlaffDr. Bernd ProtznerThomas RachelDr. Peter RamsauerHelmut RauberPeter RauenChrista Reichard
Katherina ReicheErika ReinhardtHans-Peter RepnikKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberHannelore Rönsch
Heinrich-Wilhelm RonsöhrDr. Klaus RoseAdolf Roth
Norbert RöttgenDr. Christian RuckVolker RüheDr. Wolfgang SchäubleHartmut SchauerteHeinz SchemkenKarl-Heinz ScherhagGerhard ScheuDietmar SchleeBernd SchmidbauerChristian Schmidt
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Andreas Schmidt
Birgit Schnieber-JastramDr. Andreas SchockenhoffDr. Erika SchuchardtWolfgang SchulhoffDiethard Schütze
Dr. Christian Schwarz-SchillingHorst SeehoferRudolf SeitersBernd SiebertWerner SiemannJohannes SinghammerWolfgang SteigerErika SteinbachDr. Wolfgang Freiherr vonStettenAndreas StormDorothea Störr-RitterMatthäus StreblThomas Strobl
Michael StübgenEdeltraut TöpferDr. Hans-Peter UhlGunnar UldallAngelika VolquartzAndrea VoßhoffPeter Weiß
Gerald Weiß
Annette Widmann-MauzHeinz Wiese
Matthias WissmannDagmar WöhrlAribert WolfElke WülfingWolfgang ZeitlmannBÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENGila Altmann
Marieluise Beck
Volker Beck
Angelika BeerMatthias BerningerGrietje BettinAnnelie BuntenbachEkin DeligözDr. Thea DückertFranziska Eichstädt-BohligDr. Uschi EidHans-Josef FellAndrea Fischer
Katrin Dagmar Göring-EckardtWinfried HermannAntje HermenauUlrike HöfkenMichaele HustedtMonika KnocheSteffi LemkeDr. Helmut LippeltDr. Reinhard LoskeOswald MetzgerKerstin Müller
Winfried NachtweiChrista NickelsCem ÖzdemirSimone ProbstClaudia Roth
Christine ScheelIrmingard Schewe-GerigkRezzo SchlauchAlbert Schmidt
Werner Schulz
Christian SimmertChristian SterzingHans-Christian StröbeleJürgen TrittinDr. Antje VollmerDr. Ludger VolmerSylvia VoßHelmut Wilhelm
Margareta Wolf
F.D.P.Ina AlbowitzHildebrecht Braun
Rainer BrüderleErnst BurgbacherJörg van EssenUlrike FlachGisela FrickPaul K. FriedhoffHorst Friedrich
Rainer FunkeDr. Wolfgang GerhardtJoachim Günther
Dr. Karlheinz GuttmacherKlaus Haupt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer10775
Der Gesetzentwurf ist damit mit der großen Mehrheitdes Hauses angenommen worden.
Wir fahren jetzt in der Debatte fort. Als Nächste hat dieAbgeordnete Gerda Hasselfeldt das Wort.Gerda Hasselfeldt (von Abgeordnetender CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Es gibt in diesem Haus einebreite Übereinstimmung darüber, dass wir eine Steuerre-form brauchen. Es gibt auch eine breite Übereinstimmungdarüber, dass wir eine solche wollen.
Ihr ständiges Gerede, Herr Poß, von einer Blockade ist,mit Verlaub gesagt, nichts als leeres Gequatsche ohne jeg-liche Grundlage.
Das Wort „Blockade“ war in der letzten Legislaturpe-riode angebracht. Sie haben damals nicht einmal einen ei-genen Entwurf vorgelegt. Wir sind in diese Auseinander-Dr. Helmut HaussmannUlrich HeinrichWalter HircheBirgit HomburgerDr. Werner HoyerUlrich IrmerDr. Klaus KinkelDr. Heinrich Leonhard KolbGudrun KoppJürgen KoppelinIna LenkeSabine Leutheusser-SchnarrenbergerGünther Friedrich NoltingHans-Joachim Otto
Detlef ParrCornelia PieperDr. Edzard Schmidt-JortzigGerhard SchüßlerDr. Irmgard SchwaetzerDr. Hermann Otto SolmsDr. Max StadlerCarl-Ludwig ThieleDr. Dieter ThomaeJürgen TürkDr. Guido WesterwellePDSMonika BaltDr. Dietmar BartschPetra BlässMaritta BöttcherRoland ClausHeidemarie EhlertDr. Heinrich FinkDr. Ruth FuchsWolfgang GehrckeDr. Klaus GrehnDr. Gregor GysiUwe HikschUlla JelpkeSabine JüngerGerhard JüttemannDr. Evelyn KenzlerDr. Heidi Knake-WernerRolf KutzmutzUrsula LötzerDr. Christa LuftHeidemarie LüthAngela MarquardtKersten NaumannRosel NeuhäuserChristine OstrowskiPetra PauDr. Uwe-Jens RösselGustav-Adolf SchurDr. Ilja SeifertNeinCDU/CSUDietrich AustermannPeter BleserSylvia BonitzWolfgang Börnsen
Klaus BrähmigGeorg BrunnhuberLeo DautzenbergAlbert DeßAlbrecht FeibelHans-Joachim FuchtelDr. Jürgen GehbNorbert GeisGeorg GirischDr. Wolfgang GötzerHorst Günther
Ernst HinskenMartin HohmannJosef HollerithSiegfried HornungSusanne JaffkeSteffen KampeterDr.-Ing. Dietmar KansyVolker KauderPeter LetzgusJulius LouvenElmar Müller
Franz ObermeierKurt J. RossmanithAnita SchäferNorbert SchindlerMichael von SchmudeClemens SchwalbeWilhelm-Josef SebastianHeinz SeiffertCarl-Dieter SprangerMax StraubingerHans-Otto Wilhelm
Klaus-Peter WillschWerner WittlichPeter Kurt WürzbachBenno ZiererWolfgang ZöllerEnthaltenCDU/CSUMonika BrudlewskyKlaus Bühler
Hartmut Büttner
Dankward BuwittManfred Carstens
Carl-Detlev Freiherr vonHammersteinKlaus-Jürgen HedrichRudolf Kraus
Vera LengsfeldDr. Manfred Lischewski
Dr. Gerd MüllerNorbert Otto
Dr. Rupert ScholzMargarete SpäteArnold VaatzF.D.P.Marita SehnPDSEva-Maria Bulling-SchröterCarsten HübnerChristina SchenkDr. Winfried Wolf
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer10776
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Ver-sammlungen des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPUAbgeordneteAdler, Brigitte Bierling, Hans-Dirk Grießhaber, Rita BÜNDNIS 90/DIESPD CDU/CSU GRÜNENMoosbauer, Christoph Raidel, Hans Dr. Süssmuth, Rita SPD CDU/CSU CDU/CSUProf. Weisskirchen, Gert Wimmer, Willy (Neuss) Zapf, Uta SPD CDU/CSU SPDsetzung mit einem eigenen, ausformulierten, konkretdurchgerechneten Entwurf gegangen.
Wir haben die Verhandlungen in den letzten Monaten imFinanzausschuss konstruktiv geführt. Wir haben im Ver-mittlungsausschuss auf die Defizite, auf die Schwach-stellen hingewiesen.
Wir haben deutlich auf den falschen Grundansatz hinge-wiesen. Aber auf all diese Argumente sind Sie nicht ein-gegangen.
Dann können Sie von uns nicht erwarten, dass wir sehen-den Auges einen falschen politischen Weg mitgehen,
dass wir sehenden Auges eine falsche politische Wei-chenstellung mittragen. Genau diese ist in diesem Ge-setzentwurf vorhanden.
Auch in Ihren geänderten Vorschlägen ist der Grund-ansatz nach wie vor falsch und die Entlastungswirkunginsbesondere für die Personenunternehmen und für dieArbeitnehmer unzureichend.
Die Konsequenzen, die dadurch zu verzeichnen sind, sindunsozial und ungerecht.Lieber Herr Poß, ich stimme mit Ihnen überein: Auchdie Krankenschwestern müssen zu den Gewinnerinnendieser Reform zählen.
Aber sie zählen eben nicht dazu, weil Sie die Arbeitneh-mer letztlich ganz außen vor lassen.
Die Besteuerung der Sonntags- und Nachtzuschläge spieltda überhaupt keine Rolle. Ich komme gleich noch daraufzu sprechen. Der Grundansatz ist falsch.Ich sage Ihnen noch etwas zum Systemwechsel. Sietun ja so, als wäre das Ganze etwas Neues gewesen undals wäre es eine Alleinveranstaltung unseres Fraktions-vorsitzenden.
Wissen Sie, es ist nicht unser Problem, dass wir einenFraktionsvorsitzenden haben, der von der Steuerpolitiketwas versteht. Das ist Ihr Problem.
Wir haben von Anfang an auf die Konsequenzen dieserSystemumstellung – sie ist falsch – hingewiesen, nämlichals da sind: erstens die Bevorzugung der Unternehmenund Benachteiligung der Unternehmer – es ist schon be-zeichnend, dass man überhaupt zwischen Unternehmenund Unternehmer trennt –; zweitens die Bevorzugung derKapitalgesellschaften gegenüber den Personenunterneh-men und den Arbeitnehmern; drittens die Bevorzugungder einbehaltenen Gewinne gegenüber den ausgeschütte-ten Gewinnen und viertens, nicht zu vernachlässigen, dieBenachteiligung der Kleinaktionäre durch die Umstellungdes Systems.
Das sind nur die wichtigsten Konsequenzen.Wir haben von Anfang an deutlich gemacht, dass un-sere Alternative dagegen die Beibehaltung des bewährtenAnrechnungssystems und die Senkung aller Steuersätzesowohl im Körperschaftsteuerbereich als auch im Ein-kommensteuerbereich beinhaltet. Wir haben von Anfangan darauf hingewiesen, dass die Gerechtigkeit und dieGleichmäßigkeit der Besteuerung sowie die gerechte Ent-lastung aller Steuerpflichtigen Ziel dieser Reform seinmüssen.
Sie heben immer auf die 25 Prozent bei den Kapitalge-sellschaften und die 43 Prozent Spitzensteuersatz bei denPersonenunternehmen ab. Ich will darauf hinweisen, dasswir, bezogen auf das Jahr 2001, nicht über 43 Prozent re-den. Vielmehr reden wir bei dem Vorschlag der Regierungim Jahr 2001 über folgende Situation: Körperschaftsteu-ersatz 25 Prozent, Spitzensteuersatz bei den Personenun-ternehmen und den Arbeitnehmern nicht 43 Prozent, son-dern 48,5 Prozent. Das ist der treffende Vergleich.Wenn Sie etwa einen Bäckermeister und seine Familiemit einer Spitzenbelastung von 48,5 Prozent belasten undeine Backfabrik als GmbH mit einer Spitzenbelastungvon 25 Prozent, dann stimmt da irgendetwas nicht.
Ich weiß sehr wohl zwischen dem Grenzsteuersatz unddem Durchschnittsteuersatz zu unterscheiden; das könnenSie mir abnehmen. Sie müssen dabei berücksichtigen,dass beim Grenzsteuersatz, bei dieser 48,5-prozentigenBelastung, jede zusätzlich verdiente Mark ab einer ge-wissen Größenordnung mit diesem hohen Grenzsteuer-satz zu versteuern ist.
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Gerda Hasselfeldt10777
Sie müssen bei diesem Beispiel des Bäckermeistersberücksichtigen, dass er von seinem gesamten Gewinnauch noch seine Familie ernähren muss, den Lebensun-terhalt zu bestreiten hat und nicht alles im Unternehmenbelassen werden kann.
Sie behaupten, die Systemumstellung sei notwendigwegen der so genannten Europatauglichkeit. Jetzt will ichIhnen einmal sagen, was Sie dabei ändern.
Für den ausländischen Investor, der an einem inländi-schen Unternehmen beteiligt ist, ändert sich überhauptnichts.
Da ist nämlich nur ausschlaggebend, wie hoch der Aus-schüttungssatz ist. Er kann weder in dem einen noch indem anderen Verfahren etwas anrechnen. Für den inländi-schen Investor, für den deutschen Bürger, der an einemausländischen Unternehmen beteiligt ist, ist das neue Ver-fahren in der Tat besser. Für den deutschen Bürger, dereine inländische Beteiligung hat, ist das neue Verfahrenbesser, wenn er in der oberen Einkommensklasse ist, undschlechter, wenn er in der unteren Einkommensklasse ist.
Wenn man dies vergleicht, muss man sich die Frage stel-len: Wo bleibt denn da die Gerechtigkeit,
wo bleibt das von Ihnen verfolgte Ziel, die Arbeitsplätzeim Inland in den Vordergrund der Bemühungen zu stel-len?Ich denke, dass eine Steuerreform folgende Ziele ver-folgen muss: Sie muss erstens eine gerechte Besteuerunggewährleisten und zweitens zur Schaffung von Arbeits-plätzen im Inland beitragen. Genau diese beiden Zieleverfolgen Sie mit Ihren Vorschlägen nicht.
Was ist an Ihrem Entwurf zu verbessern? Sie haben ei-nen Kompromissvorschlag vorgelegt, der eine Tarifände-rung bei der Einkommensteuer ab dem Jahr 2005 vorsieht.Wenn wir von einer Senkung des Spitzensteuersatzes auf43 Prozent reden, reden wir vom Jahr 2005 – das ist vielzu spät! Für die Jahre 2001 bis 2004 planen Sie Ver-schlechterungen. Wenn Sie die Tabellen vergleichen, wirddeutlich, dass die Steuerpflichtigen in den Jahren 2001 bis2004 gegenüber dem Gesetzentwurf, den Sie im Bundes-tag beschlossen haben, noch weniger entlastet werden,nämlich um 15 Milliarden DM weniger in diesen Jahren.
Das Optionsmodell ist nun vom Tisch. Sie sagen nun:Das wollt ihr doch immer. – Wir haben das Optionsmo-dell – zu Recht – immer kritisiert. Aber wir haben es nieisoliert kritisiert, sondern immer gesagt: Das Modell mussweg, weil es eine Krücke ist, um die Ungleichbehandlungzwischen Kapitalgesellschaften und Personenunterneh-men zu umschiffen. Sie müssen die Wurzel des Übelsbekämpfen. Die Wurzel des Übels ist eben diese Un-gleichbehandlung und nicht allein das Optionsmodell.
Sie haben eine zweite Änderung vorgesehen, nämlichdie Änderung bei der Gewerbesteueranrechnung. Dasist keine Verbesserung, sondern eine Verschlechterung fürden Mittelstand. Diese trifft den Mittelstand nicht erst abdem Jahr 2005, sondern sie greift bereits im Jahre 2001.
Sie haben somit die leichten Verbesserungen im Tarif, dieich durchaus anerkenne, erst ab dem Jahr 2005 vorgese-hen, während Sie alles Negative in Ihrem Kompromiss-vorschlag bereits für die Jahre 2001 bis 2004 zur Anwen-dung bringen wollen. Dass wir einem solchen Vorschlagnicht zustimmen können, sollte ein jeder begreifen, dersich mit dieser Materie beschäftigt.
Sie verweisen weiter darauf, Sie hätten eine Mittel-standskomponente eingeführt. Dabei anerkenne ich aus-drücklich, dass Sie von Ihrem Vorhaben, die Ansparab-schreibungen und die Sonderabschreibungen nicht mehrzuzulassen, abgegangen sind und auch beim Mitunter-nehmererlass etwas korrigieren wollen. Ich muss Ihnenaber vorhalten, dass Sie nicht vollständig korrigieren. Fürden Mittelstand besteht nach wie vor das ungelöste Pro-blem – das Sie mit dem Steuerentlastungsgesetz erst ge-schaffen haben –,wie mit den Veräußerungsgewinnen beiBetriebsaufgabe umgegangen wird. Dieses Problem mussin einem Reformkonzept mit gelöst werden.
Wir wollen eine Reform, aber wir wollen eine gute Re-form. Wir wollen eine Reform, die wir alle miteinanderverantworten können. Wir wollen eine Reform, die alleSteuerpflichtigen entlastet und gerecht ist. Wir wolleneine Reform, die zum 1. Januar 2001 in Kraft tritt. Darummüssen wir in den nächsten Wochen ernsthaft ringen, –nicht so oberflächlich, wie Sie es gemacht haben. Es gehtnicht darum, Zeitdruck zu erzeugen, sondern darum, eineinhaltlich saubere und gute Reform für die Bürger diesesLandes zu machen.
Das Wort hatjetzt die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grü-nen, Kerstin Müller.Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrMerz, das, was Sie in den vergangenen Tagen und auch imVermittlungsausschuss gemacht haben, kann man meines
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Gerda Hasselfeldt10778
Erachtens nicht mehr mit Anfangsfehlern erklären. Siewissen doch selbst, dass Sie mit dem störrischen Behar-ren, die Steuerreform wegen des Verfahrens der Be-steuerung von Dividenden, der so genannten System-frage, zu blockieren, keinerlei Rückhalt in der Bevölke-rung haben. Die Bürgerinnen und Bürger in diesem Landeverstehen nicht, worum es geht. Fragen Sie einmal dieMenschen auf der Straße, was sich hinter dem BegriffSystemfrage verbirgt.
Diejenigen, die aus ihrer täglichen Praxis wissen,worum es geht, raten Ihnen dringend, Ihren Widerstandaufzugeben. Zuletzt hat Sie gestern der Bundesverbanddeutscher Banken nachdrücklich aufgefordert, unseremVorschlag zuzustimmen, meine Damen und Herren.
– Soll ich es zitieren?
– Hören Sie einmal zu! Vielleicht können Sie sich dannwieder ein bisschen beruhigen.Sie haben die so genannte Systemfrage nur deshalb inden Mittelpunkt gestellt, weil Sie fürchten, dass Sie, so-bald es um die inhaltliche Debatte geht, Ihr eigenes Lager,die B-Länder, die CDU- und CSU-geführten Länder, nichtmehr zusammenhalten können. Die Länder brauchen eineSteuerreform, die die Länderhaushalte verkraften können.
Die Vorschläge, die Sie gemacht haben, sind nicht fi-nanzierbar. Deshalb haben Sie jede konstruktive Debatteüber wichtige Einzelfragen der Steuerreform konsequenttorpediert. Erst haben Sie sich geweigert, überhaupt eineArbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses einzurichten,dann haben wir von Ihnen in fünf Sitzungen des Vermitt-lungsausschusses nicht einen einzigen inhaltlichen Kom-promissvorschlag gehört. Bis heute sind Sie nicht in derLage, zu den zentralen Fragen der im Vermittlungsaus-schuss vorgelegten Steuerreform Stellung zu beziehen.Auch heute hat Frau Hasselfeldt hierzu nichts gesagt. Wiehoch soll nach Auffassung der Union die Gesamtentlas-tung von Bürgern und Wirtschaft ausfallen? WelchenSpitzensteuersatz, der auch finanzierbar ist, wollen Sie?Mit welchen konkreten Maßnahmen wollen Sie den Mit-telstand tatsächlich entlasten? Vor allen Dingen: Wie wol-len Sie sicherstellen, dass die Reform von Bund, Ländernund Kommunen auch dauerhaft finanzierbar ist? Auf alldiese Fragen sind Sie bis heute die Antwort schuldig ge-blieben.Herr Stoiber und Herr Teufel wollen Geld verschen-ken, das die Ministerpräsidenten Müller, Biedenkopf undVogel nicht haben. Die Landesregierungen von Saarland,Sachsen und Thüringen hoffen doch insgeheim, dass sichdie Bundesregierung mit ihrem Konzept durchsetzt.
Und noch mehr gilt das für die Länder Brandenburg, Bre-men und Berlin. In deren Haushalten ist doch jetzt schon„Land unter“ angesagt. Wie sollen diese Länder weitereSteuerausfälle finanzieren, meine Damen und Herren?
Inzwischen merkt es doch auch der Letzte: Sie ver-stecken sich hinter der Frage des Halbeinkünfteverfah-rens, um zu vertuschen, dass es bei Ihnen drunter und drü-ber geht und dass Sie in Ihrem Lager bei diesen Fragenkeine Einigung finden.
Wir dagegen haben gemeinsam mit den SPD-geführtenLändern einen Kompromissvorschlag vorgelegt. Dabeisind wir Ihnen, meine Damen und Herren von der Oppo-sition, weit entgegengekommen. Rot-Grün macht denMenschen und der Wirtschaft ein hervorragendes Ange-bot. Wir sorgen dafür, dass alle Steuerzahler nachhaltigentlastet werden. Insgesamt bringt die Steuerreform biszum Jahre 2005 eine Entlastung von rund 56 MilliardenDM. Davon kommen drei Viertel den Privathaushaltenund den kleinen und mittleren Unternehmen zugute. Wirsenken schrittweise den Eingangsteuersatz, der 1998 nochbei 25,9 Prozent gelegen hat, in den nächsten vier Jahrenauf 15 Prozent. Zusätzlich erhöhen wir den Grundfreibe-trag. Wir senken den Spitzensteuersatz von 53 Prozent in1998 in vier Jahren auf 43 Prozent und wir erhöhen dieEinkommensgrenze, ab der dieser Satz gezahlt werdenmuss. Das ist die größte Steuerentlastung in der Ge-schichte der Bundesrepublik. Diese Steuerentlastung fürdie Menschen und die Wirtschaft wollen Sie im Momentverhindern. Das bringt Schaden für die ökonomischeEntwicklung in der Bundesrepublik.
Wir entlasten auch und gerade kleine und mittelständi-sche Unternehmen. Diese profitieren von der Reform,nicht nur im Wege der Senkung der Steuersätze. Sie wer-den zusätzlich entlastet, weil sie die Gewerbesteuer zurHälfte auf die Einkommensteuer anrechnen können undweil die Anspar- und Sonderabschreibungen nach demneuen Vorschlag doch beibehalten werden. Dafür habenwir Grüne uns von Anfang an besonders stark gemacht.Das ist für den Mittelstand und für eigenkapitalschwacheUnternehmen in den neuen Ländern ganz besonders wich-tig.
Genau das beschließen wir heute. Damit schaffen wirdie Voraussetzung für mehr Investitionen, für mehrArbeitsplätze und für mehr Ausbildungsplätze gerade immittelständischen Bereich. Dies ist auch der Motor fürjede weitere wirtschaftliche Entwicklung. Das Land war-tet auf diese Reform. Sie ist sozial gerecht und fördert dieKaufkraft der Haushalte und die Investitionskraft der Un-ternehmen. Jede weitere Verzögerung hinsichtlich ihrerUmsetzung schadet dem Standort Deutschland.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Kerstin Müller
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Unternehmen und Verwaltungen brauchen jetzt Planungs-sicherheit. Wenn Sie diese Reform weiterhin blockieren –das wollen Sie ja tun –, dann machen Sie Politik gegen dieArbeitslosen und bremsen den weiteren wirtschaftlichenAufschwung.
Ich komme gerne auf Ihr derzeitiges Lieblingsthemazurück. Sie verkennen mit Ihrer Kritik am Halbeinkünf-teverfahren, dass nur das rot-grüne Steuerkonzept eineSenkung des Körperschaftsteuersatzes auf einheitlich25 Prozent ermöglicht. Unter Ihrer Verantwortung hatteDeutschland die höchsten Unternehmensteuersätze welt-weit.
Durch unseren Vorschlag erreichen wir – ohne Einbezie-hung der Gewerbesteuer – mit einem Schlag Platz eins iminternationalen Vergleich. Bei Berücksichtigung der Ge-werbesteuer liegen wir noch immer im guten Mittelfeld.Noch eines: Hören Sie endlich auf, das Märchen vonder Ungleichmäßigkeit der Besteuerung zu erzählen! Siewissen doch genau, dass es unredlich ist, den reinen Kör-perschaftsteuersatz ausschließlich mit dem Spitzensteu-ersatz der Einkommensteuer zu vergleichen. Sie unter-schlagen bei diesem Vergleich regelmäßig, dass auch dieKapitalgesellschaften Gewerbesteuer zahlen. Mit Gewer-besteuer zahlen diese tatsächlich nicht 25 Prozent, son-dern im Schnitt nur rund 38 Prozent.Dagegen erreicht nach unserem Konzept fast keinPersonenunternehmen auch nur annähernd einen Steuer-satz von 38 Prozent, geschweige denn den Spitzensteuer-satz. Im Gegenteil: Über 95 Prozent der Personen-unternehmen liegen weit darunter. Fast 80 Prozent derPersonenunternehmen haben einen Gewinn vor Steuernvon unter 100 000 DM pro Jahr. Die übergroße Mehrheitdieser Unternehmen zahlt ab 2005 weniger als 20 ProzentSteuern, inklusive der Gewerbesteuer. Während Ihrer Re-gierungszeit, meine Damen und Herren von der Opposi-tion, mussten die Personenunternehmen noch über25 Prozent an Steuern verkraften. Das ist die Wahrheitüber die Steuersätze in diesem Land.
Ihre Behauptung, wir würden Personenunternehmen mitunserem Konzept benachteiligen, ist eine freie ErfindungIhrer Buchhaltertheorie, Herr Merz, und sonst gar nichts.
Unser Konzept ist gerecht, praktikabel und überzeu-gend. Nicht umsonst fordern Wirtschaft, Industrie undBanken seit Wochen, dass diese Steuerreform nicht ver-zögert werden und erst recht nicht scheitern darf. Soschrieb zum Beispiel Herr Walter, Chefökonom der Deut-schen Bank, am letzten Donnerstag in der „Welt“ – dasmöchte ich Ihnen wirklich nicht vorenthalten –:Das Steuersenkungsgesetz richtet sich eindeutig anZielsetzungen aus, die zur langfristigen Sicherungder Wachstumsperspektive in Deutschland ohne Al-ternative sind.Weiter schreibt er:Wenn die Aufbruchstimmung in Deutschland imSommerloch des Jahres 2000 dadurch verschwände,dass die Union den Reformwillen der Bundesregie-rung bei Steuern und Rente mit einer reinen, aber de-struktiv wirkenden Prinzipiendebatte bricht, statt ihnmit möglichen Verbesserungen zu stärken, dann hilftdas weder unserem Land noch der CDU/CSU. Frei-lich wird dann dieses Land zur internationalen Lach-nummer.Das ist die Wahrheit. Dem braucht man nichts hinzuzufü-gen.
Frau Kol-legin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des KollegenMichelbach?Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Nein, heute nicht.Ausgerechnet das, wovor Dr. Norbert Walter warnt,haben Friedrich Merz und Angela Merkel mit den uni-onsgeführten Ländern verabredet, gegen jede Vernunftund gegen den erklärten Willen der deutschen Wirtschaft.Sie haben sich und die Union damit völlig isoliert.Auch das Ausland schaut mit Argusaugen auf uns;denn wenn wir zulassen, dass Sie sich durchsetzen, dannerhalten ausländische Investoren das Signal, dass siekünftig einen höheren Steuersatz zahlen müssten. Daswäre eine schlechte Nachricht, die Sie, meine Damen undHerren von der Opposition, zu verantworten hätten. Wir,Grüne und SPD, wollen dagegen ein klares Zeichen set-zen. Wir wollen einen einheitlichen Körperschaftsteuer-satz von 25 Prozent. Wir wollen ausländisches Kapital fürDeutschland gewinnen. Wir wollen Arbeitsplätze undAusbildungsplätze schaffen.Während Sie sich weiter um die Lehrmeinungen voneinigen Professoren kümmern, sorgen wir für die Wett-bewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Wir habeneinen mutigen Kompromissvorschlag vorgelegt, einenKompromiss, durch den alle Bürger und die Wirtschaftspürbar entlastet werden, eine Steuerreform, durch die diewirtschaftliche Entwicklung gefördert wird und durch dieArbeitsplätze geschaffen werden.An dieser Stelle möchte ich auch sagen: Wir sind dabeian die Grenze dessen gegangen, was die öffentlichenHaushalte von Bund, Ländern und Kommunen verkraftenkönnen. Wir wollen weiterhin eine seriöse Finanzpolitikbetreiben. Wir wirtschaften nicht auf Kosten künftigerGenerationen, wie Sie es über Jahrzehnte gemacht haben.Für uns gilt: Steuergerechtigkeit ist nur im Paket mit Ge-nerationengerechtigkeit zu haben. Mit uns wird es keineSteuerreform auf Pump geben. Das ist gegenüber denkünftigen Generationen nicht zu verantworten.
Aber, meine Damen und Herren, da der Appell an dieVernunft hier im Bundestag bei Ihnen ins Leere zu gehen
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Kerstin Müller
10780
scheint, lautet mein Appell an die Ministerpräsidentenvon CDU und CSU: Wer jetzt blockiert, der zahlt spätermöglicherweise die Zeche. Sie sollten den Interessen Ih-rer Länder folgen und sich nicht zum Büttel von CDU-Präsidiumsbeschlüssen machen lassen. Das liegt nämlichnicht im Interesse Ihrer Länder. Ich kann Sie nur auffor-dern, dem Gesetzentwurf am nächsten Freitag im Bun-desrat zuzustimmen. Die Regierungsfraktionen haben inden vergangenen Wochen unzählige Kompromissange-bote gemacht. Wir sind der Opposition weit entgegenge-kommen. Wenn diese Steuerreform jetzt noch scheitert,dann tragen Sie die Verantwortung dafür. Kommen Sieendlich zur Vernunft und geben Sie Ihren Widerstand auf!Danke schön.
Jetzt spricht der
Abgeordnete Carl-Ludwig Thiele.
Sehr geehrte Frau Prä-sidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kolle-gen! Warum schicken die Grünen eigentlich keinensteuer- und finanzpolitischen Sachverstand in den Ver-mittlungsausschuss?
Warum haben die Grünen in der letzten Wahlperiode dieBlockadepolitik von Oskar Lafontaine unterstützt?Warum haben sie nicht konstruktiv dazu beigetragen, dasses schon in der letzten Wahlperiode zu einer Steuerreformgekommen ist?
Die Grünen haben in der letzten Legislaturperiode gegeneine Nettoentlastungslüge polemisiert. Das zeigt ganzdeutlich: Die Grünen wollen mehr Steuern und mehrStaat. Wir von der F.D.P. wollen hingegen weniger Steu-ern und weniger Staat.
Die F.D.P. bedauert, dass das Vermittlungsausschuss-verfahren zur Steuerreform gescheitert ist. Niemand istheute Gewinner; die Bürger und die Steuerzahler sindVerlierer. Die Bürger erwarten von der Politik nicht nurLösungsvorschläge, sondern auch Lösungen. Die F.D.P.hat schon zu Beginn der vergangenen Wahlperiode alserste Partei des Deutschen Bundestages eine Steuerreformmit einem Eingangsteuersatz von 15 Prozent und mit ei-nem Spitzensteuersatz von 35 Prozent, mit einer deutli-chen Entlastung der Bürger und der Unternehmen in un-serem Lande, vorgelegt. Diese Reform wurde vom ge-samten Sachverstand – auch vom Steuersystem her – alspositiv bewertet.
Diese Reform ist von Rot-Grün blockiert worden. Daseinzig Positive, das wir einräumen können, ist, dass Rot-Grün inzwischen erkennt, dass wir auch in einem Wettbe-werb der Steuersysteme stehen und dass die Steuersätzegesenkt werden müssen.In dem Gesetzgebungsverfahren für diese Steuerre-form hat die F.D.P. immer erklärt: Die Gleichmäßigkeitder Besteuerung ist für uns die zentrale Frage; es darfkeine Benachteiligung des Mittelstandes, der Selbststän-digen, der Handwerker und auch der Arbeitnehmer in un-serem Land gegenüber den Kapitalgesellschaften geben.
Das ist die Kernforderung der F.D.P., von der wir nicht ab-rücken werden. Die Bürger erwarten von der Politik undden Politikern Glaubwürdigkeit. Wenn wir diese verspie-len, dann tragen wir selbst zur Parteienverdrossenheit bei.
Neben den unterschiedlichen Runden, die der HerrBundeskanzler nach Gutsherrenart zur Vorbereitung vonLösungsvorschlägen einberufen hat, gibt es ein überpar-teiliches Gremium, und zwar den Vermittlungsausschuss.Er ist in Art. 77 des Grundgesetzes konstituiert. Im Ver-mittlungsausschuss, wo eine Lösung gefunden werdensoll, ist nicht irgendeine Parteiräson, sondern das Verant-wortungsprinzip maßgeblich. Deshalb erwarten wir, dassspätestens in diesem Gremium die Bedenken und die Kri-tik der Opposition und der Länder tatsächlich Gehör fin-den, was vorher überhaupt nicht der Fall war.
Ich war schon erstaunt darüber, Herr Finanzminister,wie Sie diese Bedenken in den Beratungen des Vermitt-lungsausschusses als unbegründet und überhaupt nichtsachgerecht zur Seite gewischt haben. Herr Finanzminis-ter Eichel, ich sage Ihnen das hier sehr persönlich: Es warIhr Fehler, diese Kritik nicht aufzunehmen. Es war IhrFehler, diese Kritik als unwichtig und falsch einzu-schätzen. Es war Ihr Fehler, eine Diskussion darüber ab-zulehnen.
Deshalb haben Sie selbst, Herr Finanzminister, das Zu-standekommen dieser Steuerreform blockiert.Schon während des Gesetzgebungsverfahrens hat Rot-Grün gezeigt, dass es an einer Einigung mit der Opposi-tion überhaupt nicht interessiert war:
Erstens. Die Zahl der Sachverständigen wurde will-kürlich entsprechend rot-grüner Vorstellung reduziert, umunliebsame Kritiker auszuschalten.
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Kerstin Müller
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78 Professoren haben sich hiergegen verwahrt. Ich zitiereaus ihrer Erklärung:Nachdem zur Anhörung vor dem FinanzausschussFachvertreter der Betriebswirtschaftlichen Steuer-lehre wohlweislich nicht mehr eingeladen wurden,möchten wir auf diesem Wege versuchen, uns Gehörzu verschaffen.Es ist doch ein Armutszeugnis für dieses Parlament, dassim Vorfeld Kritiker ausgeschaltet werden.
Zweitens. Der erste Termin des Vermittlungsaus-schussverfahrens wurde mit Hilfe Ihrer Stimmenmehrheitso gelegt, dass die Vertreter der F.D.P. nicht daran teil-nehmen konnten.
Das hat es überhaupt noch nicht gegeben. Normalerweisewird auf Bundesparteitage Rücksicht genommen.Drittens. Die Tagung des Vermittlungsausschusses amletzten Freitag wurde parallel zur Debatte über zehn JahreWirtschafts- und Währungsunion in unserem Landedurchgeführt. Als wir im Vermittlungsausschuss saßen,hat Ihr Sprecher vor der Tür Papiere verteilt und vor derPresse erläutert, die wir im Vermittlungsausschuss nochnicht einmal gesehen hatten.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wer im Ver-fahren bei der Behandlung berechtigter Interessen der Op-position zu erkennen gibt, dass ihm diese schnurzegalsind, wer sich mit seiner Verfahrensmehrheit rücksichts-los über die Opposition hinwegsetzt,
wer ein unechtes Vermittlungsausschussergebnis vorlegt,zeigt deutlich, dass ihm an einem Ergebnis in der Sachegar nicht gelegen ist.
Sie alle wissen doch selbst, dass das mutwillige Her-beiführen eines unechten Vermittlungsausschussergebnis-ses ein echtes Vermittlungsausschussergebnis unmöglichmacht. Das war immer so und wird auch bei diesem un-echten Vermittlungsausschussergebnis nicht anders sein.
Noch einmal zur Frage, warum es keine Bewegung ge-geben hat: Die Hauptkritik der F.D.P. bleibt weiterhin,dass die Gleichmäßigkeit der Besteuerung von Kapital-gesellschaften auf der einen Seite und von Personen,Personengesellschaften, dem Mittelstand und den Arbeit-nehmern auf der anderen Seite nicht gegeben ist. Der Mit-telstand und die Arbeitnehmer werden bis zum Jahr 2004deutlich höher belastet als die Kapitalgesellschaften.
Auch nach dem Jahre 2005 halten Sie diesen Systembruchweiter aufrecht, denn ein Spitzensteuersatz von 43 Pro-zent plus Solidarzuschlag steht dann einem Körper-schaftsteuersatz von 25 Prozent gegenüber. Das ist nichthinnehmbar.
Hier werden Sie sich noch erheblich bewegen müssen.Diese Spreizung der Steuersätze widerspricht Art. 3 desGrundgesetzes und dürfte deshalb verfassungswidrigsein.Dieser Verstoß gegen Art. 3 des Grundgesetzes wirdjetzt noch deutlicher, nachdem Sie das Optionsmodell,das nie funktioniert hätte, gestrichen haben. Damit ist dieHoffnung vieler Personengesellschaften, sie könnten wieeine Kapitalgesellschaft steuerlich belastet werden, end-gültig geschwunden. Dieses Feigenblatt ist weg. Die Ver-fassungswidrigkeit wird offensichtlich.
Das vorgelegte, geänderte Konzept reicht nach unsererMeinung bei weitem nicht aus:Erstens. Die Gleichmäßigkeit der Besteuerung ist nichtgewahrt. Die ideologische Unterscheidung, Unternehmenmüssten entlastet werden, Unternehmer hingegen nicht,bleibt bestehen. Das ist eine krasse Benachteiligung desMittelstandes, der Bürger und der Arbeitnehmer in unse-rem Lande.
Zweitens. Bei den Veräußerungsgewinnen wird derMittelstand gegenüber den Großunternehmen weiterdeutlich benachteiligt. Die rot-grüne Koalition hat zu Be-ginn dieser Wahlperiode durch die Abschaffung des hal-ben Steuersatzes den deutschen Mittelstand um ein Vier-tel seines Vermögens enteignet.
Das ist die Wahrheit. Auf der anderen Seite sollen aberVeräußerungsgewinne für Kapitalgesellschaften komplettsteuerfrei gestellt werden. Das kann nicht der richtigeWeg sein. Das ist mittelstandsfeindlich und reine Willkür.Drittens. Der Kleinaktionär und Kleinanleger wird ge-genüber dem Großaktionär drastisch benachteiligt.Viertens. Die Verschlechterung der Abschreibungsbe-dingungen und der Abschreibungstabellen wirkt wie eineDesinvestitionsteuer und wird dafür sorgen, dass der An-reiz für Investitionen, die wir brauchen, um mehr Arbeits-plätze und Beschäftigung in unserem Land zu erreichen,nicht zum Tragen kommen kann.Fünftens. Das angebliche Entlastungsvolumen wirdmit diesem Kompromissvorschlag in den Jahren 2001 bis2004 um 15 Milliarden DM gekürzt. Auf der anderenSeite – die Steuerreform verfolgt eine Zeitschiene von2001 bis 2005 – werden die Steuereinnahmen des Staates
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Carl-Ludwig Thiele10782
bzw. die Steuerbelastung der Bürger und der Wirtschaftum mehr als 200 Milliarden DM steigen.
Davon sollen ihnen 45 Milliarden DM als Entlastungzurückgegeben werden.
Gleichzeitig wird die Ökosteuer die Bürger mit zusätzlich35 Milliarden DM belasten. Da wird jeder Bürger fragen:Wo bleibt die Entlastung? – Sie ist wahrhaftig nicht zu fin-den.
Aus Sicht der F.D.P. müssen die Bürger und der Mit-telstand deutlich stärker entlastet werden als bisher ge-plant. Der Spitzensteuersatz muss deutlich unter 40 Pro-zent liegen. Das Sinken des Spitzensteuersatzes hatzwangsläufig eine Senkung des Tarifes auch für diejeni-gen Steuerpflichtigen zur Folge, die den Spitzensteuersatznicht zu bezahlen haben. Das ist genau das Ziel, das wiranstreben.
Es ist auch unseriös, jeden Tag neue Zahlenspielereienauf den Tisch zu legen. Deshalb hat die F.D.P. in den ver-gangenen Wochen nicht täglich neue Modelle auf denTisch gelegt. Unser Modell ist bekannt und hat dieSachverständigen und die Wirtschaft überzeugt. Eskönnte noch heute übernommen werden, wenn Sie einbisschen Mut hätten.
Das Steuersystem, das wir brauchen, benötigt niedrigeSteuersätze, klare Regelungen und die Beachtung steuer-licher Grundsätze. Im Steuerrecht muss es nach Auffas-sung der F.D.P. bei einer Besteuerung entsprechend derLeistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen bleiben. Deshalbdürfen Unternehmen nicht anders als Unternehmer belas-tet werden. Wie mein Kollege Solms in einer anderen De-batte in diesem Haus zu dem Thema erklärte, war die Aus-sage des Bundeskanzlers die wirtschaftspolitisch dümms-te Aussage, die ein Bundeskanzler je gemacht hat.
Kapitalgesellschaften dürfen nicht anders behandeltwerden als Handwerker, Selbstständige und Arbeitneh-mer. Ich appelliere daher – damit komme ich zum Schluss,Frau Präsidentin –
an die rot-grüne Koalition: Akzeptieren Sie endlich diesesteuerlichen Grundsätze! Bürger erwarten vernünftigeLösungen und nicht nur gute Absichten. Die F.D.P. wirdsich einer systematisch sauberen und vernünftigen Steu-erreform nach einem erneuten Vermittlungsausschussver-fahren nicht verschließen.Herzlichen Dank.
Zu einer Kurz-
intervention erhält jetzt der Kollege Oswald Metzger das
Wort.
Meine Damen und Herren! Ich finde es schon bemer-kenswert, Herr Kollege Thiele – jetzt zunächst die Pole-mik, weil Sie in Ihrer Rede mit diesem Punkt eingestiegensind –, dass jemand wie Sie heute solche Töne spuckt, derzur Zeit der alten Regierung Vorsitzender des Finanzaus-schusses war, der Mitglied einer Partei ist, die von 1969bis 1998 fast ohne Unterbrechung die Vorsitzenden desFinanzausschusses gestellt hat, und der in Bezug aufHaushaltskonsolidierung, Steuersenkung und Lohnne-benkostensenkung in diesen 29 Jahren fast immer das Ge-genteil von dem zu verantworten hatte, was Sie in IhrenProgrammen geschrieben und öffentlich verkündet ha-ben.
Ich bedauere, dass manche Kollegen, die sehr genauwissen, dass zu einer pragmatischen Position auch die Be-achtung der finanziellen Machbarkeit und die Durchsetz-barkeit in Verhandlungen mit den Ländern im Rahmendes Vermittlungsausschusses gehört, so tun, als hätten siekeine Kenntnis von der Finanzlage der Länder, in denenIhre eigenen Parteifreunde, Herr Thiele, mit regieren – inBaden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen –, undwüssten nicht, dass sie dort sehr viel kleinere Brötchenbacken müssen.Nicht umsonst haben die F.D.P. und die Union in denletzten zwei Wochen im Vermittlungsausschuss überhauptkeine Vorschläge gemacht. Sie führen lediglich zumSchein eine Diskussion über das Halbeinkünfteverfahren,obwohl inzwischen feststeht, dass sich Deutschland mitder von Ihnen gewollten Rückkehr zum Vollanrech-nungsverfahren international isolieren würde. Wenn wirzum Vollanrechnungsverfahren zurückkehren würden,meine Damen und Herren, würde gerade angesichts derInternationalisierung der Wirtschaft im deutschen Steuer-recht ein Konzept festgezurrt, das nicht mehr wettbe-werbsfähig wäre.
Deshalb entledigen Sie sie doch bitte in der Debatte Ihrerideologischen Verblendung und kehren Sie auf die Sach-ebene zurück! Wir alle wollen Planungssicherheit für un-sere Wirtschaft.Kollege Merz, wenn unser FraktionsvorsitzenderRezzo Schlauch Sie heute Morgen als „Oskar Merz“ beti-telte, so geschah das doch nicht ohne Grund. Sie versu-chen ständig eine Blockadeposition herbeizureden – unddas zu einem Zeitpunkt, da alle Fraktionen in diesem Par-lament die Steuersätze für die Bürgerinnen und Bürgerwirklich senken wollen. Lassen Sie ab von Ihrer Blo-ckade!
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Carl-Ludwig Thiele10783
In neun Jahren, von denen Sie sieben Jahre lang Re-gierungsverantwortung getragen haben, wurde Deut-schland hinsichtlich des ökonomischen WachstumsSchlusslicht in Europa. Gott sei Dank rücken wir seit Maiwieder an die Spitzenpositionen heran. Wenn wir aberPlanungssicherheit für unsere Wirtschaft wollen, brau-chen wir das Signal einer Steuerreform und keine Hänge-partie über den Sommer. Anderenfalls sind Sie dafür ver-antwortlich, wenn die nächsten Frühindikatoren im „Han-delsblatt“ im Gegensatz zur gestrigen Veröffentlichungeinen Knick nach unten bekommen und die Aufbruch-stimmung, die doch allenthalben spürbar ist, abbricht.
Wenn Sie glauben, mit dieser Strategie Erfolg zu habenund damit auch noch die Rentenreform in diesem Landverzögern zu können, dann wird die Union sich selber,aber vor allem unserem Land einen Bärendienst erweisen.Vielen Dank.
Das Wort zur
Antwort hat Herr Kollege Thiele.
Sehr geehrte Frau Prä-
sidentin! Ich vermute, ich bekomme eine ähnliche Rede-
zeit wie der Kollege Metzger.
Erstens. Herr Kollege Metzger, ich bin in den Debatten
zu diesem Thema immer wieder darüber erstaunt, dass die
letzten 16 Jahre immer als 16 Jahre bezeichnet werden
und nicht als zweimal acht Jahre.
Es waren zweimal acht Jahre, davon einmal acht Jahre bis
zur deutschen Einheit. In dieser Zeit wurde die Staats-
quote von der alten Koalition um 2,5 Prozent gesenkt.
Im Jahre 1990 hätten wir keinerlei Neuverschuldung ge-
habt, wenn nicht die deutsche Einheit gekommen wäre,
die wir – im Gegensatz zu vielen anderen in diesem
Hause – gewollt haben und über die wir nach wie vor
glücklich sind.
Es ist zwar richtig, dass zur Finanzierung der Kosten der
deutschen Einheit bzw. der Sanierung der sozialistisch
heruntergewirtschafteten DDR von uns Steuern und Sozi-
alabgaben sowie die Neuverschuldung erhöht wurden.
Aber ich sage Ihnen: Das war absolut alternativlos.
Und wenn Herr Eichel momentan beklagt, dass die
Länder den Bund allein lassen, so war das beim Solidar-
pakt 1993 genauso der Fall. Rudi Walther von der SPD hat
als Vorsitzender des Haushaltsausschusses immer erklärt,
die Länder hätten sich an dieser Stelle ihrer Mitverant-
wortung entzogen. Das muss man erst einmal zur Kennt-
nis nehmen.
Seit 1990 haben wir versucht, die Staatsquote wieder
zu senken und eine steuerliche Entlastung der Bürger zu
erreichen. Es wird von Ihnen verschwiegen, dass der Fa-
milienleistungsausgleich in der vergangenen Legislatur-
periode dazu führte, dass das Kindergeld von 70 auf
220 DM am Ende der Legislaturperiode gestiegen ist.
– Das ist Ihre Art der Geschichtsklitterung. Mir ist nicht
bekannt, Herr Poß, dass Sie seinerzeit die Mehrheit in die-
sem Hause gehabt hätten. Das war nicht der Fall. Die
Mehrheit hatte die Koalition der alten Regierung.
Zum zweiten Punkt, dem Anrechnungsverfahren:
Das Anrechnungsverfahren ist 1977 in der sozialliberalen
Koalition mit dem Finanzminister Hans Apel eingeführt
worden. Das war ein Riesensprung in Richtung mehr Ein-
zelfallgerechtigkeit für den einzelnen Bürger, weil sicher-
gestellt wurde – und das wird auch heute noch sicherge-
stellt –, dass jeder Aktionär entsprechend seiner persön-
lichen Leistungsfähigkeit im Einkommensteuerrecht be-
steuert wird. Dass Sie diese Errungenschaft des Steuer-
rechts hier einfach opfern wollen, weil eine EuGH-Ent-
scheidung Sie angeblich dazu verpflichtet, die aber
tatsächlich dazu nichts hergibt, ist mir unbegreiflich.
Da nur der Staatssekretär des Finanzministers diese Auf-
fassung vertritt, erwarte ich vom Finanzminister die
Sprungkraft, bei der bisherigen gesetzlichen Regelung zu
bleiben und von seinen unsinnigen Vorstellungen an die-
ser Stelle Abstand zu nehmen.
Drittens. Wenn Haushalte konsolidiert werden sol-
len – –
Herr Kollege
Thiele, Sie hatten drei Minuten Zeit für Ihre Antwort und
die sind jetzt vorbei.
Dann möchte ich zu-
mindest ausreden.
Liebe Kollegin-
nen und Kollegen, ich habe die Uhr genau im Blick; ich
habe das auch Herrn Ramsauer erklärt. Herr Thiele hat so-
gar sechs Sekunden mehr als drei Minuten geantwortet.
Ich möchte gerne nocheinen letzten Satz sagen, Frau Präsidentin, wenn Sie ge-statten.
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Oswald Metzger10784
Nein, Herr Kol-
lege Thiele. Kurzinterventionen dürfen drei Minuten dau-
ern und nicht länger. Ich muss Sie bitten, wieder Platz zu
nehmen.
Aber ich werde doch
trotzdem einen letzten Satz sagen dürfen, Frau Präsiden-
tin!
Ich möchte Sie
jetzt bitten, sich hinzusetzen.
Der Unterschied zwi-
schen uns und den Grünen ist: Wir wollen die Steuern sen-
ken, die Grünen nicht.
Herr Kollege
Thiele, ich möchte Sie bitten, sich jetzt hinzusetzen!
Das Wort hat nun der Abgeordnete Roland Claus.
Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Vielleicht kann ich ein we-nig zu Ihrer Beruhigung beitragen: Gestern Abend habenwir alle Gerechtigkeit à la Schröder erlebt; vielleicht ha-ben auch Sie das gesehen. Wir haben uns – unsere Frak-tion in besonderem Maße bedrückt, da wir nicht im Ver-mittlungsausschuss vertreten sind – durch den Dschungelder Steuergesetze gequält, während unser Bundeskanzlereine, wie ich finde, lobenswerte Initiative ergriffen hat, in-dem er sich an der Bewerbung um die Austragung derFußball-WM 2006 beteiligt hat.
Wir haben also die harten Bänke der Opposition drückenmüssen, während er die Daumen für diese Bewerbung ge-drückt hat. Ich wollte ihm eigentlich nur noch einen Tippgeben: Hätte der Kanzler den Kollegen Gregor Gysimitgenommen, dann wäre er gestern Abend unter denFußballzwergen nicht der kleinste gewesen.
Der Vermittlungsausschuss legt uns ein Ergebnis vor,das keines ist. Sie nennen es deshalb auch ein „unechtesErgebnis“. Hier läuft genau das ab, was zu erwarten war:Die Koalition erklärt an die Adresse der CDU/CSU, dassdiese schuld sei, dass die Politik der Koalition alternativ-los sei, und die Opposition, vor allem die CDU/CSU, sagt,die Regierung sei daran schuld.Nun muss ich allerdings eingestehen: Der KollegeMerz hat sich wirklich in einem magischen Viereck ver-fangen. Da sind zu viele Dinge zusammengekommen:erstens die nicht ganz wegzuleugnende Verantwortung fürdie frühere Steuerpolitik der CDU/CSU, die in diesemLande natürlich nicht vergessen ist; zweitens das uner-wartete Lob der Industrie für die rot-grüne Regierung –das passt ja nicht so richtig dazu –; drittens die traditio-nelle Kritik an der Regierung, die aus der Opposition not-wendig wäre; viertens etwas, das in diesem Hause wirk-lich überrascht, und zwar die in der CDU/CSU-Fraktionso plötzlich entdeckte Verantwortung für soziale Gerech-tigkeit. Da hat er sich also ein bisschen vermanövriert.
So hat er das Prinzip kennen gelernt, dass man sich in derPolitik die meisten Beulen nicht vom politischen Gegner,sondern in den eigenen Reihen holen kann.
Ich neige ja nicht dazu, die PDS zu überschätzen, wieSie wissen. Aber ich sage einmal ein bisschen salopp: Soein Murks kommt im Vermittlungsausschuss eben dannzustande, wenn Sie die PDS dort nicht mitmachen lassen.
Kompetenzen hinsichtlich knapper Kassen haben wir al-lemal. Ich will aber im Ernst sagen: Die PDS kritisiertnach wie vor und auch an dieser Stelle, dass wir durch un-sere Nichtbeteiligung am Vermittlungsverfahren in unse-ren parlamentarischen Rechten eingeschränkt sind.Warum lehnt die PDS das Gesetz ab?
Erstens. Diese Reform stellt sich bei genauer Analyse alseine arbeitnehmerfeindliche Reform heraus.
Auch wir verkennen natürlich nicht, dass mit der Sen-kung des Eingangssteuersatzes ein Fortschritt erreichtist. Aber im Verhältnis zu den Verbesserungen für Spit-zenverdiener kommen die meisten Arbeitsnehmerinnenund Arbeitnehmer bei dieser Reform sehr schlecht weg.Ich will hier einfach einmal einen Fakt in Erinnerungrufen: Es ist erst zwei Wochen her, dass wir in dieser Re-publik etwas ganz Bemerkenswertes zur Kenntnis neh-men mussten, nämlich dass sich von 1990 bis 1999 dieprivaten Geldvermögen verdoppelt haben. Daher wäre eswirklich möglich gewesen, den Spitzenverdienern einehöhere Solidarität für die Gesellschaft abzuverlangen.
Das, was Sie vorhaben, sind Peanuts für die Malocher undKniefälle vor den Banken und der großen Industrie.So offenbart sich wohl, was wirklich damit gemeintwar, als der Kanzler zu Beginn seiner Amtsperiode sagte,er wolle nicht viel anders, aber vieles besser machen. Mitdieser Steuerreform hat er Dinge angepackt, die anzuge-hen Helmut Kohl sich nie getraut hat. Damit hat er lei-der – das ist unsere Kritik – einen weiteren Schritt auf demWeg in die Ellenbogengesellschaft zurückgelegt.
Ein zweiter Punkt unserer Kritik: Diese Reform ist mit-telstandsfeindlich und widerspricht marktwirtschaftli-chen Prinzipien. Aber auch hier gibt es Fortschritte. Sie
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haben jetzt wieder die Beibehaltung der Anspar-abschreibung vorgesehen. Das hätten Sie leichter habenkönnen.
Die PDS hatte nämlich bekanntlich bei der zweiten unddritten Lesung des Steuergesetzes einen gleich lautendenAntrag eingebracht. Den haben Sie damals abgelehnt.Jetzt sehen Sie doch eine Beibehaltung vor. Dies ist zu be-grüßen.Aber es ist nach wie vor eine Benachteiligung der klei-nen und mittelständischen Unternehmen gegenüber dergroßen Industrie zu verzeichnen. Sie schreiben hiermitauf Dauer eine Ungleichbesteuerung fest – und das zulas-ten der allermeisten Personengesellschaften. Eine Alter-native wäre möglich gewesen. Wir haben Ihnen eine pro-gressive Körperschaftsbesteuerung vorgeschlagen.Ein dritter Punkt unserer Kritik: Dieses Gesetz richtetsich gegen die Länder und Kommunen und widersprichtdem Prinzip des Föderalismus; dies ist immerhin einVerfassungsgrundsatz. Ich weiß, dass diese Kritikselbstverständlich auch aus Bayern kommt – und dies zuRecht; denn das Land Bayern ist nach jetzt vorliegendenSchätzungen, die von Steuerausfällen in Höhe von 14 Pro-zent ausgehen, am härtesten betroffen. Damit wird einVerfassungsgrundsatz ernsthaft angegriffen. Ich fragemich in diesem Zusammenhang manchmal, ob die Vi-deoüberwachung, die derzeit in aller Munde ist, nichtlangsam in das Bundeskabinett gehört.Vierter Punkt unserer Kritik: Dies ist ein Gesetz, dassich gegen die neuen Bundesländer richtet, wenn ich nuran den Fakt erinnere, dass zum Beispiel Sachsen-Anhaltmit Steuerausfällen in Höhe von 500 Millionen DM rech-nen muss. Mit dem Haushalt von Sachsen-Anhalt kenneich mich reichlich aus; da habe ich viele Umschichtungenmiterlebt. Wenn in einem Landeshaushalt im Zuge derHaushaltsverhandlungen 200 oder 300 Millionen DMumgeschichtet werden – das wissen Sie doch selbst –,dann ist das ein großer Akt. Wenn aber jetzt auf diesemWege Steuereinnahmen in Höhe von 500 Millionen DMund mehr verloren gehen, dann geht der gesamte im Hin-blick auf die landespolitische Gestaltung bestehendeSpielraum flöten. Das kann man so nicht hinnehmen; dasist zu kritisieren.
Dann wird der immer als Gegenargument vorgebrachteselbst tragende Aufschwung infolge der mit diesem Ge-setz beabsichtigten Steuerentwicklung nicht zum Tragenkommen.Für besonders bemerkenswert halte ich – ich hoffe,dass ich mich da irre –, dass es einen nicht unerheblichenDruck auf die neuen Bundesländer gegeben hat, dieseSteuergesetze mit dem zweiten Solidarpakt zu verbinden.Ich möchte Ihnen einen fünften und letzten Punkt nen-nen, warum wir gegen dieses Gesetz sind: Es nimmt keineRücksicht auf die über 10 Millionen sozial Schwachen indieser Republik. Nun werden Sie sagen: Die kommen indiesem Gesetz gar nicht vor.
Genau das ist unsere Kritik. Sie kommen nämlich nichtvor. Aber sie sind von Kürzungen im Sozialbereich undvon steigenden Lebenshaltungskosten betroffen.
Aus all diesen Gründen werden wir Ihren Vorschlagablehnen. Politiker haben mitunter eine ganze Reihe vonSammelleidenschaften. Die einen sammeln Akten; Kohlgehört bekanntlich nicht dazu. Die anderen sammelnKompromisse am Kamin; das tut unser Bundeskanzlersehr gern und nennt es dann Konsens.
Um bei meinem anfangs gebrachten Vergleich zu bleiben:In diesem Falle müssen Sie in die Verlängerung gehen,Herr Bundeskanzler. Ich hoffe, dass Sie bei der Bewer-bung um die Fußball-WM 2006 mehr Glück haben als mitdiesem Gesetz.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Herr Bundesminister Hans Eichel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Prä-sidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Alswir, der Bundeskanzler und ich, im Dezember vergange-nen Jahres das Konzept zum Steuersenkungsgesetz, zurSteuerreform 2000 vorgelegt haben, da ging dem der Ein-stieg in die Haushaltskonsolidierung voraus. An den An-fang meiner Rede möchte ich daher die Frage stellen, dieSie bis heute nicht beantwortet haben: Bleibt es dabei,dass wir Haushaltskonsolidierung und Steuerentlastung ineinem Paket und im Rahmen der international eingegan-genen Verpflichtungen behandeln – ja oder nein?
Damit ist gleichzeitig die Frage verbunden, wie hoch dasEntlastungsvolumen durch dieses Steuerpaket sein kann.Hier liegt der fundamental falsche strategische Ansatzder Opposition;
hieraus habe Sie sich – das sagen alle draußen – mit einerüberraschenden Volte in eine völlig abwegige System-debatte geflüchtet. An der Haushaltskonsolidierung habenSie sich nicht beteiligt. Ich kann mich nicht erinnern, vonIhnen irgendeinen hilfreichen Beitrag gehört zu haben.Sie haben in allen Haushaltsberatungen gesagt, überallmüsse mehr ausgegeben werden. Denselben Kommentarhaben wir auch zum Haushaltsplan für das Jahr 2001gehört.
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Roland Claus10786
Aber wir müssen eine Haushaltskonsolidierung vorneh-men und von den Schulden wegkommen.Ich sage ausdrücklich: Ja, die deutsche Einheit wareine besondere Last. Wir werfen Ihnen auch gar nicht vor,dass dadurch Ausgaben entstanden sind. Unser Vorwurfaber ist, dass Sie die Einheit nicht solide finanziert habenund wir dieses Versäumnis jetzt sozusagen abarbeitenmüssen. Das ist das Problem.
Fünf Sitzungen lang sind Sie im Vermittlungsaus-schuss wie Ölgötzen dagesessen und haben keinen einzi-gen Ton gesagt. Übrigens, Herr Thiele – da Sie persönlichgeworden sind –, ich kann mich nicht erinnern, von Ihnenim Vermittlungsausschuss einen Beitrag gehört zu haben.Ich erinnere mich wohl an Ihre Beiträge vor den Türen desSitzungssaales, nicht aber im Ausschuss.
Eine Antwort auf die von mir eingangs gestellte zentraleFrage sind Sie schuldig geblieben, meine Damen und Her-ren.Schon im vergangenen Herbst haben Sie versucht, dieKonsolidierungsdebatte zu unterlaufen, indem Sie denMenschen ein Wolkenkuckucksheim vorgegaukelt haben.Von Bayern, Baden-Württemberg und Thüringen liegt be-reits ein Gesetzentwurf auf dem Tisch. Er findet aberkeine Mehrheit, im Deutschen Bundestag nicht, abernatürlich auch im Bundesrat nicht, weil sich die Länderdies gar nicht leisten können.
Die CDU-Finanzminister kommen doch in mein Dienst-zimmer und sagen, dass sie schon diese Steuerreformnicht bezahlen könnten. Das ist die Wahrheit!
– Gut, ich möchte Ihnen einige Namen nennen. Zum Bei-spiel Herr Müller hat in einer öffentlichen Diskussion mitmir gesagt – das musste er hinterher offenkundig revozie-ren –, ein nennenswert größeres Entlastungsvolumen, alsich es vorgesehen habe, könne man sich nicht leisten. Diesgeschah in einer Diskussion mit dem Chefvolkswirt derDresdner Bank, Dr. Friedrich.Auch der Staatssekretär im hessischen Finanzministe-rium – Sie haben ja alle zum Schweigen verdonnert – haterklärt, Hessen sei an der Grenze seiner Leistungsfähig-keit. Das können Sie in den Zeitungen nachlesen. Sie ha-ben das Glück, dass Ihr Gesetzentwurf gar nicht erst zurDebatte steht, weil er nirgendwo eine Mehrheit gefundenhat; sonst müssten einige Leute die Finger heben.
Wir können also festhalten, dass die zentrale Frage,was überhaupt machbar und vereinbar ist, von Ihnen infünf Sitzungen des Vermittlungsausschusses nicht beant-wortet worden ist. Ich kann auch verstehen, warum eineReihe von Finanzministern an dem Vermittlungsverfah-ren gar nicht erst teilgenommen hat. Das hätte ich an de-ren Stelle auch nicht getan, wenn ich so unter Kuratelstünde und wüsste, dass ich die eingangs gestellte Fragewahrheitsgemäß beantworten muss. Man hat ja schließ-lich eine Reputation zu verlieren.
Übrigens – aber das wissen Sie alles – haben Sie in dervergangenen Wahlperiode zwei Fehler gemacht. Der erstezentrale Fehler – das können Sie in dem Buch von HerrnKoch nachlesen –: Eine Steuerreform macht man nicht amEnde einer Wahlperiode, sondern am Anfang. Der zweitezentrale Fehler: Eine Steuerreform kann man nicht mitgroßen Steuersenkungen verbinden, wenn die Staatsein-nahmen aus Steuern zurückgehen. Diese Einnahmen müs-sen steigen; ansonsten ist dies nicht machbar. Deswegenwar völlig klar, dass niemand die Umsetzung der Peters-berger Beschlüsse verkraften kann. Alle Länderhaushaltewären sonst sofort verfassungswidrig geworden. DiesesProblem haben die Länder auch für das Jahr 2001; inzwi-schen geben sie das indirekt zu.Ich höre ja jetzt schon aus München, dass man auf dieschwächeren Länder Rücksicht nehmen müsse; der Bundsolle gefälligst Privatisierungserlöse einsetzen. HerrRauen beispielsweise hat erklärt, ich solle dafür die Erlöseaus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen verwenden.Diese unseriöse Finanzpolitik, Herr Thiele, habe ich ge-meint; wir betreiben sie nicht weiter.
Einmaleinnahmen darf man nicht für laufende Ausgabeneinsetzen. Zu dieser Aussage gab es übrigens viel Zu-stimmung aus Ihren Reihen: von Frau Merkel, von HerrnBiedenkopf und auch von Kurt Faltlhauser, der dies nochin unserem gemeinsamen Gespräch mit dem „Handels-blatt“ bestätigte. Das ist das kleine Einmaleins einer se-riösen Finanzpolitik, meine Damen und Herren.
Deswegen will ich von Ihnen wissen, was Sie für ver-kraftbar halten, quergeschrieben von allen Finanzminis-tern, die Sie stellen.Dann will ich von Ihnen wissen, ob wir im europä-ischen Stabilitäts- und Wachstumspakt bleiben. AlleEuropäer haben sich nämlich verpflichtet, im Jahre 2002allenfalls noch ein Defizit von 1 Prozent des Bruttoin-landsprodukts zu haben; nach Möglichkeit sollten wir so-gar Haushaltsüberschüsse haben. Bei dieser Planungbleibe ich, meine Damen und Herren. Aber bleiben auchSie dabei? Was bedeutet dies denn für das Entlastungsvo-lumen? Die meisten europäischen Länder haben das Zielschon erreicht. Es gibt eine Reihe von Ländern mit Haus-haltsüberschüssen. Wir dagegen sind noch lange nicht soweit; das macht mir Sorgen. Wollen Sie denn im Zusam-menhang mit dieser Steuerreform für Deutschland eineDebatte über das Nichteinhalten der Stabilitätskriterien
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Bundesminister Hans Eichel10787
einläuten, wie sie im vergangenen Frühjahr mit Italien ge-führt worden ist? Sie, meine Damen und Herren, waren esdoch, die den Stabilitäts- und Wachstumspakt abge-schlossen haben.
Deswegen bleibt die erste Frage, auf die Sie bis heutejede Antwort schuldig geblieben sind: Welches Entlas-tungsvolumen ist verkraftbar?
Kriterium hierfür dürfen aber keine „voodoo economics“sein nach dem Motto,
man müsse nur die Steuern ordentlich senken, dann werdedas Wachstum so kräftig sein, dass es so viele Steuerngibt, dass man schneller aus den Schulden herauskommtund den Staatshaushalt sanieren kann; alle verdienen da-ran und das Schlaraffenland ist perfekt. Nein, meine Da-men und Herren, so sieht die Wirklichkeit nicht aus!
Jeder von Ihnen, der einen Betrieb sanieren muss – derBundeshaushalt, den ich übernommen habe, ist ein Sanie-rungsfall –, weiß, dass die Arbeitnehmer, die Eigentümerund die Banken etwas hergeben müssen. Am Schluss stehtoft auch noch der Staat mit einer Bürgschaft daneben. Erstdann kriegen wir die Sanierung hin. Anders ist das nichtin Schweden und nicht in den Vereinigten Staaten gelau-fen und anders wird es auch bei uns nicht laufen. Deswe-gen müssen Sie die von mir gestellte Frage einmal beant-worten, meine Damen und Herren.
Vor diesem Hintergrund unternehmen wir große An-strengungen zur Senkung der Steuern für alle. In diesemZusammenhang erzählen Sie hier ja Märchen. Das Entlas-tungsvolumen beträgt 80 Milliarden DM und baut sich ab2005 in drei Stufen nachhaltig auf. Das sind rund 2 Pro-zent des Bruttoinlandsprodukts. Davon kommen über55 Milliarden DM bei den privaten Haushalten an, insbe-sondere – das sage ich ganz ausdrücklich – bei den Ar-beitnehmern und Beziehern kleiner Einkommen.Aber Sie brauchen immer erst ein Verfassungsge-richtsurteil, bis Sie endlich Steuergesetze machen, die mitder Verfassung in Einklang stehen.
Das steuerfreie Existenzminimum war bei Ihnen uner-träglich niedrig. In der ganzen Zeit, in der Sie an der Re-gierung waren, haben Sie die kleinen Einkommen verfas-sungswidrig hoch besteuert.
Das Verfassungsgericht musste Sie zu einer Änderungzwingen.
Das war der Grund für den Sprung beim steuerfreienExistenzminimum von 1995 auf 1996. Außerdem habenSie die Familien verfassungswidrig besteuert. Das muss-ten wir in Ordnung bringen, meine Damen und Herren.
Uns dann zu erzählen, Sie wollten bei der Steuerreformdie Arbeitnehmer stärker entlasten als wir, wirkt unglaub-haft angesichts der Tatsache, dass es noch gar nicht solange her ist, dass Sie die Menschen kujoniert haben. DieZahlen liegen alle auf dem Tisch.Nun komme ich zum Mittelstand: Von dem Entlas-tungsvolumen in Höhe von 80 Milliarden DM kommt derTeil, der nicht an die Privathaushalte geht, ausschließlichbeim Mittelstand an; Sie wissen das auch.
Ich komme hier einmal auf die Kapitalgesellschaftenzu sprechen. Sie, Herr Merz, haben im vergangenen Früh-jahr von dieser Stelle aus gesagt, wir trieben mit demSteuerentlastungsgesetz die Konzerne aus dem Land. Da-mals waren Sie der Patron der großen Unternehmen.Heute sollen wir das sein. Die Wahrheit ist aber ganz ein-fach folgende: Wir haben sie mit dem Steuerentlastungs-gesetz ordentlich belastet. Das war auch verantwortbar.Jetzt entlasten wir sie mit ordentlich gesenkten Steuersät-zen. Das geht für die Körperschaften als Nullsummen-spiel aus. Die Gewinner aber sind die Personengesell-schaften, also der Mittelstand, der um über 20 Milliar-den DM entlastet wird. Sie kennen diesen Sachverhaltdoch!
– Vorsicht, darauf komme ich gleich noch zu sprechen.Die Rechnung ist doch ganz einfach. Betrachten wirdie Definitivbesteuerung der Körperschaften. Dabei las-sen wir den Soli weg, weil ihn alle bezahlen. Ab 1. Januarnächsten Jahres zahlen die Kapitalgesellschaften 38 Pro-zent: 25 Prozent Körperschaftsteuer und 13 Prozent Ge-werbesteuer. Bei den Personengesellschaften entfällt dieGewerbesteuer – auf diesen Punkt komme ich gleich nocheinmal zu sprechen – durch die Anrechnung auf dieEinkommensteuerschuld. Das bedeutet, dass überhauptnur noch weniger als 5 Prozent der Personengesellschaf-ten in die Gefahr geraten, eine höhere tarifäre Belastungzu haben als die Kapitalgesellschaften. Über 95 Prozentwerden tarifär niedriger belastet als Kapitalgesellschaf-ten. So einfach ist das.
Sie haben in einem Punkt Recht: Das Ganze passiertbei der Körperschaft in der Mitte der Wahlperiode, im
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Jahre 2001, auf einen Schlag, während die Senkung fürdie Personengesellschaften bereits begonnen hat. Dasmuss ich hier ausdrücklich erwähnen, weil Sie es Ihrer-seits nicht tun. Die Senkung begann mit dem 1. Januar1999 und verläuft systematisch in mehreren Schritten –weil das alle betrifft, ist das sehr viel teurer – bis 2005.
Jetzt können Sie sagen – den Punkt kann ich zwar ver-stehen, aber es ist nur die halbe Wahrheit –: In 2001 gera-ten mehr als 5 Prozent der Personengesellschaften in dieGefahr, mehr zu zahlen als die Kapitalgesellschaften.Nun, vielleicht sind es 7 oder 8 Prozent, weil der Spitzen-steuersatz bei der Einkommensteuer in der Tat noch höherist. Mehr Personengesellschaften wird das aber nicht be-treffen.Wir haben noch ein paar weitere Veränderungen vor-genommen, und zwar auch mit dem Willen der Länder, je-denfalls mit dem der sozialdemokratisch geführten. Dashat dazu geführt, dass wir auf all das, was Sie vorher ge-sagt haben, eingegangen sind. Sie haben einen Strategie-wechsel vorgenommen. Das hat jeder bemerkt, auch wennSie das hier am Rednerpult noch ein paar Mal bestreiten.Ein halbes Jahr lang haben Sie mit einem Gesetzent-wurf aus München Ihre Politik bestritten und gesagt: Esmuss mehr sein, die Sätze müssen weiter gesenkt werden.Ich habe immer gesagt: Wenn wir uns den Beratungen imVermittlungsausschuss nähern, kommt die Stunde derWahrheit. Wenn die Finger für die Entlastungsvoluminagehoben werden müssen, dann müssen die Länderfinanz-minister sagen, was mit ihren Haushalten wirklich mög-lich ist. Siehe da: Sogar Herr Faltlhauser erklärt inzwi-schen, das Jahr 2001 sei ein Problem. Nun ist er nah ge-nug an der Wahrheit. Sehen Sie, meine Damen undHerren, da lag Ihr eigentliches strategisches Problem.Sie hätten sich doch die Senkung des Spitzensteuersat-zes, die wir zusätzlich angeboten haben, auf Ihre Fahnenschreiben können, Herr Merz. Sie hätten sich doch dieSenkung der Progression, die Rechtsverschiebung – dasist nämlich das eigentlich interessante Thema – auf IhreFahnen schreiben können. Die bloße Senkung des Spit-zensteuersatzes von 45 Prozent auf 35 Prozent kostet al-lein 50 Milliarden DM. Es glaubt doch kein Mensch, dassdas finanzierbar ist. Jeder weiß doch, dass das nicht geht.
Sie hätten sich das im Vermittlungsverfahren auf IhreFahnen schreiben können.Wir haben für den Mittelstand noch ein paar Dinge er-reicht: Wir haben den Freibetrag bei der Betriebsveräuße-rung, den Sie in der vorigen Wahlperiode auf 60 000 DMgesenkt haben, wieder auf 100 000 DM angehoben. Zuder Frage halber Steuersatz oder Fünftelungsregelungsage ich Ihnen, Herr Thiele: Für die meisten Fälle ist dieFünftelungsregelung günstiger als der halbe Steuersatz.Das ist die Wahrheit.Wir haben die Ansparabschreibung erhalten. Wir ha-ben gleichzeitig – das waren Voten, die aus Rheinland-Pfalz gekommen sind – die Umstrukturierung für die Per-sonengesellschaften erleichtert. Auch das kostet über1 Milliarde DM. Man findet fast nichts mehr, was man imBereich des Mittelstandes noch tun könnte, und das alleshätten Sie sich auf Ihre Fahnen schreiben können.
Zu der absurden Vorstellung, eine Systemfrage zurzentralen Frage zu machen, will ich Ihnen noch Folgen-des sagen:
– Darauf komme ich sofort, Herr Michelbach. Vorsichtmit Ihrem Zwischenruf!Man hätte über diese Frage nachdenken können. SehenSie sich doch einmal an, was Sie in der Hand hätten, wennSie sich mit Ihrer Strategie, wenn sie nicht auf totaleBlockade gerichtet wäre, Herr Merz, durchgesetzt hätten.Was hätten Sie denn in der Hand? Sie würden der stau-nenden Öffentlichkeit im Bundestagswahlkampf 2002 er-klären: Wir haben zwar nichts mit der Senkung des Spit-zensteuersatzes zu tun – das haben die von Rot-Grüngemacht –; wir haben zwar nichts mit der Rechtsver-schiebung, der Progression zu tun – das haben die ande-ren gemacht –; wir haben nichts mit der Erhöhung desFreibetrags bei der Betriebsveräußerung und mit der An-sparabschreibung zu tun und wir haben auch nichts damitzu tun, dass der Mitunternehmererlass für die kleinen undmittleren Betriebe erhalten bleibt. Das alles haben wir, dieUnion, abgelehnt. Aber wir haben das Vollanrech-nungsverfahren erhalten. Die Freude im nächsten Wahl-kampf wird groß sein.
Verehrter Herr Merz, man könnte ja einmal die Probeaufs Exempel machen. Ich lasse mich gedanklich auf einSpiel ein. Es kann ganz gut sein – dann hätten Sie sogarnoch Glück –, dass bis dahin der EuGH das Ding aus derWelt geschafft hat, wie er es in Bezug auf die Niederlandebereits getan hat. Das wissen auch Sie alles.Wie lautete denn Ihre Antwort im Vermittlungsver-fahren? Es war ja klar – auch Herr Milbradt hat daseingeräumt und es ist übrigens nicht nur eine Gruppe, diedamit ein Problem hat –, dass nur noch ein Drittelder Dividenden über das Vollanrechnungsverfahrenläuft. In einer internationalisierten Wirtschaft muss dasauch so sein. Ausländische Unternehmer, die bei uns an-legen, fallen nicht mehr darunter. Inländer, die im Auslandanlegen, fallen ebenfalls nicht mehr darunter. Inländer, diesteuerbefreit sind, haben nichts von dieser Veranstaltung.Deswegen fällt überhaupt nur noch ein Drittel der Divi-denden unter das Vollanrechnungsverfahren. In einer in-ternationalisierten Wirtschaft wird dieser Anteil immergeringer werden.Es gibt aber ein anderes Problem. Jetzt komme ich aufdie Behauptung zurück, wir seien die Befürworter derKapitalgesellschaften.
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Für diese gibt es aber gar keine Entlastung. Fragen Sieeinmal die Versicherungsunternehmen. Denen haben wirim vorigen Jahr ihre Bilanzen ganz schön verhagelt. Fra-gen Sie einmal die Energieversorgungsunternehmen. Siewissen das, denn Sie haben das alles vor einem Jahr andieser Stelle selber vorgetragen.
Aber, meine Damen und Herren, jetzt wollen wir ein-mal fragen: Welches ist denn der Sinn dieses Teils der Un-ternehmensteuerreform? Ein Sinn ist, die kleinen und mitt-leren Unternehmen, die 70 Prozent der Arbeitsplätze und80 Prozent der Ausbildungsplätze stellen, ordentlich zuentlasten. Genau das machen wir.
Ein anderer Sinn ist: Die großen Unternehmen hattennie das Problem. Sie haben dies übrigens von diesem Pultaus alles anders behauptet. Sie haben immer behaup-tet, die großen Unternehmen würden bei uns zu hochbesteuert. Übrigens war das, wenn es überhaupt der Fallwar, zu Ihrer Regierungszeit. Darauf will ich nur hin-weisen. Die großen Unternehmen gehen plus/minus nullaus dem Geschäft heraus, aber sie bekommen ein inter-national wettbewerbsfähiges Steuerrecht und interna-tional wettbewerbsfähige Steuersätze. Gehen Sie docheinmal raus und erklären Sie denen, dass sie einen Kör-perschaftsteuersatz von 30 Prozent behalten, statt einenvon 25 Prozent zu bekommen. Dies müssen Sie deneneinmal klarmachen. Dies ist ja fast eine Verschlechterung.Und Sie glauben – das habe ich mir angesehen –, damitbekäme man ausländische Investoren nach Deutschland?Die 90er-Jahre, für die Sie hauptsächlich die politischeVerantwortung tragen – ich wische nicht weg, dass auchder Bundesrat beteiligt war, lieber Herr Thiele –, warendie wachstumsschwächsten in der deutschen Nach-kriegszeit. Seit Mitte der 90er-Jahre steht Deutschlandbeim Wirtschaftswachstum auf dem vorletzten Platz. Diesist nicht erst so, seit wir an der Regierung sind. Jetzt gehtes wieder aufwärts. Ich will auch nicht sagen, dass das anuns liegt. Aber ich halte fest: Seit Mitte der 90er-Jahresind wir beim Wirtschaftswachstum auf dem vorletztenPlatz.
Ich will Ihnen gerne etwas vorlesen: Die ausländischenDirektinvestitionen sind bei uns eine Katastrophe. Slowe-nien hat mehr Auslandskapital bekommen als wir. Jetztgeht die Zahl hoch, aber Sie schlagen uns mit dem Voll-anrechnungsverfahren einen Körperschaftsteuersatz von30 Prozent vor. Dieser aber würde genau nicht dazuführen, dass auch wir ausländisches Kapital ins Landbekommen. Aber dies zu erreichen, ist die andere Auf-gabe, die wir mit unserer Reform zu erfüllen haben.
Nun will ich noch etwas – ich weiß gar nicht, ob Siewissen, wovon Sie an diesem Punkt reden – zur Gleich-mäßigkeit der Besteuerung sagen.
Nicht nur die Öffentlichkeit versteht das gar nicht; auchIhre Vermittlungsausschussmitglieder verstehen es zumTeil nicht. Herr Rauen hat uns 20 Minuten lang gesagt,dass wir den Mittelstand kaputtmachen, und hat das aufdas Halbeinkünfteverfahren bezogen. Damit hat es abernun gar nichts zu tun.
Er hat das Optionsmodell gemeint. Sehen Sie, so infor-miert sind Sie über die Themen.
Jetzt frage ich Sie einfach, was Sie meinen. Wenn Siemeinen sollten, dass bei der Besteuerung der Kapitalge-sellschaften der Steuersatz für thesaurierte Gewinne de-finitiv mit dem Spitzensteuersatz in der Einkommen-steuer identisch sein sollte, sage ich Ihnen: Aus dieser Si-tuation sind Sie selber ausgestiegen, und zwar im Jahre1990. Bis dahin stimmte das. Bis dahin lag der Körper-schaftsteuersatz für thesaurierte Gewinne bei 56 Prozentund der Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuerebenfalls. Seit 1990 ging der Körperschaftsteuersatz –weil Sie gemerkt haben, dass es international nicht funk-tioniert – auf 50 Prozent runter, der Spitzensteuersatz beider Einkommensteuer aber nur auf 53 Prozent. 1995 sanker – da liegt doch das Problem – auf 45 Prozent. Das, wasSie hier offenbar kritisieren – mir ist immer noch nichtganz klar, was Sie eigentlich meinen –, haben Sie dochselber eingeführt.Ein entscheidender Unterschied zu uns heute ist: Siehaben in beiden Fällen die Gewerbesteuer vorgesehen.Wir haben die Gewerbesteuer für die Personenge-sellschaften als Kostenfaktor beseitigt.Nun will ich Ihnen sagen, was wir von Ihnen übernom-men haben. 1998 hatten wir eine Spreizung zwischen derKörperschaftsteuer plus Gewerbesteuer und dem Spitzen-steuersatz der Einkommensteuer plus Gewerbesteuer vonacht Punkten. Sie haben Recht: Die Differenz steigtkurzfristig ein bisschen, nämlich auf 10,5 Prozent ab dem1. Januar 2001. Aber bereits in 2003 sinkt sie auf neunPunkte – Sie hatten acht – und geht in 2005 auf fünf Punktezurück. Das ist so wenig, wie es das zu Ihrer Zeit nie gab.
Mir ist aber noch immer nicht klar, was Sie mit Gleich-mäßigkeit meinen. In diesem Punkt wird unser Steuer-recht am Ende der Legislaturperiode jedenfalls deutlichbesser sein als das, was Sie uns hinterlassen haben.
In anderen europäischen Ländern gibt es allerdingseine Riesenspreizung. Betrachten Sie einmal die Nieder-lande. Die Niederlande haben einen Körperschaftsteuer-
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satz von 35 Prozent und bei der Einkommensteuer einenSpitzensteuersatz von 60 Prozent. Wir müssen eineSteuerreform machen, die die Unternehmen in Deutsch-land im europäischen Umfeld und auch im amerikani-schen Umfeld wettbewerbsfähig macht. Muss ich Ihnendas erzählen? Muss Ihnen das ein sozialdemokratischerFinanzminister sagen?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie sprechenvon der Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Dann will ichdoch einmal darauf hinweisen, dass Sie eine Situationgeschaffen und in Ihrem Modell beibehalten haben, in derder Handwerksmeister und der Einzelhändler höherbesteuert werden als der Freiberufler und der Arbeit-nehmer. Diese ungleiche Besteuerung beseitigen wir. Dasist Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Wovon reden Sie indiesem Zusammenhang also überhaupt?Deswegen ist Ihre Behauptung, der Mittelstand kommebei diesem Gesetz schlechter weg, falsch und in allen As-pekten widerlegbar. Die Reform, die Sie uns anbieten, ist,wenn der Vorschlag von Bayern und Baden-Württembergernst genommen wird, für die öffentlichen Kassen un-bezahlbar und beschert uns im Übrigen noch nicht einmalinternational wettbewerbsfähige Steuersätze bei der Kör-perschaftsteuer. Das macht keinen Sinn.
Wir tragen die Verantwortung, diese Steuerreform inGang zu setzen. Sie, Herr Merz, machen einen schwer-wiegenden Fehler, wenn Sie sagen: Besser keine Steuer-reform als diese. Das sehen Sie in diesem Lande ganzalleine so.
Ich will das jetzt gar nicht weiter vertiefen. Sie wissen dasganz genau.Lesen Sie einmal nach, was der InternationaleWährungsfonds vorgestern zu unserer Steuerpolitikgeschrieben hat. Sie wissen ja, wer an der Spitze des IWFsteht. Ich will Herrn Köhler gar nicht für alles verant-wortlich machen. Aber der Internationale Währungsfonds,der die weltweit höchste Autorität bei der Beurteilungdieser Fragen hat, sagt: Jawohl, ihr seid genau auf demrichtigen Wege, mit eurer Haushaltskonsolidierunggenauso wie mit eurer Steuerpolitik. Er sagt weiter: Wirkönnen hinnehmen, dass 2001 – das habe ich immer gesagtwegen des Vorziehens der Steuerreform – das Defizit ein-malig ein Stückchen wächst. Aber eigentlich solltet ihrauch das nicht machen.Sie müssen sich überlegen, was das bedeutet. Dasheißt, zumindest die internationalen Institutionen sa-gen – übrigens die Europäische Zentralbank, die Europä-ische Kommission und alle anderen Finanzminister derEuropäischen Union ganz genauso –: Ihr dürft keineSteuerreform mit einer Erhöhung des Staatsdefizitsmachen. Recht haben sie.Deswegen, meine Damen und Herren: Sie sind da eineAntwort schuldig. Sie dürfen nicht nur einen Hinweis aufeine Systemfrage geben, die wir übrigens gar nicht erfun-den haben. Es handelt sich hierbei um eine Frage der prak-tischen Vernunft. Sie haben dazu nur erklärt: Na gut, dannlassen wir uns eben vom Europäischen Gerichtshof ver-urteilen. – Das ist keine vernünftige Maxime für dieSteuerpolitik.
Wir haben hier alle eine Verantwortung und der Bun-desrat hat eine Verantwortung.
Jeder weiß, worum es geht, weil alles offen ausgetauschtwird. Wir haben eine Fülle von Angeboten gemacht, dieSie alle hätten übernehmen können. Sie hätten sich damitschmücken können.Es geht in Wirklichkeit um die Frage, ob der Herr Merzseine Autorität als Fraktionsvorsitzender durchsetzenkann oder nicht. Das ist alles.
Genauso wird die Sache in den Landeshauptstädten auchdiskutiert. Sie müssen sich überlegen, ob Sie mit dem Fö-deralismus in Deutschland so umgehen wollen
oder ob Sie sagen: Föderalismus heißt, dass die Interessender Länder richtig wahrgenommen werden, und nichts an-deres.
Sie alle haben eine Verantwortung. Die CDU/CSUträgt in einer Fülle von Landesregierungen die Verant-wortung. Die F.D.P. kommt übrigens in dieser ganzen De-batte, solange sie in der Babylonischen Gefangenschaftbleibt, überhaupt nicht vor und wird auch nicht gebraucht,wenn sie sich so verhält. Sie müssen doch sehen, was Sieda anrichten.
Meine Damen und Herren, es ist nicht vernünftig, wasSie an dieser Stelle tun. Wenn Sie das Ganze weiter blockie-ren, schaden Sie dem Land. Und jeder weiß auch, wer hierblockiert.
Das Wort hatjetzt der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, FriedrichMerz.Friedrich Merz (von der CDU/CSU mitBeifall begrüßt): Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Herr Eichel, ich habe mir, als ich sie hier gehört
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habe, so gedacht: Besonders souverän und in der Sacheüberzeugend war dieser Auftritt des Finanzministersnicht.
Ich habe eine Bitte: Wenn Sie beim nächsten Mal Fi-nanzminister der Länder zitieren, die Ihr Dienstzimmeraufsuchen, dann sagen Sie uns doch wenigstens, wer daswar.
Wenn Sie es nicht tun, setzen wir einen Untersuchungs-ausschuss ein und werden Ihre Terminkalender beschlag-nahmen, Herr Eichel.
Ich habe nämlich den Verdacht, dass Sie immer wiederversuchen, mit Gesprächen Eindruck zu schinden, die inWahrheit gar nicht stattgefunden haben.
Herr Eichel, wir haben keinen Entwurf der LänderBayern und Baden-Württemberg, sondern einen Gesetz-entwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion eingebracht.Alle unionsregierten Länder haben im Bundesrat einenGesetzentwurf für eine große Steuerreform eingebracht.Das unterscheidet uns von Ihnen, als Sie in der Opposi-tion waren: Wir haben eine klare Alternative angeboten.
Zu dieser Alternative zählt, dass wir in der Tat die gleich-mäßige Entlastung von großen, mittleren und kleinen Un-ternehmen genauso wie von Arbeitnehmern wollen.Ich habe in diesem Zusammenhang immer gesagt: Wirsind bereit, uns über Zeitpläne, über Entlastungsvolu-mina, über Steuertarife und über den Körperschaftsteuer-satz zu unterhalten. Das alles haben wir immer zurDiskussion gestellt. Aber die Haushaltskonsolidierungist von uns nie infrage gestellt worden.
Die Notwendigkeit einer Haushaltskonsolidierung ist vonuns immer bestätigt worden.Damit wir auch wissen, worüber wir hier sprechen, willich Ihnen nur eine Zahl nennen. In den Jahren von 1998bis 2001 nehmen allein die Steuereinnahmen des Bundesvon 341 Milliarden DM auf 442 Milliarden DM, also ummehr als 100MilliardenDM, zu. Das ist das Dreifache desEntlastungsvolumens, das Sie den Bürgern dieses Landesbis zum Jahre 2005 in Aussicht stellen.
Nun tun Sie nicht so, als ob mit den von uns gemach-ten Vorschlägen das notwendige und richtige Ziel derHaushaltskonsolidierung infrage gestellt wird. HerrEichel, die Wahrheit ist: Seitdem diese Regierung im Amtist, steigt die Steuerquote, steigt die Abgabenquote, steigtder Anteil des Staatsverbrauchs am Sozialprodukt und istStillstand auf dem Arbeitsmarkt eingetreten. Das ist dieWahrheit.
Ich will ein Zweites sagen, was uns in dieser Fragegrundlegend voneinander unterscheidet: Wir führen hierkeine Debatte über steuerpolitische Dogmen, sondern wirführen eine Diskussion um die Frage, wie ein begrenztesEntlastungsvolumen, das Bund, Länder und Gemeindenaufbringen müssen, gleichmäßig auf große, mittlere undkleine Unternehmen sowie auf Arbeitnehmer verteilt wer-den soll. Für eines lassen wir uns nicht mit in Haftungnehmen: Sie haben gerade selbst zugegeben, dass Sie imletzten Jahr die Körperschaften in der BundesrepublikDeutschland mit einer drastischen Verschärfung derGewinnermittlungsvorschriften steuerlich erheblichhöher belastet haben. Offensichtlich haben Sie denendabei versprochen, dass es im nächsten Jahr eine Senkungdes Körperschaftsteuersatzes auf 25 Prozent geben wird.Herr Eichel, wir lassen uns für die Fehler, die Sie im letz-ten Jahr gemacht haben, nicht durch niedrigere Körper-schaftsteuersätze in Haftung nehmen.
Es geht in der Tat um eine große Steuerreform, diedieses Land dringend braucht. Wir wollen aber eineSteuerreform, die auch und gerade den Mittelstand er-reicht, und keine Steuerreform, die nur die großen Kapi-talgesellschaften mit angeblich international wettbewerbs-fähigen Körperschaftsteuersätzen ausstattet.
Es mag ja sein, dass Sie den guten Rat, den Sie währendder Ausschusssitzungen nie hören wollten, in den Windschlagen, auch wenn er öffentlich erteilt wird. Es kommtnicht darauf an, ob das gewählte Verfahren als Anrech-nungsverfahren oder Halbeinkünfteverfahren be-zeichnet wird. Es kommt entscheidend darauf an, dassAnteilseigner an Unternehmen – sei es an Kapitalgesell-schaften oder an Personengesellschaften – steuerlich gle-ich behandelt werden. Das ist der entscheidende Punkt.
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Herr Kollege
Merz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten
Dr. Barbara Hendricks?
Nein, Frau Präsidentin,ich möchte meine Rede gerne im Zusammenhang vortra-gen.
– Entschuldigung, ich möchte das jetzt gerne im Zusam-menhang vortragen und mich nicht durch Zwischenfragenunterbrechen lassen.
Wenn es richtig ist, was Sie hier bezüglich der gleich-mäßigen Entlastung des Mittelstandes sagen, warummuss der Mittelstand in der Bundesrepublik Deutschlanddann bis zum Jahr 2005 warten, während gleichzeitig fürdie großen Kapitalgesellschaften die Körperschaftsteuer-sätze zum 1. Januar 2001 gesenkt werden? Warum?
Sie haben am letzten Freitag so genannte Kompro-missvorschläge unterbreitet. Der Inhalt dieser Kompro-missvorschläge, die Sie auch im Vermittlungsausschussverbreitet und vorher der Presse gegeben haben – IhrVorgehen hat auch etwas mit Stil und Umgang zu tun; abersei es drum –,
entpuppt sich bei Licht betrachtet als eine weitere Ver-schlechterung der Lage des Mittelstandes. Das weisenSie in Ihren Finanztableaus ja selbst aus. GerdaHasselfeldt hat bereits darauf hingewiesen. Für die Jahre2001 bis 2004 wird der Mittelstand gegenüber dem, wasSie hier mit Ihrer rot-grünen Mehrheit beschlossen haben,noch einmal um 15 Milliarden DM höher belastet, bisdann im Jahr 2005 eine Entlastung eintreten soll.
Ich will in diesem Zusammenhang ein weitereswichtiges Thema ansprechen: Wie halten Sie es eigentlichmit der Steuerfreistellung der so genannten Veräuße-rungserlöse? Sie haben für die großen Kapitalge-sellschaften in Aussicht gestellt, eine solche ab dem Jahre2001 vorzunehmen. Nun soll diese Freistellung auf dasJahr 2002 verschoben werden. Darüber gibt es mit Rechtziemlichen Ärger; aber das ist Ihre Sache. Was abermachen Sie mit den Veräußerungserlösen im Bereich desMittelstandes? Was passiert mit denen, die beispielsweiseihr Unternehmen an die nächste Generation weitergebenwollen? In diesem Fall werden die Veräußerungsgewinnevoll versteuert. Dort, wo es um Kapitalgesellschaftengeht, werden die Veräußerungserlöse steuerfrei gestellt.Das hat weder mit einer Gleichmäßigkeit der Besteuerungnoch mit einer Mittelstandsförderung etwas zu tun.
Ich will Sie nun auf eine Konsequenz Ihrer Steuerpoli-tik aufmerksam machen, die Sie selbst wahrscheinlichnoch gar nicht gesehen haben. Sie kritisieren Vorschlägemit den Schlagworten Krankenschwester und Chefarzt,die wir gar nicht gemacht haben. Ich will mich auf daskonzentrieren, was Sie vorschlagen und was in diesemLande Wirklichkeit werden soll.Sie wollen mit der Absenkung der Körperschaftsteuer-sätze eine differenzierte Besteuerung der Unternehmengegenüber den natürlichen Personen erreichen. Was ist dieFolge davon? Jemand, der in diesem Land ein großes Ver-mögen besitzt, ist gut beraten, mit In-Kraft-Treten dieserSteuerreform die Vermögensverwaltung von privaterHand auf eine GmbH zu übertragen. Die Folge ist, dassdie Vermögenserträge in privater Hand, in einer GmbHorganisiert, in Zukunft nur noch mit 25 Prozent besteuertwerden. Was soll eigentlich Ihre viel zitierte Kranken-schwester davon halten, wenn sie mit dem oberen Teilihres Einkommens mittlerweile den Spitzensteuersatz von48,5 Prozent erreicht
und der Chefarzt mit seiner Vermögensverwaltung durcheine GmbH nur noch 25 Prozent Steuern bezahlt?
Meine Damen und Herren, die Steuerberater in der Bun-desrepublik Deutschland, die eine Mandantschaft haben,die zu den Vermögenden in diesem Land zählen, lachensich über die Vorschläge im Hinblick auf die Vermö-gensverwaltung tot, die von der rot-grünen Bun-desregierung kommen.
Sie, Herr Eichel, haben nicht ohne Grund daraufhingewiesen, dass der Gesetzgeber in der BundesrepublikDeutschland mehrfach vom Bundesverfassungsgerichtaufgefordert worden ist, eine verfassungskonformeSteuergesetzgebung zu machen. Das war in der Tat be-gründet. Angesichts der von mir beschriebenen eklatantenVerletzung des Grundsatzes der Gleichmäßigkeit derBesteuerung, eines Grundsatzes, der in der Bundesrepu-blik Deutschland Verfassungsrang hat, der dem Gleichbe-handlungsgebot des Grundgesetzes entspricht, frage ich:
Erwarten Sie allen Ernstes, dass wir einer Steuergesetzge-bung zustimmen, die erneut die Frage aufwirft, ob nicht
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Teile unseres Steuerrechts in der Bundesrepublik Deutsch-land verfassungswidrig sind? Hierfür bekommen Sie dieZustimmung der Union nicht, Herr Bundesfinanzminister.
Nun rühmt sich diese Regierung besonders gern ihrerHinwendung zur so genannten New Economy. Ich habeIhnen bei der ersten Lesung am 18. Februar 2000 vondieser Stelle aus den Vorwurf gemacht, es handele sichbei der Steuerreform, die Rot-Grün mache, um eineSteuerreform, die sich im Wesentlichen auf die OldEconomy konzentriere. Daraufhin habe ich viel hämi-sches Gelächter bekommen. In der Zwischenzeit habeneinige Leute nachgerechnet, welche Konsequenzen dieseSteuerreform hat. Kein Geringerer als der Chef des Welt-wirtschaftsinstituts in Kiel, Professor Siebert, der nicht imVerdacht steht, immer mit dem einverstanden gewesen zusein, was wir in früheren Jahren gemacht haben, hat injüngster Zeit darauf hingewiesen, dass diese Steuerreformdie Sachkapitalbildung in den Unternehmen privilegiertund die Bildung von Humankapital diskriminiert.
Was hat das noch mit New Economy und moderner Wirt-schaftspolitik zu tun, wenn alte Unternehmen steuerlichentlastet und junge Unternehmensgründer der New Eco-nomy höher belastet werden, Herr Eichel? Nichts.
Deswegen ist es völlig richtig, was Professor Siebertvor einigen Tagen sagte – wörtlich –:Der Steuersatz sollte gerade in der neuen Informations-gesellschaft zwischen Unternehmen und natürlichenPersonen nicht gespalten sein, wenn man Wachstums-kräfte in der Breite freisetzen will.Meine Damen und Herren, es gibt eine ganze Reihevon ernsthaften sachlichen Einwendungen gegen dasKonzept der rot-grünen Steuerreform. Damit es allen, dieuns in dieser Debatte zuhören und langsam die Nase volldavon haben, dass wir zu keinem Ergebnis kommen, klarwird, worum es geht: Wir streiten nicht über irgendwelchesteuertechnischen Verfahren, sondern wir streiten überdie Grundfrage, ob es in der Bundesrepublik Deutschlandauch in Zukunft dabei bleibt, dass die Einkünfte undGewinne, gleich wo sie entstehen und wie sie verwendetwerden, steuerlich neutral behandelt werden und steuer-lich gleich belastet werden. Das ist die entscheidendeFrage, um die es geht.
Es ist ja wahr, dass dies alles sehr schwer verständlichist. Aber wir gehören zu denen, die noch immer bereitsind, sich auch einmal einen Rat von außen anzuhören,ihn anzunehmen und über ihn nachzudenken.
Man muss nicht in allen politischen Fragen der Wissen-schaft folgen. Manches findet dort auch ziemlich weit vonder Realität entfernt statt. Aber die 78 Professoren, die ei-nen geradezu dramatischen Aufruf an die deutsche Öf-fentlichkeit gerichtet haben,
den Fehler, den Sie jetzt planen, nicht zu machen, schließenihren Beitrag mit einem Zitat aus einer Bundestagsdebatte,das ich an dieser Stelle gerne vortragen möchte. Das Zitatlautet wörtlich:Um die gravierenden Fehler der geplanten Steuer-reform bloßzulegen, muss man nicht Wissenschaftlersein. Auch Politiker haben erkannt: Die Meinung,– jetzt wird das zitiert, was unser Kollege Solms in derersten Lesung gesagt hat –
dass die Unternehmen – –
– Offen gestanden nehme ich das, was vor der Regie-rungsbank stattfindet, nicht ernst. Das zeigt vielmehr, dassdie Regierung zu einem hohen Grad nervös ist und nichtweiß, wie sie ihre Steuerreform durchsetzen kann.
Ich versuche, noch einmal zu zitieren:
Um die gravierenden Fehler der geplanten Steuer-reform bloßzulegen, muss man nicht Wissenschaftlersein. Auch Politiker haben erkannt: Die Meinung, dassdie Unternehmen entlastet werden müssen, aber nichtdie Unternehmer, ist die wirtschaftspolitisch dümmsteAussage eines Bundeskanzlers seit der Existenz derBundesrepublik Deutschland.
Der Beitrag endet mit den Worten:Wir können nur hoffen, dass sich die Mehrheit derverantwortlichen Politiker dieser Erkenntnis nochrechtzeitig anschließt.
Ich habe für die Mehrheit in diesem Hause jede Hoff-nung aufgegeben.
Sie werden sich dieser Erkenntnis nicht mehr anschließen,weil Sie völlig verbohrt und fixiert auf Ihre Ideologie derEntlastung der Unternehmen und der höheren Belastungder Unternehmer sind.
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Das ist Ihre Entscheidung.
Es gibt für diese politische Position keine Mehrheit imBundesrat. Das werden Sie am nächsten Freitag bei derletzten Sitzung des Bundesrates in Bonn erfahren. Wirwerden danach in ein zweites Vermittlungsverfahren ein-treten können. Ich sage Ihnen im Namen meiner Fraktion:Lieber eine gute Steuerreform am 29. September bei dernächsten Sitzung des Bundesrates als eine schlechte am14. Juli!
Wir schließen uns dem nicht an, was Sie im letzten Jahrgemacht haben, als ein großes Unternehmen Pleite zugehen drohte: Wenn Philipp Holzmann Pleite geht, dannkommt der Bundeskanzler. Aber wenn die Kleinen Pleitegehen, dann kommt der Konkursverwalter. Ich sage Ih-nen: Wir machen Steuerpolitik nicht nur für die Großen inunserem Lande.
Wir werden uns auch in Zukunft – wenn wir in den ver-gangenen Jahren etwas anderes versucht haben, dann ist esvon Ihnen blockiert worden – unserer Verantwortung imBundestag und im Bundesrat stellen. Wir werden dafürsorgen, dass dieses Land eine gute Steuerreform bekommt.Wir werden auf jede Weise verhindern, dass Sie mit dem,was Sie vorhaben, am nächsten Freitag Erfolg haben.
Wir werden Sie zwingen,
mit uns über eine Steuerreform zu verhandeln, die ihrenNamen wirklich verdient, durch die große, mittlereund kleine Unternehmen und Betriebe entlastet werdenund die auch die Arbeitnehmer in der BundesrepublikDeutschland nicht völlig unberücksichtigt lässt.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile nocheinmal Herrn Bundesminister Hans Eichel das Wort.
Merz, erstens möchte ich noch einmal auf das ThemaGleichmäßigkeit der Besteuerung zu sprechen kom-men. Wie passt es zu Ihrer Forderung, Einkünfte und Ge-winne, egal wo sie entstehen, steuerlich gleich zu behan-deln, dass in Ihrem Steuerkonzept eine Abgeltungsteuervorgesehen ist? Das bedeutet, dass Sie die Kapitalerträgegünstiger als die Arbeitseinkommen besteuern. Das istIhre Vorstellung von gleichmäßiger Besteuerung der Ein-kommen.
Zweiter Punkt: Sie behaupten, eine Politik für die Ar-beitnehmer zu betreiben. Deswegen senken Sie in IhremSteuerkonzept den Arbeitnehmerfreibetrag von 2 000 DMauf 1 500 DM; die Kilometergeldpauschale machen Siezu einer Entfernungspauschale, indem Sie die Kilometer-geldpauschale von 70 Pfennig auf 50 Pfennig verringern,
und Sie erkennen 15 Kilometer des Weges zum Arbeits-platz nicht mehr an. Es ist die Masse der deutschen Ar-beitnehmer, die Sie damit ordentlich belasten.
An keiner Stelle Ihres Konzepts befindet sich ein Aus-gleich für diese zusätzliche steuerliche Belastung von Be-ziehern kleiner Einkommen. Ihre Behauptung, eine Poli-tik für die Arbeitnehmer zu betreiben, ist also schlicht un-wahr.
Im Übrigen wiederhole ich nur die Zahlen: Wir sorgenfür eine Nettoentlastung von über 20 Milliarden DM fürden Mittelstand und für die Kapitalgesellschaften, was dieGesamtwirkung unserer Steuerpolitik – Steuerentlas-tungsgesetz und Steuersenkungsgesetz – angeht.
Die Kapitalgesellschaften – Sie haben früher im Deut-schen Bundestag immer davon geredet, sie steuerlich zuentlasten – haben es nötig, ein international wettbewerbs-fähiges Steuerrecht und international wettbewerbsfähigeSteuersätze zu bekommen, damit der Standort Deutsch-land auch für ausländisches Kapital, das zu Ihrer Regie-rungszeit dieses Land gemieden hat, wieder interessantwird. Das ist konkrete Politik für Arbeitsplätze und nichtfür Konzerne.
Was hier gespielt wird, das ist schon klar. Übrigens hatHerr Kollege Faltlhauser – er wäre nie auf die Idee ge-kommen, das Thema Halbeinkünfteverfahren ins Zen-trum zu rücken; er hat die Gesamtentlastung zum Themagemacht – in dankenswerter Offenheit schon Wochen vordem Beginn des Vermittlungsverfahrens gesagt, man habeviel Zeit und man könne im Herbst noch weitermachen.Das Einzige, was Sie erreichen wollen, ist, zu beweisen,dass wir unser Ziel nicht gleich erreichen. Das kann ich –sozusagen als oppositionellen Kraftakt – zwar noch ver-stehen; dem Lande dient es aber nicht. Das ist ganz klar.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Friedrich Merz10795
Ich wiederhole: Alle Landesregierungen werden sichdeswegen überlegen müssen, ob sie am 14. Juli eine reinparteitaktisch motivierte Position beziehen
oder ob sie die Interessen dieses Landes in den Mittel-punkt Ihrer Entscheidung stellen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Kol-
lege Peter Rauen, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Finanzminister
Eichel, ich habe den Eindruck, dass Sie doch sehr nervös
geworden sind,
auch aufgrund der Rede von unserem Fraktionsvorsitzen-
den, weil Sie jetzt die Redezeit vom Kollegen Schmidt
doch noch beansprucht haben. Ihre Nervosität zeigt sich
auch daran, dass Sie hier aus Gesprächen im Vermitt-
lungsausschuss berichten und sich dann auch noch das
Recht nehmen, meine dort getätigten Aussagen zum Mit-
telstand völlig falsch zu interpretieren. Das nehme ich
nicht einmal mehr übel, weil Sie davon relativ wenig ver-
stehen.
Ich möchte nur auf einen Punkt intensiv eingehen, da
mir lediglich noch 3 Minuten und 40 Sekunden Redezeit
bleiben. Sie, Herr Finanzminister, sind ganz zum Schluss
auf die Arbeitnehmer eingegangen. Ich habe Sie im Ver-
mittlungsausschuss gebeten, meine Berechnungen zu wi-
derlegen, dass nach Ihren Reformen, auch unter Zugrun-
delegung des nachgereichten Vorschlags mit 43 Prozent
Spitzensteuersatz und einem leicht hinausgeschobenen
Erreichen der oberen Proportionalzone, der Facharbeiter
in Deutschland im Jahre 2005 prozentual mehr Steuern
zahlt als im Jahre 2001,
dass der verheiratete Facharbeiter ohne mitverdienende
Ehefrau im Jahre 2005 prozentual mehr Steuern zahlt als
im Jahre 2001,
dass der verheiratete Facharbeiter mit der mitverdienen-
den Ehefrau im Jahre 2005 prozentual wesentlich mehr
Steuern zahlt als im Jahre 2001.
Meine Damen und Herren, daran wird die ganze Ver-
logenheit dieser Steuerreform deutlich, die den Menschen
über einen langen Zeitraum von sieben Jahren eine Ent-
lastung vorgaukelt, in Wahrheit aber am Sankt-Nimmer-
leins-Tag den Arbeitnehmern und den Unternehmern nur
das zurückgibt, was der Staat heimlich über die kalte Pro-
gression einkassiert hat. Dies ist ein zutiefst unredliches
Vorgehen; dazu passt, Herr Eichel, dass Sie immer von der
größten Steuerreform sprechen, die es je gegeben habe.
Ich darf daran erinnern, dass es in den 80er-Jahren unter
Stoltenberg eine Steuerreform gab, die die Menschen um
50 Milliarden DM entlastet hat. Das geschah damals bei
einem Bruttoinlandsprodukt von 1 800 Milliarden DM;
Sie bezeichnen aber trotz eines Bruttoinlandsprodukts
von 4 000 Milliarden DM und einer längeren Laufzeit als
damals Ihre Reform mit einer Entlastung von 80 Milliar-
den DM als die größte Steuerentlastung aller Zeiten.
Es ist eigentlich eines Finanzministers unwürdig, wenn er
durch das Nennen nur von absoluten Zahlen die volks-
wirtschaftlichen Zusammenhänge verzerrt. Das kann man
im Kern so nicht machen.
Herr Eichel, ich will abschließend noch eines feststel-
len: Sie beklagen, dass sich durch das Scheitern der Ver-
handlungen im Vermittlungsausschuss jetzt eine wirkli-
che Reform um sechs, acht oder zehn Wochen verzögert.
Herr Eichel, dieses Land hat wichtige Jahre verloren,
weil Sie 1997 als einer der Oberblockierer mit Lafontaine
und dem jetzigen Bundeskanzler Schröder in der Aus-
übung der Verantwortung Ihres damaligen Amtes eine
wirkliche Reform blockiert haben.
Wir wollen am Ende mit Ihnen gemeinsam zu einer Re-
form kommen, die wirklich, wie Friedrich Merz sagt, Ar-
beitnehmer, Unternehmer und Unternehmen entlastet,
aber keine Reform, die einseitig Kapitalgesellschaften be-
günstigt, aber natürliche Personen zur Kasse bittet. Das
werden Sie mit uns nicht machen können.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache.Ich rufe nun den Zusatzpunkt 4 auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-
Steuersätze und zur Reform der Unternehmensbe-steuerung
– Drucksachen 14/2683, 14/3074, 14/3366,14/3640, 14/3760 –Berichterstattung:Abgeordneter Joachim Poß
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Bundesminister Hans Eichel10796
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? – Dasist nicht der Fall. Wird das Wort zur Erklärung er-wünscht? – Das ist ebenfalls nicht der Fall.Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsaus-schuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsord-nung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über dieÄnderungen gemeinsam abzustimmen ist. Es istnamentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schrift-führerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätzeeinzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? – Das ist der Fall.Ich eröffne die Abstimmung. –Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ichschließe die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnenund Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. DasErgebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt ge-geben.1) 2)Ich möchte für das Protokoll noch bekannt geben, dasses gemäß § 31 der Geschäftsordnung eine Erklärung desKollegen Jörg Tauss, SPD-Fraktion, zur Abstimmungüber das Ergebnis des Vermittlungsausschusses gibt.Bevor wir die Beratungen fortsetzen, bitte ich diejeni-gen Kolleginnen und Kollegen, die der anschließendenDebatte folgen wollen, ihre Plätze einzunehmen.Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzung
– zu dem Antrag der Abgeordneten StephanHilsberg, Brigitte Wimmer , KlausBarthel, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPD sowie der Abgeordneten MatthiasBerninger, Hans-Josef Fell, Kerstin Müller
, Rezzo Schlauch und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFür eine Modernisierung der Ausbildungsför-derung für Studierende– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. GerhardFriedrich , Angelika Volquartz,Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSUEckpunkte für eine BaföG-Reform– zu dem Antrag der Abgeordneten MarittaBöttcher, Dr. Heinrich Fink, Dr. Ilja Seifert undder Fraktion der PDSStrukturelle Erneuerung der Ausbildungsför-derung– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-rungDreizehnter Bericht nach § 35 des Bundesaus-bildungsförderungsgesetzes zur Überprüfungder Bedarfssätze, Freibeträge sowie Vomhun-dertsätze und Höchstbeträge nach § 21 Abs. 2– Drucksachen 14/2905, 14/2031, 14/2789,14/1927, 14/2811 Nr. 1, 14/3730 –Berichterstattung:Abgeordnete Brigitte Wimmer
Angelika VolquartzMatthias BerningerCornelia PieperMaritta BöttcherNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kol-lege Stephan Hilsberg von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundestagwird heute Eckpunkte zur BAföG-Reform verabschiedenund es wird Sie nicht wundern, dass es die Eckpunkte derKoalition sind.
Ich darf das vorwegnehmen, auch wenn mir das natürlichLeid tut für die Opposition, Herr Kollege Friedrich: Dasist ein großer Erfolg für die Studierenden.Wir sind hier auf der politischen Ebene, und zwar nichtnur hinsichtlich des Umstandes, dass sich die Kollegenlieber miteinander unterhalten statt zuzuhören, und diesauch bei der Diskussion über wichtige Reformen. Leidergibt es bei uns einen Sprachgebrauch, der von den Be-troffenen häufig nicht verstanden wird. BAföG, das ist dasBundesausbildungsförderungsgesetz. Es ist eines derwichtigsten Gesetze, das wir haben und das die Bundes-republik in den vergangenen 30 Jahren ein ganzes Stücksozialer gemacht hat. Viele Absolventen, auch viele, diehier im Saale sitzen, viele unserer Kollegen verdanken esBAföG, dass sie haben studieren können, dass sie akade-mische Grade erwerben konnten. Ich denke, ich kann imNamen aller sagen: Die Gesellschaft verdankt BAföG einStück mehr Chancengleichheit.
Aber dieses Gesetz ist in die Jahre gekommen. Es istsehr unverständlich geworden, es ist fürchterlich kompli-ziert, engherzig und deshalb alles in allem unzumutbargeworden. Aus diesem Grunde hat es in den letzten Jah-ren umfangreiche Bemühungen um eine vollständige Re-form des BAföG gegeben.Natürlich muss man eines bedenken: BAföG ist nichtder einzige Teil der Reform, die ansteht. Wir haben nebender BAföG-Reform auch noch eine umfangreiche Hoch-schulreform für dieses System an Haupt und Gliedernvorzunehmen. Dazu gehören die Dienstrechtsreform unddie Hochschulstrukturreform. Dies alles ist dringend not-wendig, doch ohne BAföG-Reform kann die Hochschul-strukturreform nicht gelingen, weil es sonst auf unseremWeg in die Wissensgesellschaft leicht passieren könnte,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Vizepräsidentin Petra Bläss10797
1) Seite 108002) Anlage 23dass Kinder aus sozial schwachen Familien zurückgelas-sen würden. Und dann ist Chancengleichheit eben nichtgewährleistet.
Chancengleichheit ist ein abstraktes Wort, aber hierwird es mit Leben gefüllt. Ganz konkret: Was werden wirmachen? Wir wollen, dass die Studenten mehr Geld imPortemonnaie haben. Wir werden die Eltern entlasten, in-dem das Kindergeld nicht mehr angerechnet wird und dieFreibeträge erhöht werden. Wir werden BAföG-Empfän-gern erstmals die Möglichkeit geben, EU-weit im Auslandmit BAföG-Inlandssätzen studieren zu können. Wir wer-den durch diese Reform die letzten Reste an Ost-West-Ungleichheit aufheben, sodass eine völlige Rechtsgleich-heit zwischen Ost und West geschaffen wird. Das ist eingroßer Fortschritt. Wir werden solche wichtigen Dingewie die Anrechnung von Kindererziehungszeiten stärkerund besser berücksichtigen, als das bisher der Fall war.Dies alles sind dringend notwendige, unverzichtbareBestandteile der BAföG-Reform.
Nun hat es in den letzten Monaten, in denen wir dasdiskutiert haben, immer wieder kritische, skeptische Fra-gen von Seiten der Opposition gegeben. Die Oppositiontraute uns nicht zu, die dafür notwendigen Finanzmittelaufzubringen. Meine Damen und Herren, der Finanzplanliegt vor. Sie alle können in den Haushalt des Jahres 2001hineinschauen. Die Diskussion ist entschieden. Die zu-sätzlichen Millionen – in diesem Falle sind es 425 Milli-onen DM, weil das nur ein Teilzeitraum und nicht das ge-samte Jahr ist – sind bereitgestellt. Es ist „fresh money“,es ist frisches Geld, das zur mittelfristigen Finanzplanunghinzugekommen ist,
sodass wir im Jahr 2001 nicht nur über den uns zustehen-den Anteil der Innovationsmilliarde verfügen können,sondern zusätzlich über den Anteil, der für das BAföG zurVerfügung gestellt wird. Wenn ich dann noch berücksich-tige, dass der Darlehensanteil und der Anteil der Länderhinzukommen, werden wir es mit den 500 Millionen DM,die zusätzlich im Haushalt stehen, schaffen, insgesamt1,3 Milliarden DM für die Studenten zu mobilisieren.Wenn das kein Erfolg ist, weiß ich nicht, was ein Erfolgist.
Natürlich haben wir mehr gewollt. Das gebe ich ganzehrlich zu. Wir haben einen Sockel gewollt. Der Sockelhat sich nicht realisieren lassen. Es ist eine Sache der Ehr-lichkeit, das einzugestehen. Aber es ist verlogen, wennF.D.P. und PDS heute immer noch so tun, als könnten sieden Sockel realisieren.Bei der F.D.P. wundert mich das besonders, weil derVorschlag, den sie dazu unterbreitet hat, total unfinan-zierbar ist. Wie sich eine Partei der Besserverdienendendas eigentlich leisten will, ist mir schleierhaft. Ich kannmir das nur so erklären, dass Sie an dieser Stelle ja nichtIhr Geld ausgeben, sondern das Geld anderer.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Hilsberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Pieper?
Bitte schön, Frau Pieper.
Herr Kollege Hilsberg, nach
diesen zahlreichen Unterstellungen, die natürlich alle
nicht zutreffen,
möchte ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist – es müsste zu
Ihren Pflichten als Abgeordneter gehören, dass Sie darü-
ber Bescheid wissen –, dass die Darlehensrückflüsse aus
dem BAföG-Bestand im Bundeshaushalt bis zu 6 Milliar-
den DM betragen und dass das ursprüngliche Gesetz vor-
gesehen hat, dass diese Darlehensrückflüsse in die neue
Finanzierung des BAföG fließen, das heißt der Sockelbe-
trag des Ausbildungsgeldes allein aus den Darlehensrück-
flüssen voll finanzierbar wäre.
Frau Pieper, Sie machen
hier wieder eine schöne Milchmädchenrechnung auf und
wollen darüber offenbar vergessen machen, dass allein Ihr
so genannter Reformvorschlag vermutlich zusätzliche
Kosten von 4 bis 5 Milliarden DM zur Folge hätte. Das
überstiege das, was an Mitteln vorhanden ist, bei weitem.
Jetzt lassen Sie mich bitte fortfahren. Ich glaube, Sie
haben noch Gelegenheit, darüber zu sprechen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Heißt das, dass Sie
eine zweite Frage nicht zulassen, Kollege Hilsberg?
Wir wollen ja in der Sacheweiterkommen und keine Scheindiskussionen führen.
Auch zur PDS muss man nicht viel sagen. Ihr Vor-schlag ist ein typisches Beispiel dafür, dass ungleiche Ver-hältnisse gleich behandelt werden sollen. Nicht nur derUmstand, dass Sie 1,8 Millionen Studenten eine Summevon 1 200 DM monatlich zur Verfügung stellen wollen,zeigt, dass er überhaupt nicht finanzierbar ist, denn daswürde in einen zweistelligen Milliardenbereich hinein-gehen. Zum anderen würden Sie damit die bestehendensozialen Ungerechtigkeiten nicht beseitigen, sondern ver-festigen. Denn diejenigen, die aus guten Familienverhält-nissen kommen, nähmen das Geld dankbar entgegen, abersie hätten es überhaupt nicht nötig. Das heißt, soziale Un-gerechtigkeiten werden bei Ihrem Antrag nur perpetuiert.Darüber hinaus haben wir vor – das ist gemeinsam ver-abredet –, Bildungskredite einzurichten. Das ist ein in-novativer Vorschlag, der sich an eine völlig neue Gruppevon Studenten richtet, die bisher kein BAföG erhalten ha-ben, bei denen es aber ebenso vorkommen kann, dass sie
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Stephan Hilsberg10798
in finanzielle Notlagen geraten. Deshalb kann ich mir, ge-rade bei Ihnen von der CDU/CSU, überhaupt nicht erklä-ren, warum Sie diesen Vorschlag nicht unterstützen.
Vielleicht verstehen Sie das nicht; dann muss man esIhnen noch einmal genau erklären. Aber ich habe einenanderen Verdacht. Mein Verdacht ist, dass Sie über IhremBemühen, sozusagen in die linke Ecke vorzustoßen undso zu tun, als seien Sie sozial gerechter als wir, Ihre eigeneWählerklientel vergessen. Denn es ist doch völlig klar:Auch unter den Studenten, die zur Finanzierung ihres Stu-diums auf das Einkommen ihrer Eltern angewiesen sind,gibt es soziale und finanzielle Unterschiede. Die einen El-tern sind leicht in der Lage, ein Auslandsstudium zu fi-nanzieren, die anderen nicht. Auch wenn finanzielle Not-lagen entstehen, sind diese Studenten nicht BAföG-be-rechtigt. Aber sie brauchen eine finanzielle Hilfe, damitsie nicht arbeiten gehen müssen. Diesen Studenten wollenwir mit Bildungskrediten helfen. Dies ist die politischeStoßrichtung der Bildungskredite. Es ist sehr gut, dass esuns gelungen ist, sie zu verankern.
Ein weiterer Punkt unseres Antrags betrifft die Exper-tenkommission. Auch das ist ein Punkt, den dieCDU/CSU nicht unterstützt. Ich wundere mich immer da-rüber. Sind Sie denn schon so weit jenseits, dass Sie nichteinmal mehr Diskussionen über die Veränderungen in un-serer Gesellschaft führen wollen?
Das wundert mich wirklich sehr. Sie können gerneblockieren, aber Sie werden die Veränderungen nicht auf-halten. Wir werden uns um diese Veränderungen küm-mern.
Es sind zum Teil ganz praktische Fragen, um die wiruns zu kümmern haben. Ich kann doch beispielsweisenicht ignorieren, wenn das Deutsche Studentenwerk fest-stellt, dass zwar immerhin 33 Prozent der Kinder ausbildungsfernen Schichten die Sekundarstufe II besuchen,aber viel zu wenige von diesen anschließend studieren.Ich kann doch nicht ignorieren, dass festgestellt wird, dassdie eigentliche Selektion in der Schule vorgenommenwird, in der Weichenstellung zwischen Berufsausbildungund Abiturzweig.Wenn ich hier etwas ändern will, muss ich zusätzlicheFörderinstrumente entwickeln. Das können einfacheDinge sein. Ich kann zum Beispiel Fahrt- und Verkehrs-kosten zusätzlich fördern und ich kann mit Bildungsgut-scheinen arbeiten. Aber ich muss mich um diese Dingekümmern. Denn wenn ich diese Gesellschaft sozial ge-rechter machen will, dann muss ich bereits in der Schuleansetzen. Mit welchen Instrumenten kann man das ma-chen? Wir laden Sie ein, mit uns darüber zu reden.
Das sind alles keine trivialen Probleme. Wenn Sie dieseDiskussion nicht unmittelbar im Herzstück der Politikverankern, dann ist sie für die Gesellschaft folgenlos.Welchen Sinn macht es, Kindergeld bis zum 27. Le-bensjahr zu zahlen? Hat das etwas mit dem Ende des Stu-diums zu tun, mit dem Begriff des „lebenslangen Ler-nens“? Hat das etwas damit zu tun, dass die, die eineBerufsausbildung machen, davon überhaupt nichts ha-ben? Und wie gehen wir auf die Situation ein, dass wir aufdem Weg in die Wissensgesellschaft zunehmend ganz an-dere Erwerbsbiografien haben werden: Abschnitte, indenen man sein Geld selber verdienen muss, und dannwieder Abschnitte, in denen man lernen muss? Die beste-henden sozialen Netze sichern diese Lernabschnitte nichtgenügend ab. Wir brauchen im Hinblick auf die verschie-denen sozialen Systeme umfangreiche Harmonisierungs-bemühungen. Wir kümmern uns darum. Wir haben unsdieses Problems angenommen und sind an dieser Stelleauf einem guten Weg.
Meine Damen und Herren, wir verabschieden uns indie Sommerpause
mit der Verabschiedung der Eckpunkte für eine solche Re-form. Im Herbst dieses Jahres werden wir dann über einenGesetzentwurf und über viele Einzelheiten diskutierenkönnen. Aber die Weichen für mehr soziale Gerechtigkeit,für die Förderung von Studenten werden wir heute stellenund dafür danke ich Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bevor ich dem nächs-ten Redner das Wort erteile, gebe ich Ihnen das von denSchriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergeb-nis der namentlichen Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Vermittlungsausschusses zum Gesetz zurSenkung der Steuersätze und zur Reform der Unterneh-mensbesteuerung, dem Steuersenkungsgesetz, Drucksa-chen 14/2683, 14/3074, 14/3366, 14/3640 und 14/3760bekannt: Abgegebene Stimmen 591. Mit Ja haben ge-stimmt 312 Kolleginnen und Kollegen, mit Nein habengestimmt 279 Kolleginnen und Kollegen. Die Beschluss-empfehlung ist damit angenommen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Stephan Hilsberg10799
Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 591ja: 312nein: 279JaSPDGerd AndresIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHermann BachmaierErnst BahrDoris BarnettDr. Hans Peter BartelsEckhardt Barthel
Klaus Barthel
Ingrid Becker-InglauWolfgang BehrendtDr. Axel BergHans-Werner BertlPetra BierwirthRudolf BindigLothar Binding
Kurt BodewigKlaus BrandnerAnni Brandt-ElsweierWilli BraseDr. Eberhard BrechtRainer Brinkmann
Bernhard Brinkmann
Hans-Günter BruckmannEdelgard BulmahnUrsula BurchardtDr. Michael BürschHans Büttner
Marion Caspers-MerkWolf-Michael CatenhusenDr. Herta Däubler-GmelinChristel DeichmannKarl DillerPeter DreßenRudolf DreßlerDetlef DzembritzkiDieter DzewasDr. Peter EckardtSebastian EdathyLudwig EichMarga ElserPeter EndersGernot ErlerAnnette FaßeLothar Fischer
Iris FollakNorbert FormanskiRainer FornahlHans ForsterDagmar FreitagLilo Friedrich
Anke Fuchs
Arne FuhrmannProf. Monika GanseforthKonrad GilgesIris GleickeGünter GloserUwe GöllnerRenate GradistanacGünter Graf
Angelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnKerstin GrieseAchim GroßmannWolfgang GrotthausKarl Hermann Haack
Hans-Joachim HackerKlaus HagemannManfred HampelChristel HanewinckelAlfred HartenbachAnke HartnagelKlaus HasenfratzNina HauerHubertus HeilReinhold HemkerFrank HempelRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogMonika HeubaumReinhold Hiller
Stephan HilsbergJelena Hoffmann
Walter Hoffmann
Iris Hoffmann
Ingrid HolzhüterEike HovermannChristel HummeLothar IbrüggerBarbara ImhofBrunhilde IrberGabriele IwersenRenate JägerJann-Peter JanssenIlse JanzProf. Dr. Uwe JensVolker Jung
Johannes KahrsUlrich KasparickSabine KaspereitSusanne KastnerHans-Peter KemperKlaus KirschnerMarianne KlappertSiegrun KlemmerWalter KolbowFritz Rudolf KörperKarin KortmannAnette KrammeNicolette KresslVolker KröningAngelika Krüger-LeißnerHorst KubatschkaErnst KüchlerHelga Kühn-MengelUte KumpfKonrad KunickDr. Uwe KüsterWerner LabschBrigitte LangeChristian Lange
Detlev von LarcherChristine LehderWaltraud LehnRobert LeidingerDr. Elke LeonhardEckhart LeweringGötz-Peter Lohmann
Christa LörcherErika LotzDr. Christine LucygaDieter Maaß
Winfried ManteTobias MarholdLothar MarkUlrike MascherChristoph MatschieHeide MattischeckMarkus MeckelUlrike MehlUlrike MertenAngelika MertensProf. Dr. Jürgen Meyer
Ursula MoggSiegmar MosdorfMichael Müller
Jutta Müller
Christian Müller
Franz MünteferingAndrea NahlesGerhard Neumann
Dr. Edith NiehuisDr. Rolf NieseDietmar NietanEckhard OhlLeyla OnurManfred OpelHolger OrtelAdolf OstertagKurt PalisAlbrecht PapenrothProf. Dr. Martin PfaffGeorg PfannensteinJohannes PflugProf. Dr. Eckhart PickJoachim PoßKarin Rehbock-ZureichDr. Carola ReimannMargot von RenesseRenate RennebachBernd ReuterDr. Edelbert RichterReinhold RobbeGudrun RoosRené RöspelMichael Roth
Birgit Roth
Gerhard RübenkönigMarlene RupprechtThomas SauerDr. Hansjörg SchäferGudrun Schaich-WalchRudolf ScharpingBernd ScheelenDr. Hermann ScheerSiegfried SchefflerHorst SchildDieter SchlotenHorst Schmidbauer
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Dagmar Schmidt
Wilhelm Schmidt
Regina Schmidt-ZadelHeinz Schmitt
Carsten SchneiderDr. Emil SchnellWalter SchölerOlaf ScholzKarsten SchönfeldFritz SchösserOttmar SchreinerGerhard SchröderGisela SchröterDr. Mathias SchubertRichard Schuhmann
Brigitte Schulte
Reinhard Schultz
Volkmar Schultz
Ewald SchurerDr. R. Werner SchusterDietmar Schütz
Dr. Angelica Schwall-DürenRolf SchwanitzBodo SeidenthalErika SimmDr. Sigrid Skarpelis-SperkDr. CornelieSonntag-WolgastWieland SorgeWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltLudwig StieglerRolf StöckelRita Streb-HesseReinhold Strobl
Dr. Peter StruckJoachim TappeJörg TaussJella TeuchnerDr. Gerald ThalheimWolfgang ThierseFranz ThönnesUta Titze-StecherAdelheid TröscherHans-Eberhard UrbaniakRüdiger VeitSimone ViolkaUte Vogt
Hans Georg WagnerHedi WegenerDr. Konstanze WegnerWolfgang WeiermannReinhard Weis
Matthias WeisheitGunter WeißgerberDr. Ernst Ulrich vonWeizsäcker
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Vizepräsidentin Petra Bläss10800
Jochen WeltHildegard WesterLydia WestrichInge Wettig-DanielmeierDr. Margrit WetzelDr. Norbert WieczorekHelmut Wieczorek
Jürgen Wieczorek
Heidemarie Wieczorek-ZeulDieter WiefelspützHeino Wiese
Klaus WiesehügelBrigitte Wimmer
Engelbert WistubaBarbara WittigDr. Wolfgang WodargHanna Wolf
Waltraud Wolff
Heidemarie WrightDr. Christoph ZöpelPeter ZumkleyBÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENGila Altmann
Marieluise Beck
Volker Beck
Angelika BeerMatthias BerningerGrietje BettinAnnelie BuntenbachEkin DeligözDr. Thea DückertFranziska Eichstädt-BohligDr. Uschi EidHans-Josef FellAndrea Fischer
Katrin DagmarGöring-EckardtWinfried HermannAntje HermenauUlrike HöfkenMichaele HustedtMonika KnocheSteffi LemkeDr. Helmut LippeltDr. Reinhard LoskeOswald MetzgerKerstin Müller
Winfried NachtweiChrista NickelsCem ÖzdemirSimone ProbstChristine ScheelIrmingard Schewe-GerigkRezzo SchlauchAlbert Schmidt
Werner Schulz
Christian SimmertChristian SterzingJürgen TrittinDr. Antje VollmerDr. Ludger VolmerSylvia VoßHelmut Wilhelm
Margareta Wolf
NeinCDU/CSUUlrich AdamIlse AignerPeter AltmaierDietrich AustermannNorbert BarthleDr. Wolf BauerGünter BaumannBrigitte BaumeisterMeinrad BelleDr. Sabine Bergmann-PohlOtto BernhardtDr. Joseph-Theodor BlankRenate BlankDr. Heribert BlensPeter BleserFriedrich BohlDr. Maria BöhmerSylvia BonitzJochen BorchertWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachKlaus BrähmigDr. Ralf BrauksiepePaul BreuerMonika BrudlewskyGeorg BrunnhuberKlaus Bühler
Hartmut Büttner
Dankward BuwittCajus CaesarManfred Carstens
Leo DautzenbergWolfgang DehnelHubert DeittertAlbert DeßRenate DiemersThomas DörflingerHansjürgen DossMarie-Luise DöttMaria EichhornRainer EppelmannAnke Eymer
Ilse FalkDr. Hans Georg FaustAlbrecht FeibelUlf FinkIngrid FischbachDirk Fischer
Dr. Gerhard Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeHans-Joachim FuchtelDr. Jürgen GehbNorbert GeisDr. Heiner GeißlerGeorg GirischMichael GlosDr. Reinhard GöhnerDr. Wolfgang GötzerKurt-Dieter GrillHermann GröheManfred GrundHorst Günther
Carl-Detlev Freiherr vonHammersteinGottfried Haschke
Gerda HasselfeldtKlaus-Jürgen HedrichHelmut HeiderichUrsula HeinenManfred HeiseSiegfried HeliasHans Jochen HenkeErnst HinskenPeter HintzeMartin HohmannKlaus HoletschekJosef HollerithDr. Karl-Heinz HornhuesSiegfried HornungJoachim HörsterHubert HüppeSusanne JaffkeGeorg JanovskyDr.-Ing. Rainer JorkBartholomäus KalbSteffen KampeterDr.-Ing. Dietmar KansyIrmgard KarwatzkiVolker KauderEckart von KlaedenUlrich KlinkertManfred KolbeNorbert KönigshofenEva-Maria KorsThomas KossendeyRudolf KrausDr. Martina KrogmannDr. Paul KrügerDr. Hermann KuesKarl LamersDr. Karl A. Lamers
Dr. Norbert LammertHelmut LampDr. Paul LaufsKarl-Josef LaumannVera LengsfeldWerner LensingPeter LetzgusUrsula LietzWalter Link
Eduard LintnerDr. Klaus W. Lippold
Dr. Manfred LischewskiWolfgang Lohmann
Julius LouvenDr. Michael LutherErich Maaß
Erwin Marschewski
Dr. Martin Mayer
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterDr. Angela MerkelFriedrich MerzHans MichelbachMeinolf MichelsDr. Gerd MüllerBernward Müller
Elmar Müller
Bernd Neumann
Claudia NolteGünter NookeFranz ObermeierEduard OswaldNorbert Otto
Dr. Peter PaziorekAnton PfeiferDr. Friedbert PflügerBeatrix PhilippRonald PofallaMarlies PretzlaffDr. Bernd ProtznerThomas RachelDr. Peter RamsauerHelmut RauberPeter RauenChrista Reichard
Erika ReinhardtHans-Peter RepnikKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberHannelore Rönsch
Heinrich-Wilhelm RonsöhrDr. Klaus RoseKurt J. RossmanithAdolf Roth
Norbert RöttgenDr. Christian RuckVolker RüheAnita SchäferDr. Wolfgang SchäubleHartmut SchauerteHeinz SchemkenKarl-Heinz ScherhagGerhard ScheuNorbert SchindlerBernd SchmidbauerChristian Schmidt
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Michael von SchmudeBirgit Schnieber-JastramDr. Andreas SchockenhoffDr. Rupert ScholzDr. Erika SchuchardtWolfgang SchulhoffDr. ChristianSchwarz-SchillingWilhelm-Josef SebastianHorst SeehoferHeinz SeiffertRudolf SeitersBernd SiebertWerner SiemannJohannes SinghammerMargarete SpäteCarl-Dieter SprangerWolfgang SteigerErika SteinbachDr. Wolfgang Freiherr vonStetten
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Vizepräsidentin Petra Bläss10801
Andreas StormMax StraubingerMatthäus StreblThomas Strobl
Michael StübgenEdeltraut TöpferGunnar UldallArnold VaatzAngelika VolquartzPeter Weiß
Gerald Weiß
Annette Widmann-MauzHeinz Wiese
Hans-Otto Wilhelm
Klaus-Peter WillschBernd WilzMatthias WissmannWerner WittlichDagmar WöhrlAribert WolfElke WülfingPeter Kurt WürzbachWolfgang ZeitlmannBenno ZiererWolfgang ZöllerF.D.P.Ina AlbowitzHildebrecht Braun
Rainer BrüderleErnst BurgbacherJörg van EssenUlrike FlachGisela FrickPaul K. FriedhoffHorst Friedrich
Rainer FunkeDr. Wolfgang GerhardtJoachim Günther
Dr. Karlheinz GuttmacherKlaus HauptDr. Helmut HaussmannUlrich HeinrichWalter HircheBirgit HomburgerDr. Werner HoyerUlrich IrmerDr. Klaus KinkelDr. Heinrich Leonhard KolbGudrun KoppJürgen KoppelinIna LenkeSabine Leutheusser-SchnarrenbergerGünther Friedrich NoltingDetlef ParrCornelia PieperDr. Edzard Schmidt-JortzigGerhard SchüßlerDr. Irmgard SchwaetzerMarita SehnDr. Hermann Otto SolmsCarl-Ludwig ThieleDr. Dieter ThomaeJürgen TürkDr. Guido WesterwellePDSMonika BaltDr. Dietmar BartschPetra BlässMaritta BöttcherEva-Maria Bulling-SchröterRoland ClausHeidemarie EhlertDr. Heinrich FinkDr. Ruth FuchsWolfgang GehrckeDr. Klaus GrehnDr. Gregor GysiUwe HikschCarsten HübnerUlla JelpkeSabine JüngerGerhard JüttemannDr. Heidi Knake-WernerRolf KutzmutzUrsula LötzerDr. Christa LuftHeidemarie LüthAngela MarquardtKersten NaumannRosel NeuhäuserPetra PauDr. Uwe-Jens RösselChristina SchenkDr. Ilja Seifert
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Vizepräsidentin Petra Bläss10802
Nächster Redner in der laufenden Debatte ist der Kol-lege Dr. Gerhard Friedrich, CDU/CSU-Fraktion.
FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächstmöchte ich dem Kollegen Hilsberg versichern, dass wirnatürlich die Idee des Bildungskredits überprüfen werden.Allerdings können wir mit dieser Diskussion erst dann be-ginnen, wenn Sie ein Konzept vorlegen.
Bisher gibt es nur diesen Begriff. Soweit ich den Entwurfdes Haushalts für das nächste Jahr gesehen habe, gibt esdafür kein Geld.Herr Hilsberg, Sie haben Recht, wenn Sie prognosti-zieren, dass die Koalition heute ein BAföG-Konzept be-schließen wird. Es spricht für Sie, dass Sie zugeben – dashaben Sie aber etwas verniedlicht –, dass Sie gleichzeitigein Vorhaben, das man früher als „großes sozialdemokra-tisches Reformprojekt“ bezeichnet hat, beerdigen. DasDrei-Körbe-Modell, ein Begriff, den wirklich kaum je-mand versteht, haben Sie vor und während des letztenBundestagswahlkampfes kompromisslos vertreten. Die-ses Modell wurde als zentrales Vorhaben in Ihrer Koaliti-onsvereinbarung angekündigt. Noch auf Ihrem Parteitagim Dezember letzten Jahres haben Sie dieses Konzept be-kräftigt.Frau Kollegin Wimmer, die ich hier vor mir sitzensehe, hat unsere Vorschläge anlässlich einer Diskussionam 2. Dezember 1999 sehr herablassend behandelt
und ziemlich großspurig angekündigt, dass man auf derGrundlage des so genannten Drei-Körbe-Modells für eineTrendwende hin zu mehr Gerechtigkeit sorgen werde.
Wenige Wochen später hat der Bundeskanzler diesesKonzept während einer Fraktionssitzung beerdigt bzw.Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Ver-sammlungen des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPUAbgeordneteAdler, Brigitte Bierling, Hans-Dirk Grießhaber, RitaSPD CDU/CSU BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMoosbauer, Christoph Raidel, Hans Dr. Süssmuth, Rita SPD CDU/CSU CDU/CSUProf. Weisskirchen, Gert Wimmer, Willy (Neuss) Zapf, Uta SPD CDU/CSU SPDmit einem Veto gestoppt. Seine Begründung – das hatKollege Berninger schon zum Ausdruck gebracht –, dieEltern hätten das dafür notwendige Geld bereits für die Fi-nanzierung ihrer Häuschen fest eingeplant, war wirklichabenteuerlich.
In Wirklichkeit mussten auch Sie sich der Einsicht beu-gen, dass der in diesem Zusammenhang erforderlicheSockelbetrag nicht finanzierbar ist. Das wissen wir bereitsseit Jahren. Bei einer Direktzahlung an die Studierendengibt es erhebliche Konflikte mit dem Unterhaltsrecht undmit verfassungsrechtlich abgesicherten Grundsätzen desSteuerrechts. Diese Probleme lassen sich mit sehr vielGeld lösen, machen das Ganze aber nicht finanzierbar.1998 hat der Bund für das BAföG insgesamt 1,5 Milli-arden DM ausgegeben. Frau Bulmahn, unsere neue Bil-dungsministerin, hat 15 Monate gebraucht, um festzustel-len, dass der Bund seine Ausgaben verdoppeln müsste,um allein allen erwachsenen Auszubildenden ein Bil-dungsgeld von 400 DM monatlich zu zahlen. Diese Zeithat sie auch gebraucht, um festzustellen, dass kein sozial-demokratischer Finanzminister bereit ist, diese und zu-sätzliche Mittel für höhere Leistungen an Einkommens-schwache, auf die es in diesem Zusammenhang ganz ent-scheidend ankommt, bereitzustellen. Hätte Frau Bulmahndie Stellungnahmen ihres Vorgängers Rüttgers intensivgelesen, dann hätte sie schon bei Amtsantritt zu diesemErgebnis kommen können.Herr Kollege Hilsberg, heute haben Sie die Koalitionund deren weise Beschlüsse bejubelt. Mitte Januar diesesJahres haben Sie schlicht und einfach von einem „Glaub-würdigkeitsverlust der SPD“ gesprochen. Bei den Grünenwar sogar von einem „Bruch der Koalitionsvereinbarung“die Rede.
Was ist denn wirklich passiert? Einige Tage später, wohlin der Nacht vom 19. auf den 20. Januar dieses Jahres, ha-ben Sie unseren Vorschlag einer Reform innerhalb desSystems übernommen. Ich war wirklich fassungslos, alsSie in der Aktuellen Stunde vom 20. Januar 2000 schonwieder bereit waren, den Ruhm und die Weisheit der Ko-alition zu preisen.Ich will es klar sagen: Das Scheitern des Drei-Körbe-Modells ist für uns kein Anlass, Tränen zu vergießen. An-geblich sollte dadurch erreicht werden, erwachsene Stu-dierende von ihren Eltern finanziell unabhängig zu ma-chen. Tatsächlich ist dieses Ziel überhaupt nicht zuverwirklichen; dies gilt zumindest für die meisten Stu-denten.Auch die Empfänger von Bildungsgeld bleiben über-wiegend auf ergänzende Unterhaltsleistungen der Elternangewiesen. Ein Staat, der sparen muss, sollte das Geldauf diejenigen konzentrieren, die aufgrund der Einkom-mensverhältnisse wirklich staatliche Hilfe brauchen.
Wir haben immer vorhergesagt, dass jemand, der vielGeld für die Einrichtung eines Bildungsgeldes ausgibt,anschließend bei der Hilfe für die wirklich Ein-kommensschwachen sparen muss.Ein Beispiel dafür ist ein Vorschlag der F.D.P., FrauKollegin Pieper. Sie bieten darin ein noch großzügigeresBildungsgeld an – über die Finanzierung will ich hier garnicht reden –
und sehen für diejenigen, die es benötigen, noch einen Zu-schuss von 350 DM vor. Wer noch mehr Geld braucht, be-kommt dann ein Darlehen in Höhe von bis zu750 DMmonatlich. Übertragen wir das auf die heutige Si-tuation, so wären diejenigen, die auf eine Vollförderungangewiesen sind, bei Abschluss ihrer Ausbildung an derHochschule noch höher verschuldet, als sie es heute sind.Wenn wir gemeinsam beklagen, dass von 100 Kindernaus einkommensschwachen Familien nur 33 auf dasGymnasium gehen und davon im Schnitt lediglich achtein Studium aufnehmen,
dann ist doch genau das Gegenteil notwendig, Frau Kol-legin. Deshalb schlagen wir, unterstützt durch die Hoch-schulrektorenkonferenz, vor, die Darlehensbelastung zubegrenzen. Meine Damen und Herren, wenn Sie eines Ta-ges unsere Zustimmung zu Ihrem BAföG-Konzept wol-len – das ist ja erst dann endgültig zu beurteilen, wenn derGesetzentwurf vorliegt –, dann müssen Sie bei dieser so-zialen Komponente, die uns sehr wichtig ist, noch nach-bessern.
Bei der letzten Debatte zu diesem Thema am 20. Januarmusste ich feststellen, dass uns die in den letzten Jahrentatsächlich stark gesunkene Gefördertenquote vorge-worfen wird.
Es wurde gesagt, die alte Regierung hätte das BAföG aus-getrocknet.
Da Sie damit auch heute sicher wieder kommen, möchteich auf Folgendes aufmerksam machen: Wir hatten es mitder schwierigen Situation zu tun, dass sich die Fachmi-nister aus Bund und Ländern wegen ihrer unterschiedli-chen Vorstellungen hinsichtlich des Wesens einer Struk-turreform gegenseitig blockiert haben. Im Jahre 1997 ha-ben die Finanzminister dreimal den einstimmigenBeschluss gefasst, dass eine BAföG-Reform kostenneu-tral durchgeführt werden müsse. Und im letzten Be-schluss vom Dezember 1997 – ich habe die ent-sprechenden Unterlagen an meinem Platz – kommtklar zum Ausdruck, dass die Finanzminister – und zwar
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Dr. Gerhard Friedrich
10803
einstimmig – alle vorgelegten Konzepte für eine BAföG-Reform ablehnen.
Für die wirklich bedauerliche Entwicklung, die wir nie-mals gerechtfertigt haben, sind also nicht nur wir verant-wortlich, die wir die letzte Regierung getragen haben,sondern auch die sozialdemokratischen Finanzminister inden Ländern.Umso erstaunter sind wir, dass Sie jetzt aus den Feh-lern der Vergangenheit das Recht ableiten, die Strukturre-form oder, wie Frau Bulmahn neuerdings sagt – dieser Be-griff ist eigentlich zutreffend –, die Totalsanierung derAusbildungsförderung selbst zu verzögern. Nur zu Be-ginn Ihrer Regierungszeit haben Sie schnell gehandeltund, wie damals Herr Bundesminister Rüttgers kurz vorder Wahl, die Freibeträge und die Bedarfssätze erhöht.Aber wir stellen fest, dass Sie seit der Verabschiedung der20. Novelle, genauer gesagt: seit dem Wechsel im Fi-nanzministerium, eine Politik nach dem Motto „Sparendurch Verzögern“ betreiben.
– Sie lachen, Herr Kollege Hilsberg. Als Sie nach einerNachtsitzung – das habe ich gelesen; Sie haben es derPresse mitgeteilt – Ihr Konzept vorgelegt haben, war dieFinanzierung überhaupt noch nicht gesichert; es gab nurEckpunkte.
Darüber haben Sie mit dem Finanzminister noch wochen-lang gestritten.
Der Finanzminister wollte die Reform erst im Jahr 2002in Kraft treten lassen.Jetzt haben Sie einen Kompromiss geschlossen undnennen ein neues Datum für das In-Kraft-Treten, nämlichden 1. April 2001. Damit setzen Sie sich in Widerspruchzu dem Bericht Ihrer Regierung über die Entwicklung desBAföG. In ihm steht, dass aus dem Anstieg der Lebens-haltungskosten eine Anhebung der Bedarfssätze und Frei-beträge zum Herbst 2000 abgeleitet werden kann und dassdie Entwicklung der Nettoeinkommen eine noch höhereAnpassung rechtfertigt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Friedrich, ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.
Das
heißt, Sie verschieben nicht nur die inzwischen von allen
Ländern dringend angemahnte Totalsanierung des
BAföG, sondern nehmen auch in Kauf, dass das Förder-
niveau vorübergehend erneut absinkt. Dafür werden al-
lein Sie die Verantwortung übernehmen müssen.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Matthias
Berninger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor kurzemhat die OECD eine Studie mit dem Titel „Bildung auf ei-nen Blick“ vorgestellt, in der die Industrieländer, diewohlhabenden Länder dieser Welt, und deren Bildungs-systeme miteinander verglichen wurden. Auffällig ist,dass in Deutschland der Anteil eines Altersjahrgangs, deran eine Hochschule geht, erschreckend niedrig ist: niedri-ger als in den meisten anderen Ländern, niedriger als imDurchschnitt aller OECD-Länder.Hier ist von allen Seiten beklagt worden, dass inDeutschland der Geldbeutel darüber entscheidet, ob je-mand an die Uni geht oder nicht. Eine Errungenschaft derBildungsreform ist, dass der Anteil von Frauen bei denStudienanfängern knapp 50 Prozent beträgt, dass alsoGleichberechtigung gegeben ist.
Im Hinblick auf die Einkommen der Eltern der Studieren-den haben wir aber überhaupt noch nichts erreicht.Bei allem Streit über die BAföG-Reform sollte mansich dieses Ziel ganz oben auf die Fahnen schreiben. Hiermuss sich in den nächsten Jahren etwas ändern. InDeutschland müssen mehr junge Menschen studieren. DieBegabungsreserven kann man vor allem dort wecken, wodie Leute nicht studieren, weil die Eltern die notwendigenMittel nicht zur Verfügung stellen können, obwohl derenKinder die Fähigkeiten zum Studieren hätten. Wenn wirüber BAföG reden, sollten wir uns meiner Meinung nachzunächst einmal über diesen Punkt verständigen.
Ein zweiter wichtiger Punkt ist für mich die Diskussionüber die BAföG-Reform. Ich hätte es für besser gehalten,wir hätten eine BAföG-Strukturreform gemacht, die dasklare Signal an die Familien gesandt hätte, dass unabhän-gig von den Eltern Studierende gefördert werden können.Die elternunabhängige Studienfinanzierung ist ausmeiner Sicht nach wie vor das bessere Modell im Ver-gleich zu der bisherigen, am Elterneinkommen orientier-ten Ausbildungsförderung.
– Da Sie von beiden Seiten klatschen, muss ich sagen,dass Sie von der PDS nur eine halbe elternunabhängigeFörderung wollen.
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Dr. Gerhard Friedrich
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Das ist so, als wollte man über einen Bach springen,springt aber nur bis zur Mitte. Dass dies das Problem löst,bezweifle ich.Eine Ungerechtigkeit, die heute noch nicht thematisiertworden ist, besteht darin, dass wir zwei Formen der För-derung haben: Über das Steuerrecht fördern wir die wohl-habenden Familien. Wir geben sehr viel Geld dafür aus,dass sie entlastet werden, wenn ihre Kinder studieren.Über das BAföG fördern wir diejenigen Familien, die we-nig Geld haben. Der Unterschied besteht darin, dass derSteuervorteil zu keinerlei Rückzahlungsverpflichtungenführt, was, wie wir wissen, zumindest für die Hälfte desBAföG gilt. Diese Ungerechtigkeit wird auch nach derReform fortbestehen. Ich persönlich halte dies sozialpoli-tisch für nicht verantwortbar und familienpolitisch fürfalsch.
Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft werden wir nurdann einen kräftigen Schritt vorankommen, wenn wir dieFamilien komplett von der Verantwortung für ihre Kinderim Studium entlasten.Nun aber zur konkreten Reform: Herr KollegeFriedrich, wir haben es – natürlich im zähen Kampf mitdem Finanzminister – geschafft, 0,5 Milliarden DM zu-sätzlich im Haushalt zu mobilisieren. Das bedeutet, dasswir insgesamt weitere 1,3 Milliarden DM in das BAföGhineinstecken können. Die bedürftigen Familien inDeutschland können mit 1,3 Milliarden DM mehr für dieStudierendenförderung rechnen. Klar war das ein harterKampf mit Herrn Eichel; das ist überhaupt keine Frage.Im Kabinett ist es aber beschlossen worden. Die Ministe-rin hat sich an dieser Stelle durchgesetzt.
Ich möchte Ihnen einmal ein paar Zahlen vorlesen, diedie Dimension deutlich machen. Die BAföG-Ausgabensind im Jahr 1991 um 18Millionen DM gesunken, im Jahr1992 um 244 Millionen DM, im Jahr 1993 um 268 Milli-onen DM, im Jahr 1994 um 164 Millionen DM. 1995 hatder Bund 85 Millionen DM weniger für das BAföG aus-gegeben, 1996 202 Millionen DM weniger und 1997 hatman sich darüber gefreut, dass es nur noch 41 Milli-onen DM weniger als im Vorjahr waren. Da hat man stolzdavon gesprochen, dass die Talfahrt gestoppt ist.In Ihrer Verantwortungszeit – ich beziehe mich nur aufdiese Phase – ist das Sozialleistungsgesetz BAföG zu ei-nem absoluten Nichts verkommen und ausgeblutet wor-den. Das ist auch der Grund dafür, warum heute nur sowenige Kinder aus einkommensschwachen Familien – essind übrigens viel weniger, als das früher der Fall war –studieren.
Es ist natürlich überhaupt keine Frage: Auch die Län-derfinanzminister haben sich die Hände gerieben. Ichhalte es nicht für verantwortbar, dass sie dieses Geld ein-gespart haben. Es gibt aber einen Unterschied: UnsereMinisterin wird Ihnen einen Gesetzentwurf vorlegen, indem 1,3 Milliarden DM mehr ausgegeben werden undnicht Hunderte von Millionen DM weniger. Das ist einwichtiger Unterschied.
Die Koalitionsfraktionen haben in ihrem Antrag dieBundesregierung aufgefordert, zum 1.April nächsten Jah-res die BAföG-Reform auf den Weg zu bringen. Der1. April ist ein realistisches Datum.
Wir werden, wenn wir so viel Geld in das BAföGstecken, wie wir es heute vorhaben – es geht um 1,3 Mil-liarden DM –, an vielen Stellen innerhalb des Gesetzesüberlegen müssen: Sind bestimmte Regelungen nochsinnvoll oder nicht, können wir das BAföG entbürokrati-sieren? Das bedarf eines geordneten Verfahrens. Diesesgeordnete Verfahren heißt: Im Herbst beschließt das Kabi-nett, im Winter berät der Bundestag und im Frühjahr trittdie BAföG-Reform in Kraft.
Sie haben beispielsweise Forderungen gestellt, überdie man gründlich nachdenken muss – das werden wirauch tun –, so etwa über die Forderung, die Darlehens-schuld zu begrenzen, damit diejenigen, die am meistenbedürftig sind, am wenigsten durch die BAföG-Schuldenbelastet werden. Das ist ein interessanter Vorschlag, denauch die Ministerin angesprochen hat und von dem wirglauben, dass man ihn gründlich überprüfen und abwägensollte, ob er sinnvoll ist.
Dafür brauchen wir aber die Zeit bis zum 1. April.Ich glaube, dass es in dieser Zeit gelingen wird, dieBAföG-Regelungen zu sanieren. Dass wir sie total sanie-ren werden, bezweifle ich. Ich habe Ihnen auch erklärt,warum: Ich glaube, es wird in den nächsten Jahren struk-tureller Reformen innerhalb der Ausbildungsförderungbedürfen. Wir werden aber in diesem Gesetz so vieleDinge verändern, dass es am Ende nicht am BAföG lie-gen wird, wenn nur wenige Leute aus einkommens-schwachen Familien studieren.
Natürlich haben auch die Schulen eine große Verant-wortung, dafür zu sorgen, dass Leute auch dann eineChance zum Abitur erhalten, wenn sie aus einer Familiestammen, die Sozialhilfe bezieht. Die Zahlen, die uns aufdem Tisch liegen, sind erschreckend. Das wissen wir alleund das macht uns alle besorgt.Ich möchte noch zwei Bemerkungen zu der Strukturre-formdiskussion machen. Innerhalb der Rentenreformwird es jetzt eine Reform des Unterhaltsrechts geben.
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Matthias Berninger10805
Das hat Arbeitsminister Riester angekündigt, und das istvernünftig. Warum sollen diejenigen, die Kinder in dieWelt gesetzt haben, dann, wenn sie im Alter von Armutbetroffen sind, ihre Kinder belasten, während andere, dieohne Kinder durchs Leben gegangen sind, zum Sozialamtgehen können?Hier werden die Unterhaltsbeziehungen zwischen Er-wachsenen gekappt. Wir sollten das zum Anlass nehmen,insgesamt darüber nachzudenken, ob die Unterhaltsbezie-hungen zwischen Erwachsenen – zwischen erwachsenenStudierenden und ihren Eltern und zwischen Rentnerin-nen und Rentnern und ihren Kindern – noch vernünftiggeregelt sind. Dafür wollen wir eine Reformkommissionzur Zukunft der Bildungsfinanzierung einsetzen.Wir wollen diese Reformkommission, weil wir sagen:Auf dem Weg zum lebenslangen Lernen ist eine zentraleFrage, wie man die Vorsorgeleistungen der Menschen fürdie Bildung steuerlich begünstigen kann. Wir wollen dieReformkommission, weil wir nicht selbstsicher sagen,diese BAföG-Reform wird der größte Erfolg in der Ge-schichte der Republik, sondern weil wir prüfen wollen, obdas Ziel erreicht wird oder ob weitere Maßnahmen nötigsind. Wir wollen die Reformkommission, weil die Struk-turreformdiskussion über das BAföG gezeigt hat: Es gibtin Deutschland viele Menschen, viele Verbände und sehrviel Engagierte, die sich mit diesem Thema beschäftigen.Diese Menschen wollen wir an einen Tisch holen, um mitihnen über vernünftige Lösungen über den Tag hinaus zudiskutieren. Ich halte das für eine gute Sache.Am meisten freue ich mich, dass wir uns bereits auf ei-nen Punkt geeinigt haben, der ein Stück weit Elternunab-hängigkeit repräsentiert. Der Kollege Hilsberg hat ihn be-reits angesprochen. Dadurch, dass wir den Studierendendie Möglichkeit geben, elternunabhängig Bildungskre-dite in Anspruch nehmen zu können, wollen wir einen un-bürokratischen Weg gehen, der es den Studierenden er-laubt, nicht jobben zu müssen, sondern schneller das Exa-men zu machen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Berninger, auch Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Es darf nämlich nicht sein, dass Deutschland die jüngsten
Rentner und die ältesten Studenten hat. Deshalb wollen
wir ein Instrument schaffen, das das Studium beschleu-
nigt.
Mein Appell, insbesondere an die unionsgeführten
Länder, lautet: Machen Sie dafür ebenfalls den Weg frei.
Die Koalitionsfraktionen werden ihren Anteil dazu bei
den Haushaltsberatungen abliefern.
– Das Konzept, Herr Kollege Rachel, legen wir Ihnen
selbstverständlich gern vor.
– Alles zu seiner Zeit, im Herbst.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Cornelia Pieper für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich sage noch einmal deut-lich: Wir beraten heute nicht über eine Strukturreform derBundesausbildungsförderung, sondern über Anträge derRegierungskoalition und der Union, die auf eine Er-höhung der Bedarfssätze und Freibeträge hinauslaufen,
sozusagen über eine zukünftige 21. Novelle. Insbeson-dere die Regierungskoalition verabschiedet sich damitvon ihrem Vorhaben, eine echte Reform auf den Weg zubringen.Meine Damen und Herren von der Regierungskoali-tion, ich möchte Sie, Frau Ministerin, daran erinnern, wasSie bei der Beratung des 20.Gesetzes zur Änderung derBundesausbildungsförderung 1999 gesagt haben. Da-mals sagten Sie – ich zitiere mit Genehmigung der Präsi-dentin:Ich habe ... gesagt, dass wir zwar mit der vorliegen-den BAföG-Novelle eine Trendwende hin zu mehrChancengleichzeit und sozialer Gerechtigkeit einlei-ten, dass aber die Hauptaufgabe noch vor uns liegt,nämlich eine grundlegende Reform der Ausbildungs-förderung.Wir werden hierzu bis Ende dieses Jahres ein ent-scheidungsreifes Konzept vorlegen. Wir bauen beiunseren Überlegungen auf den breiten Konsens auf,ausbildungsbezogene staatliche Leistungen wie Kin-dergeld und Freibeträge zu einer elternunabhängigenFörderung zusammenzufassen.Frau Ministerin, genau das, was Sie wollten, sieht un-ser Gesetzentwurf vor, den wir heute hier nicht mitbera-ten. Ich weiß das, aber ich wollte Sie einfach noch einmalan Ihre Vorhaben in der Regierungskoalition und auch andie Beschlüsse des SPD-Bundesparteitages erinnern.Die Wahrheit, meine Damen und Herren von der Re-gierungskoalition, ist: Sie sind mit Ihren richtigen Vor-stellungen für eine echte Strukturreform vom Bundes-kanzler zurückgepfiffen worden. Es verlief nach dem be-kannten Schema – wir wissen es alle, denn dies passiertöfter und auch vor den Augen der Öffentlichkeit –: großeVersprechen im Wahlkampf, auch einmal in der Regie-rungserklärung und im Koalitionsvertrag. Dann erklärtder Kanzler der jungen Generation, als der er sich gernesieht, die BAföG-Reform zur Chefsache und erledigt esauf seine Weise: Sie findet nicht statt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Matthias Berninger10806
Die richtige Idee einer elternunabhängigen Förde-rung für junge Erwachsene in der Ausbildung opfern Siesozusagen einer unsachlichen und demagogischen Argu-mentation des Kanzlers selbst: Er könne auf die Wähler-stimmen der Häuslebauer nicht verzichten, die das Kin-dergeld und das durch Ausbildungsfreibeträge gesparteGeld zur Abzahlung ihrer Schulden verwenden. Ich finde,dies ist eine Anmaßung gegenüber diesem Parlament, dasdie Steuerfreibeträge, die die Eltern junger Menschen biszu deren 27. Lebensjahr geltend machen können, geneh-migt hat, damit die Ausbildung finanziert und das Geldnicht artfremd verwendet wird. Ich glaube, dies ist einedemagogische und unsachliche Argumentationsführung,die wir in diesem Hohen Hause nicht dulden können.
Mit anderen Worten: Diese Regierung ist gewiss nichtder Anwalt der jungen Generation,
denn Sie haben Ihr Wort gegenüber den jungen Menschengebrochen.Eines ist auch gewiss: Der Druck der Opposition, ins-besondere auch durch unseren F.D.P.-Gesetzentwurf, hatIhnen wenigstens geholfen, dem Finanzminister dieserund 500 Millionen DM aus dem Haushalt 2001 abzurin-gen. Ohne den Druck der Opposition hätten Sie das nichtgeschafft.
Ich will Ihnen noch eines entgegenhalten: Die angebli-che Nichtfinanzierbarkeit einer Strukturreform ist vonIhrem eigenen Hause, sprich: vom Ministerium, widerlegtworden. Ich habe ausrechnen lassen, welche Kosten mitunserem Gesetzentwurf zum Ausbildungsgeld verbundensind. Dies wären Mehrkosten in Höhe von 3,5 bis 4 Mil-liarden DM. Ich habe schon aus der Expertenanhörung zi-tiert. Das Deutsche Studentenwerk hat in dieser An-hörung noch einmal daran erinnert, dass im Gesetz ur-sprünglich vorgesehen war, dass Rückflüsse, die schonjetzt von Studierenden, die fertig sind, kommen, zur Refi-nanzierung beitragen sollen. Diese verschwinden in Höhevon 6Milliarden DM im Gesamthaushalt. Dies finden wirnicht richtig. Dies entspricht auch nicht dem ursprüngli-chen Anliegen des Gesetzentwurfes.
Sie von der Regierungskoalition wollen mit Ihrem An-trag, wie ich schon sagte, unter anderem entbürokratisie-ren – das kann ich eigentlich nur begrüßen –, die Be-darfssätze auf 1 100 DM anheben, die Freibeträge ohneAnrechnung des Kindergeldes erhöhen und die Unter-schiede zwischen Ost und West abbauen, die sich aufWohnkosten und Krankenversicherungszuschläge bezie-hen.Frau Ministerin, Letzteres haben wir Ihnen bereits voreinem Jahr empfohlen. Da argumentierten Sie übrigensnoch, die Lebenshaltungskosten im Osten seien viel ge-ringer und die Härtefallregelung im bisherigen Gesetzausreichend. Ich freue mich, dass jetzt zumindest unseredamalige Argumentation gegriffen hat und Sie diesenSchritt der Angleichung bei der Gesetzesänderung tunwollen.Aber ich frage Sie auch: Wo bleibt eigentlich Ihr Ge-setzentwurf? Wir beraten hier über einen Antrag, der ne-bulös im Raum steht. Ein Gesetzentwurf der Regierungliegt bis jetzt nicht vor. Sie wollen – so haben Sie uns imAusschuss versprochen – bis Ende des Jahres eine Geset-zesnovelle vorlegen, die dann unserem Gesetzentwurf miteiner echten Strukturreform gegenüberstehen wird.Der eigentliche Skandal ist, dass Sie sich, ohne einenGesetzentwurf vorgelegt zu haben, im Haushalt 2001 ei-nen Blankoscheck von der Opposition ausstellen lassenwollen. Das geht nicht, meine Damen und Herren. Ichhabe mich gefragt, warum Sie Ihren Gesetzentwurf, fürden Sie auch schon, ich glaube, vor etwa einem halbenJahr auf einer Bundespressekonferenz geworben haben,hier heute nicht vorlegen. Als schlüssige Argumentationfiel mir dazu nur ein: Dann müssten Sie wahrscheinlichbereits ab diesem Herbstsemester höheres BAföG, höhereBedarfssätze und Freibeträge finanzieren. Aber das wol-len Sie nicht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Pieper,
ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.
Ich komme zum Schluss,
Frau Präsidentin. – Sie, die Koalition, vertrösten die Stu-
denten. Sie versuchen mit einer Hinhaltetaktik, den Stu-
dierenden vorzugaukeln, dass Sie für die Auszubildenden
etwas tun würden. Sie tun das Gegenteil: Sie wollen die
Änderung des Gesetzes zum Wahlkampfschlager machen.
Erst ab Sommersemester nächsten Jahres soll die BAföG-
Novelle rechtswirksam sein.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, bitte
kommen Sie zum Schluss.
Ich sage Ihnen, meine Da-
men und Herren von der Regierungskoalition: Wir halten
diesen Opportunismus für nicht akzeptabel. Wir werden
dafür sorgen und Sie auch davon überzeugen, dass wir
eine echte Strukturreform der Bundesausbildungsförde-
rung brauchen.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin istfür die PDS-Fraktion die Kollegin Maritta Böttcher.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Cornelia Pieper10807
Frau Präsidentin! Sehr ge-
ehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich frage: Wie lange,
meine Damen und Herren von der Koalition, möchten Sie
die Studentinnen und Studenten eigentlich noch an der
Nase herumführen? Mit Ihrer Bildungs- und Hochschul-
politik machen Sie es der Opposition in diesem Haus
wirklich leicht.
Das entwaffnendste Argument gegen Ihre Versäum-
nisse ist immer noch Ihre eigene Koalitionsvereinba-
rung. Aus diesem Papier – man muss wohl leider sagen:
zeitgeschichtlichen Dokument – hat Kollegin Pieper eben
zitiert. Ich will dieses Zitat nicht wiederholen. Die
entscheidende Absicht, nämlich die ausbildungsbezoge-
nen staatlichen Leistungen zusammenzufassen und dieses
Konzept Ende 1999 vorzulegen, ist eindeutig und klar,
aber nicht erfüllt.
– Sie können mir gerne eine Frage stellen, Frau Wimmer.
Als die Ministerin im Januar verkünden musste, dass
sie sich aufgrund eines Machtworts des Bundeskanzlers
auch von diesem Reformprojekt zu verabschieden hatte,
war der Sturm der Entrüstung groß, nicht nur bei der PDS,
die seit Jahren eine echte Strukturreform der Ausbil-
dungsförderung fordert, sondern auch bei Ihren eigenen
Jugend- und Studentenverbänden, beim Deutschen Stu-
dentenwerk und bei der Hochschulrektorenkonferenz.
Völlig zu Recht mussten Sie sich den Vorwurf des Wahl-
betrugs gefallen lassen, da die Studierenden mit dem Re-
gierungswechsel 1998 die Hoffnung auf eine spürbare
Verbesserung ihrer sozialen Lage verknüpft hatten.
Von Ihnen wurden sie bitter enttäuscht.
Um die Wogen zu glätten, haben Sie im Januar buch-
stäblich über Nacht Eckpunkte für eine BAföG-Reform
präsentiert, mit denen anstelle der versprochenen Struk-
turreform der Ausbildungsförderung die Leistungen des
geltenden BAföG verbessert werden sollten. Ein halbes
Jahr ist es jetzt her, dass Sie diese Eckpunkte vorgelegt ha-
ben; aber – ich wiederhole es – es liegt noch immer kein
Gesetzentwurf der Bundesregierung vor.
– Genau.
Als Termin für die Einbringung des Gesetzentwurfs in
den Bundestag geben Sie mittlerweile November oder
Dezember an. Damit verspielen Sie kostbare Zeit. Aber
mit jedem einzelnen Semester, mit dem Sie die BAföG-
Reform auf die lange Bank schieben, legen Sie Hundert-
tausenden Studentinnen und Studenten Knüppel in den
Weg zu einem erfolgreichen Studienabschluss.
Fangen Sie endlich an, Politik zu machen, statt nur davon
zu reden!
425MillionenDM wollen Sie im Bundeshaushalt 2001
zusätzlich für die Ausbildungsförderung bereitstellen. Bei
allem Respekt für diese zusätzlichen Leistungen: Selbst
inklusive der Leistungen der Deutschen Ausgleichsbank
erreichen die BAföG-Aufwendungen des Bundes nicht
einmal das Niveau von 1994. 1994 war aber genau der
Zeitpunkt, als das Deutsche Studentenwerk eine Krise
des BAföG diagnostizierte und die Diskussion über eine
Strukturreform anstieß.
Gleichzeitig sind die jährlichen Darlehensrückzahlun-
gen ehemalig Studierender seit 1995 um über 300 Milli-
onen DM gestiegen.
Ich fordere Sie auf: Hören Sie auf, mit diesen enormen
Summen Löcher im Bundeshaushalt zu stopfen und set-
zen Sie das Geld aus den Portemonnaies ehemaliger
BAföG-Empfänger für eine zusätzliche Verbesserung der
Ausbildungsförderung ein!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin
Böttcher, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Berninger?
Selbstverständlich.
Frau Kollegin, Sie haben eben gesagt, die Reform, die wir
jetzt in Gang setzen wollen, würde das Niveau von 1994
nicht erreichen. 1994 wurden 3,1 Milliarden DM für das
BAföG ausgegeben. Am Ende der Reform werden wir
aller Wahrscheinlichkeit nach 3,4 Milliarden DM, viel-
leicht sogar 3,5 Milliarden DM für das BAföG mobilisie-
ren. Vor dem Hintergrund frage ich Sie: Bleiben Sie bei
Ihrer Aussage? Ist sie nicht falsch?
Ich bleibe bei meiner Aus-sage, da ich andere Zahlen zur Grundlage habe. Ich gebedie Frage zurück: Wenn das so ist, warum machen Siedenn dann keine Strukturreform?
Insofern hält die PDS an ihrem Vorschlag einer struk-turellen Erneuerung der Ausbildungsförderung fest undstellt ihre Alternative zur Regierungspolitik der leerenVersprechen heute zur Abstimmung. Das hat einen einfa-chen Grund: Wenn wir die bisherigen Leistungen des Fa-milienlastenausgleichs bündeln, so wie es versprochenwurde, und direkt an die Studentinnen und Studenten aus-zahlen, können wir auf einen Schlag und mit nur geringenzusätzlichen Belastungen für die Haushalte des Bundesund der Länder das BAföG zumindest um 400 DM oder500 DM – um diese Zahl will ich mich jetzt nicht strei-ten – pro Monat erhöhen, ohne dass es zurückzuzahlenwäre.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 200010808
Gleichzeitig machen wir Schluss mit der steuerlichenPrivilegierung von besser verdienenden Eltern von Stu-denten. Die Studierenden würden ein gutes Stück unab-hängiger von ihren Eltern und von übermäßiger Erwerbs-arbeit.Wenn wir der Realisierung von Chancengerechtigkeitnäher kommen wollen, müssen Sie unserem Antrag heutezustimmen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat die Bun-
desministerin für Bildung und Forschung, Edelgard
Bulmahn.
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lie-
ben Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung ist
mit dem Versprechen angetreten, unser Land zu moderni-
sieren. Dieses Versprechen halten wir. Die Erhöhung der
Zukunftsinvestitionen in Bildung und Forschung, die wir
im kommenden Jahr zum dritten Mal durchführen wer-
den – wir haben sie 1999 und 2000 durchgeführt und auch
2001 wird sie 780 Millionen DM betragen –, ist die
Grundlage für Lebenschancen von morgen, die Grund-
lage für Innovation, Wohlstand und Arbeitsplätze.
Wir setzen dabei auf ein hochwertiges Bildungssys-
tem. Das können wir nicht alleine leisten, sondern nur ge-
meinsam mit den Ländern. Aber wir tun unseren Teil
dafür. Wir setzen darauf, dass junge Menschen in Schu-
len, Hochschulen und Betrieben fundiert ausgebildet wer-
den und dass eine exzellente Forschung durchgeführt
wird. Wir setzen auf eine rasche und breite Verwendung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die BAföG-Reform
ist die wichtigste Voraussetzung dafür, dass alle jungen
Menschen diese Bildungschancen unabhängig vom Geld-
beutel auch tatsächlich nutzen können.
Ich muss mich jetzt sowohl an Sie, Frau Pieper, als
auch an die PDS wenden. Sie verwechseln zwei Dinge.
Sie verwechseln eine Veränderung und eine Umstellung
der Familienförderung, die keinem Studierenden aus ei-
ner einkommensschwächeren Familie tatsächlich eine
müde Mark mehr bringen würde, mit der BAföG-Reform.
Deshalb sind es zwei getrennte Dinge, über die man redet.
Wir brauchen eine BAföG-Reform, wenn wir errei-
chen wollen, dass auch Jugendliche aus einkommens-
schwächeren Familien Bildungschancen nutzen können.
Daran geht überhaupt kein Weg vorbei. Wir brauchen eine
Totalsanierung des BAföG.
Das angestrebte Ziel können Sie durch eine Umstellung
der Familienförderung nicht erreichen, sondern Sie müs-
sen die BAföG-Reform durchführen, weil nur das zur
Folge haben wird, dass gerade Studierende aus einkom-
mensschwächeren Familien tatsächlich mehr Geld in die
Hand bekommen. Das ist der wesentliche Unterschied,
das kann man nicht gleichsetzen. Es geht um zwei völlig
verschiedene Dinge, nämlich zum einen um die Verände-
rung des Unterhaltsanspruches und der Unterhaltsbezie-
hungen zwischen Eltern und Kindern und zum anderen
um die Förderung von Studierenden aus einkommens-
schwächeren Familien. Die Veränderung der Unterhalts-
beziehungen zwischen Eltern und Kindern bringt den Stu-
dierenden aus einkommensschwächeren Familien nicht
mehr Geld. Insofern hat Herr Friedrich Recht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage der Abgeordneten Pieper?
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Ich will noch auf einen zweiten Punkt ein-
gehen, vielleicht können wir die Frage dann im Zusam-
menhang klären, Frau Pieper.
Die Totalsanierung des BAföG, so wie ich sie vorge-
schlagen habe, ist notwendig. Mit der von uns vorgestell-
ten Reform werden wir insgesamt mehr als 1 Milliarde
DM zusätzlich für BAföG mobilisieren. Meine Vorredner
haben darauf hingewiesen, wie das BAföG unter der Re-
gierungskoalition von CDU/CSU und F.D.P. abgebaut
und zurückgeschraubt worden ist. Deshalb finde ich es
einfach nicht glaubwürdig, wenn man jetzt hier sagt: Es
ist alles bei weitem nicht genug. – Sie haben 16 Jahre lang
Zeit gehabt, um das BAföG zu modernisieren, und haben
es nicht getan.
Lassen Sie mich ein Zweites sagen. Ich habe von An-
fang an für diese Bundesregierung erklärt, dass die grund-
legende BAföG-Reform im Jahre 2001 in Kraft treten
soll. Deshalb ist schlichtweg falsch, wenn hier von Ver-
zögerung geredet wird. Wir haben von Anfang an gesagt:
Wir gehen in zwei Schritten vor: Wir machen erst eine
BAföG-Novelle, mit der wir den Abbau des BAföG stop-
pen, und werden dann mit Beginn des Jahres 2002 die
richtige Strukturreform – die ich Totalsanierung genannt
habe – in Kraft treten lassen. Genauso gehen wir jetzt
auch vor.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Ministerin, ge-statten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Pieper?Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung: Ich habe vorhin gesagt, dass ich das in ei-nem Komplex zusammen abhandeln will, weil ich an-schließend auf die BAföG-Höhe eingehen möchte.Ein Blick zurück: Wir haben unter der Regierungsver-antwortung der CDU/CSU- und F.D.P.-Koalition eineHalbierung der Zahl der BAföG-geförderten Studenten
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Maritta Böttcher10809
hinnehmen müssen. Das hatte zur Folge, dass immer mehrStudierende vor dem Problem standen: „Wie finanziereich meinen Lebensunterhalt?“ und auf Jobsuche gehenmussten. Ihre Ausgestaltung des BAföGs hatte auch zurFolge, dass diejenigen BAföG-Empfänger, die auf dieHöchstförderung angewiesen waren, am Ende des Studi-ums – nicht zuletzt vor dem Hintergrund unsicherer Be-rufsaussichten – vor dem höchsten Schuldenberg standen.All dies hatte letztlich zur Konsequenz, dass sich vorallen Dingen Jugendliche aus einkommensschwächerenFamilien von einem Studium haben abschrecken lassen.Das Ergebnis führt uns der neueste OECD-Bericht, derdie Situation bis zum Jahre 1998 beschreibt, deutlich vorAugen: Wir haben im internationalen Vergleich erheblichzu wenig Studierende. In anderen Ländern nehmen40 Prozent eines Jahrgangs ein Studium auf, während esin Deutschland nur 28 Prozent sind. Das können wir unsin einem Land, das in hohem Maße auf das Know-how,auf das Können und das Wissen gerade der jungen Men-schen angewiesen ist, überhaupt nicht leisten.
Ich sage ganz klar: Wir wollen es uns auch deshalb nichtleisten, weil es dem Grundsatz der Chancengleichheit wi-derspricht. Dieser Grundsatz ist für uns ein wichtiger Eck-pfeiler der Politik.Die aktuelle Diskussion um die Green Card und umden Fachkräftemangel im informationstechnischen Bereichhat sehr deutlich gezeigt, wohin es führt, wenn Ausbildungund Qualifizierung jahrelang vernachlässigt werden. Des-halb sind wir so vorgegangen, wie ich es beschrieben habe:Wir haben zunächst das 20. BAföG-Änderungsgesetz initi-iert, mit dem wir die Studierenden vor einer Bruchlandungbewahrt haben, und legen jetzt die Eckpunkte für die ei-gentliche Reform vor. Ich habe immer gesagt, wir werdensie im Frühherbst, am Ende der Sommerpause, in Form ei-nes Referentenentwurfs vorlegen. Bei dieser Zeitplanungbleiben wir.Das heißt, wir können im parlamentarischen Bera-tungsverfahren auch so vorgehen – das ist unser Wille –,dass diese Reform zum 1. April des kommenden Jahres,also mit Beginn des Sommersemesters, in Kraft tretenwird. Eine Reform kann nicht mitten im Semester in Krafttreten. Das wissen Sie genauso wie ich. Sie muss vielmehrmit Semesterbeginn in Kraft treten. Genau das werden wirvom 1. April des nächsten Jahres an tun.
Mit dieser Totalsanierung werden wir erreichen, dasswir wieder deutlich mehr Studierende fördern, als es inder Vergangenheit der Fall war. Bei der Berechnung desBAföG wird das Kindergeld künftig nicht mehr ange-rechnet. Davon profitieren zum Beispiel Eltern mit mitt-lerem Einkommen.
Die Freibeträge, die für die anrechenbaren Einkom-men maßgeblich sind, werden deutlich angehoben. Dashabe ich übrigens schon im Herbst letzten Jahres bei einerVeranstaltung des DSW gesagt. Das kann man alles imProtokoll nachlesen.Wir verbessern auch die Leistungen der Ausbildungs-förderung. Wir erhöhen das BAföG auf den Höchstsatzvon 1 100 DM. Zusammen mit dem Kindergeld stehen ei-nem Studierenden dann 1 370 DM zur Verfügung. Das isteine Summe, von der man leben kann.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir machen nicht nurdas, sondern wir führen auch grundsätzliche Neuerungenein. Wir reden nicht nur über Internationalisierung, son-dern wir fördern sie auch. Wir setzen bei den Studieren-den auf eine Ausbildung im Ausland. Während die Vor-gängerregierung die BAföG-Empfänger, die im Auslandstudieren wollten, mit der Nichtanrechnung der zu-sätzlichen Auslandssemester bestraft hat, werden wir dieAusbildung im Ausland fördern, und zwar ohne engeGrenzen und ohne Bestrafung.
Wir werden sie fördern, weil wir davon überzeugt sind,dass Auslandserfahrung notwendig ist, und weil wir wis-sen, dass Auslandserfahrung nicht ein Extraluxus für ei-nige wenige, die es sich leisten können, ist, sondern fürden akademischen Werdegang eine große Rolle spielt undvon vielen Unternehmen inzwischen ein wichtiges Ein-stellungskriterium ist.Mit dieser Förderung, der parallelen Entwicklung in-ternationaler Studiengänge, der Einführung der bekann-ten Bachelor- und Master-Abschlüsse sowie dem Ausbauvon Austauschmaßnahmen treiben wir die Internati-onalisierung der Hochschulen voran. Mit der Reform desBAföG ermöglichen wir es den BAföG-Empfängern,diese Chancen zu nutzen, weil wir nicht wollen, dassBAföG-Empfänger Studierende zweiter Klasse sind. Wirwollen nicht, dass sie sich nur eine Schmalspurausbildungim Ausland leisten können.
Wir werden Gleichberechtigung und Gleichheit auch fürStudierende, die BAföG erhalten, herstellen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Ministerin, ent-
schuldigen Sie, dass ich Sie noch einmal unterbreche. Da
die Kollegin Pieper ihre Frage aufrechterhält, möchte ich
Sie fragen, ob Sie sie jetzt zulassen.
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Das tue ich.
Frau Ministerin, Sie spra-chen von der Ungleichbehandlung, die insbesonderedurch das Ausbildungsgeld hergestellt werden würde. Dasgelte insbesondere auch für die Personen, die aus einkom-mensschwachen Familien kommen. Würden Sie nicht derArgumentation Ihres Kollegen Herrn Berninger von derFraktion Bündnis 90/Die Grünen folgen, der logisch auf-
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Bundesministerin Edelgard Bulmahn10810
gezeigt hat, dass wir bei der derzeitigen BAföG-Regelungaufgrund der ständigen Erhöhung der Steuerfreibeträgedurch dieses Gesetz eher eine Bevorteilung der Studentenhaben, die aus besser verdienenden Familien kommen?Stimmen Sie mir zu, dass durch ein einheitliches Ausbil-dungsgeld für alle, aber auch durch Zuschüsse für eine be-grenzte Schicht aus einkommensschwachen Familieneine sehr starke Differenzierung durch das von uns vor-geschlagene Drei-Körbe-Modell hergestellt wird und eineUngleichbehandlung aufgehoben wird?Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung: Nein, Frau Pieper, ich kann Ihnen deshalbnicht zustimmen, weil Sie auch bei einer Änderung derFamilienförderung für Studierende aus Familien mit ei-nem geringen Einkommen eine zusätzliche Ausbildungs-förderung brauchen. Das haben Sie in Ihrem Modell vor-gesehen; das sehen Sie also selber. Sie brauchengrundsätzlich eine Totalsanierung der individuellen Aus-bildungsförderung, wenn Sie erreichen wollen, dassChancengleichheit nicht nur eine Phrase bleibt, sondernauch tatsächlich umgesetzt wird. Deshalb muss die Total-sanierung des BAföG stattfinden. Wenn man Chancen-gleichheit erreichen will, geht daran kein Weg vorbei. Miteiner Totalsanierung des BAföG werden wir dieses Zielerreichen. Das können Sie allein durch eine Umstellungder Familienförderung nicht erreichen.Das zweite Problem, das Sie angesprochen haben, ent-steht durch eine Senkung der Steuereingangssätze undeine Anhebung der Steuerfreibeträge. Es könnte die Si-tuation entstehen, dass Studierende aus einkommens-schwachen Familien nicht mehr BAföG-berechtigtwären, wenn wir die Einkommensfreigrenzen nicht anhe-ben. Deshalb heben wir ja die Einkommensfreigrenzenan. Das ist notwendig, damit Studierende aus Familien,die zum Beispiel ein Nettoeinkommen von rund4 000 DM haben, trotzdem BAföG-berechtigt sind. In un-serem Vorschlag ist genau diese Anhebung der Einkom-mensfreigrenzen vorgesehen.Ich möchte noch einen dritten Punkt in diesem Zusam-menhang ansprechen. Sie haben vorhin behauptet, FrauPieper, dass Ihr Vorschlag durch die BAföG-Rückflüssedurchaus finanzierbar sei. Das ist falsch. Als Sie die Zahl6Milliarden DM genannt haben, haben Sie eines nicht ge-sagt: Die 6 Milliarden DM sind die Summe der BAföG-Rückflüsse aus allen Jahren. Das ist also kein Rückflusspro Jahr. Auch ich muss das BAföG, das ich erhalten habe,zurückzahlen. Meine Rückzahlung und die Rückzahlun-gen aller anderen ehemaligen BAföG-Empfänger, die ir-gendwann einmal unterstützt worden sind, summierensich zu insgesamt 6 Milliarden DM. Aber Ihr Vorschlaghätte alleine schon 3,7 Milliarden bis 4 Milliarden DMpro Jahr an Kosten zur Folge, die zusätzlich zu dem kom-men, was wir jetzt vorgeschlagen haben. Deshalb ist IhrVorschlag beim besten Willen nicht finanzierbar. Wennman 6 Milliarden DM über einen langen Zeitraum vertei-len muss, dann kann man nach Adam Riese beim bestenWillen nicht zusätzlich zu dem, was wir hier vorgelegt ha-ben, noch 3,7 Milliarden bis 4 Milliarden DM pro Jahraufbringen. Ich bitte Sie, endlich einmal ein wirklich so-lides Finanzkonzept vorzulegen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Ministerin, die
Kollegin Pieper möchte eine kurze Nachfrage stellen. Ich
bitte Sie, kurz zu antworten.
Frau Ministerin, stimmenSie meiner Einschätzung zu, dass das Interesse an der De-batte über die Bundesausbildungsförderung in diesemHohen Hause anscheinend nicht sehr hoch ist, insbeson-dere nicht bei der Regierungskoalition? Anders kann ichdie Zwischenrufe nicht werten.
Würden Sie mir bitte die Anzahl der Anspruchsberech-tigten nennen, die durch Ihre Novelle, die Sie im Wintervorlegen wollen, zusätzlich gefördert werden sollen? Se-hen Sie insbesondere nach dem letzten Familienurteil vonKarlsruhe die Chancengleichheit gefährdet, wenn nichtalle Auszubildenden in die Bundesausbildungsförderungeinbezogen werden?
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung: Liebe Kollegin, ich muss – erstens – fest-stellen, dass das Interesse der Koalition, sowohl bei derSPD als auch beim Bündnis 90/ Die Grünen, an dieser Re-form sehr groß ist, wie ich sehe. Die Zahl der an dieser De-batte interessierten Abgeordneten Ihrer Fraktion kannman sogar an einer Hand abzählen. Es gibt offensichtlicheinen deutlichen Unterschied zwischen dem Interesse Ih-rer Fraktion sowie dem meiner Fraktion und der Fraktionvon Bündnis 90/Die Grünen. Unser Interesse ist sehrgroß.Ich werde – zweitens – die Novelle nicht im Wintervorlegen. Ich werde den Referentenentwurf vielmehrEnde dieses Sommers bzw. im Frühherbst vorlegen. Dashabe ich vorhin klar gesagt; das habe ich immer gesagt.Nehmen Sie also bitte zur Kenntnis: Er wird Ende diesesSommers bzw. im Frühherbst und nicht im Winter vorge-legt werden. Wenn die Novelle vorliegt, dann werden Sieauch Ihre übrigen Fragen, die Sie noch gestellt haben, be-antwortet finden.
Ich möchte jetzt noch ganz kurz auf weitere Eckpunkteder Reform eingehen. Wir gestalten die Verlängerung
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Cornelia Pieper10811
der Förderungsdauer im Hinblick auf die Kindererzie-hungszeiten bedarfsgerechter. Das ist vor allen Dingen fürweibliche Studierende mit Kind wichtig. Das ist natürlichauch für einige männliche Studierende wichtig, wenn sieKinder erziehen.
Das ist wichtig, weil wir Studierende mit Kindern nichtbenachteiligen wollen.Wir machen das BAföG einfacher und durchschauba-rer. Das kostet leider sehr viel Arbeit; denn jeder, derschon einmal einen Blick in das Gesetz geworfen hat,wird festgestellt haben, dass es ein wahnsinnig kompli-ziertes, bürokratisches Gesetz geworden ist, das leidernicht innerhalb von zwei Wochen reformiert werden kann.Wenn wir das Ziel erreichen wollen, ein einfacheres,durchschaubareres und damit für diejenigen, für die die-ses Gesetz gedacht ist, ein handhabbareres Gesetz zu ma-chen, dann müssen wir auch eine Menge an Mühe und Ar-beit aufwenden. Das ist notwendig. Ich möchte das Gesetzso verändern, dass in Zukunft jeder selber abschätzenkann, wie viel BAföG er erwarten kann, und jeder weiß,welchen Rechtsanspruch er hat. Damit soll Planungssi-cherheit und Überschaubarkeit hergestellt werden. Das istein wichtiges Ziel.Wir vereinfachen die selbst für Fachleute kaum nochverständlichen Ergänzungsregelungen. Die Regelung derWohnzuschläge nach der Härtefallverordnung verstehtkein Mensch mehr. Wir regeln das dort, wo es hingehört,nämlich im Gesetz.Außerdem planen wir – über die im Antrag der Koali-tionsfraktionen enthaltenen Punkte hinaus – eine Ober-grenze bei der Darlehensbelastung, Herr Friedrich. Ichhabe im letzten Jahr schon einmal gesagt, dass ich das fürnotwendig halte. Ich bin sehr froh, dass Sie diese Auffas-sung teilen. Von daher hoffe ich, dass wir zu einem Kon-sens kommen können. Ich bin der Auffassung, dass beidenjenigen, die eine Höchstförderung erhalten, eine Ober-grenze vorhanden sein muss; es haben zurzeit nämlichdiejenigen, die aus den einkommensschwächsten Fami-lien kommen, den höchsten Schuldenberg. Die jetzigeRegelung ist eigentlich nicht gerecht und von der Sacheher nicht richtig.
Wir stellen die Studierenden aus Ost und West bei derAusbildungsförderung gleich.
Wir heben dazu alle noch bestehenden Unterschiede beiden Förderleistungen auf. Damit wird beim BAföG diesoziale Einheit von Ost und West endlich Realität.
Wir machen noch ein Weiteres: Wir fördern über dasBAföG mehr Interdisziplinarität; sie ist heute mehrdenn je erforderlich. Master-Studiengänge, die auf denBachelor-Abschlüssen aufbauen, müssen in Zukunft nichtmehr streng fachidentisch sein; nach Ihren Beschlüssenmüssen sie das im Augenblick noch. Diese Studiengängewerden vielmehr dann gefördert, wenn sie für den späte-ren Beruf besonders geeignet sind.Über die Reform des BAföG hinaus arbeiten wir an derEinführung eines zeitlich befristeten Bildungskredits.Meine Vorredner haben darauf bereits hingewiesen. Wirdenken dabei an ein Programm, das Studierenden Kreditezu günstigen Zinssätzen gewährt, unabhängig vom För-deranspruch durch das BAföG. Es ist also kein Ersatz fürdas BAföG, sondern ein zusätzliches Instrument, das kei-nen Rechtsanspruch beinhaltet. Wir wollen mit diesemAngebot Studierenden in besonderen Studiensituationeneine Möglichkeit zur Selbsthilfe geben. Es handelt sichum ein sinnvolles Ergänzungsprogramm, das notwendigist und der Sache gerecht wird.Mit dem Etatentwurf für das Jahr 2001 haben wir un-ser Versprechen eingelöst, zusätzliche Mittel zur Verfü-gung zu stellen. Diese Mittel werden nicht durch Abstri-che bei anderen Bildungs- und Forschungsaufgaben auf-gebracht. Das war nicht ganz einfach, aber es hatgeklappt. Es macht deutlich, dass die gesamte Bundesre-gierung dahinter steht.Wie ich vorhin gesagt habe, werden wir gleich nach derSommerpause den Gesetzentwurf für die BAföG-Reformvorlegen. Wenn das geschehen ist, können die parlamen-tarischen Beratungen noch in diesem Jahr beginnen, so-dass die Studierenden bereits zu Beginn des Sommerse-mesters 2001
von dieser Totalsanierung des BAföG profitieren werden.Ich bin sicher, Sie werden begreifen, dass diese Bundes-regierung im Gegensatz zur Vorgängerregierung nicht nurredet, sondern den Studierenden eine kräftige Unterstüt-zung tatsächlich zukommen lässt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnenund Kollegen, bevor ich der nächsten Rednerin das Worterteile, habe ich Ihnen eine erfreuliche Mitteilung zu ma-chen. Wie Sie wissen, entscheiden nicht nur wir in diesemParlament. Die FIFA hatte heute über den Ausrichtungs-ort der Fußballweltmeisterschaft im Jahr 2006 zu ent-scheiden. Es gab ein denkbar knappes Ergebnis: Miteinem Stimmenverhältnis von 12:11 wurde entschieden,die Weltmeisterschaft in der Bundesrepublik Deutschlandstattfinden zu lassen.
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die KolleginAngelika Volquartz von der Fraktion der CDU/CSU.
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Bundesministerin Edelgard Bulmahn10812
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt gilt es eigentlichnur noch, die Weltmeisterschaft im BAföG zu gewinnen;dann ist der Sieg komplett. Nur, verehrte Kolleginnen undKollegen auf der linken Seite des Hauses, da haben wirdoch allmählich unsere Zweifel. Frau Ministerin, Sie ha-ben eben gesagt: Wir machen eine einfache und durch-schaubare BAföG-Reform. Dazu kann man eigentlich nursagen: Einfach und durchschaubar ist Ihre Verzögerungs-taktik seit Ihrer Regierungsübernahme gewesen. Ich erin-nere an die leeren Wahlversprechen, die Sie immer wie-der gegeben haben.
Wir sind uns einig, dass unsere Wissensgesellschaftweiterentwickelt werden muss und dass wir Politiker dieRahmendaten zu setzen bzw. zu verbessern haben. Wennwir davon sprechen, dass wir sie weiterentwickeln wol-len, dann müssen wir uns darüber im Klaren sein, dassgrundsätzliche Entscheidungen getroffen werden müssen.Sie haben heute die Green Card angesprochen. Dazumuss ich sehr deutlich sagen: In den Ländern, die bis1998/99 mehrheitlich von der SPD regiert waren, hat esim mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich derSchulen doch große Versäumnisse gegeben.
– Dazu gibt es ganz klare Daten. Frau Wimmer, Sie kom-men nicht aus diesem Bereich. Sie kennen das nicht. Da-ran liegt es, dass Sie das nicht wissen.
Aus dem OECD-Bericht 2000 geht doch ganz deut-lich hervor, dass lediglich 28 Prozent eines Jahrganges beiuns mit dem Studium beginnen und nur 16 Prozent einesJahrganges abschließen. Das ist auch ein Problem dermangelnden Qualifikation an den Schulen, die gerade inSPD-regierten Ländern zutage tritt.
Dieser Entwicklung muss natürlich Einhalt geboten wer-den. Es muss eine Trendwende herbeigeführt werden.
Dazu gehört selbstverständlich auch die längst überfälligeBAföG-Reform.Die Gefördertenquoten sind gesunken. Sie haben da-bei aber einen wichtigen Punkt vergessen, Frau Bulmahn.Sie haben nämlich vergessen zu erwähnen, dass es 1990eine Steuerreform gab, in deren Folge die Nettoein-kommen gestiegen sind. Auch dadurch hat sich eine Ver-änderung ergeben. Außerdem haben wir seit 1996 denGrundfreibetrag für Familien erhöht. Es muss einfach er-wähnt werden, was wir alles für die jungen Menschen ge-macht haben.
Ich sage es noch einmal deutlich – es nützt auch garnichts, wenn Sie hier wieder versuchen, Ihre Verzöge-rungstaktik mit nicht überzeugenden Argumenten zu ver-schleiern –: Die Bundesregierung hat diese Reform im-mer wieder angekündigt. Doch eine Oppositionsfraktion,die CDU/CSU-Fraktion, war die treibende Kraft. Wir ha-ben im Dezember letzten Jahres die Eckpunkte vorgelegtund nicht Sie.
Sie, Frau Ministerin, sind uns dann gefolgt. Rot-Grün hatdie wesentlichen Eckpunkte übernommen. Die Kriterien,die Sie eben lobend erwähnt haben – stärkere Berück-sichtigung von Kindererziehung während des Studiums,Erhöhung der Freibeträge usw. –, sind okay, damit bin icheinverstanden. Aber dabei handelt es sich doch um unsereVorschläge. Es ist sehr schön, dass Sie diese übernommenhaben.
Es ist deutlich zu sagen, dass Rot-Grün bei den Bil-dungskrediten, die Sie jetzt so hervorheben, über dieZiellinie herausgeschossen ist. Jedermann leuchtet dochein, dass dies zusätzliche Prüfungen erfordert und mehrZeitaufwand bedeutet. Warum findet darüber keine sepa-rate Diskussion statt? Herr Hilsberg hat vorhin gesagt, wirwollten die Reform torpedieren. Das ist völlig falsch, HerrKollege Hilsberg.
Wir wollen eine separate Diskussion. Nehmen Sie dasbitte ganz ruhig zur Kenntnis. Dies sollte doch bloß wie-der ein Alibi für ein Spiel auf Zeit sein.Wenn die BAföG-Studienförderung nach Ihrem Willenauf Teufel komm raus ohne ein zeitliches Limit zukünftigverlängert werden soll,
dann kann ich dazu nur deutlich sagen, dass das der ver-kehrte Weg ist. Langzeitstudierenden wird damit nicht derWeg in eine gute Zukunft bereitet. Ausnahmen sollten ge-macht werden – darin sind wir uns wieder einig –,beispielsweise sollte bei Alleinerziehenden mehr Rück-sicht auf Studienverzögerungen genommen werden,aber diese Regelung darf nicht auf Bummelstudenten aus-geweitet werden. Allerdings passen Bummelstudentenausgezeichnet zu Ihnen, weil Sie eine Bummelreform ma-chen, die einfach nicht in Gang kommt.
Anstatt die Leistungsgewährung auf nicht akzeptableBereiche auszudehnen, stehen wir für eine Ausdehnungder Leistungen in andere, sinnvollere Richtungen. EineZielgruppe für eine Leistungserweiterung sind die ein-kommensschwächeren Familien. Dazu hat mein KollegeGerhard Friedrich schon einiges ausgeführt. Der von ihm
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angesprochene Punkt unseres Programms fördert die Ak-zeptanz der BAföG-Leistung und schafft ein Stück mehrsoziale Gerechtigkeit, von der Sie immer reden, währendwir entsprechend handeln. Sogar der DGB hat uns in die-ser Frage im Rahmen der Anhörung Recht gegeben.Eine zweite Zielgruppe der Leistungserweiterung sindzügig bzw. überdurchschnittlich gut Studierende. Wirwollen verstärkt Anreize für Studenten geben, die über-durchschnittliche Abschlüsse erzielen. In diesem Punktden Geförderten entgegenzukommen halten wir für denrichtigeren Weg, weil wir damit in die Zukunft der Stu-denten investieren.Wer nun in Anbetracht der vorliegenden Papiereglaubt, der Boden für ein zügiges Gesetzgebungsverfah-ren sei bereitet und die Geförderten könnten eventuellnoch in diesem Jahr mit einem Zuschlag rechnen, der irrtleider gewaltig.
Wir haben die entsprechenden Aussagen eben gehört.Allerdings gibt es eine Diskrepanz, Frau Bulmahn. IhrStaatssekretär hat in der letzten Woche im Ausschuss ge-sagt, im November/Dezember gebe es einen Gesetzent-wurf. Sie sprechen jetzt vom Spätsommer.
Hoffentlich haben wir im Spätsommer noch kein Glatteis.Dann würde die Gangart etwas härter. Wir müssten dannnämlich sagen, dass man der Bundesregierung einfachnicht mehr glauben kann. Immer wieder wird etwasversprochen und nicht gehalten.
Ich finde es in diesem Zusammenhang besonders amü-sant, dass Sie am 4. Januar dieses Jahres einen BAföG-Bericht veröffentlichen, in dem Sie die Eckpunkte füreine Reform Ende 1999 ankündigen.
Aber am 4. Januar liegt noch nichts auf dem Tisch. Esgehört schon einiges dazu, zu glauben, dass das vielleichtniemandem auffällt.
Als durchsichtige Erklärung in all dieser Zeit wird dierechtliche und finanzielle Prüfung des Sockelmodells an-geführt.Es ist schon mehrfach gesagt worden, aber man musses noch einmal deutlich sagen: Mitte Januar – ich glaube,es ist der 14. Januar dieses Jahres gewesen – hat der Bun-deskanzler Sie schlicht und ergreifend einen Kopf kürzergemacht. Er hat nämlich gesagt: Schluss! Er hat in gewis-ser Weise gesagt, es müsse eine BAföG-Reform sein, wiesie die CDU/CSU vorschlägt. Da hat er Recht gehabt.Die Folge ist gewesen, dass Sie und auch Vertreter vonRot-Grün entsprechende Vorschläge für Eckpunkte einerBAföG-Reform auf den Tisch gelegt haben, nämlich Eck-punkte für eine Reform innerhalb des bestehenden Sys-tems. Viel Zeit ist zum Nachteil der Studierenden verstri-chen.Wenn in Sonntagsreden der Finanzminister, die Bil-dungsministerin und der Bundeskanzler immer wiedermehr Bildung einfordern, aber im grauen Alltag diefalschen Prioritäten setzen, dann kann ich nur sagen:große Sprünge wie ein Känguru und nichts im Beutel.Man kann nicht mit dem Versprechen von Reformen undvon einer Verdoppelung des Bildungshaushaltes auf Stim-menfang gehen und hinterher Peanuts als große Leistungproklamieren. Unterschätzen Sie nicht die Intelligenz derStudierenden!Wir fordern: keine weiteren Verzögerungen durch dieBundesregierung! Die Studierenden dürfen nicht weiterbetrogen werden. Machen wir uns das Motto eines Plaka-tes in einer Berliner Universität zu Eigen: „Wann, wennnicht jetzt? Wo, wenn nicht hier? Wer, wenn nicht wir?“Nach diesem Motto: Es muss noch in diesem Jahr ge-schehen.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-fehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktionender SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Moder-nisierung der Ausbildungsförderung für Studierende,Drucksache 14/3730.Der Ausschuss empfiehlt unter Nr.1 seiner Beschluss-empfehlung, den Antrag auf Drucksache 14/2905 anzu-nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU-Fraktionund PDS-Fraktion bei Enthaltung der F.D.P.-Fraktion an-genommen.Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seinerBeschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion derCDU/CSU mit dem Titel „Eckpunkte für eine BAföG-Re-form“, Drucksache 14/2031, abzulehnen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmenvon CDU/CSU-Fraktion und PDS-Fraktion bei Ent-haltung der F.D.P.-Fraktion angenommen.Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 3 seinerBeschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der PDSzur strukturellen Erneuerung der Ausbildungsförderung,Drucksache 14/2789, abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen derPDS-Fraktion angenommen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Angelika Volquartz10814
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 4 seiner Beschluss-empfehlung, den 13. Bericht der Bundesregierung nach§ 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes aufDrucksache 14/1927 zur Kenntnis zu nehmen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung isteinstimmig angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b, 27 dbis 27 h sowie Zusatzpunkt 5 auf:27. Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung von Vorschriften überdie Tätigkeit der Wirtschaftsprüfer
– Drucksache 14/3649 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
RechtsausschussFinanzausschussb) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zudem Protokoll vom 22. März 2000 zurÄnderung des Übereinkommens vom9. Februar 1994 über die Erhebung vonGebühren für die Benutzung bestimmterStraßen mit schweren Nutzfahrzeugen– Drucksache 14/3651 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-cherheitHaushaltsausschussd) Erste Beratung des von den Fraktionen SPDund BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Fünfzehnten Ge-setzes zur Änderung des Bundeswahlge-setzes– Drucksache 14/3764 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-ordnungRechtsausschusse) Beratung des Antrags der Abgeordneten RitaStreb-Hesse, Dr. Margrit Wetzel, IngridBecker-Inglau, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der SPD sowie der Abgeordne-ten Albert Schmidt , KerstinMüller , Rezzo Schlauch und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENRegelung des Anwohnerparkens durchStädte und Gemeinden– Drucksache 14/1258 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesenf) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Evelyn Kenzler, Ulla Jelpke, Petra Pau,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derPDSÄnderung des Ausländergesetzes– Drucksache 14/668 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschussg) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer,Hildebrecht Braun , weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der F.D.P.Keine ersatzlosen Schließungen vonAuslandsvertretungen– Drucksache 14/1751 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnionAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussh) Beratung des Antrags der Abgeordneten
ordneter und der Fraktion der SPD sowie derAbgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig,Kerstin Müller , Albert Schmidt (Hitz-hofen), weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBekämpfung der illegalen Kabotage unddes Sozialdumpings im Transportgewerbe– Drucksache 14/3702 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnionZP 5 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfah-renBeratung des Antrags der Abgeordneten BrunhildeIrber, Dr. Eberhard Brecht, Annette Faße, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD, der Ab-geordneten Sylvia Voß, Matthias Berninger, TheaDückert, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der AbgeordnetenErnst Burgbacher, Hildebrecht Braun ,Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und derFraktion der F.D.P. sowie der Abgeordneten RoselNeuhäuser, Dr. Heinrich Fink, Rolf Kutzmutz,Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDSSicherung der Volksfeste, des Markthandelsund des Schaustellergewerbes– Drucksache 14/3786 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus
Finanzausschuss
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Vizepräsidentin Petra Bläss10815
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen.Die Vorlage auf Drucksache 14/668 soll zusätzlich anden Innenausschuss überwiesen werden.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 m so-wie Zusatzpunkte 6 a bis 6 e. Es handelt sich um die Be-schlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprachevorgesehen ist.Wir kommen zuerst zum Tagesordnungspunkt 28 a:Zweite und dritte Beratung des von den FraktionenSPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Schornsteinfegergesetzes und andererschornsteinfegerrechtlicher Vorschriften– Drucksache 14/3333 –
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Schornsteinfegergesetzesund anderer schornsteinfegerrechtlicher Vor-schriften– Drucksache 14/3650 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 14/3753 –Berichterstattung:Abgeordneter Karl-Heinz ScherhagIch bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig an-genommen.Tagesordnungspunkt 28 b:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines FünftenGesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgeset-zes/EWG– Drucksache 14/3274 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 14/3788 –Berichterstattung:Abgeordnete Sebastian EdathyDr. Hans-Peter UhlCem ÖzdemirDr. Max StadlerPetra PauIch bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen derPDS-Fraktion angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit gegen die Stim-men der PDS-Fraktion angenommen.Tagesordnungspunkt 28 c:Zweite und dritte Beratung des von den FraktionenSPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderungprodukthaftungsrechtlicher Vorschriften– Drucksache 14/3371 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 14/3756 –Berichterstattung:Abgeordnete Margot von RenesseNorbert RöttgenVolker Beck
Rainer FunkeSabine JüngerDer Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache14/3756, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be-ratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom-men.Dritte Beratungund Schlussabstimmung.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig ange-nommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 28 d auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
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Vizepräsidentin Petra Bläss10816
zur Änderung des Gerätesicherheitsgesetzesund des Chemikaliengesetzes– Drucksache 14/3491 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Sozialordnung
– Drucksache 14/3798 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Heidi Knake-WernerIch bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit in zweiter Beratung bei Gegenstimmen derPDS angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit gegen die Stim-men der PDS-Fraktion angenommen.Tagesordnungspunkt 28 e:Zweite Beratung und Schlussabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zu dem Abkommen vom 21. Mai1999 zwischen der Bundesrepublik Deutsch-land und dem Königreich der Niederlande überdie gegenseitige Amtshilfe bei der Beitreibungvon Steueransprüchen und der Bekanntgabevon Schriftstücken– Drucksache 14/3077 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 14/3698 –Berichterstattung:Abgeordnete Dieter GrasedieckHansgeorg Hauser
Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache14/3698, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen desganzen Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 28 f:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu der Ver-ordnung der BundesregierungVerordnung über die Erzeugung von Strom ausBiomasse
– Drucksachen 14/3489, 14/3574 Nr. 2.1,14/3801 –Berichterstattung:Abgeordnete Monika GanseforthFranz ObermeierMichaele HustedtBirgit HomburgerEva-Maria Bulling-SchröterDer Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Druck-sache 14/3489 in der Ausschussfassung zuzustimmen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istgegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der F.D.P.-Fraktion und der PDS-Fraktion angenommen. Ich ver-weise darauf, dass es eine schriftliche Erklärung der Kol-legin Eva Bulling-Schröter, PDS-Fraktion, zu ihrem Ab-stimmungsverhalten gibt.Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Peti-tionsausschusses.Tagesordnungspunkt 28 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 175 zu Petitionen– Drucksache 14/3687 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 175 ist damit einstimmig an-genommen.Tagesordnungspunkt 28 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 176 zu Petitionen– Drucksache 14/3688 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 176 ist ebenfalls einstimmigangenommen.Tagesordnungspunkt 28 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 177 zu Petitionen– Drucksache 14/3689 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 177 ist mit den Stimmen desganzen Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 28 j:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 178 zu Petitionen– Drucksache 14/3690 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 178 ist gegen die Stimmender CDU/CSU-, der F.D.P.- und der PDS-Fraktion ange-nommen.Tagesordnungspunkt 28 k:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 179 zu Petitionen– Drucksache 14/3691 –
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Vizepräsidentin Petra Bläss10817
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 179 ist gegen die Stimmender CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion angenommen.Tagesordnungspunkt 28 l:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 180 zu Petitionen– Drucksache 14/3692 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 180 ist gegen die Stimmender CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der F.D.P.-Frak-tion angenommen.Tagesordnungspunkt 28 m:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 181 zu Petitionen– Drucksache 14/3693 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Damit ist Sammelübersicht 181 gegen die Stim-men der PDS-Fraktion angenommen.Ich rufe die Zusatzpunkte 6 a bis 6 e auf, weitere Be-schlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Ein biss-chen Geduld brauchen Sie also noch.Zusatzpunkt 6 a:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 182 zu Petitionen– Drucksache 14/3793 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Damit ist die Sammelübersicht 182 mit denStimmen des ganzen Hauses angenommen.Zusatzpunkt 6 b:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 183 zu Petitionen– Drucksache 14/3794 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Damit ist die Sammelübersicht 183 mit denStimmen des ganzen Hauses angenommen.Zusatzpunkt 6 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 184 zu Petitionen– Drucksache 14/3795 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 184 ist gegen die Stim-men der CDU/CSU-, der F.D.P.- und der PDS-Fraktionangenommen.Zusatzpunkt 6 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 185 zu Petitionen– Drucksache 14/3796 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 185 ist gegen die Stim-men der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion angenom-men.Wir kommen zur letzten Abstimmung, und zwar zuTagesordnungspunkt 6 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 186 zu Petitionen– Drucksache 14/3797 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 186 ist gegen die Stim-men der PDS-Fraktion angenommen.Ich bedanke mich ausdrücklich für die Disziplin bei al-len Fraktionen bei diesem Abstimmungsmarathon.Ich rufe nun Zusatzpunkt 7 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der CDU/CSUAbsenkung der Beiträge für die Bezieher vonArbeitslosenhilfe und die Folgen für die gesetz-lichen KrankenkassenIch eröffne die Aussprache. Das Wort für die Fraktionder CDU/CSU hat der Herr Kollege Wolfgang Lohmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! In wenigen Tagen gehen wir in die Sommerpause.Man kann, wenn man daran denkt, dass sicherlich auch imJahre 2002 die parlamentarischen Beratungen zu dieserZeit enden werden, sagen: Wir befinden uns in der Mitteder Legislaturperiode. Wenn ich eine Überschrift für dievergangenen zwei Jahre, was die Gesundheitspolitik an-belangt, suchen würde, dann würde ich schreiben: Pleiten,Pech und Pannen, und zwar nicht nur handwerklich, wiees von Ihren eigenen Leuten, unter anderem von HerrnDreßler, genannt worden ist, sondern vor allen Dingenauch inhaltlich. Ich erinnere an das Vorschaltgesetz bzw.an das Solidaritätsstärkungsgesetz, an die Gesundheitsre-form 2000, an Änderungsanträge der Koalitionsfraktio-nen im Umfang von 345 Seiten und an fehlende Unterla-gen bei der zweiten und dritten Lesung im Bundestag so-wie im Bundesrat. – Das nur als Stichworte.Nun leben wir mit sektoralen Budgets, vor denen wirimmer gewarnt haben. Die ersten, in einigen Bereichensogar katastrophalen Folgen für die Versorgung werdensichtbar. Wir hatten gerade gestern eine öffentliche An-hörung zu der Frage der Honorierung der psychothera-peutischen Leistungen. Da ist schließlich jedem – wohlauch jedem in der Regierung – deutlich geworden,
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Vizepräsidentin Petra Bläss10818
wo wir gelandet sind und welche Bedingungen wir denPsychotherapeuten, die nach unserem gemeinsamen Wil-len in das bestehende System integriert wurden, bei derVerrichtung ihrer Arbeit zumuten. Inzwischen – ich habemir sagen lassen: gerade gestern – hat der Petitionsaus-schuss mit den Stimmen der SPD die Forderung aufge-stellt, hier etwas zu ändern.
Es ist also dringender Handlungsbedarf gegeben.Das alles ist nur die Spitze des Eisbergs.
Auch in manchen anderen Bereichen bestehen deutlicheDefizite, wenn Sie an chronische Erkrankungen, bei-spielsweise an Diabeteskranke oder Krebskranke, den-ken. Zum Beispiel werden keine Blutzuckermesschipsbzw. -streifen mehr zur Verfügung gestellt. Es gibt also in-zwischen überall Defizite.Wenn wir schon bisher an Ihrer Gestaltungsfähigkeit,Frau Ministerin, Zweifel hatten, dann haben wir vor allemangesichts des Themas, um das es heute geht, noch mehrZweifel an Ihrer Durchsetzungsfähigkeit beispielsweiseim Kabinett.
Da versucht der Finanzminister, die Sanierung des Haus-haltes unter anderem durch den Griff in die Kassen vonPflegeversicherung und Krankenversicherung voranzu-treiben.
Bereits im vergangenen Jahr sind der Pflegeversicherung400 Millionen DM entzogen worden. Auf zusätzlich248 Millionen DM bemisst sich der Betrag, der aufgrundder Tatsache der niedrigeren Rentenanpassung, die sichnur nach der Inflationsrate richten wird, fehlen wird. Da-durch werden erhebliche Defizite entstehen, was offen-sichtlich von weiten Teilen der Koalition gewollt ist.Wenn nun gemäß dem, was uns inzwischen im Zusam-menhang mit dem Gesetzentwurf zur Gleichstellunggleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften vorliegt,daran gedacht wird, Partner von versicherten Lesben undSchwulen, sofern sie eine solche Lebensgemeinschafteingehen, in Zukunft beitragsfrei in die gesetzliche Kran-kenversicherung aufzunehmen, dann fragt man sich wirk-lich, ob – im bildlichen Sinne – die Rechte noch weiß, wasdie Linke eigentlich tut.Gleichzeitig stellt man sich in weiten Teilen – offen-sichtlich auch in der Regierung – die Frage – wir haltendas allerdings für weit über das Ziel hinausgeschossen –,ob es sich die gesetzliche Krankenversicherung auf Dauerüberhaupt noch leisten kann, Familienmitglieder, vor al-len Dingen nicht berufstätige und nicht Kinder erziehendeFrauen, kostenlos mit in die gesetzliche Kranken-versicherung einzubeziehen. Gleichzeitig aber will manden Beschluss fassen, dass Lebensgemeinschaften, die –jedenfalls nach unserer Auffassung – mit einer Ehe nichtvergleichbar sind, kostenlos miteinbezogen werden. Wei-tere Defizite in der gesetzlichen Krankenkasse sind alsovorprogrammiert.Das Ganze summiert sich nach Berechnungen der ge-setzlichen Krankenversicherung auf einen Betrag vonmindestens 5,3 Milliarden DM.
Denn ich erinnere daran, dass die Reduzierung der Zu-zahlung zu Arzneimitteln zu Ausfällen in Höhe von 1Mil-liarde DM, die Aussetzung des Krankenhausnotopfers zuAusfällen in Höhe von etwa 700 Millionen DM, die Aus-weitung von Leistungen im Rahmen der beschlossenenGesetze im Bereich der Soziotherapie zu Mehrausgabenin Höhe von 1 Milliarde DM und Ausnahmeregelungenim Bereich der Krankenhäuser zu Mehrausgaben in Höhevon etwa 2 Milliarden DM führen werden. Wenn das, wasich soeben im Hinblick auf die Kürzung der Renten fest-gestellt habe, hinzukommt, haben wir ein Defizit von5,3 Milliarden DM. In einigen Berechnungen wird sogarvon 7,5 Milliarden DM ausgegangen.Dass dies natürlich Beitragssatzerhöhungen geradezuprovoziert bzw. erforderlich macht, dürfte keine Fragesein. Wir stellen auch die Frage, wie eine solche Tatsachein Zusammenhang mit den Versprechungen und Vorhabensteht, die Sie immer genannt haben: dass ganz oben aufder Agenda – das ist dringend notwendig – die Beitrags-satzstabilität steht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Lohmann, wir haben eine Aktuelle Stunde. Ich muss Sie
an Ihre Redezeit erinnern.
Ist
meine Redezeit schon so schnell zu Ende? Es tut mir sehr
Leid.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, das geht immer
recht schnell.
Dann komme ich jetzt ganz schnell zum Ende meinerAusführungen: Ich appelliere in diesem Zusammenhangsowohl vor allen Dingen an Sie, Frau Schaich-Walch, analle anderen in der SPD-Fraktion, aber auch an die grüneFraktion. Denn wenn man Zitate von Ihnen, die Sie selbstin Veröffentlichungen etwa in der „Süddeutschen Zei-tung“ vor wenigen Tagen gebracht haben, vorlesen würde –das kann ich aber nicht mehr tun –, dann würde man fest-stellen, dass absolut klar ist, dass die Kassen, wenn IhreVorhaben umgesetzt werden, die Beiträge im kommendenJahr erhöhen müssen.Herr Dreßler beispielsweise hält dies für unzumutbar.Sogar Herr Metzger warnt dringend vor einer solchen Lö-sung. Man kann doch nur sagen: Wenn Sie die weitere Ab-wärtsspirale wirklich aufhalten und eine weitere Ver-schlechterung der Versorgung vermeiden wollen, dannverhindern Sie im Herbst dieses Jahres bei der zweiten
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Wolfgang Lohmann
10819
und dritten Lesung, dass eine solche Regelung eingeführtwird.Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Regina Schmidt-Zadel.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen undKollegen von der Union, ich spreche Sie heute einmal alsdiejenigen an, die diese Aktuelle Stunde beantragt haben.
Herr Lohmann, eines gleich vorweg: Wer 16 Jahre imGlashaus saß, der sollte eigentlich nicht mit Steinen wer-fen.
Aber Sie konnten sich offenbar wieder einmal nichtzurückhalten. Zu verlockend war es, die Regierungsver-einbarung – ich betone ausdrücklich: die Regierungs-vereinbarung – zur Absenkung der GKV-Beträge für Ar-beitslosenhilfebezieher als Stein am Wegesrand auf-zunehmen und als Munition für Ihr politisches Tagesge-schäft nutzen.
Auch ich gebe unumwunden zu:
Die Belastungen der gesetzlichen Krankenkasse in Höhevon 1,2 Milliarden DM – sagen Sie nicht „Aha“; wartenSie ab – durch die Absenkung der Beiträge, die aus demEtat des Bundesministers für Arbeit gezahlt wurden, sindauch für uns eine bittere Pille, die nicht leicht zuschlucken ist.
Dies sind unerfreuliche Momente für jeden Sozial- undGesundheitspolitiker, in denen man mit sich ringen muss.
Aber während Ihrer Regierungszeit ist es Ihnen genausogegangen. Dies habe ich vielfach in Gesprächen mit Ihnengehört. Aber – jetzt werfe ich den Stein zurück – es istletztlich das Ergebnis Ihrer 16 Jahre andauernden Politikdes Schuldenanhäufens,
die die rot-grüne Bundesregierung zu Sparmaßnahmenzwingt, die wir alle gerne vermieden hätten.Es ist doch der gigantische Schuldenberg der Kohl-Re-gierung, der eine Haushaltssanierung, an der sich alleRessorts beteiligen müssen, unausweichlich macht. Siehaben uns ungeordnete Staatsfinanzen und einen Schul-denberg hinterlassen,
der uns zwingt, jede vierte Mark – hören Sie gut zu – fürZins und Tilgung zu verwenden. Die Schulden hatten amEnde Ihrer Regierungszeit mit 1,5 Billionen DM denhöchsten Stand in der Geschichte der Bundesrepublik.80 Prozent davon sind während Ihrer Regierungsverant-wortung verursacht worden.Ich betone noch einmal: Die Absenkung der Beiträgevon Arbeitslosenhilfebeziehern zur GKV und zur Pflege-versicherung ist eine bittere Pille. Ich wäre froh, wenn wirsie nicht schlucken müssten.
Lassen Sie mich aber folgende Punkte anmerken – ichweise an dieser Stelle noch einmal darauf hin –: Hättensich die Union bzw. die Mehrheit nicht der Reform ver-weigert und nicht wichtige Teile der Gesundheitsreformblockiert, wäre dieses Opfer sogar noch verkraftbar ge-wesen. Nicht die hier diskutierte Beitragsabsenkung, son-dern Ihre Verweigerungshaltung bei wichtigen Fragen,zum Beispiel bei der Reform der Krankenhausfinanzie-rung, ist die wirkliche Belastung der GKV.
Ein Drittel der Kosten bei der gesetzlichen Kranken-versicherung entfallen auf den stationären Bereich. IhreReformblockade kostet die Kassen jährlich Milliarden-summen – ein Vielfaches mehr als die 1,2 Milliarden DM,über die wir heute diskutieren. Die Union hat während ih-rer Regierungszeit noch weit größere Verschiebeaktionenveranstaltet.
Schlimmer noch: Herr Lohmann, es war doch geradezudas Markenzeichen Ihrer Politik, Kosten, die eigentlichdie Allgemeinheit zu tragen hätte, auf die Beitragszahlerder Sozialversicherungssysteme abzuwälzen.
Zu keiner Zeit war der Anteil der versicherungsfremdenLeistungen in der Renten- und Krankenversicherunghöher als zu Ihrer Regierungszeit. Wenn Sie und HerrSeehofer heute wegen der Absenkung der Beiträge vonArbeitslosenhilfebeziehern von Verschiebebahnhöfensprechen,
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Wolfgang Lohmann
10820
dann verschweigen Sie, dass Seehofer selbst über Jahreder Bahnhofsvorsteher eines gigantischen Verschiebe-hauptbahnhofs war.
Die hier diskutierte Absenkung der Beiträge ist keinSelbstzweck. Sie dient auch nicht der Vorbereitung derSystemveränderung innerhalb der Sozialversicherungen,wie Sie es wollen und wie es bei Ihren Verschiebebahn-höfen war. Nein, die Absenkung dient zielgerichtet demSchuldenabbau. Auch hier besteht ein Unterschied: IhreVerschiebeaktionen haben die Schulden nicht verringert,sondern sogar noch wachsen lassen. Ihre Hinterlassen-schaft macht uns das Leben jetzt schwer und wir habenmit ihr zu kämpfen.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht jetzt der Kollege Detlef Parr.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Wenn sich SPD-Kollegen auf vielen Veran-staltungen wie vor der sozialdemokratischen Seniorenar-beitsgemeinschaft „60 plus“ zu der Behauptung verstei-gen,
die Attraktivität unseres Gesundheitswesens werde sichbei gleich bleibenden Beiträgen weiter verbessern, undzur gleichen Zeit die Bundesgesundheitsministerin sichdem Diktat des Finanzministers unterwirft und mal eben1,2 Milliarden DM aus den Taschen der Krankenversi-cherten ihrem Kabinettskollegen zuschiebt, dann beweistdas, dass sich Ihre Gesundheitspolitik mehr und mehr aufbewusste Irreführung gründet.
Das ist besonders schlimm, wenn dies gegenüber gut-gläubigen älteren Menschen erfolgt; das ist einfach nichtin Ordnung.Nach der Pflegeversicherung im letzten Jahr ist jetztalso die Krankenversicherung mit 1,2 Milliarden DMjährlich betroffen. Wohlgemerkt, es geht nicht um die Re-duzierung von Steuerzuschüssen, sondern um einen dreis-ten Griff in die Tasche der Versicherten und der Arbeitge-ber. Ist das Beitragssatzstabilität, meine Damen undHerren? Dieses Ziel gehört bereits seit längerem offen-sichtlich in die Welt Ihrer Träume.Zu der Zeit, als die Ministerin sich mit diesem üblenSchachzug einverstanden erklärte, demonstrierte in Ber-lin das Bündnis „Gesundheit 2000“ gegen die Folgengrün-roter Gesundheitspolitik – ein Bündnis, das die Ge-sundheitsberufe in Deutschland repräsentiert: 4,2 Milli-onen direkt und indirekt Beschäftigte, 38 Organisationen.Sie alle werden durch die Federstrichaktion der Ministe-rin weiteren zusätzlichen Belastungen ausgesetzt. Sie,Frau Ministerin, haben sie zum wiederholten Malschmählich im Stich gelassen.
Krankenschwestern, Arzthelferinnen, Ärzte, Apothe-ker, Patientinnen und Patienten, alle sind sich einig: We-gen der willkürlichen Ausgabenbegrenzung, die Sie ge-rade weiter verschärfen wollen, müssen medizinischeLeistungen wie Krankengymnastik und Sprachheilthera-pien eingeschränkt werden, können Krankenhäuser Ope-rationen nicht im erforderlichen Maße durchführen –Wartelisten drohen nicht nur, sondern werden zukünftigzum Alltag gehören –, werden Medikamente nicht mehrwie gewohnt verschrieben und die Patienten auf billigereArzneimittel verwiesen und fehlt die Zeit für ausrei-chende Zuwendung in der Krankenpflege, um nur einigeFolgen Ihrer verfehlten Gesundheitspolitik zu beschrei-ben.Das belastet gerade diejenigen, von denen SPD undGrüne behaupten, sie lägen ihnen besonders am Herzen:die chronisch Kranken. Gerade hier – Frau Schmidt-Zadel, da sind wir uns völlig einig –, bei den Volkskrank-heiten Diabetes, Rheuma, Asthma sowie bei Krebs-erkrankungen, zeichnet sich ein zusätzlicher Versor-gungsbedarf ab. Besondere Versorgungsdefizite in derArzneimitteltherapie bestehen bei Langzeiterkrankungenwie MS, Hepatitis B und C sowie bei Aids. Sie interessie-ren sich offensichtlich nicht für die Krankheitsbilder inunserer Gesellschaft. Hauptsache, der Plan und die Ideo-logie stimmen.
Statt auf das alles zu reagieren, sorgen Sie dafür, dass jetztnoch weniger Geld in den Kassen ist. Durch Ihre Politikzwingen Sie die Ärzte zum Verschreiben billigster Gene-rika, also zur Umstellung ihrer Patienten auf andere alsihre gewohnten Präparate. Sie greifen rücksichtslos in dasVertrauensverhältnis von Arzt und Patient ein.
Sie sprechen gleichzeitig, Frau Schmidt-Zadel, von ethi-schen Verpflichtungen, die unsere Heilberufler selbst beibestem Willen nicht mehr erfüllen können, wenn Sie soweitermachen wie bisher.
Sie sollten uns nicht wieder mit Ihrer gebetsmühlenar-tigen Wiederholung angeblicher Wirtschaftlichkeitsreser-ven kommen. Selbst wenn es sie gibt – Sie haben sie nochnicht nachgewiesen; die 20 Milliarden DM stehen imRaum, ohne dass Sie je spezifiziert hätten, woher Sie sieholen wollen –,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Regina Schmidt-Zadel10821
dann müssen sie erst realisiert werden, bevor man sie ab-schöpfen kann.
Das haben mittlerweile sogar die gesetzlichen Kranken-kassen begriffen und deshalb gegen Ihren dreisten Milli-ardenzugriff heftig protestiert und Beitragssteigerungenangekündigt.Behaupten Sie bitte auch nicht, dass das alles mit IhremGlobalbudget viel besser zu bewältigen sei. Wir wissen,dass Sie nicht einmal den Mut hatten, im ursprünglichenEntwurf zur GKV-Gesundheitsreform auf sektorale Bud-gets zu verzichten. Es war nicht der böse Bundesrat, dersie hat fortbestehen lassen, das sind ganz allein Sie gewe-sen. Auch hier wird ein neuer Weg beschritten.Sie gefährden mit Ihrer Politik entweder die medizini-sche Versorgung oder Sie sorgen über steigende Beitrags-sätze für eine Gefährdung des WirtschaftsstandortsDeutschland.
Der scheint Ihnen ohnehin nicht sonderlich am Herzen zuliegen, wie ein anderes Beispiel, die 10. AMG-Novelle,deutlich macht. Wir beschließen eine solche Novelle, diedie Zulassung und Nachzulassung von Arzneimitteln be-schleunigen soll, und gleichzeitig versäumen Sie es, dieorganisatorischen Voraussetzungen dafür zu schaffen,dass das, was wir als Gesetzgeber wollen, auch umgesetztwird.Gestern ist im Gesundheitsausschuss deutlich gewor-den, dass die personelle Situation beim Bundesinstitut fürArzneimittel und Medizinprodukte katastrophal ist.Durch den Umzug von Berlin nach Bonn verlieren Siewichtige leitende Mitarbeiter in einer zurzeit noch nichtabzuschätzenden Zahl – so kann man das in einer Vorlageder Staatssekretärin nachlesen – und sind nicht in derLage, sie adäquat zu ersetzen.Firmen – das ist die Folge –, die wollen, dass ein Arz-neimittel zugelassen wird, wird angeraten, das bei einemeuropäischen Nachbarn zu tun. Sie lassen diese Firmenohne Rücksicht auf Arbeitsplätze und den Forschungs-standort Deutschland im Stich.Für die fatalen Folgen Ihrer staatlichen Zuteilungspo-litik gibt es ein weiteres Beispiel: die Lage der Psycho-therapeuten in Deutschland. Herr Lohmann hat daraufhingewiesen. Die Anhörung hat bewiesen, dass das nachplanwirtschaftlichen Gesichtspunkten bereitgestellteGeld vorne und hinten nicht ausreicht, um den Psycho-therapeuten eine angemessene Bezahlung ihrer Leistun-gen zu garantieren. Sehenden Auges entlassen Sie vielePraxen, besonders in den neuen Bundesländern – das hatProfessor Azzola sehr nachdrücklich mitgeteilt –, in denRuin.Es ist endlich an der Zeit, damit aufzuhören, den Men-schen vorzugaukeln, alle medizinischen Leistungen seienmit den zur Verfügung stehenden Finanzen ohne Ein-schränkung zu bezahlen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Parr, Sie
haben das Stichwort „aufhören“ schon genannt. Ich muss
Sie an die Redezeit in der Aktuellen Stunde erinnern.
Es ist mein letzter Satz, Frau Prä-
sidentin.
Wir sollten endlich die demographische Entwicklung mit
der gewaltig wachsenden Zahl älterer Menschen ernst
nehmen und ehrlich sagen, dass der immense medizini-
sche Fortschritt nicht zum Nulltarif zu haben ist.
Korrigieren Sie Ihre Entscheidung, lassen Sie die
1,2 Milliarden DM im System! Sie werden dringend ge-
braucht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bevor ich der Kolle-
gin Katrin Göring-Eckardt das Wort erteile, bitte ich um
Aufmerksamkeit für eine Erklärung zur Geschäftsord-
nung vonseiten der PDS-Fraktion. Sie wissen, wir haben
einen Abstimmungsmarathon hinter uns. Dabei ist etwas
schief gegangen. Bitte, Frau Kollegin Böttcher.
Vielen Dank, Frau Präsiden-
tin.
Ich bitte das Hohe Haus zur Kenntnis zu nehmen, dass
wir beim Abstimmungsverhalten zu Tagesordnungs-
punkt 8 etwas klarstellen müssen. Es wurde über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses abgestimmt. Da wir
den Antrag der CDU/CSU ablehnen, stimmen wir natür-
lich Nr. 2 der Ausschussempfehlung zu. Da wir selbstver-
ständlich dem PDS-Antrag zustimmen, lehnen wir Nr. 3
der Beschlussempfehlung des Ausschusses ab.
Ich bedanke mich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Damit ist diese Er-klärung vonseiten der PDS-Fraktion im Protokoll.Ich erteile als nächster Rednerin in der AktuellenStunde der Kollegin Katrin Göring-Eckardt für die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Kollegen! Man hat inzwischen das Gefühl, es fällt Ihnennichts anderes mehr ein, als darüber zu spekulieren, wasdemnächst kommen könnte. Ich finde, Sie sollten versu-chen, sich an den Tatsachen zu orientieren.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Detlef Parr10822
Mich wundert, dass Sie sich bemühen, sich als Retterder Beitragssätze darzustellen. Schließlich war und istIhre Politik eine andere: Während Ihrer Regierungszeithaben Sie dafür gesorgt, dass die Beiträge in der gesetzli-chen Krankenversicherung und in der Rentenversiche-rung gestiegen sind.
Sie haben ebenso die steuerliche Belastung hochschnellenlassen; davon ist heute schon geredet worden. Die Ursa-che lag vor allen Dingen darin, dass Sie strukturelle undmutige Reformen weder in dem einen noch in dem ande-ren Sicherungssystem angehen wollten. Das war auchschon vor der deutschen Einheit so, die Sie sicher wiederals Begründung heranziehen wollen.
Ich will nur ein paar Beispiele nennen: Während derZeit Ihrer Regierung ist der Beitragssatz für die gesetzli-che Krankenversicherung in den Jahren 1995 bis 1998trotz erhöhter Zuzahlungen um durchschnittlich 0,3 Bei-tragspunkte gestiegen.
In dem gleichen Zeitraum sind die Beiträge zur Renten-versicherung um 1,7 Prozentpunkte gestiegen.Rechnet man die Einführung der Pflegeversicherung mit1 Prozent hinzu, ergibt sich für die Jahre 1995 und 1996eine Steigerung der Sozialabgaben um insgesamt 3 Pro-zent. Noch deutlicher wird es, wenn man sich dasAnsteigen der Sozialabgaben über einen längerenZeitraum hinweg anschaut. Für die Zeit von 1985 bis1998 – das war auch noch vor der deutschen Einheit –ergibt sich eine Steigerung um fast 17 Prozent. Das ist IhrePolitik gewesen.
Wir haben seit dem Regierungsantritt bereits eine Sta-bilisierung bzw. Senkung der Beiträge erreicht. So ist bei-spielsweise der Beitrag zur Rentenversicherung von20,3 Prozent um 1 Prozent auf 19,3 Prozent gesunken.
Nach der Blümschen Rentenreform lägen wir jetzt übri-gens bei 21 Prozent. Seit 1998 ist die Belastung durch dieSozialabgaben rückläufig und liegt bei 41,1 Prozent. Umeines klarzustellen: Auch wir wollen keine Sanierung desHaushaltes auf Kosten der Krankenkassen.
Die Bundesministerin Andrea Fischer hat mit WalterRiester, dem Arbeitsminister, einen annehmbaren Kom-promiss ausgehandelt. Der ist ihr sicherlich nicht leichtgefallen.
Aber Politik zu machen heißt natürlich auch, Kompro-misse zu schließen. Ich will Ihnen auch erklären, warumich finde, dass es sich um einen annehmbaren Kompro-miss handelt. Die Belastungen für die Krankenver-sicherungen in Höhe von 1,2 Milliarden DM stellengegenüber den 2,4 Milliarden DM, die ursprünglich zurDebatte standen, eine, wie ich finde, tragfähige Lösungdar.
Wir sind der Überzeugung, dass die Mindereinnahmenin der Krankenkasse ohne Beitragssatzanhebungen zuverkraften sind, und zwar aus folgendem Grund: Ohne zuoptimistisch sein zu wollen,
können wir mit erhöhten Einnahmen rechnen. Diese er-höhten Einnahmen haben übrigens mit unserer Politik zutun und fallen nicht vom Himmel. Sie stammen zum einenaus der Regelung für die geringfügigen Beschäfti-gungsverhältnisse – ich weiß, dass Ihnen auch das nichtgefällt,
nichtsdestotrotz führt dies zu Mehreinnahmen derKrankenkassen – und beruhen zum anderen auf demRückgang der Arbeitslosenzahlen, der nach vorsichtigenSchätzungen der Bundesanstalt für Arbeit – nicht etwadieser Regierung – bei rund 200 000 liegt. Bei der zu er-wartenden anhaltenden positiven Konjunktur wird diesernoch höher sein. Für das Jahr 2001 wird ein Rückgang derArbeitslosenzahlen um 300 000 geschätzt. Dies bedeuteteine klare Entlastung der Krankenversicherungen.
Und schließlich: Die Lohnabschlüsse der vergangenenMonate bedeuten ebenfalls eine positive Entwicklung fürdie Einnahmen der GKV. Um 2 Prozent höhere Lohnab-schlüsse bedeuten für die gesetzliche Krankenversiche-rung allein eine Differenz von 4,8 Milliarden DM. WennSie dies den 1,2 Milliarden DM, die wir in dem Kompro-miss ausgehandelt haben, gegenüberstellen, kann mitRecht von Verhältnismäßigkeit gesprochen werden.
Kompromisse zu machen, ist nie angenehm; für keinender Beteiligten. Sie aber sollten sachlich bleiben und dieMenschen nicht unnötig verunsichern. Dies ist nicht nurunpolitisch, sondern unverantwortlich. Dafür sollten Sie
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Katrin Dagmar Göring-Eckardt10823
sich zu schade sein, wenn es um solche Größenordnungenwie die geht, von denen wir hier reden.Vielen Dank.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Ruth Fuchs von der
PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Liebe Kollegin Katrin Göring-Eckardt, denVersicherten ist es egal, ob der Frau Gesundheitsministe-rin der Kompromiss schwer oder leicht gefallen ist. Esbleibt dabei, dass die Regierung mit der Kürzung derKrankenkassenbeiträge bei der Arbeitslosenhilfe einenfolgenschweren Fehler begangen hat, ob sie das nunwahrhaben will oder nicht.
– Warten Sie nur ab, Sie kriegen auch noch Ihr Fett weg.
Ob Sie es glauben oder nicht, aber Sie haben einenneuen Verschiebebahnhof zugunsten des Bundeshaushal-tes und zulasten der gesetzlichen Krankenversicherunggeschaffen. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Die fürdas Gesundheitswesen zur Verfügung stehenden Mittelhaben Sie damit deutlich verringert. Dies ist unverständ-lich, denn inzwischen ist eigentlich zur Genüge bekannt,dass die Krankenkassen nicht nur ein Ausgabenproblem,sondern vor allen Dingen ein systematisches Einnahme-problem haben. Dazu sage ich Ihnen: Dieses Einnahme-problem wird sich in der nächsten Zeit weiter verschärfen.
Wir haben schon damals bei der Diskussion der Ge-sundheitsreform 2000 gesagt, dass es ein Kardinalfehlerwar, die Grundsituation tendenziell zurückbleibenderBeitragseinnahmen zu negieren und der gesundheitlichenVersorgung eine Politik der knappen Finanzen zu verord-nen. Dies war aus unserer Sicht ein Fehler.
Die Folgen sind schwerwiegend. Überall im Gesund-heitswesen wachsen Spannungen und daraus resultie-rende Probleme. Die Bundesregierung muss von allenguten Geistern verlassen sein, wenn sie in einer solchenSituation die gesetzliche Krankenversicherung als Stein-bruch betrachtet, aus dem man nach Belieben Haushalts-löcher stopfen kann. In einer Situation, in der jede Bei-tragsmark willkommen sein muss – aus meiner Sicht not-wendig –, zwingen Arbeits- und Finanzminister dieGesundheitsministerin zu einem ihr nicht leicht gefalle-nen Kompromiss, dessen politische Auswirkungen imGesundheitswesen als verheerend bezeichnet werdenmüssen. Diese Entscheidung ist in hohem Grade verant-wortungslos, weil – schon heute absehbar – auf die ge-setzliche Krankenversicherung weitere finanzielle Belas-tungen zukommen. So wird auch die Rentenreform mitihren geplanten Kürzungen der Altersbezüge zu Minder-einnahmen in Milliardenhöhe führen.Weitere Defizite ergeben sich auch aus der zu erwar-tenden Steuerfreiheit für die Beiträge zur privaten Alters-vorsorge sowie aus dem jüngsten Urteil des Bundesver-fassungsgerichts zum Krankengeld. Besonders ungünstigwerden die Auswirkungen für die Kassen in den neuenBundesländern sein. Aufgrund der höheren Arbeitslosig-keit sinken die Einnahmen dort noch stärker und erneutwerden die AOKen am härtesten betroffen sein.Im Übrigen macht die vorgenommene Streichung vonKasseneinnahmen das Kabinett Schröder als Ganzes, aberauch die Gesundheitsministerin persönlich unglaubwür-dig. Ich will Ihnen auch sagen, warum ich das behaupte.Bei der Vorgängerregierung haben die damaligen Opposi-tionsparteien SPD und Grüne die Sanierung des Bundes-haushaltes auf Kosten der Beitragszahler immer scharfverurteilt. Schließlich haben auch CDU/CSU und F.D.P. –das ist das, worauf ich Sie hinweisen wollte – viele Jahrefriedlich mit riesigen Verschiebebahnhöfen zulasten dergesetzlichen Krankenversicherung koexistiert. Auch da-ran sollte und muss heute erinnert werden.Wissen Sie, liebe Kollegin Regina Schmidt-Zadel, et-was wird nicht besser oder richtiger, nur weil zwei dasGleiche tun.
Nicht nur, dass Sie als Regierungsparteien jetzt zu dengleichen Methoden greifen wie Ihre Vorgängerregierung,ist aus meiner Sicht schlimm. Hinzu kommt noch: DieSparpolitik im Gesundheitswesen haben Sie immerwieder mit dem Gebot der Beitragssatzstabilität begrün-det. Jetzt aber kürzt die rot-grüne Regierung willkürlichdie Einnahmen der GKV und provoziert damit selbstnachfolgende Beitragserhöhungen.Vor einigen Wochen waren es nur unausgegorene undwidersprüchliche Äußerungen der Gesundheitsministe-rin, die dem Verdacht von Konzeptionslosigkeit Nahrunggaben. Heute offenbart die Regierung im praktischenHandeln, dass sie in der Gesundheitspolitik zurzeit entge-gen ihren Behauptungen nicht über einen klaren Kurs ver-fügt. Das könnte sich bald rächen; denn dieses Politik-feld – noch immer voller ungelöster und hochbrisanterProbleme – wird weiter in den Mittelpunkt der gesell-schaftlichen Auseinandersetzungen rücken. Spätestensdann wird viel davon abhängen, ob eine sozialdemokra-tisch geführte Regierung weiß, was sie will.Vor allem muss erwartet werden, dass sie einem zu-nehmenden Druck in Richtung ökonomischer Konkur-renz, Kern- und Wahlleistungen und damit einhergehen-der Privatisierung der gesundheitlichen Versorgung nichtnachgibt.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Katrin Dagmar Göring-Eckardt10824
Als
nächste Rednerin hat die Parlamentarische Staatssekretä-
rin Ulrike Mascher das Wort.
U
Sehr verehrte Kol-legen und Kolleginnen! Die Kollegen von der Oppositionhaben sich heute offenbar ihr oppositionelles Pflichtpro-gramm vor dem Sommerurlaub vorgenommen
und versuchen in Kurzform, die verbalen Schlachten derletzten Monate noch einmal zu schlagen und auch nocheine kleine Schreckensmeldung abzusetzen.
Seit einigen Wochen taucht auch in der Presse immerwieder das Schreckgespenst einer Beitragserhöhung inder Krankenversicherung auf. Es gibt sich selbst erfül-lende Prophezeiungen. Man muss nur lange genug davonreden; dann schafft man das schon.Mit der Drohung einer Beitragserhöhung haben dieKrankenversicherungsträger versucht, auf die Entschei-dung der Bundesregierung Einfluss zu nehmen. Jetzt,nachdem die Bundesregierung entschieden hat, soll Stim-mung für die Rücknahme der Entscheidung erzeugt wer-den.
Wenn man es nüchtern betrachtet, stellt man fest: Hinter-grund der aktuellen Debatte ist, dass im Haushalts-sanierungsgesetz 1999 die Bemessungsgrundlage für dieBeiträge zur Renten- und zur Pflegeversicherung derArbeitslosenhilfebezieher auf den Zahlbetrag der Arbeits-losenhilfe abgesenkt wurde. Die Krankenversicherungs-beiträge blieben 1999 ausgenommen. – Dieser Schritthatte damit zu tun, dass man damals mitten in der Erar-beitung der Gesundheitsreform 2000 steckte.
– Das finde ich auch korrekt. Wenn man ein so großes Re-formvorhaben vor sich hat, darf man es nicht auch nochmit anderen Dingen belasten.
Für die Beratungen zum Haushalt 2001 und zum Fi-nanzplan bis 2004 ergibt sich nun aufgrund des Zukunfts-programms folgende Ausgangslage: Es muss ein Konso-lidierungsbeitrag von jährlich 2,4Milliarden DM erbrachtwerden. Selbst bei noch so sparsamer Haushalts- undWirtschaftsführung ist ein solcher Betrag nicht zu erwirt-schaften.Wir haben uns deswegen dafür entschieden, dass dieKrankenkassen – jedenfalls für diese Legislaturperiode –,genauso wie die Rentenversicherung und die Pflegeversi-cherung, hier ihren Beitrag leisten: Absenkung der Be-messungsgrundlage für die Krankenversicherungsbei-träge der Arbeitslosenhilfeempfänger auf die Höhe derrealen Zahlbeträge.
– Doch, genau darum geht es, Herr Lohmann. Nur darumgeht es.
Versuchen Sie jetzt nicht, da einen Popanz aufzubauen!
Ich halte das für eine verantwortbare Entscheidung.Wir haben für die Krankenkassen durch die Neuregelungder geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, das heißtdurch das 630-Mark-Gesetz, zusätzliche Einnahmen er-schlossen.
– Nein!Den Krankenkassen sind im letzten Jahr 1,6 Milliar-den DM zugeflossen, obwohl das Gesetz erst im Frühjahrin Kraft getreten ist. Hochgerechnet auf das Jahr 2000 er-geben sich einschließlich der geringfügig Nebenbeschäf-tigten Mehreinnahmen von rund 3 Milliarden DM. Ichwill jetzt gar nicht die Aussage des Vorsitzenden des Bun-desverbandes der Ortskrankenkassen bemühen, der jawiederholt hat, was Ihr ehemaliger GesundheitsministerSeehofer immer wieder beschworen hat: die berühmten25 Milliarden DM Wirtschaftlichkeitsreserven.
Die Mehreinnahmen in der Krankenversicherungrechtfertigen das, was jetzt in einem Kompromiss – ichsage als Vertreterin des Bundesministeriums für Arbeitund Sozialordnung: dank der Hartnäckigkeit der KolleginFischer –
erreicht worden ist, wonach das Volumen der Kranken-versicherungsbeiträge aus Arbeitslosenhilfe nicht um2,4 Milliarden DM, sondern um 1,4 Milliarden DM abge-senkt wird. Deshalb wurde beschlossen, die Bemessungs-grundlage für die Krankenversicherungsbeiträge der Ar-beitslosenhilfebezieher nicht auf den Zahlbetrag, sondernauf einen in der Mitte zwischen dem Zahlbetrag und derjetzigen Bemessungsgrundlage liegenden Betrag abzu-senken.Wir werden Ihnen zum Ende der Sommerpause denentsprechenden Gesetzentwurf vorlegen. Wir werden
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Ihnen den Einzelplan des Bundesministeriums für Arbeitund Sozialordnung vorlegen. Dann haben Sie noch einmalGelegenheit, diese Sache im Gesamtzusammenhang derHaushaltsentwicklung und der Entwicklung der Einnah-men in der GKV zu diskutieren.
Ich glaube, dann kann man sagen: Das ist eine Ent-scheidung mit Augenmaß. Es macht uns doch allen keinenSpaß, diese Haushaltssanierung zu betreiben. Wenn Siehier so schreien, kann ich nur sagen: Wer hat denn dasGanze verursacht? Wir haben doch von Ihnen einen fi-nanziellen Scherbenhaufen geerbt,
den wir jetzt in mühsamer Kleinarbeit aufarbeitenmüssen. Wir müssen jetzt versuchen, die Sache wieder inOrdnung zu bringen.Wenn wir in Zukunft die Entwicklung erfolgreich ge-stalten wollen, dann muss man hier mit Augenmaß vorge-hen. Ich möchte Sie bitten, sich an den konkreten Zahlenzu orientieren, anstatt zu versuchen, vor der Sommer-pause im Plenarsaal irgendwelche Schreckgespenster zubeschwören. Im Interesse der Betroffenen ist das, glaubeich, keine gute Politik, die Sie hier machen.Danke.
Als
nächster Redner hat Kollege Ulf Fink, CDU/CSU-Frak-
tion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr ver-ehrten Damen und Herren! Im Unterschied zu dem, wasFrau Schmidt-Zadel und die Parlamentarische Staatsse-kretärin Frau Mascher vorgetragen haben, gibt es keine,aber auch überhaupt keine einzige überzeugende kon-junktur-, wirtschafts- oder finanzpolitische Begründungfür diesen Griff in die Kassen der Krankenkassen.
Die Wahrheit ist: In dem Maße, wie der eichelsche Etatentlastet werden soll, werden die Kassen der Kranken-kassen, der Pflegeversicherung und der Rentenver-sicherung belastet. Per saldo haben Sie wirtschaftspoli-tisch überhaupt nichts gewonnen. Das Staatsdefizit insge-samt verändert sich überhaupt nicht. Es ändert sich nureines: Statt dass die Defizite bei Herrn Eichel auftauchen,tauchen sie nun bei Krankenkassen, Pflegeversicherungund Rentenversicherung auf. Das ist ein unzulässiger Ein-griff in die Autonomie dieser Versicherungseinrichtun-gen.
Frau Göring-Eckardt versucht, von ihren fehlenden Ta-ten dadurch abzulenken, dass sie darauf hinweist, wasfrüher falsch gelaufen ist. Ich will Ihnen einmal ein Zitatvorlesen und Sie können nachher raten, wer es gesagt hat:Trotz des fortschreitenden Alters der Menschen, trotzmedizinischen Fortschritts haben wir es geschafft,die Qualität unseres Gesundheitswesens zu erhaltenund die Beitragssituation im Rahmen des Wachstumsdes Bruttoinlandsprodukts zu halten. Das ist einetolle Leistung. Darauf hinzuweisen wäre auch poli-tisch lobenswert.Nun raten Sie einmal, wer das gesagt hat: Rudolf Dreßlerim Interview mit dem „Gesundheitspolitischen Informa-tionsdienst“ am 27. Juni. Für den Löwenanteil dieser20 Jahre haben Union und F.D.P. die Regierungsverant-wortung getragen. Vielleicht sollten Sie das einfach ein-mal zur Kenntnis nehmen.
Das eigentlich Entscheidende ist doch: Wir haben Un-tersuchungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsfor-schung vorliegen, wonach die Beitragssätze zur gesetzli-chen Krankenversicherung – wenn nichts geschieht – biszum Jahre 2040 von jetzt 13,5 Prozent auf 24 Prozent stei-gen werden. Es gibt verschiedene Schätzungen, aber alleSchätzungen gehen davon aus, dass der medizinischeFortschritt und die älter werdende Gesellschaft solche ge-waltigen zusätzlichen Kosten verursachen, dass die Bei-tragseinnahmen damit nicht Schritt halten werden kön-nen.Anstatt sich in einer solchen Situation um diesesThema intensiv zu kümmern, entziehen Sie der gesetzli-chen Krankenversicherung sogar noch Beitragseinnah-men, die ihnen zustehen. Dies ist sozialpolitisch und ge-sundheitspolitisch ein absolutes Kuddelmuddel, dem kei-nerlei Prinzip zugrunde liegt. Das lässt sich auch anFolgendem deutlich machen: Sie beschließen im Jahre1999 – das ist jetzt, im Jahre 2000, geltendes Gesetz –,dass für die Empfänger von Arbeitslosenhilfe Beiträge andie Renten- und Pflegeversicherung auf der Grundlagedes tatsächlichen Zahlbetrages und nicht, wie es bisherimmer der Fall war und notwendig ist, auf der Grundlagevon 80 Prozent des früheren Bruttoentgeltes abgeführtwerden. Bei der Krankenversicherung hingegen werdenim Jahre 2000 Beiträge nach Maßgabe von 80 Prozent desfrüheren Bruttoentgeltes entrichtet.Nun könnte man darüber diskutieren, ob besser auf dentatsächlichen Zahlbetrag oder auf 80 Prozent des früherenBruttoentgeltes abgestellt werden sollte. Für das Jahr2001 beabsichtigen Sie nun aber, bei der Renten- undPflegeversicherung Beiträge auf der Grundlage destatsächlichen Zahlbetrages abzuführen. Nun könnte mandaran denken, dass Sie das auch bei der Krankenversi-cherung wollen. Aber das ist nicht der Fall. Bei der Kran-kenversicherung wollen Sie, dass das irgendwo zwischendem tatsächlichen Zahlbetrag und 80 Prozent des frühe-ren Bruttoentgeltes liegt.Diese Politik verstehe, wer will. Wir haben doch alleHände voll zu tun, den Menschen sinnvoll zu erläutern,dass Sozial- und Gesundheitspolitik gewissen Prinzipienfolgt, denen eine einheitliche Logik zugrunde liegt. Sie
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Parl. Staatssekretärin Ulrike Mascher10826
aber entziehen dem System jegliche Glaubwürdigkeit underzeugen damit eine neue Altersarmut – insbesondere inOstdeutschland –, obwohl Sie vorgeben, ebendiese be-kämpfen zu wollen.
Gleiches gilt für die Altersverwirrten: Wir wollten et-was im Rahmen der Pflegeversicherung tun und brauchendafür Geld. Was aber tun Sie? Sie entziehen der Pflege-versicherung 400 bis 500 Millionen DM an Einnahmen.Bei der Krankenversicherung müssen wir dafür sorgen,dass die Budgetierung endlich zugunsten einer am medi-zinischen Bedarf ausgerichteten Versorgung geändertwird. Was tun Sie? Sie entziehen der Krankenversiche-rung 1,2 Milliarden DM an Beiträgen.Nein, meine Damen und Herren, das ist eine falschePolitik.
Das Wort
hat jetzt die Bundesministerin Andrea Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich unter-nehme einen Versuch, das Ritual, uns gegenseitig dieSchuld zuzusprechen, zu durchbrechen, indem ich sage:Es ist meine Verantwortung, dass dieser Beschluss im Ka-binett gefasst wurde. Dabei ist in der Tat unerheblich, obes mir dabei gut ging. Das ging auf meine Kappe und dazubekenne ich mich. Sie aber können nicht dieser harten,schwierigen und auch schmerzhaften Operation auswei-chen, den Bundeshaushalt in eine Lage zu bringen, in derwir nicht immer mehr Schulden anhäufen, sondern ihnentschulden.
Diese Aufgabe stellt sich uns aufgrund der Entwicklungin den letzten Jahren in aller Schärfe und dafür tragen Siedie Verantwortung.Wir müssen auch darüber reden – ich komme später da-rauf zurück –, wie das mit der Verantwortung für die Ge-staltung des Gesundheitswesens ist. Natürlich lassen sichAktuelle Stunden wie diese leicht beantragen. In diesemFall empfand ich es geradezu als Pflicht der Opposition,diesen Stein, von dem Sie sprachen, aufzuheben ange-sichts der Tatsache, dass Sie wussten, dass es darum eingroßes Ringen innerhalb der Bundesregierung gab. Siehätten wirklich versagt, wenn Sie das nicht gemacht hät-ten. Das ändert aber nichts daran, dass dies leicht ist,gleichzeitig Ihnen das Schwere unmöglich ist, nämlichsich zu entscheiden, was Sie wollen: Das erleben wir je-den Tag in der Rentenpolitik, das erleben wir jeden Tag inder Steuerpolitik und ich meine, das gilt auch für dieGesundheitspolitik.
Jetzt noch einmal zu dem zweifelsohne starken Wort,ich hätte mich dem Diktat des Finanzministers gebeugtund meinem Kollegen mal so eben Geld rübergeschoben:Mit Verlaub, wir reden hier vom Bundeshaushalt. Wir re-den nicht davon, dass irgendwelche Deals zwischen Mi-nistern gemacht werden, sondern von dem Bestreben, imBundeshaushalt die ständige Verschuldung einzudäm-men, und davon, dass es großer Anstrengungen bedarf,das zu ändern.
Ich will darauf hinweisen: Die Beitragszahler, zu derenFürsprecher Sie sich jetzt machen, sind in aller Regel auchSteuerzahler. Denen ist es nicht gleichgültig, ob die Ver-schuldung des Bundeshaushaltes immer weiter zunimmtund ob wir in der Lage sind, die Steuerbelastung zu sen-ken. Sie wollen ja noch viel mehr herausholen – wie wol-len Sie das eigentlich finanzieren? Ich bin deshalb dafür,dass wir alle Verantwortung übernehmen. Ich bekennemich zu dem, was wir beschlossen haben.Ich will noch einmal deutlich sagen – darauf habenaber schon etliche Kollegen und Kolleginnen hingewie-sen –: Sie können nicht behaupten, Sie seien in diesemBereich überhaupt nicht tätig gewesen. Die Absenkungvon 100 Prozent auf 80 Prozent, die der Kollege Fink sovehement verteidigt hat, ist systematisch ebenfalls nichtzu begründen, sondern war auch eine politisch gegriffeneZahl.
Außerdem muss man berücksichtigen: In den letztenanderthalb, zwei Jahren gab es immerhin keine Beitrags-satzerhöhungen, was man von den davor liegenden Jahrennicht sagen kann. Davor nämlich sind die Beiträge gestie-gen, obwohl auch die Zuzahlungen ständig gestiegensind. Dies noch einmal zu der Frage, wer wofür steht.
Herr Lohmann, das Argument, das sei unsere uner-schöpfliche Geldbörse, stimmt nicht. Fakt ist, dass sichdie Einnahmen durch die Neuregelung bei den 630-DM-Jobs positiver entwickelt haben, als wir es in unseren pes-simistischen Schätzungen angenommen haben.
Wir können immerhin sagen, das wir zum ersten Mal seitsechs Jahren im ersten Quartal des Jahres einen Anstiegder beitragspflichtigen Einnahmen verzeichnen, der über2 Prozent liegt. Das ist sehr ungewöhnlich. Das bedeutet,dass die Einnahmeentwicklung an anderer Stellewesentlich positiver verläuft, als wir das erwarten kon-nten. Jeder Prozentpunkt Zuwachs bei den beitrags-pflichtigen Einnahmen für die Krankenversicherung be-deutet Mehreinnahmen für die gesetzliche Krankenver-sicherung in einer Größenordnung von 2,4 MilliardenDM.
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Ulf Fink10827
Deshalb stellen wir hier keine Milchmädchenrechnungauf. Wir können sehr wohl belegen, dass das zu verkraftenist.Wir haben außerdem – das will ich noch einmal ganzdeutlich sagen – im Kabinett die Vereinbarung getroffen,dass wir bis zum Ende der Legislaturperiode an dieserStelle keine weiteren Veränderungen vornehmen.Noch ein Wort zu der Milchmädchenrechnung unsererKritiker. Wenn uns vorgehalten wird, wir würden die ge-setzliche Krankenversicherung um Einnahmen aus demKrankenhausnotopfer bringen, so muss ich erwidern:Meine Damen und Herren, es war Ihr Gesetz, was diesesKrankenhausnotopfer auf drei Jahre begrenzt hat. Selbstwenn wir es nicht geändert hätten – es wäre im letzten Jahrausgelaufen –, gäbe es diesen Topf in diesem Jahr nichtmehr. Zudem haben Sie durch das Krankenhausnotopfernur die Hälfte von dem erzielt, was Sie gewollt haben. Sieerinnern sich sicherlich noch an den Konflikt, den es hiergab.Was die Soziotherapie angeht, so rechnen Sie mit völ-lig überhöhten Zahlen, die überhaupt nichts mit dem zutun haben, was dort beschlossen worden ist.Ich muss angesichts der ganzen Diskussion über dasGesetz zur Gleichstellung homosexueller Lebensgemein-schaft, mit Verlaub, klarstellen, dass dieses Gesetz nochnicht beschlossen ist. Zudem wird es nur wenige homo-sexuelle Paare geben, die überhaupt Leistungen diesesGesetzes in Anspruch nehmen werden – und die Wahr-scheinlichkeit, dass es sich bei denen um so genannteHausfrauenehen handelt, ist relativ gering.Wenn Sie also behaupten, dieses Gesetz würde für Mil-liardenbelastungen sorgen, dann muss ich feststellen, dassdies nur ganz wenig mit der gesellschaftlichen Realität zutun hat.
Im Zusammenhang mit der Rentenreform will ichdeutlich darauf hinweisen: Mit den Zahlen, die dort zumTeil herumschwirren, geht man von einem Status quo anteaus, der schon jahrelang obsolet ist. Man kann natürlichimmer von früher prognostizierten Rentenentwicklungenausgehen. Es ist selbstverständlich klar, dass die Renten-reform, die wir beschlossen haben, auch Auswirkungenauf die Einnahmeseite der gesetzlichen Krankenversiche-rung haben wird. Das ist richtig. Aber das liegt in der Lo-gik unserer Sozialversicherungssysteme. Sie weisenschließlich auch immer dann Einnahmeschwankungenauf, wenn die Löhne steigen oder sinken. Mit Verlaub, derHinweis, dass sich die Rentenreform auch auf die gesetz-liche Krankenversicherung auswirkt, kann kein Argumentgegen eine dringend notwendige Reform sein.
Jetzt zu der Frage der Verantwortung. Ja, Herr Fink, Siehaben Recht: Die Frage des demographischen Wandelsgehört auf die Agenda. Aber es stimmt nicht, dass der de-mographische Wandel ein Beleg dafür ist, dass wir mitdem heute vorhandenen Geld unter keinen Umständenauskommen können; denn die Prognosen, die Sie erwähnthaben, erfüllen sich erst in 20 oder 30 Jahren.
Auch Sie wissen, dass die Prognosen – je nach Studie –eine große Bandbreite aufweisen. Das lohnt sich zu disku-tieren. Zu dieser Diskussion bin ich auch bereit. Ich binder festen Überzeugung, dass wir noch schwierigeEntscheidungen vor uns haben, die sowohl die Einnah-men- als auch die Ausgabenseite betreffen werden.Nur, wenn Sie sagen: „Ihr mit Eurer Budgetierung seiddoch Schurken, dadurch wird alles so schwierig!“, dannmüssen Sie auch hinzufügen, dass nach Ihrem Alternativ-vorschlag die Versicherten wieder sehr viel mehr zahlenmüssen oder dass sie bestimmte Leistungen nicht mehr inAnspruch nehmen können. Sie verfügen doch über ein-schlägige Erfahrungen, was die Versicherten von einemsolchen Vorschlag halten.
Die Debatte darüber haben Sie 1997/98 schon einmalgeführt, wenn ich mich richtig erinnere. Es ist klar, wennman in der Opposition ist, kann man solche Forderungenaufstellen und niemand regt sich auf, weil niemand dieFolgen Ihrer Vorschläge zu spüren bekommt. Trotzdemmüssen Sie zugeben, dass Sie an diesem Punkt auch nocham Anfang der Lösung des Problems stehen; denn dieWahlleistungsdebatte wird auch bei der Opposition undinsbesondere bei der CDU/CSU – wenn ich das richtigverfolgt habe – außerordentlich kontrovers geführt. VollerNeid erkenne ich also an, dass Sie sich in der Oppositionandere Vorschläge leisten können als wir uns in derRegierung.
– Aber Sie können zeigen, dass auch Sie Ihren Teil derVerantwortung übernehmen wollen, wenn Sie einen Teilunserer Verantwortung mittragen. Alle bislang von unsgeplanten Maßnahmen, zum Beispiel Steuerung der Aus-gaben, Qualitätssicherung und Herstellung von Daten-transparenz, um bessere Kenntnisse über das, was tat-sächlich geschieht, zu erlangen, bieten Ihnen vielfältigeMöglichkeiten, zu zeigen, wie ernst es Ihnen damit ist, dieLeistungen im Gesundheitswesen angemessen zu steuernund einen Beitrag für die Zukunft zu leisten.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Rainer
Eppelmann von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Ich rede hier nicht als ge-sundheitspolitischer Fachmann – der bin ich auch nicht –,
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Bundesministerin Andrea Fischer10828
sondern als betroffener Sozialpolitiker. Ich möchtemeinen Ausführungen voranstellen: Ich erhebe nicht denAnspruch, dass wir immer dann, wenn wir regiert haben –das wird auch in der Zukunft so sein –, alles richtiggemacht haben. Aber selbst wenn man dies zugibt, mussman heftige Kritik üben können, wenn man den Eindruckhat, dass andere etwas falsch machen.
Ungerechtigkeit und Kurzsichtigkeit werden nicht des-wegen weniger, weil sie wiederholt werden. Während bis1999 die Beiträge der Arbeitslosenhilfebezieher zur Ren-ten-, Pflege- und Krankenversicherung auf der Basis von80 Prozent des bisherigen Bruttoverdienstes erhoben wur-den, gilt dies zurzeit nur noch für Beiträge zur Kranken-versicherung. An dieser Stelle soll nun offensichtlichnachgearbeitet werden. Noch einmal: Das wird nicht al-lein deswegen besser, weil es schon einmal gemacht wor-den ist. Dieser Weg war falsch und bleibt falsch.Für die Rentenansprüche bedeutet dieser Weg erhebli-che Kürzungen. Er führt gerade in den neuen Ländern beigeringerer betrieblicher und privater Altersvorsorge undbei einer höheren Arbeitslosigkeit, auch bei einer höherenDauerarbeitslosigkeit, zu einer erheblich steigenden Al-tersarmut. Beitragszahler rutschen unter das Sozialhilfe-niveau ab. Bei den jetzt erneut gewählten willkürlichenVerschiebebahnhöfen spürt der Arbeitslosenhilfeempfän-ger selbst keine Entlastung; die Beitrags- und Steuerzah-ler aber müssen mehr schultern.Ich bin als Mitglied der AOK in Brandenburg vollgroßer Sorge. Durch die Solidarität der Kassen im Risi-kostrukturausgleich und durch verbesserte Effektivität hatdie Brandenburger AOK endlich wieder einmal schwarzeZahlen geschrieben, allerdings nur ganze 4,6 MillionenDM. Wenn Sie jetzt Ihren unheilvollen Weg der willkür-lichen Absenkung fortsetzen, dann würde dadurch alleinbei der AOK in Brandenburg ein neues Minus von 34Mil-lionen DM entstehen.Ich frage mich als bei der AOK Versicherter ängstlich:Wie lange bleibt die AOK in Brandenburg und in denneuen Ländern überhaupt noch leistungsfähig, wenn dieZahl der Arbeitnehmer und damit die der Beitragszahlerzurückgeht? Wie kann die AOK in Brandenburg, wie kön-nen die AOKen in den neuen Ländern ihren Haushalt we-nigstens wieder ausgleichen? Durch eine Erhöhung derschon jetzt vergleichsweise hohen Beiträge? Durch wasdenn sonst! Das ist kein guter Weg; das ist und bleibt einschlechter Weg.Danke schön.
Als
nächster Redner hat der Kollege Eike Hovermann von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Herrn Lohmann ging es umPleiten, Pech und Pannen. Zwar waren wir von Rot-Grüngemeint; aber hinter diesen Begriffen verbarg sich dieDiskussion über die Finanzen im Gesundheitswesen. DerVorwurf lautet, die Gesundheit blute aus, man nehme Be-lastungen einfach hin und der Weg zur Zweiklassenmedi-zin werde geebnet. Ich kann dazu nur sagen: Alle Haus-halte, bis auf den von Bildung und Forschung, haben Ein-schnitte hinnehmen müssen, so auch der für Gesundheit.Die entscheidende Frage ist: Waren die Einschnitte bei derGesundheit so gravierend? Hätte es nicht schon in derVergangenheit Möglichkeiten gegeben, innerhalb des Ge-sundheitssystems wirtschaftlich und finanziell etwas zumachen? Ich will nicht nach hinten schauen; diese Ritualeliegen mir nicht so sehr.
Ich will nur daran erinnern, dass im Zuge der Ausei-nandersetzung über den vorgelegten Entwurf zu einer Re-form des Gesundheitsstrukturgesetzes zum Beispiel dieDatensammlung bzw. die Datenzusammenführung ver-hindert – das Wort „blockiert“ darf ich nicht nehmen –worden ist. Nach Meinung aller Experten ist dies das ein-zige sinnvolle Instrument zur Steuerung und zur Kontrolledes Gesundheitswesens und seiner Ausgaben. Alle Fach-leute waren und sind sich darin einig, dass dieses Instru-ment kommen muss, weil nur auf diesem Weg MilliardenDM an Ausgaben zum Beispiel bei den Arzneimitteln ein-gespart werden könnten: durch Vermeidung zu häufigerVerschreibungen, durch Vermeidung der Herstellung zuteurer und falscher Arzneien, durch Vermeidung vonunnötigen Doppeluntersuchungen, durch die Kontrolleder Verweildauer im Krankenhaus – ich erinnere an diePraxis unnötiger Einweisungen am Mittwoch und amSamstag; Sie kennen das – , durch „Doktorhopping“ unddurch vieles anderes mehr.Es gibt im Gesundheitswesen riesige Einsparpoten-ziale. Die Frage ist, ob der Finanzminister hier nicht aufdie Idee gekommen ist, die einsparbaren Dinge im Ge-sundheitswesen mit den Belastungen, die er dem Gesund-heitssystem zugemutet hat, aufzurechnen. Es gilt festzu-halten, was Frau Schmidt-Zadel gesagt hat: Es war einebittere Pille. Ich sage lieber: Es ist eine Kröte, an der wirsehr schwer zu schlucken haben.
Ich erinnere auch daran, dass an sich der doppelte Be-trag an Kürzungen, nämlich 2,4 Milliarden DM, auf demGesundheitsbereich hätte lasten müssen. Aber die Ge-sundheitsministerin hat diesen Betrag erfolgreich auf1,2 Milliarden DM reduziert.
– Herr Lohmann, wir sind erst am Anfang des Weges. Wirsind uns völlig klar darüber, dass wir spätestens nach derSommerpause in Gesprächen mit der Bundesregierungweitere Entlastungen für die GKV erreichen wollen undauch müssen. Wir alle wissen, in vielen Bereichen des Ge-sundheitswesens gäbe es genug Möglichkeiten, die1,2 Milliarden DM sinnvoll einzusetzen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Rainer Eppelmann10829
Wir fordern Sie allerdings auf, mit uns in einen Dialogeinzutreten und nach weiteren Wegen im Gesundheitssys-tem zu suchen. Ich denke, Herr Dr. Parr, etwa an die Ver-netzung von Praxen und die integrierte Versorgung gemäߧ 140 SGBV. Dadurch können 20 bis 30 Prozent der Gel-der eingespart werden, die jetzt noch im Gesundheitssys-tem im Grunde für ineffektive Dinge ausgegeben werden.Ich würde Sie, Herr Parr, ausdrücklich bitten, nicht vonbilligen Generika zu sprechen, weil dadurch der Eindruckerweckt wird, dies seien sozusagen Tabletten von minde-rer Bedeutung und schlechterer Qualität. Sie wissen ge-nau, dass die Generika, die sich auf dem Markt befindenund verantwortungsbewusst verschrieben werden, diegleichen Wirkstoffe haben und gleiche Wirkungen erzie-len. Vermeiden Sie bitte, wenn Sie von billigen Generikasprechen, den Touch, diese seien zweite Wahl, die wollenwir nicht. Sie wissen genauso gut wie ich, dass es vielfäl-tige Arzneimittel gegen hohen Blutdruck gibt, die alle diegleichen Wirkstoffe beinhalten und alle die gleichen Aus-wirkungen haben, deren Preise aber zwischen 8 und40 DM liegen. Seltsamerweise werden in 70 Prozent derFälle die teureren Mittel verschrieben. Das ist nicht nötig.Um das zu verhindern, brauchen wir die Datenzusam-menführung.
Ich denke, man kann an sinnvollen Strukturreformenmitarbeiten. Sicherlich war auch die Positivliste ein Mit-tel – das wurde von Ihnen bestritten –, langfristig Kostenim Gesundheitssystem einzusparen.
Die Schweiz, die über ein ausgezeichnetes Gesundheits-system verfügt, praktiziert dieses so und niemand be-schwert sich. Wir wissen natürlich, welch mächtigeLobby dahinter steht: Diese möchte das nicht und auchnicht, dass das Prinzip des Reimports eingeführt wird oderetwa die Möglichkeit der Aut-idem-Verschreibung durchden Apotheker, Herr Zöller.
– Dann müssen wir aber auch zusammenfinden und zuse-hen, dass Sie unser Gesundheitsstrukturgesetz in all sei-nen Implikationen mittragen, Herr Lohmann.
Auf diesem Wege haben wir ja auch die von Ihnen ein-geführten starren Fristen im Reha-System verändert – einvöllig falscher Ansatz. Insbesondere die bayrischen Kur-orte, Herr Zöller, hätten dadurch beinahe ihren Nieder-gang erlebt. Sie wissen, dass Ihr ehemaliger Parteifreund,Herr Gnan, zu uns gekommen ist und gesagt hat: HelfenSie uns, in Bayern geht die Sonne unter!
Inzwischen zeigt sich, wie Herr Professor Steinbach sagt,ein Silberstreif am Horizont. Den werden wir mithilfe allder von uns geplanten Schritte vergrößern.Ich erinnere auch an die Vereinbarung über den Kata-log von Operationen, die ambulant durchgeführt werdenkönnen. Ich will Ihnen das einmal vorlesen.
Nein,
Herr Kollege, bitte nicht mehr vorlesen.
Ich schließe damit auch ab.
Sie haben
Ihre Redezeit bereits reichlich überschritten.
Verehrter Herr Präsident,
das habe ich jetzt erst erfahren. Darf ich den Satz noch zu
Ende bringen?
Bitte sehr,
gerne.
Herr Präsident, ein letzter
Satz mit ein paar Zahlen.
– Das muss an Ihnen liegen.
In den USAwerden 65 Prozent aller Leistenbrüche am-
bulant behandelt, bei uns nur 4 Prozent. Es wäre gar kein
Problem, dass auch wir diese Zahlen erreichen.
Wir haben immer darauf hingewiesen, dass das ge-
samte Gesundheitsstrukturgesetz auf solche Dinge ausge-
richtet worden ist. Wir wollen da weitermachen und den
Silberstreif am Horizont vergrößern. Wir bitten Sie, nicht
durch unqualifizierte Bemerkungen über billige Generika
den Eindruck zu erwecken, als ob wir uns auf dem Weg
zur Zweiklassenmedizin befänden.
Herr Präsident, ich danke.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Sabine Bergmann-
Pohl von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Prä-sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Fischer,nachdem ich Ihre Rede gehört habe, ist mir jetzt wirklichnicht mehr klar, ob Ihnen überhaupt bewusst ist, welcheFolgen Ihre Gesundheitspolitik hat.
Sie bringen durch Ihre Gesundheitspolitik und den Griffin die Kassen der gesetzlichen Krankenversicherungen,die Sie um 1,2 Milliarden DM erleichtern, diese in eine
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Eike Hovermann10830
nicht mehr zu korrigierende Schieflage. Das hat übrigensauch Frau Schaich-Walch bestätigt. Sie hat nämlich am21. Juni 2000 gesagt:Sollte Riester Erfolg haben, dann „ist absolut klar,dass die Kassen im kommenden Jahr die Beiträge er-höhen“.Das heißt: Sie sind sich offensichtlich gar nicht darüberim Klaren, weil Sie selbst den Grundsatz der Beitrags-satzstabilität infrage stellen.
Hinzu kommt, dass Sie mithilfe des VorschaltgesetzesWahlkampfgeschenke gemacht haben.Sie sprechen zum Beispiel auch das Krankenhausnot-opfer an. Ich finde Ihr Vorgehen unglaublich, weil Siewissen, dass sich die Länder gewehrt haben, die Kostenfür die Instandhaltung der Krankenhäuser zu bezahlen.
Weil zum Beispiel OP-Säle nicht mehr funktionieren, ha-ben wir das Krankenhausnotopfer eingeführt. Sie werfenuns aber vor, unsozial gehandelt zu haben. Sie wissenganz genau, Frau Fischer, dass wir damals in der Klemmewaren.Hinzu kommt auch, dass Sie die Krankenkassen durchIhre Gesundheitsreform mit 2 Milliarden DM und durchBeitragsausfälle aufgrund der Kürzung bei den Rentenzusätzlich belastet haben: mit 600 Millionen DM in die-sem Jahr und 1,4 Milliarden DM im nächsten Jahr. Dasheißt also: 5,8 bis 6,6 Milliarden DM werden der Kran-kenversicherung fehlen. Ich möchte von Ihnen schon wis-sen, wie Sie das ausgleichen wollen.Wenn Sie mir mit dem Märchen von der positiven Wir-kung der Einbeziehung der geringfügigen Arbeitsverhält-nisse kommen, dann muss ich Ihnen sagen: Erstens nimmtdie Zahl dieser Arbeitsverhältnisse ab. Zweitens betragendie Beiträge aufgrund dieser Arbeitsverhältnisse jährlichnur 2 Milliarden DM. Drittens können Sie jede Mark nureinmal ausgeben.
Sie haben uns also noch nicht gesagt, wie Sie die Ausfälleausgleichen wollen.Wir merken ja jetzt schon, dass diese Gesundheitspoli-tik zu einem Qualitätsabbau geführt hat. Sie selbst habenam 17. September des vorigen Jahres im Bundestag ge-sagt:... wenn wir die Ausgaben in den nächsten Jahrenentsprechend den Löhnen steigern, kann es nichtsein, dass wir damit in eine Zwei Klassen Medizin,in eine Barfuß-Medizin oder was auch immerzurückfallen. Das ist einfach völlig unrealistisch.Das ist etwas, was Panik verursachen soll, aber mitder Realität nichts zu tun hat.
Was aber ist passiert? Herr Kirschner, schauen Sie sicheinmal an, was der VFAund die Gmünder Ersatzkasse ge-sagt haben, die unsere Politik nicht gerade gutheißen.Diese haben nämlich festgestellt, dass 2,5Millionen Asth-matiker nicht mehr ausreichend medikamentös behandeltwerden. 88 Prozent der Alzheimererkrankten und 75 Pro-zent der Personen mit chronischer Herzinsuffizienz erhal-ten keine nach wissenschaftlichem Stand erforderlicheTherapie. 65 Prozent der Menschen mit Depressionensind unterversorgt. Jeder Vierte in Deutschland ist inzwi-schen medizinisch unterversorgt.
An dieser Tatsache kommen Sie nicht vorbei.
Gestern haben Sie in unserer Anhörung gehört, dass einPsychotherapeut in Mecklenburg-Vorpommern – manhöre und staune – 14,8 Pfennige für eine Behandlungs-stunde bekommt.
Frau Fischer, ich weiß also gar nicht, wie Sie dieses Ge-sundheitswesen mit Ihrer Politik retten wollen.Wenn Sie von Qualitätssicherungsmaßnahmen spre-chen, dann merkt man, dass Sie offensichtlich nicht so tiefin der Materie stecken; denn Qualitätssicherungsmaßnah-men sparen kein Geld, sondern sie kosten Geld.
– Herr Kirschner, wenn Sie uns vorwerfen, dass in einemlangen Zeitraum Beiträge geringfügig angehoben wordensind, dann muss ich sagen: Das geschah aufgrund des me-dizinischen Fortschritts. Überlegen Sie doch einmal, washeute alles möglich ist! Von Lebertransplantationen sowievon Herz-Lungen-Transplantationen haben wir noch vorzehn Jahren nicht zu träumen gewagt. Aber sie kostenGeld und müssen bezahlt werden. Sie liegen mit Ihrer Ge-sundheitspolitik schon sehr daneben. Sie werden dafürauch die Quittung erhalten; denn durch Ihre Politik habenwir bereits heute eine Zwei Klassen Medizin in Deutsch-land.
Frau Fischer, wenn Sie weitere Haushaltslöcher mitKrankenversicherungsbeiträgen stopfen wollen, dannmuss ich Ihnen empfehlen, dieses Geld lieber mit IhrenZirkusauftritten hereinzuholen
als mit einem Griff in die Kasse der Krankenkassen.Vielen Dank.
Das Worthat jetzt der Kollege Horst Schmidbauer von der SPD-Fraktion:
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Dr. Sabine Bergmann-Pohl10831
Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen
und Herren! Ich denke, das war eigentlich eine gute
Chance, mehr Argumente in der Sache auszutauschen.
Aber leider ist – außer vom Kollegen Eppelmann – davon
sehr wenig Gebrauch gemacht worden. Gerade Sie, Frau
Kollegin Bergmann-Pohl, haben hier mit einer Argumen-
tation aufgewartet, die nicht neu ist; denn dass die chro-
nisch Kranken in diesem Land unterversorgt sind, haben
die Menschen schon vor zehn Jahren gewusst.
Es hat sich auch in den letzten Jahren nichts getan. In der
ganzen Gesundheitsdebatte haben Sie in hohem Maße ge-
pennt.
Wir haben mit der Reform 2000 die so genannten kom-
munizierenden Röhren geschaffen. Wir werden das Geld
aus der Überversorgung, das Geld aus der Fehlversorgung
nehmen – es also nicht aus dem System herausnehmen,
sondern es nutzen –, um die Unterversorgung gerade der
chronisch Kranken zu überwinden. In dieser Richtung
werden wir agieren.
Ich glaube, wir müssen als Sozialdemokraten deutlich
machen, dass die Frage, die jetzt der Regierung zur Ent-
scheidung vorliegt, in der Koalition noch nicht entschie-
den ist und dass wir uns natürlich bemühen werden und
dafür arbeiten wollen, überzeugen wollen, dass dieser
Kelch an der solidarischen Krankenversicherung vorbei-
geht. Wenn Sie uns dabei helfen, Kollege Thomae, habe
ich natürlich nichts dagegen.
Das Ziel der Haushaltskonsolidierung tragen wir un-
eingeschränkt mit; denn das ist ja nachhaltig begründet
worden. Aber damit die Sanierung nicht zulasten der So-
lidargemeinschaft der Versicherten geht, brauchen wir Al-
ternativen. Wir wären froh gewesen, wenn heute im Rah-
men der Aussprache Alternativen benannt worden wären,
wie wir einen anderen und besseren Weg finden können.
Es steht außer Zweifel, dass der Erfolg der Bundesre-
gierung am Arbeitsmarkt zu Mehreinnahmen führen wird.
Ob allerdings die Mehreinnahmen die Einsparungen in
der Größenordnung von 1,2 Milliarden DM ausgleichen
werden, ist eine andere Frage. Unsere Befürchtung ist
eher folgende: Wir glauben, dass die Opposition dies als
Vorwand benutzt, um Druck auf die Patientinnen und Pa-
tienten auszuüben.
Das ist das, was uns in dieser Frage am meisten schreckt.
Deshalb will ich auch gar nicht leugnen, dass wir in der
Frage der Sanierung der Staatsfinanzen vorankommen
müssen. Allerdings: Wenn heute von der Union oder auch
von der F.D.P. wegen dieser geplanten Umleitungsaktion
gleich von einem „Verschiebebahnhof“ geredet wird, soll-
ten Sie sich lieber erinnern, welche geradezu gigantischen
Baumaßnahmen von Verschiebebahnhöfen unter der Re-
gierung Kohl/Waigel/Seehofer/Blüm stattgefunden ha-
ben.
Sie haben in immer kürzeren Abständen ständig Mittel hin
und her geschoben mit dem Ergebnis, dass der Zug unse-
res Sozialstaates überhaupt nicht mehr vorankam, dass
der Zug unseres Sozialstaates letztlich im Sumpf der
Staatsverschuldung stecken geblieben ist.
Im Gegensatz zu den Chefrangierern der alten Regie-
rung werden wir in der SPD-Fraktion nach Alternativen
trachten, damit das Vertrauen in das Gesundheitssystem
nicht untergraben wird.
Die letzte Glanzleistung Ihrer Chefrangierer war, den
Krankenversicherungen 5 Milliarden DM aus den Ta-
schen zu ziehen. Durch die Absenkung der Bemessungs-
grundlage der Beiträge für die Arbeitslosen haben Sie die
Krankenkassen um 5 Milliarden DM erleichtert. Ihr gran-
dioses seinerzeitiges Ergebnis: Beitragserhöhung statt
Beitragsstabilität. Ich denke, so pharisäerhaft, wie Sie tun,
darf nur tun, wer sich auf die strenge Einhaltung von Re-
geln und Gesetzen berufen kann.
Darauf berufen darf sich nur der, der selbst noch im
Stande der Unschuld ist. Aber unschuldig am Zustand der
Krankenversicherung, der Rentenversicherung, der Pfle-
geversicherung, der Arbeitslosenversicherung sind Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, ganz ge-
wiss nicht – im Gegenteil!
Es ist allzu billig, sich über jemanden zu mokieren, der
Schwierigkeiten beim Aufräumen hat und Probleme an-
packen muss. Sie dürfen nicht vergessen, dass es sich um
das Aufräumen Ihrer Hinterlassenschaften handelt.
Als letz-
ter Redner in der Aktuellen Stunde hat der Kollege
Matthäus Strebl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Jederzeit wollte sichder Bundeskanzler am Abbau der Arbeitslosigkeit messenlassen. Heute diskutieren wir darüber, wie Rot-Grün dieArbeitslosen bekämpft,
wie Sie mit kurzatmigen Aktionen die Belastbarkeit dersozialen Sicherungssysteme testen. Bei der Rente disku-tieren wir zwischenzeitlich über das Riester-ModellNr. 68. Bei der Pflegeversicherung zerstören Sie systema-tisch die Finanzierungsgrundlage. Ähnlich ist es bei der
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gesetzlichen Krankenversicherung. Sie setzen Rotstift ge-gen schwarze Zahlen.
Die Sozialkassen, Kollege Schmidbauer, dienen Ihnennur noch als Verschiebebahnhof für Ihre hektische Haus-haltspolitik.Was Sie damit zerstören, ist enorm: die Vertrauens-grundlage für den Generationenvertrag und das Vertrau-enskapital der Sozialversicherung. Ihre Sozialpolitikgleicht einem Rummelplatz: Sie verkünden laut schreienddie neuesten Angebote, als Lose nur Nieten, und selbst beiden Gewinnen ist bereits der Lack ab. So funktioniertSchröders Rummelplatzpolitik. Wen wundert es, dass dieMenschen trotz weltweit guter Konjunkturdaten und de-mographischer Entspannung auf dem Arbeitsmarkt dieserBundesregierung nichts mehr glauben?Noch im November 1998 kündigte im „Kölner Ex-press“ der zwischenzeitlich privatisierte Schröder-Kom-pagnon, der damalige Bundesfinanzminister Lafontaine,der Fahnenflucht begangen hat, an, dass die Zahl der Ar-beitslosen um 1 Million sinken werde. Wir von den Uni-onsparteien werden Sie daran messen. Heute diskutierenwir darüber, dass die Beiträge der Arbeitslosenhilfe-empfänger zur gesetzlichen Krankenkasse sinken sollen.Die Situation der Langzeitarbeitslosen hat sich nämlichweiter verschärft. Diese Kehrtwenden, die Sie in der Ar-beitsmarktpolitik, bei der Pflege, in der Gesundheitspoli-tik und in der Rentenpolitik vorführen, zeigen IhreRatlosigkeit.
Mein Vorwurf ist: Sie haben sich mit falschen Verspre-chungen an die Macht gemogelt, im Wahlkampf dieUnion diffamiert
und müssen heute damit klarkommen, dass die Wirklich-keit anders aussieht als die bunt bemalten Papiere aus derSPD-Zentrale.
Was die Schröder-Regierung am meisten zu fürchtenhat, ist das Langzeitgedächtnis der Menschen, die Sie imWahlkampf mit falschen Versprechungen geleimt haben.Sie lösen keine Probleme, Sie sind das Problem.
Allein die Abkehr von der nettolohnbezogenen Renteverursacht bei den Krankenkassen in diesem und imnächsten Jahr 2 Milliarden DM Mindereinnahmen. Undes geht noch weiter: Durch die Kürzung der Beiträge vonArbeitslosenhilfeempfängern zur Rentenversicherungschafft diese Regierung neue Altersarmut, die sie dann miteiner Art Grundrente wieder bekämpfen will. Und durchdie Kürzung der Beiträge von Arbeitslosenhilfeempfän-gern zur sozialen Pflegeversicherung wurden dieser dieMittel genommen, die sie braucht, um den altersverwirr-ten Menschen, den Demenzkranken zum Beispiel, zu hel-fen.Nun wollen Sie die Beiträge der Arbeitslosenhilfeemp-fänger zur gesetzlichen Krankenversicherung kürzen. DasErgebnis wird sein: jährlich 1,2 bis 1,5 Milliarden DMMindereinnahmen. Durch diese Mindereinnahmen sinddie Arbeitsplätze von sehr vielen Krankenpflegerinnenund Krankenpflegern gefährdet. Dies steigert den enor-men Druck, dem die Beschäftigten im Gesundheitswesenausgesetzt sind, nochmals.Wir, die CDU/CSU, sind zu einem fairen Umbau dersozialen Sicherungssysteme bereit. Aber, meine sehr ver-ehrten Damen und Herren von Rot-Grün, dazu müssen Siehier erst die Nebelkerzen verschwinden lassen. Es müssenwieder Klarheit und Wahrheit in die gesamte Sozialpoli-tik einkehren. Statt die Arbeitslosen zu melken, wäreneine durchgreifende Steuerreform, eine verlässliche Ren-tenreform und ein wahres Bündnis für Arbeit, das diesenNamen auch verdient, notwendig.
Im letzten Jahr der unionsgeführten Bundesregierungwurde die Zahl der Arbeitslosen um 400 000 reduziert.Das entlastet die Sozialversicherung und stabilisiert ihreFinanzgrundlage. Seit 1999 bleibt der Abbau der Arbeits-losigkeit unter der Entlastung des Arbeitsmarktes durchdie geburtenschwachen Jahrgänge.Eine „neue Mitte“ wollten Sie, die neue Bundesregie-rung, ansprechen. Eine neue Ehrlichkeit wäre hilfreicher,um den notwendigen Konsens beim Umbau der Sozial-systeme und die dafür notwendige Akzeptanz in der Be-völkerung zu schaffen. Mit einer Kürzungsorgie gegendie Arbeitslosen zeigt diese Bundesregierung ihre Hilflo-sigkeit in der sozialen Frage.Zum Schluss möchte ich Ihnen eines sagen: Es wirdZeit, dass der DGB mit 8 Millionen DM auch eine Kam-pagne für eine andere, eine ehrliche Sozialpolitik startet.
Die Union wird aufmerksam beobachten, ob hier die Ge-nossensolidarität wichtiger ist als der Einsatz für sozialeGerechtigkeit.
Die Aktu-elle Stunde ist beendet.Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:Beratung des Antrags der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90 /DIE GRÜNENStärkung des sozialen Zusammenhalts der Ge-sellschaft durch Weiterentwicklung des Sozial-staats und mehr Gerechtigkeit– Drucksache 14/3787 –
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Matthäus Strebl10833
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat derKollege Rudolf Dreßler von der SPD-Fraktion das Wort.Rudolf Dreßler (von der SPD, dem Bünd-nis 90/Die Grünen und der PDS mit Beifall begrüßt): HerrPräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! DieSozialpolitik war ein Schwerpunkt des SPD-Wahlpro-gramms im Jahre 1998.
Alle Wahlanalysen berichten, dass wir gewählt wurden,weil große Teile der Bevölkerung ein Gerechtigkeitsdefi-zit empfunden haben. Man erwartet von der Sozialdemo-kratie, dass sie dieses Gerechtigkeitsdefizit abstellt.Sozialpolitik wurde zu einem Schwerpunkt des Arbeits-programms der Koalitionsfraktionen, von Bündnis 90/Die Grünen und SPD. Wir haben in den ersten Monatendieser Legislaturperiode viel auf den Weg gebracht. Man-che sagen: zu viel. Die wichtigsten Maßnahmen sind imEinzelnen im vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktio-nen aufgelistet.Auch für die zweite Hälfte der Legislaturperiode set-zen die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionenwichtige sozialpolitische Reformvorhaben auf die Tages-ordnung. Besondere Bedeutung kommen der Rentenre-form, der Reform der Betriebsverfassung und der Ar-beitsförderung zu. Das alles wird zu gegebener Zeit in die-sem Hause erörtert.Stattdessen möchte ich mir in meiner letzten Rede imDeutschen Bundestag ein paar offene Anmerkungen zuden zukünftigen sozialpolitischen Aufgaben und Heraus-forderungen erlauben. Vielleicht akzeptieren einige sogarden Begriff „grundsätzlich“. Dazu gehören auch einigeGedanken zu unserem Streit und unseren Übereinstim-mungen in der Sozialpolitik der vergangenen Jahre.
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein sozialer unddemokratischer Bundesstaat. Demokratie ist nicht denk-bar ohne das Adjektiv „sozial“.
„Sozial“ heißt übersetzt „gesellschaftlich“. Es meint nicht„karitativ“, so wichtig dies auch sein mag.
Das Soziale in unserer Gesellschaft zielt nicht aufbloße Existenzsicherung ab, wie es der Fürsorgestaat tut.Sozialpolitik in einer Demokratie muss vielmehr zualler-erst das Ziel verfolgen, den Menschen die gleichen Chan-cen auf Teilhabe am sozialen, kulturellen und politischenLeben zu eröffnen.
Auch wenn wir dies nicht vollständig erreichen werden:Wir waren in den letzten 50 Jahren in der Bundesrepublikauf diesem Weg erfolgreich. Das erreichte Maß an Chan-cengleichheit ist das Fundament für den inneren Zusam-menhalt unserer Gesellschaft. Ich warne nachhaltig, esaufs Spiel zu setzen.
Wenn ich mir die Diskussionen der letzten Jahre verge-genwärtige, habe ich Zweifel, ob diese enorme Bedeutungunseres Sozialstaatspostulats für die beschriebene Gesell-schaftspolitik allen politisch Handelnden noch gegenwär-tig ist.
Die gesellschaftspolitischen Wirkungen unserer sozi-alstaatlichen Verfassung werden immer weniger gewür-digt, die Vorteile, die auch die Wirtschaft daraus zieht, imÜbrigen auch nicht. Hingegen werden soziale Institutio-nen als Hemmschuh für die wirtschaftliche Entwicklungidentifiziert, die es zu deregulieren gelte. Der Neolibera-lismus meldet sich mit der lauten Forderung, der Staatmüsse sich zurückziehen und die Entwicklung dem freienSpiel der Kräfte des Marktes überlassen. Dies, so die Be-hauptung, führe zu einem größeren Maß an Wohlstandund Wohlfahrt. Es wird unterstellt, die Menschen könntenin viel größerem Umfang für sich selber sorgen und derSozialstaat könne sich folglich „auf die wirklich Bedürf-tigen“ konzentrieren. Anders ausgedrückt: Jeder sei künf-tig wieder seines eigenen Glückes Schmied. Die zuneh-mende Individualisierung der Menschen wird in Gegen-satz gebracht zu unseren bewährten solidarischen undsozialen Sicherungssystemen.Mit Verlaub, meine Damen und Herren: Da wird dochallerhand durcheinander geworfen. Aber auf jeden Fall re-klamieren diese Auffassungen das Etikett „modern“. Werdagegen an den bewährten Zielen und Grundprinzipienunseres Sozialstaates festhalten will, bekommt das Prädi-kat „Traditionalist“ – und das ist negativ gemeint.Diese oberflächliche Art der Diskussion macht michbesorgt. Manches allerdings amüsiert mich auch. Bemer-kenswert finde ich vor allem, dass sich die Protagonistensolcher politischen Haltungen offenbar nicht bewusstsind, dass sie selbst in einer jahrhundertealten Traditionstehen.
Ich möchte das hier nicht in epischer Breite ausführen,aber von Traditionen verstehe ich etwas. Das werden nichteinmal meine ärgsten Gegner bestreiten.
Das Denkmuster, nach dem eine höhere Macht schonalles richtet, wenn sich der Staat nur heraushält, hat einejahrhundertelange Tradition. Es findet sich schon bei
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms10834
Thomas von Aquin. Die höhere Macht war bei ihm derliebe Gott. Das Zeitalter, das durch diesen Grundgedan-ken geprägt war, nannte man übrigens Mittelalter.
Ich bekenne: Auch ich bin Traditionalist.
Aber ich bin mir der Tradition, auf die ich mich beziehe,bewusst. Sie ist jedenfalls insofern moderner, als sie etwasjüngeren Datums ist. Dem Mittelalter folgte nämlich dasZeitalter der Aufklärung.
Im Zeitalter der Aufklärung wurde der Staat in diePflicht genommen und ihm eine aktive Rolle gegeben.Die Aufklärer meinten nämlich, dass nichts allein von sichaus zu einem harmonischen Ganzen gefügt werden könne,wenn nicht Menschen durch aktives Eingreifen etwasnachhelfen.Auch die großen Werte der Aufklärung – Freiheit, Ge-rechtigkeit und Brüderlichkeit – sind für mich hochaktu-ell.
Dies gilt gerade dann, wenn wir Brüderlichkeit durch So-lidarität ersetzt haben. Es ist mir ein Anliegen, darauf auf-merksam zu machen, dass sich abzeichnende neueGrundlinien der Gesellschaftspolitik in unserem Lan-de, denen einige die Überschrift „Modernisierung“ zuer-kannt haben, einen Generationenkonflikt heraufbe-schwören können. So wie Jung und Alt schon heute mit-einander umgehen, ist eine solche Gefahr nicht von derHand zu weisen.
Was ich meine, möchte ich anhand eines durchaus hu-morvollen Histörchens deutlich machen, das ich vor eini-gen Tagen gehört habe und das alle Mithörer unheimlichcool – so heißt das ja auf Neudeutsch – fanden:
Da sitzt auf der Düsseldorfer Königsallee ein älterer Herrin seinem Mercedes und wartet geduldig darauf, dass vorihm ein Parkplatz frei wird. Just in dem Moment, als derParkplatz endlich geräumt ist und er einparken will,nähert sich ein junger Mann in seinem schnittigen Sport-coupé und schnappt ihm den Parkplatz ratzfatz vor derNase weg. Dieser garniert sein Tun auch noch mit derschnodderigen Bemerkung: „Tja, Opa, so löst man einProblem, wenn man jung und dynamisch ist“. Der soapostrophierte Opa bleibt ganz ruhig, legt den ersten Gangein, gibt Vollgas und faltet den schnittigen Sportflitzer zu-sammen wie einen Schuhkarton.
Danach steigt er aus, überreicht dem völlig verdutztenjungen Mann, jetzt Besitzer eines Schrotthaufens, seineVisitenkarte mit folgender Bemerkung: „Und so, jungerFreund, löst man ein Problem, wenn man alt und reichist“.
Irgendwie ist das ja lustig. Aber irgendwie bleibt einemauch das Lachen im Halse stecken; denn dieses Histör-chen offenbart bei beiden Beteiligten Verhaltensweisen,die frei von jeder Rücksichtnahme auf den anderen sind.
Aggressivität auf die jeweils andere Generation ist hierdas hervorstechende Merkmal. Den beiden fehlt es an So-lidarität füreinander. An deren Stelle tritt die Ellbo-genmentalität. Soll das etwa das prägende Element für daszukünftige gesellschaftspolitische Zusammenleben sein?In der Diskussion über unsere gemeinsame Zukunfthöre ich immer, Solidarität sei zwar unzeitgemäß, müsseaber nunmehr neu bestimmt werden. Das war es dann aberauch; denn das Wie, Was und Warum einer Neubestim-mung bleiben im Nebel. Ich frage: Muss Solidarität wirk-lich neu bestimmt werden oder ist Solidarität nicht dasUrelement jeder menschlichen Gesellschaft, wenn siedenn ein humanes Antlitz trägt?
Ich habe eher den Eindruck, dass wir in einer Zeit le-ben, in der Solidarität einseitig als etwas verstanden wird,was man im Fall der Fälle erhalten möchte, in der aber im-mer weniger bereit sind, Solidarität selbst zu leisten.Solidarität nur als Empfangsberechtigung, nicht aber alsLeistungsverpflichtung – soll das eigentlich modern sein?Bei einem solchen Verständnis von Solidarität wäre esdoch eigentlich politische Aufgabe, sie wieder in ihren al-ten Stand zu setzen, sie als Geben und Nehmen zu defi-nieren.
Ich bin doch hoffentlich nicht der Einzige, der die ebensorechten wie billigen Sprüche von „Hilf dir selbst, dannhilft dir Gott!“ für eine ziemliche Unverfrorenheit hält.„Jeder ist seines Glückes Schmied“ predigen in der Regelauch nur diejenigen, bei denen der Schmied schon min-destens einmal war.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Rudolf Dreßler10835
Sie predigen es vorzugsweise jenen, die nie auch nur denHauch einer Chance haben, dass ebenjener Schmied vor-beikommen wird. Soll das die neu bestimmte Solidaritätsein?Was heißt es denn, wenn es heute in der jungen Gene-ration eine Neigung gibt, mit Blick auf die Altersversor-gung und ihre Probleme den Alten vorzuwerfen, durch dieErfüllung ihrer Ansprüche würden sie den Jungen einenguten Teil ihrer Zukunft wegnehmen? Stimmt das dennoder ist es nicht vielmehr so, dass die Startposition mate-riell wie ausbildungsmäßig für keine Generation in derGeschichte je so günstig wie die der heutigen Jugend –trotz erheblicher Probleme auf dem Arbeitsmarkt – gewe-sen ist?
Ist es denn nicht auch so, dass diese Startposition der Jun-gen Ergebnis der ebenso zielstrebigen wie zähen Aufbau-arbeit der vorangegangenen Generationen gewesen ist?Von wegen, die Alten fressen uns die Zukunft vom Kopf!Die Wahrheit ist, die Alten haben durch ihre Arbeit denJungen erst Zukunft gegeben.
Noch eines scheint vergessen worden zu sein: Es gibtkeine Gesellschaft, die nur aus Gewinnern besteht. In je-der Gesellschaft, und sei sie noch so vollendet, gibt es im-mer auch Verlierer und Schwächere. Das mag man be-dauern, aber es ist so. Ich werde mich deshalb auch nichtdarin beirren lassen, dass sich die Qualität einer Gesell-schaft an ihrer Fähigkeit bemisst, diesen Schwächeren ge-recht zu werden
und ihnen deutlich zu machen, dass auch sie dazu gehörenund ihren gleichberechtigten Platz haben. Das ist dasKernelement der Freiheit und ein wesentliches Elementrepublikanischer Gesinnung.
Es geht um Freiheit für alle und nicht nur für die, diesie sich ohnehin aus eigener Kraft besorgen können. Den-jenigen, die sich mit dem oberflächlichen Prädikat derModernisierung schmücken, entgegne ich Folgendes: DieAusübung individueller Freiheit braucht soziale Voraus-setzungen und eine ihrer wichtigsten ist die Solidarität.Wir brauchen deshalb keine Neubestimmung von Solida-rität, sondern wir brauchen endlich wieder republikani-sche Gesinnung, meine Damen und Herren.
Zum Wert der Freiheit: Jeder Mensch soll eineChance erhalten, ein selbst bestimmtes Leben zu führenund seine Fähigkeiten, Begabungen und Ambitionen vollzu entfalten. Ist das ein unmodernes Ziel? Ist das Sozial-romantik? Fragen Sie die Menschen in unserem Land.Vielleicht werden einige einwenden, dass dieses Zielwohl nie ganz zu erreichen ist. Aber die meisten werdenzustimmen, dass sie es anstreben; denn Freiheit heißt auchIndividualität.Die Voraussetzungen sind heute günstiger als je zuvor.Bildung und neue Kommunikationsmedien eröffnen vie-len Menschen ganz neue Optionen. Sie sind nicht mehr andas Milieu gebunden, in das sie hineingeboren wurden.Sie haben ganz andere Freiheitsgrade in ihrer Lebenspla-nung und der Wahl ihres Lebensstils. Die Globalisierung,nicht nur als internationale Verflechtung der Wirtschaft,sondern als Zusammenwachsen verschiedenster Kulturenund Gesellschaften der Welt verstanden, verstärkt dieseEntwicklung.Damit sind wir beim Wert der Gleichheit. Gleichheitbedeutet nicht Gleichmacherei. Das wäre ganz falsch. DieMenschen sind verschieden, sie haben verschiedeneVoraussetzungen und unterschiedliche Bedürfnisse. Un-gleiches gleich zu behandeln ist ungerecht. Das ist schonmehrfach versucht worden und gründlich schief gegan-gen, wie wir aus der Geschichte wissen.
Gleichheit bedeutet gleiche Chancen auf Persönlichkeits-entwicklung und eine würdevolle Lebensführung, gleicheChancen auf Teilhabe. Gleichheit bedeutet Gleichberech-tigung trotz Verschiedenheit. Das führt zur Brüderlich-keit, heute nennen wir das Solidarität. Ich will es so for-mulieren: Wir sind aufeinander angewiesen.Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung, Selbstentfal-tung und Individualität kann nicht heißen: Ich für meineInteressen zur Not gegen den Rest der Welt. Das würde al-lenfalls bei ganz wenigen funktionieren. Freiheit undIndividualität stehen nicht im Gegensatz zu Kollektivitätoder, besser ausgedrückt, Gesellschaftlichkeit. Im Gegen-teil: Die meisten Menschen können sich Individualität,also Freiheit, nur auf der Basis einer solidarischen Absi-cherung leisten.
Der gut verdienende Internetdesigner oder Medien-mensch konnte dies deshalb werden, weil die Gesellschaftseine Schul- und seine Hochschulausbildung bezahlt hat.Das ist vermutlich vielen, die mit diesen Sicherheitenganz selbstverständlich groß geworden sind, gar nicht be-wusst. Deshalb müssen wir darüber sprechen. Freiheit imSinne von Individualität ist für die meisten Menschenauch in unserer Gesellschaft nur auf der Basis gemeinsa-mer sozialer Absicherung möglich. Deshalb ist unser So-zialstaat keine Last. Der Sozialstaat ist eine Errungen-schaft im Interesse der Emanzipation des einzelnen Men-schen.
Unser Modell der gemeinsamen Absicherung vonChancengleichheit nenne ich genial. Wenn wir es nicht
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Rudolf Dreßler10836
schon hätten, müssten wir es erfinden. Wir werden zuRecht weltweit darum beneidet. Das System ist deshalb sogenial, weil es die Gesellschaft nicht in diejenigen spaltet,die für sich allein Vorsorge tragen, und diejenigen, die aufUnterstützung angewiesen sind. Nein, keiner muss in die-sem System Danke sagen. Keiner muss das Gefühl haben,nur für den anderen zu bezahlen. Jeder trägt im Rahmenseiner Möglichkeiten Verantwortung auch für die anderenund erwirbt dadurch das Recht, von diesen im Bedarfsfallunterstützt zu werden.
Ich frage: Warum stellen wir dies nicht in der öffentli-chen Auseinandersetzung als ein hohes Gut heraus, dasuns viel wert ist und auf das wir stolz sein können? Statt-dessen schwingt in den Forderungen nach mehr Eigenvor-sorge und mehr Eigenverantwortung der Vorwurf mit, dieMenschen würden sich bisher zu sehr auf den Staat ver-lassen. Ich frage: Wo bitte schön fängt die Eigenverant-wortung denn an, jenseits von 2 000 DM monatlich?Ungefähr so viel zahlt nämlich ein Facharbeiter mit einemBruttoeinkommen in Höhe von 5 000 DM in die Sozial-versicherung ein – von seinen Steuern, mit denen schließ-lich Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, kulturelleund Jugendeinrichtungen sowie unsere innere und äußereSicherheit finanziert werden, ganz zu schweigen.Die Bürger betreiben Eigenvorsorge. Mehr noch: Sieübernehmen nicht nur Eigenverantwortung, sondern auchsolche für die Gemeinschaft. Ich erinnere daran, dass diewestdeutschen Arbeitnehmer seit zehn Jahren Hundertevon Milliarden DM aufgebracht haben, um die sozialeAbsicherung der deutschen Einheit zu finanzieren. Dashaben sie zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt. Die Weltstaunt heute noch darüber. Das ist eine Riesenleistung undeine großartige verantwortungsbewusste Haltung derMenschen in unserem Land der Gemeinschaft gegenüber.Diese Tradition müssen wir hegen und pflegen, wir dür-fen sie nicht herunterreden.
Ich fasse es in die These: Nicht Globalisierung stattTradition, sondern Globalisierung der Tradition, der Tra-dition der Aufklärung.Ich werde demnächst aus dem Deutschen Bundestagausscheiden und eine neue Aufgabe übernehmen. Dassdies einige mit Erleichterung zur Kenntnis nehmen, machtmich ein bisschen stolz.
Vor zweieinhalb Jahren musste ich mein Leben neusortieren. Das einschneidende Ereignis eines Verkehrsun-falls zwang mich täglich in eine Auseinandersetzung mitfast allen Sekundärtugenden. Ich habe diese Auseinander-setzung angenommen und, so glaube ich, einigermaßengemeistert.
Ich will heute daran erinnern, um mich bei jenen Kolle-ginnen und Kollegen – parteiübergreifend – zu bedanken,die mir auf unterschiedlichste Weise dabei geholfen ha-ben. Gestatten Sie mir, dass ich stellvertretend drei Na-men nenne: Norbert Blüm, Wolfgang Schäuble undRudolf Scharping.Man kann in vielen Details unterschiedlicher Meinungsein und streiten. Große sozialpolitische Reformen soll-ten im Interesse der Menschen und im Interesse des Zu-sammenhalts der Gesellschaft parteiübergreifend vorge-nommen werden. Darum sollten wir uns immer wiederneu bemühen. Der Opposition kommt in diesem Zusam-menhang immer die größere Verantwortung zu, weil sienicht handeln muss; eine Regierung muss, die Oppositionkann.Ich möchte auf fünf große sozialpolitische Reformvor-haben verweisen, die wir parteiübergreifend erarbeitethaben, Reformen, bei denen wir in der Opposition Ver-antwortung übernommen haben: die Rentenreform 1989,das Renten-Überleitungsgesetz, das Gesundheitsstruktur-gesetz von 1992, die Pflegeversicherung und den sozial-politischen Teil des Einigungsvertrages. Wir haben überdie Details hart gestritten und wir haben gerungen. Wirwussten uns aber in den grundsätzlichen Zielen einig.Ich habe denjenigen, die neben mir daran beteiligt wa-ren, für ihre Zusammenarbeit, für ihre Fairness und fürden wechselseitigen Respekt, der unsere Arbeit begleitethat, zu danken. Stellvertretend für viele andere möchteich diesen Dank insbesondere an die Kollegen NorbertBlüm –, noch einmal Horst Seehofer, Julius Cronenbergund Dieter Thomae richten. Vielleicht trifft auf uns alleein bisschen der Satz zu, den Willy Brandt an das Endeseiner Zeit gesetzt hat: „Man hat sich bemüht.“
Ich denke,
ich spreche in Ihrer aller Namen, liebe Kolleginnen und
Kollegen, wenn ich dem Kollegen Dreßler den sehr herz-
lichen Dank des ganzen Hauses ausspreche.
Herr Kollege Dreßler, Sie waren seit Ihrem Amtsantritt
im Deutschen Bundestag im Jahre 1980 einer der herausra-
genden Sozialpolitiker dieses Hauses. Sie haben sich um
die Sozialpolitik in Deutschland verdient gemacht. Ich
wünsche Ihnen im Namen aller Kolleginnen und Kollegen
auch für Ihre zukünftigen wichtigen Aufgaben viel Erfolg,
insbesondere für die wichtige und schwierige Aufgabe des
deutschen Botschafters in Israel.
Der nächste Redner ist der Kollege Josef Laumann von
der CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrterHerr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehrgeehrter Herr Dreßler, zunächst einmal möchte ich Ihnenauch im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Res-pekt und Anerkennung für Ihre Tätigkeit über sechs
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Rudolf Dreßler10837
Wahlperioden hier im Deutschen Bundestag aussprechen.Sie sind in dieser Zeit ohne Frage einer der bedeutendstenSozialpolitiker dieses Hauses gewesen. Niemand, auchwir als Ihre politischen Gegner nicht, auch die Jüngerenim Parlament nicht, kann Ihnen Ihre Riesensachkennt-nisse streitig machen. Man hatte immer den Eindruck –das spürte man –, dass Sie Ihre Arbeit daran orientierten,Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Menschen indiesem Land, die der Solidarität bedürfen, am gesell-schaftlichen Leben teilhaben können.Ich finde, wir Jüngeren, die die Sozialpolitik in dennächsten Jahren hier im Parlament tragen und weiterent-wickeln müssen – Sozialpolitik ist nie statisch, etwas, wasso bleiben kann, wie es ist, sondern sie muss gesellschaft-lichen Veränderungen angepasst werden, über Generatio-nen und Fraktionen im Deutschen Bundestag hinweg –,sollten nicht jedem Modetrend erliegen.
Die Sozialversicherung zur Absicherung bei Krankheit,Alter und Arbeitslosigkeit ist nichts Altmodisches undmuss auch von uns Jüngeren verteidigt werden.
Ich bin sicher, dass der Begriff Sozialversicherung, wennder DAX irgendwann einmal etwas fällt und viele Leutemerken, dass die Buchwerte sich nicht wie gewünscht rea-lisieren, nicht mehr in allen Ohren so altmodisch klingt,wie das heute bei dem einen oder anderen vielleicht derFall ist.Aber, Herr Dreßler, es wäre heute von mir als Vertreterder Union eine unehrliche Rede, wenn ich nicht auch fol-genden Punkt ansprechen würde: Sie als Sozialexpertehaben den Wahlkampf Ihrer Partei für die letzte Bundes-tagswahl wesentlich mit vorbereitet. Das war Ihr gutesRecht. Es ist das Recht der Opposition, sich für ihrenWahlkampf ein bestimmtes politisches Feld auszusuchen.Sie haben damals an der Rentenreform, die wir alsCDU/CSU und F.D.P. am Ende unserer Wahlperiode ge-meinsam zu verantworten hatten, vor allen Dingen dendemographischen Faktor kritisiert und von einer Verwüs-tung der Rentenversicherung gesprochen. Sie haben andie Wand gemalt, dass unsere Politik zu Altersarmutführen würde. Ich finde, nicht Sie, aber manch einer in Ih-rer Fraktion muss sich doch fragen, ob die Politik, dieheute von der SPD in Deutschland mit vertreten wird,noch mit dem in Einklang steht, was im letzten Wahl-kampf versprochen worden ist.
Ich stelle mir in diesen Tagen oft vor, wie wohl HerrDreßler von diesem Pult aus, aber auch auf vielen Presse-konferenzen und auf vielen anderen Veranstaltungen da-rauf reagiert hätte, wenn Sozialminister Norbert Blüm einPapier aus seinem Hause in Umlauf gebracht hätte, nachdem wir in der gesetzlichen Rentenversicherung irgend-wann bei einem Rentenniveau von 64 Prozent landenwürden.Wir müssen uns in unserer Gesellschaft bemühen – damuss Politik mit gutem Beispiel vorangehen –, die Frageder Generationengerechtigkeit im Kopf zu behalten. Ichpersönlich empfinde es genauso, wie Sie es gesagt haben.Ich bin fest davon überzeugt, dass die ganz jungen Leute,auch die Generation meiner Kinder, heute in DeutschlandRahmenbedingungen vorfinden werden, von denen Ihre,aber auch meine Generation noch geträumt hat: in einemEuropa zu leben, in dem es die reale Sorge vor Krieg nichtmehr gibt.In den 60er- und 70er-Jahren, auch noch bis in die 80er-Jahre hinein, hatten wir eine andere Situation. Ich kannmich noch daran erinnern, wie wir das Ganze Mitte der70er-Jahre, als ich Soldat war, gesehen haben. Wir habenheute ein breit gefächertes Bildungssystem für alle Ge-nerationen, eine Teilhabe an der Bildung ist für alle mög-lich. Dennoch müssen wir gerade in der Sozialpolitik da-ran denken, dass auch diejenigen, die trotzdem nicht mit-halten können, eine Chance haben, am Arbeitsmarkt undam gesellschaftlichen Leben insgesamt teilzunehmen.
Sozialpolitik der Zukunft – das soll mein letzter Ge-danke sein – darf sich nicht darauf beschränken, sich umdie Armen und Entrechteten zu kümmern, der Samariterzu sein. Wir müssen vielmehr für den normalsituiertenBürger die gemeinschaftliche Absicherung bei Krankheitund Alter in Pflicht- und Kollektivsystemen behalten;denn sie schützen vor Altersarmut und gewährleisten je-dem die notwendige medizinische Versorgung.
Gesetzliche Krankenkassen sind nichts Altmodisches.Wir brauchen sie, damit auch Menschen, die zum Beispielvon Geburt an Handicaps haben, zu bezahlbaren Beiträ-gen versichert sind.Sehr geehrter Herr Dreßler, seien Sie sicher, dass esauch in der jüngeren Generation der Abgeordneten desDeutschen Bundestages viele Menschen geben wird, dieaus diesem Geist heraus Sozialpolitik weiterentwickelnwerden. Sie werden das auch in Ihrer neuen Funktion be-obachten können.Ich gehe davon aus, dass für Sie und Ihre Familie indiesem Neuanfang, den Sie mit knapp 60 Jahren nachsechs Wahlperioden im Deutschen Bundestag noch ein-mal machen dürfen, ein großer Reiz liegt, und wünscheIhnen von Herzen, dass Sie in dieser Aufgabe für die Zeit,in der Sie noch etwas gestalten möchten, eine schöne in-nere Befriedigung finden. Die besten Wünsche derCDU/CSU werden Sie nach Israel begleiten.Schönen Dank.
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Karl-Josef Laumann10838
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Thea Dückert vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Lieber Kollege Dreßler! Sehr geehrter Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heutezwei wichtige Punkte, die zusammengehören. Wir habeneinen wichtigen Anlass, der zu dieser Debatte geführt hat:Der Kollege Dreßler wird nun nach Israel gehen. Ganzeng damit verwoben – deswegen können wir diese De-batte führen – ist eine inhaltliche Themenstellung, näm-lich die Frage: Wohin geht unsere Politik der Weiterent-wicklung und der Erneuerung des Sozialstaates?Wo ist unser Ziel? Wo ist diese Perspektive? Herr Dreßler,Sie haben eben in bewährter Art und Weise viele Punktein die Debatte eingebracht. Wir haben nach 19 Monatengemeinsamer Regierung eine stolze Bilanz vorzuweisen,doch geht es insbesondere um die angesprochene Per-spektive.Ich bin – ich habe es gestern schon gesagt – nicht län-ger Abgeordnete, als diese Regierung im Amt ist. Aufdiese Art und Weise bin ich nicht in den Genuss der kon-troversen und lebendigen Debatten der letzten Jahre umdie Sozialpolitik gekommen und konnte so den häufigenSchlagabtausch nicht verfolgen. Ich habe aber das, wasnach außen gedrungen ist, aus einer Außenperspektivesehr deutlich wahrnehmen können. Dabei hat sich bei mirein Bild festgesetzt, das sich auch anderen Menschen ver-mittelt hat, nämlich dass jemand um die Sozialpolitikringt, der sie nicht einfach als Blinddarm, sondern alsHerz des Sozialstaats begreift.
Mit dieser Form, engagiert Sozialpolitik zu betreiben,wird eine sehr wichtige gesellschaftliche Funktion geradein der heutigen Zeit, in der wir uns den neuen Herausfor-derungen der Zukunft stellen müssen, erfüllt. Die Zukunftwird Probleme aufwerfen, die in ihrer Komplexität undVielseitigkeit von unserem heutigen Sozialsystem häufiggar nicht verarbeitet werden können. In einer solchen Si-tuation der Veränderung, Weiterentwicklung und Erneue-rung haben Sie gewissermaßen einen sozialen Kompassdargestellt, der ein Stück Sicherheit in die Debatte bringtund den Raum für eine Debatte um Zukunftsfragen öffnet.Ich weiß, Sie hören nicht gerne den Begriff der Moderni-sierung, aber wir diskutieren natürlich auch unter dieserBegrifflichkeit und meinen das nicht so oberflächlich, wieSie das zu Recht in Ihrem Beitrag kritisiert haben. Sienehmen, Herr Dreßler, eine Rolle an, in der man den Tra-ditionalisten als wohlverstandene und positive Ausprä-gung begreifen kann.Sie haben gesagt und vorhin noch einmal ausgeführt,dass sich die Qualität einer Gesellschaft an der Fähig-keit, den Schwachen gerecht zu werden und ihnen deut-lich zu machen, dass sie dazugehören, bemesse. Ichdenke, dieser wichtige und zentrale Satz für die Sozialpo-litik ist für uns eine Aufforderung zu einer Politik der In-tegration, einer Politik gegen Ausgrenzung und auch einerPolitik der Antidiskriminierung.Ich glaube, dass wir in den letzten 19 Monaten ange-fangen haben, mit sehr viel Aufmerksamkeit und Kraft zuversuchen, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Esist nicht einfach nur eine sozialpolitische Aufforderung imengeren Sinne, es ist vielmehr eine kulturelle Aufforde-rung an uns alle, eine Integration der ausländischen Mit-bürger – das gehört zur Sozialpolitik – oder eine Politik zubetreiben, die den Menschen, die in ihre Heimatländernicht zurück können, den Zugang zum Arbeitsmarkt er-möglicht.Integration ist ein sehr wichtiges Zentrum unserer Po-litik, das wir sehr ernst genommen haben. Dies betrifftauch die Arbeitsmarktpolitik, in der es heute immer mehrdarum geht, diejenigen, die trotz einer positiven wirt-schaftlichen und konjunkturellen Entwicklung außen vorstehen, in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Das istein wichtiger Punkt und ein Zentrum der Arbeitsmarktpo-litik dieser Regierung sowie des Bündnisses für Arbeit.Herr Dreßler, Sie brechen die Lanze für diese Politikder Integration. Ich denke, dass insbesondere die Armut –das haben Sie immer wieder thematisiert – ein sehr zen-traler Punkt der Ausgrenzung in unserer heutigen Kon-sumgesellschaft ist. Wir wissen auch, dass insbesonderedas Leben mit Kindern heute ein besonderes Armutsrisikodarstellt.In der Koalition haben wir uns diesen Bereich in einersehr umfassenden Art und Weise zu Herzen genommen,weil wir von der alten Bundesregierung etwas vorgefun-den haben, was sehr schnell wieder zu korrigieren war. Andieser Stelle will ich nicht alle Punkte inhaltlich auf-führen, die dazu geführt haben, dass das Leben mit Kin-dern heute schon etwas einfacher geworden ist. Nach19 Monaten ist aber noch viel zu tun.Die Politik der vergangenen Monate ist eine Antwortauf das, was Sie fordern. Das haben Sie wieder ausge-führt, als Sie von den drei großen G – Gleichheit, Ge-rechtigkeit und Glaubwürdigkeit – gesprochen haben. Siesprachen davon, dass es um Chancengleichheit geht. Inunserer Gesellschaft können wir die Politik der Chancen-gleichheit nirgends besser ansetzen als bei den Kindern,gerade bei Kindern, die in einkommensschwachen Fami-lienverhältnissen leben.Sie haben von den drei großen G als Aufforderung, Po-litik zu machen, gesprochen. Sie haben in der Verbindungdazu gesagt, dass jeder großen Reform zunächst einmaldie Anerkennung und die Aussprache der Wahrheit undder Realität vorausgehen. Dies mit der Anforderung anGleichheit, Gerechtigkeit und Glaubwürdigkeit verbun-den ist etwas, was den großen sozialpolitischen Refor-men, denen wir gegenüberstehen, zum jetzigen Zeitpunktzugrunde gelegt worden ist. Das gilt für die Ge-sundheitsreform, und das gilt auch für die Rentenreform.Dies ist sehr schwierig – ich komme noch einmal aufdiesen Punkt zu sprechen –, weil ich an einer Stelle eineDifferenz zu dem sehe, was Sie vorgetragen haben.Ich denke, dass man Gleichheit, Gerechtigkeit undGlaubwürdigkeit nicht abschließend definieren kann.
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Gerechtigkeit ist ein Begriff ist, der sich in dieser Ge-sellschaft entwickelt, sodass es neue Facetten undSchwerpunkte gibt.Die Frage der Generationengerechtigkeit ist für unsein ganz zentraler Punkt. Wenn wir heute über die Ren-tenreform diskutieren, dann ist die neue Sensibilität in un-serer Gesellschaft, zum Beispiel über etwas Zentralesoder Profanes, wie die Beitragssätze zu reden, damit ver-bunden, dass wir eine vernünftige Sozialpolitik nur be-treiben können, wenn die Politik nicht auf Kosten der jun-gen Generation geht. Das versuchen wir in unserem Kon-zept der Rentenreform zusammenzubringen. Deswegenreden wir über die Notwendigkeit einer Beitragsstabili-sierung und über die Notwendigkeit, dass die ältere Ge-neration dazu einen Beitrag leisten muss. Wir führen dieseDiskussion nicht, weil wir meinen, man müsse den altenMenschen in die Tasche greifen.
Frau Kol-
legin, darf ich Sie an die Zeit erinnern?
Ich komme gleich zum Schluss.
An dieser Stelle geht es vielmehr darum, dass sich
diese Gesellschaft so verändert, dass zum Beispiel Gene-
rationengerechtigkeit einen anderen Schwerpunkt be-
kommt. Deswegen glaube ich, dass wir bei der Rentenre-
form, selbst wenn Sie in vielen Punkten Kritik anmelden,
dieser Überschrift folgen.
Meine Damen und Herren, eigentlich wollte ich noch
etwas zur Gesundheitsreform sagen. Das tue ich jetzt
nicht. Alle wissen, dass meine Meinung mit der des Kol-
legen Dreßler weitgehend übereinstimmt. Auch in diesem
Prozess ging es immer um das Ringen von Lösungen. Das
ist ganz klar.
Frau Kol-
legin, bitte.
Ich komme zum Schluss.
Herr Kollege Dreßler, Sie gehen nach Israel. Das ist ein
Neubeginn. Meine Worte, die ich Ihnen mit auf den Weg
geben kann, sind vielleicht nicht so schön wie von
Hermann Hesse, der gesagt hat: „Und jedem Anfang
wohnt ein Zauber inne.“ Ich hoffe das sehr für Sie. Ich
nenne noch ein Zitat von Mao Zedong, den Sie vielleicht
auch mögen: „Die Zukunft ist licht.“ Das wünsche ich Ih-
nen auch für Israel.
Als nächs-
te Rednerin hat die Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der heutigen De-batte verlässt ein wirklich politisches Schwergewicht dieBonner bzw. die Berliner Bühne. Auf der Bonner Bühnehat er länger als auf der Berliner Bühne agiert. Aber im-mer hat er agiert und war nicht zu überhören.
Ich glaube – das stellt die F.D.P. als kleinere Oppositi-onsfraktion sowieso fest; aber auch die CDU/CSU tut es –,dass es einer ungeheuren Anstrengung bedarf, aus derOpposition heraus sozialpolitische Entwicklungen bzw.politische Entscheidungen überhaupt mitzugestalten.Aber auch dies haben Sie, Herr Kollege Dreßler, ge-schafft, als Sie nach dem Regierungswechsel 1982 fürviele Jahre in die Opposition gezwungen wurden.
Ich möchte an drei Dinge erinnern: Erstens. Die F.D.P.hat den Konsens über die Rentenreform 1989 aus großerÜberzeugung mitgetragen. Zweitens. Schmerzliche Erin-nerungen hat die F.D.P. dagegen an die Verhandlungenüber das Gesundheitsstrukturgesetz, die 1992 in Lahn-stein stattfanden, als die Übereinstimmung zwischen demArbeits- und Gesundheitsminister Blüm und dem opposi-tionellen Sozialpolitiker Rudolf Dreßler wesentlichgrößer war als die mit der F.D.P.
– Okay, in Lahnstein hat schon Seehofer verhandelt, aberes war Dreßler.
Bei uns ruft die Erinnerung an Lahnstein keine ungeteilteFreude hervor.Drittens. Etwas Ähnliches hat sich dann bei den Ver-handlungen über die Pflegeversicherung 1999 abgespielt.Man fragt sich natürlich, worauf das beruht. Ichmöchte einen Punkt unterstreichen – das haben Sie, HerrDreßler, auch an der Reaktion der Opposition auf das, wasSie gerade vorgetragen haben, gemerkt –: Wir unterschei-den uns nicht durch die Ziele, die wir in der Sozialpolitikverfolgen. Auf Art. 20 des Grundgesetzes, den sozialen,demokratischen Rechtsstaat, sind wir alle verpflichtet.Ihm fühlen wir uns alle auch verpflichtet. Im Wesentli-chen diskutieren wir über Instrumente.Ich denke, Sie nehmen mir ab, dass sich die Abgeord-neten meiner Fraktion häufig durch Ihre polemischenFeststellungen verletzt fühlten, die Sie zweifellos mitgroßer rhetorischer Brillanz und Schärfe vorgetragen ha-ben; denn wir haben natürlich die beachtliche Resonanz,die Sie damit erzielt haben, bemerkt. Bei mir persönlichhat das eine oder andere durchaus auch Aggressionenausgelöst. So bin ich eben.
Die leichte Frustration, die Ihnen in den letzten Jahrenanzumerken war, ist, glaube ich, durchaus verständlich.Wir alle haben bemerkt, dass sich in der SPD eine Ausei-nandersetzung darüber vollzieht, wie die Sozialpolitik
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Dr. Thea Dückert10840
für die Informationsgesellschaft aussehen soll. DieseAuseinandersetzung hat zu Beginn dieser Legislaturperi-ode dazu geführt, dass die Reformen der alten Regierungzurückgenommen wurden. Aber im Rahmen der Renten-reform tauchen die Reformen der alten Regierung in et-was veränderter Form wieder auf, wie die Einführung derSozialversicherungspflicht bei den 630-Mark-Jobs unddie Regelung zur Bekämpfung der Scheinselbstständig-keit belegen. Eine Sozialpolitik für die Informationsge-sellschaft hätte in beiden Fällen die Pflicht zur Versicher-ung wesentlich adäquater anerkennen können.Sie haben auf den Grundsatz „Freiheit, Gleichheit,Brüderlichkeit“ hingewiesen. Ich bin fest überzeugt,dass keine Partei, die ihr Überleben in unserer Gesell-schaft dauerhaft sichern möchte, an diesem Dreiklangvorbeikommt. Die Prioritäten werden unterschiedlich ge-setzt. Bei den Freien Demokraten ist es die Freiheit, dieganz eindeutig die größere Betonung hat. Am Ruf derFranzösischen Revolution, dem Anfangspunkt bürgerli-cher Freiheit, kann keiner vorbei.Es kann aber auch niemand daran vorbei, dass sich ge-rade in der jungen Generation die Begriffe Solidarität undGerechtigkeit in einem Bedeutungswandel befinden. Glo-balisierung bedingt verschärften Wettbewerb, aber auchein erhöhtes Maß an Selbstbestimmung, Selbstverantwor-tung und Mobilität. Das bedeutet: Der Sozialstaat mussund kann anders gestaltet werden. Steigende Lebenser-wartung und medizinischer Fortschritt sind in einerGesellschaft, in der sich die Arbeit verändert und andersgestaltet ist, als es noch vor 10 oder 20 Jahren der Fall ge-wesen ist, nicht mehr zu finanzieren.Deswegen geht es nicht darum, Umlage gegen Privat-vorsorge oder Kapitaldeckung auszuspielen;
vielmehr geht es darum, das Beste aus beiden Ansätzen zunehmen und Solidarität und Umlage mit den Chancen derNutzung des Kapitalmarktes zu verbinden.
Auch das bedeutet nicht, dass staatliche Hilfe entfällt,wenn sich der Staat zurückzieht. Es bedeutet nur, demEinzelnen mehr Entscheidungsspielraum zu überlassen,wie er selbst staatliche Hilfe einsetzt.Herr Dreßler, ich bedanke mich bei Ihnen im Namender F.D.P. für die – in den meisten Fällen – konstruktiveAuseinandersetzung. Sie waren kein leichter Gegner. Siesind immer geachtet gewesen. Ich habe mit Ihnen nur vierJahre, von 1983 bis 1987, im Ausschuss für Arbeit- undSozialordnung verbracht. Immerhin waren wir nachts umdrei Uhr für eine Ausschusssitzung auf den Beinen, als esunter der Leitung von Eugen Glombig – damals warennoch andere dabei – um die Auszubildenden im Bäcker-handwerk ging. Wir haben uns da nichts erspart.Ich wünsche Ihnen im Namen der F.D.P. Glück und Er-folg, Zufriedenheit und persönliches Wohlergehen in Ih-rer neuen Aufgabe.Ich danke Ihnen.
Als nächs-
te Rednerin hat die Kollegin Dr. Heidi Knake-Werner von
der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber KollegeDreßler, heute ist nicht ein Antrag wichtig, sondernRudolf Dreßler ist wichtig. Ich darf sagen: Rudolf Dreßlerzuzuhören hat sich für mich heute wieder einmal gelohnt.Dafür ein ganz herzliches Dankeschön!
Ich muss leider auch sagen: Der Antrag, den Sie heuteeingebracht haben, hat sich nicht gelohnt. Sie hätten sichihn ersparen sollen. Ich finde, er wird auch dem KollegenDreßler in keiner Weise gerecht.
Wenn Sie diesen Antrag neben die Rede von HerrnDreßler legen, dann werden Sie unschwer feststellen, wasich damit meine.
Insofern zitiere ich gerne aus einer jüngst veröffentlichtenRede von Rudolf Dreßler. Er sagte:Der Hang zur Oberflächlichkeit in unserer Gesell-schaft ist zu einer grassierenden Seuche geworden.Das gilt leider auch für diesen Antrag.
Trotzdem will ich dazu kurz etwas sagen. Wenn ich mirIhre zwölf Spielstriche umfassende Bilanz der 19 MonateSozial- und Arbeitmarktpolitik anschaue, dann muss ichIhnen einfach sagen: Mit einer Bilanz kann man zwar sehrviel zum Ausdruck bringen, aber man kann natürlich auchsehr viel verschweigen. Letzteres tun Sie vorrangig. Sovorzugehen ist eben nicht glaubwürdig. Auf Ihrer Aktiv-seite schwelgen Sie, wie ich finde, in Überbewertung Ih-rer Leistungen und auf der Passivseite steht nichts ande-res als ein trotziges „Weiter so“.Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich ignoriereden sozialpolitischen Elan in Ihrer Anfangszeit keines-wegs; aber ich registriere natürlich auch, die Brüche in Ih-rer Politik und Ihren Versprechungen seit dem Abgangvon Lafontaine. Sie müssen sich heute einfach fragen las-sen: Haben Sie dieser Bundesregierung wirklich nichtsanderes zu sagen, als sie aufzufordern, den eingeschla-genen Weg nach dem Motto weiterzugehen: „Augen zuund durch“? Das finde ich auch angesichts der heutigenRede von Rudolf Dreßler äußerst mager.
– Das hat nicht Dreßler gesagt – auf ihn komme ich nochzu sprechen –, sondern ich beziehe mich jetzt auf den An-trag. – Er hat Ihnen einiges ins Stammbuch geschrieben,was Sie ernst nehmen sollten und in Ihre Politik aufneh-men müssten. Dieser Antrag ist auch im Vergleich zu demTitel, den Sie dafür gewählt haben und gemäß dem es um
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Dr. Irmgard Schwaetzer10841
Weiterführung des Sozialstaates und um mehr Gerechtig-keit gehen soll, äußerst mager.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Ko-alitionsfraktionen, glauben Sie wirklich, dass das riester-sche Rentenkonzept zur Weiterentwicklung des Sozial-staates und zu mehr sozialer Gerechtigkeit führt?
Ich glaube das nicht. Das Gegenteil ist der Fall.
Ihr Konzept richtet sich gegen die Interessen von Milli-onen Menschen, die auf eine ausreichende soziale Alters-sicherung angewiesen sind. Es richtet sich auch gegen diejunge Generation, die über die Maßen belastet wird. Ichwill hier noch einmal Dreßler zitieren:Ob diese Entwicklung noch mit den Grundsätzen ei-ner solidarischen Gesellschaftspolitik in Einklang zubringen ist, das muss jeder für sich entscheiden.Er hat sich entschieden, und zwar, wie ich finde, richtig.
Rudolf Dreßler gehört zweifellos zu den Politikern inder SPD, die das soziale Profil dieser Partei über Jahre ge-prägt haben. Er hat Werte wie soziale Gerechtigkeit ge-gen den Kurs der Modernisierer in den eigenen Reihen en-ergisch verteidigt. Er musste wie viele andere auch die Er-fahrung machen, dass die Beulen, die man sich impolitischen Leben einhandelt, nicht immer vom politi-schen Gegner kommen, manchmal sogar seltener vonihm.Spätestens seit dem Schröder-Blair-Papier hat sichDreßler als Traditionalist, als Betonkopf, als Sozialro-mantiker verunglimpfen lassen müssen. Ich finde, er hatdiesen Angriff gut pariert. Heute hat er dafür wieder eingutes Beispiel abgelegt. In seiner bereits zitierten Redesagte Dreßler allen Schröders und Clements zum Trotz:... wer mehr Gerechtigkeit durchsetzen will, derschafft dies nicht durch Anpassung an die Realitä-ten… Nein, der schafft dies nur durch seine Ent-schlossenheit, Realitäten zu verändern!
Das ist Dreßlers Credo.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, er wirdIhnen fehlen und er wird auch uns fehlen.
Wenn Rudolf Dreßler heute geht, geht in der Tat ein Stücksozialdemokratisches Urgestein. Sie haben es selber ge-sagt: Manche werden erleichtert sein. Sie sind ein wenigstolz darauf. Ich gönne ihnen zwar diese Genugtuung,aber ich finde es schade. Manch kämpferische Rede,manch intellektueller Höhenflug, manch polemische Pol-terei werden wir künftig vermissen. Ich wünsche Ihnenauch im Namen der gesamten PDS-Fraktion alles Gute fürIhre neue Aufgabe als Diplomat – den kann ich mir aller-dings noch nicht so ganz vorstellen.
Als nächs-
ter Redner hat der Kollege Johannes Singhammer von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsi-dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ihnen,Herr Kollege Rudolf Dreßler, gelten mein Respekt undmeine Achtung für Ihre politische Lebensleistung hier imHohen Hause. Wir haben uns gerne mit Ihnen gemessen,sei es mit dem leichten Florett oder mit dem schweren Sä-bel.
Wir wünschen Ihnen persönlich als Diplomat in Israel beider Vertretung unseres Landes Glück, Erfolg und auchBefriedigung.Herr Kollege Dreßler, Sie haben die Gelegenheit ge-nutzt, wie es einem so erfahrenen Politiker wie Ihnen zu-kommt, mit Ihrer Rede ein politisches Vermächtnis, daseinige Grundsätze enthält, zu hinterlassen. Gestatten Siemir deshalb, darauf kurz einzugehen.Für uns steht im Mittelpunkt einer zukunftsgewand-ten Sozialpolitik die Überzeugung, dass der Mensch Maßund Mitte der Politik bleiben muss, dass Freiheit und Ge-rechtigkeit zusammengehören und dass die Würde desMenschen – wie es unser Grundgesetz formuliert – unan-tastbar ist. Wir gehen von einem christlichen Men-schenbild aus. Wir nehmen deshalb den Menschen so an,wie er ist. Wir wollen ihn nicht ändern und nicht neu er-schaffen. Wir nehmen ihn mit seinen Stärken undSchwächen an.
An diesem Grundsatz richten wir unsere politischenForderungen aus. Deshalb sind wir der Meinung, dass Ge-rechtigkeit, zumal soziale Gerechtigkeit, nicht mitGleichheit verwechselt werden darf. Wir treten dafür ein,jeden zu befähigen, seine Leistung zu erbringen und zusteigern. Wir treten auch dafür ein, dass sich jeder mit sei-ner ganzen Persönlichkeit einbringen kann.
Wir wollen eine menschliche Gesellschaft, die denSchwachen hilft. Wer Freiheit schafft, muss denjenigenschützen und demjenigen helfen, der diese Freiheit nichtin allen Bereichen so nutzen kann wie vielleicht die über-wiegende Zahl der Menschen. Darunter fallen ganz kon-kret in den nächsten Jahren bei uns in Deutschland zual-lererst Familien, denen diese Teilhabe nicht in ange-messener Weise möglich ist. Darunter fallen auchMenschen mit einem Handicap, die deshalb auch in Zu-kunft unsere besondere Hilfe benötigen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Dr. Heidi Knake-Werner10842
Wir gehen von einem Grundsatz aus, der lautet, dasseine nachhaltige Sozialpolitik Leistungsanreize gebenmuss. Leistung soll belohnt werden. Wir brauchen dieStarken und ihre Leistung, damit wir auch denen, dieschwächer sind, helfen können.Rudolf Dreßler geht, sein Antrag bleibt. Deshalb willich auch auf diesen Antrag ganz kurz eingehen. Da hiereine Bilanz des großen Erfolges gezogen wird, wird es Sienicht wundern, dass wir, was die ersten 19 Monate dieserrot-grünen Regierung betrifft, die Entwicklung nicht ganzso euphorisch sehen. Ich will nicht alle Einzelheiten auf-zählen. Ich will aber zum Beispiel in diesem Zu-sammenhang das Gesetz zur Vermeidung von Schein-selbstständigkeit nennen, das Sie schon nach einem hal-ben Jahr korrigiert haben. Dazu zählt auch die schwierigeGeburt des Gesetzes hinsichtlich der 630-DM-Jobs. SeineAuswirkungen auf das Ehrenamt beschäftigen uns ja ge-rade.Ich möchte noch auf einen zentralen Punkt eingehen,der uns in der nächsten Zeit sehr intensiv beschäftigenwird. Das ist die Frage der Sicherheit der Renten. Wirhaben mittlerweile den vierten Entwurf des Bundes-arbeitsministers vorliegen. Schon das Herausgreifen vonzwei Punkten zeigt, so meine ich, dass das vorliegendeKonzept erhebliche Probleme in sich birgt.Erster Punkt. Bei einer korrekten Berechnung und ei-nem entsprechenden Vergleich der Auswirkungen desRentengesetzes der früheren Regierung mit den Auswir-kungen aufgrund des neuen Entwurfs muss man feststel-len, dass nicht, wie von Ihnen angegeben, ein Rentenni-veau von 65 Prozent erreicht wird – dieses Niveau wäredurch unser Gesetz erreicht worden; Sie haben es aberheftig bekämpft und uns dafür im zurückliegenden Wahl-kampf getadelt –, sondern nur ein Niveau von 61 Prozent.Ein zweiter wichtiger Punkt. Dieses Konzept birgt dieProblematik in sich, dass derjenige besser weg kommt,der früher in Rente geht, und dass derjenige, der längereinzahlt und seine Beiträge leistet, dementsprechendbenachteiligt wird.Damit würde bei einer Berücksichtigung dieses Konzeptsder Anreiz, sich früher aus dem Arbeitsleben zu entfernen,nicht geringer, sondern er würde wachsen. Das wiederumwürde auf die jüngere Generation erhebliche Auswirkun-gen haben. Wir brauchen die jüngere Generation. Wirmüssen ihr glaubhaft machen, dass das ein gerechtesSystem ist, bei dem die Jüngeren nicht zu kurz kommen,sondern bei dem sie, wenn sie lange eingezahlt haben,letztendlich das, was sie eingezahlt haben, auch wiederzurückerhalten.In diesem Zusammenhang Folgendes: Wenn wir beiden Zukunftslinien einer Politik sind, die den Erforder-nissen von Nachhaltigkeit und wirklicher Zukunftssicher-heit genügt, müssen wir natürlich auch auf die demogra-phische Entwicklung eingehen. Ich denke, dass in denkommenden Jahren von allen Entwicklungen die demo-graphische Entwicklung die größten Auswirkungen aufdie Sozialsysteme haben wird. Im Zusammenhang mit derRente diskutieren wir sie intensiv. Bei der Gesundheitsre-form wird es ähnlich sein. Bei anderen Sozialversiche-rungssystemen, beispielsweise bei der Pflegeversiche-rung, spüren wir auch jetzt schon ihre Folgen.Die demographische Entwicklung ist die größte He-rausforderung für Deutschland in den nächsten 30, 40 Jah-ren – nebenbei bemerkt auch für die Innovationsfähigkeit,die unser Land braucht, wobei wir darauf angewiesensind, dass auch Jüngere nachwachsen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir verab-schieden heute Rudolf Dreßler. Wir wünschen Ihnen, HerrKollege Dreßler, im diplomatischen Dienst in Israel undauf Ihrem weiteren Lebensweg alles Gute. Sie haben nunauch die Möglichkeit, Ihre Erfahrungen in anderer Weiseeinzubringen. Sie haben in diesem Hohen Hause tiefeSpuren hinterlassen.
Diesen vielen
herzlichen Grüßen und Wünschen möchte auch ich per-
sönlich mich anschließen.
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
mit dem Titel „Stärkung des sozialen Zusammenhalts der
Gesellschaft durch Weiterentwicklung des Sozialstaats
und mehr Gerechtigkeit“ auf Drucksache 14/3787. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Der Antrag ist damit mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU
und F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Wissenschafts- und Hochschulzusammenarbeit
mit den Entwicklungs- und Transformations-
ländern stärken
– Drucksache 14/3376 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Widerspruch
höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Klaus-Jürgen Hedrich.
Frau Präsiden-tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Der Kollege Rudolf Dreßlerhat vorhin in einer durchaus beeindruckenden Redeauf das Element der Solidarität in einer Gesellschaft
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hingewiesen. Aber eine Gesellschaft ist nur so solidarisch,wie sie sich auch gegenüber anderen Gesellschaften, Na-tionen und Völkern verhält. Deshalb ist es, glaube ich, ineiner enger werdenden globalen Struktur von ganz ent-scheidender Bedeutung, dass man sich nicht nur darüberRechenschaft ablegt – so wichtig das ist –, wie es im ei-genen Lande aussieht, sondern auch darüber, wie es in an-deren Ländern aussieht, und insbesondere darüber, wiedie Beziehungen zwischen Völkern gestaltet sind.Vor diesem Hintergrund kommt der Frage der Zusam-menarbeit im Bereich von Wissenschaft und Hochschulengerade mit Entwicklungsländern, Transformationslän-dern und Schwellenländern eine zunehmende Bedeutungzu. Es ist nicht nur von entscheidender Bedeutung, dasswir dazu beitragen, dass in diesen Ländern die entspre-chenden Fachkräfte ausgebildet werden, sondern es ist ingleicher Weise entscheidend, wie wir das Verhältnis zudiesen Ländern sehen.Deshalb möchte ich, auch vor dem Hintergrund derDiskussionen der letzten Wochen und Monate, für unsereFraktion noch einmal sehr deutlich machen: Deutschlandhat ein Interesse daran, dass die Besten der Welt in unserLand kommen, um hier zu arbeiten und zu studieren.
Dies muss auch in unserem eigenen Interesse liegen.Leider verletzt die Bundesregierung, die diesem Grund-satz, den ich gerade genannt habe, manchmal zustimmt,diesen in ihrer aktuellen Politik. Sie können das an vielenPunkten erkennen. Beispielsweise werden die Förder-mittel für den Wissenschaftsaustausch zurückgefahren.In der letzten Zeit ist viel darüber gesprochen worden, wiewir junge Wissenschaftler zum Beispiel aus Indien nachDeutschland holen können, Stichwort: Green Card. Zumgleichen Zeitpunkt reduziert aber die Bundesregierungdie Zusammenarbeit mit Indien im ingenieurwissen-schaftlichen Bereich, also ausgerechnet in dem Bereich,in dem man den Mangel an Fachkräften in Deutschlandbeklagt und in dem man immer ausgerechnet nach Indienschielt – was mich ein bisschen wundert, aber das hat sichso eingebürgert. Diese Reduzierung ist schon ein bisschengrotesk.
Gegenwärtig haben wir die Situation, dass lediglichetwa 100 Inder pro Semester ihr Studium in Deutschlandaufnehmen und nur 700 indische Studenten und Wissen-schaftler insgesamt in Deutschland ihre Ausbildunggenießen, während die Besten dieser Welt in Scharen indie Vereinigten Staaten strömen. Zurzeit sind es mehr als39 000 Bürger allein aus Indien, die in den VereinigtenStaaten ihre wissenschaftliche Ausbildung durchlaufen,also ein Vielfaches der Zahl derer, die sich in Deutschlandaufhalten.Wir sind in unserer Wissenschaftspolitik ein bisschenprovinziell. Vorhin wurde ausgeführt, wie viele Chancendie jüngere Generation hat; das ist wahr. Aber wir habender eigenen Generation viele Chancen verbaut, indem wirgerade in der Bildungspolitik dem Prinzip der Gleichma-cherei, das Herr Dreßler vorhin als falsch dargestellt hat,das Wort geredet haben. Dadurch ist die deutsche Bil-dungslandschaft in vielen Bereichen nicht mehr so attrak-tiv wie es die Bildungslandschaften unserer Nachbarnsind: der Holländer, der Engländer, der Franzosen, vonden Amerikanern ganz zu schweigen.
Wir müssen ein Interesse daran haben, unsere Univer-sitäten auf dem höchsten Stand zu halten. Aber wenn wirvon Kooperation sprechen, möchte ich auch darauf ver-weisen: Wir sollten nicht immer nur auf die akademischeJugend und die akademische Landschaft schauen, son-dern wir sollten auch an die hoch qualifizierten Fachar-beiter denken. Hier geht die Bundesregierung einen merk-würdigen Weg – gerade das BMZ, Frau Staatssekretärin,was mir überhaupt nicht einleuchtet –, indem sie in zu-nehmendem Maße die Ausbildung von Bürgern aus Ent-wicklungsländern in die Entwicklungsländer selbst verla-gert, statt diesen Menschen die Chance zu geben, nachDeutschland zu kommen und deutsche Kultur und deut-sche Sprache kennen zu lernen.Vielleicht reden Sie einmal mit Ihrem zuständigen Re-feratsleiter ein ernstes Wort, damit er diesem Unsinn end-lich ein Ende bereitet. Das können Sie von der Leitungs-ebene her entscheiden. Sie drücken sich hier um IhreVerantwortung, und das vor dem Hintergrund, dass geradeauf diesem Gebiet viel stärker als übrigens in unserenNachbarländern für Deutschland eine große Chance be-steht, weil die deutsche Wirtschaft bereit ist, an der Aus-bildung von jungen Menschen aus den Entwicklungslän-dern mitzuwirken. Diese Chancen sollten wir nutzen undnicht verbauen.Noch ein letztes Wort zur Hochschulkooperation.Wirsollten diese Hochschulkooperation in einem ganz beson-deren Maße mit den so genannten Schwellenländern be-treiben, mit Ländern wie zum Beispiel Brasilien, Indone-sien, Indien und Südafrika. Dies sind Länder, die für unszum einen aus entwicklungspolitischer Sicht und zum an-deren – dies ist an dieser Stelle hinzuzufügen – natürlichauch als Handelspartner interessant sind. Je stärker derBildungs- und Entwicklungsstand eines Landes vorange-schritten ist, desto interessanter ist dieses Land für uns alsWirtschaftspartner. Es muss in unserem Interesse liegen,dass junge Menschen die Chance haben, nach Deutsch-land zu kommen.Ich plädiere aber mit großem Nachdruck dafür, dasswir dies nicht als Einbahnstraße betrachten, sondern dasswir in zunehmendem Maße deutsche Studenten, deutscheWissenschaftler und deutsche Fachkräfte ermutigen, imAusland zu studieren. Dabei sollten sie nicht nur in dieUSA gehen – auch das ist wichtig –, sondern auch bereitsein, in Entwicklungsländern zu studieren und diese ken-nen zu lernen. Denn es gibt auch in den Entwicklungslän-dern, zum Beispiel in Brasilien, in Chile, in Argentinien,in Mexiko, aber auch in Indien, hervorragende wissen-schaftliche Institute.
Um also zu einem stärkeren kulturellen Austauschzwischen den Völkern beizutragen, sollten wir unsereLandsleute ermutigen, ins Ausland zu gehen. Ich halte es
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für selbstverständlich, dass wir dieses Element stärken.Wenn wir den Gedanken des immer stärkeren Zusam-menwachsens der Welt ernst meinen, dann muss es dazukommen, dass sich Menschen aus unterschiedlichen Län-dern in einem stärkeren Maße begegnen. Dazu gehört,dass man mobil ist und ins Ausland geht.
In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass dieZahl der ausländischen Studenten in Deutschland sta-gniert. Das kann uns nicht beruhigen. Es gibt zwei, dreiAusnahmen. Dazu gehört zum Beispiel Korea. Ansonstenstagnieren die Zahlen bzw. gehen sie zurück. Das liegtnicht allein, wie häufig gesagt wird, an der Sprachbar-riere. Wenn heute mehr Indonesier in Japan studieren alsin Deutschland und Sprachwissenschaftler einem sagen,der Sprung von Bahasa Indonesia ins Japanische sei vielschwieriger als von der indonesischen in jede indoeu-ropäische Sprache, dann macht dies deutlich: Die Sprach-barriere allein kann kein Grund dafür sein.Deshalb muss der Standort Deutschland attraktiverwerden. Wir müssen die Bundesregierung und die Bun-desländer ermutigen, entsprechende Angebote zu ma-chen. Es ist richtig, nüchtern festzustellen, dass leider dieZeit vorbei ist, in der Deutsch die Wissenschaftssprachewar. Das ist heute Englisch. Wenn wir es an deutschenUniversitäten als selbstverständlich betrachten, dass Wis-senschaftler aus dem Ausland ihre Examens- bzw. Dok-torarbeit in englischer Sprache abliefern können, dannsollte es auch selbstverständlich sein, dass wir in zuneh-mendem Maße Studiengänge anbieten, die in englischerSprache durchgeführt werden.
Ich plädiere übrigens nicht zuletzt vor dem Hinter-grund der Notwendigkeit, die Prozesse in den Transfor-mationsländern zu beschleunigen, dafür, dass wir unsauch überlegen, ob wir nicht an der einen oder anderendeutschen Universität, vor allem an einer Universität inden neuen Bundesländern, entsprechende Angebote inrussischer Sprache machen.Wir sollten also unsere Möglichkeiten flexibler gestal-ten. Deutschland als Wissenschaftsnation hat heute nachwie vor viel zu bieten. Aber wir dürfen uns nicht ausru-hen. Andere Länder haben aufgeholt und die Entwick-lungsländer nehmen an diesem Prozess in einem zuneh-menden Maße teil. Es gilt diese Chancen zu nutzen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Frank Hempel.
Verehrte Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Insbesondere lieberKollege Hedrich, wenn dieser Antrag im September 1998vorgelegt worden wäre, dann hätten Sie eigentlich diegleiche Rede halten können.
Denn Sie beschreiben in der Analyse des Antrags weitest-gehend eine Entwicklung, die in der Zeit stattgefundenhat, als es einen Bundeskanzler Kohl und als es in denletzten Jahren Ihrer Regierung einen Minister für wirt-schaftliche Zusammenarbeit namens Spranger gab.Eine Antwort auf die im Herbst 1998 vorgefundene Si-tuation sind die Schwerpunktsetzungen der Bundesregie-rung auch im Blick auf die Wissenschafts- und Hoch-schulzusammenarbeit – im Übrigen nicht nur mit denEntwicklungs- und Transformationsländern. Wie in denletzten Monaten schon so oft machen es sich die Sprecher,insbesondere die der größeren Oppositionsfraktion, sehreinfach. „Haushaltskürzungen rückgängig machen“ istmittlerweile eine stehende Floskel geworden. Nur, ange-sichts des finanziellen Scherbenhaufens, den uns diefrühere Regierung hinterlassen hat, werden und könnenwir dies nicht machen.Trotzdem verweise ich darauf, dass die Mittel für dieWissenschaftskooperation im Rahmen der Aus- und Fort-bildung von Angehörigen der Entwicklungsländer, wieder entsprechende Haushaltstitel heißt, seit Regierungs-übernahme ja prozentual gestiegen sind und auch weitersteigen werden, wie Sie dem entsprechenden Haushaltsti-tel des Haushaltes entnehmen können. Dies entspricht imÜbrigen Überlegungen, die Fachleute bereits in der letz-ten Legislaturperiode, zum Beispiel auf einem Sympo-sium der Alexander-von-Humboldt-Stiftung, vorgeschla-gen haben. Sie wissen, dass dies schon damals zum Bei-spiel der Deutsche Akademische Austauschdienst, derDAAD, die Alexander-von-Humboldt-Stiftung und dieDeutsche Forschungsgemeinschaft, die DFG, sehr erfolg-reich abwickelten.Es wird allerdings darauf ankommen, das Gesamtkon-zept und damit die Bedingungen auch für den Wissen-schafts- und Hochschulbereich vor dem Hintergrund einerNeuorientierung der Politik in der Entwicklungszusam-menarbeit zu verbessern, zum Beispiel dadurch, dass dernoch von der alten Regierung eingesetzte Bundesbeauf-tragte für das Hochschulmarketing Ende des Jahres 1999,also schon ein Jahr nach Bildung der neuen Bundesregie-rung, ein Memorandum unter Einbeziehung der Ländervorgelegt hat, die ja in vielfältiger Hinsicht Verantwor-tung für den Hochschulbereich tragen. Die im Memoran-dum genannten Maßnahmen werden von uns umgesetzt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei verschiedenenDelegationsreisen, insbesondere in afrikanische Entwick-lungsländer, habe ich gemerkt, dass die Gesamtsituationin Deutschland, die nach wie vor von Ressentiments ge-genüber Menschen anderer Länder und anderer Haut-farbe, insbesondere aus Entwicklungsländern, geprägt ist,Studierende aus dem Bereich der akademischen Eliten da-von abhält, in Deutschland zu studieren. Dies muss manzur Kenntnis nehmen.Diese Ressentiments dürfen nicht geschürt werden,wie es von bestimmten politischen Kräften in diesemLand getan wurde. Ich komme aus einem Bundesland, indem ich gespürt habe, wie dies auf fruchtbaren Boden fal-len kann. Hier ist, meine ich, Vertrauensarbeit zu leisten,die dann geschieht, wenn in den Projektzusammenhän-gen, zum Beispiel im Bildungsbereich, ein konstruktiv-kritischer Dialog geführt wird, der auch auf dieStudienbedingungen in Deutschland eingeht.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland mussmit offenen Angeboten an die Partner in den Entwick-lungs- und Transformationsländern herantreten. HerrHedrich, die Angebote an unseren Hochschulen, Fach-hochschulen und Universitäten sind gar nicht so schlechtwie in Ihrem Antrag angedeutet ist. Die Kolleginnen undKollegen der Unionsfraktion tun gut daran, den Hoch-schulstandort Deutschland nicht schlechter zu reden als erist.
Gewiss gab es in der Vergangenheit massive Versäum-nisse, aufgrund derer unsere Regierung und insbesonderedie Ministerin für Bildung und Forschung aktiv gewordensind. Die Umstrukturierung hat unter der neuen Bundes-regierung schon begonnen. Diese Neuorientierung derHochschulen, Fachhochschulen und Universitäten imBlick auf mehr internationale Attraktivität und Überein-stimmung bei Ausbildungsgängen und Abschlüssen istvon der neuen Bundesregierung in Gesprächen mit denBundesländern immer wieder Gegenstand der Diskussiongewesen. Hier gibt es auch erste Erfolge: So bieten einigeUniversitäten oder Fachhochschulen, zum Beispiel dieFachhochschule Neubrandenburg in Mecklenburg-Vor-pommern, wo ich herkomme, einen Bachelor- und Ma-sterstudiengang an.Die Mitarbeit beim Aufbau neuer wirtschaftlicher,rechtlicher und administrativer Strukturen in den LändernMittel- und Osteuropas ist ebenfalls in vollem Gange. DasGleiche gilt für die bereits genannten Fachorganisationender Entwicklungszusammenarbeit, die sich in diesen Län-dern wie bereits in der Vergangenheit in den Entwick-lungsländern engagieren.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Siesollten im Übrigen zur Kenntnis nehmen, dass die deut-schen Hochschulabschlüsse international anerkannt sindund dass bei allen bilateralen Verhandlungen und multila-teralen Konsultationen deutlich gemacht wird, dass es inDeutschland qualifizierte Hochschulausbildung verbun-den mit entsprechender Begleitung und Integrationspro-grammen gibt.Mit der Novellierung des Hochschulrahmengesetzessind die Voraussetzungen dafür geschaffen worden, dasssich die Hochschulen in Richtung Internationalisierungverändern können. Auch die angebotenen Aufbaustudi-engänge mit entwicklungsbezogener Schwerpunktset-zung werden bereits gut angenommen. Hier empfehle ich,auch in die Haushalte des Auswärtigen Amtes und desBundesministeriums für Forschung zu schauen, aus denendeutlich wird, dass in erheblichem Umfange Programmein englischer Sprache durchgeführt werden.Bei einem Aufenthalt im südlichen Afrika habe ichselbst erfahren, dass in Deutschland ausgebildete Studen-ten noch gut von der Nachkontaktbetreuung zum Bei-spiel der Carl-Duisberg-Gesellschaft sprechen. Nicht ver-gessen sollten wir in diesem Zusammenhang die zahlrei-chen in der ehemaligen DDR ausgebildeten Facharbeiterund Akademiker, die – das habe ich in Mosambik selbsterlebt – ein großes Interesse daran haben, mit uns in Kon-takt zu bleiben.
Ich verweise etwa auf die Windhuker Erklärung, die vordem Hintergrund der Auswertung von Erfahrungen von inDeutschland ausgebildeten Fachkräften aus Angola, Na-mibia, Simbabwe usw. entstanden ist.Hier wird deutlich, dass die Bundesregierung bzw. dievon ihr unterstützten Organisationen – ich nenne hier alsBeispiel die Arbeitsgruppe Entwicklung und Fachkräfteim Bereich der Migration und der Entwicklungszusam-menarbeit, AGEF, in Berlin – bereits heute die partner-schaftliche Nachkontaktbetreuung und die Anwendungdes an Fach- und Hochschulen Gelernten fördern.Die bedeutendste Sprache in internationalen Zusam-menhängen ist – nicht erst seit dem Jahr 2000 – die engli-sche Sprache. Von daher gesehen ist das Angebot fürjunge Menschen aus Entwicklungsländern, möglichstschon im Heimatland Deutsch zu lernen, die eine Seite. Indiesem Zusammenhang – das erkenne ich natürlich an –spielen die Goethe-Institute schon eine entscheidendeRolle. Ich bin aber der Meinung, dass der Ausbau der Stu-diengänge in englischer Sprache genauso wichtig ist. Hierverweise ich darauf, dass gerade die neue Bundesregie-rung im Sinne einer verstärkten Internationalisierung derAngebote an Hochschulen initiativ geworden ist.Wir sollten allerdings auch nicht so tun, als würden inder Sekundarausbildung und auch in der Hochschulaus-bildung in Entwicklungs- und Transformationsländernnicht bereits deutsches Know-how und deutsche Fach-kräfte eingesetzt. Diese Fachkräfte leisten, wie wir wis-sen, eine nicht unerhebliche Werbung für den Ausbil-dungs- und Hochschulstandort Deutschland. Das wissenSie auch, Herr Kollege Hedrich.
Ich habe gerade auch in Gesprächen anlässlich von De-legationsreisen festgestellt, dass der Bereich von PublicPrivate Partnership gewachsen ist. Gerade im Bereichder Hochschulen sind die deutschen Fachorganisationenvom DAAD bis zur GTZ, der Gesellschaft für TechnischeZusammenarbeit, an der Koordination beteiligt. Ein Blickin die Kursangebote für Aufbaustudiengänge mit ent-wicklungsländerbezogener Problematik zeigt, dass an dendeutschen Universitäten die Herausforderung der Globa-lisierung ernst genommen wird.
Ich wundere mich schon ein wenig, liebe Kolleginnenund Kollegen von der Union, dass Sie nun plötzlich ausIhren Reihen nach der „Kinder-statt-Inder“-Kampagnedie Reform des Ausländerrechts als Vehikel zur Verbes-serung der von Ihnen in diesem Antrag angesprochenenSituation bemängeln. Hier stelle ich fest, dass gerade dieBundesregierung – insbesondere der Bundeskanzler – die
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Anregungen der Wirtschaft für diesen Bereich schonlängst aufgegriffen hat.Liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen Sie sich ein-mal die Zahlen der vom BMZ geförderten Stipendiatenan.
– Doch. – Dann werden Sie nämlich feststellen, dass sieim Vergleich zum Ende Ihrer Regierungszeit erheblich ge-stiegen sind.
Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, werden in diesemJahr weit über 3 000 Stipendiaten gefördert, während esnoch 1997 nur knapp über 2 000 waren.
Ich gehe davon aus, dass im Zuge des Gesamtkonzep-tes der Politik der Entwicklungszusammenarbeit der Ko-alitionsregierung diese und die anderen von mir ange-sprochenen Tendenzen auch künftig verstärkt werden.Ich bedanke mich.
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Ulrike Flach.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! In der globalisierten Welt des 21. Jahrhun-derts wird die Zusammenarbeit im Bereich der Wissen-schaft und Hochschulen immer wichtiger. Ich bin sehrfroh, dass wir uns hier parteiübergreifend einig sind. Ichwäre noch froher, wenn auch ein Vertreter des entspre-chenden Ministeriums anwesend wäre.
Ich freue mich, dass Sie, Frau Eid, anwesend sind, aberdem Bildungsministerium hätte es sicherlich auch gut an-gestanden, wenn es hier heute Abend anwesend gewesenwäre.
Die F.D.P.-Fraktion hat schon vor einiger Zeit einenAntrag zur Verbesserung der Attraktivität des Hochschul-standorts Deutschland eingebracht. In dem Antrag derUnion finden sich viele Gemeinsamkeiten. Wir begrüßendas.In Deutschland zeigt sich ein dramatischer Mangel anNaturwissenschaftlern und Ingenieuren. Hier könnte sichpraktische Wissenschaftskooperation zeigen. Gingenfrüher überwiegend deutsche Fachkräfte in Entwick-lungsländer – meine beiden Vorredner haben es schon an-geführt –, so sind wir heute umgekehrt auf IT-Spezialis-ten aus aller Welt angewiesen.Auch hier hätte ich gern das Bildungsministerium ge-fragt: Ist es Ihnen eigentlich selbst nicht schon peinlich,wenn Sie im Ausland mit Wissenschaftlern sprechen unddie überbürokratischen kleinkarierten Hürden für die Er-teilung von Green Cards erklären müssen, die Ihnen HerrRiester ins Gepäck gelegt hat?
Ich kann mir natürlich einen kleinen Seitenhieb auf dieAntragsteller nicht verkneifen. Ich lese bei Ihnen den sehrguten Satz, dass das deutsche Ausländerrechtes ausländischen Studierenden unnötig erschwert, anein abgeschlossenes Studium eine zeitlich limitierte,berufliche Tätigkeit ... anzuhängen.
Wir stimmen dem natürlich zu, ich als Nordrhein-Westfä-lin eh. Ist das aber wirklich die Union, die ich in den letz-ten Monaten erlebt habe, als Ihre unselige Kampagne
„Kinder statt Inder“ über unsere Lande zog?
Ich freue mich über diesen Sinneswandel und hoffe, dasser die nächsten beiden Wahlkämpfe übersteht.Meine Damen und Herren, internationale Hochschul-zusammenarbeit setzt auch die Vergleichbarkeit der Sys-teme und Abschlüsse voraus. Wir begrüßen die inzwi-schen fast 400 neuen Bachelor- und Masterstudien-gänge in Deutschland. Es muss aber auch klar sein, dassdie Wertigkeit eines deutschen Bachelor im Vergleich mitUS- oder englischen Abschlüssen nach wie vor offen-sichtlich zu wünschen übrig lässt. Es gibt noch Nachhol-bedarf.In den Entwicklungsländern gibt es eine steigendeNachfrage nach Bildung im Ausland. Aber da haben im-mer wieder die anderen die Nase vorn. Herr Hedrich, Siehaben es gerade schon erwähnt. Mit circa 100 000 aus-ländischen Studierenden liegen wir deutlich hinter denBriten und Amerikanern.Wir, die F.D.P., setzten uns deshalb für mehr interna-tionale Studiengänge an deutschen Hochschulen, fürmehr englisch- und französischsprachige Kurse – mit denrussischen laufen Sie bei uns offene Türen ein – und natür-lich für eine bessere Beratung ausländischer Studierenderein.lch begrüße in diesem Zusammenhang die neue Initia-tive der Max-Planck-Gesellschaft, die mit 9 bereits ge-gründeten und 30 geplanten Research Schools ein inno-vatives Projekt für Promotionsstudiengänge, bei denen esauch um mehr Kooperation mit ausländischen Unis undInstituten geht, umsetzt. Das sind sinnvolle Projekte, auchfür die so genannte Dritte Welt.
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Frank Hempel10847
Wir müssen gerade in den Entwicklungsländern für dasdeutsche Bildungssystem werben. Hier möchte ich beto-nen, Frau Eid: Die Schrumpfpolitik der rot-grünen Regie-rung bei den Goethe-Instituten schadet diesem Ziel si-cherlich massiv.
Ich kann bei Ihnen kein Auslandsmarketing für diedeutsche Hochschullandschaft erkennen, wie es die ande-ren betreiben. Ich kann auch kein zwischen Bund undLändern abgestimmtes Konzept zur Erhöhung der Stipen-dienfonds für Postgraduierte aus Entwicklungsländern er-kennen. Die virtuelle Universität, die gerade in diesemZusammenhang von nicht unerheblicher Bedeutung wäre,gibt es im Augenblick nur auf dem Papier.Vor wenigen Tagen haben wir über die nachhaltige Ent-wicklung gesprochen. Dort wie hier zeigt sich, dass wir esmit einer Querschnittsaufgabe der Ressorts zu tun haben.Bildungs- und Forschungspolitik im In- und Ausland, aus-wärtige Kulturpolitik, Entwicklungszusammenarbeit undWirtschaftspolitik müssen zusammenwirken.Der CDU/CSU-Antrag enthält viele sinnvolle Anre-gungen. Wenn die Regierung diese gemeinsam mit unse-ren Vorschlägen zur Attraktivitätssteigerung umsetzenwürde, kämen wir ein Stück weiter, hier vor Ort und beieiner Partnerschaft zwischen Hochschulen und Institutenin Deutschland und in den Entwicklungsländern.
Das Wort hat
jetzt die Frau Staatssekretärin Uschi Eid.
Dr
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrteDamen und Herren! Ich begrüße es ausdrücklich, dass wiruns heute mit dem wichtigen Thema der Wissenschafts-und Hochschulkooperation mit unseren Partnerländern imSüden und im Osten befassen. Internationale Zusammen-arbeit gerade auch im Wissenschafts- und Hochschulbe-reich ist eine Selbstverständlichkeit, wenn wir gemeinsamund im Sinne einer wirklichen Partnerschaft nach Lösun-gen für die Herausforderungen unserer Zeit suchen wol-len.Die Zusammenarbeit hat vielfältige und lang wirkendepositive Effekte und ist zum Nutzen aller Beteiligten.Wissenschafts- und Hochschulkooperation entsprichtdem Gebot unserer Zeit. Dazu brauchten wir nicht durcheinen CDU/CSU-Antrag aufgefordert zu werden.
Hierzu trägt auch die Entwicklungspolitik der Bundes-regierung in erheblichem Umfang bei. Im Rahmen dernotwendigen Haushaltskonsolidierung, zu der natürlichauch der Entwicklungsetat beitragen musste, ist es unssogar gelungen, den Bereich der Wissenschaftskoopera-tion noch aufzuwerten, auch wenn Sie von der CDU/CSUhier die ganze Zeit das Gegenteil behaupten.Einen Titel – vielleicht hören Sie gut zu, Herr Hedrich –haben Sie bei Ihren Ausführungen außen vor gelassen:Aus dem Titel „Aus- und Fortbildung für Angehörige ausEntwicklungsländern“ wurden 1999 für die Wissen-schaftskooperation 26 Prozent der Mittel verwandt. Indiesem Jahr sind es 27,3 Prozent und für 2001 haben wireinen Anteil von 30 Prozent vorgesehen. Diese Zahlen wi-derlegen Ihre Behauptungen, die Sie zu Beginn der De-batte aufgestellt haben.
Diese Mittel sind im Antrag der CDU/CSU überhauptnicht berücksichtigt. Selbiger bezieht sich lediglich aufauslaufende Programme im Bereich der Finanziellen Zu-sammenarbeit und Technischen Zusammenarbeit im en-geren Sinne und übersieht, dass wir Programme der Wis-senschaftskooperation bereits seit mehreren Jahren imRahmen der Technischen Zusammenarbeit im weiterenSinne finanzieren.Erlauben Sie mir daher, das verzerrte Bild, das dieCDU/CSU versucht zu zeichnen, etwas zurechtzurücken:Wir fördern im Rahmen unserer Entwicklungszusammen-arbeit derzeit insgesamt 12 verschiedene Programme derWissenschafts- und Hochschulkooperation. Dabei arbei-ten wir in den meisten Fällen mit dem Deutschen Akade-mischen Austauschdienst zusammen.1999 erhielten über 1 000 Wissenschaftlerinnen undWissenschaftler von uns finanzierte Stipendien, um sichin ihren Ländern selber weiterbilden zu können, davon al-lein über 700 in Afrika. Mit diesen Programmen unter-stützen wir den Aufbau nationalen Expertentums. Hierfürhaben wir 1999 10,8 Millionen DM zur Verfügung ge-stellt. Wir werden das Mittelvolumen in den nächsten Jah-ren ungefähr beibehalten.Wir fördern 33 Aufbaustudiengänge mit entwick-lungsbezogener Thematik, die aktuell 740 Teilnehmernaus unseren Partnerländern eine praxisorientierte Weiter-qualifikation mit international anerkannten Abschlüssenbieten. 1999 haben wir hierfür 14,3 Millionen DM zurVerfügung gestellt. In den kommenden Jahren werden wirdiese Kurspalette jeweils um zwei Programme erweitern.Ebenfalls mit unserer Unterstützung wurden mittler-weile 98 Hochschulpartnerschaften zwischen deut-schen Universitäten und wissenschaftlichen Einrichtun-gen in Entwicklungsländern aufgebaut. Wir fördern dieVermittlung deutscher Wissenschaftler ins Ausland. Die-ses Jahr zum Beispiel werden allein 40 Dozenten nachBrasilien und Chile entsandt. Wir fördern auch Stipendienfür Nachwuchswissenschaftler aus fortgeschrittenen Part-nerländern, damit sie sich hier in Deutschland weiter qua-lifizieren. So wird ein Programm mit Thailand, den Phi-lippinen und Vietnam von neun Promotionsstipendien imJahre 1998 auf 32 Neustipendien im Jahre 2001 erweitert.
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Ulrike Flach10848
Wir tragen auch den wachsenden Möglichkeiten auf-grund der neuen Kommunikationstechnologien Rech-nung.So hat der DAAD im letzten Jahr mit unserer Unterstüt-zung mit dem Aufbau von Datenbanken und internatio-nalen Netzwerken begonnen, die es ehemaligen Stipen-diaten ermöglichen, sich auch nach der Rückkehr in ihreHeimatländer weiterzubilden und aktuelle Forschungser-gebnisse weltweit auszutauschen. Hierzu gehört zum Bei-spiel auch das Projekt „Alumni.med.Live“ eines Hoch-schulkonsortiums unter der Federführung der UniversitätHeidelberg – eine multimediale Medizinwissensbank, dieüber das Internet zugänglich ist und der virtuellen Weiter-bildung in aller Welt dient. Es ist noch keine virtuelle Uni-versität, aber immerhin eine virtuelle medizinische Fa-kultät.
Darüber hinaus haben wir die Zusammenarbeit mit derdeutschen Wirtschaft intensiviert, die in wachsendemMaße ebenfalls Vorhaben der Wissenschaftskooperationfinanziert. Hierzu gehören unter anderem zwölf Stiftungs-lehrstühle am Chinesisch-Deutschen Hochschulkolleg ander Tongji Universität in Schanghai, 16 Stipendien für einPostgraduiertenprogramm in Zusammenarbeit mit ausge-wählten asiatischen Universitäten in den Bereichen Elek-troingenieurwesen, Informations- und Kommunikations-technologie, das von der Asean Brown Boveri AG, Mann-heim, finanziert wird, und eine Kooperation der SiemensAG mit dem DAAD im Rahmen eines auf Asien ausge-richteten Stipendienprogramms in der finanziellen Größevon circa 4Millionen DM, wovon Siemens fast zwei Drit-tel finanziert.Dies ist nur eine kleine Auswahl derzeit laufender Ak-tivitäten. Wir haben dem Ausschuss für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung vor wenigen Wocheneinen umfangreichen Informationsvermerk zu diesemThema zur Verfügung gestellt, der die Zustimmung allerFraktionen fand, auch die der CDU/CSU und der F.D.P.Lassen Sie mich daher zum Schluss noch einmal beto-nen: Die Wissenschafts- und Hochschulkooperation warund ist eine wichtige Aufgabe der deutschen Entwick-lungszusammenarbeit. Dies wird auch in Zukunft so blei-ben.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Carsten Hübner.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Vieles im Antrag von CDU/CSUist auch aus unserer Sicht durchaus in Ordnung. Die For-derungen sind richtig. Vieles ist allerdings nicht neu. Wirhaben gehört: Einiges ist umgesetzt. Die sehr positive Be-trachtung der Haushaltsentwicklung teilen wir natürlichnicht. Ich denke, es ist ganz wichtig, darauf hinzuwei-sen, welch entscheidendes Kriterium die Förderung vonHochschulzusammenarbeit und Wissenschaftszusam-menarbeit auch für die Entwicklungspolitik ist und dass indiesem Bereich gar nicht genug Mittel eingesetzt werdenkönnen.Was uns am Antrag von CDU/CSU stört, ist der Tenor:dass Wissenschafts- und Hochschulzusammenarbeit vor-nehmlich aus dem Blickwinkel einer Wirtschafts- undStandortpolitik betrachtet wird. Ich denke, das ist geradeangesichts der Kooperation mit Entwicklungsländernnicht die richtige Sichtweise. Wir denken, der vielleichtschon etwas verstaubte, aber noch immer sehr aktuellehumboldtsche Bildungsbegriff ist gerade im Kontext ei-ner zu schaffenden Infrastrukturentwicklung und einer zuschaffenden gesellschaftlichen Weiterentwicklung in die-sen Ländern sehr viel angebrachter als die Formulierungvon Interessen, denen wir in diesen Ländern zukünftigmöglichst noch verstärkt nachgehen wollen.
Ich werde mich deswegen auf drei Anmerkungen be-schränken. Die erste Anmerkung zu dem vorliegendenAntrag und zur bisherigen Politik bezieht sich auf dieFrage: Wer kommt eigentlich de facto in den Genuss un-serer bisherigen Stipendien- und Förderprogramme?Ich denke, wir sollten sehr viel stärker darauf achten, dassdie Entwicklungsländer, die sich Bildungspolitik gegen-wärtig nicht leisten können, in diese Maßnahmen einbe-zogen werden,
dass Stipendienprogramme zunehmend auf genau dieseKlientel zugeschnitten werden. Wir haben in diesen Län-dern bereits Bildungseliten, die gleichzeitig gesellschaft-liche Eliten sind. Die bedürfen dieser Förderung in vie-len Fällen nicht. Denjenigen, die gewisse Möglichkeitennicht haben, bleibt die Förderung trotz dieser Programmeauch weiter oft vorenthalten. Da sollten wir soziale Indi-katoren sehr viel stärker berücksichtigen.Das Zweite ist: Wir müssen sehr viel stärker daraufachten, dass Frauen in den Genuss dieser Programmekommen. Frauen sind – das wissen alle, die in der Ent-wicklungspolitik tätig sind – in vielen Fällen der Motorgesellschaftlicher Prozesse, gerade in den Entwicklungs-ländern. Ihnen müssen unter den ganz besonderen undsehr schwierigen Bedingungen zusätzliche Angeboteeröffnet werden. Eine Schwerpunktverlagerung in diesemBereich ist unbedingt notwendig, um die derzeit beste-henden Defizite auszugleichen.
Und dann gilt – das ist vorhin vom Kollegen Hedrichangesprochen worden –: Mut zu Neuem und natürlichauch Mut zur Expansion in Bereichen, die sinnvoll er-scheinen. Ich fände es sinnvoll, wenn wir in der Bundes-republik Deutschland sehr viel stärker Studiengänge –nicht nur Aufbaustudiengänge – zum Beispiel in russi-scher Sprache, in Englisch oder Französisch anbietenwürden, die sich ganz speziell mit Fragen befassen, die fürStudierende aus Entwicklungsländern und auch aus denSchwellenländern von Interesse sind.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eid10849
Studiengänge, die sich mit Infrastrukturentwicklung,mit Dezentralisierung, mit Demokratisierung, mit einernachhaltigen ökonomischen und ökologischen Entwick-lung unter den Bedingungen auseinander setzen, die inden Entwicklungsländern vorherrschen und die nicht nurdas reproduzieren, was im Moment in den entwickeltenLändern als Entwicklungsmodell hochgehalten wird.Diese Spezifizierung im Hinblick auf die besonderen Be-dingungen fände ich wichtig. Hier, denke ich, könnten wirnoch sehr viel tun.Zum Schluss will ich nur sagen: Ich möchte die Teileim CDU/CSU-Antrag unterstützen, die auf eine ArtNachbetreuung verweisen. Ich war vor kurzem in Laos.Dort haben wir mit dem Botschafter gesprochen. Er mühtsich sehr, diejenigen Studierenden, die Deutsch können,an einen Tisch zu bekommen, in einem Gremium zu or-ganisieren. Das sind in Laos immerhin 3 000 Menschen.Laos ist ein kleines Land. Diese Leute bieten sowohl fürökonomische Kooperation als auch für Entwicklungsko-operation sowie für den allgemeinen gesellschaftlichenund kulturellen Dialog ein großes Potenzial.Diese Gruppen von Studierenden, von Akademikernund auch von Führungseliten sind im Moment noch nichtgreifbar. Es bedarf vielfach eines großen Engagements,um ihnen in diesen Ländern Foren zu bieten, sodass wirdirekt an ihren Erfahrungen und ihr Wissen anknüpfenkönnen. In diesem Sinne hoffe ich, dass wir im Ausschusszu einer lebhaften Diskussion kommen werden.Danke schön.
Ich schließe da-mit die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/3376 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorschlagen. Sind Sie einverstanden? –Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
– Drucksache 14/1578 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
– Drucksache 14/3736 –Berichterstattung:Abgeordnete Christa LörcherIrmingard Schewe-GerigkMaria EichhornKlaus HauptMonika BaltNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist auchhier für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. –Widerspruch gibt es nicht. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst dieFrau Ministerin Dr. Christine Bergmann.Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit Mitte der80er-Jahre, also seit ungefähr 15 Jahren, hat es immerwieder Versuche gegeben, eine bundeseinheitliche Rege-lung für einen anerkannten Fachberuf Altenpflege zuschaffen. Für dieses bedeutsame Vorhaben, das wir drin-gend brauchen, um Verbesserung in der Pflege alter Men-schen zu erreichen, war erst ein Regierungswechsel nötig.
Jetzt liegt unser Regierungsentwurf auf dem Tisch. Ichbin froh darüber. Nun müssen wir sagen, worum es geht.
– Es ist so, Sie haben das Vorhaben nicht zuwege ge-bracht. Worum geht es also in diesem Gesetz? – Es gehtdarum, die Qualität der Pflege alter Menschen auf dieDauer zu sichern. Das ist unsere Aufgabe als Politikerin-nen und Politiker. Ich bin der Meinung, das sollte uns auchüber die Fraktionsgrenzen hinweg einen.Zu dieser Qualitätssicherung gehört unzweifelhaft dieAusbildung der Altenpflegerinnen und Altenpfleger. Siekennen den Sachverhalt. Wir haben heute in 16 Bundes-ländern 17 verschiedene Ausbildungen. Ziele, Inhalte,Dauer und Strukturen sind unterschiedlich. Dabei darf esnicht länger bleiben. Neuregelungen zur Qualitätsver-besserung in Bundesgesetzen wie im Heimgesetz, imSGB XI, im SGB V, die Sie von der Opposition zu Rechtfordern, gehen ins Leere, wenn das Pflegepersonal nichtso ausgebildet ist, dass entsprechende Standards in derPflegepraxis dann auch umgesetzt werden können.
Ich denke, es bezweifelt eigentlich niemand mehr, dassvon den Fachkräften in der Altenpflege sowohl im sta-tionären als auch im ambulanten Bereich hohe Professio-nalität und besondere Qualifikation gefordert werden.Den Anspruch an die Altenpflege kann man deutlich ma-chen, wenn man einmal darauf hinweist, dass das Durch-schnittsalter bei den Menschen, die in ein Heim aufge-nommen werden, bei über 80 Jahren liegt und dass 50 Pro-zent der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner unterDemenz leiden, also verwirrt sind. Das heißt: hier mussunwahrscheinlich viel in der Pflege geleistet werden.Wir wissen, dass die Bundesländer mit ihren Ausbil-dungsgesetzen in der Vergangenheit wichtige Grundlagenfür die Qualifizierung der Altenpflegekräfte geschaffenhaben. Sie haben dafür Sorge getragen, dass sich der Al-tenpflegeberuf etabliert hat. Es ist nun aber endlich an derZeit, dass wir die Altenpflege als Berufsfeld mit Zukunftadäquat weiterentwickeln. Dazu gehört, dass wir die Al-tenpflegeausbildung aus dem Dickicht der unterschied-lichen Länderregelungen herausholen.
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Carsten Hübner10850
Ich will nun ein paar Argumente dafür aufführen,warum wir dieses bundeseinheitliche Altenpflegegesetzso dringend brauchen: Wir brauchen es, damit Altenpfle-gerinnen und Altenpfleger bundesweit einheitlich ausge-bildet werden und überall in Deutschland die gleichenMindestqualifikationen erfüllen. Wir brauchen es, damitdie Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden, dassder Beruf ein eigenes Profil erhält und die Gleichwertig-keit mit dem Beruf der Krankenschwester und des Kran-kenpflegers erreicht wird.Wir brauchen die bundeseinheitlichen Vorschriften,damit die Altenpflege in allen Bundesländern ein Ausbil-dungsberuf wird, der nicht nur für Umschülerinnen undUmschüler, sondern auch für Erstauszubildende attraktivwird. Wir benötigen dieses Gesetz auch, damit dieser nachwie vor typische Frauenberuf keine strukturellen Benach-teiligungen gegenüber anderen Berufen erfährt, wie es imMoment in einigen Ländern schlichtweg der Fall ist, wennman daran denkt, dass zum Beispiel nicht überall eineAusbildungsvergütung gezahlt wird. Durch das Alten-pflegegesetz mit seinen bundeseinheitlichen Ausbil-dungs- und Berufszulassungsvorschriften erfährt der Be-ruf endlich die ihm gebührende gesellschaftliche Aner-kennung. Darüber kann man nicht nur reden, dafür mussman auch etwas tun.
Die Koalitionsfraktionen haben im Gesetzgebungsver-fahren nach den Anhörungen Änderungen vorgenommen,die meine volle Unterstützung finden. Ich will aus Zeit-gründen nur auf drei Punkte eingehen:Zum einen geht es um die Frage der Umschulung. Siewissen, dass es eine Sonderregelung gibt, die Ende desJahres 2001 ausläuft. Die Anhörung und viele Gesprächehaben ergeben, dass wir die Umschulungsregelung nichtin diesem Verfahren schaffen können, sondern dass wiruns gesondert davon mit den Vertretern der zuständigenRessorts und den Vertretern der Länder zusammensetzenmüssen, um eine einvernehmliche Regelung zu finden,die nicht nur den Altenpflegeberuf betrifft, sondern gene-rell die Heilberufe und die sozialpflegerischen Berufe.Damit können zunächst bis zum 31. Dezember 2001 be-gonnene Umschulungen wie bisher dreijährig durchge-führt und entsprechend gefördert werden.Wichtig war auch, dass wir die Strukturen zur Finan-zierung der Ausbildungsvergütung präzisiert haben. Ichdenke, dass wir dafür ein solides Fundament geschaffenhaben. Die Ermächtigungsnorm zur Einführung einesUmlageverfahrens wurde nochmals konkretisiert, damithier Rechtssicherheit herrscht.Nicht zuletzt begrüße ich die Einführung von Experi-mentierklauseln zur Erprobung integrierter Ausbil-dungsmodelle. Das weist auf unser eigentliches Ziel.
Wir haben damit die Weichen für die Weiterentwicklungder Pflegeberufe im Hinblick auf ein langfristiges Ergeb-nis gestellt.Bis zur letzten Woche hatte ich wenig Zweifel daran,dass dieses Gesetz eine breite Zustimmung finden würde.Ich hatte erwartet, dass Sie, meine Damen und Herren vonder CDU/CSU, zu Ihren politischen Zielen und Verspre-chen der vergangenen Legislaturperioden stehen werden.Ich kann den von Ihnen vollzogenen Sinneswandel nichtganz verstehen. Sie werden auch Mühe haben, das zu er-klären.
Ich muss Sie fragen, wo Ihre Glaubwürdigkeit in dieserSache bleibt.Wir haben eine von Bayern angeführte Debatte, ob derBund für dieses Gesetz die notwendige Gesetzgebungs-kompetenz habe. Sie wissen, dass wir Rechtsgutachtenauf dem Tisch haben, die diese Frage bejahen. Sie müssensich daran erinnern, dass eine von Ihnen gestellte Regie-rung vor zwei Legislaturperioden in dem gleichen Fall dieBundeskompetenz bejaht hat und dass auch die Mehrheitder Länder in den letzten Legislaturperioden dieses nie-mals in Zweifel gezogen hat. Ihre Haltung ist daher nichtsehr überzeugend.Wenn ich mir überlege, was von Ihnen an inhaltlichenEinwänden zu diesem Gesetz – teilweise in letzter Se-kunde – vorgebracht wurde, muss ich Ihnen vorhalten: Siehaben nicht einen einzigen Änderungsantrag zu diesemGesetz gestellt. Wenn Sie bestimmte Punkte anders sehenund daher Verbesserungen gewünscht hätten, hätten wirgerne darüber reden können.
– Das fällt Ihnen sehr spät ein. Das ist alles nicht sehrüberzeugend. Ich denke, Sie müssen den Pflegebedürfti-gen erklären, warum Sie diesem Gesetz nicht zustimmen.Ich bin davon überzeugt, dass durch die Änderungen,die im Wesentlichen auch den Vorschlägen des Bundesra-tes und den Forderungen der Fachverbände entsprechen,eine sehr gute Grundlage für die bundeseinheitliche Al-tenpflegeausbildung geschaffen wird. Deshalb möchteich mich für die gute Zusammenarbeit mit den Kollegin-nen und Kollegen der Koalitionsfraktionen bedanken. Wirhaben etwas auf den Weg gebracht, worauf viele in die-sem Land warten.In diesen Dank möchte ich auch die Vertreterinnen undVertreter der Fachverbände und Interessenvertretungeneinschließen, die nicht müde geworden sind, die Bun-deseinheitlichkeit der Altenpflege einzufordern. Es wareine lange Strecke, die wir zurücklegen mussten, bis wirdieses Gesetz auf den Tisch legen konnten. Wir sind esdiesem Berufsstand, der über lange Jahre hingehaltenwurde, und natürlich auch den Pflegebedürftigen, die An-spruch auf eine qualifizierte Pflege haben, schuldig, dassdieses Gesetz endlich verabschiedet wird. Deshalb er-warte ich nicht nur hier, sondern auch im Bundesrat eine
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Bundesministerin Dr. Christine Bergmann10851
Zustimmung, dass dieses Vorhaben, das lange überfälligist, nicht weiter blockiert wird.Danke.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Maria Eichhorn.
Frau Präsidentin! Mei-ne Damen und Herren! Wenn heute Menschen in ein Al-tenheim eintreten, sind sie im Durchschnitt 86 Jahre alt.Zwischen 50 und 60 Prozent der in den Heimen betreutenalten Menschen sind dement. Diese Menschen bedürfeneiner besonderen Betreuung. Die Anforderungen an dieAltenpflege werden deswegen immer höher. Aufgabe derAltenpflegerinnen und Altenpfleger ist es, älteren Men-schen zu helfen, die körperliche, geistige und seelischeGesundheit zu fördern und ihre Selbstständigkeit zu un-terstützen und zu erhalten. Ihre Arbeit dient dazu, altenMenschen einen würdigen Lebensabend und einen wür-devollen Tod zu ermöglichen, eine schöne, aber auchhöchst anspruchsvolle Aufgabe für Altenpflegerinnen undAltenpfleger.Die Bundesregierung hat bei der Vorlage des Regie-rungsentwurfes zur Altenpflege erklärt, dass sie mit einerbundeseinheitlichen Neuregelung der Altenpflegeausbil-dung den Beruf aufwerten möchte. Frau Ministerin, einebundeseinheitliche Regelung als solche bringt keine Qua-litätsverbesserung. Es kommt auf den Inhalt an.
Unser Ziel ist eine bessere Altenpflegeausbildung.Das ist aber bei dem Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt ha-ben, nicht der Fall. Das hat die Anhörung im Dezemberbestätigt.
Sie hat deutlich gemacht, dass der Gesetzentwurf derBundesregierung völlig ungeeignet ist. Wir hätten ein völ-lig neues Gesetz vorlegen müssen. Mit Änderungsanträ-gen hätte man überhaupt nichts bewirken können.Trotz einer Vielzahl von Änderungen, die Sie aufgrunddes niederschmetternden Urteils der Sachverständigenbeider Beratungen im Ausschuss vorgelegt haben, siehtder Arbeitskreis Ausbildungsstätten für Altenpflege – ichzitiere –: „den Gesetzentwurf in seiner Zielsetzung als ge-scheitert an“.Denn der Gesetzentwurf regelt den Beruf weit unterhalbder in Ländern erreichten Standards der Altenpflegeaus-bildung.
Die Änderung des Krankenpflegegesetzes im Alten-pflegegesetz lässt die Vermutung aufkommen, den Berufnicht qualitativ voranzubringen, sondern mittelfristig ab-zuschaffen. Ich unterstelle Ihnen zwar nicht, dass Sie dastatsächlich wollen, aber es kann die Folge dieser Ände-rung sein. Darauf weisen Fachleute hin.Die Zugangsvoraussetzungen zur Altenpflege sollengleich oder ähnlich ausgestaltet werden wie die Zugangs-voraussetzungen zur Krankenpflegeausbildung. Damitwird die Altenpflege im Konkurrenzkampf gegenüber derKrankenpflege nur zweiter Sieger sein, das heißt, dassnicht mehr Schüler zu erwarten sind. Das Gegenteil aberwäre notwendig, da bereits heute Fachkräfte knapp sind.Statt ein höheres Qualifikationsniveau zu erreichen,wird die theoretische Ausbildung erheblich gekürzt. DasBerufsbild wird auf die somatische Pflege verengt. DerSchwerpunkt wird hin zur geriatrischen Krankenpflegeverlagert. Dies entspricht keinesfalls den fachlichen Er-fordernissen. Der Altenpflegeberuf, der als einziger spe-ziell auf die Lebenslagen und Krisen im Alter zugeschnit-ten ist, wird zugunsten einer medizinisch-pflegerischenOrientierung aufgegeben, für die es aber bereits den Kran-kenpflegeberuf gibt.Aufgrund der Kritik der Länder und der Sachverstän-digen haben Sie § 26 des Altenpflegegesetzes, der dieUmschulung betrifft, herausgenommen. Die Heraus-nahme dieses Paragraphen garantiert jedoch nur für we-nige Monate dreijährige Ausbildungszeiten; denn bereitskurze Zeit nach dem geplanten In-Kraft-Treten des Ge-setzes wird die Regelung, dass Umschulungen auch dreiJahre gefördert werden können, auslaufen. Über eineNachfolgeregelung – das haben Sie gerade selber zugege-ben – muss noch gesondert verhandelt werden.Die Fachschulen für Altenpflege haben sich bewährt.Das Gesetz, das Sie heute beschließen wollen, wird schul-rechtliche Strukturen zerstören; denn die Regelschule, diedas Gesetz jetzt vorsieht, ist eine Schule der besonderenArt. Es ist zu befürchten, dass zahlreiche Träger ihreSchulen aufgeben, wenn sie diese in Berufsfachschulenumwandeln müssen. Das lässt sich nicht nur mit der ge-ringeren Zahl an Lehrkräften und dem geringeren Be-triebszuschuss begründen, sondern auch mit der fehlen-den Anbindung an Einrichtungen, in denen die praktischeAusbildung durchgeführt werden kann und die bereitsind, eine Ausbildungsvergütung zu zahlen oder zu refi-nanzieren. Die Ansiedlung der Ausbildung an Fachschu-len ermöglicht zurzeit den direkten Zugang zur Fach-hochschule. Diese Durchlässigkeit wird zerstört. Der Be-ruf in der Altenpflege mündet damit in der Sackgasse. Ichfrage: Wollen Sie das wirklich?Laut Gesetzentwurf soll die praktische Ausbildungüberwiegend in den Einrichtungen erfolgen und der Um-fang der theoretischen und praktischen Ausbildung in derSchule soll geringer werden. Begründung ist die Ausbil-dungsvergütung. Frau Ministerin, in der Praxis gibt esderzeit nicht genügend Ressourcen, um diesen Verlust anAusbildungsqualität ausgleichen zu können; denn es feh-len in der Regel die qualifizierten Ausbilder. Notwen-dige Schlüsselqualifikationen können angesichts dieserStruktur der Ausbildung nicht mehr vermittelt werden.Aber Teamfähigkeit, Koordinierung von Leistungen, Be-ratung von Angehörigen und der Umgang mit Menschen
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Bundesministerin Dr. Christine Bergmann10852
gerade in der ambulanten Pflege sind grundlegende An-forderungen einer modernen Altenpflege.
Die Ausbildung ist als berufliche Erstausbildungkonzipiert. Damit liegt das Eintrittsalter bei 16 oder17 Jahren. Dies ist angesichts der bei der Betreuung alterMenschen zwangsläufig auftretenden physischen undpsychischen Belastungen höchst problematisch. Sterbe-begleitung und die zunehmende Zahl an Demenzkrankenstellen höchste Anforderungen. Während in der Kranken-pflege mit einer Gesundung der Patienten zu rechnen ist,müssen in der Altenpflege die Menschen regelmäßig biszu ihrem Tode begleitet werden. Die Erfahrung zeigt, dassjunge Berufsanfänger wesentlich kürzer im Beruf bleibenals solche, die erst später einsteigen. Wenn man das weiß,dann müsste man eigentlich alles dafür tun, um Berufs-rückkehrerinnen, die nach einer Familienpause wiedereinsteigen wollen, für die Altenpflegeausbildung zu ge-winnen.
Es ist jedoch fraglich, ob eine dreijährige berufliche Aus-bildung für solche Frauen noch attraktiv ist.Weiterhin ungeklärt ist die Frage der Finanzierung.Die von den Ländern und Sachverständigen vorgetra-genen rechtlichen Einwände gegen eine Umlagefinanzie-rung haben sich bestätigt. Im Gegensatz zu Ihnen, FrauMinisterin, sehe ich keine solide Finanzierung; denn diejetzt generell vorgesehene Finanzierung durch die Trägerwird zu einer drastischen Reduzierung der Zahl an Aus-bildungsplätzen führen. Ein dramatischer Fachkräfteman-gel wird die Folge sein; denn in den Ländern, in denen be-reits jetzt die Träger die Ausbildungsvergütung finanzie-ren müssen, stehen zwischenzeitlich – das wissen Siegenauso gut wie ich – weniger als die Hälfte der zuvorvorhandenen Zahl an Ausbildungsplätzen zur Verfügung.Die mögliche Berücksichtigung der Kosten in denPflegesätzen konnte dies nicht verhindern. Da eine Um-lagefinanzierung mit erheblichen rechtlichen Hürdenversehen ist, wird sie, wenn sie als Notlösung erforderlichist, nicht schnell genug greifen können. Es besteht diegroße Gefahr, dass bewährte Ausbildungsstätten schlie-ßen müssen. Die qualitativ gute Entwicklung in der Al-tenpflegeausbildung in den letzten Jahren würde damitwieder zunichte gemacht.In Ihrem Papier, das Sie im Ausschuss zur verfas-sungsrechtlichen Prüfung des Umlageverfahrens vorge-legt haben, versuchen Sie, die grundsätzlichen rechtlichenEinwendungen zu zerstreuen. Dagegen hält zum Beispieldas Land Baden-Württemberg an seiner Auffassung fest,dass die verfassungsrechtlichen Bedenken durch das Bun-desverfassungsgericht zunächst zu klären sind. Was dieoft zitierte Gesetzgebungskompetenz betrifft, sind dievon Bayern geäußerten Bedenken nicht ausgeräumt.Der Stellungnahme der Bundesregierung zur Gesetz-gebungskompetenz des Bundes für ein Altenpflegegesetzhat die zuständige bayerische Staatsministerin für Unter-richt und Kultus, Frau Hohlmeier, in einer Sitzung desRechtsausschusses des Deutschen Bundestages letzteWoche widersprochen. Sie hat darauf hingewiesen, dasses neben Gutachtern, die dem Bund eine umfassendeNormsetzungskompetenz zugestehen, auch eine Vielzahlvon Professoren gibt, die zur gegenteiligen Auffassunggelangen.
Die Bundesregierung sieht als wesentliche Gründe füreine bundeseinheitliche Altenpflege ein bundeseinheit-liches Qualifikationsniveau und bundesweit vergleich-bare Fachkenntnisse der Altenpflegerinnen und Alten-pfleger an. Die propagierte Vereinheitlichung findet je-doch nach dem Urteil der Fachleute nicht statt; denn auchin Zukunft soll jedes Land auf der Basis abgesenkter Mi-nimalstandards seine Form wählen können.Fazit, meine Damen und Herren, Frau Ministerin:Der Gesetzentwurf entspricht trotz Nachbesserungennicht dem Qualitätsstandard, den der BildungsstandortDeutschland erfordert. Statt die Qualität der Ausbildungzu verbessern, wird sie durch dieses Gesetz verschlech-tert. Das ist ein historischer Rückschritt. Das können wirund wollen wir nicht mittragen. Wir werden diesem Ge-setzentwurf nicht zustimmen.
Das Wort hatjetzt die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk.
gen! Frau Eichhorn, Ihre Rede hat mich ziemlich über-rascht. Wir wollen heute das beschließen, was Sie seit10 Jahren durchzusetzen versucht haben und was dieGrundlage der Bundesratsinitiative ist. Ich kann Ihr Ver-halten eigentlich nur so werten, dass Sie ärgerlich darübersind, dass wir das umsetzen, was Sie in 10 Jahren nicht ge-schafft haben.
Mit dem Gesetzentwurf zur bundeseinheitlichen Al-tenpflegeausbildung beschließen wir das Ende einer ver-meintlich unendlichen Geschichte; denn drei Ministerin-nen – die Kolleginnen Lehr, Rönsch und Nolte – haben inüber zehn Jahren den Versuch unternommen, 17 unter-schiedliche Länderregelungen zu einer bundeseinheitli-chen Ausbildung zu vereinheitlichen – leider ohne Erfolg.Es bedurfte einer rot-grünen Bundesregierung, dass die-ser Durchbruch jetzt endlich gelingen konnte.
Künftig werden alle Altenpflegeschülerinnen – ich be-nutze bewusst die weibliche Form, weil zu 90 ProzentFrauen betroffen sind – eine Ausbildungsvergütung erhal-ten. Das war bisher nicht der Fall. Keine wird mehr Schul-geld zahlen müssen und der Abschluss befähigt zurgleichwertigen Tätigkeit in allen Bundesländern – auchdas war bisher nicht möglich – und innerhalb der Europä-ischen Union. Die Qualität der Ausbildung erfährt in
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Maria Eichhorn10853
vielen Bundesländern eine Aufwertung. Sie wissen ganzgenau, dass die Ausbildung in einigen Ländern sehr vielschlechter ist als jetzt geregelt. Wir haben sie angepasst.Damit schaffen wir mit diesem Gesetz einen attrakti-ven und qualifizierten Beruf und den Erfordernissen derAuszubildenden wird Rechung getragen. Es ist ein Beruf,der künftig von noch mehr jungen Menschen nachgefragtwird und der einen wissenschaftlichen Überbau in denPflegewissenschaften hat.Wir sorgen endlich dafür, dass dem hartnäckig behaupte-ten Vorurteil „Pflegen kann jeder“, das ja der ehemaligeSozialminister Blüm prägte, ein Ende bereitet wird. –Und: Wir schaffen einen Beruf, der den geänderten An-forderungen der Pflegebedürftigen Rechnung trägt.Es wurde hier schon gesagt: Früher waren die Men-schen Ende 60, wenn sie in ein Heim gingen, heute liegtdas durchschnittliche Alter bei der Aufnahme in ein Heimbei 86 Jahren. Es ist unser Ziel, dass alte Menschen solange wie möglich in ihrer gewohnten Umgebung bleiben.Das bedeutet aber für das Pflegepersonal eine ungeheureHerausforderung. In diesem Alter treten in den meistenFällen eine Reihe von Krankheiten und, damit verbunden,ein höherer Pflegebedarf auf. Die Fachleute sprechen vonMultimorbidität. Auch diesem Umstand wird in derneuen Ausbildung Rechnung getragen: Geriatrische Re-habilitationskonzepte, Gesundheitsvorsorge, Begleitungvon Sterbenden sind nur einige Stichworte. Für uns heißtganzheitliche Altenpflege auch, die alten Menschen inihren persönlichen und sozialen Angelegenheiten zu be-treuen und ihnen Hilfe zur Erhaltung der eigenständigenLebensführung zukommen zu lassen. Es handelt sich alsoum einen anspruchsvollen Beruf.Dass die Qualität der Schulen und des Lehrpersonalsnoch nicht auf einem einheitlich hohen Niveau ist, ist derAbstimmung mit den Bundesländern geschuldet. Hiersind mittelfristig Verbesserungen notwendig. Darin stim-me ich dem Kollegen Haupt ausdrücklich zu. Aber16 Länder davon zu überzeugen, auf ihre eigenen Gesetzezu verzichten, kommt schon einem Kunststück gleich. Esist gut, dass das nun endlich gelungen ist.Uns Bündnisgrüne freut besonders, dass mit demneuen Gesetzentwurf ein Vorschlag von uns aufgenom-men wurde, durch den der Einstieg in eine integriertePflegeausbildung ermöglicht wird, denn in der Alten-,Kranken- und Kinderkrankenpflege gibt es zahlreiche in-haltliche Überschneidungen. Modellversuche zeigen: Dasist das Modell der Zukunft. Ich würde mir wünschen, dassmöglichst bald von einem Bundesland von der Experi-mentierklausel Gebrauch gemacht wird.Liebe Kolleginnen und Kollegen, durch die Ände-rungsanträge der Koalitionsfraktionen haben wir insbe-sondere den Anregungen des Bundesrates, aber auch derSachverständigenanhörung Rechnung getragen. Einwichtiger Punkt dabei war die Kritik an der verkürztenAusbildung der Umschülerinnen; diese stellen bisherimmerhin zwei Drittel. Dieses wurde nun aus dem Gesetzherausgenommen. Lassen Sie uns nun gemeinsam dieZeit bis Ende 2001 – denn es läuft zum 1. Januar 2002aus – für Verhandlungen zwischen Bund und Ländernnutzen, um eine dreijährige Umschulungszeit für alleGesundheitsfachberufe zu erreichen.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,ich würde mir wünschen, Sie würden diesem Gesetzent-wurf zustimmen. Er entspricht genau dem, was Sie zehnJahre lang forderten. Er wird doch nicht einfach dadurchschlechter, dass Sie nun in der Opposition sind.
Es handelt sich hier nämlich um ein echtes Generationen-projekt: qualifizierte Ausbildung für junge Menschen,qualifizierte Pflege für alte Menschen. Dem sollten Siesich nicht verweigern.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Haupt.
Frau Präsidentin! Meine liebeKolleginnen und Kollegen! Um ein Gesetz zur RegelungderAltenpflegewurde lange gerungen. Wir Liberalen be-grüßen, dass diese fast unendliche Geschichte nun endlichzu einem Abschluss kommt.
Der wachsende Bedarf an qualifizierter Altenpflege,auf die immer mehr ältere Bürgerinnen und Bürger ange-wiesen sind, erfordert einen gewissen einheitlichen Aus-bildungsstandard der Pfleger. Für die jungen Menschenwird zugleich die Attraktivität dieses wichtigen Berufs-zweiges erhöht. Beide Seiten haben ein Anrecht aufSchutz der Berufsbezeichnung, bundeseinheitliche Aus-bildungsstandards, bundeseinheitliche Zugangsvoraus-setzungen sowie eine Regelung der Ausbildungsvergü-tungen.Wir begrüßen, dass die Regelausbildungsdauer grund-sätzlich drei Jahre betragen soll, dass die Umschüler ausdem Kreis der Verkürzungsberechtigten ausgeschlossensind und Verkürzungsmöglichkeiten nunmehr nur nochrestriktiv, bei wirklichen Berufserfahrungen im Bereichder Pflege, vorgesehen sind. Es darf weder unter arbeits-markt- noch unter finanzpolitischen Gesichtspunkten eineVerkürzung der Ausbildung geben.
Ein inflationärer Gebrauch von Verkürzung beeinträchtigtdie Qualität der Ausbildung, auf die wir im Interesse derPflegebedürftigen nicht verzichten wollen.Es ist gut, dass die Pflegeschulen die Gesamtverant-wortung für die Altenpflegeausbildung zugewiesen be-kommen. Die Aufgabenteilung zwischen Schule und Pra-xis ist jetzt klarer. Unter dem Aspekt der Qualität – FrauSchewe-Gerigk verwies schon darauf – bedauern wiraber, dass die Anforderungen an Lehrpersonal und Schule
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Irmingard Schewe-Gerigk10854
nicht konkreter festgeschrieben werden. Diese sind imGesetzentwurf zu ungenau gehalten. Hier wird das Gesetzseinem eigenen Anspruch nicht ganz gerecht. Neben derAusübung eines sozialpflegerischen Berufs wäre aus libe-raler Sicht ein pädagogischer Fachhochschul- oder Hoch-schulabschluss eine wünschenswerte Voraussetzung fürLeiter und Dozenten in der Altenpflegeausbildung.
Dies würde den sonst geltenden Regeln in unserer Bil-dungslandschaft besser entsprechen.Die jetzt vorgesehene Finanzierung der Ausbildungund damit auch die Art der Ausbildungsvergütung isteinfacher gelöst als durch das zunächst vorgesehene Um-lageverfahren. Ziel muss es trotzdem sein, die Finanzie-rung möglichst einfach und ohne besonderen Verwal-tungsaufwand zu regeln.Sicherlich lässt der Gesetzentwurf Wünsche offen.Doch ist der Gesetzentwurf ein wichtiger Schritt zu ein-heitlichen Ausbildungsstandards. Deshalb unterstützenwir Liberalen auch die Absicht, eine integrierte Ausbil-dung für Kranken- und Altenpflege anzustreben und mo-dellhaft eine gemeinsame Ausbildung zu erproben.Die nun vorgesehene Öffnungsklausel, so scheint es,ist ein viel versprechendes Instrument, gemeinsame Aus-bildungsstrukturen zu erproben. Das Altenpflegegesetzkann so eine wichtige Vorstufe für eine einheitlichePflegeausbildung sein. Längerfristig wäre es nützlich,zunächst die Pflegeberufe in einem einheitlichen Ausbil-dungsberuf zusammenzuführen, die Schlüsselqualifi-kationen zu vermitteln und zu gewährleisten, dass die imdualen Bildungssystem heute üblichen Qualitäten erreichtwerden.Die F.D.P. hofft, dass mit der Verabschiedung des Al-tenpflegegesetzes die Diskussion nicht beendet ist, son-dern über eine weitere Verbesserung in der Pflegeausbil-dung nachgedacht wird. Dies ist sowohl im Interesse derälteren als auch der jüngeren Generation. Ich wiederholemich: Packen wir es an!
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Monika Balt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Vor ungefähr zwei Stunden hörtenwir in der letzten Rede unseres Kollegen Dreßler das –wie er es selber bezeichnet hat – „Histörchen“ von demjungen Dynamischen und von dem alten Reichen – einwohl mehr als ernster Hintergrund. Letztlich hat es aucheinen Bezug zum vorliegenden Entwurf des Altenpfle-gegesetzes, der nach über zehnjähriger Diskussion nun-mehr auf dem Tisch liegt. Diesem Gesetzentwurf kannmeine Fraktion in dieser Form nicht zustimmen. Wir wer-den uns deshalb enthalten.Im federführenden Ausschuss für Familie, Senioren,Frauen und Jugend sprach man von einer historischenStunde. Für wen eigentlich? Zwar sind im Gesetzentwurfeine Reihe von Forderungen enthalten, die auch die PDSin ihrem Antrag 1996 erhoben hatte. Zum Beispiel wirdmit diesem Gesetz der Abbau der Niveauunterschiedezwischen den Ländern und zwischen den Altenpflegeein-richtungen angestrebt. Eine einheitliche Ausbildungs-dauer von drei Jahren soll erreicht werden. Das alles fin-den wir gut. Doch mit dieser Bundeseinheitlichkeit wirdder gegenwärtige Zustand, nämlich 17 unterschiedlicheRegelungen in 16 Bundesländern, auf ein neues Niveaugehoben, aber nicht beendet.Jetzt zu den Problemen. Für mich ist ausschlaggebendund wichtig, aus welchem Blickwinkel man das Problemder Altenpflegeausbildung betrachtet. Ich meine, da kannes nur einen geben: den der pflegebedürftigen älterenMenschen.
Wir sagen, dass die Altenpflege gewährleisten muss, dassÄltere nicht nur gepflegt, sondern fachlich qualifiziert be-gleitet und betreut werden.
Sie dagegen, meine Damen und Herren von der rot-grü-nen Regierung, stellen bei den Ausbildungszielen diemedizinische Pflege und Behandlung an die erste Stelle,Rehabilitation an die dritte und Hilfe zur Erhaltung undAktivierung der eigenständigen Lebensführung an diesiebente Stelle. Damit wird Altenpflege zu einem „Heil-hilfsberuf“ degradiert. Mir ist natürlich vollkommen klar,warum der Gesetzgeber das macht: Es bestünde sonstkeine Bundeskompetenz. Wer sich aber für eine Pflege„Still, sauber, satt“ entscheidet und Schritte in diese Rich-tung tut, dem reicht natürlich auch ein Mindestmaß anAusbildung. Kosten werden minimiert. Es sind wiedernur Frauenberufe.Durch das Gesetz wird in der Folge ein Rückgang desqualitativ-fachlichen Niveaus der Ausbildung herbeige-führt. Dazu ein Beispiel: Die Ausbildung im FreistaatThüringen umfasst gegenwärtig 2 580 Theoriestunden.Nach In-Kraft-Treten des Gesetzes werden es nur noch1 830 Theoriestunden sein können. Das ist ein Minus von30 Prozent.Dieses Raster wird in allen Bundesländern zur Regelwerden. Die Abstriche werden zwingend in der psy-chosozialen, rechtlichen und hilfeplanungsspezifischenKompetenz erfolgen. Dieses Manko wird auch nichtdurch die stärkere Betonung der praktischen Ausbildungausgeglichen.
Das Berufsbild wird auf somatische Pflege verengt undes erfolgt eine Schwerpunktverlagerung auf geriatrischeKrankenpflege. Der ältere Mensch hat aber nicht nur An-spruch auf Pflege – so er dieser bedarf –, sondern er hatauch Anspruch auf Betreuung einschließlich sozialer Be-treuung. Somit kann es nicht nur um Krankenpflege ge-hen.
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Klaus Haupt10855
Den Weg, den das Gesetz zur Ausbildungsfinanzierungvorsieht, sehen wir als außerordentlich problematisch an.Zudem ist die Finanzierung durch das Umlageverfahrenverfassungsrechtlich sehr umstritten. Daher geht der Ge-setzgeber nun den Weg, die Träger aufzufordern, sich frei-willig zur Finanzierung zu verpflichten.
Frau Kollegin,
denken Sie bitte an die Zeit.
Erfahrungen in den Ländern zei-
gen, dass dadurch nur noch ein Drittel der Träger weiter-
hin Ausbildungsplätze sicherstellen wird. Darüber hi-
naus ist zu befürchten, dass kleinere Trägerkapazitäten
untergehen, da das ursprünglich angestrebte Umlagever-
fahren, das einen Ausgleich für alle Altenpflegeeinrich-
tungen regelt, unabhängig davon, ob dort Ausbildung
stattfindet oder nicht, verfassungsrechtlich kaum reali-
sierbar sein wird.
Frau Kollegin,
Sie können nicht einfach weiterreden. Das geht nicht.
Ich komme zu meinem letzten
Satz.
Man darf dabei nicht vergessen: In Altenpflegeheimen
lebt nur rund ein Drittel unserer älteren pflegebedürftigen
Mitbürgerinnen und Mitbürger.
Würden Sie jetzt
bitte aufhören! Ich habe es schon zweimal gesagt. Es geht
nicht, dass Sie einfach so durchreden.
Deshalb brauchen wir ein Gesetz,
das diesen Forderungen Rechnung trägt.
Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Christa Lörcher.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Frau Eichhorn, ichglaube, Sie haben den falschen Gesetzentwurf gehabt.Wahrscheinlich ist Ihnen auch entgangen, dass sehr vieleVorschläge des Bundesrates in unseren Änderungsantragaufgenommen und im Ausschuss auch durchgesetzt wur-den.Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju-gend hat in der letzten Woche mit deutlicher Mehrheit be-schlossen, dass ab 2001 die Altenpflegeausbildung in un-serem Land bundeseinheitlich und mit gemeinsamenQualitätsstandards durchgeführt werden soll. Die mitbe-ratenden Ausschüsse haben sich ebenfalls mehrheitlichfür diesen Gesetzentwurf mit den vorliegenden Ände-rungsanträgen ausgesprochen. Herzlichen Dank dafür.Am Tag der Ausschussberatungen stand in der „Berli-ner Morgenpost“ ein Bericht mit der Überschrift „Ma-schinen – Diener an Bett und Arbeitsplatz, Roboter fürPflegebedürftige und Körperbehinderte“. Zitat: „Undwann kommt die elektronische Krankenschwester?“ Aufder Messe „Altenpflege 2000“ wurde sie vorgestellt; fürKoma-Patienten entwickelt, wird sie jetzt auch Pflegehei-men angeboten: „Eine Waschanlage für bettlägerige Pati-enten – zeitsparend, porentief rein und absolut hygien-isch, garantiert ohne menschliche Zuwendung.“Wollen wir das? Ich bin sicher: Wer Pflegetätigkeitkennt und verantwortlich ausübt oder Verantwortungdafür trägt, will das nicht. Hilfsmittel, auch technischeHilfen wie zum Beispiel ein Lifter, sind sinnvoll undwichtig, weil sie die oft schwere Arbeit erleichtern. Abersie können nie eine qualifizierte ganzheitliche Pflege er-setzen, in der Körper, Geist und Psyche einbezogen wer-den.
Waschen ist mehr als Körperreinigung; es ist auch Kom-munikation, Beobachtung von körperlichen und geistigenFähigkeiten, Mobilisation, Berührung. Längst ist bekannt,dass Koma-Patienten – wie wir alle – Worte, Berührungund Zuwendung brauchen.Der Gesetzentwurf zur Altenpflegeausbildung mit un-seren Änderungsvorschlägen soll das Berufsbild Alten-pflege verbessern, aufwerten und attraktiver machen:durch fundierte Ausbildungsziele, eine Kombination vonTheorie und Praxis, qualifizierte Praxisbegleitung und dieGesamtverantwortung der Altenpflegeschule, durch einedreijährige Ausbildungszeit und das Recht auf eine ange-messene Ausbildungsvergütung.Qualität in der Pflege kann und soll damit verbessertund gesichert werden. Eine steigende Lebenserwartunggibt uns mehr Jahre. Dass Menschen diese Jahre in Würdeverbringen können, auch bei Pflegebedürftigkeit, ist unserAnliegen. Mehr Lebensjahre heißt auch ein höheres Ri-siko bezüglich Krankheiten im Alter: Störungen bei Herzund Kreislauf, Bewegungseinschränkungen, psychischeKrankheiten wie Depressionen, mehr Demenzerkrankun-gen. Es heißt mehr Pflegebedürftigkeit zu Hause, wobeidie Pflege oft von Angehörigen und von professionellenKräften gemeinsam geleistet wird. Es bedeutet auch einhöheres Alter beim Eintritt in stationäre Einrichtungen,wobei der Bedarf an Grund- und Behandlungspflege, aberauch an Aktivierung und Rehabilitation entsprechendsteigt.Ich wundere mich, dass trotz Kenntnis dieses Sachver-haltes in allen Bereichen der Pflege von manchen nochimmer die Bundeskompetenz für die Regelung der Be-rufe in der Altenpflege infrage gestellt wird.
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Monika Balt10856
Medizinisch-pflegerische Kenntnisse sind die Grundlagefür eine qualifizierte Arbeit. Ich will dafür zwei Beispielenennen.Bei der zunehmenden Zahl von Diabeteskranken in un-serer Gesellschaft, derzeit rund 5 Millionen Menschenund der größte Teil von ihnen mit Altersdiabetes, ist es un-bedingt nötig, dass eine Fachkraft in der Pflege zu jedemZeitpunkt genau beobachtet und feststellen kann, wenn esjemandem schlecht geht: Liegt ein zu niedriger oder einzu hoher Blutzuckerwert vor? Was ist sofort zu tun? Wasmuss und darf ich machen? Was kann und darf nur derArzt tun?Auch die Zahl der Parkinsonkranken bei uns ist hoch –rund 200 000 Menschen leiden an Parkinson. Viele woh-nen zu Hause, werden vom Partner oder von der Partne-rin versorgt; manche treffen sich in Selbsthilfegruppenund erhalten dort Unterstützung. Aber auch professionelleHilfe ist nötig. Gerade bei Parkinson ist bekannt, dass Re-habilitationsmaßnahmen wie Bewegungsübungen undSprachtraining viel an Lebensqualität erhalten oder eineVerschlechterung verzögern können. Fundierte Kennt-nisse und Fähigkeiten in der Pflege, aber auch in den Be-reichen Aktivieren und Rehabilitation, sind bei der Pfle-geausbildung und Berufstätigkeit nötig.Es ist gut, dass stationäre und ambulante Pflegeein-richtungen als Praxislernorte verbindlich festgelegt sind.Zusätzlich ist sinnvoll, dass bei der praktischen Ausbil-dung – eine Kannbestimmung im Gesetzentwurf – auchein Praktikum in einer psychiatrischen Einrichtung, zumBeispiel in der Gerontopsychiatrie oder in einer Reha-bilitationseinrichtung, etwa einer geriatrischen Rehakli-nik, möglich ist.Besonders positiv – das möchte ich zum Schluss ver-merken – ist, dass Modellversuche hinsichtlich einer in-tegrierten Pflegeausbildung mit diesem Gesetzentwurfermöglicht werden.Ich hoffe und wünsche uns, dass wir die Pflegeberufein Übereinstimmung mit den europäischen Richtlinienauf der heute zu beschließenden gemeinsamen Grundlageeiner dreijährigen qualifizierten Altenpflegeausbildung inden kommenden Jahren gemeinsam weiterentwickeln –im Interesse derjenigen Menschen, die Hilfe und Betreu-ung brauchen, und derjenigen, die diese wichtige und an-spruchsvolle Arbeit leisten.Herzlichen Dank.
Ich schließe da-
mit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Altenpflegege-
setzes. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen und der F.D.P. gegen die
Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der PDS ange-
nommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit auch in dritter Lesung mit dem soeben festge-
stellten Stimmenergebnis angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
F.D.P.
Diskriminierung von Frauen bei den Olympi-
schen Spielen
– Drucksache 14/3769 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Widerspruch
höre ich nicht. Dann verfahren wir auch so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Angelika Graf.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Junge und erfolgreicheSportlerinnen und Sportler sind für Kinder und Jugendli-che wichtige Identifikationsfiguren. Die SchwimmerinFranziska von Almsick zum Beispiel hat in den letztenJahren insbesondere für Mädchen den Schwimmsportsehr interessant gemacht. Das hat die steigende Zahl vonAnmeldungen in Schwimmvereinen ganz deutlich ge-zeigt.Die Ausübung von Sport, die dadurch angeregt wird,vermittelt jungen Menschen nicht nur soziale Kompeten-zen. Durch den Sport lernen sie im Allgemeinen auch, mitihrem eigenen Körper umzugehen und auf ihn zu achten.Sport ist also Gesundheitsvorsorge im besten Sinne. DerSport gibt den Menschen die Möglichkeit, sich selbst zuverwirklichen, die eigenen Grenzen auszuloten undSelbstbewusstsein im wahrsten Sinne des Wortes aufzu-bauen. Dies alles sind insbesondere für junge Frauen inder ganzen Welt wichtige Dinge.Eine besondere Rolle im Ablauf der sportlichen Ereig-nisse über die Jahre hinweg spielen die OlympischenSpiele. Sie haben sich im Laufe der Jahre durchaus ver-wandelt. Im Jahre 1896 haben sich in Athen 295 Männersportlich gemessen haben. Im Jahre 1900 waren in Parisschon 11 Frauen am Start. In den letzten Jahrzehnten ha-ben immer mehr Frauen aus allen Erdteilen und jederHautfarbe an den Olympischen Spielen teilgenommen.Begonnen hat das Ganze allerdings mit Stamathia Roviti,die 1896 durch ihre inoffizielle Teilnahme am Marathon-lauf ihren Protest gegen die Frauendiskriminierungdeutlich gemacht hat.Es waren recht starke Frauen, die da um Medaillen –und nicht nur um diese – kämpften. Die etwas Älteren von
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Christa Lörcher10857
Ihnen können sich sicher noch an die vor kurzem verstor-bene dunkelhäutige Sprinterin Florence Griffith-Joynererinnern. Das war die mit den langen Fingernägeln.
– Ja genau, die mit den schönen bunten. – Sie hat Gold-medaillen über 100 Meter und über 200 Meter gewonnen.Sie war nicht nur für den Frauensport ganz allgemein,sondern insbesondere auch für farbige Frauen eine Iden-tifikationsfigur.Trotz dieser Fortschritte gibt es noch immer eineReihe von Ländern, die reine Männerdelegationen zu denOlympischen Spielen schicken. Die Entwicklung ist zwarrückläufig. Aber es erschreckt schon, dass 1992 nachBarcelona immer noch 34 Länder ohne weibliche Teil-nehmer angereist sind. Auch in Atlanta gab es 1996 noch29 Delegationen, die ohne Frauen angetreten sind. Daswaren damals unter anderem Länder wie Afghanistan,Bolivien, Brunei, Bahrain, Dschibuti, Haiti, Irak, Kuwaitund Saudi-Arabien. Diese Liste muss nicht zu Ende ge-führt werden. Es ist sehr beeindruckend, welche Länderin diesem Zusammenhang zu nennen sind: unter anderemviele afrikanische und arabische Länder.Dort wurden und werden – das ist ganz offensichtlich –Frauen aktiv oder passiv diskriminiert und an der Aus-übung des Sportes gehindert. Ob das nun dadurch pas-siert, dass Bekleidungsvorschriften, zum Beispiel derTschador im Iran oder die Burka in Afghanistan, oder an-dere angeblich theologisch oder kulturell bedingteZwänge die Frauen an der Ausübung des Sportes hindern,ob den Frauen die Ausübung des Sportes vollständig ver-boten wird oder man ihnen andere Rechte vorenthält, wassie daran hindert, oder ob es schlicht und einfach die Ge-dankenlosigkeit und das Machoverhalten von Männernsind, die den Frauen diese Betätigung bzw. Erfolge aufdiesem Gebiet nicht gönnen wollen, das spielt meiner An-sicht nach bei der Beurteilung des Ganzen keine Rolle.Fest steht: Es widerspricht deutlich der olympischenCharta und dem olympischen Gedanken.In der Olympischen Charta steht geschrieben:Alle Formen der Diskriminierung mit Bezug auf einLand oder eine Person, sei es aus Gründen vonRasse, Religion, Politik, Geschlecht und sonstigenMotiven sind mit der olympischen Bewegung unver-einbar.
Schauen wir nach Sydney: Obwohl die Ergebnisse derQualifizierung aus den einzelnen Ländern noch nicht vor-liegen und infolgedessen auch noch keine Aussagen überdie Zusammensetzung der Delegationen gemacht werdenkönnen, appellieren wir mit dem vorliegenden frak-tionsübergreifenden Antrag – dies ist auch ein deutlicherFortschritt gegenüber früher –,
den wir heute noch rechtzeitig vor dem Beginn der Spieleim September dieses Jahres verabschieden, an das Natio-nale Olympische Komitee, beim IOC die Einhaltung derCharta einzufordern und harte Sanktionen – ich meine, siemüssen bis zum Ausschluss von den Spielen gehen – ge-gen Länder zu beschließen, die sich daran nicht halten.
Ausreden jedenfalls kann es nicht mehr geben. Für dieKleinststaaten wurden die Leistungsvorgaben bei denQualifikationen abgeschafft, sodass nun auf jeden FallFrauen aus diesen Ländern teilnehmen können. DieTrainingsbedingungen für viele Sportlerinnen haben sichdurch das Engagement, zum Beispiel unseres eigenenNOK, deutlich verbessert. Irakerinnen und Palästinense-rinnen zum Beispiel können zurzeit in Deutschland mitdeutscher Unterstützung trainieren. Das ist ein Vorteilgegenüber den schwierigen Trainingsbedingungen im ei-genen Land. Ich meine, dass dies etwas ist, was weiter-verfolgt werden muss und wofür man dem NationalenOlympischen Komitee – im Sinne der internationalenFrauenbewegung und des internationalen Frauensportes –danken muss.Ich meine, wir sollten unseren Dank durch die Zustim-mung zu diesem Antrag manifestieren.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Monika Brudlewsky.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Leider haben wir ge-rade ein deutsches sportliches Debakel hinter uns. Aberbei den Olympischen Spielen in Australien hoffen wir aufbessere Ergebnisse für Deutschland. Bei diesem Fest derNationen werden sich Sportler aus aller Welt im sportli-chen Wettkampf miteinander messen und Millionen Men-schen werden über die Medien mit Spannung live dabeisein.Obwohl sicher ein großes Fest der Begegnung darauswird, müssen wir auch dieses Mal wieder befürchten, dassweibliche Sportler aus einer Reihe von teilnehmendenStaaten aufgrund angeblich religiöser Vorbehalte, gepaartmit männlichem Chauvinismus, außen vor bleiben müs-sen, nur weil sie Frauen sind oder weil diese Staaten keineSport treibenden Frauen dulden.
Dies ist ein klarer Verstoß gegen die olympische Charta.Wir wollen und müssen den Frauen dieser Länder zu ver-stehen geben: Dies muss und wird sich ändern.
Die olympische Charta verbietet, wie Frau Graf schonzitiert hat, jede Form von Diskriminierung. Dazu ge-hört auch die Ungleichbehandlung aufgrund des Ge-schlechts. Menschenrechte sind auch Frauenrechte.
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Angelika Graf
10858
Menschrechtsverletzungen einiger Länder gegenüberihren Frauen gehören daher an den Pranger gestellt. Die-sen Ländern und ihren Regierungen muss vor derWeltöffentlichkeit klargemacht werden, dass es so nichtweitergehen kann.Meine Kollegin Bärbel Sothmann hat vor vier Jahrenin einer Debatte zum gleichen Thema den Satz geprägt:Diese Frauenapartheid ist nicht weniger menschenrechts-verletzend als die Rassenapartheid in Südafrika. Schließ-lich bringen diese Länder damit die Miss- und Verachtungder Hälfte ihrer Bevölkerung zum Ausdruck. Um nocheinmal zum Fußball zu kommen: Diese Länder verdienendie rote Karte der Weltgemeinschaft. Sie halten anschei-nend Frauen für nicht würdig oder nicht fähig, ihre Län-der im sportlichen Wettstreit zu vertreten, obwohl es dochfür jeden Sportler eine Ehre ist, für die OlympischenSpiele nominiert zu werden und sich mit den weltbestenSportlern messen zu können.Sport ist aber auch eine Frage von Persönlichkeit,Selbstdisziplin, Ausdauer und persönlichem Engagement,was Vorbildcharakter vor allem für junge Menschen hat.Gerade in Ländern der Dritten Welt haben die Sportler oftKultstatus und werden wie Popstars verehrt; ich denke nuran die hervorragenden afrikanischen Läuferinnen undLäufer. Manche Regierungen sehen hierin Gefahren. Stattselbstbewusste und erfolgreiche Frauen wollen sie lieberFrauen als eine dumm gehaltene schwarz umhüllte Masse,die ohne männliche Begleitung noch nicht einmal alleinevor die Tür gehen dürfen, wenn ich zum Beispiel an dasTaliban-Regime in Afghanistan denke. Frauen mit Ge-sicht, mit Persönlichkeit, mit Durchsetzungsvermögenkönnten in diesen Ländern Begehrlichkeiten nach mehrRechten und Freiheiten einfordern und als Vorbild für an-dere gelten. Dies passt natürlich nicht in die Ideologie sol-cher Regime.Auch wenn sich die Zahl der Länder, die ausschließlichmit Männern zu den Olympischen Spielen anreisten, von35 Länder 1992 in Barcelona auf 29 Länder 1996 in At-lanta verringert hatte, so sind dies immer noch zu viele.Wie viele werden es wohl in diesem Jahr sein? Wir sindgespannt.Es sei zugestanden, dass aufgrund der geringen Bevöl-kerungszahlen und auch des unterschiedlichen sportli-chen Interesses sich die olympischen Mannschaften man-cher Länder nur auf ganz bestimmte Sportarten konzen-trieren oder Frauen sich nicht qualifizieren konnten.
So ist es aber immer noch eine andere Frage, ob ich essportbegeisterten jungen Mädchen und Frauen, die esauch in diesen Ländern gibt, generell verbiete, Sport zutreiben, was ein ureigenes menschliches Bedürfnis ist,oder ob ich ihnen zumindest die grundsätzliche Möglich-keit einräume, sich in ihren Sportarten und entsprechendihren sportlichen Neigungen für ein solches Weltereigniszu qualifizieren. Dies setzt aber voraus, dass diese Staatenden Frauen Trainingsmöglichkeiten zur Verfügung stel-len, wie sie auch den Männern zustehen. Auch dürfen ver-meintlich religiöse Kleiderordnungen nicht einem sportli-chen Training entgegenstehen, wenn die Frauen von sichaus dieses Recht wahrnehmen wollen.Grundsätzlich hat dieses Problem nichts mit Religionzu tun. Schließlich gibt es auch eine Reihe islamischerStaaten, die ihre hervorragenden Sportlerinnen nach Aus-tralien schicken werden; dies betone ich ausdrücklich. Siewerden im Koran eine Reihe von Frauen finden, bei-spielsweise die Tochter des Propheten Mohammed, dieman nach heutiger Sichtweise durchaus als emanzipierteFrauen bezeichnen würde.100 Jahre nach der Teilnahme der ersten Frauen anOlympischen Spielen der Neuzeit sollte die Emanzipationso weit fortgeschritten sein, dass mit Beginn des 21. Jahr-hunderts diese Diskriminierung überwunden ist. Daranmüssen wir mitwirken.Ein Einwurf sei mir als ehemalige DDR-Bürgerin imZusammenhang mit Diskriminierung von Frauen imSport und vor dem Hintergrund der gerade laufenden Pro-zesse gegen Trainer und Funktionäre der ehemaligenDDR in Bezug gerade auf das Doping von jungen Men-schen erlaubt. Die DDR, die Sowjetunion und die meistensozialistischen Staaten sahen in der Olympiade auch einwichtiges ideologisches Propagandamittel, um die Über-legenheit des Sozialismus durch ihre Sportlerinnen undSportler zu demonstrieren. Das Doping unserer DDR-Frauen gehörte da leider zur Tagesordnung, um zu zeigen,wozu der Sozialismus gerade auch hinsichtlich der sport-lich emanzipatorischen Förderung von Frauen fähig ist.Auch hier wurden Frauen benutzt und aufgrund der un-verantwortlichen Betreuung durch Funktionäre zu hor-monell behandelten Wettkampfmaschinen herangezogen,ohne dass Rücksicht auf gesundheitliche Folgen genom-men worden wäre. Ich habe selber solche Mädchen ken-nen gelernt, die später unter der Dopingbehandlung ge-sundheitlich schwer litten, zumal man ihnen diese Mittelmeist ohne Information über die Folgen verabreichte.Auch wurden sie später oft allein gelassen, wenn sie nichtals Kader verwendet werden konnten, und hatten so großeProbleme mit dem Abtrainieren.Diese Praxis war genauso menschenverachtend wieder völlige Ausschluss von Sportlerinnen. Auch das willnatürlich keiner. Diese Praxis findet heute zum Glückauch die juristische Würdigung durch ordentliche Ge-richte.Uns geht es in diesem Zusammenhang um diegrundsätzliche Achtung der Würde der Frau und die Er-möglichung der Wahrnehmung ihrer Rechte und Chancenund nicht um ihre Instrumentalisierung für Ideologien undReligionen.Ich danke Ihnen.
Als einzigemmännlichen Redner in dieser Debatte erteile ich jetzt demAbgeordneten Winfried Hermann das Wort.
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Monika Brudlewsky10859
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hoffe,man muss sich in diesem Haus nicht dafür entschuldigen,dass man als Mann zur Diskriminierung von Frauenspricht. Ich glaube nämlich, dass es eine moderne Auffas-sung ist, dass sich auch die Männer um die Beseitigungvon Diskriminierungen kümmern.
Ich möchte meine Rede gern mit einem kleinen histo-rischen Exkurs beginnen; denn man kann die Diskrimi-nierung nicht verstehen, ohne die Geschichte der Olym-pischen Spiele ein wenig zu kennen. Man könnte viel-leicht zugespitzt sagen: Die Geschichte der OlympischenSpiele war schon immer auch eine Geschichte von Dis-kriminierung.In Griechenland waren die Olympischen Spiele sicher-lich etwas anders als in der modernen Welt, aber einigeParallelen sind erkennbar. In Griechenland waren nurMänner als Athleten zugelassen; Frauen waren nur als Zu-schauerinnen zugelassen, wenn sie jung und unverheira-tet waren. Die Kampfrichter waren Männer; lediglich einePriesterin, die alle vier Jahre gewählt wurde, hatte gewis-sermaßen die Oberaufsicht. Das war eine merkwürdigeKonzeption, dennoch war es eigentlich eine Männerver-anstaltung.Die modernen Olympischen Spiele von Pierre deCoubertin haben im Grunde genommen diese Traditionaufgenommen – Sie schmunzeln schon –: Es war wie-derum eine Männerveranstaltung. 1896 waren keineFrauen dabei, 1900 waren nur wenige Frauen vertreten.Sie waren eher geduldet als erwünscht. Erst 1928 hat mansich durchringen können, Frauen offiziell zu akzeptieren.Dann hat eine neue Form von Diskriminierung, dies-mal im positiven Sinne, begonnen: Man hat zwischen ge-mischten und reinen Frauenwettbewerben unterschieden.Ich glaube, man muss anerkennen, dass im Sport mehr alsanderswo sichtbar wird, dass Mann und Frau zwar imPrinzip gleich sind, aber in mancher Hinsicht eben dochnicht. Deswegen macht es auch Sinn, dass Männer undFrauen in unterschiedlichen Wettbewerben antreten.Frauen dürfen aber nicht per se vom Sport und von Olym-pischen Spielen fern gehalten werden.Die Geschichte der folgenden Jahre und Jahrzehntewar eine Geschichte des Kampfes der Frauen für die Be-teiligung an den Spielen. Sie haben es gerade aufgelistet,wie Spiel um Spiel immer mehr Frauen hinzugekommensind. Aber auch heute können wir immer noch feststellen,dass eine Beteiligung in vielen Ländern nicht gelungenist. Zum Teil gibt es völlig geschlechtsspezifische Mann-schaften. Ich warne aber davor, das als Phänomen des Is-lams zu geißeln – Sie haben das hier nicht getan, aber manliest es bisweilen in der Sportpresse, nach dem Motto, dieharten Islamstaaten lassen die Frauen nicht zu den Olym-pischen Spielen –, denn es sind weit mehr als nur die is-lamischen Staaten. Es gibt auch anderswo Diskriminie-rungen. Oft ist es nicht eine verfassungsmäßige Diskrimi-nierung, sondern eine kulturelle, und das ist vermutlichauch das eigentliche und größere Problem.Das gilt übrigens auch für die anderen Bereiche, nichtnur für die Mannschaften. Schauen Sie sich einmal dieNationalen Olympischen Komitees oder das IOC an. Dassind reine Männerklubs, Altherrenklubs, in denen Frauenlange Zeit überhaupt nicht vorgekommen sind.
Mühsam macht das IOC jetzt eine Kampagne, ummehr Frauen für den Bereich der Organisation und desManagements zu gewinnen. Dort finden sich erst 10 Pro-zent bis 20 Prozent Frauen. Das ist angesichts der Tatsa-che, dass wir im 21. Jahrhundert leben, beschämend. Hiergibt es noch viel Nachholbedarf, übrigens auch inDeutschland. Wir haben, glaube ich, keinen Grund, allzuhochnäsig zu sein und auf andere Staaten zu zeigen, nurweil sie keine Frauen in ihren Olympiateams haben. Beiuns haben wir bei Funktionären reine Männermannschaf-ten. Auch das ist unerträglich.Ich glaube, dass die Staaten, in denen Frauen verfas-sungsmäßig explizit vom Sport ausgeschlossen werden,hart sanktioniert werden müssen, und zwar bis hin zumletzten Mittel, dem Ausschluss von Olympischen Spielen.Ich möchte allerdings nicht einer pauschalen harten Aus-grenzung das Wort reden.
Ich glaube, das wäre nicht klug.Zur Geschichte der Olympischen Spiele gehörten auchimmer politisch begründete Boykotts. So hat man etwabei den Olympischen Spielen 1980 in Moskau durch denBoykott der westlichen Staaten versucht, den Krieg derSowjetunion in Afghanistan zu verhindern, was nicht ge-lungen ist und eher zum Schaden der Olympischen Spielewar. Auch das Vorgehen 1984 in Los Angeles – der Re-vancheboykott der kommunistischen Staaten – war nichtsinnvoll. Auf der anderen Seite steht der sehr erfolgreicheAusschluss der Südafrikanischen Republik über vieleJahre hinweg, weil sie Apartheidrepublik war. Dort hat esauch etwas geholfen. Also kann so etwas im Einzelfallsehr wohl politisch wirken. Deswegen muss man sich dasVerhängen von Sanktionen genau überlegen.Im Großen und Ganzen wird es wahrscheinlich daraufankommen, Staaten, die diskriminierende Kulturen ha-ben, trotzdem an Olympischen Spielen teilnehmen zu las-sen, ihnen aber deutlich zu signalisieren, dass man Frau-endiskriminierung nicht akzeptieren kann. Ich glaube,dass Beteiligung statt Ausgrenzung eher zu einer Moder-nisierung dieser Staaten und Kulturen führt und dies amehesten der Politik der Nichtdiskriminierung förderlichist. In diesem Sinne glaube ich, dass wir noch viele Jahredes Streitens für Olympische Spiele ohne Diskriminie-rung vor uns haben.Vielen Dank.
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Das Wort hat
jetzt die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Der Antrag, der uns heute beschäftigt, ist nach noch
streitiger Behandlung vor vier Jahren, nämlich 1996 zu
den Olympischen Spielen in Atlanta, jetzt ein gemein-
samer Antrag der Fraktionen. 1996 gab es getrennte An-
träge – nach dem alten Muster: Regierungskoalition auf
der einen Seite, Oppositionsfraktionen auf der anderen
Seite. Inhaltlich haben sie sich mehr kosmetisch denn in
der Sache unterschieden. Heute sind wir jedenfalls in die-
sem Punkt etwas weiter. Gerade die jetzigen Oppositions-
fraktionen zeigen, dass es ihnen hier um ein vernünftiges
Befassen mit dem Thema geht. Dies ist also schon einmal
ein wirklicher Fortschritt.
In meinen Augen ist es selbstverständlich – dies haben
auch alle hier gesagt –, die Diskriminierung von Frauen
bei Olympischen Spielen, wie aber natürlich auch in allen
anderen Bereichen, und hier besonders das Fernhalten
von Frauen vom sportlichen Wettbewerb anzuprangern.
Schlimm ist, dass es dies nach wie vor gibt. Wir haben
heute schon einige Bemerkungen zur Entwicklung und
zur Geschichte hören können.
Bewirkt der Antrag denn irgendetwas? Bewirkt er et-
was beim Internationalen Olympischen Komitee, einem
Gremium mit 113 Mitgliedern und noch nicht einmal
zehn Frauen? Hieran habe ich erhebliche Zweifel. Ich
habe heute in Vorbereitung auf diese Debatte versucht,
mit IOC-Vertretern zu sprechen. Soweit sie zu erreichen
waren, waren sie auf dieses Thema überhaupt nicht anzu-
sprechen. Ich denke, so wird es auch weitergehen.
Selbstverständlich ist das IOC nach seinem Statut ver-
pflichtet, zu versuchen – und entscheidend darauf hinzu-
wirken –, jegliche Diskriminierung, aus welchen Gründen
auch immer, zu beseitigen. Dies ist nun einmal das wich-
tigste Grundprinzip der Charta des Internationalen Olym-
pischen Komitees. Nur dann kann gemäß dem Haupt-
grund für die olympische Bewegung ein Beitrag zu einer
friedlicheren und besseren Welt geleistet werden, wie es
in diesen schönen hehren Worten in der Charta des IOC
geschrieben steht.
Für den Deutschen Bundestag ist es ein Leichtes, die-
sen Antrag zu beschließen. Er kostet uns nichts – er kos-
tet kein Geld, er kostet keinen Aufwand – als die Ausei-
nandersetzung und die Debatte heute. Aber was kann er
tatsächlich bewirken? In meinen Augen kann er dann et-
was bewirken, wenn wir deutlich machen, dass die Ursa-
chen der Diskriminierung von Frauen in vielen Staaten
in religiösen und kulturellen Bereichen liegen, dort lange
Wurzeln und Traditionen haben, und dass ohne Kenntnis
und Analyse dieser gesellschaftspolitischen Hintergründe
vor allem in den Staaten, in denen Frauen überhaupt keine
Möglichkeit haben, im alltäglichen Bereich Sport auszu-
üben, keine wirksamen Maßnahmen ergriffen werden
können. Auf diese Hintergründe müssen wir eingehen.
Man muss versuchen, dies zum Gegenstand von Politik zu
machen.
Ich bin der Auffassung, dass dieser Antrag, der heute
beschlossen werden soll, auch ein Auftrag an die Bundes-
regierung ist, sich die große Mehrheitsmeinung hier im
Plenum, im Bundestag zu Eigen zu machen. Sie sollte dies
gerade in der Außenpolitik, in den kritischen Dialogen mit
den Ländern, in denen Menschenrechte verletzt werden,
zum Thema machen. Es ist bereits zu Recht gesagt wor-
den: Frauen überhaupt nicht die Möglichkeit zu sport-
licher Betätigung zu geben ist eine Verletzung ihrer
Rechte und eine Verletzung von Menschenrechten. Des-
halb, denke ich, sollten wir hier heute Einvernehmen da-
rüber erzielen, dass es zum einen eine Verpflichtung des
Bundestages ist, dieses Problem in Debatten deutlich zu
machen, und dass es zum anderen immer auch Gegen-
stand der Dialoge der Bundesregierung mit diesen Län-
dern sein muss und offen und ehrlich eingefordert werden
muss. Es gibt schon nächste Woche bei dem Besuch des
iranischen Präsidenten in Deutschland Gelegenheit, das
mit Nachdruck zu tun.
Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Die Stoßrichtung des interfraktionel-len Antrags ist richtig und auch notwendig. Die KolleginGraf hat bereits aus der olympischen Charta zitiert und be-tont, dass Diskriminierung aufgrund des Geschlechts mitder olympischen Bewegung unvereinbar ist.Dennoch werden Frauen auch bei Olympischen Spie-len systematisch diskriminiert. Wir haben in der Debattebereits einige Beispiele dafür gehört. Ich war, ehrlich ge-sagt, ziemlich überrascht, zu lesen, dass bei den Olympi-schen Spielen 1996 immerhin noch 35 Länder aus-schließlich Männer in ihre Mannschaften nominiert hatten.Es ist bekannt, dass Frauen gerade in diesen Ländern – dieKollegin Graf hat bereits einige Staaten aufgezählt; des-halb kann ich mir das an dieser Stelle sparen – grundle-gende Menschenrechte nach wie vor verweigert werden.Diese Woche ging durch die Presse, dass Frauen in Ku-wait nicht wählen dürfen. Erst recht haben sie nicht dieChance, im Sport zu gleichen Rechten wie die Männer zukommen.Dennoch greift es zu kurz, dieses Problem allein mitkultureller Tradition abzutun. Hier werden Frauenrechteunterdrückt. Die kürzlich stattgefundene UN-Sonderge-neralversammlung Peking plus Fünf in New York hatnoch einmal bekräftigt, was bereits im Rahmen der UN-Weltkonferenz des Jahres 1995 festgeschrieben wurde:Frauenrechte sind Menschenrechte und unteilbar,
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das heißt, auch nicht mit der Berufung auf kulturelle Tra-ditionen zu relativieren und einzuschränken.Südafrika durfte von 1964 bis 1988 nicht an den Olym-pischen Spielen teilnehmen mit der Begründung, dasApartheidsystem widerspreche der olympischen Idee undihrer Charta. Bei den genannten Staaten haben wir es mitGeschlechterapartheid zu tun, was der olympischenCharta genauso widerspricht. Wo bleiben die Konsequen-zen des Internationalen Olympischen Komitees? Der vor-liegende Antrag ist hier meines Erachtens sehr allgemeingeblieben. Die notwendige Forderung, die entsprechen-den Länder von der Teilnahme an den Olympischen Spie-len auszuschließen, fehlt.
Der Kollege Hermann hat bereits darauf verwiesen:Die Diskriminierung von Frauen ist schon in der Strukturdes IOC angelegt; denn das Exekutivkomitee des IOC be-steht ausschließlich aus Männern. Schon das allein ist einSkandal und muss geändert werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei den OlympischenSpielen geht es nicht nur um sportliche Ehre, sondern be-kanntlich auch um viel Geld. Wir sollten auch an die mil-lionenschweren Sponsorinnen und Sponsoren appellie-ren, ihren Einfluss geltend zu machen und zu verlangen,dass Geschlechterapartheid bekämpft wird.Lassen Sie mich abschließend noch eine kurze Bemer-kung machen, die ich mir gern erspart hätte: Einmal mehrstellt sich das Parlament bei einem wichtigen interfraktio-nellen Anliegen ein Armutszeugnis aus. Es ist traurig,dass bei einem solchen Thema, bei dem es offensichtlichim Hause Konsens gibt, politische Ausgrenzungsbe-schlüsse wieder über das gemeinsame Sachinteresse – ichsage das jetzt bewusst in sportlichem Jargon – gesiegt ha-ben. Ich hoffe, dass das jetzt zum letzten Mal der Fall war.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Christine Lehder.
Sehr geehrte Frau Präsiden-tin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Diskrimi-nierung von Frauen im Sport ist vielseitig. Von meinenVorrednerinnen und meinem Vorredner wurden schon ei-nige Facetten aufgegriffen. Ich möchte einen bereits an-geführten Punkt beleuchten, nämlich die Diskriminierungvon Frauen bei der Besetzung von Entscheidungs-positionen in internationalen und nationalen Sportorga-nisationen.
Fangen wir jedoch mit etwas Erfreulichem an. Wie wiralle wissen, ist das Vereinsleben generell männlich domi-niert, was natürlich auf eine bestimmte Rollenverteilungin vergangener Zeit zurückzuführen ist. Diese ehemalsklassische Rollenverteilung bricht Gott sei Dank immerweiter auf und schreitet unaufhaltsam in Richtung Gleich-berechtigung voran. Auch vor den Sportvereinen machtdiese Entwicklung nicht Halt. So ist die Zahl der Mit-gliedschaften von Frauen in den Sportvereinen stetig ge-stiegen und liegt im Moment bei 38,6 Prozent.Aber leider können wir uns nicht allzu sehr darüberfreuen. Es ist nämlich festzustellen, dass Frauen gemes-sen an dieser Entwicklung in den Führungsgremien derSportorganisationen noch immer unterrepräsentiert sind.So beträgt beispielsweise der Anteil der Frauen in denPräsidien der Landessportverbände lediglich 17 Prozent.Als ostdeutsche Abgeordnete bin ich dabei stolz darauf,dass gerade in den neuen Bundesländern ein ständigerAnstieg zu verzeichnen ist.
Fakt ist aber, dass dieser Anteil bei weitem noch nichtdie Zahl der weiblichen Mitglieder widerspiegelt. Hierbesteht also dringend Handlungsbedarf. Es kann nichtsein, dass Frauen, die in gleichem Maße leistungsfähigund qualifiziert sind wie Männer, immer noch bei derVergabe von Führungspositionen benachteiligt werdenbzw. sich selbst benachteiligen, indem sie manchmal zuzurückhaltend auf sich bietende Gelegenheiten reagieren.Ziel muss es sein, eine wirkliche Gleichstellung vonMännern und Frauen zu erreichen; „gendermainstream-ing“ scheint für mich hierbei der richtige Ansatz zu sein.Dieses Leitprinzip der Bundesregierung sieht vor, bei al-len Planungen, Gesetzesvorhaben und Programmen dieGleichbehandlung von Männern und Frauen zu berück-sichtigen. Dies ist meiner Ansicht nach auf andere Felderund Bereiche beliebig übertragbar und könnte dement-sprechend auch Bestandteil des Handlungsmus-ters vonSportorganisationen werden.Ich denke, dass über diesen Weg mehr Akzeptanz er-reicht werden kann – übrigens auch bei Männern – als miteiner isolierten Betrachtung der frauenspezifischen Be-lange. Das Präsidium des NOK für Deutschland hat imFebruar 2000 beschlossen, bis zum Ende des Jahres einenkonkreten Aktionsplan zur Förderung von Frauen zu erar-beiten, in dem „gender mainstreaming“ ein große Rollespielt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu Beginn diesesJahrtausends sind sehr viel mehr Frauen in den Präsidiender Spitzenverbände und Landessportbünde vertreten alsnoch vor zehn Jahren. Doch im Vergleich zur Politik istdie Teilhabe von Frauen an der Verantwortung im Sport inDeutschland noch erheblich im Rückstand. Es liegt nichtnur im Interesse der Frauen, dieses Defizit aufzuholen undsich ausreichende Mitwirkungsmöglichkeiten im Sport zueröffnen. Es sollte auch an die demokratische Legitima-tion der Vereine und Verbände gedacht werden, die in derZukunft auch an der Frage der Teilhabe von Frauen ge-messen werden.
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Petra Bläss10862
Der DSB ist mit einer Satzungsänderung auf dem rich-tigen Weg. Hierin wird festgeschrieben, dass der Anteilvon Frauen in den Bundesausschüssen entsprechend ihrenMitgliederzahlen ausgerichtet werden soll und dass Frau-en mindestens eine Funktion als Präsidentin bzw. Vize-präsidentin ausüben sollen.Auch das IOC kann die Augen vor diesen Entwicklun-gen nicht verschließen. In seiner Resolution der 2. IOC-Weltkonferenz zum Thema „Frauen und Sport“ stehtgeschrieben – es wurde hier ja auch schon mehrfach er-wähnt –:Die Konferenz erinnert daran, dass das Ziel derOlympischen Bewegung der Aufbau einer friedvol-len und besseren Welt durch den Sport und das olym-pische Ideal ohne Diskriminierung irgendwelcherArt ist.Durch einige Punkte des Forderungskataloges wirdaber dennoch deutlich, wie groß die Diskriminierung inden eigenen Reihen ist. So fordert das IOC, bis zum Endedes Jahres 2000 – es wurde schon von Herrn Hermann undvon Frau Leutheusser-Schnarrenberger erwähnt – eine10-prozentige Mindestvertretung von Frauen in Entschei-dungspositionen zu erreichen, was schon 1996 vom IOCbeschlossen wurde und leider immer noch nicht vollstän-dig umgesetzt ist. Ein weiterer Punkt ist die Forderungnach einer Mindestvertretung von wenigstens einer Re-präsentantin in nationalen Delegationen bei den interna-tionalen und regionalen Versammlungen. Dieser Stand istbei der Besetzung ebenfalls noch nicht erreicht. Das emp-finde ich als sehr bedenklich. Ich kann nur immer wiederdaran erinnern, dass wir uns im Jahre 2000 befinden undnicht im 18. Jahrhundert.Liebe Kolleginnen und Kollegen, für mich ist es un-vorstellbar, dass es keine ausreichende Beteiligung vonFrauen in den einzelnen Gremien gibt. Ich denke da an dievielen weiblichen Spitzensportlerinnen, die uns überallauf der Welt bei den Wettkämpfen vertreten, wie zum Bei-spiel Gunda Niemann-Stirnemann im Eisschnelllauf,Birgit Fischer im Kanusport oder Steffi Graf im Tennis,um nur einige unter den vielen zu nennen.Hier muss endlich etwas passieren. Die Sportorganisa-tionen auf den unterschiedlichen Ebenen stellen sichdurch diese Diskriminierung auf lange Sicht ein Armuts-zeugnis aus. Jetzt ist Handeln angesagt!Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Irmgard Karwatzki für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich nehme miteinem lachenden und einem weinenden Auge zur Kennt-nis, dass von dem für den Sport zuständigen Ministeriumkein Vertreter auf der Regierungsbank sitzt.
Ich will hier nur anmerken: Würden wir hier heuteschon über die Fußballweltmeisterschaft 2006 reden, säßenicht nur der Minister auf der Regierungsbank. Ich willnicht bezweifeln, dass der Minister noch in Zürich ist underwarte auch gar nicht, dass er hier sitzt. Ich halte es aberfür eine Missachtung des Parlaments, dass sein Hausüberhaupt nicht vertreten ist.
– Lieber Herr Kollege Schmidt, ich sage das noch sehrfreundlich. Ich weiß noch aus meiner Zeit als Parlamen-tarische Staatssekretärin, dass in vergleichbaren FällenKollegen aus Ihrer Fraktion gefordert haben, man müssevon 9 Uhr morgens bis 1 Uhr nachts auf der Regierungs-bank sitzen. Insofern bitte ich, weiterzugeben, dass es sonicht geht.
– Ich bedanke mich sehr dafür, aber wir wollen hoffen,dass sich das in Zukunft ändert.Die Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger hat ebenbereits gesagt, sie finde es begrüßenswert, dass wir unsdarauf verständigt hätten, einen gemeinsamen Antrag ein-gebracht zu haben. Ich bin in Kollegenkreisen gefragtworden, ob es nichts Wichtigeres gebe, als sich für die Be-lange von Frauen im internationalen Sport zu engagie-ren.
– Ich glaube, es waren auch einige von Ihnen dabei.Zugegeben: Es gibt Ärgerlicheres auf der Welt. Dochwenn sich die Vorkämpferinnen der Frauenrechte in früh-eren Jahren oder die Lobbyisten in anderen Bereichen –davon gibt es ja sehr viele – das auch jedes Mal gefragthätten, wären viele Fortschritte für die Menschen nicht er-reicht worden. Deshalb halte ich die erneuten Appelle andie Entscheidungsträger beim Internationalen Olympi-schen Komitee, die olympische Charta einzuhalten, nachwie vor für wichtig. Es lohnt, sich dafür einzusetzen.
Ich will nicht so viel von dem zitieren, was meine Vor-rednerinnen und Vorredner aus allen Parteien hinsichtlichder Wichtigkeit des olympischen Geistes, der Freund-schaft, der Solidarität und des Fairplay gesagt haben. Esist alles gesagt worden und man braucht es nicht zu wie-derholen. Ich möchte nur noch eines herausstellen: Wirmüssen weiter daran arbeiten, dass sich die Sichtweise derMänner ändert. Eben hat jemand gesagt, sowohl dasInternationale Olympische Komitee als auch die Nationa-len Olympischen Komitees würden mehrheitlich von
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Christine Lehder10863
Männern beherrscht. Dennoch glaube ich, dass in derZwischenzeit eine Sensibilisierung dahingehend eingetre-ten ist, dass es ohne Frauen auch im Sport und in denFührungsgremien des Spitzensports nicht geht. Insofernwurde in dieser Richtung eine Öffnung für viele Sportar-ten erreicht.Ich glaube dennoch, dass wir damit nicht zufriedensein können. Die wenigen Frauen, die in diesen Gremienheute Verantwortung tragen – das ist ähnlich wie hier imParlament –, sind aufgefordert, für die Frauen möglichstdas zu erreichen, was aus der Sicht von Frauen im Sportstärker zum Tragen kommen sollte. Die Frauen, die Ver-antwortung tragen, müssen sich an der Lösung der Pro-bleme im Hochleistungssport beteiligen. Die Frauen müs-sen sich in diesen Gremien auch stärker mit dem Kampfgegen das Doping beschäftigen. Es ist weiter wichtig, sichmit den ständig steigenden Leistungsstandards kritischauseinander zu setzen.Abschließend: Es ist eigentlich ein Skandal, dass wiruns zu Beginn des dritten Jahrtausends mit der Frage derDiskriminierung von Frauen im Sport beschäftigen müs-sen.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen
und F.D.P. zur Diskriminierung von Frauen bei den Olym-
pischen Spielen in Sydney 2000, Drucksache 14/3769.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Damit ist der Antrag mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 sowie die Zusatz-
punkte 8 bis 11 auf:
13. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. R.
Werner Schuster, Joachim Tappe, Brigitte Adler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-
Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller
, Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Afrikas Entwicklung unterstützen
– Drucksache 14/3701 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim
Tappe, Dr. R. Werner Schuster, Wilhelm Schmidt
, Dr. Peter Struck und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Dr.Angelika Köster-
Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller
, Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Friedensbemühungen am Horn von Afrika ver-
stärken
– Drucksache 14/3767 –
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. R.
Werner Schuster, Joachim Tappe, Brigitte Adler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-
Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller
, Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Demokratische und friedliche Kräfte im
Sudan unterstützen
– Drucksache 14/3768 –
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim
Tappe, Dr. R. Werner Schuster, Wilhelm Schmidt
, Dr. Peter Struck und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-
Loßack, Kerstin Müller , Rezzo Schlauch
und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
Konflikt in der Region der Großen Seen einge-
dämmt – nicht gelöst
– Drucksache 14/3791 –
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten
Hübner, Fred Gebhardt, Heidi Lippmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Abschiebestopp für Flüchtlinge aus Äthiopien
und Eritrea
– Drucksache 14/3547 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kol-
lege Joachim Tappe von der SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Obwohl ich weiß, dass das Aus-wärtige Amt konzeptionell an einer neuen Afrikapolitikarbeitet, möchte ich unsere afrikapolitische Debatte amheutigen Tage mit einer kritischen These einleiten, diemeines Erachtens den derzeitigen Zustand treffend be-schreibt: Die deutsche Afrikapolitik agiert seit vielen Jah-ren sowohl unterhalb ihrer Möglichkeiten als auch – dashalte ich für sehr viel gravierender – unterhalb der objek-tiven Notwendigkeit. Stattdessen befindet sie sich durch-aus im Einklang mit der öffentlichen Meinung, die ange-sichts der zahlreichen Krisen und Konflikte in Afrika dieFrage stellt, weshalb wir uns – auch mit Blick auf die Pro-bleme im eigenen Land oder angesichts der europäischenHerausforderungen – überhaupt noch um Afrika küm-mern. Selbst in diesem Hause hat es erheblichen Recht-fertigungsdruck für die heutige Debatte gegeben.
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Irmgard Karwatzki10864
Realität ist, dass nach dem Wegfall des Ost-West-Kon-fliktes Afrika politisch marginalisiert worden ist undtatsächlich zum vergessenen Kontinent mutiert, der ledig-lich dann Aufmerksamkeit erzielt, wenn wieder einmalBilder von hungernden oder sterbenden Kindern als Aus-druck einer humanitären Katastrophe an unser Mitleid ap-pellieren.Dass die afrikanischen Länder in der deutschen Außen-politik – noch, wie ich hoffe – eine niedrige Priorität ge-nießen, halte ich für einen schweren Fehler. Deshalb be-grüße ich es sehr, dass es in der Bundesregierung ernst-hafte Überlegungen gibt, unsere Afrikapolitik neu zujustieren.
Der Deutsche Bundestag will sich mit der heutigen De-batte konstruktiv in diese Diskussion einbringen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Afrikapolitik istauch Interessenpolitik. Ich will von den vielfältigendeutschen Interessen gegenüber Afrika zwei exem-plarisch benennen, die in der öffentlichen Diskussionmeines Erachtens nicht die notwendige Aufmerksamkeitfinden: erstens unser existenzielles Interesse an einer sta-bilen und friedlichen Weltordnung, die ohne Afrika mitseinen bald 1 Milliarde Menschen nicht möglich ist. Dasbedeutet: Die Länder Subsahara-Afrikas dürfen nicht demStaatsverfall, dem Chaos und auch nicht kriminellen undkorrupten Despoten ausgeliefert werden, auch wegen derGefahren des Übergreifens solcher Beispiele, wie wir sieleider zuhauf aus Afrika kennen, auf andere Weltregionen.Das Auseinanderklaffen der Nord-Süd-Wohlstands-schere verstärkt zusätzlich die weltweite politische Insta-bilität, deren sichtbare Zeichen der internationale Terro-rismus mit all seinen innenpolitischen Implikationen undnatürlich auch der religiöse Fundamentalismus sind. Ichverweise hierbei auch auf den sich verstärkenden Migra-tionsdruck, gerade aus Afrika.Zweitens. Ein weiteres, überragendes Interesse deut-scher Politik an Afrika liegt im Erhalt dieses riesigen Öko-systems für den globalen Lebensraum Erde. Dabei müs-sen wir uns klarmachen, dass Afrika Opfer und wenigerVerursacher der kontinentalen Umweltzerstörung ist.
Desertifikation, Bodendegradation und hohe Wasser-knappheit, verstärkt durch ein hohes Bevölkerungswachs-tum, und die damit verbundene Erschöpfung und Zer-störung ökologischer Ressourcen sind in jüngster Vergan-genheit bereits Ursache für heftige und blutige Konfliktegewesen. Wenn wir nicht helfen, diese Probleme wirksamzu lösen, dann werden unsere Kinder und Enkel die Kon-sequenzen und Auswirkungen teuer bezahlen müssen.Zur Wahrung dieser zentralen Interessen scheint mireine stärkere Gewichtung deutscher Afrikapolitik not-wendig zu sein.
Jeder von uns weiß, dass die Architektur der Weltfi-nanzen, die hohe Verschuldung, das Abgekoppeltsein vonden Globalisierungsprozessen und die Terms of Trade ne-ben den hausgemachten Ursachen die größten Entwick-lungshemmnisse für die Afrikaner darstellen. Nun weißauch ich, dass im bilateralen Kontext vieles unzulänglichund unzureichend bleiben wird. Deshalb sollten die Ver-treter der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik imRahmen der GASP stärker auf eine Europäisierung derAfrikapolitik drängen, selbst dann, wenn wir mit franzö-sischen, britischen oder auch mit amerikanischen Interes-sen in Konflikt geraten sollten.
Erste Schritte hin zu einer europäischen Koordinierung istdie Bundesregierung – dankenswerterweise – bereits ge-gangen.Meine persönliche Afrikaerfahrung lehrt mich, dasstrotz umfangreicher Hilfen, die seit mehr als 30 Jahren ge-leistet werden, der Armutsgraben noch tiefer gewordenist, auch deshalb, weil nicht immer die richtigen Prioritä-ten gesetzt worden sind,
zu vieles unkoordiniert und in Konkurrenz zueinander ge-schieht, worunter die Effizienz gelitten hat. Eine Entmy-thologisierung der weltweiten Entwicklungszusammen-arbeit scheint mir deshalb unausweichlich zu sein.
Dieser Effizienzdebatte müssen wir uns zwar stellen.Aber diese Diskussion – das fordere ich bewusst alsAußenpolitiker – darf nicht nur unter entwicklungspoliti-schen Gesichtspunkten geführt werden. Wir müssenAfrika endlich auch als außenpolitischen Faktor wahr-nehmen.
Dazu gehört auch – das sage ich durchaus kritisch auch inRichtung Bundesregierung – das Überdenken der Bot-schaftsschließungen und der unzureichenden Möglichkei-ten deutscher Kulturpolitik in Afrika.
In unserem Engagement für Afrika sollten wir uns trotzaller Rückschläge, die es in verstärktem Maße in den letz-ten Jahren gegeben hat und die es leider auch in Zukunftgeben wird, nicht entmutigen lassen. Die Wunden Afri-kas, so sagte mir jüngst ein afrikanischer Freund, sind un-sere Politiker, die ihre eigenen Interessen vor das Wohler-gehen der Menschen stellen. Wir haben – daran sollten wiruns durchaus erinnern – in der Vergangenheit oft genugauf das falsche Pferd gesetzt. Jedem Abgeordneten in die-sem Hause fallen in diesem Zusammenhang sicherlichentsprechende Namen ein.
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Joachim Tappe10865
Trotz aller Probleme, die Afrika hat, wage ich eine wei-tere These: Afrika ist der Kontinent der Zukunft.
Es wird zwar noch drei oder vier Generationen dauern.Aber den Afrikanern wird der Übergang von dem riesigenSpagat, den sie heute noch machen müssen, nämlich miteinem Bein in der Eisenzeit und mit dem anderen in derModerne zu stehen, zum aufrechten Gang gelingen.Ich gründe meine These auf Beobachtungen, die ich inden letzten zwei, drei Jahren bei meinen zahlreichen Be-suchen in Afrika verstärkt machen konnte. Ich will einigesignifikante Beobachtungen nennen.Erstens. Zunehmend mehr Afrikaner begreifen den Un-terschied zwischen Befreiung und Freiheit.Zweitens. Die jungen afrikanischen Eliten in Politik,Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur, die nicht durch denUnabhängigkeitskampf geprägt sind, erkennen zuneh-mend, dass die Legitimation von Macht, die sich in denabsolutistischen Attitüden der ehemaligen Guerillakämp-fer pervertiert, nicht ausreicht, ein Land zu regieren.
Drittens. Der historisch zu nennende Wandel in Süd-afrika, die Beendigung des 20 Jahre währenden grausa-men Bürgerkriegs in Mosambik, die Rückkehr Nigerias indie demokratische Staatengemeinschaft, die jüngstenWahlen in Simbabwe, der friedliche Machtwechsel im Se-negal, die in vielen afrikanischen Ländern spürbare Ver-besserung der Menschenrechtssituation, die Fortschritte,die sich in der Presse- und Medienlandschaft zeigen, diePluralisierung politischer Systeme mit einer Stärkung par-lamentarischer Rechte, die in vielen Ländern angestrebteDezentralisierung mit dem Ziel einer größeren Teilhabeder Menschen an politischen Entscheidungen – alles dassind ermutigende Entwicklungen, zu denen auch deutscheAfrikapolitik in der Vergangenheit maßgeblich beigetra-gen hat.Viertens. Viele politisch verantwortliche Afrikaner ha-ben in der Zwischenzeit erkannt, dass sie in den letzten40 Jahren ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben.
Bei meinem letzten Besuch in Tansania hat uns der tansa-nische Staatspräsident zum Schluss gesagt: Wir haben40 Jahre lang auf die Geberländer geschaut und gefragt:Was könnt ihr für uns tun? Dabei haben wir die Frage ver-drängt: Was müssen wir eigentlich selbst für uns tun? Ichfinde, das gibt Hoffnung.
Seien wir uns darüber im Klaren: Wirksame und aufAkzeptanz ausgerichtete Afrikapolitik beginnt bei uns zuHause und sie nötigt uns darüber hinaus, in größeren zeit-lichen Dimensionen zu denken. Politik für Afrika erfor-dert deshalb von uns vor allem Geduld und bis zu einemgewissen Grade auch Nachsicht; denn wie unsere eigeneDemokratiegeschichte zeigt: Der Weg zu politischer Sta-bilität ist ein langer und schwieriger Prozess, der be-kanntlich auch bei uns nicht frei von Konflikten und Ka-tastrophen war. Auch deshalb sollten wir uns vor Arro-ganz und besserwisserischer Überheblichkeit gegenüberunseren afrikanischen Partnern hüten und im Rahmen derin Sonntagsreden oft beschworenen weltweiten kulturel-len Vielfalt akzeptieren, dass die afrikanische Geschichtelange vor der Kolonisierung mit der Herausbildung eige-ner Werte, eigener Kulturen und eigener Traditionen be-gonnen hat.
Diese ernst zu nehmen erfordert auch, unsere staatsfi-xierten Entwicklungshilfekriterien kritisch zu hinterfra-gen
und beispielsweise darüber nachzudenken, ob die rituali-sierte demokratische Debatte nach westlichen Musterndas afrikanische, konsensorientierte Palaver, gegründetauf Alter und Weisheit, in allen Fällen ersetzen kannoder gar muss und ob Formen traditioneller Rechtsfin-dung der afrikanischen Identität und der Realität nichtbesser entsprechen und dennoch rechtsstaatlichen Prinzi-pien genügen.Das heißt für mich: Wir müssen den Afrikanern Zeitund Gelegenheit lassen, eigene Formen ihres gesell-schaftlich organisierten Zusammenlebens zu entwickelnund diese müssen wir dann auch akzeptieren. Eine fort-schreitende Entafrikanisierung und eine kulturelle Ent-wurzelung der Afrikaner scheint mir der falsche Weg zusein, partnerschaftlichen Umgang, der nötig ist, um denAfrikanern ihre Menschenwürde zurückzugeben, in glei-cher Augenhöhe zu pflegen.Die Koalitionsfraktionen legen deshalb vier Anträgevor: einen mit dem Titel „Afrikas Entwicklung unterstüt-zen“, der die grundsätzliche Dimension deutscher Afrika-politik thematisiert. Weil Afrika kein homogener Konti-nent ist, sondern – im Gegenteil – eine Region mit höchs-ter Diversität, flankieren wir diesen Antrag aktuell mitregional- und problemorientierten Handlungsoptionen:erstens zur Unterstützung eines möglichen Friedenspro-zesses im Sudan, zweitens zur aktuellen Entwicklung amHorn von Afrika und drittens zur friedlichen Entwicklungin Zentralafrika, in der Schlüsselregion der Großen Seen.Das Bedürfnis nach hoher Aktualität hat leider dazu ge-führt, dass diese Anträge erst sehr spät vorgelegt wordensind. Ich bitte um Entschuldigung, aber auch um Ver-ständnis dafür.Mein letzter Satz, Frau Präsidentin.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das muss auch wirk-
lich der letzte sein.
Alle Anträge verfolgen dasZiel, die Bundesregierung aufzufordern und zu ermuti-
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Joachim Tappe10866
gen, im aufgeklärten deutschen Eigeninteresse noch mehrfür Afrika zu tun und damit auch einen wichtigen Beitragzur Krisenprävention zu leisten.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner für
die Fraktion der CDU/CSU ist der Kollege Rudolf Kraus.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Die letzte Afrikade-batte liegt erst kurze Zeit zurück: Sie fand am 18. Februardieses Jahres statt. Damals ging es um den Antrag derCDU/CSU-Fraktion mit der Überschrift „Afrika darfnicht zu einem vergessenen Kontinent werden“. DieserAntrag hat als Positives im Wesentlichen nur eines be-wirkt, nämlich dass wir heute wieder über Afrika disku-tieren, weil auch die Koalitionsfraktionen entsprechendeAnträge eingereicht haben. Im Übrigen ist seitdem leidernur ganz wenig bis nichts passiert. Ich entnahm der Redemeines Kollegen von der SPD, dass offensichtlich auchviele Kollegen der Koalitionsfraktionen die Situationähnlich beurteilen. Einen Teil der Rede, die ich damals ge-halten habe, könnte ich praktisch heute wieder vorlesen.Die Bundesregierung hat keine Initiativen ergriffen, dieerkennen lassen, dass sie wirklich bereit wäre, sich etwaseinfallen zu lassen, was zur Verbesserung der Situation inAfrika beitragen kann.
– Herr Dr. Schuster, ich bin ganz sicher, dass gleich nochaufgezählt wird, was alles an Positivem geleistet wurde;ich bin darauf gespannt und werde genau zuhören.Ich habe am 18. Februar 2000 gesagt, dass es in Afrikaeine ganze Menge von Anzeichen für eine bessere Ent-wicklung gibt. Ich habe festgestellt, dass nach zwei Jahr-zehnten der Stagnation und des Niedergangs das Wirt-schaftswachstum in Afrika in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre erstmals wieder etwas stärker als seine Bevölkerunggewachsen ist. Ich habe vorgetragen, dass sich die zuneh-mende Reformorientierung in Afrika offenbar auf einenwachsenden Bewusstseinswandel der politisch Verant-wortlichen gründet und sich mehr und mehr afrikanischeRegierungen und Entscheidungsträger zu ihrer Eigenver-antwortung für die Entwicklung bekennen.Diese positive Entwicklung stockt allerdings derzeit.Seit langem gibt es ja die kriegerischen Auseinander-setzungen im Sudan, in Somalia, in Sierra Leone, in Li-beria und in der Demokratischen Republik Kongo. Dabeihabe ich noch nicht die Länder aufgeführt, in denen derFrieden noch immer sehr trügerisch wirkt. Dabei habe ichin erster Linie die Region der Großen Seen im Auge.Ganz sicher sind nun zwei Gebiete hinzugekommen, indenen die kriegerischen Auseinandersetzungen eine ganzandere Qualität erhalten haben. Ich meine Eritrea undÄthiopien sowie Simbabwe. Dabei hatten gerade in Sim-babwe gute Voraussetzungen für eine weitere demokrati-sche und wirtschaftliche Entwicklung vorgelegen. Es gabeine ausgedehnte Zivilgesellschaft und es gab einen rela-tiv breiten Mittelstand. Präsident Mugabe legte nunmehrfest, dass mehr als 600 weißen Farmern gehörende Far-men ohne Entschädigung verstaatlicht werden können,nachdem er vorher zu Landbesetzungen angestiftet hatte.Dennoch bleibe ich dabei, dass die Entwicklung derZivilgesellschaft in den Ländern Afrikas eine ganz ent-scheidende Voraussetzung sowohl für eine Hinwendungzu demokratischen Verhältnissen als auch für eine Besse-rung der wirtschaftlichen Situation ist.Doch gerade der Zivilgesellschaft Afrikas droht derzeitein weiteres Risiko – besser gesagt: die Katastrophe istbereits eingetreten – von einem kaum kalkulierbaren Aus-maße. Ich denke an die Krankheit Aids. Nach zwi-schenzeitlich vorliegenden Informationen wird es immerdeutlicher, welche schreckliche Bedeutung Aids schon fürdie gegenwärtige Situation und vor allem für die zukünf-tige Entwicklung Afrikas hat.Kein Staat und kein Kontinent auf der Welt sind sostark von der Ausbreitung dieser Immunkrankheit betrof-fen wie Afrika. Schätzungsweise 14 Millionen Menschensind daran bereits gestorben. 22Millionen Menschen sindinfiziert. Man sagt, dass fünf von sechs Erkrankten auf derganzen Welt in Afrika leben. Angesichts der Tatsache,dass dort täglich 5 500 Menschen an Aids sterben und sich11 000 Menschen neu infizieren kann man erkennen, wel-che Katastrophe eingetreten ist.Viele Forscher fürchten, dass sich diese Zahlen in dennächsten Jahren verdoppeln werden. Bereits heute hatAids in den Ländern des südlichen Afrikas zu einer Sen-kung der Lebenserwartung um zehn Jahre geführt. Esmuss befürchtet werden, dass im nächsten Jahrzehnt dieLebenserwartung um weitere zehn Jahre zurückgeht. Aidswird deshalb viele Staaten Afrikas südlich der Sahara inihrer Entwicklung um Jahrzehnte zurückwerfen.Die mittlerweile rund 10 Millionen Aidswaisen stellenAfrikas bislang größte soziale Katastrophe dar. Sie be-dürfen dringend unserer Hilfe, da immer mehr von ihnenvon Vernachlässigung und Ausbeutung bedroht sind, sichoft als Straßenkinder durchschlagen müssen und keinefunktionierende soziale Umgebung mehr vorfinden.
Die Ausbreitung von Aids in Afrika hat Auswirkungenauf ganze Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens.Das Ausmaß ist von der Größenordnung her ganz sichervergleichbar mit den Entwicklungen im mittelalterlichenEuropa, als die Pestepidemien auftraten. Vielleicht dauertes etwas länger als früher, bis die Menschen in großerZahl hinweggerafft werden. Aber letztendlich besteht derUnterschied nur darin, dass Aids gerade die arbeitsfähigenund aktiven Jahrgänge betrifft, was das Elend natürlichgewaltig vergrößert.Anhand eines prozentualen Vergleichs kann man fest-stellen, dass in manchen Ländern des südlichen Afrikas inden nächsten Jahren mehr Menschen ihr Leben verlieren,als es durch die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegesin Europa der Fall war. Es handelt sich also um eine Ka-tastrophe gigantischen Ausmaßes.
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Joachim Tappe10867
Die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politi-schen Entwicklungen sind in einem erschreckendem Aus-maße davon betroffen. Es drohen Verelendung, Verro-hung und politische Lethargie. Es gibt keine Möglichkeitmehr, die demokratische Entwicklung voranzutreiben.Vom Sterben in Würde kann natürlich überhaupt keineRede sein. Man muss sich vorstellen, dass in vielen Fäl-len die Menschen miserabel gepflegt werden und dass diemedizinische Versorgung keinesfalls auch nur annäherndausreichend ist. Das ist erklärbar angesichts der Tatsache,dass die medizinische Versorgung mit Medikamenten füreinen Tag oft mehr kostet, als manche in Monaten verdie-nen.Ich glaube, dass gerade ein Industrieland wie die Bun-desrepublik Deutschland, aber auch ganz Europa gefor-dert ist, diesem himmelschreienden Elend wenigstens da-durch zu begegnen, dass man versucht, Medikamente zubezahlbaren Preisen bereitzustellen.
Es müssen furchtbare körperliche, aber auch seelischeQualen sein, die die Menschen erleiden müssen, wenn sieerkennen, dass sie nicht gut versorgt werden, und wennsie insbesondere mit ansehen müssen, wie ihre Hin-terbliebenen ins Elend gestürzt werden.Aids stellt sich zunehmend als eine Herausforderungfür die deutsche Entwicklungspolitik dar. Es entwickeltsich in immer größerem Maße zu einem destabilisieren-den Faktor in Afrika. Ich möchte an dieser Stelle noch da-rauf aufmerksam machen, dass das BMZ die Mittel fürdie Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika in die-sem Jahr insgesamt um circa 20 Prozent gekürzt und da-mit auf den niedrigsten Stand seit 1972 heruntergefahrenhat.
– Herr Kollege Hornhues, ich werde es speziell für Sienoch einmal ganz deutlich sagen: Die Mittel für die Ent-wicklungszusammenarbeit mit Afrika sind in diesem Jahrum insgesamt 20 Prozent gekürzt worden und haben da-mit den niedrigsten Stand seit 1972 erreicht.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchtezum Schluss meiner kurzen Rede noch ganz kurz auf denAntrag der Fraktionen der SPD und der Bündnisgrünen„Afrikas Entwicklung unterstützen“ eingehen. Der An-trag enthält aus unserer Sicht relativ wenig Neues. Er ent-hält nach meiner Auffassung viele Allgemeinplätze undgibt der Regierung im Gegensatz zu dem Antrag der Frak-tion der CDU/CSU keinerlei wirklich konkrete Hinweise,was in Afrika schnell besser gemacht werden kann undsollte. Das ist allerdings nicht so schlimm, weil die Re-gierung, wenn sie denn will, sich an den Antrag der Frak-tion der CDU/CSU halten und die in ihm gegebenen kon-kreten Anleitungen übernehmen kann.Wegen der kurzfristigen Vorlage der Anträge der Frak-tionen der SPD und der Bündnisgrünen „Demokratischeund friedliche Kräfte im Sudan unterstützen“ usw. be-stand für uns nicht die Möglichkeit, diese Anträge wirk-lich einer inhaltlichen Prüfung zu unterziehen. Dennochsoll bereits heute über diese Anträge abgestimmt werden.Wir denken, dass das gegenüber der Opposition nichtganz richtig ist. Es ist ein Zeichen mangelnden Respektsgegenüber der Opposition, derartige Dinge so kurzfristigvorzulegen. Weil aber in diesen Anträgen sicherlich auchgute Gedanken enthalten sind, werden wir zwar nicht zu-stimmen, uns aber der Stimme enthalten.Ich bedanke mich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Bundesregie-
rung spricht jetzt der Bundesminister des Auswärtigen,
Joseph Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „The Eco-nomist“, eine Wirtschaftszeitung aus Großbritannien, hatam 13. Mai getitelt: „Hopeless Africa“, hoffnungslosesAfrika. Ich teile diese Meinung überhaupt nicht. Die Eu-ropäische Union hat auch klar gemacht, dass wir uns einesolche resignative Position, ob wir es wollen oder nicht,als Europäer, als Bewohner des Nachbarkontinents nichterlauben können. Deshalb war der erstmals durchgeführteGipfel zwischen der Organisation Afrikanischer Staatenund der Europäischen Union in Kairo ein so überauswichtiges Signal.
All denjenigen – lassen Sie mich das gleich hinzufü-gen, Herr Tappe –, die eine verstärkte Europäisierungunserer Afrikapolitik fordern, sage ich: In der Tat hatsich die Bundesregierung auf diesem Gipfel dafür einge-setzt und sie hat gegen historisch gewachsene nationaleEigenheiten, um es ganz diplomatisch zu formulieren,auch durchgesetzt, dass wir auf dem eingeschlagenenWeg des engen Kontaktes, der partnerschaftlichen Zu-sammenarbeit „auf gleicher Augenhöhe“ zwischen denbeiden Nachbarkontinenten weitergehen und insofernauch eine Verstetigung der Zusammenarbeit auf dieserEbene erreichen.Gestatten Sie mir, verehrter Herr Vorredner von derOpposition, folgenden Hinweis: Ich glaube, diese Dis-kussion bringt innenpolitisch nichts, afrikapolitisch aberschon gar nichts. Denn wenn Ihre Position richtig wäre,würde dies bedeuten, dass die Bundesregierung eine blü-hende Afrikapolitik vorgefunden und diese in eineinhalbJahren zerschlagen hätte.
Ihre Analyse der Aids-Problematik erkenne ich alsrichtig an. Ein Blick auf die erste Seite der heutigen Aus-gabe der „Herald Tribune“ macht klar, um was für einwirklich dramatisches Problem es sich dabei handelt. Ichkönnte es mir ganz einfach machen, würde mich dann al-lerdings auf dasselbe unfruchtbare Niveau der innenpoli-tischen Auseinandersetzung begeben, wenn ich fragenwürde: Was haben Sie denn in den 16 Jahren Ihrer Regie-
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Rudolf Kraus10868
rungsarbeit gemacht? Dieses Problem hat sich ja nunwirklich nicht über Nacht aufgebaut, sondern über Jahre,um nicht zu sagen: weit über ein Jahrzehnt.Insofern rate ich dringend dazu: Lassen Sie uns dieseForm der Debatte beenden, weil die Afrikapolitik, dieGott sei Dank auch in der Vergangenheit durchaus breiterfundiert war, sonst Schaden nehmen würde. Wir würdendamit einer billigen innenpolitischen Münze den Vorrangvor einer unter schwierigen Bedingungen erreichten ge-meinsamen afrikapolitischen Initiative in diesem Hauseinräumen.
Reden wir doch nicht drum herum: Wir sind uns einig,dass für die Afrikapolitik mehr getan werden müsste. DieVerteidigungspolitiker sitzen zusammen und meinen, esmüsste mehr für die Verteidigungspolitik getan werden.So sitzen alle Fachpolitiker zusammen und denken in ers-ter Linie an ihr Ressort.
– Ich sage ja auch gar nicht, dass alles eine Frage des Gel-des ist. Aber ich wende mich hier gerade an den Opposi-tionsredner und gerade im Zusammenhang mit dem, waser gefordert hat, ist vieles eine Frage des Geldes, vor al-len Dingen wenn er der Bundesregierung vorwirft,
dass beim Entwicklungshaushalt Kürzungen in Höhe von20 Prozent vorgenommen worden seien. Da kann ich Ih-nen nur sagen: Sie haben uns einen Haushalt hinterlas-sen – –
– Nein, das müssen Sie sich anhören.
Denn wenn Sie meinen, dass es mir Spaß machen würde,Botschaften und Generalkonsulate zu schließen, oderwenn Sie meinen, dass es der Kollegin Wieczorek-ZeulSpaß machen würde, Entwicklungshilfemittel zurückzu-fahren, statt sie zu erhöhen, und ich würde sie dabei gerneunterstützen, dann täuschen Sie sich! Ich sage Ihnen: Wirmüssen hier eine Sanierungsphase durchlaufen. Das wer-den wir auch tun und dann werden gerade in diesem Be-reich wieder Aufwüchse zu verzeichnen sein.Der Zwischenruf „Nicht alles ist eine Frage des Gel-des“ ist richtig. Dennoch dürfen wir das Geld nicht ver-gessen; sonst bleiben wir bei schönen Worten und dabeiwollen wir es nicht belassen. Ansonsten stimme ich Ihnendarin völlig zu.Der gegenwärtige Blick auf Afrika – die Vorredner ha-ben es schon dargestellt – zeigt viel Schatten, aber auchviel Licht. Wenn man realistisch auf Afrika blickt, kannman meines Erachtens durchaus eine optimistische Posi-tion einnehmen. Vor allen Dingen sollten wir keine pater-nalistische Position einnehmen, schon gar nicht als Eu-ropäer.
Ich will die Geschichte unsererKontinente nicht ver-gleichen. Missverstehen Sie mich nicht; ich behauptenicht, dass sich Afrika auf dem Stand befindet, auf demsich Europa im Jahre 1945 befunden hat. Aber der Blicketwa auf den europäischen Kontinent im Jahre 1932zeigte einen Kontinent, der erneut der Selbstzerstörungentgegentrieb. Die Behauptung einer britischen Zeitung –ich glaube, es war die „Times“ –, der Konflikt im Kongosei der Erste Weltkrieg Afrikas, ist sicher eine Überspit-zung. Und doch hat sie auch etwas Wahres. Wenn ichheute auf den Balkan schaue, erkenne ich viele Elementedes Konflikts, den man, mit denselben verderblichen, fa-talen Konsequenzen, an vielen Orten in Afrika findet. FürPaternalismus, für Überlegenheitsgefühle, für eine hoch-näsige europäische Haltung gibt es auch und gerade an-gesichts der kolonialen Vergangenheit überhaupt keineVeranlassung.
Deswegen denke ich, ist es das Wichtigste, dass wir un-seren Beitrag zu einer neuen Partnerschaft leisten. NeuePartnerschaft setzt aber voraus, dass man von Gleich zuGleich und nicht paternalistisch verkehrt. Sie setzt voraus,dass man bereit ist, bei einer humanitären Katastrophe,bei einer Naturkatastrophe großzügig zu helfen. Wir ha-ben dies in Mosambik gezeigt. In Mosambik haben wir imZusammenhang mit dem dortigen Aufbau der Krisen-bewältigungskapazitäten der Europäischen Union, derjetzt gemeinsam mit den Skandinaviern vorgenommenwird, insistiert – mittlerweile haben wir es durchgesetzt –,gleichzeitig zivile Krisenbewältigungskapazitäten auf-zubauen. Dies hat sich als überaus wichtig erwiesen.Wenn es so ist, dass wir in Zukunft verstärkt mit glo-balen Katastrophen zu tun haben werden, bei denen sehrschnell, faktisch aus dem Stand heraus, Hilfe über 10 000und mehr Kilometer geleistet werden muss, weil dieMöglichkeiten dort regional nicht gegeben sind, dannmüssen wir dafür die entsprechenden Hilfsmittel bereit-halten. Das ist eine Konsequenz aus der Erfahrung derFlutkatastrophe in Mosambik.Besonders tragisch ist, dass es ein Land nach einemjahrelangen blutigen, furchtbaren Bürgerkrieg getroffenhat, das sich auf den Weg einer hoffnungsvollen Entwick-lung gemacht hat und in dem nun die Anstrengungen, dieMühsal, die harte Arbeit der Menschen von Jahren von ei-nem Sturm zunichte gemacht worden sind. Deswegen se-hen wir uns in der Pflicht, Mosambik hier nicht allein zulassen.
Gestatten Sie mir, an diesem Punkt auf die Frage zukommen: Was habt ihr gemacht? Die Kölner Entschul-dungsinitiative, die die Bundesregierung, namentlich
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Bundesminister Joseph Fischer10869
Bundeskanzler Schröder, als zentralen Punkt unsererG7-/G8-Präsidentschaft durchgesetzt hat, hat vor allenDingen die Ärmsten der Armen, überwiegend die afrika-nischen Länder, entlastet.
– Das ist nicht richtig.
– Da können Sie gerne sagen: Schauen wir einmal. DieseInitiative hätte ich mir schon viel früher von Ihnen ge-wünscht.
Ein weiterer für mich in diesem Zusammenhang sehrwichtiger Punkt ist, dass wir Acht geben müssen, dass mitAfrika nicht ein ganzer Kontinent von der Entwicklungder Weltwirtschaft abgekoppelt wird. Hier im Rahmendes Lomé-Abkommens einen neuen Akzent zu setzenwar, glaube ich, sehr wichtig. Im Zusammenhang mit derInformationsgesellschaft auch über die Frage des Anal-phabetismus zu diskutieren, darauf Acht zu geben, dassder Graben zwischen der Weltwirtschaft und einemganzen Kontinent nicht tiefer, sondern zugeschüttet wird,wird eine der Hauptaufgaben der zukünftigen Afrikapoli-tik sein.
Gleichzeitig wird es darauf ankommen, klarzumachen,dass partnerschaftliche Zusammenarbeit auch bedeutet,an die Eigenverantwortung der Afrikaner und vor allenDingen der afrikanischen Eliten zu appellieren. Eine guteRegierung, Demokratie, Transparenz und die Bekämp-fung von Korruption, all dies sind keine spezifischen He-rausforderungen nur für die Regierungen in Afrika. Dasgilt für Asien, für Amerika und für Europa ganz genauso.Die Herrschaft des Rechts ist die Voraussetzung einerrechtsstaatlichen, demokratischen Entwicklung.
Diese Herrschaft des Rechts hat nichts mit Kulturim-perialismus oder mit dem Aufdrücken von fremden Wer-ten zu tun. Ich behaupte vielmehr: Die Herrschaft desRechts ist kompatibel mit jeder menschlichen Kultur aufunserem Globus. Insofern kommt es ganz entscheidenddarauf an, dass einige Grundprinzipien, denen wir uns alleverpflichtet haben, indem wir die entsprechenden Kon-ventionen der Vereinten Nationen unterzeichnet haben,tatsächlich durchgesetzt werden. Denn anderenfalls – dasmüssen wir immer wieder feststellen – setzt die Abwärts-spirale von Korruption, politischer Unterdrückung undUnterentwicklung erneut ein. Hier gibt es durchaus be-eindruckende positive Entwicklungen. Mosambik habeich genannt; Botswana und andere Länder könnte ich hierzusätzlich anführen.Gleichzeitig füge ich aber hinzu, dass ich die Entwick-lung im südlichen Afrika mit großer Sorge betrachte. Ichspreche hier nicht von dem tragischen 30-jährigen Kriegzum Beispiel in Angola. Dies ist eine furchtbare Tragödie.Ich spreche hier nicht von der Tragödie am Horn vonAfrika. Ich spreche hier nicht von der verantwortungslo-sen Absurdität des Krieges zwischen Eritrea und Äthio-pien. Ich spreche auch nicht von dem 30-jährigen Bürger-krieg im Sudan oder von der furchtbaren Barbarei inWestafrika. Das alles sind Katastrophen, denen wir unszuwenden müssen und angesichts derer es im Rahmen derMittel, die wir haben, unserer Solidarität bedarf. Ich spre-che hier vor allen Dingen von Simbabwe und der Ent-wicklung im südlichen Afrika. Denn ich glaube, unsereAfrikapolitik darf keine kontinentale sein. Vielmehr brau-chen wir einen Ansatz im Hinblick auf eine regionaleStabilisierung.Das ist für mich der entscheidende Punkt.
Deswegen kommt Ländern wie Südafrika und Nigeriaeine überragende Bedeutung zu. Selbst unter den Bedin-gungen der Militärdiktatur, die hier im Hause zu Rechtscharf kritisiert und bekämpft wurde, war Nigeria fürWestafrika ein entscheidender Stabilitätsanker. Dies dür-fen wir nie vergessen.Vor dem Hintergrund einer regionalen Stabilisierungmacht mir die Entwicklung im südlichen Afrika in der Tatsehr große Sorgen. Warum? Weil in der Frage der Land-verteilung en masse Sprengstoff verborgen liegt. In Sim-babwe, in einem Land, das zu den potenziell reichstenLändern gehört und eigentlich ein Stabilitätsanker seinmüsste, wird zum Zweck des Machterhalts und zulastender dortigen Demokratie mit der offenen Fackel imSprengstoffschuppen hantiert. Das kann Auswirkungenauf das gesamte südliche Afrika, auf Südafrika und Na-mibia, haben.Wir müssen ein überragendes Interesse daran haben,dass Südafrika jenen vom Vorredner zu Recht als großar-tig bezeichneten demokratischen Weg hin zu Versöhnung,Aussöhnung und Entwicklung – auch unter schwierigenBedingungen – weiter erfolgreich geht.Wir haben ebenso ein Interesse an einer Entwicklungin Namibia, die nicht rückwärts läuft. Das hängt aller-dings davon ab, ob die Frage der Landverteilung friedlichgelöst wird oder ob sie gegen die Demokratisierung undzum Zwecke des Machterhalts instrumentalisiert wird. In-sofern kommt dieser Frage aus unserer Sicht eine überra-gende Bedeutung zu.Die Demokratisierung und die Herrschaft des Rechts,die Stärkung regionaler Stabilisierungsbemühungen re-gionaler Organisationen, aber natürlich auch die Stärkungder Eigenkräfte, auch der ökonomischen Eigenkräfte,sind also die Elemente einer neuen Afrikapolitik.Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Punkt auf-nehmen, den der verehrte Vorredner der Opposition ange-sprochen hat: Ich freue mich, dass Sie das Thema Aids so
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stark in den Mittelpunkt gerückt haben. Sie haben in derTat Recht – der Bundesverteidigungsminister, die Bun-desministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung und ich haben das auf unseren Reisen nachAfrika mitbekommen –: Die Gefahr, die von AIDS aus-geht, die Zerstörung der Kultur, der Sozialstruktur inihrem innersten Kern, nämlich der Familie, ist auch einepolitische Gefahr, die Gefahr der sozialen Destabilisie-rung. Diesem Problem müssen wir uns dringend zuwen-den. Das ist eine Aufgabe, die Deutschland nicht alleinelösen kann. Hier ist in der Tat die Europäische Union ge-fragt, hier liegt ein weiterer Europäisierungsansatz in derAfrikapolitik. Das ist für mich ein ganz entscheidenderPunkt.Trotz aller Unterschiede, die es zwischen Regierungund Opposition wohl geben muss, stelle ich aber ein ho-hes Maß an Übereinstimmung fest. Entlang der Grund-sätze, die ich Ihnen hier dargestellt habe, werden wir, dieBundesregierung, die neue Afrikapolitik der regionalenStabilisierung entwickeln. Wir werden versuchen, sie mitden vorhandenen Mitteln umzusetzen, eng eingebundenin eine neue Afrikapolitik der Europäischen Union.Ich bedanke mich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht jetzt der Kollege Joachim Günther.
Frau Präsiden-tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der afrika-nische Kontinent stellt für die Außen- und Entwicklungs-politik eine besondere Herausforderung dar. Dort lebenüber 800 Millionen Menschen, etwa 580 Millionen süd-lich der Sahara. Beinahe 200 Millionen Afrikaner sindchronisch unterernährt. 23 Millionen Kinder leiden anMangelernährung. 6 Millionen Menschen in Afrika sindFlüchtlinge.Trotz dieser im Vergleich zu anderen Regionen derWelt schlimmen Gesamtbilanz wäre es falsch, von einemallgemeinen Afropessimismus zu sprechen. Vielmehrmuss die politische, wirtschaftliche und soziale Entwick-lung in Afrika differenziert beurteilt werden. Eine Reiheafrikanischer Staaten hat, vor allem bei der Demokratisie-rung, eine beachtliche Entwicklung erzielen können. In20 afrikanischen Staaten liegt das reale Wachstum inzwi-schen bei 4 bis 6 Prozent. Die Lebenserwartung der Men-schen in Afrika ist seit 1960 um 25 Prozent gestiegen; dieGefahren der Gegenwart wurden vorhin bereits aufge-führt. Der Zugang zur schulischen Ausbildung vor allemfür Mädchen wurde verbessert. Diese Entwicklung zeigt,dass sich Anstrengungen zur Förderung von Demokratie,Rechtsstaatlichkeit und sozialer Marktwirtschaft tatsäch-lich lohnen.Diese Erfahrung zeigt aber auch, dass inAfrika die Re-gierungen und Eliten der Länder die Hauptverantwortungfür die Entwicklung ihrer Länder tragen. Dort, wo sie sichernsthaft um politische, rechtsstaatliche und wirtschaftli-che Reformen bemühen, ist unsere volle Unterstützungzugesagt. Aber dort, wo Regime vorsätzlich vom Grund-satz der guten Regierungsführung abweichen, wo siewichtige Ressourcen verschwenden und wo die Korrup-tion ständig zunimmt, müssen wir – vielleicht deutlicherals in der Vergangenheit – Konsequenzen ziehen.
Jede noch so gute Entwicklungszusammenarbeit kannzur wirtschaftlichen Entwicklung nur einen begrenztenBeitrag leisten. Wir müssen uns von der Vorstellung lösen,die Armut in Afrika allein durch Finanztransfers oder großangelegte Entschuldungsaktionen bewältigen zu können.Die Regierungen in Afrika müssen ihre Märkte vom staat-lichen Dirigismus befreien, Landreformen zulassen undfür klare Eigentumsverhältnisse sorgen. Wenn es nicht ge-lingt, eine solche Entwicklungsstrategie für die ländlichenRäume zu schaffen, wird der Drang zur Bildung von nichtmehr lenkbarer Verstädterung in diesen Bereichen nochviel größer.Dreh- und Angelpunkt der wirtschaftlichen Entwick-lung ist aus unserer Sicht ein verstärkter Einsatz markt-wirtschaftlicher Instrumente. Dazu gehört in erster Li-nie die Förderung und Entwicklung des Finanzsektors.Wesentliche Elemente sind unter anderem der Zugangzu Kleinkrediten, der Aufbau von Dorfbanksystemen, dieAusbildung von Bankfachleuten, eine stabile Geldpolitikder Entwicklungsländer und Rechtssicherheit im Finanz-wesen. Ebenso wichtig ist die Unterstützung beim Aufbaueines effizienten Dienstleistungssektors sowie im Ver-kehrs- und Kommunikationsbereich.Ganz entscheidend für die Entwicklungschancen unse-rer Partnerländer ist darüber hinaus ihre volle Teilnahmeam freien Welthandel. Handel ist besser als Hilfe. DieBeispiele vieler erfolgreicher Schwellenländer belegen,dass es nur dort, wo eine konsequente Deregulierung statt-findet, zur nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklungkommt. Dies bedeutet aus unserer Sicht selbstverständ-lich auch, dass unsere eigene Handelspolitik auf den Prüf-stand gehört: der Abbau von Handelshemmnissen vor al-lem im Agrar- und Textilbereich sowie die Beendigungmarktverzerrender Subventionspolitik, um nur wenigePunkte anzusprechen.Vor diesem Hintergrund ist es besonders bedauerlich,dass im Rahmen der Haushaltskürzungen nicht nur Afrikabetroffen ist, sondern auch die freiwilligen Beiträge fürinternationale Organisationen heruntergefahren werdenmussten. Wie steht es so schön in dem Antrag, den wir ge-rade beraten? Der Deutsche Bundestag fordert die Bun-desregierung auf, insbesondere die Intensivierung undAusweitung des politischen Dialogs als Instrument zu eta-blieren. Das ist richtig; das unterstützen wir. Aber wiesieht die Realität aus, Herr Außenminister? MassiveSchließungen von Botschaften in Afrika in einer Zeit, inder dieser leidgeprüfte Kontinent verzweifelt nach Aus-wegen aus seiner Misere sucht und auf Partnerschaften,wie Sie es vorhin betont haben, besonders angewiesen ist.Bei allem Verständnis für die Haushaltszwänge hätteman sich kreativere Lösungen als eine ersatzlose Schließ-ung von Botschaften vorstellen können.
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Für die betroffenen Länder ist der Abzug des deutschenBotschafters und seines Personals ein verheerender Rück-schlag in ihren Reform- und Entwicklungsbemühungen.Wie soll man es zum Beispiel der Regierung des Tschadvermitteln, dessen Bevölkerung von Hungersnöten be-droht ist, dass das reiche Deutschland kein Geld mehr fürden Unterhalt einer kleinen Botschaft hat? Aus der Sichtdieser Länder bedeutet der Abzug praktisch den Abbruchder Beziehungen. Der hierdurch entstandene Schaden,Herr Außenminister, kann auch durch noch so viele Rei-sen von Ihnen nach Afrika nicht ausgeglichen werden.
Nach der Afrikakonferenz, nach Ihrer Afrikareise undauch nach Ihrer heutigen Rede, Herr Außenminister, habeich immer noch keine konzeptionellen Grundlinien ei-nerAfrikapolitik feststellen können. Welche Vorstellun-gen hat die Bundesregierung für die Beilegung der Kon-flikte im Kongo und um die Großen Seen in Zentral-afrika? Welche Vorstellungen hat die Bundesregierung füreinen Friedensprozess im Sudan?
Wir brauchen noch viele Antworten auf diesem Gebiet.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, großeTeile dieses Antrags können von uns mitgetragen werden.Einzelne Punkte, zum Beispiel eine neue Entschul-dungsinitiative – die erste ist noch nicht einmal voll ab-geschlossen – bedürfen weiterer Diskussionen. Aber einesmüsste die Koalition doch heute machen – auch HerrTappe hat darauf hingewiesen –: Sie müsste zu einemSturm auf das Außenministerium ansetzen, damit eingroßer Teil der deutschen Botschaften in Afrika als einEckpfeiler unserer Politik erhalten bleibt.
Aus diesem Grund, meine Damen und Herren, werden wiruns der Stimme enthalten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Carsten Hübner.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Vorweg eine kurze Bemerkung,weil Afrika wieder einmal gegenüber einem Land des rei-chen Nordens den Kürzeren gezogen hat: Die Fußball-weltmeisterschaft wird in Deutschland und nicht in Süd-afrika stattfinden. So sehr das hier viele begrüßen mögen,fände ich es doch ganz gut, wenn der Vorschlag unseresFraktionsvorsitzenden aufgegriffen würde und im Gegen-zug ein Maßnahmenpaket geschnürt würde, um der Ba-sissportentwicklung in Afrika von deutscher Seite etwasmehr Gewicht zu verleihen, als es bisher der Fall ist. Daswäre zumindest im Ansatz ein Ausgleich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mit einerganz kritischen Bemerkung beginnen; denn ich befürchte,dass wir mit der Afrikadebatte, wie wir sie heute führen,nachdem sie relativ kurzfristig angesetzt worden ist, we-der dem Thema noch den Fachpolitikern einen wirklichenGefallen tun und auch wenig zur Lösung der Problemebeitragen können.Ich möchte dies im Namen einer kleinen Oppositions-partei ganz kurz erläutern: Drei Anträge, und zwar die An-träge „Friedensbemühungen am Horn von Afrika verstär-ken“ – er umfasst fünf Seiten –, „Demokratische undfriedliche Kräfte im Sudan unterstützen“ – er umfasst achtSeiten – und „Konflikt in der Region der Großen Seen ein-gedämmt – nicht gelöst“ – er umfasst sieben Seiten –, sindam gestrigen Tag eingereicht worden. Das ist aus meinerSicht ein unhaltbarer Zustand; denn das offenbart, dasseine wirkliche parlamentarische Beratung und eine ent-sprechende Vorbereitung offenbar nicht im Sinne der An-tragsteller oder der zuständigen parlamentarischen Ge-schäftsführer lag. Hinzu kommt, dass über all diese An-träge heute abgestimmt wird. Das heißt, eine Beratung inden Ausschüssen ist ebenfalls nicht möglich.Ich möchte auch darauf hinweisen, dass die Anträge,die zum Teil von strategischer Bedeutung sind und in de-nen wirklich gut aufgezeigt wird, wo die Probleme liegen,heute zur Abstimmung stehen, während der Antrag, indem der sofortige Handlungsbedarf angesprochen wird,nämlich der Antrag „Abschiebestopp für Flüchtlinge ausÄthiopien und Eritrea“, zur Beratung an die Ausschüsseüberwiesen werden soll, was heißt, dass er frühestensEnde September aufgerufen wird. Ich sage Ihnen: Das isteine unhaltbare Praxis. Deswegen ziehen wir unseren An-trag heute zurück. Das machen wir nicht mit.
Meine Damen und Herren, viele Absichtserklärungendes Antrags „Afrikas Entwicklung unterstützen“ teile ich,denn es sind gute Ansätze, über die wir diskutieren kön-nen und möchten. Leider sind nur wenige konkrete Maß-nahmen und keine zeitlich fixierten Maßnahmen enthal-ten. Das bedauern wir sehr. Die besondere deutsche Rolle,der besondere EU-Prozess und die Rolle Deutschlandsdarin werden nicht entsprechend untermauert und daskonzeptionell Neue tritt nicht wirklich in den Vorder-grund.Auch ich möchte noch einmal deutlich machen, wiesich die Situation derzeit in Afrika gestaltet. Einige Datenwurden schon genannt. Ich möchte noch einige hinzufü-gen.Die Verschuldung der afrikanischen Staaten ist von250 Milliarden US-Dollar in den 80er-Jahren auf inzwi-schen 360 Milliarden US-Dollar gestiegen. Ich finde esrichtig, dass wir die Entschuldungsinitiative, so wie siebisher in Fahrt gekommen ist, nur als einen ersten Teiler-folg begreifen; denn die Summe der Entschuldung – unddiese bezieht sich nicht nur auf Afrika – beläuft sich nochnicht einmal auf 110 Milliarden US-Dollar, auf den Be-trag, um den der Schuldenstand Afrikas gestiegen ist.Die Direktinvestitionen sind in den letzten Jahren – Siehaben darauf hingewiesen, dass Handel manchmal sinn-
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voller ist als Helfen, das mag auch sein – auf wenigerals 1 Prozent weltweit gesunken. Afrika hat nur einen1,5-prozentigen Anteil am Welthandel. Das sind doch Indi-zes, die deutlich machen, wie dramatisch die Situation ist.Es gibt Millionen von Flüchtlingen. Das sind Binnen-flüchtlinge, Flüchtlinge vor wirtschaftlicher Not, vorElend, Hunger und Katastrophen, aber natürlich auch vorkriegerischen Auseinandersetzungen. 19 von 48 afrikani-schen Staaten sind direkt in kriegerische Auseinanderset-zungen verwickelt.Meine Damen und Herren, vor dem Hintergrund dieserZahlen möchte ich nur ganz kurz deutlich machen, wel-che Fragestellungen mir in diesem Antrag nicht genügendgewürdigt werden. Nicht hervorgehoben ist zum Beispieldie Forderung des NGO-Netzwerkes Jubilee 2000 South,also des Südablegers der Erlass-Jahr-Kampagne, nach ei-nem vollständigen und sofortigen Schuldenerlass undnach Maßnahmen, die die Schuldenlast wirklich reduzie-ren. Es darf keinen langen Prozess geben. Im Rahmen derSchuldeninitiative hat man sich, wenn ich richtig infor-miert bin, bisher zunächst auf Uganda konzentriert.
– Gut. Mosambik ist im Zusammenhang mit der Flutkata-strophe in ein Sofortprogramm aufgenommen worden.Dort ist es aber nicht über die Initiative so schnell zu ei-ner Entschuldung gekommen.Es gibt keine besondere Förderung und Protektion derkleinen und mittleren Unternehmen, stattdessen setztenwir weiter auf die Marktöffnung. Ich erinnere nur an dasneu ausgehandelte Lomé-Abkommen, das schrittweiseDeregulierungen vorsieht und in dem die WTO weiterhinden Bezugspunkt unserer Zusammenarbeit darstellt.
Es gibt auch keine konkreten Maßnahmen in diesem An-trag, durch die die Süd-Süd-Zusammenarbeit verstärktunterstützt werden soll. Es geht jetzt darum, das nicht im-mer nur zu proklamieren, sondern mit ganz konkretenMaßnahmen zu untermauern. Auch auf eine ganz kon-krete und strikte Initiative im Bereich des Waffenhandels-verbots, zumal für Kleinwaffen, die in den Konflikten imWesentlichen zum Tragen kommen, ist in dem Antragnicht deutlich genug Bezug genommen worden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Hübner,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ein letztes Wort: Zu Aids ist
viel gesagt worden. Ich sage Ihnen, welches das Problem
von Aids ist: Das Problem ist nicht allein, dass es eine
Krankheit ist. Vielmehr ist es auch zu einem soziokultu-
rellen Problem für Afrika geworden. Darauf hat der
Außenminister hingewiesen. Aidsbekämpfung ist teuer.
Wenn wir dieses Geld nicht von hier aus einsetzen, wenn
wir unsere Unternehmen, die hiergegen wirksame Präpa-
rate entwickelt haben, nicht dazu bringen, sie zu günsti-
geren Preisen zur Verfügung zu stellen, werden wir in
Afrika eine Katastrophe nicht absehbaren Ausmaßes erle-
ben.
Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-Fraktionspricht jetzt die Bundesministerin für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul.Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich teiledie Auffassung der Kolleginnen und Kollegen, die gesagthaben, dass Afrika trotz aller großen Probleme, die sichfür diesen Kontinent stellen, im 21. Jahrhundert Riesen-chancen hat. Dies ist nicht nur meine persönliche Über-zeugung, sondern auch die Weltbank hat dies in ihrerjüngsten Studie ausdrücklich noch einmal belegt. Sie hataber deutlich gemacht, dass auch in Afrika selbst Verän-derungen notwendig sind. Diese betreffen Investitionenzugunsten der Menschen, der Bildung und der Gesund-heit. Die Wirtschaftsstrukturen müssen im Rahmen derMöglichkeiten verändert und entsprechende Vorausset-zungen dafür geschaffen werden. Veränderungen sindauch im Bereich der verantwortlichen Regierungsführungund Krisenlösung notwendig. Natürlich müssen auch dieinternationale Gemeinschaft sowie die einzelnen Geber-länder ihrer Verantwortung gegenüber diesen Ländernund dem Kontinent gerecht werden.Heute ist nicht der Tag, dies im Einzelnen darzustellen.Dies haben wir schon gemacht. Aber ich sage noch einmalzur Erinnerung: Erstens. Im Rahmen des Lomé-Abkom-mens, welches die Voraussetzungen dafür schafft, dassdiese Länder unter veränderten Wirtschaftsstrukturen imRahmen ihrer Möglichkeiten vom internationalen Wett-bewerb profitieren können, hat es gerade jetzt eine Zusageüber 13,8 Milliarden Euro gegeben. Deutschland ist zu23 Prozent daran beteiligt.Zweitens. Die Entschuldungsinitiative wird vor allenDingen für die afrikanischen Länder 50 Milliarden DM –der größte Teil der Länder, die davon profitieren, liegt inAfrika – bringen.Drittens. 42 Prozent der Mittel unserer gesamten bila-teralen Entwicklungszusammenarbeit fließen in den Be-reich des afrikanischen Kontinents. Dies sage ich, damitdiejenigen, die hier anderes behauptet haben, das richtigstellen können.
Ich möchte heute Abend drei Punkte ansprechen, beidenen wir konkret handeln können. Es kommt darauf an,dass wir nicht nur reden, sondern auch handeln. Ichmöchte sagen, was ich für besonders wichtig halte. Diesmache ich deshalb, weil afrikanische Regierungen diesuns gegenüber ansprechen:
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Erstens. Die Erhöhung derRohölpreise bedeutet einedramatische Verschlechterung der Terms of Trade für dieafrikanischen Länder und besonders für diejenigen afri-kanischen Länder, die kein Erdöl produzieren, sondern esimportieren. Die Preissteigerungen der OPEC – das wis-sen Sie alle – haben schon bei unseren Autofahrern Un-mut verursacht. Aber in Afrika bedeutet das, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, dass aufgrund der vorhandenenStruktur ganze Wirtschaften zerrüttet werden. Angesichtsdessen ist das, was wir hier in Deutschland diskutiert ha-ben, wirklich nur ein kleiner Ansatz.Sie müssen sich vorstellen, dass dies Länder sind, dieerstens durch die Rohölpreissteigerungen stärker betrof-fen sind und die dies zweitens nicht durch Erlöse aus ihreneigenen Rohstoffen ausgleichen können, sodass sich dieTerms of Trade dramatisch zu ihren Lasten verschlech-tern. Afrikanische Länder sind im Übrigen weit mehr vonder Erhöhung als andere Regionen betroffen, denn diePreissteigerungen fallen dort aufgrund der geringerenEinkommen sehr viel stärker ins Gewicht. Außerdem sindPreisschwankungen für Rohölimporte für viele afrikani-sche Länder, die sich ohnehin schon in einer schwierigenSituation befinden, ein weiterer Faktor der Destabilisie-rung.Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es? Wir werdenzwei Aspekte in den Vordergrund stellen, weil die afrika-nischen Länder dies von uns erwarten. Erster Aspekt: Wirunterstützen die Länder – die internationale Gemeinschaftmuss das gemeinsam machen – bei der Reform ihresEnergiesektors.Diese Länder haben nach Berechnungender Weltbank durch ineffiziente Beschaffungsverfahrenschon jetzt einen Verlust von rund 1 Milliarde US-Dollar.Es ist auch bekannt, dass afrikanische Länder wesentlichhöhere Importpreise zu bezahlen haben, weil sie gegen-über den Öl exportierenden Ländern eine schlechtere Ver-handlungsposition haben. Das heißt für uns, die Reformdes Energiesektors mit voranzubringen. Auch die erneu-erbaren Energien sind ein ganz zentraler Punkt bei derVeränderung der Position dieser Länder.
So viel Entwicklungszusammenarbeit können wir imHaushalt gar nicht vorsehen, wie angesichts der schonjetzt spürbaren negativen Auswirkungen der Entwicklungnotwendig ist.Der zweite Aspekt: Ich habe beantragt, diese Frage aufdie Tagesordnung der Septembersitzung der Weltbank zusetzen, weil ich der Meinung bin, dass die dort vertrete-nen Länder – das sind Öl exportierende und Öl importie-rende Länder und andere Industrieländer – gemeinsamüber diese dramatische Situation diskutieren müssen unddass wir Mechanismen der Unterstützung seitens Welt-bank und IWF überprüfen und in Gang bringen müssen,damit konkret gehandelt wird.Ein zweiter Punkt: Aids. Liebe Kolleginnen und Kol-legen, die Bundesregierung unterstützt in diesem Jahr mitNeuzusagen von 55 Millionen DM konkrete Projekte, diediese Krankheit, diese Epidemie unmittelbar bekämpfen,und zwar in allen Bereichen. Die Weltbank wird auf un-sere Initiative hin Mittel im Umfang von 500 Milli-onen DM für die Bekämpfung dieser Pandemie, dieserSeuche, dieser dramatischen Gefährdung zur Verfügungstellen. Auf dem bevorstehenden G8-Gipfel wird das ei-nes der zentralen Themen sein.Aber ich sage an dieser Stelle auch: Die Länder sindmitverantwortlich. Ich weiß nicht, wie es bei meinen Vor-gängern war, aber ich spreche bei jeder politischen Reisegegenüber den höchsten Repräsentanten an, dass sie Lea-dership zeigen müssen; denn Verschweigen heißt Tod. DieRegierungschefs, die Präsidenten sind selbst für Aufklä-rung im Land verantwortlich. Nur wenn das Verschwei-gen endlich durchbrochen wird, wenn nicht der Eindruckvermittelt wird, es sei ein Tabu,
werden die Menschen im Land selbst ihr Verhalten än-dern. Denn gegen Aids kann man sich schützen: entwederdurch Treue, durch Abstinenz oder durch Kondome. Sohat es eine in Afrika erfolgreiche Initiative aufgezeigt.Das muss zum Thema gemacht werden. Die Diskussionmuss von der Spitze der betroffenen Länder geführt wer-den. Es gibt diese Verantwortung.Vor allen Dingen soll damit auch Hoffnung geschaffenwerden. Uganda hat das so gemacht. Der dortige Präsi-dent Museveni hat das so gemacht. Er hat die Themen an-gesprochen. Damit hat sich die Zahl der Neuinfizierungenim Land drastisch reduziert. Es gibt also auch Hoffnung.Es ist nicht so – das wäre ja schrecklich –, dass die Seu-che unaufhaltsam wäre. Durch Verhaltensänderung, durchöffentliche politische Diskussion in Afrika selbst kann et-was verändert werden.
Dritter und letzter Punkt – auch da sind wir betrof-fen –: gute Regierungsführung. Das ist auch ein ganzkonkreter und praktischer Punkt. Es ist zum Beispiel un-erträglich, wenn Diamanten, an denen Blut klebt, in denHandel gelangen. In Sierra Leone terrorisieren kriminelleBanden, die sich fälschlicherweise Rebellen nennen, dieBevölkerung. Sie hacken den Leuten die Gliedmaßen ab.Sie wollen an die Diamantenfelder; denn sie wollen mitdem Verkauf von Diamanten ihr verbrecherisches Hand-werk finanzieren. Deshalb sind die Industrieländer undauch die Diamantenindustrie aufgefordert, ihre Verant-wortung wahrzunehmen. Diese Quelle der Kriegsfinan-zierung muss zum Versiegen gebracht werden.
– Das kostet kein Geld.Ich begrüße deshalb nachdrücklich, dass der UN-Si-cherheitsrat auf Initiative der britischen Regierung ges-tern Nacht ein Diamantenhandelsverbot gegen SierraLeone verhängt hat. Ich plädiere dafür, dass es auf abseh-
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Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul10874
bare Zeit aufrechterhalten bleibt und damit Konsequenzengezogen werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:
Danke, Frau Präsidentin.
Ich wollte zum Schluss sagen: Sie sehen die struktu-
rellen Zusammenhänge. Wir müssen uns jedes Mal ein
Element heraussuchen, wo wir bezüglich der strukturellen
Fragen mit unserem eigenen Engagement etwas verän-
dern können.
Die Bundesregierung und ich als Entwicklungsminis-
terin sind angetreten, diese Verantwortung wahrzuneh-
men. Wir nehmen sie wahr, weil wir wissen: Afrika ist ein
Kontinent, der große Hoffnungen hat, ein Partnerkonti-
nent, eine Region mit großen Chancen. Wir können dazu
beitragen, dass die Chancen dieses Kontinentes genutzt
werden.
Ich danke Ihnen sehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der letzte Redner die-
ser Debatte ist der Kollege Dr. Karl-Heinz Hornhues für
die Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsi-dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Man kann kritisieren, dassuns von der Regierungskoalition bergeweise Papier aufden Tisch gelegt wird. Wahrlich; denn es ist sehr viel zulesen. Vieles ist gar nicht so schlecht oder sogar ganz gut.
Ich bin dafür, es nicht zu sehr zu kritisieren, weil ich jedeGelegenheit als begrüßenswert empfinde, über Afrika re-den können.
Steter Tropfen höhlt den Stein. Vielleicht kommen wirdoch zu dem Punkt, dass im Rahmen der unendlichen Pri-oritäten der jetzigen Bundesregierung die Priorität Afrika,von der wir heute einiges gehört haben, tatsächlich vonder letzten Position der Prioritätenskala ein paar Millime-ter näher an die anderen Prioritäten herangerückt wird.Wenn wir ehrlich sind, Herr Außenminister, müssenwir uns ja wohl darüber im Klaren sein: Wenn man überAfrika spricht, steht es für einen Moment im Mittelpunktunseres Interesses. Kaum haben wir den Saal verlassen,bleiben vielleicht die paar „Afrikafans“, wie HerrSchuster in der Regel zu sagen beliebt, noch übrig, umsich weiter darum zu kümmern. Sie finden sich dann zurnächsten Debatte wieder zusammen, um erneut zu for-dern.Ich fand es bemerkenswert, dass sich der Außenmini-ster zu den Anträgen der ihn tragenden Koalitionsfraktionnicht geäußert hat. Ich unterstelle Ihnen, Herr Außenmi-nister, dass Sie keine Gelegenheit hatten, die Anträge zulesen. Es steckt eine ganze Menge an Forderungen darin,was das Außenministerium alles tun soll. Ich finde esschon bemerkenswert und warte auf die nächste Debatte,damit wir abfragen können, was die Bundesregierungdem Petitum des Kollegen Tappe folgend alles getan hat,um die Probleme vielleicht einen Millimeter näher an dieLösung heranzubringen.
– Ja, ich finde es ja prima. Ich wollte nur den Außenmi-nister daran erinnern, damit er es nicht vergisst, weil er eseben noch nicht gesagt hat.Ich habe noch einen zweiten Punkt, nur damit sich dieLegenden in diesem Lande nicht allzu fest graben: dieSchuldeninitiative. Meine sehr geehrten Damen undHerren, ich höre ja, etwas fängt schon an, real wirksam zuwerden. Es sei nur zu Protokoll gegeben, dass Schuldenerlassen keine Erfindung von Ihnen ist. Ich finde es löb-lich, wenn sie es weiter betreiben.
Bis zum Ende unserer Regierungszeit sind immerhin9 Milliarden DM Schulden erlassen worden. Wir fragendann noch einmal nach.
– Herr Kollege, auch da ist einiges geschehen, wie Sieganz genau wissen. Wenn Sie bilateral weitermachen,finde ich das ganz prima.Meine sehr geehrten Damen und Herren, nehmen Siebitte zur Kenntnis: Es ist keine völlig neue Erfindung vonIhnen. Es gab schon vorher ein Nachdenken über Pro-bleme.Worum geht uns in der Sache, wenn wir über Afrikadiskutieren? Glücklicherweise hat sich inzwischen im-merhin hier weitgehend durchgesetzt: Es geht vor allenDingen auch um unser ureigenes Interesse, nämlich umdie Frage, wie wir mit einem Kontinent weiterleben wol-len, der wie kein anderer von Krisenkatastrophen ge-schüttelt und gebeutelt ist. Es ist unser Nachbarkontinent.Wir können das Problem Afrika nicht den Mitgliedern dersüdlichen Länder der Europäischen Union als Privatpro-blem überlassen. Vielmehr müssen wir begreifen, dassauch wir uns immer stärker diesem Problem zuwendenmüssen, damit unsere Partner in der Europäischen Unionauch bereit sind, auf uns zu hören, wenn wir größere
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul10875
Probleme haben, die vielleicht in Mittelosteuropa undnicht an dem Mittelmeerrand liegen, und bereit sind, dieseProbleme mit uns gemeinsam anzugehen.Das heißt: Unser Bemühen, für Afrika mehr zu tun, hatauch den Hintergrund – das sollten wir unseren Mitbür-gern sagen –, dass wir für andere Probleme, mit denen un-sere Partner stärker kämpfen, mehr Verständnis habenmüssen. Dabei ist durchaus eine gehörige Portion Egois-mus vorhanden, wenn wir uns um diese Probleme küm-mern.Wenn wir uns die Frage stellen, was man tun könne,taucht als erstes Stichwort sofort der Begriff der Präven-tion auf. Der bedeutendste Teil der Prävention ist die Ent-wicklungszusammenarbeit, die wir betreiben. Ich willnicht in eine Debatte darüber einsteigen, was gut oderschlecht ist. Ich will aber eines anmerken: Es wird immerweniger für die Entwicklungszusammenarbeit ausgege-ben. Ich fand es heute insoweit gut, dass die Frau Minis-terin nicht wie beim letzten Mal versucht zu erklären, dasses zwar weniger, aber trotzdem mehr sei. Was immer derGrund für die Reduzierung sein mag, es ist weniger. Es istein Problem, anderen deutlich machen zu müssen, warumwir mehr tun wollen, aber weniger Mittel dafür zur Ver-fügung stellen.Einer Europäisierung stimme ich zu, es sei denn, eswürden bestimmte Zwecke damit verfolgt. Wenn dahintersteckt, mehr Zusammenarbeit in Richtung Europa mitdem Gedanken zu machen, die sollen das tun, damit wiraus dem Schneider sind, muss man dies offen sagen, ohnedas Bemühen der Europäisierung überzustrapazieren.Wenn Europäisierung aber meint, die deutsche Bundesre-gierung und der Deutsche Bundestag wollen sich ver-stärkt darum bemühen, dass Europa insgesamt mit uns –da wir nicht die Kleinsten sind, auch sehr stark mit uns –eine Afrikapolitik entwickelt, die sich in einem für uns fürnotwendig gehaltenen Maße in Afrika einmischt und alsPartner zur Verfügung steht, dann, Herr Außenminister,müssen wir zwingend darüber diskutieren, was dieSchließung von Botschaften bedeutet. Dies ist mit demArgument, es habe an Geld gefehlt, nicht zu beantworten.
Ich kann nicht sagen, ich wolle Krisenprävention machen,und kappe dabei eines der wenigen Instrumente. Dies istbesonders schlimm in Ländern wie Burundi, Tschad undNiger.Mich interessiert in diesem Zusammenhang die Frage,was uns noch bevorsteht. Ich weiß nicht, ob die Presse-meldungen stimmen, dass infolge weiterer Kürzungenweitere Botschaften geschlossen werden sollen. Ich gebezu Protokoll, dass der Herr Außenminister den Kopfschüttelt. Ich schließe daraus, dass keine weitere Bedro-hung für unsere Auslandsbotschaften besteht. Ich hoffe,dass uns nicht zu einem späteren Zeitpunkt mit anderenArgumenten das Gegenteil droht.Diese Strategie, sich zurückzuziehen und anderen dieVerantwortung zuzuschieben – egal, ob OAU oder UNO –halte ich für einen eklatanten Fehler, weil dies unserenEinfluss schwächt. Es bedeutet auch, dass wir in Wahrheitzwar schöne Reden über die Probleme in Afrika halten,tatsächlich aber selten in der Lage sind, ein Problem kon-kret zu lösen. Die Schwierigkeit ist, dass wir oft hier ge-sessen und darüber geredet haben, was andere falsch ma-chen, wenn zum Beispiel die französische Fremdenlegionin eine bestimmte Richtung marschiert ist oder davon dieRede war, dass sich die CIA auf dem einen oder anderenFeld – ich glaube, es war im Kongo – einmischt. In diesenFällen haben wir immer dagestanden und gesagt: „Da hät-ten wir...“; „Da könnten wir“, „Da müssten wir ...“.Die Frage ist, was uns an eigenen Erkenntnissen auf-grund eigener Recherche vorliegt. Man kann in diesemZusammenhang über andere Instrumente als die Bot-schaften nachdenken. Wir haben eine Institution, dieNachrichten beschafft und wie ich gehört habe, ab und zueinen Reisenden nach Afrika schickt. Wenn alles so wich-tig ist, wie diese Institution das schildert, müssen wir unsdie Frage stellen, was getan werden kann.Die Westeuropäische Union wird in ihrem operativenTeil, den Petersberg-Aufgaben, in die EuropäischeUnion übernommen. Wir haben gelernt: Krisenpräventionist schön, klappt aber meistens nicht. Im Ergebnis habenwir die Krisen und diese bestehen nicht immer nur ausWirbelstürmen oder Hochwasser. Das alles wäre schonschlimm genug, aber viel zu oft wird geschossen, gemor-det und getötet. Wir stehen dabei immer vor den gleichenFragen. Meine Frage ist: In welchem Umfang drängt dieBundesregierung darauf, dass die Europäische Union mitihren Petersberg-Aufgaben – das heißt den alten WEU-Aufgaben – real mit Afrika zusammenarbeitet und nichtnur ein paar Sprüche klopft? Wie sieht es konkret mit un-serer Ausstattungshilfe aus?Wer einige Krisenszenarien nachzeichnet, muss sichdarüber im Klaren sein, dass manches Unternehmenwahrscheinlich schlechter ausgegangen wäre, wenn es dieAusstattungshilfe nicht gegeben hätte. Ich komme damitzu einem weiteren Punkt, von dem ich weiß, dass seineBehandlung schon vor längerer Zeit eingeschlafen ist,weil viel schief gelaufen ist.Wo immer in Afrika etwas passiert, haben wir es mitdem Militär zu tun. Die Bundeswehr hat in der Vergan-genheit wiederholt in ihrer internationalen Offiziersaus-bildung afrikanische Offiziere einbezogen. Dies ist mei-nes Wissens eingestellt worden, weil man nicht nur guteErfahrungen gemacht hat, um es sehr vorsichtig zu sagen.So heikel die Frage der Armee in der Demokratie ist, sohaben wir doch ein spezielles Kapitel an eigenem Know-how und Wissen. Es steht uns durchaus zu, darüber nach-zudenken, ob wir nicht den Mut haben, dies in eine Über-legung einzubringen, Ländern zu helfen, in Strukturen zudenken und zu empfinden, die uns dann, wenn es wiederernst wird, die Chance geben, an bestimmte Personen aufbestimmte Werte bezogen zu appellieren.Meine sehr verehrten Damen und Herren, in denBeiträgen, die ich gehört habe, waren viele Gemeinsam-keiten enthalten. Das finde ich sehr gut. Ich finde es wei-terhin sehr gut, wenn sich die Koalitionsfraktionen künf-tig bei der Produktion von weiteren Anträgen freundli-cherweise mit uns in Verbindung setzen, wenn sie denVerdacht haben, es sei gemeinsames Gedankengut der
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meisten Parteien in diesem Hause. Denn bezogen auf dieschönen Sätze des Außenministers und vieler andererhabe ich ein Problem. Dies heißt: Zu vielem höre ich vie-les gern. Die Rede des Kollegen Tappe habe ich in großenTeilen sehr gern gehört. Allein mir fehlt der Glaube, dassdas, was dort gesagt wird, Wirklichkeit wird. Ich glaube,wir brauchen weiterhin ein gewisses Maß an Gemein-samkeit der „Afrikafans“, Herr Schuster, damit wir versu-chen zu erreichen, dass Afrika im Bewusstsein von uns al-len – der Bundesregierung und vielleicht auch des Volkes –nicht die Gegend ist, wo am Ende nur noch die Antarktiskommt. Ein bisschen mehr sollte es sein.Ein allerletztes Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aber bitte ein aller-
letztes, Herr Kollege.
Herr Tappe,
Sie haben davon gesprochen, die Würde zurückzugeben.
In unseren Museen steckt manches, was aus Afrika
stammt, und für Afrika ein unersetzliches Kulturgut ist. Es
ist für uns auch interessant, aber eine Bundesregierung,
die sich aufmacht – ich habe das mit wenig Erfolg in der
Vergangenheit versucht; versuchen Sie es einmal –, einen
Kulturtransfer besonderer Art einzuleiten, um Afrika zu
helfen, ein Stück der eigenen Identität wiederzugewinnen,
wäre des Schweißes der Edlen wert. Bemühen Sie sich ein
wenig!
Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich der Kollegin Dr. Uschi Eid, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
Frau
Präsidentin! Der Außenminister hat einige Konflikte auf
dem afrikanischen Kontinent angesprochen. Viele davon
wurden auch im Detail besprochen. Aus aktuellem Anlass
möchte ich aber einen Konflikt benennen, weil der Krieg
zwischen Eritrea und Äthiopien Gott sei Dank zu Ende
gegangen ist und die Verhandlungen in eine entschei-
dende Phase eingetreten sind.
Ich möchte gerne beiden Konfliktparteien etwas mit
auf den Weg geben: An Äthiopien möchte ich appellieren,
nicht im militärischen Siege triumphalistisch den Nach-
barn klein zu machen. An die Eritreer möchte ich appellie-
ren, nicht nur den Krieg als beendet anzusehen, sondern
auch der internationalen Öffentlichkeit klarzumachen,
welche demokratischen Schritte in der nächsten Zukunft
für dieses Land vorgesehen sind.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Eid,entschuldigen Sie, aber ich muss Sie darauf aufmerksammachen, dass Kurzinterventionen nur zu Beiträgen ge-stattet sind. Mir wurde angekündigt, dass Sie eine Kurz-intervention zu den Ausführungen des KollegenHornhues machen wollen. Jetzt ist es zu spät, aber ichmöchte alle Kolleginnen und Kollegen an diese Spielre-gel erinnern.
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird dieÜberweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3701 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen der SPD und des Bündnis 90/Die Grünen mitdem Titel „Friedensbemühungen am Horn von Afrika ver-stärken“, Drucksache 14/3767. Wer stimmt für diesen An-trag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Antrag istbei Enthaltung der Fraktionen der CDU/CSU und derF.D.P. angenommen.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antragder Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grü-nen mit dem Titel „Demokratische und friedliche Kräfteim Sudan unterstützen“, Drucksache 14/3768. Werstimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Der Antrag ist bei Enthaltung der Fraktionen derCDU/CSU, der F.D.P. und der PDS angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünenmit dem Titel „Konflikt in der Region der großen Seeneingedämmt – nicht gelöst“, Drucksache 14/3791. Werstimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Der Antrag ist bei Enthaltung der CDU/CSU- undder F.D.P.-Fraktion angenommen.Die Beschlussfassung über den Antrag der Fraktion derPDS „Abschiebestopp für Flüchtlinge aus Äthiopien undEritrea“, Drucksache 14/3547, entfällt; denn die PDS hat,wie der Kollege Hübner angekündigt hat, ihren Antragzurückgezogen, weil ihrer Forderung nach sofortiger Ab-stimmung nicht stattgegeben wurde.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten BirgitHomburger, Dr. Hermann Otto Solms, HildebrechtBraun , weiterer Abgeordneter und derFraktion der F.D.P.Ökosteuer zurücknehmen– Drucksache 14/3519 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
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F.D.P. sechs Minuten erhalten soll. Sind Sie damit einver-standen? – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das sobeschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für dieF.D.P.-Fraktion ist der Kollege Rainer Brüderle.
Hören Sie einmal genau zu,Herr von Larcher! Das tut Ihnen gut.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DieF.D.P. tritt für die Abschaffung der staatlichen Zwangsbe-glückungsmaßnahme Ökosteuer ein.
Deshalb fordern wir heute die Bundesregierung auf: Neh-men Sie die bisherigen Schritte der Ökosteuer zurück!Verzichten Sie auf weitere Schritte! Ersetzen Sie gleich-zeitig Ihr Abkassiermodell durch eine wirkliche ökologi-sche Steuerreform!Wir zeigen Ihnen, wie es geht: Erstens. Schaffen Siedie Kraftfahrzeugsteuer ab! Legen Sie sie auf die Mine-ralölsteuer um! Zweitens. Wandeln Sie die Kilometerpau-schale endlich in eine fahrzeugunabhängige Entfernungs-pauschale um! Sie treiben mit einem gescheiterten Instru-ment die Benzinpreise in die Höhe. Der Anteil, den dieMineralölsteuer und die Mehrwertsteuer am Preis für ei-nen Liter Normalbenzin haben, liegt bei 70 Prozent. Diestaatliche Ökosteuer ist somit entscheidender Preistreiber.Dank der Steuererhöhungen müssen die Autofahrer alleinin diesem Jahr 4 Milliarden DM mehr für Kraftstoffe aus-geben.Ihre Ablenkungsmanöver bleiben zu durchsichtig.Kaum kündigen die Rohölproduzenten eine Erhöhung ih-rer Fördermengen an, jubilieren Sie schon und weisen da-rauf hin, dass die Benzinpreise jetzt wieder sinken müss-ten, um von der Ökosteuer abzulenken und sie aus derDiskussion herauszuhalten. Das ist ein plumper Versuch,den schwarzen Peter weiterzureichen. Ich habe den Ein-druck, Sie wollen sich permanent aus der Verantwortungstehlen.
– Wer dazwischenruft und -schreit, hat sowieso Unrecht,Herr Kollege, weil er nicht in der Lage ist, kritische Ar-gumente zu ertragen. Sie richten sich damit selbst.Seien Sie doch wenigstens so ehrlich und sagen denLeuten, denen Sie das Geld aus der Tasche ziehen, dassSie einen hohen Benzinpreis politisch gewollt haben! Be-kennen Sie sich dazu, damit der berechtigte Zorn derMenschen auch die trifft, die dafür die Verantwortung ha-ben.Wie wollen Sie den Rohölproduzenten erklären, dassder Preis, den sie für das Rohöl verlangen, zu hoch ist,wenn Sie selber für einen Steueranteil von 70 Prozent ver-antwortlich sind? Das, was Sie machen, ist sozial unge-recht. Gerade gering verdienende Arbeitnehmer, Rentner,Pendler, Studenten, Auszubildende und Sozialhilfeemp-fänger werden durch die Ökosteuer besonders geschröpft.Das ist Ihre Sozialpolitik.
Es ist schon ein starkes Stück, dass Sie dem Zwangs-instrument Ökosteuer das Etikett sozialer Gerechtigkeitaufkleben. Sie wissen, dass große Teile der Bevölkerungnicht von der bescheidenen Senkung der Rentenversi-cherungsbeiträge profitieren. Rentner, Auszubildende,Arbeitslose, Freiberufler, Landwirte und Beamte müssendie Mehrbelastung ungeschmälert tragen. Das ist die Ur-sache, warum immer mehr Sozialdemokraten öffentlichdie Anhebung der Kilometerpauschale oder gar das Aus-teilen von Benzingutscheinen an Geringverdiener for-dern. Das ist die Konsequenz aus der falschen MaßnahmeÖkosteuer. Im Grunde ist das eine Distanzierung von derÖkosteuer.Sie sollten es schon ernst nehmen, dass ein so renom-mierter Umweltexperte wie Ernst Ulrich von Weizsäckerfür die Aussetzung der Ökosteuer plädiert. Spätestens da-mit sollte auch der letzte Genosse kapiert haben, dass et-was falsch gemacht wird.
Ich meine jetzt nicht die PDS-Genossen.Lediglich die Grünen halten aufgrund ideologischerScheuklappen voller Inbrunst an der Ökosteuer fest. HerrSchlauch und andere Grüne robben sich an das Autoheran. Die grüne Hauspostille, die „taz“, spricht davon,dass man „Gummi geben will“, dass man sich also inRichtung Auto bewegt, weil man merkt, dass man völligfalsch liegt. Wer die Rückführung der so genannten Öko-steuer als „dummes Zeug“ bezeichnet, wie Herr Kuhn, dermuss doch endlich einräumen, dass das Lieblingsprojektgescheitert ist.Ökologisch bringt die Ökosteuer nichts.
Stattdessen belasten Sie nur und erzielen keine ökologi-schen Effekte. Eine ökologische Steuer müsste sich beimErreichen des Ziels selbst aufheben. In diesem Falle hät-ten Sie aber gar kein Geld für das Stopfen der Löcher imHaushalt und für die Rentenkasse. Die Weigerung, dieÖkosteuer abzuschaffen, ist unglaublich arrogant, geradegegenüber gering verdienenden Arbeitnehmern.
Aber die haben Sie schon längst vergessen, auch bei IhrerSteuerreform. Sie machen lieber eine Politik für großeKonzerne und nicht mehr für kleine Leute. Das ist die Ver-änderung Ihrer Politik.
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Vizepräsidentin Petra Bläss10878
Inzwischen treten Herr Trittin und andere Grüne öf-fentlich dafür ein, nicht mehr für die Rente zu rasen. Wennweniger Auto gefahren würde, dann hätten Sie noch we-niger Geld in der Kasse, um alternative Energien zu sub-ventionieren. Das ist eine Bankrotterklärung der Grünenselbst. Man erkennt, dass es sich um eine Fehlkonstruk-tion handelt und dass das Konzept von Abis Z nicht funk-tioniert.
Sie treten auf die Innovationsbremse.
Indem Sie den Menschen das Geld durch höhere Benzin-preise wegnehmen, kommt es eben nicht zu einer schnel-leren Erneuerung der Fahrzeugflotte. Auch die Erfahrun-gen aus den Ölkrisen von 1973 und 1980 zeigen, dass ge-nau das Gegenteil erreicht wird.
Viele – gerade Geringverdiener – sind darauf angewie-sen, weiter ihre alte Schleuder zu fahren, weil Sie ihnendas Geld für ein neues Fahrzeug durch die Ökosteuer ausder Tasche ziehen. Sie sollten sich hier dazu bekennen undnicht darum herumreden.
Was ist denn das Wort des Kanzlers wert,
der vor der Wahl erklärt hat: einmal 6 Pfennig Mineralöl-steuer, dann Schluss? Das gilt alles nicht mehr, weil die-ses falsch konstruierte Konzept der Ökosteuer offenbarder Kick ist, der die rot-grüne Koalition zusammenhält.Man handelt partout gegen klaren Sachverstand. Wenigs-tens die Sozialdemokraten sollten sich in dieser Frage vonden grünen Ideologen befreien und auch auf die Stimmenihrer Ministerpräsidenten hören,
die sagen, dass man das Projekt so nicht fortführen kann.Sie zahlen den Preis dafür, dass Sie mit solchen Leuteneine Koalition machen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die SPD-
Fraktion hat der Kollege Wolfgang Grotthaus.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Antrag derF.D.P., der bereits in der Aktuellen Stunde am 7. Juni 2000in diesem Haus diskutiert und für schlecht befundenwurde, ist heute erneut Thema. Herr Brüderle, mich freut,dass ich Ihnen heute wieder antworten darf; denn ich habebei Ihrer Rede festgestellt, dass Sie keine neuen Inhalte,sondern nur andere Worte gefunden haben. Von daher darfich Ihnen deutlich sagen: Anträge werden durch Wieder-holungen nicht besser und dieser Antrag ist immer nochschlecht.
Dieser Antrag ist deswegen schlecht, weil er weder ge-wichtige Argumente gegen die Ökosteuer anführt noch inseiner Verknüpfung von Benzinpreissteigerung undÖkosteuer korrekt ist. Ich meine, die F.D.P. greift diesesThema vielmehr deswegen auf, um die Hoheit über dieStammtische zu erringen. Das wird Ihnen vielleicht kurz-fristig gelingen; aber mittelfristig werden Sie damitSchiffbruch erleiden.Es ist inzwischen beinahe unerträglich, immer wiederdie gleichen Aussagen nicht nur von der F.D.P., sondernauch von der CDU zu hören. Ich will Ihnen sehr deutlichsagen, dass diese Aussagen – ich habe es gerade schon er-wähnt – in der Sache unrichtig sind. Ich will Ihnen – dieseSicht ist mir auch aus der Bevölkerung heraus angetragenworden – die Ursachen für die Preisentwicklung beimMineralöl nennen.Es ist richtig, dass die Ökosteuer einen Teil der höhe-ren Benzinpreise verursacht. Sie unterschlagen aber, dassbei diesen Preiserhöhungen auch die Abschläge beimWechselkurs des Euros eine Rolle spielen; Sie unter-schlagen, dass die Mineralölsteuer auch von anderenFaktoren abhängig ist. So hat zum Beispiel das „Handels-blatt“ geschrieben, dassein schwacher Euro, eine jährliche Ökosteuer von6 Pfennig und eine starke Nachfrage in den USAundAsien den Kraftstoff so teuer gemachthaben. Auch die folgende Aussage des „Handelsblattes“ist gültig, Herr Brüderle:Doch wer bleibt schon kühl, wenn’s ums Auto geht... die Oppositionsparteien ...– damit sind Sie gemeint –wettern gegen SPD und Grüne. Deren Ökosteuer seischuld an den hohen Preisen...Lassen Sie sich dies mit auf den Weg geben: Die Öko-steuer ist im letzten Jahr und in diesem Jahr jeweils um6 Pfennig pro Jahr, also insgesamt um 12 Pfennig erhöhtworden. Dieses führte dann automatisch zu einem Anstiegauch der Mehrwertsteuer um 2 Pfennig. Ihr Anteil an dergesamten Benzinpreiserhöhung beträgt insgesamt nur10 Prozent. Sie aber stellen sich hier hin und tun so, alswenn die Ökosteuer den Benzinpreis insgesamt nach obengetrieben hätte. Dies ist falsch und deswegen unlauter.
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Rainer Brüderle10879
Irgendwie bin ich davon überzeugt, dass Ihnen dieseZahlen nicht fremd sind. Eigentlich sollten Sie bei einerernsthaften Analyse, Herr Brüderle, selbst zu diesen Er-kenntnissen gelangt sein.
Doch Sie wollen sich dies nicht eingestehen, weil Sie garnicht – das ist auch aufgrund Ihres Beitrages heute fest-zuhalten – die sachliche Auseinandersetzung suchen, son-dern hier einfach nur Stimmung machen wollen.
Zurück zur Sache! Die Debatte, ob die Ökosteuer denNamen „Öko“ verdient hat, ist eigentlich ausgiebig ge-führt worden. Alle politischen Lager waren sich darübereinig, dass es noch ein weiter Weg hin zu einer echtenÖkosteuer ist. Allerdings, so muss man festhalten, ist esdurchaus ein erster Schritt, das ökologische Verhalten derBürgerinnen und Bürger zu stärken und einen spar-sameren Umgang mit Energieträgern zu erreichen. Kriti-ker beklagen, dass die Einnahmen der Steuer nicht für reinökologische Zwecke ausgegeben werden. Wir meinen,das wäre ein erstrebenswertes Ziel. Doch die heute hierauftretenden Kritiker der Ökosteuer wollen dies gar nicht.Herr Brüderle, Ihr Kollege und unser früherer Kollege imBundestag, der Kollege Möllemann, will zum Beispiel dieÖkosteuer für Straßenbaumaßnahmen ausgeben.
Ich bezweifle, ob dieses dann ökologisch so wertvoll ist,wie Sie bzw. der Kollege Möllemann es darstellen.
– Ich finde es Klasse, dass Sie hier Ihren HerrnMöllemann in aller Deutlichkeit verleugnen.
Insgeheim gehen Sie auf seine Vorschläge ein und wollengemeinsam mit dem Herrn Möllemann einen eigenenKanzlerkandidaten aufstellen. Das werden wir noch mitInteresse beobachten. Wir werden noch des Öfteren beiIhrem Parteimitglied Möllemann den Finger auf dieWunde legen.
Die Bundesregierung hat sich als primäres Ziel dieBekämpfung der Arbeitslosigkeit vorgenommen.
Ein wichtiger Aspekt sind die Lohnnebenkosten, die inder Bundesrepublik zu hoch liegen, weil sie während Ih-rer Regierungszeit so stark gestiegen sind. Um hier eineVeränderung zu erreichen, verwendet die Bundesregie-rung die Erträge aus der Ökosteuer zur Senkung der Ren-tenversicherungsbeiträge und reduziert so die Lohnne-benkosten. Als Folge treten positive Effekte auf dem Ar-beitsmarkt auf. Ich gehe davon aus, dass Sie heute in denNachrichten die Zahlen der Bundesanstalt für Arbeitgehört haben. Diese belegen das nämlich ganz aktuell:Insgesamt gibt es 3,47 Millionen Arbeitslose.
– 3,74 Millionen. Herzlichen Dank. Mir ist hier ein Zah-lendreher passiert. – Wir meinen, dass das immer noch zuviele sind, aber dieser Wert ist der niedrigste seit 1995.
Ich erinnere daran, worüber der Kollege Merz heuteMorgen in der Steuerdebatte geredet hat. Er sprach davon,dass er auf dem Arbeitsmarkt keine Veränderungen fest-stellen kann. Ich stelle fest: Das ist eine Aussage ohneSachverstand. Auch hier hätte sich Ihr Kollege Merz sach-verständig machen müssen.
Langfristig, Herr Fromme, hat die Ökosteuer auch einenökologischen Lenkungseffekt.
Industrie und Verbraucher orientieren sich um. Neben ei-nem verantwortungsvolleren Umgang mit nicht erneuer-baren Ressourcen schaffen die Entwicklung und Produk-tion neuer Umwelttechnologien Arbeitsplätze und lassendie deutsche Wirtschaft international gut dastehen.Dies bestätigt auch eine Aussage des Rheinisch-Westfä-lischen Instituts fürWirtschaftsforschung, wonach einAussetzen der Ökosteuer in den nächsten drei Jahren ins-gesamt 500 000Arbeitsplätze gefährden würde. Auch hierstelle ich fest: Mehr und bessere Informationen Ihrerseitskönnten Sie des Öfteren davor bewahren, unsinnige An-träge zu stellen.
In der Aktuellen Stunde am 7. Juni haben wir Ihnen dieAussagen der alten Regierungskoalition zur Ökosteuerins Gedächtnis gerufen, insbesondere jene der KolleginMerkel und der Kollegen Schäuble und Repnik, die er-klärt haben: Die klare politische Zielsetzung einer steti-gen Verteuerung des Umweltverbrauchs gibt Investorendie notwendige Orientierung für langfristige Projekte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Grotthaus, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zumSchluss. – Ich will diese Aussage noch ergänzen: Sie sorgtauch dafür, dass technologischer Fortschritt und Innova-tion im Umweltbereich vorangetrieben werden. Heutewill die Opposition davon nichts mehr wissen. Sie fordertdie komplette Streichung der Ökosteuer, ohne darzustel-len, wie sie die von mir genannten Ziele dann erreichenwill.Ich sage Ihnen heute erneut – und damit zum drittenMal –: Die Ökosteuer bleibt. Sie erfüllt langfristig den
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Wolfgang Grotthaus10880
Zweck, Arbeit und Umwelt gleichrangig zu bewerten. Wirsind mit der Einführung der Ökosteuer angetreten, diesesZiel zu erreichen.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Heinz Seiffert für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die Menschen in
Deutschland bewegt derzeit nichts mehr als die explodie-
renden Preise für Benzin und Heizöl.
Längst reicht ein 100-Mark-Schein für eine Tankfüllung
nicht mehr aus. Viele Mieter werden demnächst aus allen
Wolken fallen, wenn sie ihre Nebenkostenabrechnung be-
kommen. Die Menschen in unserem Land sind sauer, weil
sie spüren, dass sie abkassiert werden.
Herr Kollege Grotthaus, wenn Sie sagen, es gehe uns
nur um die Lufthoheit über den Stammtischen, dann muss
ich Sie fragen: Wie weit sind Sie eigentlich von den Pro-
blemen der Menschen weg, seit Sie seit anderthalb Jahren
regieren?
Natürlich wissen auch wir, dass es nicht allein die Öko-
steuer ist, die für die hohen Spritpreise verantwortlich ist.
Hinzu kommt die Außenwirkung des Euro, die etwas
schwächer ist als erwartet.
Dazu zählen die gedrosselten Ölfördermengen und die da-
durch gestiegenen Preise. Klar ist aber: Die Initialzün-
dung für diese Preistreiberei an den Tankstellen geht auf
Sie zurück. Das hat die rot-grüne Regierung mit ihrer so
genannten Ökosteuer zu verantworten.
Sie haben mit Ihrem Stufenplan für die nächsten fünf
Jahre gezeigt, dass Sie einen Erhöhungsspielraum von
35 Pfennig bei den Spritpreisen sehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Seiffert,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Lassen Sie mich diesen
Gedanken noch zu Ende führen. Sie gehen davon aus,
dass es einen Erhöhungsspielraum von 35 Pfennig gibt.
Jetzt wundern Sie sich, wenn der Markt nicht auf den Staat
wartet, wenn also andere versuchen, schneller diesen
Spielraum auszuschöpfen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Dreßen,
bitte Ihre Zwischenfrage.
Kollege Seiffert, nachdem Sie
schon mehrmals diese Mär wiederholt haben, möchte ich
Sie fragen: Können Sie mir einmal sagen, wie die
CDU/CSU die Rente in Ordnung gebracht hätte? Wir wis-
sen ja, dass wir im Rentenbereich Fremdleistungen in
Milliardenhöhe hatten.
Nach Durchsetzung Ihrer Vorstellung wären die Beiträge
auf 22 oder 23 Prozent angestiegen und hätten damit die
Lohnnebenkosten erhöht. Das konterkariert die Aussage
von Herrn Merz, die Lohnnebenkosten zu senken. Sagen
Sie mir bitte: Wie hätten Sie ohne die Ökosteuer die Rente
in Ordnung gebracht und die Fremdleistungen steuerfi-
nanziert?
Herr Kollege Dreßen, ichfrage zurück: Was hat die Ökosteuer im Ernst mit derRente zu tun?
Ich sage es Ihnen: Rein gar nichts. Wir haben eine Ren-tenreform durchgeführt, die Sie ohne jegliche Notzurückgenommen haben.
Jetzt müssen Sie Maßnahmen treffen, die für die altenMenschen sehr viel schlimmere Folgen haben. Das ist dieWahrheit. Mit der Ökosteuer hat das Ganze nichts zu tun.Daraus wird deutlich, dass Sie nur abkassieren wollen.
Wir haben es bei jeder Gelegenheit prophezeit: Sie tref-fen mit der Ökosteuer besonders die Menschen – das sa-gen wir Ihnen noch oft, auch wenn es Ihnen wehtut –, diees sich am wenigsten leisten können.
Diese Ökosteuer wird keine ökologische Lenkungsfunk-tion entwickeln und sie wird ganze Branchen in ihrerExistenz gefährden. Diese Entwicklung haben wir kom-men sehen. Wir haben es Ihnen gesagt und Sie haben esnicht zur Kenntnis genommen.
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Wolfgang Grotthaus10881
Auch die Tourismusbranche wird dies spüren. DieMenschen werden weniger mit dem Fahrzeug, mit ihremPKW, Urlaub in Deutschland machen – das gilt auch fürdie Busreisen – und es wird alsbald die Tatsache zu be-klagen sein, dass die Gastronomie einen Rückgang ver-spürt.
Auch die Bahn mit ihren gestiegenen Preisen ist da leiderkeine reizvolle Alternative.
Es ist bereits jetzt, nach der zweiten Stufe Ihrer Öko-steuerreform, überdeutlich: Diese Erhöhung der Energie-preise entwickelt keinerlei Lenkungswirkung. Von dieserSteuer geht keinerlei Anreiz zu Einsparungen von Energieaus. Das haben Sie vermutlich auch gar nicht gewollt. DerKollege Brüderle hat es gesagt: Sie brauchen ja das Geld.
Die Autofahrer zahlen in den Jahren 1999 bis 2003 zu-sätzlich 68,5 Milliarden DM Mineralöl- und Mehrwert-steuer. Dies führt kaum zu einer weiteren Senkung derRentenbeiträge und von diesen Mitteln geht keine Markin zusätzliche Investitionen bei den Verkehrsanlagen. Dasist besonders zu beklagen. Sie stopfen mit diesem Geldnicht Löcher in den Straßen, sondern Sie stopfen damitLöcher in der Rentenkasse, die Sie selbst gerissen haben.
Die Ökosteuer ist das beste Beispiel für Ihre unausge-wogene und unsoziale Politik; denn betroffen sind vor al-lem die sozial Schwächeren. Rentner, Sozialhilfeempfän-ger, Arbeitslose, Studenten, kinderreiche Familien, insbe-sondere die Menschen im ländlichen Raum sind dieLeidtragenden der hohen Spritpreise.
Sie können nicht auf den ÖPNV ausweichen und profitie-ren oft auch nicht von der Absenkung der Rentenbeiträge.
Sie haben immer angekündigt, dass mit Ihrer Öko-steuer der Ausbau der erneuerbaren Energien gefördertwerden solle. In der Realität sieht es aber leider so aus,dass erneuerbare Energien, insbesondere der Solarstrom,voll besteuert werden, aber andere, begrenzt verfügbareEnergieträger, die unsere Umwelt belasten, von der Öko-steuer ausgenommen werden. Also, wer das logisch fin-det, muss mir das einmal erklären.
All die hehren Ziele, die Sie vorgegaukelt haben, wa-ren Nebelkerzen. Die Ökosteuer dient in Wirklichkeit nureinem: der Geldbeschaffung.
Nach Angaben des Mineralölverbandes stiegen dieSteuereinnahmen im Jahr 1999 bei Benzin um knapp5 Prozent, bei Diesel sogar um 12,5 Prozent. Da habe ichauch Verständnis dafür, wenn die Mineralölwirtschaftheute klagt, dass sie nicht mehr in erster Linie Mineralöl-händler sei, sondern Steuereintreiber geworden sei.Meine Damen und Herren, werfen wir einen Blick aufdie Wirtschaft in Deutschland. Diese ist geprägt von zahl-reichen kleinen und mittleren Betrieben, die allesamt vonder Ökosteuer betroffen und durch sie belastet sind. Fürdas produzierende Gewerbe haben Sie einen reduziertenSteuersatz und – mit viel bürokratischem Aufwand – aucheine Rückvergütungsmöglichkeit geschaffen.
Der ganze Mittelstand aber, Handel, Handwerk, Ver-kehrs- und Dienstleistungsunternehmen gehen leer aus.Diese Betriebe haben doch gar keine andere Wahl, als dieMehrkosten über die Preise weiterzugeben, und dasschlägt sich in der gestiegenen Inflationsrate nieder.Oder es wird Personal eingespart. Es sind doch keineMärchen, wenn die Kraftfahrzeuggewerbebetriebe – einEckpfeiler unserer Wirtschaft – beklagen, dass sie 60 000bis 100 000 Arbeitsplätze abbauen müssen. Nehmen Sieeigentlich nicht zur Kenntnis, dass die Zulassungszahlenfür PKWs in Deutschland im ersten Quartal dieses Jahresum 9 Prozent zurückgegangen sind? Die Ökosteuer hatnach meiner festen Überzeugung dazu einen erheblichenBeitrag geleistet.Dem öffentlichen Nahverkehr, der ja nach grünenIdealvorstellungen eigentlich als Alternative zum Autogelten sollte, entstehen durch die insgesamt fünf Stufender Ökosteuer fast eine halbe Milliarde DM an zusätzli-chen Kosten. Dazu sagt der Hauptgeschäftsführer desdeutschen Städte- und Gemeindebundes:Natürlich wird das über die Preise abgewälzt. Wersoll es denn sonst bezahlen?Die Auswirkungen der Ökosteuer machen auch demdeutschen Güterkraftverkehrsgewerbe schwer zuschaffen. Den im harten Wettbewerb innerhalb der EUstehenden deutschen „Brummis“ haben Sie zusätzlicheLasten aufgebürdet, die bei vielen kleinen und mittlerenBetrieben echt an die Existenz gehen. Viele Speditionenleben derzeit nur noch von der Substanz, viele Arbeits-plätze sind in Gefahr. Das kann Ihnen doch nicht egalsein! Der Verband des Güterkraftverkehrsgewerbes hatdoch nicht aus Lust und Tollerei eine Klage beim Bun-desverfassungsgericht eingereicht. Das ist doch ein Hilfe-schrei dieser Unternehmen.Besonders die neuen Bundesländer sind von der Öko-steuer betroffen. Den dortigen Betrieben geht es vielfachwirtschaftlich schlechter als denen in den alten Ländern,
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Heinz Seiffert10882
und die Strompreise sind dort ohnehin schon höher als imWesten, ganz zu schweigen von den östlichen Nachbar-ländern. Sie belasten mit der Ökosteuer die Konkurrenz-fähigkeit der jungen Betriebe im Osten. Ist das Ihr Bei-trag zum Aufbau Ost?
– Ja, Herr von Larcher, das sind die praktischen Auswir-kungen. Das muss man Ihnen sagen, da Sie sich nicht da-rum kümmern.
Auch die Finanzsituation der Kommunen ist durch dieÖkosteuer belastet. Die höheren Strompreise in Kinder-gärten, Schulen, Sporthallen und Schwimmbädern stei-gern die Kosten in diesen öffentlichen Einrichtungen.Noch ein Wort zur Landwirtschaft. Viele Arbeits-plätze können in diesem Bereich nicht mehr verloren ge-hen. Doch der Strukturwandel wird durch die Ökosteuerebenso wie durch das Steuerbelastungsgesetz und dieAgenda 2000 weiter beschleunigt. In Süddeutschlandschließen zurzeit täglich zwölf Milchviehbetriebe.
Im Moment haben sie noch Pächter für ihre aufgegebenenFlächen. Aber wenn die Entwicklung so fortschreitet, ha-ben sie diese bald nicht mehr, weil dann auch die größe-ren Betriebe nichts mehr verdienen. Was machen Sie dannmit der viel gepriesenen Kulturlandschaft? Wollen Siedann staatliche Landschaftspfleger einstellen? Wir brau-chen doch die Landwirtschaft!
Es gibt also unendlich viele gute Gründe, die Öko-steuer sofort abzuschaffen.
Erste Zweifel an der Richtigkeit des beschrittenen Wegshat man, wie ich höre, sowohl in der SPD als auch bei denGrünen. Vielleicht wird uns Herr Kollege Loske nachhernoch näher erläutern, wie er entsprechende Äußerungenam 30. März 2000 gemeint hat.Die Ökosteuer ist unsozial, sie nutzt der Umwelt nicht,sie ist wirtschaftsfeindlich; deshalb ist sie unsinnig. Ausdiesem Grunde muss sie weg. Insofern unterstützen wirmit Nachdruck den Antrag der F.D.P.Falsch wäre nach unserer Überzeugung allerdings,jetzt – wie dies auch im F.D.P.-Antrag gefordert wird – dieKfz-Steuer abzuschaffen und auf die Mineralölsteuerumzulegen. Damit würden Sie nur von dem rot-grünenÖkosteuerunsinn ablenken.
Herr Brüderle, im Gesetzblatt vom 18. April 1997steht, dass wir nach fünf Jahren, also 2002, prüfen wollen,ob eine solche Umlage sinnvoll wäre. Dabei sind aller-dings die Auswirkungen einer solchen Maßnahme für dieschon jetzt gebeutelten Autofahrer, besonders im ländli-chen Raum, zu bedenken. Es ist auch zu beachten, dasswir dann aus der Mineralölsteuer eine weitere Ge-meinschaftssteuer machen würden. Das halte ich nicht fürerstrebenswert.Wir sehen also keine Veranlassung, in diesem Punktjetzt aktiv zu werden. Deshalb können wir die Ziffer 2 desF.D.P.-Antrags nicht mittragen.Wir legen unser Hauptaugenmerk weiterhin auf dieÖkosteuer. Die muss weg. Versenken Sie die Ökosteuerim Sommerloch, rückwirkend und erst recht für die Zu-kunft.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Herr Kollege Reinhard Loske, Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichwill heute nicht darüber reden, dass auch die CDU/CSUund die F.D.P. früher einmal für die ökologische Steuerre-form waren;
ich will auch nicht Herrn Repnik, Herrn Schäuble, FrauMerkel und Herrn Töpfer zitieren. Ich will ebenso nichtdarüber reden, dass die Mineralölsteuer in den 90er-Jah-ren um 50 Pfennig angestiegen ist,
dass gleichzeitig die Rentenversicherungsbeiträge ange-stiegen sind und dass im letzten Jahr Ihrer Regierung so-gar die Mehrwertsteuer erhöht werden musste, damit dieRentenversicherungsbeiträge stabil bleiben konnten. Da-rüber möchte ich nicht reden,
und zwar deshalb nicht, weil ich glaube, dass diese immergleiche Leier die politische Kultur in diesem Lande ver-dirbt und die Politikverdrossenheit bei den Menschen er-höht.
Ich möchte stattdessen über den vorliegenden Antragder F.D.P. sprechen, Herr Brüderle. Der Antrag enthältdrei Punkte: Ökosteuer zurücknehmen, Kfz-Steuer ab-schaffen und umlegen und Kilometerpauschale umwan-deln – wobei Sie sich ein bisschen vor der Frage drücken,wo denn die Freigrenzen liegen sollen usw.Ich möchte zu dem ersten Punkt kommen, zur Ab-schaffung der ökologischen Steuerreform. Dazu möch-te ich die ersten beiden Sätze aus der Begründung IhresAntrags vorlesen. Sie lauten:
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Heinz Seiffert10883
Die Steuererhöhungen im Rahmen der so genanntenökologischen Steuerreform haben keine ökologi-schen Wirkungen erzielt. Der Benzinverbrauchsteigt weiter an.Dem will ich ein paar Fakten entgegenhalten: Erstes Bei-spiel: Shell meldet für Januar bis April dieses Jahres – dasist erst vor wenigen Tagen veröffentlicht worden – im Ver-gleich zum Vorjahr einen Rückgang des Benzinabsatzesum 4,5 Prozent. Das heißt, hier besteht eine Lenkungs-wirkung.Zweites Beispiel: Bei allen Automobilkonzernen, undzwar durchweg, gibt es die Tendenz zum Sparauto. Das isteine sehr löbliche Aktivität.
Ich will einmal darstellen, wie man das bei Daimler-Chrysler sieht. Der Umweltbevollmächtigte WernerPollmann hat gemäß „FAZ“ vom 13. Juni dieses JahresFolgendes gesagt: Er sei erstens kein Feind der Ökosteuer.Man könne damit leben. Die öffentliche Diskussion halteer zweitens für sehr populistisch. Drittens und letztenskönnten – jetzt passen Sie gut auf – hohe Kosten für Treib-stoffe eine Quelle für Innovationen sein. Die deutschenHersteller arbeiteten daran, den Benzinverbrauch weiterzu drücken. – Es gibt also eine ganz klare Tendenz zuEnergiesparautos.
Drittes Beispiel – auch das fand ich sehr interessant –:Wenn die These richtig wäre, dass nichts passiert, wiekann es dann zu einer Meldung wie der vom 28. Juni die-ses Jahres mit der Überschrift „ADAC will AutofahrernBenzinsparen beibringen – Spritsparschule in Müncheneröffnet“ kommen? Landauf, landab sprießen solcheFahrschulen aus dem Boden. Die zeigen nämlich, wieman durch eine angepasste Fahrweise bis zu 25 Prozentdes Spritverbrauchs einsparen kann.
Beispielsweise die Heidelberger Firma Eco-Consult –auch das ist der Presse zu entnehmen – hat 210 Beamteder Bereitschaftspolizei Biberach im ökologischen Fahr-stil trainiert. Das Ergebnis ist ein 20-prozentiger Rück-gang des Verbrauchs. Genau das sind die Entwicklungen,die wir haben wollen.
Vierter und letzter Punkt inhaltlicher Natur, den ich an-führen möchte: Vor wenigen Wochen war in der „BerlinerZeitung“ zu lesen, die Münchener Rückversicherung –wahrlich kein unbedeutendes Unternehmen – plädiereaufgrund der wachsenden Schäden durch Naturkatastro-phen, durch Klimawandel und anderes – 1999 sei welt-weit ein Schaden von über 100 Milliarden Dollar entstan-den – für eine deutliche Anhebung der Ökosteuer und fürderen kontinuierliche Weiterentwicklung. Zitat: „Andern-falls sind die Gefahren durch zukünftige Naturkatastro-phen nicht mehr versicherbar.“Ich weiß nicht, wie Sie auf die Idee kommen, dassall das nichts bringen würde. Die Realität ist anders. Siehaben keine Verbündeten mehr. Deswegen sprechenSie, Herr Brüderle, nur noch sehr allgemein. Bei IhremStammtischniveau glaubt Ihnen das sowieso keiner mehr.
Warum sollen wir hier in Deutschland – das ist meinletzter Punkt zur Abschaffung der Ökosteuer; übrigenssind wir in Europa immer noch auf Platz neun; das will ichIhnen vor Augen halten – mit dem Erfolgsmodell derökologischen Steuerreform aufhören, wenn andere, wieFrankreich, Großbritannien und Italien, in die gleicheRichtung marschieren? Sie wollen Deutschland in dieumweltpolitische Eiszeit zurückschießen.
Da wollen wir nicht hin. Da müssen Sie allein hingehen.Das schaffen Sie aber nicht.
Zur Umwandlung der Kfz-Steuer. Es gibt Gründedafür, die Kfz-Steuer auf die Mineralölsteuer umzulegen.Es gibt aber auch Gründe dagegen. Zwei möchte ich nen-nen: Der erste Grund ist der, dass man bei der Kfz-Steuersoziale Differenzierungsmöglichkeiten vornehmen kann,dass zum Beispiel Behinderte auch in Zukunft von derKfz-Steuer befreit werden können. Das wäre bei einerUmlegung der Kfz-Steuer auf die Mineralölsteuer nichtmöglich. – Das ist ein Grund, der dafür spricht.Ein zweiter Grund, der dafür spricht: Wir können dieKfz-Steuer durch eine ökologisch orientierte Spreizung,indem wir sie nämlich am CO2-Ausstoß bzw. am Benzin-verbrauch orientieren, auch so einsetzen, dass bestimmteInnovationen stimuliert werden bzw. Sparautos schnellerauf den Markt kommen.
Immerhin ist der Antrag der F.D.P. insofern ein Fort-schritt, als nicht zum wiederholten Male der Ladenhüterder F.D.P., man wolle einen dritten Mehrwertsteuersatzauf Energie einführen, herausgeholt wird. Nach soundsovielen Jahren hat auch die F.D.P. kapiert, dass solche na-tionalen Alleingänge, die wir nicht vorhaben, nichts brin-gen und von der EU-Kommission nicht akzeptiert wür-den.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die PDS-Fraktionspricht jetzt der Kollege Dr. Gregor Gysi.
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Dr. Reinhard Loske10884
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Ich habe eine Redezeit von dreiMinuten. Das ermöglicht es mir, das Problem in seiner ge-samten philosophischen, religiösen, juristischen, ökono-mischen, ökologischen, sozialen, sozial-kulturellen undnicht zuletzt politisch-ideologischen Tiefe zu ergründen.
Ich will Ihnen deshalb sagen: Das Auto ist weder eineSchöpfung Gottes noch eine Erfindung des Satans.
Wir müssen einfach versuchen, mit der berühmten Kircheim Dorf zu bleiben. Deshalb betone ich: Die Ökosteuer,so wie sie angelegt ist, ist falsch. Sie können über die be-stehenden Probleme auch mit entsprechenden Redennicht hinwegtäuschen.
Das erste entscheidende Problem ist und bleibt: Sieverwenden die Einnahmen aus der Ökosteuer nicht fürden ökologischen Umbau.
Sie bringen sich selber in Abhängigkeit, weil Sie damit et-was Notwendiges finanzieren. Sie sind auf diese Finanzenso angewiesen, dass Sie gar nicht hoffen dürfen, dass dieÖkosteuer je wirkt,
weil Sie sonst gar nicht wüssten, woher Sie das Geld neh-men sollten, um die Beiträge zur gesetzlichen Kranken-versicherung stabil zu halten.
Man muss das Geld so verwenden, dass man jedes Jahrweniger dafür verbraucht. Das heißt, dass man im ökolo-gischen Umbau weiter ist.Zweitens. Was die Energiesteuer betrifft, kommen Sieaus der Ungerechtigkeit, dass das industrielle Gewerbegegenüber allen anderen Firmen deutlich bevorzugt wird,nicht heraus.
Ich frage Sie noch einmal: Wer, wenn nicht die Industrie,soll denn Energie sparen?
Dadurch ist klar, dass die ökologische Wirkung gegenNull tendiert.
Sie können den anderen Firmen auch nicht erklären,warum diese den vollen Preis zahlen müssen. Damit ver-wischen Sie auch Marktgesetze.Der dritte Punkt ist, dass die sozial Schwächeren sowiedie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch die ge-samte Ökosteuer ganz deutlich zur Kasse gebeten werden.
Wenn Sie hier immer große Reden halten, wie Sie ihnenmit irgendwelchen Steuergesetzen entgegenkommen, ih-nen das Geld hier aber wieder wegnehmen, dann sinddiese Reden zumindest hinsichtlich der sozialen Gerech-tigkeit nichts wert. Ich sage Ihnen das ganz deutlich.
Sie dürfen doch nicht nur an die Energiesteuer im en-geren Sinne und an die Mineralölsteuer denken. Sie müs-sen auch einmal an die Heizkosten denken. In meineSprechstunde kommen Bürgerinnen und Bürger, die mirnachweisen, dass sie aufgrund dieser Steuer jetzt 800 DMpro Jahr mehr zahlen.
– Ja, sie zahlen allein bei den Heizkosten 800 DM mehr.Wenn Sie dies nicht zur Kenntnis nehmen, ist es Ihr Pro-blem. Aber das sind die Realitäten. Die müssen Sie sicheinmal anschauen.
Jetzt komme ich zum Thema Auto. Dass das Auto einProblem ist, ist doch unbestritten. Ich sage Ihnen auchganz klar: Ja, wir brauchen eine ökologische Steuer. DennUmweltverbrauch muss seinen Preis haben. Das ist ganzklar. Aber diese Steuer brauchen wir nicht. Deshalb stim-men wir Punkt 1 des Antrages der F.D.P. zu. Wir müssendiese Steuer hinsichtlich der Verwendung der Mittel unddes sozialen Ausgleichs völlig anders anlegen.
Ich sage Ihnen noch etwas zum Thema Auto. Darüberkann und muss man ja diskutieren. Das ist ganz klar, undzwar nicht nur wegen der Schadstoffe, sondern auch we-gen der Staus etc. Nur frage ich Sie: Wo und wann habenSie je für eine Alternative gesorgt? Wie sieht es denn imöffentlichen Nah- und Fernverkehr aus?
Gerade durch die Ökosteuer werden Bahn und Bus nochteurer. Gleichzeitig werden die Entfernungen zu den
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Arbeitsplätzen immer weiter. So sieht die heutige Struk-tur aus. Sie sagen den Menschen ja nicht, wie sie zu ihrenArbeitsplätzen kommen sollen. Wissen Sie, das Mottolautet hier: erst laufen, dann noch frieren. Das ist einfachein bisschen viel verlangt und so nicht machbar.
Deshalb sage ich Ihnen: Die Idee der Ökosteuer geht inOrdnung. Aber diese Ökosteuer ist ein völliger Griff da-neben, und zwar in jeder Hinsicht. Deshalb sollten Sie sielieber aufgeben und mit uns eine vernünftige Variante fin-den,
die wirklich ökologisch ist, aber auch sozial gerecht istund dazu führt, dass wir endlich einen öffentlichen Perso-nennah- und -fernverkehr bekommen, der eine Alterna-tive zum Auto ist.
Aber man kann die Menschen nicht ohne Alternative vomAuto wegbringen. Das aber machen Sie. Gleichzeitig er-zählen Sie ihnen, sie müssten bereit sein, 100 Kilometerweit zu fahren, um einen Arbeitsplatz zu finden.Auch Punkt 2 des Antrages geht in Ordnung. Eine Ent-fernungspauschale ist viel besser als eine Kilometerpau-schale.
Stellen Sie sich einmal vor: Drei Leute, die in der gleichenStraße wohnen und 50 Kilometer zu ihren Arbeitsplätzenfahren, zwingen Sie dazu, dass alle drei getrennt mitihrem eigenen Auto fahren, damit sie die Kilometerpau-schale erhalten. Bestünde jedoch eine Entfernungspau-schale, könnten sie sich wenigstens in nur ein Auto setzen.Das würde schon deutlich Benzin sparen. Aber nicht ein-mal dazu sind Sie bereit. Deshalb sage ich: Nein, mit die-ser Ökosteuer werden Sie niemals landen.
So wurden aus drei
Minuten viereinhalb Minuten.
Jetzt hat der Kollege Reinhard Schultz, SPD-Fraktion,
das Wort.
Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Die Ökosteuer ist eigentlich fürjede zweite Sitzungswoche ein schönes Thema – keineFrage. Ich verstehe auch die Absicht, die damit verbundenist, dieses Thema in der Urlaubszeit zu besetzen. Das istaus Ihrer Sicht taktisch völlig in Ordnung, an der Sachenatürlich leider völlig vorbei.Es kam ohne Frage zu erheblichen Benzinpreiser-höhungen, und zwar aufgrund von Marktentwicklungen,einer Verknappung der Rohölproduktion und aufgrund ei-ner Euro-Dollar-Parität, die Importe außerordentlich be-lastet,
unsere Exporte dafür deutlich gefördert hat. Man kannnicht beides – eine Import- und Exportförderung – haben,sondern das eine geht immer zulasten des anderen.Der Anteil der Ökosteuer an den Benzinpreiserhöhun-gen – das ist eben schon dargelegt worden – macht nur ei-nen kleinen Bruchteil aus. Aber wir haben zum Beispielbeim Strompreis ebenfalls eine Ökosteuerkomponente.Aber in diesem Bereich sinken aufgrund der Marktent-wicklung die Preise. Das heißt, die Steuer beeinflusst imGegensatz zu Ihrer Aussage, Herr Kollege Seiffert, nichtunbedingt die Preispolitik derjenigen, die die Energie lie-fern. Dass es andere Faktoren gibt, wird gerade an diesemBeispiel offensichtlich.Schauen wir uns die Benzinpreise in Deutschland an,stellen wir fest, dass wir immer noch im oberen Mittelfeldund nicht etwa ganz oben liegen, da die Benzinpreise ausden geschilderten Gründen auch in anderen Ländern stei-gen. Wenn sich also Ihr berühmter Urlauber mit seinemAuto vom Allgäu abwendet und stattdessen nach Frank-reich fährt, zahlt er 10 Pfennig mehr für den Liter Sprit, inDänemark sogar 20 Pfennig.
– Vielleicht fliegt er auch nach Mallorca; es sei ihmgegönnt. – Aber im europäischen Ausland findet er keine„Billigbenzinoasen“, die er anfahren könnte. In vielenFällen ist das Benzin dort nach wie vor deutlich teurer alsbei uns, im Übrigen auch in Ländern ohne Ökosteuer.Dass bei uns die Preise, auch wenn sie außerordentlichhoch sind, im Vergleich zum europäischen Ausland nocheinigermaßen auf dem Teppich geblieben sind, liegt auchdaran, dass wir hier eine halbwegs vernünftige Wettbe-werbsstruktur haben. Das Tankstellennetz verfügt – Siehaben sich diesem Thema dankenswerter Weise bei ande-rer Gelegenheit zugewandt – dem Umsatzvolumen nachüber 20 Prozent freie Tankstellen. Dadurch wird ohneFrage im Vergleich zu Frankreich, wo es nur ganz wenigeKraftstoffanbieter gibt, die Preisgestaltung korrigiert.Wenn jemand wie Sie, Herr Brüderle, sich jetzt zumwiederholten Male zum Schutzheiligen der Sozialhilfe-empfänger aufschwingt, die mit ihren Dreiliterautos be-sonders unter den Spritpreisen zu leiden haben
– natürlich haben Sie das wiederholt getan –, dann mussman einmal vergleichen, wie sich in Europa die Benzin-preise zu den Arbeitslöhnen verhalten. Wie lange mussein Arbeitnehmer eigentlich arbeiten, um einen Liter Spritbezahlen zu können? In Deutschland sind es gut fünf Mi-nuten, in Großbritannien 6,5 Minuten, in Italien acht Mi-nuten, in Griechenland mehr als neun Minuten und in Por-tugal fast 15 Minuten. Obwohl die Preise völlig unter-schiedlich sind, zeigt sich deutlich, dass die Preise und die
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Dr. Gregor Gysi10886
Einkommen in ein Verhältnis gesetzt werden müssen,wenn man bewerten will, wie sich der Spritpreis auf dassoziale Gefüge auswirkt. Hier können wir uns mit einerArbeitszeit von fünf Minuten im Vergleich mit fast alleneuropäischen Ländern gut sehen lassen. Das ist die ein-zige Kenngröße, die unter sozialen Gesichtspunktenzählt.
Wir haben die Ökosteuer bewusst so angelegt – dabeifolgten wir im Übrigen einer Empfehlung der Europä-ischen Kommission –, dass wir eine Umwidmung errei-chen: weg von der überhohen Belastung des Faktors Ar-beit hin zur Belastung des Naturverbrauchs, ausgedrücktdurch Energieverbrauch. Diese Rechnung ist nach wie vorrichtig. Ginge aufgrund dieses Mechanismus der Energie-verbrauch konsequent zurück – hier gebe ich Ihnen völligRecht –, würde sich irgendwann der Effekt aufheben.Aber unsere Politik ist doch nicht, auf Dauer die Renteüber die Ökosteuer zu finanzieren. Vielmehr geht es da-rum, bestimmte Verwerfungen aufgrund des demographi-schen Altersaufbaus und aufgrund von Altlasten, diemit versicherungsfremden Leistungen zusammenhängen,zum Beispiel die Finanzierung von DDR-Renten oder vonRenten der Menschen, die aus Russland gekommen sindund hier nichts eingezahlt haben, aus Steuermitteln zu fi-nanzieren. Das ist ein endliches Problem. Irgendwannwird der Bedarf an steuerfinanzierten Bestandteilenzurückgehen, sodass die Ökosteuer für andere Aufgabenverwandt werden kann.Der Shell-Konzern stellt dar, dass es in etwa 14, 15 Jah-ren einen riesigen Aha-Effekt geben wird, weil dann dieMineralölvorräte der ganzen Welt zu mehr als der Hälfteverbraucht sein werden. Dann werden Sie einmal sehen,was wir für Preise haben werden. Wenn wir uns vorherauch über die Steuerpolitik nicht darauf einstellen und da-mit initiieren, dass Technologien entwickelt werden, diemit deutlich weniger Energie auskommen, dann werdenwir unser blaues Wunder erleben, was das Thema mo-derne Volkswirtschaft angeht. Dann stolpern wir nämlichin eine Kostenfalle, aus der wir nicht herauskommen wer-den.
Das ist der Sinn, deswegen unterstützen uns aufgeklärteKonzerne bei unserer Politik eines geplanten sanften An-stiegs.Dass im Augenblick Abzockerei eine Rolle spielt, dassdie Mineralölkonzerne, obwohl die Einstandspreise derrohölproduzierenden Länder gesunken sind, noch einendrauflegen, ist nun einmal unmittelbar vor der Ferienzeitein Mitnahmeeffekt, der sehr ärgerlich ist. Das Ganze hatauch etwas mit der Wettbewerbspolitik der großen Kettengegenüber den kleinen freien Tankstellen zu tun. Dem ge-hen wir nach, und das wird auch mit großer politischerAufmerksamkeit verfolgt werden.Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von derF.D.P., haben in Ihrer Kleinen Anfrage, die ich im Übri-gen gut finde – die Antwort darauf ist vom 14. Juni –, fol-gende Eingangsbemerkung gemacht:Mit einem Anteil von ca. 40 Prozent amPrimärenergieverbrauch in Deutschland nimmt dasMineralöl eine Spitzenstellung ein. Die Entwick-lung des Kraftstoffabsatzes ist daher auch in Zu-kunft von hervorragender Bedeutung. Trotz steigen-den Verkehrsaufkommens wird der Verbrauch vonOttokraftstoff durch sparsame Fahrzeuge bis zumJahr 2010 um circa 18 Prozent ... sinken. Diesel-kraftstoff ... .Damit bestätigen Sie, dass es trotz mehr Mobilität Effektegibt, durch die deutlich weniger Primärenergie, sprich:Mineralöl, verbraucht wird.
Ihr wissenschaftlicher Mitarbeiter hat das gut erkannt.Sie in Ihrer Weinfestlaune, Herr Brüderle, haben das nichtgelesen. Das ist das Problem. Ich denke, Ihre eigenen Do-kumente sind das beste Zeugnis dafür, welche Wider-sprüche in Ihren Reihen auszutragen sind.Ich finde es nicht schlecht – ich schließe mich hier aus-drücklich dem Kollegen Loske an –,
wie sich der ADAC in letzter Zeit auf diese Diskussioneinlässt.
Denken Sie bitte auch
an Ihre Redezeit, Herr Kollege.
Ja, Frau Prä-
sidentin. Der ADAC setzt sich mit an die Spitze der Be-
wegung, die fordert, Benzin sparende Automobile, die
auch von den kleinen Leuten zu bezahlen sind, zu ent-
wickeln. Das ist eine wesentliche Forderung, die ich für
richtig halte. Wenn man hier breite politische Lobbyarbeit
betriebe, statt dem Spritverbrauch das Wort zu reden, und
dafür sorgen würde, dass intelligente Technik für jeden
verfügbar ist, dann hätte der ADAC eine Chance, eine
ökologisch ernst genommene Einrichtung zu werden, die
auch vom politischen Umfeld mehr Unterstützung be-
kommen könnte.
Ich bin fest davon überzeugt, dass uns, wenn wir uns in
wenigen Jahren wieder treffen und uns über das unterhal-
ten, was wir an Lenkungswirkungen, an sozialer Absiche-
rung der Rente und an Entlastung des Faktors Arbeit er-
reicht haben, der Rückblick auf zehn Jahre Ökosteuer
Recht geben wird.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aus-sprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlageauf Drucksache 14/3519 an die in der Tagesordnung auf-geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
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Reinhard Schultz
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einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-sung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf:15. a) Zweite und dritte Beratung des von den FraktionenSPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ächtungder Gewalt in der Erziehung– Drucksache 14/1247 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 14/3781 –Berichterstattung:Abgeordnete Margot von RenesseRonald PofallaVolker Beck
Rainer FunkeSabine Jüngerb) Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend zu dem An-trag der Abgeordneten Sabine Jünger, RoselNeuhäuser, Christina Schenk, Dr. Gregor Gysi undder Fraktion der PDSÄchtung der Gewalt in der Erziehung wir-kungsvoll flankieren– Drucksachen 14/2720, 14/3761 –Berichterstattung:Abgeordnete Rolf StöckelIngrid FischbachIrmingard Schewe-GerigkKlaus HauptChristina SchenkNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die KolleginMargot von Renesse, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Vom liebsten Kind des Deut-schen, dem Auto, zum Kind. Es gibt eine gute und eineschlechte Nachricht. Die gute Nachricht: Heute werdenwir endlich das Züchtigungsrecht der Eltern ganz und garaus dem Gesetz vertreiben und damit einem alten Anlie-gen, das alle Kindschaftsrechtler schon seit langem vor-gebracht haben, entsprechen.
Es wäre schön, wenn wir das gemeinsam in diesem Ho-hen Hause beschließen könnten; denn die Botschaft, diedavon ausgeht, ist nicht, dass wir nun mit Knüppeln aufdie Eltern einschlagen, die ihrerseits, oft in ihrer Not, kei-nen anderen Weg wissen, mit Kindern umzugehen, die ih-nen Schwierigkeiten machen, als mit Gewalt. Wir habenstattdessen in der Tat vor, mit Mitteln des Kinder- und Ju-gendhilferechts ihnen dabei behilflich zu sein, andereWege gehen zu lernen.Dies ist etwas, was wir gemeinsam machen müssten,was wir als Botschaft aus diesem Hause in die Weltschicken müssten, damit es die Menschen, die es immernoch für richtig halten, dass man Kindern auch gelegent-lich eine Ohrfeige oder gar eine Tracht Prügel verpasst,damit sie funktionieren, irgendwann nicht mehr gibt. HerrPofalla, dies ist nicht Ihre Meinung; ich weiß das wohl.Umso wichtiger wäre es gewesen, dass wir ein gemeinsa-mes Ja zu diesem Gesetzentwurf aussprechen.
Sie haben Bedenken. Sie hätten es lieber anders. Siehätten es lieber so, wie Sie es in der vergangenen Legis-laturperiode hätten haben können. Damals war das, wasSie jetzt akzeptieren würden, Inhalt unseres Beschluss-vorschlags.Es gibt noch einen Punkt, an dem eine Möglichkeit ver-passt ist. Jetzt ist die Situation total anders.
– Das ist genau das Richtige: Wer zu spät kommt, den be-straft leider das Leben.Wir haben das Problem, dass wir diese Botschaft nichtan alle Eltern gleichermaßen richten können; nicht etwa,dass sie ihren Kindern keine Grenzen setzen, nicht etwa,dass sie strafbarer werden als strafbar. Dies war auchschon in der letzten Legislaturperiode nicht unser Ziel.Um die Strafbarkeit der Eltern ist es uns nie gegangen.Dies sind Kanonen, die man auf Menschen richtet, die ei-gentlich Hilfe brauchen. Dies war nie unser Ziel. Strafba-rer als strafbar geht es nicht. Insofern kann man hier wirk-lich sagen: Es geht nicht darum, dass die Familien mehrmit der Staatsanwaltschaft oder dem Strafrecht konfron-tiert werden. Darin sind wir uns einig. Leider gibt es dazunicht das gemeinsame Ja. Es wäre schön gewesen.In diesem Gesetzentwurf ist noch ein zweiter Punktenthalten, der zur Folge hat, dass wir dazu nicht gemein-sam Ja sagen können. Es wäre gut gewesen, wenn wirgemeinsam an einem Unterhaltsrecht hätten arbeitenkönnen, das dann so sein wird, wie es sein soll, wenn wirdieses Flickwerk, diesen gordischen Knoten, diesenScherbenhaufen von Unterhaltsrecht angehen, den wirheute nur mit einem ersten Schritt verändern können.
Denn das, was Sie uns hinterlassen haben, ist grauenhaft.
– Herr Geis, kein Mensch, der eine Unterhaltsverpflich-tung hat, kann mehr durch den Blick ins Gesetz et-was über die schlichteste Verpflichtung erfahren, die einMensch überhaupt hat, nämlich die Verantwortung ge-genüber seinem Kind. Wir haben inzwischen ein Hexen-
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Vizepräsidentin Anke Fuchs10888
einmaleins, das nur noch Fachleute durchschauen kön-nen.
Das Einfachste vom Einfachen, dass ein Vater und eineMutter ihrem Kind Unterhalt schulden, ist nur noch eineSache für Experten. Das Unterhaltsrecht ist wie ein Fahr-radschlauch, der hundertmal geflickt worden ist und beidem inzwischen die Flicken geflickt werden. Die Arbeit,hieraus wieder ein Ganzes zu machen, bei dem alles zu-sammenpasst, ist in wenigen Wochen oder Monaten nichtzu leisten. Hier muss eine saubere und intensive Arbeit ge-leistet werden, um zu einem tragbaren Ergebnis zu kom-men, das keine Bitterkeiten hinterlässt, weil niemandmehr versteht, warum das Ganze im Ergebnis gerecht seinsoll.Schauen Sie sich einmal die Rechenprogramme derAnwälte und das an, was die Familienrichter – mituntersogar mit unterschiedlicher Rechtsprechung – überall indiesem Land entscheiden. Dann fragen Sie sich, ob Sieder Verantwortung für das Familienrecht in diesem Landin den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit gerecht gewordensind. Hier werden wir viel Geröll wegräumen müssen, dasSie uns hinterlassen haben.
Jetzt machen wir in der Tat nur einen ersten Schritt. ImAugenblick ist es so, dass eine allein erziehende Mutterdann, wenn sie Kindergeld und die Nettounterhaltszah-lung des Vaters des Kindes bekommt, gerade so viel hatwie das steuerrechtliche Existenzminimum, das das tat-sächliche Existenzminimum nicht erreicht. Die Halbtei-lung ist eine Theorie, die auf dem Papier steht. Sie ent-spricht nicht der Realität. Das Ergebnis ist, dass Vater undMutter einander hassen, weil die Mutter sagt: „Er zahltnicht genug“ – sie schaut in den Kühlschrank und stelltfest, dass es nicht reicht –, und der Vater in die Tabelleschaut und sagt: Sie frisst mir die Haare vom Kopf.Wir haben einen Anfang gemacht. Dies ist aber nichtgenug. Es muss weitergehen und das werden wir tun.Vielen Dank.
Ich erteile nun der
Kollegin Ingrid Fischbach, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Frau von Renesse, ich bin etwas enttäuscht. Ich kannverstehen, dass Sie darüber enttäuscht sind, dass wir nichtzustimmen, aber dass der Ton dann so wurde, hat michenttäuscht. Bisher haben wir immer sehr gut miteinandergeredet.
Dies fand ich etwas überzogen. Das musste ich jetzt los-werden.
Kinder sind vor Gewalt zu schützen. Darin sind wir unsalle einig. Wir alle haben zum Wohle des Kindes Sorge zutragen. Zum Wohle des Kindes gehören – auch da sind wiruns alle einig – seine körperliche und seelische Unver-sehrtheit. Kinder, die in ihrer Kindheit Gewalt seitens ih-rer Eltern erfahren haben, sind eher bereit, später selbstGewalt anzuwenden. Studien belegen: Je häufiger bzw.intensiver befragte Jugendliche in ihrer Kindheit Gewaltseitens ihrer Eltern erfahren haben, desto positiver be-werten sie selbst die Anwendung von Gewalt. Es gilt die-sen Kreislauf zu durchbrechen. Die Frage ist aber, wie wirdiesem Anliegen näher kommen können. Reicht der heutehier vorliegende Gesetzentwurf?In der ersten Lesung des vorliegenden Gesetzentwurfshabe ich für die CDU/CSU-Fraktion einige Fragen ange-sprochen. Wir haben uns geeinigt, diese Fragen in einerSachverständigenanhörung beantworten zu lassen. Einigesind auch beantwortet worden. Ich möchte jetzt nicht alleProblemfelder wieder aufreißen; aber lassen Sie mich aufzwei Aspekte eingehen: zum einen auf den Gewaltbegriffund zum anderen auf die Justiziabilität des Rechtsan-spruchs.In der Anhörung ist klar geworden, wie schwer es ist,den Begriff Gewalt zu definieren, vor allem die psychi-sche Gewalt. Ich denke an psychische Misshandlungenund auch an Kindesvernachlässigung. Hier fällt eine deut-liche Abgrenzung schwer; auch die Zuordnung ist kaumnachvollziehbar.Es muss aber auch ein Unterschied zwischen der Ge-walt allgemein und der Gewalt im Verhältnis zwischen El-tern und Kindern gemacht werden. Mit dem Gewaltbe-griff aus dem Strafrecht können wir nicht automatisch dieBeziehung zwischen Eltern und Kindern erfassen. MussGewalt hier nicht anders definiert werden als im Straf-recht? Oder muss das Gesetz in § 1626 des BürgerlichenGesetzbuches angesiedelt und somit in den gesamten Pro-zess der Gestaltung des elterlichen Sorgerechts einbezo-gen werden? Dieses Problem ist meines Erachtens mitdem heute vorliegenden Gesetzentwurf noch nicht zu-friedenstellend gelöst.Nun komme ich zu dem Aspekt der Justiziabilität. Invielen Veranstaltungen mit Kindern und Jugendlichen binich gefragt worden: Welche Möglichkeiten haben Kindereigentlich, sich auf dieses Recht zu berufen, dieses Rechtdurchzusetzen? Auch hier war die Antwort der Sachver-ständigen eindeutig und klar: Keine. Es gibt für Kinderkeine Möglichkeit, den Anspruch auf gewaltfreie Erzie-hung durchzusetzen. Das Recht hat lediglich Appellcha-rakter.Ich persönlich meine, dass dieser Appellcharakter auchin der Formulierung des Bundesrates deutlich wird: „Kin-der sind gewaltfrei zu erziehen.“ Ich empfinde diese
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Margot von Renesse10889
Formulierung den Kindern und Jugendlichen gegenüberehrlicher.
– Ja, wir lernen ja auch dazu, Frau Kollegin. Sie könnenIhrem Anspruch – das war Ihre Formulierung – jetzt auchnicht mehr zustimmen. Vor drei Jahren war das noch an-ders. Es gab also auch bei Ihnen einen Sinneswandel. Daskann schon mal passieren.Wir sollten unsere Kinder und Jugendlichen ernst neh-men. Die CDU/CSU-Fraktion hat in den Beratungen ver-sucht zu erreichen, dass sich alle Fraktionen – auch uns,Frau Kollegin, wäre es lieb gewesen, wir hätten uns ei-nigen können – auf die Formulierung des Bundesrates ei-nigen: „Kinder sind gewaltfrei zu erziehen.“ Das war abernicht möglich. Ich persönlich bedauere das sehr.Da aber auch meine Fraktion die Bedeutung dieses Ge-setzentwurfes in Bezug auf die gewaltfreie Erziehungsieht, die Chance für Kinder anerkennt, den Bewusstseins-prozess von Erwachsenen, Kindern und Jugendlichenweiterzubringen, das heißt, deutlich zu machen, dass wirals Gesellschaft jede Form von erzieherischer Gewalt ge-gen Kinder ablehnen, haben wir Ihren Vorschlag im Aus-schuss nicht abgelehnt. Zustimmen konnten wir nicht; ichhabe gerade deutlich gemacht, warum. Wir haben uns ent-halten. Allerdings gilt diese Enthaltung nur für den Teildes Gesetzentwurfs, der die Ächtung der Gewalt in der Er-ziehung behandelt. Wir unterstützen damit den Appell,deutlich zu machen, dass jede Gewalt verkehrt ist.Aber wir alle sind uns einig, dass dieses Gesetzes-vorhaben allein nicht ausreicht. Vielfältige flankierendeMaßnahmen werden nötig sein, eine breite öffentlicheDiskussion über einen umfassenden gesellschaftlichenKonsens in der Frage der Ächtung der Gewalt in der Er-ziehung zu erreichen.Hier sind konkrete Maßnahmen erforderlich wie einebreit angelegte Informationskampagne, die das Gesetzbekannt macht. Daneben gilt es, Aufklärungsarbeit zuleisten. Wir müssen Eltern und Kindern in Konflikt- undKrisensituationen Wege und Hilfen aufzeigen, wie siezukünftig Konflikte ohne Gewaltanwendung bewältigenkönnen. Deshalb sind unterstützende Regelungen unver-zichtbar.Es gilt, Bewusstsein zu verändern. Eine veränderte Ein-stellung und ein verändertes Verhalten bei Eltern müssenwachsen und Unterstützung erhalten. Es kann nicht nurper Gesetz verordnet werden.Danke.
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen.
FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Per Gesetzkönnen wir sicherlich nicht alles bestimmen, aber wirkönnen per Gesetz Rahmenbedingungen setzen. Das zutun ist auch unsere Aufgabe.Wir reden heute über einen Gesetzentwurf, der auszwei Bestandteilen besteht. Beide sind Meilensteine inder Rechtsgeschichte. Beide sind für uns Grüne schon seitlangem wichtige Herzensanliegen.Es geht um die Verbesserung des Unterhaltsrechts.Die Entwicklung der Unterhaltssätze wird künftig an dasverfügbare Einkommen gekoppelt. Die Hälfte des Kin-dergeldes erhalten Unterhaltzahlende in Zukunft nur,wenn sie mehr als das Barexistenzminimum der Kinderaufbringen, nämlich 135 Prozent. Das hört sich zwar ersteinmal nur formal an. In der Praxis heißt es aber, dassEinelternfamilien nicht mehr sozialhilfeabhängig werden,nur weil der Unterhaltszahler die Hälfte des Kindergeldeserhält und das Kindergeld nicht bei den Familien an-kommt. Das ist ein wichtiger Teil sozialer Gerechtigkeitfür Kinder.
Das ist die Fortsetzung einer Reihe von familienfreundli-chen Maßnahmen im Hinblick auf die Familien- undSteuerpolitik. Denn für uns ist Familie dort, wo Kindersind.
Ein besonderer Grund zu feiern ist der Hauptteil desGesetzes. Das ist das Recht auf gewaltfreie Erziehung.Wir wollen damit signalisieren, dass Deutschland ein kin-derfreundliches Land wird. Wir wollen nicht die Elternkriminalisieren. Wir setzen auf Hilfe vor Strafe. DasRecht von Kindern auf gewaltfreie Erziehung führt nach-weislich nicht zu mehr Unfrieden in den Familien. Ganzim Gegenteil: Es verbessert die Sensibilität füreinander,es steigert die Bereitschaft, Konflikte nicht eskalieren zulassen, sondern frühzeitig Unterstützung zu suchen. Esstärkt die Familien, hilft unseren Kindern und stärkt sie.Wir wollen ja starke Kinder in der Gesellschaft. In denskandinavischen Staaten ist die Gewalt gegen Kinder umbis zu zwei Drittel zurückgegangen. Eine solche Ent-wicklung wünsche ich mir auch hier in Deutschland.
Dieses Gesetz überzeugt auch die Skeptiker. Als dasRecht auf gewaltfreie Erziehung vor 20 Jahren in Schwe-den eingeführt wurde, waren zunächst einmal 70 Prozentder Bevölkerung dagegen. Heute sind 90 Prozent dafür.Weniger Gewalt gegen Kinder heißt auch weniger Ge-walt in der Gesellschaft. Eine der größten deutschen Stu-dien zeigt: Es gibt viele Ursachen für eine Fehlentwick-lung und Störung bei Kindern. Aber nur wenn Kinder Op-fer von Gewalt waren, werden sie auch später gewalttätig.Das wurde uns auch von den Experten in den Anhörungenbestätigt.Gewaltfreie Erziehung ist demnach nicht nur eineForm der Erziehung. Sie ist auch vorbeugende Kriminal-politik. Volkswirtschaftlich gesprochen ist gewaltfreie Er-
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Ingrid Fischbach10890
ziehung eine Investition in die Zukunft unserer Gesell-schaft, in eine friedliche und demokratische Zukunft.Dafür möchte ich noch einen weiteren Beleg anführen,nämlich eine Studie, die aus den USA stammt. Von Pro-fessor Pfeiffer wird häufig eine renommierte Untersu-chung zitiert, die sich auf die Situation im Dritten Reichbezieht. Es geht dabei um Personen, die Juden geholfenhaben, indem sie sie versteckt oder ihnen zur Flucht ver-holfen haben. Das waren ganz unterschiedliche Leute.Nur ein Merkmal teilen all diese unterschiedlichen Men-schen: Das war die gewaltfreie Erziehung, das war dieForm der Kommunikation, die sie in den Familien mitbe-kommen haben. Es waren in der Tat die Erfahrungen in ih-rer Kindheit, die sie dazu gebracht haben, später den auf-rechten Gang zu wählen und sich diesen Problemen zustellen.Wenn wir über rechtsextreme Jugendliche im Ostenoder in anderen Teilen Deutschlands reden, wenn wir vonder Gewalt durch Kinder reden, ist dies ein wichtiger Tat-bestand.Mit diesem neuen Gesetz geht in der Tat eine Bewusst-seinsfindung einher. Frau Fischbach, wenn Sie wissenwollen, was wir mit diesem Gesetzentwurf erreichen wol-len: Wir wollen die Gewalt gesellschaftlich ächten unddarüber debattieren, wie wir das erreichen können. Wirwollen die Lücke zwischen der Strafbarkeit und demWegschauen füllen und darüber eine Bewusstseinsbil-dung in der Gesellschaft herbeiführen. Wir sagen: Jedekörperliche und seelische Gewalt gegen Kinder ist rechts-widrig, und zwar auch dann, wenn versucht wird, dieseerzieherisch zu rechtfertigen. Für Gewalt gibt es keineRechtfertigung.
Für uns kommt es in diesem Bereich auf das Erlebender Kinder an; ihre Gefühle und Rechte zählen für uns.Natürlich muss dieses Recht durch eine Aufklärungsar-beit begleitet werden. Die Bundesregierung geht diesesProblem bereits an und das Bundesministerium für Fami-lie, Senioren, Frauen und Jugend hat dazu eine Kampagnegestartet.Lassen Sie mich zum Schluss noch auf diejenigen Be-zug nehmen, für die unser Gesetz hauptsächlich gemachtist, nämlich auf die Kinder und Jugendlichen. Im vergan-genen Jahr haben sich über 108 000 Kinder und Jugendli-che an der ersten deutschen Kinderrechtswahl beteiligt.Sie wurden gefragt, welche Rechte sie für die wichtigstenhalten und welche Kinderrechte aus ihrer Sicht am mei-sten verletzt werden. Auf Platz eins landete jeweils dasRecht auf gewaltfreie Erziehung. Deshalb mein Appellauch an alle Skeptiker: Lassen Sie uns mit diesem Gesetzden Kindern eine Stimme geben.Meinen letzten Satz möchte ich an die Kinder richten:Liebe Kinder, dieses Kinder-nicht-Schlagen-Gesetz isteuer Gesetz und das werden wir hier gemeinsam durch-setzen.
Das Wort hat nun der
Kollege Klaus Haupt, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine liebenKolleginnen und Kollegen! Meine Vorrednerin hat ebenzum Schluss ihrer Rede die UN-Kinderrechtskonventionund damit im Zusammenhang die deutschlandweite Kin-derrechtswahl angeführt. Ich hatte das als Einstieg mei-ner Rede geplant. Es ist schon beachtlich: 43 Prozent derKinder haben das Recht auf gewaltfreie Erziehung als daswichtigste Kinderrecht in Deutschland formuliert.
Kinder fühlen sich in ihrer Würde verletzt, wenn sieGewalt in der Erziehung erfahren. Wir sollten uns bewusstwerden, dass noch im 19. Jahrhundert die Gewalt desHausherrn auch gegen Erwachsene in seiner Familie legalwar und dass es noch im 20. Jahrhundert an den Schulendie Prügelstrafe gab. Beides erscheint uns heute undenk-bar.Heute ist die Zeit reif, Gewalt in der Erziehung kom-plett zu ächten und unseren Kindern das Recht auf Ge-waltfreiheit zu garantieren.
Mit diesem Gesetz wird ein Signal dafür gegeben, dassErziehung und Gewalt nicht zusammengehören. Die Zeitist reif, das Verhältnis der Generationen zueinander neu zudenken. Die Würde von Kindern und Erwachsenen istgleichwertig. Dem Schutz ihrer Persönlichkeit ist glei-chermaßen Rechnung zu tragen. Kinder sind nicht Ob-jekte, sondern Subjekte. Sie sind eigene Persönlichkeitenund Träger von Rechten und Pflichten, die wir Erwach-sene ernst nehmen müssen.Dieses Gesetz hat eine klare Leitbildfunktion. Es wirdkein Erziehungsstil in der Erziehung vorgeschrieben, aberein Leitbild von Gewaltfreiheit vorgestellt, das die Würdedes Kindes in den Mittelpunkt stellt.
Kinder sind gegenüber jeder Gewalt, die ihnen ange-tan wird, wehrlos. Gewalt hat gravierende Folgen für diePersönlichkeitsentwicklung von Kindern. Seelische Ver-letzungen und körperliche Strafen beeinträchtigen dasSelbstbewusstsein des Kindes, erhöhen die Aggressivität,behindern das Einfühlungsvermögen und die Gewissens-bildung. Sie hinterlassen seelische und soziale Verletzun-gen, die die Entwicklung des Kindes beeinträchtigen.Deshalb muss die gesellschaftliche Norm klar sein: Ge-walt ist kein Erziehungsmittel.
Denn die Erfahrung von Gewalt wird weitergegeben. Diesführt zu einem Teufelskreis, in dem die Würde der jungenMenschen mit Füßen getreten wird.Der verhängnisvolle Kreislauf von erfahrener Gewaltund weitergegebener Gewalt muss durchbrochen werden.
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Ekin Deligöz10891
Wir alle wissen aber auch, dass sich mit keinem noch sowohl ausformulierten Gesetzestext eine Veränderung inder Einstellung, in dem Handeln der Eltern verordnenlässt. Es ist richtig, Frau Fischbach: Das muss wachsen.Deshalb sind flankierende Maßnahmen fast noch wichti-ger als das Gesetz selbst. Zunächst gilt es, mit einer in-telligenten, groß angelegten Informationskampagnebreite Bevölkerungsschichten mit der Botschaft zu errei-chen. Es ist aber auch wichtig, dass mit der Änderung desSGB VIII Jugendämter zur Hilfeleistung für Eltern undKinder zur gewaltfreien Konfliktlösung ermächtigt wer-den. Kinder- und Jugendhilfe, Polizei, Justiz, Psychiatrieund Schule können wesentliche Unterstützung leistenund müssen dafür ausgestattet sein.Die Deutschen geben jährlich 1,5 Milliarden DM fürErziehungsliteratur aus. Es gibt also einen großen Infor-mationsbedarf. Viele Eltern fühlen sich überfordert. DieVerunsicherung ist groß. Wie können Kindern Grenzengesetzt werden? Welche Möglichkeiten haben Eltern beiKonflikten? Oft resultiert ja Gewalt in der Erziehung ausdieser Hilflosigkeit. Hilfe statt Strafe muss das Mottosein, noch bevor es zum Konflikt kommt, noch vor derEskalation.Das Thema dieses Gesetzes ist lange öffentlich disku-tiert worden. Oft war es eine überzogene Debatte, vonheftigen emotionalen Auseinandersetzungen begleitet.Die Angst, der Staatsanwalt wäre in Zukunft im Kinder-zimmer häufiger gefragt als der Sozialarbeiter, ist völligunbegründet. Eine Kriminalisierung der Eltern ist ausge-schlossen. Die Änderung des BGB verschafft Kindern be-wusst keine unmittelbare Anspruchsgrundlage, sondernsteckt den konzeptionellen Rahmen der Erziehung zu-gunsten der Kinder ab. Insofern hoffe ich, dass die heutigeDebatte auch zur Versachlichung der Diskussion beiträgt.Die Frage nach dem Verhältnis von Familie, Erziehungund Staat trifft einen Kernbereich freiheitlich-demokra-tischer Grundordnung. Manche sehen in der öffentli-chen Diskussion zur gewaltfreien Erziehung Risiken undGefahren. Ich sehe die Chance, grundlegende Werte un-serer freiheitlich-demokratischen Grundordnung in derErziehung ins öffentliche Bewusstsein zu rücken.
Ich sehe die Chance, einer kinderfreundlichen und fami-lienfreundlicheren Gesellschaft und einer neuen Kulturdes Aufwachsens, wie sie der Zehnte Kinder- und Ju-gendbericht gefordert hat, den Weg zu bahnen.
Meine Damen und Herren, das ist eine reizvolle Her-ausforderung im neuen Jahrtausend, für die sich jedeMühe lohnt.Danke.
Nun erteile ich der
Kollegin Sabine Jünger, PDS-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Da ich weder über die Fähigkeit desKollegen Gysi verfüge, alle Seiten einer Medaille in kur-zer Zeit zu erläutern, noch aus meinen vier Minuten sechs-einhalb Minuten machen will, will ich nur einen Satz zumKindesunterhalt sagen, der einen Teil des Gesetzent-wurfes der Bundesregierung darstellt. Wir werden demTeil über den Kindesunterhalt zustimmen, auch wenn wirdabei Bauchschmerzen haben. Denn dies ist ein Schritt indie richtige Richtung, dem auch wir uns nicht ver-schließen werden.Der zweite Teil, dem ich die größere Aufmerksamkeitwidmen werde, betrifft die klare Normsetzung, die mitdem Verbot der elterlichen Gewaltausübung endlicherreicht wird. Wir begrüßen dies nachdrücklich. Ich hoffenoch immer – das sage ich ganz ehrlich –, wir sind uns allein diesem Hohen Hause darüber einig, dass weder kör-perliche noch seelische und auch nicht emotionale Gewaltgegen Kinder und Jugendliche geeignete Erziehungsmaß-nahmen sind und dass all diese Maßnahmen das Men-schenrecht auf Unverletzlichkeit der Würde von Kindernund Jugendlichen verletzen. Deshalb sind wir der Mei-nung – ich hoffe wirklich, dass wir alle dieser Meinungsind –, dass Kinder und Jugendliche ein Recht auf ge-waltfreie Erziehung haben.
Wir werden heute – auch davon war schon die Rede –ein Leitbild schaffen und für die notwendige Rechtssi-cherheit sorgen. Ich denke – darüber bin ich mir mit mei-ner Fraktion im Klaren –, dass ein Leitbild allein natürlichnicht reicht. Der Kollege Haupt hat es eben angesprochen:Eine normative Änderung ist zwar ein Schritt in die rich-tige Richtung. Er muss aber durch verschiedenste Maß-nahmen flankiert werden. Darüber ist schon viel geredetworden.Wir haben einen eigenen Antrag in den DeutschenBundestag eingebracht, der heute auch zur Abstimmungsteht. Ich möchte kurz auf seine wesentlichsten Punkteeingehen, weil ein Leitbild und eine Normsetzung wich-tig sind.Wir müssen Kindern und Jugendlichen Rechte einräu-men und ihre Stellung gegenüber den Sorgeberechtigten,gegenüber den Institutionen der Jugendhilfe und in fami-liären Auseinandersetzungen stärken. Dazu gehört fürmich ein effektiverer Schutz von Kindern und Jugendli-chen und auch lebensweltliche Hilfestellung. Kinder undJugendliche brauchen eigene Rechte. Sie brauchen einRecht auf Entwicklung und Entfaltung ihrer Persönlich-keit. Dazu gehört für mich auch eine Demokratisierungder Jugendhilfe. Kinder und Jugendliche müssen auchgegenüber dem Jugendamt eigene Rechte haben. Für unsgehört auch dazu, dass Kindern und Jugendlichen eineAnspruchsinhaberschaft auf Hilfen nach § 27 bis § 35SGB VIII Anspruch auf Hilfe eingeräumt wird. Man mussauch einen freiwilligen Zugang zur Inobhutnahme schaf-
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Klaus Haupt10892
fen und ihn erleichtern. Dazu gehört für uns auch ein ei-genständiges Aufenthaltsbestimmungsrecht ab 12 Jahren
– lassen Sie mich diesen Satz zu Ende bringen, Frau vonRenesse –, mit Unterstützung der Jugendhilfe. Dazugehört für uns auch, dass man betreute Wohnformen fürJugendliche unterstützt. Ab 16 Jahren sollten sie eine ei-gene Wohnung anmieten können.Das Kinder- und Jugendhilfegesetz muss endlich Vor-rang vor ausländerrechtlichen Bestimmungen haben.Dazu gehört natürlich eine breite Aufklärungskampagne.Darüber ist schon viel geredet worden und darüber wirdsicherlich auch noch viel geredet werden. Man muss dafürsorgen, dass jedes Kind, jeder Jugendliche, aber auch je-des Elternteil wissen, dass wir heute – zu dieser nichtmehr ganz frühen Stunde – das vorliegende Gesetz verab-schiedet haben, und dass jeder den Inhalt des Gesetzeskennt.Wichtig sind auch der Ausbau von Prävention und In-tervention sowie ein flächendeckendes Netz von Kinder-und Jugendschutzzentren. Dazu gehört, dass man Fami-lien bei ihren Erziehungsaufgaben unterstützt und dassman Formen gewaltfreier Konfliktlösung vermittelt.Dazu gehört auch, dass man endlich die Prävention stattdie Folgekosten der Gewalt finanziert. Dafür werden wiruns auch weiterhin einsetzen.In diesem Sinne hoffe ich, dass das Gesetz ein Schrittin die richtige Richtung ist und dass die Gewalt gegenKinder und Jugendliche deutlich zurückgeht.Danke schön.
Das Wort hat nun der
Kollege Rolf Stöckel, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Ich hätte mich am Anfang meiner Rede auchgerne an die Kinder gewandt. Aber um 21.44 Uhr sind –hoffentlich – die meisten Kinder im Bett und schlafen.Das, was die Kollegin Deligöz gesagt hat, nämlich dasswir heute ein Kinder-nicht-Schlagen-Gesetz verabschie-den, ist tatsächlich eine gute Botschaft für die Kinder inunserem Land.
Ich möchte aber auch aufgrund eigener Erfahrung andie Adresse der Väter und Mütter sagen: Es gibt bei derErziehung von Kindern – das ist klar – immer wieder Si-tuationen der Überforderung. Deswegen geht es uns nichtum Strafverfolgung und Kriminalisierung. Es gibt beste-hende Vorschriften, über die wir mit dem vorliegendenGesetz nicht hinausgehen.Frau Fischbach, seit den Sonntagsreden im Internatio-nalen Jahr des Kindes 1979 ist es nicht gelungen – auchnicht in der letzten Wahlperiode, als wir eine Vorlage mitder genauen Formulierung Ihres Vorschlags hier einge-bracht haben –, das Recht der Kinder auf eine gewaltfreieErziehung in eine Reform des Kindschaftsrechts einzu-binden.
Das lag wohl in erster Linie daran, dass die CDU/CSU im-mer wieder das Gespenst der Kriminalisierung der Fami-lie an die Wand gemalt hat.
Sie stehen mitten im Leben – ich weiß das, Herr Geis –;aber ich frage mich, in welchem Jahrhundert.
Der Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen liegt aufeiner Linie mit der Entschließung des Bundestages zumZehnten Kinder- und Jugendbericht. Hierin ist auch dieStellungnahme der alten Bundesregierung zur gewalt-freien Erziehung eindeutig. Lesen Sie es nach! Nicht dieoft übertriebene öffentliche Debatte über die Gewalt, dievon Kindern und Jugendlichen ausgeht, sondern die De-batte über die Gewalt gegen Kinder und Jugendlicheund vor allen Dingen die Ächtung und der Abbau dieserGewalt stehen heute im Mittelpunkt.
Wenn es Erwachsenen mit der Bekämpfung von Ju-gendkriminalität Ernst ist, dann müssen sie Vorbild sein,Regeln aufstellen und Grenzen setzen. Erziehen: ja, aberdas Schlagen muss endlich ein Tabu werden.
Alle Kinderorganisationen in Deutschland fordern dasseit Jahrzehnten: der Kinderschutzbund mit Aktionen wie„Kinder brauchen Liebe, keine Hiebe“, die „National Co-alition“ ebenso wie das Aktionsbündnis für Kinderrechte.Ich bin stolz, dass diese Regierungskoalition und dieMehrheit in diesem Hause – Herr Haupt, wir sind Ihnenfür Ihre Rede sehr dankbar – endlich das Versprechen er-füllen, unser Land kinderfreundlicher zu machen. Wirwerden der Einlösung dieses Versprechens heute ein we-sentliches Stück näher kommen.
Ich finde es schade, dass der Bundestag dieses Zeichenheute nicht einstimmig setzt.Wir wissen, dass heute noch immer rund 57 Prozentaller Eltern in Deutschland ihre Kinder mit Ohrfeigenoder Schlimmerem bestrafen.
Wir wissen, dass Kinder, die Gewalt erleiden oder Gewaltzwischen den Eltern miterleben müssen, später zwei- bis
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Sabine Jünger10893
dreimal so oft wie Kinder ohne solche Erfahrungen selbstzu Gewalttätern werden. Wir wollen diesen Teufelskreisdurchbrechen.Heute vollzieht der Bundestag wahrlich eine weiterehistorische Zäsur im bürgerlichen Recht, die dem Leitbildeiner zivilisierten und demokratischen Gesellschaftentspricht. Das ist das Gegenteil der Zucht von einge-schüchterten Untertanen und Befehlsempfängern.Die Kritiker sagen – das wissen wir –, das Gesetz seiein Papiertiger. Kinder, die erstmals neben dem Erzie-hungsrecht der Eltern nicht nur Schutz vor schwerer Miss-handlung, sondern auch ein eigenes Recht auf gewaltfreieErziehung bekommen, können nicht gegen den Klaps derEltern klagen. Aber sie können erfahren, dass es Unrechtist, sie zu schlagen, egal aus welchem Anlass. Es geht unsum Grundwerte, um Orientierung, um eine Konsequenz,die eine bedeutsame Leitbildfunktion für zukünftiges po-litisches, aber auch gesellschaftliches Handeln habenwird.Ohne zu pauschalisieren, möchte ich auch diejenigenEltern ansprechen, die eingewandert sind und die auf-grund kultureller Traditionen Gewalt in der Familie fürselbstverständlich halten. Man muss klar sagen: DieseTraditionen sind mit den Grundrechten unvereinbar.Wenn die Politik das verschweigt, dann ist das schlichtunglaubwürdig.Statt Kriminalisierung wollen wir Hilfen für die be-troffenen Kinder und Eltern. Dazu gehören erreichbareund aufsuchbare Hilfen, wie Nottelefone und Beratungs-einrichtungen. Aber auch die sozialen Rahmenbedingun-gen für gewaltfreie Erziehung in den Familien müsseninsgesamt verbessert werden. Durch die Ergänzung desSGB VIII im Kinder- und Jugendhilfegesetz sollen nied-rigschwellige und wirksame Hilfsangebote für Eltern ge-schaffen werden.Wir wissen, dass wir damit der kommunalen Ebeneund den Trägern der Jugend- und Familienhilfe eine wei-tere große Verantwortung übertragen; aber es wird sichlohnen. Wie viel Leiden, Gewalt und soziale Folgelastenkönnen durch zusätzliche Anstrengungen und Zusam-menarbeit präventiv verhindert werden? Wie viel Lebens-qualität und sozialer Frieden können dadurch gewonnenwerden?Das wird nur gelingen, wenn wir es schaffen, dass die-ses neue Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung inaller Munde ist, breite öffentliche Auseinandersetzungenprovoziert und nicht nur Eltern, Jugendämter und Pädago-gen anregt. Wir begrüßen daher ausdrücklich, dass dieBundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju-gend und auch die Bundesministerin der Justiz eine breitangelegte Kampagne zur gewaltfreien Erziehung vorbe-reitet haben, die in Kürze anläuft. Sie besteht aus einemmultimedialen Dach und aus Information, Fundierungdurch Praxisobjekte und Vor-Ort-Aktionen im ganzenLand.
Herr Kollege, denken
Sie an Ihre Redezeit.
Ich komme zum Schluss. – Das
Konzept ist stimmig. Darum lehnen wir im Übrigen auch
den viel zu allgemeinen PDS-Antrag ab.
Wir alle können etwas tun, das Notwendige möglich zu
machen, nicht nur, indem wir mehr Zivilcourage zeigen
und nicht wegschauen, wenn zum Beispiel Stresssituatio-
nen an der „Quengelkasse“ des Supermarktes eskalieren,
sondern wir können auch in den Wahlkreisen dafür wer-
ben.
Wir fordern mehr Respekt für Kinder. Machen Sie mit!
Schaffen wir ein breites Bündnis für Kinderrechte. Es
liegt in unserer Hand, das neue Jahrhundert zum Jahrhun-
dert der Kinder zu machen.
Herzlichen Dank.
Jetzt hat das Wort der
Kollege Ronald Pofalla, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Bei mancher Rede, die hiergehalten wurde, musste man den Eindruck gewinnen, alsob heute tatsächlich ein ganz besonderer historischer Tag
– lassen Sie das doch einmal – sei, weil eine Regelung ge-troffen wird, die längst ins Gesetz gehört hätte.Eines bedaure ich dabei – das möchte ich gleich an denAnfang meiner Rede stellen –: In der vergangenen Wahl-periode haben wir bei anderen Mehrheitsverhältnissengrößten Wert darauf gelegt, große Reformen –Kindschaftsrechtsreformgesetz, Kindesunterhaltsgesetz,erbrechtliche Regelungen, Namensrecht – weitestgehendeinvernehmlich zu verabschieden. Auf diese Feststellunglege ich deshalb großen Wert, weil uns das alle gemein-sam sehr viel Mühe gekostet hat. Wir haben über MonateBerichterstattergespräche geführt und haben am Schlussweitestgehend Einvernehmen zwischen allen Fraktionenhergestellt. Ich bedaure sehr – ich werde gleich versuchen,das zu erklären –, dass dieses beim jetzt vorliegenden Ge-setz nicht möglich gewesen ist.In diesem Zusammenhang nehme ich die sozialdemo-kratische Bundestagsfraktion ausdrücklich aus, weil mitden Sozialdemokraten, vertreten durch Frau von Renesse,aber auch durch den Staatssekretär Pick, am Anfang sehrernsthafte Gespräche geführt wurden, um auch hier zu ei-ner einvernehmlichen Lösung zu kommen. Für diese Ge-spräche will ich mich ausdrücklich bedanken.Dann ist etwas innerhalb der Koalition passiert: Nach-dem schon auf Veränderungen zum bestehenden Gesetz-entwurf eingegangen worden war, sollten auf einmal
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Rolf Stöckel10894
Dinge, die schon angedacht waren, so nicht mehr umge-setzt werden. Jetzt liegt ein Gesetzentwurf vor, der in derTat im Detail erhebliche Mängel aufweist, die wir im Er-gebnis für so umfassend halten, dass wir heute dieses Ge-setz ablehnen. Ich werde das gleich im Detail begründen.Vorausschicken möchte ich auch noch, dass es keineFraktion im Deutschen Bundestag gibt – das sollten wirdoch auch einmal positiv zur Kenntnis nehmen –, die ge-genüber dem zur Debatte stehenden Gesetzesziel ernst-haft eine unterschiedliche Position bezogen hätte. Diesegibt es nicht.
– Das gilt für alle Bundestagsfraktionen, Herr Kollege.Das weiß auch Frau von Renesse, die genauso wie andereKolleginnen und Kollegen auch in der letzten Legislatur-periode bei dem Versuch sehr hilfreich gewesen ist, fürdieses Problem gesetzliche Regelungen zu finden.Ich möchte jetzt die nun gefundene Formulierung, diezumindest von Einzelnen als historische Leistung darge-stellt wird, verlesen:Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung.Über diesen Satz reden wir. Aber keiner von Ihnen, auchniemand vonseiten der Sozialdemokraten, hat gesagt,dass es sich dabei wirklich um einen einklagbarenRechtsanspruch handele. Ich frage mich da allen Erns-tes, wie sich das zur bestehenden gesetzlichen Regelung,die auch keinen Rechtsanspruch enthält, verhält. Wir un-terhalten uns also über die verschiedene Wirkung unter-schiedlich starker deklaratorischer Aussagen im Zivil-recht. Das ist die eigentliche Streitfrage, über die wir hierreden. Sehen Sie hier wirklich einen gravierenden Unter-schied? Ich sage jedenfalls offen, dass ich es sehr bedaure,dass Sie auf unser Angebot, von der Bundesratsformulie-rung auszugehen, nicht eingegangen sind. Ich muss hiernamentlich die Grünen nennen.Diese Koalition muss noch lernen, darauf zu achten, beimVerfolgen wichtiger gesellschaftspolitischer Ziele einbreites Einvernehmen im Parlament herzustellen. DieseEinigung ist letztendlich an den Grünen gescheitert, wasich bedaure. Dennoch sollte man hier diese Feststellungtreffen.Ich komme jetzt zu den großen Beratungsangeboten,die diese Bundesregierung im Gesetz verankert hat. Ichwill die entsprechende Stelle vorlesen, weil solche Rege-lungen häufig untergehen. In § 16 Abs. 1 des Achten Bu-ches SGB wird die Formulierung aufgenommen:Sie– damit sind die Jugendämter gemeint –sollen auch Wege aufzeigen, wie Konfliktsituationenin der Familie gewaltfrei gelöst werden können.Wenn das Ihre Lösung bezüglich der praktischen Umset-zung ist, dann wird Ihnen jeder, der mit Konfliktsituatio-nen in Familien und mit Situationen zu tun hat, in denenFamilien scheidungsbedingt auseinander fallen und sieunter den sich daraus ergebenen Konflikten leiden, sagen:Das, was Sie hier machen, ist auf dem untersten Niveaudes wirklich Zumutbaren. Sie wissen das.
Ich will Ihnen offen sagen, dass sich in diesem Punktsehr deutlich zeigt, wie ernst Sie es mit dem historischenTag der Umsetzung des § 1631 BGB meinen. Sie habenim SGB eine Formulierung gefunden, die ich bezüglichihrer Umsetzung fast als Unverschämtheit empfinde.Nach meiner festen Überzeugung verdeutlicht dies, wieernst Sie es mit den Beratungsangeboten meinen.Ich komme zum Unterhaltsrecht. Sie haben dort Re-gelungen gefunden, die wir teilen. In § 1612 a Abs. 4 BGBhaben Sie eine Regelung gefunden, die ich sprachlichkompliziert finde. Dennoch sage ich, dass das Ziel richtigist. Sie haben in § 1612 a Abs. 5 BGB eine Regelung ge-funden, die mit der Anpassung an die Nettolohnentwick-lung von der Zielrichtung her ebenfalls richtig ist. Ich willIhnen aber ersparen, § 1612 a Abs. 5 BGB vorzulesen.Wenn ich diesen Absatz hier vorlesen würde, dann würdenur ein Bruchteil der hier Anwesenden verstehen, was daeigentlich wie geregelt werden soll, auch wenn hier eineReihe von Juristen sitzen.
– Provozieren Sie mich nicht, ihn vorzulesen. Dann würdewirklich deutlich werden, wohin der Weg führt.Ich lese Ihnen jetzt aus der Beschlussempfehlung vor.Dort heißt es – Zitat –:Besonders schwer wiegen dabei folgende Probleme:Das Unterhaltsrecht ist auf verschiedenen Gebieteninzwischen so unübersichtlich geworden, dass seineErgebnisse für die Beteiligten oft nur schwer nach-vollziehbar sind.Ich sage zu der Regelung, die Sie gleich verabschiedenwollen: Die Unübersichtlichkeit nimmt zu und die sprach-liche Art und Weise, mit Gesetzeszielen umzugehen, hatnach meiner festen Überzeugung das Maß des Erträgli-chen überschritten. Deshalb hatten wir in den Bericht-erstattergesprächen darum gebeten, zu einfacheren For-mulierungen zu kommen, die uns ursprünglich zugesagtwaren.Im letzten Absatz der Beschlussempfehlung heißt es:Die Bundesregierung wird gebeten, zügig und mit al-lem Nachdruck das geltende Unterhaltsrecht, insbe-sondere hinsichtlich seiner Abstimmung seiner In-halte mit sozial- und steuerrechtlichen Parallelrege-lungen sowie der Auswirkungen der in § 1612 bAbs. 5 BGB vorgeschlagenen Änderungen in derPraxis, gründlich zu überprüfen und Vorschläge zuseiner Neuregelung einzubringen.Das ist für mich das erste Mal, dass wir im DeutschenBundestag ein Gesetz verabschieden, wobei die, die dieMehrheit haben, das Gesetz zu verabschieden, gleichzei-tig beschließen, dass das, was sie gerade beschließen, so
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Ronald Pofalla10895
falsch ist, dass die Bundesregierung gebeten wird, esmöglichst zügig wieder zu überarbeiten.
Das ist eine Form von Gesetzesflickerei, die Sie vorherimmer kritisiert haben und die Sie jetzt selber machen.Ich gehe jetzt auf den § 1612 b Abs. 5 BGB ein. Dieje-nigen, die an der Anhörung teilgenommen haben, wissen,dass mit dieser Regelung des § 1612 b Abs. 5 BGB Be-weislastprobleme entstehen,
die wir in der Praxis bisher nicht hatten. Nach der bishe-rigen Regelung, so unübersichtlich sie auch sein mag, wa-ren die Beweislastprobleme gelöst. Nach der jetzigenRegelung werden sie durcheinander gebracht, weil simpleBeweislastregelungen, die bisher galten – so mehrheitlichdie Auffassung der Sachverständigen, die vorgetragen ha-ben –, auf den Kopf gestellt werden, übrigens mit der Aus-wirkung, dass aus der Sicht derjenigen, die unterhaltsbe-rechtigt sind, die Beweisführung in bestimmten Konstel-lationen hinsichtlich der Unterhaltsmöglichkeiten und derUnterhaltspflicht des Unterhaltsverpflichteten erschwertwird. Das, was Sie im Gesetzesziel wollten, wird also aufden Kopf gestellt.Beim Unterhaltsvorschuss kommt es aufgrund Ihrergesetzlichen Regelung zu zwei Rückgriffverhältnissen;bisher hatten wir nur eines. Wenn Sie das für eine Verein-fachung im Gesetz halten, mag das, bitte schön, Ihre Sichtder Dinge sein, aber de facto führt dies dazu, dass wir zueiner komplizierteren Regelung kommen.Dann kommt der Abschnitt betreffend das Unterhalts-titelanpassungsgesetz. Bisher konnten solche Titel ein-fach angepasst werden. Ihre Regelung des Unterhalts-rechts führt dazu, dass Sie eine Titelanpassung nach§ 655 ZPO vornehmen müssen mit all den formalenSchwierigkeiten, die damit verbunden sind.Diese wenigen Beispiele zeigen, dass die neuen Rege-lungen, prozessual und praktisch gesehen, die Situationder Unterhaltsberechtigten sogar erschweren. Wir habenIhnen angeboten, Regelungen zu erarbeiten, an denen wiruns beteiligen, wofür wir aber in der Tat Zeit benötigt hät-ten. Diese Zeit haben Sie nicht gesehen. Wir bedauern dasaußerordentlich. Das, was Sie jetzt im Unterhaltsrechteinführen, führt in der Praxis zu zusätzlichen Schwierig-keiten, zu einem zusätzlichen Prozessaufwand.
Sie führen außerdem noch einen neuen Prozentsatzein. Für das beschleunigte Verfahren galt bisher der an-derthalbfache Satz. Jetzt führen Sie im Unterhaltsrechtden 1,35-fachen Satz ein. Ich will durchaus zugestehen,dass Sie mit dieser kleinen Veränderung gegenüber demursprünglichen Entwurf wenigstens Zwischentabellen inder Düsseldorfer Tabelle verhindern. Nach dem ur-sprünglichen Entwurf wäre es auch noch dazu gekom-men.Ich will am Schluss für Folgendes werben: Lassen Sieuns im Bereich des Kindschaftsrechts und des Unterhalts-rechts – ich biete das ausdrücklich an – in Zukunft mehrZeit nehmen. Lassen Sie uns den Versuch unternehmen,zu einvernehmlichen Lösungen zu kommen, wie wir dasin der vergangenen Legislaturperiode auch geschafft ha-ben. Nur, wenn Sie solche Vorlagen machen wie diese,werden Sie von unserer Seite dafür keine Zustimmungfinden.Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt der Kollegin Ekin Deligöz das
Wort.
HerrKollege Pofalla, Sie haben ja namentlich die Grünen an-gesprochen. Deshalb möchte ich Ihnen auch antworten.In der Tat, als wir das letzte Mal eine Debatte zu die-sem Gegenstand hatten – ich glaube, das war die letzteDebatte, die in Bonn stattgefunden hat –, habe ich selberden Kolleginnen und Kollegen, auch aus Ihrer Partei, an-geboten, uns gemeinsam hinzusetzen, weil ich mir gesagthabe: Wir senden Signale; deshalb müssen wir an diesemBereich gemeinsam arbeiten.Wir haben gemeinsam eine Anhörung durchgeführt.Ich habe immer gesagt – und dazu stehe ich auch –: Ichwill keine Wischiwaschiformulierung, ich will, dass Kin-der als Rechtssubjekte gelten. Weiter habe ich gesagt: Ichschlage nirgendwo ein, wo ich nicht die Sicherheit habe,dass mir dann auch die Gegenseite entgegenkommt. –Dies ist so nicht geschehen. Deshalb können Sie die Grü-nen jetzt nicht als die Verhinderer hinstellen.Wir Fachpolitiker haben uns untereinander sehr gutund sehr lange darüber unterhalten – auch mit dem Mi-nisterium, auch mit dem Staatssekretär – und sind dann zuder Erkenntnis gekommen, dass die Form, die wir gewählthaben, die richtige ist, wenn wir dieses Gesetz tatsächlichernst meinen.Zum Schluss zum Kinderunterhaltsgesetz: Sie sagen,das Ganze sei kompliziert und die Kompliziertheit nehmezu. Das haben Sie gerade wiederholt. Ich sage Ihnen ei-nes: Die Gerechtigkeit für Kinder von allein erziehendenMüttern nimmt zu.
Wir stellen die Kinder in den Vordergrund und dazu steheich auch; denn ich bin – das gebe ich zu – Sozialpolitike-rin.Wir haben mit dem Entschließungsantrag bekundet,dass wir das Unterhaltsrecht reformieren wollen: Wir ha-ben das heute Mittag im Zusammenhang mit der BAföG-Reform angesprochen. Wir sprechen auch im Zusammen-
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Ronald Pofalla10896
hang mit dem Rentenrecht darüber, dass wir das Unter-haltsrecht reformieren müssen, genauso wie in sehr vielenanderen Bereichen, zum Beispiel in der Sozialhilfe. Undwenn wir dann sagen, dass wir dazu stehen, dass das Un-terhaltsrecht reformiert werden muss, was ist dann daranverwerflich?Wir haben hier einen wichtigen Schritt getan. RedenSie auch einmal mit dem Verband Alleinerziehender Müt-ter und Väter und nicht nur mit den UnterhaltzahlendenVätern.
Herr Kollege Pofalla,Sie können darauf antworten. – Das wollen Sie nicht.Dann erteile ich nun der BundesjustizministerinDr. Herta Däubler-Gmelin das Wort.Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin derJustiz: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In derTat ist heute ein sehr guter Tag für die Kinder in Deutsch-land, außerdem übrigens für alle, die sich für Recht undgegen Gewalt aussprechen.
Ich danke allen, die diesen Tag möglich gemacht haben.Ich hätte Sie, Frau Fischbach, und Sie, Herr Pofalla,gerne dabei gehabt. Ich finde es schade, dass Sie nichtüber diese Hürde gesprungen sind. Ich glaube auch, dassdas, was Sie uns vorgetragen haben, Ihr Nein nichtrechtfertigt. Aber das werden Sie mit sich selbst ausma-chen müssen.Jeder Einsichtige unter uns weiß – auch Herr Haupt hates gesagt –, dass sich Erziehung und Gewalt ausschließen.Deswegen ist das ganz klare Signal, das von dem Gesetz,das wir heute beschließen, ausgeht: bessere Erziehung ja,Gewalt nein.
Das ist eine sehr klare und deutliche Formulierung.
Wir wollen die bessere Erziehung, Herr Geis – das wis-sen Sie eigentlich auch –, und wir müssen alle gemeinsamGewalt begrenzen. Das sagt uns der gesunde Menschen-verstand und nicht nur ein Pädagoge oder Wissen-schaftler. Das Ziel muss darin bestehen, mündige, verant-wortungsbewusste Erwachsene und Staatsbürger zu erzie-hen, die gelernt haben, Konflikte auszutragen, und zwarmit Worten und Argumenten und nicht mit Gewalt, dieSituationen vernünftig einschätzen können und die vor al-len Dingen wissen, was richtig und was falsch ist.All das gehört zu den Grundlagen eines friedlichenZusammenlebens und muss in den Familien eingeübtwerden. Auch das muss durch Erziehung vermittelt wer-den. Wer Prügel oder Schläge zulässt oder wer selbst prü-gelt oder schlägt, macht das Gegenteil: Er lehrt Verhal-tensmuster, nach denen der Stärkere und nicht der mit denbesseren Argumenten Recht hat. Das ist genau falsch.
Wir wissen – lassen Sie mich das als Zweites sagen –:Gewalt ist in unserer Gesellschaft ein Problem. Die Ag-gressivität bei Kindern und jungen Menschen nimmt zu.Das wird uns von Erzieherinnen und Erziehern und vonLehrerinnen und Lehrern immer wieder gesagt. Das ist ei-ner der Gründe, warum diese Bundesregierung – und zwarnicht, indem sie geschmäcklerisch an diesem und jenemherumkrittelt, um dann doch nicht zustimmen zu müssen –auf den verschiedenen Gebieten, um die es geht, ganzklare Signale gesetzt hat und auch weiterhin setzen wird.
Wir alle wissen auch: Kinder werden nicht gewalttätiggeboren, sondern Kinder werden gewalttätig durchschlechte Vorbilder und schlechte Erziehung, kurz, weilsie Gewalt lernen. Das wissen wir aus eigener Erfahrungund das sagt uns der gesunde Menschenverstand. Jetztwissen wir es auch aus vielen Untersuchungen. Auch dasist ein Grund, warum wir hier handeln.Jetzt komme ich zu der Formulierung. Ich habe nichtverstanden, warum Sie meinen, diese Formulierung kriti-sieren zu müssen. Auch Ihre Formulierung bringt keineinklagbares Recht. Unsere Formulierung dagegen drücktaus, dass es ein moralisches Recht gibt. Diesen Rechtszu-stand verbinden wir mit einem Appell, der außerdem denVorzug hat, dass er sich in der Formulierung der Kinder-rechtskonvention annähert. Diesen völlig eindeutigenVorteil müssten Sie eigentlich erkennen.
Ansonsten müssen Sie den Leuten draußen Ihre Hal-tung erklären. Sie können nicht einerseits sagen, Sie seiender Meinung, dass Gewalt nicht zur Erziehung gehört,wenn Sie andererseits sagen, dass Sie gegen diese Formu-lierung sind. Das wird Ihnen niemand abnehmen.
Verehrter lieber Herr Geis, wir unterhalten uns schonlange über dieses Thema. Schon Mitte der 70er-Jahre wa-ren wir auf dieser Seite des Hauses der Auffassung, Siesollten sich bewegen. Wir haben es auch in den vergange-nen 16 Jahren nie geschafft, Sie dazu zu bringen. Heutewerden wir es schaffen, unsere Vorstellungen durchzuset-zen. Ich fordere Sie nochmals dazu auf, wenn Sie es ernstmeinen, mit uns zu stimmen.
Es ist nämlich so: Wir wollen mit dieser Formulierungzum Ausdruck bringen, dass Kinder nicht Objekte der Er-ziehung sind, sondern dass sie Subjekte, Rechtsträger
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Ekin Deligöz10897
sind. Das sind sie nach unserer Verfassung, wie Sie alleganz genau wissen, schon heute.
Wir wollen das auch im Kindschaftsrecht und im Fami-lienrecht deutlich zum Ausdruck bringen. „Kinder habenein Recht auf gewaltfreie Erziehung“ – das ist eine klareFormulierung, die das alles hergibt und die vor allen Din-gen den Ihnen, lieber Herr Geis, wahrscheinlich nichtganz geheuren Paradigmenwechsel, dass Kinder nichtmehr Objekt von irgendetwas sind, sondern dass Kindereigene Rechte haben, sehr deutlich macht.
– Sie rufen jetzt irgendetwas dazwischen. Ich hoffe, dasses wenigstens das Richtige ist.
Meine Damen und Herren, es gibt einige Oberschlaue,die sagen, dies sei keine vernünftige Norm, weil die straf-rechtliche Sanktion fehle. Sie habe keinen Wert. Wer soetwas sagt, der muss sich gelegentlich fragen lassen, wiezynisch man eigentlich noch werden muss, um hier sehrklar zu unterscheiden, was Recht und was strafbewehrtesRecht ist.Es ist völlig richtig: Wir setzen nicht auf ein verstärk-tes Wirken des Staatsanwaltes bzw. der Polizei. Wir set-zen vielmehr auf Überzeugung und auf die Eltern bzw. Er-wachsenen
– Herr Geis, ich weiß, es ist schwer –, die dies hören wol-len und die sich dann auch entsprechend verhalten.
Aber in der Tat setzen wir auf mehr Hilfe durch die Ju-gendämter.Herr Pofalla, was Sie in diesem Zusammenhang gesagthaben, hat mir sehr gut gefallen. Dass wir bei dieser Normnicht ein Mehr an Beratung vorgesehen haben, hat einenganz einfachen Grund: Es gibt bereits eine Erziehungs-und Familienberatung. Sie wissen ganz genau, dass diesesMosaiksteinchen gefehlt hat. Deswegen haben wir es ein-gefügt. Stimmen Sie also unserem Gesetzentwurf zu.Dann wird Ihre Haltung in diesem Bereich glaubwürdig.Lassen Sie mich noch eines sagen: Ich bedanke michbei all denen, die in der Öffentlichkeit mit uns dafür ge-stritten haben – seien das nun die Elternverbände, die Kin-derschutzverbände oder, Herr Pofalla, der Familienge-richtstag, auf dem wir beide gemeinsam waren und wo ge-sagt wurde, dass diese Formulierung die richtige sei –,diese klare Formulierung in den vorliegenden Gesetzent-wurf hineinzuschreiben.
Ich bedanke mich bei der Öffentlichkeit, damit sie weiß,wie wichtig das ist, was sie begonnen hat und was ich jetztweiterführen muss.Jeder, der dafür sorgt, dass Erziehung ohne Gewaltdurch ein gutes Vorbild oder dadurch, dass er andere da,wo er dies kann, in die Pflicht nimmt, realisiert wird, tutsehr viel mehr gegen Gewalt in unserer Gesellschaft alsjemand, der sich dann, wenn eine Gewalttat passiert ist,furchtbar aufbläst, entrüstet und nach geschlossenen Hei-men ruft.
Das muss uns sehr deutlich sein. Dann ist auch klar,warum dies heute ein guter Tag für die Kinder und für die-jenigen ist, die gegen Gewalt in Deutschland sind.Lassen Sie mich noch etwas zum Unterhaltsrecht sa-gen. Ich habe Sie, Herr Pofalla, nahezu bewundert, wieviele Worte Sie gebraucht haben, um deutlich zu machen,dass Sie nicht wollen, dass Alleinerziehende ein bisschenmehr Kindergeld bekommen.
Herr Pofalla, es ist überhaupt nicht zu bestreiten, dass diein diesem Zusammenhang erforderliche technische Rege-lung sehr schwierig ist. Dass in dieser Beziehung bishernichts getan worden ist, ist übrigens nicht nur unsereSchuld, sondern auch die derjenigen, die in den letzten16 Jahren die Verantwortung getragen haben. Es ist unseregemeinsame Schuld.Deswegen halte ich den in diesem Zusammenhang ein-gebrachten Entschließungsantrag für ausgesprochen rich-tig und für sehr ehrlich. Jeder weiß, dass bei uns die Sys-tematik und die Bestimmungen des zivilen Unterhalts-rechts, des sozialen Unterhaltsrechts und des steuerlichenUnterhaltsrechts nur noch schwer miteinander vereinbartwerden können und dass wir gemeinsam auf diesem Ge-biet etwas tun müssen. Nur, wir sprechen nicht nur darü-ber, sondern wir werden auch etwas tun. Ich werde aufIhre Worte zurückkommen. Vielleicht können Sie alsCDU/CSU ja wenigstens bei diesem Punkt zustimmen.Ein Herz für Kinder ist nicht nur ein gutes Motto für ei-nen Autoaufkleber.
Man muss auch klare Signale geben, wenn es um die For-mulierung von Rechten im Kindschaftsrecht, um Rechtefür Kinder, geht. Man muss Farbe bekennen, wenn es da-rum geht, allein erziehenden Müttern oder Vätern einbisschen mehr Kindergeld zu übertragen. Das tun wirjetzt. Deswegen ist heute ein guter Tag für die Kinder.
Ich bedanke mich bei meiner Kollegin, bei der Bun-desministerin für Familien, Senioren, Frauen und Jugend,dass – hoffentlich von uns allen – in den nächsten Mona-ten im Rahmen einer Aufklärungskampagne Überzeu-
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Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin10898
gungsarbeit geleistet werden kann, um eine Veränderungim Denken bzw. in den Köpfen hinzubekommen.Herzlichen Dank und gute Nacht.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrach-
ten Gesetzentwurf zur Ächtung der Gewalt in der Erzie-
hung, Drucksachen 14/1247 und 14/3781. Ich bitte dieje-
nigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist da-
mit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der
CDU/CSU-Fraktion angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf
ist gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen wor-
den.
Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 14/3781 die An-
nahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Bei Enthaltung von CDU/CSU und F.D.P. ist die Be-
schlussempfehlung angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem
Titel „Ächtung der Gewalt in der Erziehung wirkungsvoll
flankieren“, Drucksache 14/3761. Der Ausschuss emp-
fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2720 abzulehnen.
Wer folgt dieser Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung ge-
gen die Stimmen der PDS angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses zu dem
Antrag der Abgeordneten Norbert Hauser ,
Norbert Röttgen, Dr. Norbert Blüm, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der CDU/CSU
„Wort halten“ Umsetzung der Bonn/Berlin-Be-
schlüsse
– Drucksachen 14/1004, 14/2699 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Wiefelspütz
Wolfgang Bosbach
Cem Özdemir
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Petra Pau
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Norbert Hauser, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsiden-
tin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn es
noch einer Begründung bedurft hätte, warum wir uns
heute mit dem Thema Bonn-Berlin, dem Berlin/Bonn-
Gesetz und seiner Einhaltung befassen, dann muss man
sich nur den „Express“ von heute ansehen, in dem ein
Brief des Landwirtschaftsministers Funke wiedergegeben
ist, aus dem ich mit Genehmigung der Präsidentin zitieren
möchte.
Herr Kollege, dazu
brauchen Sie nicht meine Genehmigung.
HerzlichenDank.Hier heißt es:Wie es ab 2002 weitergeht, bleibt abzuwarten. Ichschließe nicht aus, dass der Umzugsbeschluss unddamit die Aufgabenteilung Bonn/Berlin dann auf denPrüfstand kommen.Weiter äußerte sich der Bundeslandwirtschaftsministerdazu, was dies konkret für das Ministerium bedeutet:Darüber kann man nur spekulieren. Warten wir esalso ab!Dann hat die Sprecherin des Ministeriums noch einendraufgesetzt und gesagt:Bonn geht es doch besser als je zuvor. Die Stadt hatüberhaupt nicht mit den nachteiligen Folgen des Um-zugs zu kämpfen. Vor diesem Hintergrund versteheich nicht, was es da für Sorgen gibt.Ob man ein Gesetz einhält oder es bricht, wird alsomittlerweile davon abhängig gemacht, ob es demjenigen,dem Rechte aus dem Gesetz zustehen, gut oder nicht gutgeht. Hier muss man den Eindruck haben, dass Sie sichlängst von dem Berlin/Bonn-Gesetz verabschiedet habenund dass es Ihnen nicht mehr um seine Einhaltung geht,sondern dass Sie bereit sind, dieses Berlin/Bonn-Gesetzzu brechen.
Meine Damen und Herren, es geht hier darum, dass derDeutsche Bundestag unmissverständlich erklärt, dass erzu seinen eigenen Gesetzen steht und dass er bereit ist, ander Umsetzung dieser Gesetze nicht nur mitzuwirken,sondern auch darauf zu achten, dass diese Gesetze nachBuchstaben und Sinn eingehalten werden.Die Kollegen des Haushaltsausschusses sind ja eigent-lich sozusagen die Creme des Parlamentes
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Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin10899
und der Haushaltsausschuss ist der Ausschuss, in dem dievernünftigen Leute sitzen, die wissen, wie es mit demGeld steht und wie man mit Geld umzugehen hat.Der Haushaltsausschuss hat diesem Antrag zugestimmt.Daran sieht man, dass das Anliegen durchaus berechtigtist.Ich komme jetzt zu den Gründen, die genannt werden,warum alles geändert werden müsse.Zum einen nennt man das Kostenargument. Mansagt: Das ist alles viel zu teuer. – All diejenigen, die die-ses Argument anführen, möchte ich fragen: Haben Sie am20. Juni 1991 nicht gewusst, dass es mit Ministerien anzwei Sitzen teurer sein könnte als in einem Zentrum? Die-jenigen, die einwenden, 1991 habe man noch überhauptkeine Erfahrung mit den Dingen gehabt, frage ich: Wiewar es denn am 26. April 1994, als das Berlin/Bonn-Ge-setz verabschiedet wurde? Haben Sie es da immer nochnicht gemerkt? Oder haben Sie am 20. Juni 1991 nur ge-dacht, man könne ruhig eine faire Arbeitsteilung zwischenBerlin und Bonn versprechen, um die Zustimmung zumUmzug zu bekommen? Oder haben Sie vielleicht am26.April 1994 gedacht, man solle die Leute in Bonn nochein bisschen ruhig stellen?Ein zweites Argument ist, es gebe zu viele Reibungs-verluste. – Staatssekretär Großmann, der heute Abendhier ist, hat auf eine Frage von mir im Januar 2000 fest-gestellt, dass es durch die Arbeitsteilung zwischen denbeiden Dienstsitzen Berlin und Bonn zu keinen nennens-werten Schwierigkeiten komme und dass die Arbeitstei-lung sehr gut funktioniere. Das ist sicherlich auch ein Ver-dienst des Hauses von Herrn Großmann.Dann gibt es eine Reihe von Kollegen, die sagen, inden Ausschüssen mangele es manchmal an Informatio-nen; wir hätten nicht immer die Damen und Herren sofortvor Ort, die wir in der Ausschusssitzung bräuchten. –Meine Damen und Herren, ich möchte Sie daran erinnern,dass dieses Problem mit dem Gesetz und der Aufteilungzwischen Berlin und Bonn überhaupt nichts zu tun hat.Wenn beim Haushaltsausschuss oder beim Rechnungs-prüfungsausschuss manchmal 40, 50 oder 60 Beamte aufden Fluren warten, mit der Aussicht, vielleicht einmal fürfünf Minuten in den Raum gelassen zu werden, dann mussman sich fragen, a) ob dies den Mitarbeiterinnen und Mit-arbeitern gegenüber zumutbar ist und b) ob dies nicht eineVerschleuderung von Humankapital ist. Hier geht dieFrage an uns selber, welche Ansprüche wir stellen. Wennwir permanent im Munde führen, dass wir eine moderneDienstleistungsgesellschaft schaffen wollen und dass manfür Multimedia und IT mehr tun müsse, aber uns anson-sten so verhalten, als wären wir noch in der Paulskircheund als wäre E-Mail so weit entfernt wie der Andromeda-nebel, dann müssen wir uns selber fragen, ob es nicht anuns ist, etwas zu ändern.Der Umzug von Bonn nach Berlin würde, wenn dennalle Ministerien nach Berlin kommen sollten, für Bonnden Verlust von etwa 30 000 Arbeitsplätzen bedeuten.Diesen Arbeitsplatzverlust kann die Region nicht ver-kraften. Dies ist auch für die betroffenen Familien nichtzumutbar. Die Stadt Bonn braucht Planungssicherheit fürden weiteren Strukturwandel. Sie tragen Verantwortungfür die Familien, denen Sie mit dem Berlin/Bonn-Gesetzversprochen haben, dass sie in Bonn bleiben können, unddenen Sie noch beim Abschied von Bonn versprochen ha-ben, dass Sie zu den Zusagen und zu dem Inhalt des Ge-setzes stehen.Deshalb fordere ich Sie als Kollegen und auch die Bun-desregierung auf, diesen Diskussionen endlich ein Endezu bereiten, für Planungssicherheit zu sorgen und denMenschen in Bonn deutlich zu machen, dass Sie zu Sinnund Buchstaben des Gesetzes noch heute stehen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun der
Kollege Hans-Peter Kemper, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Seit der denkbar knappen Entscheidung, den Parlaments-und Regierungssitz nach Berlin zu verlegen, sind nun gutneun Jahre vergangen. Herr Dr. Schäuble, damals nochstarker Mann in der CDU/CSU-Fraktion – das hat sich in-zwischen gründlich geändert –, hielt eine flammendeRede für den Umzug nach Berlin und für die HauptstadtBerlin. Man sagt ihm sogar nach, in der CDU/CSU-Frak-tion sei seine Rede das Zünglein an der Waage zugunstenBerlins gewesen.Heute reden wir über einen Antrag, den er im vergan-genen Jahr als Noch-Fraktionsvorsitzender gestellt hatund in dem er die schleppende Umsetzung des Bonn/Berlin-Beschlusses bejammert. Haben Sie, liebe Kolle-ginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion, eigentlichvergessen, dass Sie schon 1991 und bis 1998 an der Re-gierung waren – Sie hatten nach dem Beschluss alle Mög-lichkeiten, einen vernünftigen Umzug vorzubereiten –und wir, als Sie uns Ihren Antrag auf den Tisch gelegthaben, gerade einmal anderthalb Jahre an der Regierungwaren?
Sie waren doch geradezu Berlin-süchtig. Schauen Siesich doch einmal den Kanzleramtsbau an, den wir amPlatz der Republik stehen haben und von Ihnen überneh-men mussten.
Ich denke, mit diesem scheinheiligen Antrag wollenSie von den vielen dringenden Problemen ablenken, beideren Lösung Sie sich heute verweigern. Ihr Antragstammt vom Juni 1999; zu dem Zeitpunkt waren wir nochgar nicht umgezogen und konnten überhaupt noch nichtwissen, wie die Arbeitsbedingungen in Berlin aussehenwürden. Dass nicht alles fristgerecht fertig werden würde,war damals schon klar; aber das hat nicht diese Regierungzu verantworten, sondern das haben wir als Altlast vonIhnen übernommen.
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Norbert Hauser
10900
Die Ausgleichszahlungen für Bonn waren längst ange-laufen. Alles lief reibungslos und von daher war Ihr An-trag genauso überflüssig wie entlarvend.
Meine Damen und Herren von der Opposition, wasbemängeln Sie eigentlich? Wir sind im Juli/August nachBerlin umgezogen. Ich will Ihnen deutlich sagen: Ich habenicht zu denen gehört, die sich über den Berlin-Beschlussgefreut haben. Ich habe auch nicht zu denjenigen gehört,die sich über den Berlin-Umzug gefreut haben. Ich habezu denen gehört, die einen Antrag unterschrieben haben,den Umzug nach Berlin so lange zu verschieben, bis dortalles fertig ist – gegen einen Umzug in Provisorien! AlsNordrhein-Westfale habe ich ganz erhebliche Sorgengehabt, was aus der Region Bonn werden würde und wiewir in Berlin ankommen würden.Nach den Anfangsschwierigkeiten, die bei einem Um-zug dieser Größenordnung immer vorkommen, haben wirhier recht gute Arbeitsbedingungen vorgefunden, auchwenn sich diese verbessern lassen und auch noch verbes-sern werden, wenn wir in den endgültigen Liegenschaftenuntergebracht sind. Die Bedingungen sind aber annehm-bar und das Leben hier hat sich normalisiert.Viele von uns, die damals mit großen Bauchschmerzennach Berlin umgezogen sind, fühlen sich inzwischenwohl,
trotz der Unzulänglichkeiten und gelegentlichen Ärger-nisse, auf die ich gleich zu sprechen komme.In Bonn hat es keine dramatischen strukturellen Ein-brüche gegeben. Die Arbeitslosenzahlen sind nicht ge-stiegen. Die Mieten und Immobilienpreise sind nicht ge-sunken, ganz im Gegenteil: Die durch den Verlust derHauptstadtfunktion für die Region Bonn entstandenenVeränderungen werden strukturell recht gut abgefangen.Das Eisenbahn-Bundesamt, das Bundeszentralregister,das Bundeskartellamt, der Bundesrechnungshof, das Sta-tistische Bundesamt, das Bundesamt für Arzneimittel-kunde, das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswe-sen und diverse Entwicklungshilfeeinrichtungen warenfrüher nicht in Bonn, wohl aber jetzt: Dort haben vieleehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die nicht mitnach Berlin umziehen wollten, einen sicheren dauerhaftenArbeitsplatz gefunden. Die vereinbarten Ministerien sindin Bonn geblieben, mit Kopfstellen in Berlin.Herr Hauser, da ich natürlich wusste, dass Sie den Ar-tikel des „Express“ anführen würden, in dem von konspi-rativen Unternehmungen des Bauernministers und einemGeheimpapier die Rede ist, habe ich mir den Brief vonHerrn Funke besorgt. Es handelt sich keinesfalls um einGeheimpapier, sondern um einen Brief des Landwirt-schaftsministers Karl-Heinz Funke an die Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter – also völlig öffentlich –, weil er zueiner Personalversammlung nicht kommen konnte. WennSie etwas zitieren, gebietet es die Fairness, dass Sie auchkomplett zitieren. Der Hauptsatz in diesem Schreiben vonLandwirtschaftsminister Funke lautet:Es gibt das Bonn/Berlin-Gesetz und damit eine klareRechtslage. Und daran halten wir uns.Es wäre einfach nur fair gewesen, wenn Sie diesen Satzebenfalls zitiert hätten, denn dieser gibt die Wirklichkeitwieder.
– Jawohl.Die Arbeitsfähigkeit – daran gibt es zwischen unswohl keinen Zweifel – muss sowohl in Bonn als auch inBerlin gewährleistet sein. Sie muss immer wieder über-prüft und auch verbessert werden. Ich möchte nicht erle-ben, dass unsere Arbeit aufgrund falscher Personalge-wichtungen in Bonn oder Berlin hier behindert würdeoder Sie nicht genügend Informationen bekämen. Dannmöchte ich mal sehen, welchen Zirkus Sie veranstaltenwürden! Daher müssen wir das ständig überprüfen.Es werden weitere europäische und internationale Ein-richtungen folgen. Die vereinbarten Ausgleichsmaßnah-men haben doch ihre Wirkung nicht verfehlt. BisJuni 1999 waren von den zugesagten 2,81 Milliarden DMbereits 2,68 Milliarden DM für konkrete Maßnahmen imBereich der Wissenschaft, der Kultur und der Wirt-schaftsförderung ausgegeben bzw. fest verplant. Nord-rhein-Westfalens hervorragender MinisterpräsidentWolfgang Clement,
der die nordrhein-westfälischen Interessen wirklich mitgroßem Einsatz vertritt, hat mehrfach darauf hingewiesen
– Herr Westerwelle, vielleicht werden Sie irgendwannauch einmal daran beteiligt, wenn Sie brav sind –
dass die Region Bonn inzwischen brummt. In der Regionsind inzwischen mehr Arbeitsplätze als vor dem Berlin-umzug vorhanden.Wir debattieren hier über einen Antrag der Opposition,der von der Sache her längst erledigt ist. Sie schlagen mitIhrem Antrag die Schlachten von gestern. Er ist nichtmehr als eine Luftnummer.
Haben Sie den Bericht, den die Bundesregierung am13. September 1999 vorgelegt hat, nicht gelesen? Darinsteht doch haarklein, was als Ausgleich für den struktu-rellen Verlust für Bonn inzwischen geleistet wurde. Ichwill Sie hier nicht mit Zahlen langweilen, aber wenn Sieden Bericht selbst nicht gelesen haben und die Zahlennicht kennen, muss ich vielleicht stichpunktartig einige
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Hans-Peter Kemper10901
nennen. Es wurden geleistet: für den Bereich Wissen-schaft 1,6 Milliarden DM, für den Bereich Kultur100 Millionen DM, für den Bereich Wirtschaft 300 Milli-onenDM, für den Bereich Verkehr 500MillionenDM undan Soforthilfe 210 Millionen DM. Außerdem haben wirGrundstücke bereitgestellt, um die Ansiedlung von Ein-richtungen zu erleichtern. Ich denke, dies ist eine ganzeMenge und kann sich sehen lassen.Sie versuchen mit Ihrem Antrag vergebens, den Ein-druck zu erwecken, als ob es einen Niedergang in der Re-gion Bonn und Umgebung gäbe. Ich frage die beidenNorberts aus Bonn – eigentlich sind es drei, die in der Kopf-leiste des Antrags stehen, und eben habe ich einen viertenNorbert aus Nordrhein-Westfalen ausgemacht, der dieKleine Anfrage gestellt hat; das Umzugsproblem scheintalso in erster Linie ein Problem der Norberts zu sein –:
Warum verunsichern Sie die Menschen, die in Bonn undUmgebung leben, völlig grundlos? Dies würden Sie si-cher nicht tun, wenn Sie nicht am 27. September 1998 –völlig zu Recht – in der Opposition gelandet wären.
Und Berlin? Die Stadt hat sicher von dem Hauptstadt-beschluss profitiert. Nachdem sie zunächst alles daran ge-setzt hat, Hauptstadt und Regierungssitz zu werden, emp-fing sie uns dann, als wir hierher kamen – sozusagen alskleines Dankeschön –, mit der Zweitwohnungssteuer. DieBerliner Kollegen müssen schon ertragen, dass ich dashier erwähne. Die ständige Sperrung des BrandenburgerTors durch Demonstranten ist gelegentlich lästig. Ganzbesonders geärgert hat uns aber der Marsch der Neonazisdurch das Brandenburger Tor. Das war beschämend.
Diese Bilder sind mit verheerender Wirkung um die Weltgegangen. So etwas darf sich nicht wiederholen; hier gibtes klare Verantwortlichkeiten.Berlin hat mit dem Hauptstadtbeschluss Verpflichtun-gen übernommen, die eingehalten werden müssen. Unsaus Nordrhein-Westfalen war klar, welche Mehrbelastungständige Staatsbesuche und Objektschutz für die Sicher-heitskräfte bedeuten. Das musste auch den Berliner Ver-antwortlichen klar sein. Von daher sind Klagen und immerneue Forderungen an den Bund in diesem Bereich unver-ständlich.Die Unterbringung der Polizeibeamten, die letztlichauch für unsere Sicherheit verantwortlich sind, war imletzten Winter derart katastrophal, dass mein KollegeGünter Graf hier im Plenum in einer Kurzintervention dieVerbesserung dieser Unterbringung gefordert hat undbeim Berliner Innenminister Werthebach massiv vorstel-lig geworden ist mit dem Ziel, die Situation der Polizei-beamten hier zu verbessern.Ich denke aber, dass der Umzug angesichts des gewal-tigen Volumens und der gewaltigen Schwierigkeiten, diemit ihm verbunden waren, recht gut gelaufen ist. Berlin istauf gutem Weg, eine Hauptstadt mit Charme und ein guterGastgeber zu werden. Bonn ist auf gutem Weg, eineBundesstadt mit hervorragenden Perspektiven zu werden.Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,sind auf gutem Weg, die Fraktion der Nörgler zu werden.Schönen Dank.
Jetzt hat der Kollege
Guido Westerwelle von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnenund Kollegen! Ich will vorab zwei Punkte ansprechen.Der Antrag ist in der Sache nicht zu beanstanden. Dieje-nigen, die sich dem Berlin/Bonn-Gesetz und den entspre-chenden Vereinbarungen verpflichtet fühlen, werden,wenn sie den Antrag gelesen haben, nicht gegen ihn spre-chen können.Die Frage ist – das muss man der CDU/CSU-Fraktionsagen –, ob es klug war, diesen Antrag als Fraktion in denDeutschen Bundestag einzubringen – entgegen der Pra-xis, die wir als Abgeordnete der Region immer geübt ha-ben, nämlich gemeinsam überparteiliche Initiativen ein-zubringen, um den Anliegen unserer Region mehr Nach-druck zu verleihen. Ob dieses Vorgehen klug gewesen ist,müssen wir dahingestellt sein lassen.
Herr Kollege Kemper, ich will Ihnen aber auch aus-drücklich sagen: Das, was heute als Brief des Landwirt-schaftsministers zitiert wurde, reiht sich auch aus meinerSicht in die traurige Reihe von Vorkommnissen seitensder Bundesregierung ein.
Das hat jetzt gar nichts mit irgendwelchen parteipoliti-schen „Kartereien“ zu tun. Es geht ganz einfach darum, obdas, was wir in der Abschiedssitzung im Deutschen Bun-destag in Bonn alle heftig beklatscht haben, nämlich dasswir uns auch noch in Berlin Bonn verpflichtet fühlen,Realität bleibt oder ob wir hier nach der Devise handeln:Aus den Augen aus dem Sinn.
Das ist die eigentliche Sorge, die wir haben müssen. Dashat nichts mit irgendwelchen parteipolitischen „Karte-reien“ zu tun.Ich stelle fest: Wir haben ein Gesetz. Das Gesetz bin-det alle. Es bindet selbstverständlich auch die Bundesre-gierung. Schon wie der Bundesumweltminister mit denNachfolgebehörden des Bundesgesundheitsamtes umge-gangen ist, ist aus meiner Sicht eine Strapazierung derVereinbarung und des Gesetzes. Ich weiß, dass es bei SPD
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Hans-Peter Kemper10902
und Grünen viele Kolleginnen und Kollegen gibt, die dasganz genauso sehen.Meine Damen und Herren, wenn hier jetzt Zitate vonHerrn Funke gebracht werden: Es ist Ihr berechtigtesBemühen, Ihren Parteikollegen in Schutz zu nehmen. Esbleibt aber ein befremdliches Zitat. Nicht der Antrag, überdessen taktische Klugheit wir reden können, ist die Ursa-che der Verunsicherung. Die Ursache der Verunsiche-rung sind solche Äußerungen, zumal wenn sie schriftlichgemacht werden.
Es ist ein echtes Problem, wenn Sie in Bonn Anrufevon Betroffenen bekommen, die auch Planungssicherheitbrauchen – Anrufe, wie wir alle sie in vergleichbaren Fäl-len in unseren Wahlkreisen bekämen; Bonn ist auch meinWahlkreis –: Was ist denn jetzt da? Was passiert denn jetztdort? Wer das Berlin/Bonn-Gesetz jetzt für die Zeit nach2002 öffentlich schriftlich infrage stellt, der macht meinerMeinung nach einen ganz großen, einen historischen Feh-ler.
Wir sind von Bonn nach Berlin umgezogen, nicht weilBonn gescheitert ist, sondern weil wir hier die Vollendungder deutschen Einheit bewältigen konnten. Das ist einriesiger Unterschied. Das gilt auch für die DiskussionBonner Republik/Berliner Republik, Weimarer Repu-blik/Bonner Republik. Hier wird etwas fortgesetzt undnicht etwas beendet. Das ist auch meiner Meinung nachein ganz großer Unterschied im Denken, meine sehr ge-ehrten Kolleginnen und Kollegen.
Dass dieser Antrag notwendig ist, können Sie – beiallem Respekt vor der imposanten Präsenz des Bundes-kabinetts – auch daran erkennen, dass der Umzugsbeauf-tragte der Bundesregierung nicht hier ist.
– Der Umzugsbeauftragte ist nicht hier!
– Wo ist er denn? Sie sind der Umzugsbeauftragte? Ichdachte, das ist Herr Klimmt.
– Sie vertreten ihn? Ich bin begeistert darüber, dass Sie dasind. Aber bei allem Respekt vor der Funktion einesStaatssekretärs: Die Anwesenheit des Ministers, des Um-zugsbeauftragten ist schon eine Frage der Achtung vordiesem Parlament.
Auch das Bundeskanzleramt ist hier heute nicht ver-treten.
– Ich weiß gar nicht, was ihr wollt. Wenn wir da sein kön-nen, kann doch von denen auch jemand da sein, odernicht?
Herr Kollege, trotz-
dem ist Ihre Redezeit jetzt abgelaufen.
Ich danke Ihnen,
Frau Präsidentin, für diesen Hinweis.
Ich möchte noch eines sagen, was mir, meine Damen
und Herren, Kolleginnen und Kollegen, ein ernstes Anlie-
gen ist.
Herr Kollege, denken
Sie bitte an Ihre Redezeit.
Darf ich noch einen
letzten Satz sagen, Frau Präsidentin?
Für Sie ist das Ganze vielleicht Jux. Ich sage Ihnen:
Wenn führende Minister des Bundeskabinetts – der Land-
wirtschaftsminister sitzt ja in der ersten Reihe des Kabi-
netts – derartige Erklärungen abgeben, dann, meine ich,
wäre es auch Aufgabe des Bundeskanzlers – oder seines
Vertreters –, hier Klartext zu reden
und solche Äußerungen richtig zu stellen. Das ist eine
Chance, die er verpasst hat.
Nun hat das Wort dieKollegin Franziska Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/DieGrünen.
Kollegen! Zunächst zu dem, was ich an dem Antrag kor-rekt finde: Der Bundestag soll bekräftigen, dass die be-schlossenen Ausgleichsmaßnahmen in vollem Umfangrealisiert werden – das werden sie –, dass die für Bonnvorgesehenen Bundesbehörden gemäß der geltenden Ge-setzes- und Beschlusslage umziehen werden – das tun sie –,und dass sich der Bund weiterhin um die Ansiedelung zu-sätzlicher Institutionen, insbesondere internationaler Or-ganisationen, nach Bonn bemüht – das tut der Bund. Vondaher glaube ich, dass man nicht sagen kann, dass sich dierot-grüne Bundesregierung nicht für den Ausgleich derBonner Interessen einsetzt.Trotzdem muss ich, nachdem wir nun ein Jahr hier sind –Ihr Antrag ist ja schon ein Jahr alt – deutlich sagen: Es hilftnicht, wenn wir nur Schaufensterreden halten. Wir habenals Parlament Verantwortung auch da
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Dr. Guido Westerwelle10903
– ja, das werde ich –, wo wir Probleme mit dem Ber-lin/Bonn-Gesetz haben. Wir wollen sie zumindest schritt-weise in die Diskussion einbringen, uns ihnen stellen undsie nicht verdrängen.
– Moment, lassen Sie mich doch reden, liebe Frau Kolle-gin, dann werden Sie verstehen, was ich meine.Es geht darum, dass wir mit der Vorgabe des Gesetzeszunehmend Schwierigkeiten mit der Effektivität desVerwaltungshandelns haben: Auf der einen Seitemüssen wir die Funktionsfähigkeit der Regierung in Ber-lin und die Zusammenarbeit mit Bundestag und – abHerbst – Bundesrat gewährleisten und auf der anderenSeite über die Hälfte der Arbeitsplätze in Bonn belassen.
– Nein, hören Sie doch einmal zu, Frau Kollegin.Wir haben einen enormen Zeit-, Kosten- und Kraftauf-wand. Ich möchte, dass wir uns diesem Thema ehrlichstellen.
Wir können es unserer Verwaltung, unseren Ministerin-nen und Ministern sowie den Führungskräften nicht stän-dig zumuten, dass wir vor diesem Problem praktisch dieAugen verschließen und so tun, als gäbe es das Problemnicht.
Tatsache ist: Wir haben derzeit 11 400 Arbeitsplätzeder Regierung – ohne die nachgeordneten Behörden – inBonn, 8 200 in Berlin, also knapp 60 Prozent in Bonn,42 Prozent in Berlin. Die Ministerien mit dem erstenDienstsitz in Bonn – das sind beispielsweise das Ministe-rium für Gesundheit und das Ministerium für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten, aber auch das Ministeriumfür Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit – habenrund 25 Prozent ihrer Arbeitsplätze in Berlin. Die Minis-terien, die ihren ersten Dienstsitz in Berlin haben, weisenganz unterschiedliche Quoten auf. Ich will einmal ein paarBeispiele nennen – ich denke, es ist schon wichtig, dasswir in dem Punkte Klarheit haben –: Das Bundesministe-rium des Innern hat beispielsweise 30 Prozent allerArbeitsplätze in Bonn, das der Finanzen 46 Prozent unddas Arbeitsministerium schließlich 76 Prozent.Ich denke, wir müssen nach einem Jahr Regierungs-tätigkeit ehrlich Bilanz ziehen: Wir betreiben insbeson-dere für die Führungskräfte unserer Ministerien einen un-zumutbaren Aufwand, der sich zu verfestigen droht. Die-ser Diskussion müssen wir uns bei aller Sympathie für dieRegion Bonn stellen. Wir erwarten gerade von der Füh-rungsebene, dass sie auf der einen Seite die Koordinationder Ressorts mit dem Bundestag und künftig auch mitdem Bundesrat leistet und auf der anderen Seite nach in-nen in effizienter Weise bis in die unteren Arbeitsebenenhineinwirkt. Ich sage Ihnen: Das wird auf Dauer nicht gutgehen. Ich weiß, dass das ein sehr schwieriges Thema ist,aber wir als Parlament können nicht einfach so tun, alskönnten wir dieses Problem verdrängen.Von daher gilt meiner Meinung nach: Auf der einenSeite dürfen wir die Augen vor den Problemen nicht ver-schließen, in dem wir mit Schaufensteranträgen so tun, alsbräuchten wir uns dem Thema nicht zu stellen, und auf deranderen Seite gilt es – das möchte ich sehr deutlich sagen –,das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. Es ist wich-tig, dass die einzelnen Ministerien nunmehr prüfen – daserfordert auch Zeit, die man den Ministerien lassen sollte,zumal die Arbeitsfähigkeit nach dem Umzug bei den mei-sten betroffenen Ministerien noch nicht oder erst seitkurzem hergestellt ist –, ob sie mit der letztlich Anfang der90er-Jahre vereinbarten Arbeitsteilung klarkommen oderob sie Nachbesserungsbedarf sehen. Insofern sollten wirerst in der nächsten Legislaturperiode Bilanz ziehen undehrlich prüfen, was in diesem Bereich gemacht werdenmuss. Ich wünsche mir dabei, dass wir die Ehrlichkeit ha-ben, diese Probleme auch dann anzusprechen, wenn sieangesprochen werden müssen. Ich werde mich dabei je-derzeit dafür einsetzen, dass bei eventuellen weiterenUmzügen auf Regierungsebene ein angemessener Aus-gleich für Bonn vorgenommen wird. Wir müssen dann dasThema aktiv angehen und diskutieren, aber nicht weiter ineiner Form der Vogel-Strauß-Politik.
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Petra Pau, PDS-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Der Antrag „Wort halten – Umsetzungder Bonn/Berlin-Beschlüsse“, über den heute abgestimmtwerden soll, hat sich inzwischen ein Jahr durch das Parla-ment bewegt. Er zielt richtigerweise darauf, der Bundes-stadt Bonn und der Region einen fairen Ausgleich für denWeggang von Bundestag und Ministerien zu sichern.Aber er hat aus meiner Sicht auch eine falsche Zielrich-tung. Er zielt nämlich darauf ab, Anfang der 90er-Jahregetroffene Vereinbarungen für unabänderlich und aufewig festgeschrieben zu erklären. Ich meine, dass dahernicht nur der federführende Innenausschuss zu Recht mitMehrheit empfohlen hat, den Antrag heute abzulehnen.
Die Bundesregierung hat im September des vergange-nen Jahres eine Bilanz über den Umzug nach Berlin undüber Ausgleichsleistungen für die Region Bonn vorgelegt.Ich sehe in dieser Bilanz keinen Grund für die Unterstel-lung, die Region Bonn könnte unfair behandelt werden.Vielmehr registriere ich mit sehr viel Achtung, dass es imZusammenspiel von Bund und Bonn gelungen ist, einenwirksamen Strukturwandel einzuleiten und der BonnerRegion ein neues und auch international bedeutsames Re-nommee zu sichern.Sinnvollerweise sind zahlreiche Ämter, Institutionenund Unternehmen in die Region Bonn gerutscht – um denheute aktuellen Begriff zu benutzen – und weitere werdenfolgen. Ich habe nicht gehört, dass das irgendjemand in-
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Franziska Eichstädt-Bohlig10904
frage gestellt hätte. Wenn heute registriert wird, dass dieRegion Bonn die niedrigste Arbeitslosenquote der Bun-desrepublik aufweist, dann ist das nach meiner Meinungein weiteres Indiz für einen grundsätzlich engagierten undfairen Umgang mit den angesprochenen Problemen.Jetzt komme ich zum Wermutstropfen: Ein solches En-gagement und eine solche Fairness der Bundesregierungwürde ich mir endlich auch gegenüber Berlin wünschen.
Dieses Engagement wünsche ich mir gerade vor dem Hin-tergrund der immer noch ausstehenden Vereinbarung desBundes mit dem Land Berlin über die Finanzierung derzusätzlichen Leistungen, zum Beispiel im Bereich derSicherheit.Einer heute eingegangenen taufrischen Antwort derBundesregierung auf eine kleine Anfrage entnehme ichsogar puren Hohn in dieser Frage. So teilt das Bundesfi-nanzministerium zum Beispiel mit, man werde sich fi-nanziell beteiligen, wenn man beim Land Berlin zusätzli-che Leistungen bestelle. Ich wünsche mir, dass der Bun-desfinanzminister und der Bundesinnenminister amMontag auf die Straße gehen und den Polizisten, die zurSicherung der Staatsaufgaben Überstunden leisten, erklä-ren, dass sie angeblich nicht bestellt wurden. Auch dasgehört zum fairen Umgang und zu einem fairen Ausgleichzwischen Berlin und Bonn.
Ein letzter Punkt: Im Kern geht es in dem vorliegendenAntrag um etwas ganz anderes. Knapp zehn Jahre nachder Beschlussfassung und ein Jahr nach dem vollzogenenUmzug ist es legitim und geboten, zu prüfen, ob die einstgedachte Verteilung der Ministerien zwischen Bonn undBerlin wirklich effektiv ist. Man sollte sich nicht wie derLandwirtschaftsminister heute verhalten. Auf der Grund-lage einer ehrlichen Bestandsaufnahme sollte 2002 nichtnur eine Bilanz, sondern ein sinnvoller Vorschlag vorge-legt werden, der wiederum den Ausgleich zwischen Ber-lin und Bonn zum Ziel hat. Vielleicht kommen wir zu demErgebnis, dass wir die Rutschbahn in beide Richtungenschmieren müssen, damit am Ende Berlin wie Bonn nichtnur einen fairen Ausgleich haben, sondern sowohl das Re-gieren als auch das Leben in beiden Regionen funktioniertund vielleicht auch Spaß macht.Danke schön.
Jetzt hat der Kollege
Norbert Röttgen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Das kann der „Gene-ral-Anzeiger“ nicht lesen, Herr Kollege Schmidt.
– Sie haben offenbar gute Kontakte.Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Fra-ge, die sich am Ende dieser Debatte stellt, lautet: Warumkönnen SPD und Grüne diesem Antrag nicht zustimmen?Warum können Sie einem Antrag nicht zustimmen, des-sen Inhalt es ist, die Bundesregierung aufzufordern, sichan die geltende Beschluss- und Gesetzeslage zu halten?
Darauf sagen Sie offensichtlich: Das ist ja eine Selbstver-ständlichkeit. Dann muss ich Ihnen sagen – das werdenwir übrigens auch den Menschen in dieser Region sagen,verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD –, dassdiese Region Sie offensichtlich so wenig interessiert, dassSie die Probleme nicht einmal kennen.
– Ja, die nehmen das nicht ernst. Aber die Menschen in derRegion Bonn, Rhein-Sieg und Ahrweiler nehmen es ernst.Sie haben offensichtlich noch nicht zur Kenntnis genom-men, dass es akute Gesetzesverletzungen dieser Bundes-regierung gibt. Das nehmen Sie nicht zur Kenntnis. DieMenschen in der Region jedoch nehmen das zur Kenntnis.
– Herr Schmidt, Sie sagen: „Das ist doch Unsinn!“ Ichsage Ihnen Folgendes: Wenn im Berlin Bonn-Gesetz fest-geschrieben ist, dass das Bundesamt für Strahlenschutzvon Berlin nach Bonn umzieht und der Bundesumwelt-minister die Entscheidung trifft, dass dieser Umzug nichtstattfindet, dann ist das eine Verletzung des Berlin/Bonn-Gesetzes, die das Parlament als Ganzes nicht hinnehmenkann.
Ich stelle fest, Sie sind von dieser Tatsache überrascht.Das bestätigt aber nur meine These, dass Sie sich nicht fürden Sachverhalt interessieren.
Das ist der Vorwurf, den ich Ihnen mache, nicht allen: Esgibt auch in Ihrer Fraktion Mitglieder, die sich für dieseRegion einsetzen. In dieser Debatte wird deutlich, dassSie diese Region abgeschrieben haben. Auch der KollegeKemper hat das in seiner Rede deutlich gemacht. Es in-teressiert Sie nicht mehr, was dort läuft. Sie nehmen sogarGesetzesverstöße in Kauf. Das Beispiel des Bundesamtesfür Strahlenschutz ist ein eindeutiger Gesetzesverstoß.Das kritisieren wir.Meine Damen und Herren, dies ist nicht nur ein regio-nales Anliegen. Es ist auch eine Frage des parlamentari-schen Selbstverständnisses, ob wir es als Parlament hin-nehmen, dass eine Bundesregierung erklärt, dass sie sichüber Gesetze, die dieser Bundestag beschlossen hat,
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Petra Pau10905
einfach hinwegsetzt. Das darf der Bundestag nicht hin-nehmen.
Wir verlangen vom Bundesumweltminister, dass er denAnstand und den Mut hat, in das Parlament zu kommen,und zu sagen: Ich möchte dieses Gesetz ändern und habediese oder jene Gründe dafür. Das müssen wir als Parla-ment insgesamt erwarten, meine Damen und Herren.
Das sollte keine Frage von Parteien sein.
Um diese Zeit lasse
ich keine Zwischenfragen mehr zu, meine Damen und
Herren.
Ich bitte um Nachsicht, dass wir dieses so durchziehen.
Ich möchte nicht, dass die Frage gestellt wird, ob die Be-
schlussfähigkeit gegeben ist oder nicht. Lassen Sie uns
das ordentlich zu Ende bringen.
Die Bemerkung, die ich gemacht habe, Herr Kollege
Röttgen, wird nicht von Ihrer Redezeit abgezogen.
Sie haben das Wort.
Danke sehr.
Das Bundesamt für Strahlenschutz ist kein Einzelfall.
Auch andere Bundesämter sind bisher nicht umgezogen.
Zurzeit besteht in der Bonner Region die akute Sorge,
dass der Politikbereich Gesundheit, dessen Erhalt eben-
falls gesetzlich festgelegt ist, mit der Entscheidung, die
Kassenärztliche Bundesvereinigung von Köln nach Ber-
lin zu verlagern, ausgehöhlt wird. Es ist ebenfalls eine
Pflicht dieser Bundesregierung, die Politikbereiche in die-
ser Region zu halten und zu fördern. Wenn die Kas-
senärztliche Bundesvereinigung als öffentlich-rechtliche
Körperschaft so beschließen würde, wie sie es vorhat,
dann wäre das rechtswidrig. Auch dies ist gutachtlich
nachgewiesen. Wenn die Bundesgesundheitsministerin
diesen rechtswidrigen Beschluss – sie hat angedeutet,
dass sie es tun will – genehmigen würde
– richtig, „wenn sie denn da wäre“; die Bundesregierung
ist an dieser Thematik nicht sehr interessiert; das können
wir auch heute Abend in dieser Debatte konstatieren; Herr
Kollege Westerwelle hat es bereits festgestellt –, dann
verhält sich diese Bundesregierung erneut rechtswidrig.
Das würde die Aushöhlung eines Politikbereiches bedeu-
ten, von der 3 000 Arbeitnehmer mit ihren Familien be-
troffen wären. Das ist Ihre Politik.
Aber die Sorgen der Menschen interessieren Sie nicht. Sie
wissen gar nicht, dass davon 3 000 Menschen betroffen
wären. Ich stelle bei Ihnen eine große Gleichgültigkeit
gegenüber der Bonner Region, den dort betroffenen Men-
schen und Familien fest, die unsicher sind. Wir werden
das den Menschen auch mitteilen. Darauf können Sie sich
verlassen.
– Ja, wir werden dafür sorgen, dass die örtlichen Medien
über die Arroganz der Mehrheitsfraktionen berichten wer-
den, die sich nicht darum kümmern, ob sich die Bundes-
regierung an geltendes Recht hält oder nicht. Das werden
wir den Bürgerinnen und Bürgern der Region mitteilen.
Das verspreche ich Ihnen.
Die Bundesregierung und das Parlament sind ver-
pflichtet, die Politikbereiche in der Bonner Region nicht
nur zu erhalten, sondern auch zu fördern. Wir appellieren
an Sie: Zwingen Sie die Städte und Kreise nicht in ein
Kleinklein der Verteidigung! Seien Sie gesetzestreu! Das
ist unsere Forderung an Sie. Sehen Sie auch die Chancen
der Beschlusslage. Sie bietet auch die Chance, eine effizi-
ente, politikorientierte Regierung und Verwaltung in der
Bundeshauptstadt Berlin anzusiedeln. Kehren Sie zum
früheren Dialog mit der Bonner Region zurück. Reden
Sie mit den Menschen in dieser Region. Suchen Sie das
konzeptionelle Gespräch. Versuchen Sie die Politikberei-
che, deren Ausbau zugesagt worden ist, zu fördern. Unser
Appell lautet – er richtet sich an alle Parlamentarier –:
Alle Bürgerinnen und Bürger in diesem Land haben das
Recht auf gesetzestreues Verhalten der Bundesregierung.
Das sollten die Bürgerinnen und Bürger auch einfordern.
Die Menschen in der Regionen Bonn, Rhein-Sieg und
Ahrweiler haben Anspruch auf Verlässlichkeit und Pla-
nungssicherheit. Sie befinden sich in einem schwierigen
Umstrukturierungsprozess. Sie brauchen Verlässlichkeit
wie die Luft zum Atmen. Sie nehmen ihnen diese Luft.
Darüber bin ich sehr enttäuscht. Aber wir werden die Bür-
gerinnen und Bürger darüber informieren. Darauf können
Sie sich verlassen. Sie werden die Quittung für Ihr Ver-
halten schon noch bekommen.
Herzlichen Dank.
Liebe Kolleginnenund Kollegen, ich möchte darauf hinweisen, dass als Ver-treterin der Bundesgesundheitsministerin die Parlamenta-rische Staatssekretärin, Frau Nickels, anwesend ist. Ichmache nur deshalb darauf aufmerksam, weil eben be-hauptet wurde, die Regierung sei nicht vertreten.
Ich schließe die AusspracheWir stimmen jetzt über die Beschlussempfehlung desInnenausschusses zum Antrag der Fraktion der CDU/
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Norbert Röttgen10906
CSU zur Umsetzung der Bonn/Berlin-Beschlüsse aufDrucksache 14/2699 ab. Der Ausschuss empfiehlt, denAntrag auf Drucksache 14/1004 abzulehnen. Wer folgtdieser Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal-tungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Ablehnungvon CDU/CSU und F.D.P. angenommen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 gauf:a) Beratung des Antrags der Fraktion der PDSStraffreiheit für Spionage zugunsten derDeutschen Demokratischen Republik– Drucksache 14/3065 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länderb) Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 144 zu Petitionen
– Drucksache 14/3002 –c) Beratung des Antrags der Fraktion der PDSBereinigung von politischen Ungerechtigkei-ten im Kalten Krieg– Drucksache 14/3066 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschussd) Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 128 zu Petitionen
– Drucksache 14/2716 –e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 129 zu Petitionen
– Drucksache 14/2717 –f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 130 zu Petitionen
– Drucksache 14/2718 –g) Beratung des Antrags der Fraktion der PDSBeendigung der Strafverfolgung für hoheitli-ches Handeln in der DDR– Drucksache 14/3067 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen LänderZu den Beschlussempfehlungen liegt jeweils ein Än-derungsantrag der Fraktion der PDS vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung werden dieReden der Kollegen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grü-nen und der F.D.P. zu Protokoll gegeben1). Die KolleginVera Lengsfeld und der Kollege Wolfgang Gehrcke be-kommen zehn Minuten Redezeit. Sind Sie damit einver-standen? – Dann ist das so vereinbart.Ich erteile der Kollegin Vera Lengsfeld das Wort.
– Ich bitte um Entschuldigung; jetzt habe ich schon auf-gerufen.
Wer von Ihnen will zuerst sprechen? – Frau Kollegin, Siekönnen anfangen, bitte sehr.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die politischen Maßstäbe in
Deutschland haben sich in den vergangenen Jahren be-
denklich verschoben. Ein bisschen Stasispitzelei wird
mittlerweile wie ein Kavaliersdelikt behandelt. Linksra-
dikalismus ist beinahe normal und soll nach dem Willen
der PDS heute legalisiert werden. Landesverrat soll nun
als eine Art Ehrensache für die Weltrevolution vom Deut-
schen Bundestag sanktioniert werden.
Die PDS unternimmt mit ihrem heutigen Antrag auf
Straffreiheit für DDR-Spione einen neuen und – ihr Sinn
für Utopien ist ja wesentlich – besonders bizarren Ver-
such, endlich die ersehnte Westausdehnung zu erreichen.
Sie macht sich zum Fürsprecher derjenigen, die im Wes-
ten mit dem DDR-Ministerium für Staatssicherheit zu-
sammengearbeitet haben. Das ist insofern konsequent, als
sich die PDS ihrer Rolle als „Partei der Spitzel“ schon
lange bewusst ist und sie überzeugend spielt.
– Spitzel, die wesentliche Verantwortung hatten, sitzen ja
auch zwischen Ihnen in diesem Saal.
Wenn im Westen sonst keine Wähler zu gewinnen sind,
dann hofft man wenigstens auf die Spione als Klientel.
– Es ist schön, dass Sie das freut. Sie sehen, ich verstehe
Sie.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wir sollten auch diesen Teil der Debatte or-
dentlich miteinander führen, deswegen bitte ich um ein
bisschen Ruhe.
Wie sehr der PDS Lan-desverrat am Herzen liegt, hat sie mehrfach unter Beweisgestellt. Ich erinnere an das peinliche Vorhaben, einen
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Vizepräsidentin Anke Fuchs10907
1) Anlage 25noch im Strafvollzug befindlichen DDR-Spion, RainerRupp, der für eine halbe Million Mark die gesamteNATO-Militärplanung der Stasi verraten hatte, bei derPDS-Fraktion anzustellen.Ich nenne weiterhin die Tatsache, dass zwei ebenfallsrechtskräftig verurteilte Spione, das Ehepaar George undDoris Pumphrey, die die Grünen-Fraktion ausspionierthatten, nach der Wende von der PDS-Fraktion eingestelltwurden. Frau Pumphrey betätigte sich dort bezeichnen-derweise als Koordinatorin einer Arbeitsgemeinschaft„Kundschafter des Friedens“. Im Bundesvorstand derPDS sind mit Diether Dehm, der Wolf Biermann im Wes-ten bespitzelte, die West-IM angemessen vertreten. Viel-leicht dürfen wir bald auf einen Antrag der PDS hoffenund über ein „Mahnmal für den unbekannten Stasispion“diskutieren.
Ich möchte aber heute diskutieren, welche Folgen eshat, wenn Straftaten und politisches Unrecht nicht geahn-det werden. Wer dafür eintritt, Spionage für eine verbre-cherische Diktatur straffrei zu stellen, der lädt dazu ein,dies auch in Zukunft so zu halten. Dabei ist der Rechts-staat mit seinen Verrätern ausgesprochen milde umgegan-gen, so milde, dass Spione, die 200 000 Mark Agenten-lohn von der Staatssicherheit erhalten hatten, nur zu einerGeldstrafe von 8 000 DM verurteilt worden sind. Siekonnten sich also 192 000 DM steuerfrei in die Taschestecken.In deutschen Gefängnissen gibt es heute keine ehema-ligen DDR-Spione, zumindest nicht als Gefangene. DerSpionagechef Wolf spaziert quietschvergnügt durch dieTalkshows und das nennt die PDS dann Siegerjustiz.Etwa 20 000 bis 30 000 Westdeutsche haben, so schätztder beste Kenner der Materie, Hubertus Knabe, für dieHVA, also für die Hauptverwaltung Aufklärung, gearbei-tet. Laut Bundesanwaltschaft wurden nach der Vereini-gung gegen nur knapp 3 000 von ihnen Ermittlungsver-fahren eingeleitet. Etwa 2 750 Verfahren wurden wiedereingestellt. Nur 253 Angeklagte wurden verurteilt, dergrößte Teil auf Bewährung. Nur 59 Westdeutsche wurdennach 1990 zu Gefängnisstrafen von mehr als zwei Jahrenverurteilt.Zum Vergleich: In den USA wird Spionage mit bis zu20 Jahren Haft geahndet. Die Richter in Deutschland zei-gen – dazu bedurfte es der PDS-Propaganda leider nicht –meist sehr großes Verständnis für die ehemaligen DDR-Spione. Regelmäßig heißt es in den Urteilen, es bestehekeine Wiederholungsgefahr – Gott sei Dank, möchte ichhinzufügen –,
oder die Richter sprechen vom Resozialisierungsgebot.Anschließend engagieren sich die zu Resozialisierendenin der PDS.Der PDS geht es in ihrem Antrag keineswegs um einehumanitäre Geste, sondern um eine Botschaft: Spitzel-tätigkeit von Bundesbürgern für das Ministerium fürStaatssicherheit soll eine vollkommen legitime, womög-lich ehrenhafte und dem Fortschritt verpflichtete Aufgabegewesen sein. Nichts lag aber der DDR-Diktatur ferner alsder Frieden. Die Phrasen sollen dazu dienen, das gesamteSystem der SED-Herrschaft zu amnestieren und politischzu rehabilitieren. Spionage für einen demokratischenRechtsstaat wird frech moralisch und politisch mit derSpionage für ein untergegangenes Regime gleichgesetzt.Wir werden aber nicht zulassen, dass sich diesesgeschichtsrevisionistische Verständnis durchsetzt,
vor allen Dingen nicht im Deutschen Bundestag.Sehr geehrte Damen und Herren, es ist – zumindest aufden ersten Blick – verwunderlich, dass die relativistischenund revisionistischen Forderungen der PDS immer wie-der auf naives Wohlwollen im Westen hoffen dürfen. Woliegen eigentlich die Motive dafür? Dem Westen wurde esleicht gemacht, seine eigenen Verstrickungen nicht auf-zulösen. Lange konnten Bundesbürger, die für die Stasigearbeitet hatten, unentdeckt bleiben, weil die Akten alsvernichtet galten. Tatsächlich lag die Agentenkartei vonMarkus Wolf in den Vereinigten Staaten.Als im vergangenen Jahr die spät in Gang gekomme-nen Verhandlungen über eine Rückführung abgeschlossenwurden, erklärte der Geheimdienstkoordinator der Bun-desregierung, Ernst Uhrlau, die Daten kämen in dieGauck-Behörde und wären dort genauso zugänglich wiealle anderen Stasiakten. Um ihre eigenen Sicherheitsin-teressen zu schützen, würden die Amerikaner eigens einegefilterte Datenkopie für Deutschland anfertigen. Im Ja-nuar dieses Jahres wurde uns von der ParlamentarischenStaatssekretärin beim Bundesminister des Inneren, FrauSonntag-Wolgast, noch einmal ausdrücklich versichert:Eine Einschränkung der Verwertungshoheit über die Da-ten durch die USAsei weder vereinbart noch beabsichtigt.Als dann jedoch die ersten CDs mit den Kartei-kartenkopien aus Amerika im Bundeskanzleramt eintra-fen, verkündete Herr Uhrlau plötzlich, die Daten seienstreng geheim.Der Parlamentarische Staatssekretär Fritz RudolfKörper erklärte, die Bundesregierung beabsichtige auchnicht, die Amerikaner um Aufhebung der Geheimhaltungzu bitten. Da fällt es schwer, sich des Eindrucks zu er-wehren, dass die Bundesregierung gar nicht wissen will –oder genauer: es allein wissen will –, wer in diesem Landfür die Stasi als Agent gearbeitet hat. Erst die Proteste derUnion haben der Bundesregierung die Zusicherung abge-rungen, die Agentenkartei der Gauck-Behörde zu überge-ben. Doch dort soll sie als geheime Kommandosache un-ter Verschluss genommen werden. Eine Auswertung soll,wenn überhaupt, nur durch zur Geheimhaltung verpflich-tete Wissenschaftler möglich sein.Mindestens zwei Jahre, so sagte Ernst Uhrlau kürzlichin einem Zeitungsinterview, würde es dauern, bis das Ma-terial gesichtet worden sei. Wesentliches Material sei vonden Amerikanern klassifiziert worden und die Bun-desregierung sei im Rahmen des Geheimschutzabkom-mens verpflichtet, solches Material unter Verschluss zuhalten. Hier wird offenbar bewusst gebremst, boykottiertund auf Zeit gespielt.
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Vera Lengsfeld10908
In den letzten Wochen war überdies zu erfahren, dassAbschriften der nach Amerika entführten Agentenkarteibereits seit Jahren in den Panzerschränken der Gauck-Behörde liegen. Niemand hat dort hineingeschaut, wennWestdeutsche auf eine Stasizusammenarbeit überprüftwurden. Nicht einmal Wissenschaftler wurden an das Ma-terial herangelassen, um das Agentennetz im Westentransparent zu machen. Das ist ein Unding! Die Aktenwestdeutscher Spitzel müssen gemäß Stasi-Unterlagen-Gesetz genauso zugänglich gemacht werden wie die ehe-maliger DDR-Bürger. Die Westdeutschen, die sich – imGegensatz zu vielen Spitzeln in der DDR – meist ohneäußeren Druck und fast immer aus Geldgier auf die Stasieingelassen haben und genau wussten, was sie taten, undgenau wussten, dass dies strafbar ist, sind meist gut weg-gekommen. Die Handlanger der DDR nutzten die Libera-lität der Bundesrepublik.Die Versuchung, die Stasiaufarbeitung auf den Ostenzu beschränken, ist offenbar groß. Wir erinnern uns: Alsein Mitarbeiter der Gauck-Behörde im vergangenen Jahrein Buch zu diesem Thema ankündigte, wurde er aufge-fordert, die Arbeit daran einzustellen. Schon damalsdrängte sich der Eindruck auf, die Gauck-Behörde werdeimmer dann von der Regierung ans Gängelband ge-nommen, wenn es um westdeutsche Stasiverstrickungengeht, insbesondere um die der SPD.
So erreichen wir mit Sicherheit keine innere Einheit, erstrecht nicht, wenn westdeutschen DDR-Spitzeln nun imNachhinein vom Deutschen Bundestag ihre Lauterkeitbescheinigt würde, wie es die PDS wünscht.Die Aufarbeitung der Stasiakten wird erfolgreicheEmanzipationsgeschichte. Millionen Menschen habenaus diesen Stasiakten neue Erkenntnisse über die DDR-Diktatur gewonnen. Unzählige Inoffizielle Mitarbeiterund zufälligerweise auch einige Westspione sind enttarnt,die verbrecherischen Praktiken der Stasi sind offen gelegtworden. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an dieZersetzungspläne. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz hat nichtfür alle Spitzel Führungspositionen verhindern können,aber einige Leute sind glücklicherweise von der politi-schen Bühne verschwunden.Spionage ist bereits verjährt. Allenfalls schwerer Lan-desverrat kann noch bestraft werden. Doch das Stasipro-blem im Westen kann kein bloß juristisches oder histori-sches sein. Parteien und Verbände, Kirchen und Gewerk-schaften, Medien und Universitäten müssen sich dieserihrer Geschichte stellen. Es geht um politische, um ideo-logische Affinitäten, die heute allzu gern vertuscht wer-den.Das Rosenholz-Material muss der gesellschaftlichenDiskussion in Deutschland zur Verfügung gestellt wer-den. Wir wollen wissen, wer die Geschichte der Bundes-republik im Hintergrund wie mitgesteuert hat und warum,auch, aus welchen Motiven gemeinsame Sache mit derSED gemacht wurde und von wem. Die Kollaboration mitdem Geheimdienst der SED sagt viel über Verfas-sungstreue und auch viel über den politischen Charakterdesjenigen aus, der kollaboriert hat. Wer an maßgeblicherStelle in der Bundesrepublik Deutschland freiwillig oderfür Geld mit dem MfS zusammengearbeitet hat, wer beimgemeinsamen Jagen oder beim Prosecco mit den nettenGenossen von drüben Informationen ausgetauscht unddabei vielleicht ideologische Nestwärme gespürt hat, istpolitisch belasteter und moralisch unmöglicher als einkleiner IM in der geschlossenen DDR.
Frau Kollegin, den-
ken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Die Rosenholz-Akten
können zeigen, dass die DDR nicht nur ein Regime von
Gnaden der Sowjetunion war, sondern dass sie auch von
Leuten im Westen gestützt wurde. Um der historischen
Wahrheit willen müssen wir wissen, wer diese Leute ge-
wesen sind.
Jetzt erteile ich das
Wort dem Kollegen Gehrcke von der PDS-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Werte Frau Lengsfeld, ehrlichgesagt: Für die Weltrevolution ist es mir heute Abend einbisschen spät. Außerdem ist mir das Wetter zu gut. Ich willes also unterlassen.
Ich werde aber versuchen, diesen späten Abend zu nutzen,Sie davon zu überzeugen, dass die Vorschläge meinerFraktion Sinn machen und berechtigt sind.
An den Anfang meiner Rede will ich ein paar Zeilenvon Bertolt Brecht stellen; das überzeugt meistens. ImZusammenhang mit diesem Thema habe ich nämlich sehrviel an ein Gedicht von ihm gedacht, aus dem ich Ihnenvorlesen möchte:Auch der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt dieZüge. Auch der Zorn über das Unrecht macht dieStimme heiser. Ach wir, die wir den Boden bereitenwollten für Freundlichkeit, konnten selbst nichtfreundlich sein.
Dies gab uns Bertolt Brecht in seinem Gedicht „An dieNachgeborenen“ zu bedenken.Dass der Hass die Züge verzerrt, auch wenn man freund-lich sein wollte, erkennt man zuerst beim Gegenüber,beim politischen Konkurrenten und beim politischenGegner. Die verzerrten und deformierten Züge erkanntenwir jeweils beim konkurrierenden System in Ost und
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Vera Lengsfeld10909
West, aber selten im eigenen System. Auch den so oft zi-tierten Satz von Rosa Luxemburg
über die Freiheit als Freiheit des Andersdenkenden ver-standen wir oft nur als einen Anspruch auf die eigene Frei-heit, solange wir anders dachten, als eine Freiheit derMinderheit und nicht als eine Verpflichtung der Mehrheit.Ich glaube, das sollten wir uns sagen.
Die Andersdenkenden der 50er- und 60er-Jahre in derAlt-BRD waren Kommunistinnen und Kommunisten undandere Linke. Das Verbot der KPD, die Verfolgung vonGesinnung, die strafrechtliche Auseinandersetzung überhoheitliches Handeln in der DDR, Strafverfahren betref-fend Spionage Ost, soweit sie von Bürgern West began-gen wurden – all das ist aus meiner Sicht nicht nur mora-lisch inakzeptabel und politisch falsch, es bedrückt auchnicht nur die direkt Betroffenen, sondern es deformiert indiesem Sinne, wie Brecht es formuliert hat, auch Demo-kratie und Rechtsstaatlichkeit.
Unsere Anträge und die vorliegenden Petitionen habeneine Grundbotschaft: Es mus nicht nur der Kalte Kriegzwischen den Staaten beendet werden, sondern auch derKalte Krieg in der Gesellschaft, in unser aller Köpfen, ge-rade zehn Jahre nach der deutschen Vereinigung.
Nehmen Sie sich also bitte die geistige Freiheit, ausdem Rückblick auf die Geschichte festzustellen, dass dasKPD-Verbot von 1956 und die Verfolgung Andersden-kender, die politisch falsch waren, Menschen Unrechtzugefügt und der Demokratie geschadet haben. Bis zumIn-Kraft-Treten des Achten Strafrechtsänderungsgeset-zes im Jahr 1968 wurden in der alten Bundesrepubliketwa 200 000 Ermittlungsverfahren wegen Gefährdungdes demokratischen Rechtsstaates oder anderer Delikteeingeleitet. Rund 10 000 Bürgerinnen und Bürger wur-den mit Untersuchungshaft, Freiheits- und Nebenstrafenbeschwert.Erinnern wir uns: In den 50er-Jahren drohte der KalteKrieg in einen heißen, in einen Atomkrieg umzuschlagen.Die Gräben zwischen Ost und West waren tief. Im Zugedes Ost-West-Konfliktes, der jeweiligen Systemanbin-dung beider Staaten, verschwand die Wiedervereinigungmehr und mehr von der Tagesordnung und bildete sich dieZweistaatlichkeit heraus. Hier liegen die tieferen Ursa-chen des KPD-Verbotes.Betrachten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, diedamalige Situation doch bitte einen Moment aus einemanderen Blickwinkel: 1945 kehrten die Überlebenden desWiderstandes gegen die Nazidiktatur aus den KZs und ausder Emigration zurück, unter ihnen auch viele Kommuni-stinnen und Kommunisten. Diesen Menschen war unvor-stellbar Schreckliches angetan worden. Sie waren fürmich – das war prägend für meine Biografie – das Wert-vollste, was ich in meinem politischen Leben kennen ge-lernt habe.
Und nun, sechs Jahre nach ihrer Befreiung aus der Hölleder KZs und der Zuchthäuser, mussten sie erneut erleben,dass ihre Partei verboten wurde und sie aus politischenGründen verfolgt wurden. Sie wurden erneut inhaftiertoder mussten das Land, weil sie an ihrer Partei festhielten,verlassen. Welch anderer Begriff als Unrecht wäre demangemessen?
Unrecht waren zweifellos auch die Berufsverbote inden 70er-Jahren. Es gab 11 000 Berufsverbotsverfahren,3,5 Millionen Überprüfungen, 2 200 Disziplinarverfah-ren, 256 Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst und1 250 Ablehnungen von Bewerbungen.
Davon waren auch die Kinder eben der KZ-Häftlinge be-troffen, die in den 50er-Jahren inhaftiert wurden und nunwiederum die politische Verfolgung ihrer Kinder erlebten.
Was ich Ihnen schildere, ist erlebte, auch deutsche Ge-schichte. Sie darf nicht länger verdrängt werden.Üblicherweise – Gott sei Dank haben Sie so reagiert;dann können wir das nämlich direkt austragen – kommtbei diesem Thema der Hinweis, eine Demokratie müssewehrhaft sein und das Unrecht sei doch im Osten gesche-hen und nicht im Westen. Wehrhaft aber, liebe Kollegin-nen und Kollegen, ist eine Demokratie dann, wenn sie aufder Überzeugung und dem Wunsch der Bürgerinnen undBürger beruht, sie verteidigen zu wollen.
Wehrhaft ist eine Demokratie, die für alle Teile der Ge-sellschaft sozialen Wohlstand, Teilhabe an der Willensbil-dung und Transparenz der Entscheidung bietet, formalwie auch real. Das KPD-Verbot, die politischen Prozesse,die Berufsverbote waren nicht Ausdruck von Stärke derDemokratie, sondern Ausdruck ihrer Schwäche.
Sie haben die Demokratie nicht gefestigt, sondern ihr ge-schadet. Das zu erkennen und zu korrigieren haben wirmit unseren Vorschlägen die Chance.Auch der Hinweis auf das Unrecht Ost, für das die SEDdie Verantwortung trägt, kann das Unrecht West nichtrechtfertigen. Unrecht bleibt Unrecht, Herr Dr. Brecht,egal wer es begeht. Ich lehne eine Aufrechnung UnrechtWest gegen Unrecht Ost und Unrecht Ost gegen UnrechtWest ab. Unrecht bleibt Unrecht, egal wo es passiert.
Kommen wir in diesem Zusammenhang zu der Frageder Ungleichbehandlung der deutsch-deutschen Spio-nage, aus der der Umstand herrührte, dass Bürgerinnenund Bürger aus den alten Bundesländern, die sich demNachrichtendienst der DDR verpflichtet hatten, unterStrafe gestellt werden konnten, ihre Auftraggeber, soweitsie ihrer Tätigkeit von der DDR aus nachgingen, jedoch
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Wolfgang Gehrcke10910
nicht. Mitarbeiter der westlichen Geheimdienste, die inder DDR verurteilt wurden, wurden dagegen finanziellentschädigt und beruflich gefördert – eine moralisch, po-litisch und juristisch unhaltbare Situation.Das wird nicht nur von der PDS so gesehen. Ich möchteIhnen ein Zitat vom Kollegen Schäuble vorlesen, der 1990vor dem Bundestagsausschuss Deutsche Einheit sagte:Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir im vereintenDeutschland die jeweiligen Agenten der anderenSeite ins Gefängnis stecken. Was ich mir auch nichtvorstellen kann, ist, dass wir die Mitarbeiter der DDRins Gefängnis stecken und das umgekehrt nicht tun.
Es handelt sich um teilungsbedingte Straftaten, dieaußer Verfolgung gestellt werden müssen.So weit Herr Schäuble.
Ich könnte Ihnen hier ähnliche Zitate von Herrn Thierseoder von Altbundespräsident Richard von Weizsäckervortragen.Ich glaube, dass ungeachtet der Motive der Betroffe-nen, die sich für eine solche nachrichtendienstliche Tätig-keit entschieden haben, gilt, dass ihre Tat teilungsbedingtwar und schwerwiegende Folgen für die Betroffenenhatte: hohe Freiheitsstrafen und soziale Belastungen, Ar-beitslosigkeit, Geldstrafen und Gerichtskosten, also dieVernichtung sozialer Existenzen.Auch das können wir, weil es teilungsbedingt war, mitunseren Vorschlägen korrigieren. Oder machen Sie an-dere, bessere Vorschläge, wie dieses Unrecht korrigiertwerden kann.Auch bei unserem dritten Vorschlag bitte ich Sie, vor-gefasste Meinungen für einen Augenblick zu vergessen.Hätten Sie sich zum Beispiel vorstellen können, dass Alt-Kanzler Kohl nebenbei,
bei einem seiner vielen Gespräche mit Herrn Egon Krenz –ich weiß nicht, ob sie sich geduzt haben –, diesem mitge-teilt hätte: Und nach der Vereinigung, mein Lieber, kom-men Sie vor Gericht?
Oder erinnern wir uns an die Festsitzung des Bundes-tages zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls, bei der andieser Stelle Michail Gorbatschow sagte: Ein ehemali-ger Generalsekretär, der Chef, wird gewürdigt, ein ande-rer sitzt? Auch das ist Realität. Rufen Sie sich einmal inErinnerung, was Gorbatschow hier ausgeführt hat. Ersagte damals:Es ist doch sonderbar, dass heute ausgerechnet diePersonen der DDR-Staatsführung vor Gericht ste-hen, die vor zehn Jahren den Beschluss fassten, dieMauer durchlässig zu machen, die Personen, die kei-nen anderen Weg eingeschlagen und keinen anderenBeschluss gefasst haben.Viele Persönlichkeiten unseres Landes, der Bürger-rechtler Friedrich Schorlemmer, Lothar de Maizière, dieMinisterpräsidenten Stolpe und Höppner und andere ha-ben öffentlich über Amnestie nachgedacht. Ihnen wie unswurde entgegengehalten, eine Beendigung der Strafver-folgung und eine Amnestie könne von den Opfern nichtakzeptiert werden. Lothar de Maizière hat sich mit diesemProblem auseinander gesetzt. Ich darf ihn zitieren:Zu den großen zivilisatorischen Kulturleistungen derMenschheit gehört es, dass sie die Ahndung straf-rechtlich relevanten Verhaltens aus der Täter-Opfer-Beziehung herausgenommen und auf den Staat dele-giert hat, um so die Opferbefindlichkeit nicht zumRichter werden zu lassen.
Das sind, glaube ich, sehr weise, durchdachte Worte.Bleibt zum Schluss die Frage, ob es vernünftig ist, dassgerade die PDS diese Probleme aufgegriffen hat. Unab-hängig davon, dass andere das nicht gemacht haben, findeich, dass gerade unsere geschichtliche Erfahrung das er-fordert.
Günter Gaus – das ist mein letzter Satz – hat das in ei-nem Zeitungsartikel sehr zu Recht und sehr gut darge-stellt:Soll Anpassung, das gute Recht des schwachenEinzelnen, der sich nicht anders zu helfen weiß, zumkategorischen Imperativ aus Parteiinteresse werden?Gerade eine Partei mit Mitgliedern, die sich zu oft und zuunkritisch angepasst haben – dazu zähle auch ich mich –,hat sich entschlossen, sich nicht mehr anzupassen und –auch in dieser Frage – gegen den Strom zu schwimmen.
Die Reden der SPD-Fraktion, der F.D.P.-Fraktion und der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen sind zu Protokoll gegeben worden unddort nachlesbar.1)Damit schließe ich die Aussprache.Wir kommen zu den Abstimmungen. Abstimmungüber Tagesordnungspunkt 17 a. Interfraktionell wirdÜberweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3065 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.
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Wolfgang Gehrcke10911
1) Anlage 25Abstimmung über Sammelübersicht 144, Druck-sache 14/3002. Hierzu liegt ein Änderungsantrag derFraktion der PDS auf Drucksache 14/3807 vor, über denwir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsan-trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit istder Änderungsantrag abgelehnt.Wir stimmen nun über die Sammelübersicht 144,Drucksache 14/3002, ab. Wer stimmt dafür? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist die Sammelü-bersicht 144 angenommen.Wir kommen zum Antrag der Fraktion der PDS,Drucksache 14/3066. Interfraktionell wird Überweisungdieser Vorlage an den in der Tagesordnung aufgeführtenAusschuss vorgeschlagen. – Damit sind Sie einverstan-den. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Jetzt kommen wir zu weiteren Beschlussempfehlungendes Petitionsausschusses. Abstimmung über Sammelü-bersicht 128, Drucksache 14/2716. Hierzu liegt ein Ände-rungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksa-che 14/3804 vor, über den wir zuerst abstimmen. Werstimmt für diesen Änderungsantrag? –Gegenprobe! –Enthaltungen? – Damit ist der Änderungsantrag abge-lehnt.Wir stimmen nun über die Sammelübersicht 128,Drucksache 14/2716, ab. Wer stimmt für diese Sammelü-bersicht? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Damit ist die Sammelübersicht 128 angenommen.Wir stimmen über die Sammelübersicht 129, Drucksa-che 14/2717, ab. Es liegt ein Änderungsantrag der Frak-tion der PDS auf Drucksache 14/3805 vor. Wer stimmt fürdiesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – DerÄnderungsantrag ist abgelehnt.Wir stimmen über die Sammelübersicht 129, Drucksa-che 14/2717, ab. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dage-gen? – Die Sammelübersicht 129 ist angenommen.Wir kommen zur Sammelübersicht 130, Drucksa-che 14/2718. Auch hierzu liegt ein Änderungsantrag derPDS, Drucksache 14/3806, vor. Wer stimmt für diesenÄnderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Wir kommen zur Abstimmung über die Sammelüber-sicht 130, Drucksache 14/2718. Wer stimmt für dieseSammelübersicht? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 130 ist angenommen.Wir kommen zum Antrag der Fraktion der PDS aufDrucksache 14/3067. Interfraktionell wird Überweisungdieser Vorlage an die in der Tagesordnung aufgeführtenAusschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-den? – Das ist der Fall.Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 18 auf:Beratung des Antrags des AbgeordnetenDr. Christian Schwarz-Schilling und weiteren Ab-geordneten der Fraktion der CDU/CSU, der Abge-ordneten Heide Mattischeck und weiteren Abge-ordneten der Fraktion der SPD, der AbgeordnetenClaudia Roth und weiteren Abgeord-neten der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und weiteren Abgeordneten derFraktion der F.D.P.Humanitäre Grundsätze in der Flüchtlingspoli-tik beachten– Drucksache 14/3729 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist trotz derspäten Stunde eine Aussprache von einer halben Stundevorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist dasso beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort HerrnDr. Christian Schwarz-Schilling, CDU/CSU-Fraktion.
FrauPräsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!Wir hatten heute Morgen hier in diesem Saal eine sehr zuHerzen und zum Verstand gehende Aussprache über dasGesetz zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verant-wortung und Zukunft“. Wir haben dabei lernen können,was es bedeutet, wenn in einer Generation die Grundsätzeder Menschenwürde und des Rechtsstaates weggescho-ben werden und wie viele Generationen es braucht, umLeid, Unrecht und Schmerzen, die dadurch angerichtetwurden, wieder zu beseitigen, wobei wir alle wissen: Be-seitigt werden können sie nie mehr. Das ist ein ganz kom-plexer Zusammenhang.Damals, nach dem Zweiten Weltkrieg, haben wir allegesagt: Wir wollen dafür sorgen, dass so etwas nie wiedervorkommt – nie wieder Konzentrationslager, nie wiederUnrecht und Ähnliches mehr. 50 Jahre später brannte esin Europa wieder. Europa tat so, als ginge es das gar nichtsan. Denn es handelte sich um eine Randregion Europas,den Balkan. Wir schauten weg; wir waren unbeteiligt, bisdie Dinge so schlimm wurden und sich auch die Verei-nigten Staaten entsprechend involvierten, dass wir dannbegannen, uns damit zu beschäftigen.Milosevic hat eine ganze Region mit einem Kriegüberzogen und in einen Abgrund gestürzt. Nun sprachenwir alle vom „Bürgerkrieg“. Zunächst einmal eine Fest-stellung: Das war kein normaler Krieg, das war kein Bür-gerkrieg, sondern das war ein Krieg einer hoch gerüstetenArmee gegen die Zivilbevölkerung; nicht Bürger gegenBürger, sondern die einen standen unter dem Befehl einesDiktators und die anderen waren wehrlose Bürger. Dies istnach landläufiger Meinung kein Bürgerkrieg.Männer wurden umgebracht und Frauen vergewaltigt –im Übrigen nicht nur aus Spaß, sondern aus ideologi-schem Axiom: Die Maxime – man kann die Gründe dafürschriftlich nachlesen – war, dass auf bosnischem Bodenserbische Kinder geboren werden sollten. Es kam zu Fol-ter und Tod. Es gab Lager, die man sich heute kaumschlimmer vorstellen kann. Es handelte sich um eiskaltgeplanten Völkermord.700 000 bis 800 000 Menschen flohen ins Ausland, da-von circa 350 000 nach Deutschland. Circa 300 000 sindallein in Bosnien umgebracht worden. 1 Million Men-schen wurde in Jugoslawien aus ihren Häusern gejagt, be-vor sie gesprengt wurden. Da hatten sie dann noch Glück;
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Vizepräsidentin Anke Fuchs10912
denn bei vielen Menschen war es so, dass sie mit in dieLuft gesprengt worden sind.Heute vor fünf Jahren, am 6. Juli 1995, begann der An-griff auf die UN-Friedenszone Srebrenica. In diesen Ta-gen, vor genau fünf Jahren, war die Jagd auf 30 000 Men-schen, auch Frauen mit Kindern, eröffnet. 8 000 bis10 000 Männer wurden verschleppt und auf freiem Feldermordet. Alle, die ermordet wurden, waren unbewaffnet.Denn die UN hatte ihnen in der so genannten Frie-denszone alle Waffen abgenommen. Als es dann ernstwurde, ist die UN getürmt und einige, die noch da waren,guckten hilflos zu.Dieses Gemetzel war für diese Menschen die Hölle.Die Aufnahme der 350 000 Flüchtlinge bei uns inDeutschland war eine großartige Tat und vorbildlich fürdie ganze Welt. Bund und Länder haben sich daran betei-ligt und alle Hilfe geleistet, die man leisten konnte. Vor al-len Dingen unsere Bevölkerung war unglaublich ergrif-fen, spendete und half, wo es nur irgend möglich war. Spä-ter kam auch unsere Bundeswehr dazu und leisteteVorbildliches. Von daher können wir nur alle sagen, dasswir auch stolz sein können auf das, was Deutschland indiesen Jahren getan hat.Dann kam der Friedensvertrag von Dayton, der inParis unterschrieben worden ist. Er war zwar unvollkom-men, aber sicherlich damals kaum anders zu machen.Denn die Mörder und Kriegsbrandstifter saßen mit amTisch. Ein Friedensvertrag dieser Art ist meistens etwasschwierig und schief. Für manche deutsche Politiker wardies dennoch der Zeitpunkt, zu sagen, der Frieden sei daund nun sollten alle Flüchtlinge so schnell wie möglich hi-naus. Die Abmachungen von Dayton sagten etwas ande-res: Der UNHCR ist diejenige Organisation, die die Rück-kehr der Flüchtlinge führend zu organisieren hat. Über dieRückkehr der Flüchtlinge wurde das Recht auf Heimatund auf Freiwilligkeit festgeschrieben. Es heißt dort imArtikel I des Annex 7:All refugees and displaced persons have the rightfreely to return in their homes of origin.Obwohl auch wir diesen Vertrag unterzeichnet haben,wurden diese Rechte der Flüchtlinge schon sehr bald nachDayton einseitig außer Kraft gesetzt.Wir sind uns dennoch einig gewesen, dass der größteTeil dieser Flüchtlinge nicht auf Dauer bei uns bleibensoll. Darüber gibt es gar keinen Dissens. Wir waren auchdarüber einig, dass eine friedliche, gestaffelte Rückkehr inmehreren Phasen stattfinden soll. Auch darüber gab eskeinen Dissens.Aber jetzt kommt der dritte Punkt: Eine sensible Ein-zelfallprüfung bei Problemgruppen wie zum BeispielTraumatisierten, Behinderten, Lagerinsassen, Jugendli-chen, die hier aufgewachsen sind, wurde vom Innen-minister, mit dem ich allein darüber seit anderthalb Jahrenkorrespondiere, zugesichert. Die Innenministerkonferenzsagte das Gleiche. Meine Damen und Herren, ich sagehier ganz klar: Zusagen dieser Art sind nicht eingehaltenworden. Im Gegenteil: Seit Februar, März dieses Jahreserhalten diese Problemgruppen pauschal und ohne Dif-ferenzierung dieselben Ausreiseaufforderungen mit derAndrohung von Zwangsmaßnahmen für den Fall, dassman Deutschland nicht bis zum angegebenen Zeitpunktverlassen hat.Meine Damen und Herren, so haben wir nicht gewet-tet. Ich muss ganz offen sagen: Wer für diese Problem-gruppen nur eine Verzögerung der Ausreise vorgesehenhat und nicht bereit ist, für diese 8 Prozent der einstmals350 000 Flüchtlinge eine sensible Einzelfallregelung zutreffen, wer meint, diese Flüchtlinge seien nun lange ge-nug bei uns gewesen und sollten nun genauso wie die an-deren nach Hause geschickt werden, der hält seine Zusa-gen nicht ein.
Aus diesen Gründen liegen sehr viele geradezu tragi-sche Einzelfälle auf den Tischen der Kolleginnen undKollegen des Deutschen Bundestages. Ich möchte nurzwei Fälle nennen. Ich könnte Ihnen hundert Fälle nen-nen; bei mir kommen jeden Tag ungefähr fünf Fälle aufden Schreibtisch – eine Aufgabe, die ich fast nicht mehrlösen kann.Die Familie Isovic aus Bosanski Brod, RepublikaSrpska, kam 1993 nach Deutschland und lebt jetzt inMünchen. Eine Tochter ist in der Zwischenzeit in die USAausgewandert. Herr Isovic hat sich in Deutschland nurwegen schwerer Verletzungen als Soldat in der Armee be-handeln lassen. Seine Frau und die Tochter – sie war da-mals 14 Jahre alt – waren im KZ Bosanski Brod, einemberüchtigten Lager in der Heimatstadt dieser Familie. Siewurden dort mehrere Wochen vergewaltigt und gefoltert.Sie haben sich in Deutschland nicht als traumatisierte Per-sonen behandeln lassen, weil sie, wie sie mir später gesagthaben, gehofft und gedacht haben, dass sie die schreckli-chen Erinnerungen durch Arbeit und Beschäftigung – dieEltern waren beide in Lohn und Brot – besser vergessenkönnten.Erst nach der Abschiebungsdrohung im Februar diesesJahres hat das nicht behandelte Trauma eine schlimmeEntwicklung genommen. Es gab einen Selbstmordver-such der Mutter. Herr Isovic, der selber in eine furchtbareSituation geraten ist, erzählte mir, wie er, als er in seinedamals noch unbeschädigte Wohnung kam, den Kopf sei-ner Mutter in einer Tüte im Kühlschrank gefunden hat.Das ist für sie die Heimatstadt Bosanski Brod.Diese Familie ist jetzt hier. Das Ehepaar hat natürlichden Fehler begangen, sein Trauma nicht sofort behandelnzu lassen. Es ist jetzt in psychotherapeutischer Behand-lung. Der Vater hat gesagt: Er wird nur tot zurück nachBosnien gehen. Er wird niemals zu den Tätern nach Bo-sanski Brod zurückkehren.Wir kennen die Situation aus dem Zweiten Weltkriegund wissen, dass Menschen, die die Konzentrationslagerüberlebt haben, über Jahrzehnte hinweg gesagt haben:Wir werden nie wieder nach Deutschland kommen. Man-che haben das bis heute so gehalten, bei anderen hat sichdas gelöst. Eigentlich müsste so etwas bei uns bekanntsein. Wir müssten doch wissen, was in diesen Menschenvor sich geht.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Dr. Christian Schwarz-Schilling10913
Nein, diese Menschen werden vorgeführt, manchmalsogar in Handschellen zu Polizeiordnungsdiensten, dieeine ärztliche Beurteilung abgeben sollen. So etwas hat esnach dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben. In keinemLand wurden ehemalige Emigranten in irgendeiner Weisevorgeführt und wieder zurückgeschickt.Meine Damen und Herren, es gibt noch einen zweitenFall, den ich kurz erwähnen will. Eine fünfzehnjährigeStumme lebt in Sachsen-Anhalt in Möckern, im Land-kreis Jerichower Land, und lernt dort seit sechs Jahren inder Taubstummenschule deutsch. Was konnte sie dennsonst lernen? Sie kann nur kommunizieren, wenn sie dieMundstellungen des Gegenübers beobachten kann. Ganzabgesehen davon, dass die Eltern nicht aus Sarajewostammen, wurde gesagt, es gibt auch in Sarajewo eineTaubstummenschule, dorthin kann sie gehen. Es wurdeüberhaupt nicht darüber nachgedacht, dass die Sprach-kenntnis notwendig ist, um an dieser Schule jemals kom-munizieren zu können. Jetzt müssen wir auf Ministerprä-sident Höppner, der gerade in den USAweilt, warten, umdas Schlimmste zu verhindern. „Wir müssen eine politi-sche Lösung finden.“Damit komme ich zu einem wichtigen Punkt, den icham Schluss ansprechen möchte. Es gibt jetzt nicht mehrviele Flüchtlinge bei uns und wir sollten denjenigen, diejetzt noch hier sind, das Leben nicht so erschweren und sienicht in Angst und Panik versetzen. Diese Menschen ha-ben aufgrund dessen, was ihnen passiert ist, ein Recht, inFrieden zu leben, wie auch wir.
Wir verscherzen jetzt unsere gute Reputation; dennwir hatten 350 000 Flüchtlinge aufgenommen. Jetzt lebennoch 35 000 bei uns. In Österreich haben 67 000 ein Blei-berecht bekommen. In Schweden sind es 53 000 Men-schen, die ein Bleiberecht bekommen haben. Die USAha-ben bis zu 140 000 aufgenommen. Im Vergleich mit derBevölkerungszahl sind das mehr, als die BundesrepublikDeutschland aufgenommen hat. Wir können jetzt nichtmehr sagen, wir haben die meisten, denn das hat sichgeändert. Auch die Stimmung der Welt gegenüberDeutschland hat sich geändert.Lassen Sie mich zwei Dinge ganz klar sagen. UnserGrundgesetz sagt:Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu ach-ten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichenGewalt. ... Alle Menschen sind vor dem Gesetzgleich. ... Niemand darf wegen seines Geschlechts,seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache,seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seinerreligiösen oder politischen Anschauungen benachtei-ligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen sei-ner Behinderung benachteiligt werden.Gilt so etwas für einen Menschen, der seit acht Jahrenhier lebt, nur deshalb nicht, weil er einer anderen Heimat,einem anderen Volk entstammt? Nach dem Grundgesetzgilt es für jeden und nicht nur für einen Deutschen. Dasmuss man endlich wissen.Das Zweite: Das Ausländergesetz nennt durchausMöglichkeiten. Warum werden diese nicht genutzt? DasAusländergesetz sagt in § 54, Aussetzungen von Abschie-bungen:Die oberste Landesbehörde kann aus völkerrechtli-chen oder humanitären Gründen oder zur Wahrungpolitischer Interessen der Bundesrepublik Deutsch-land anordnen, dass die Abschiebung von Auslän-dern aus bestimmten Staaten ... für die Dauer vonlängstens sechs Monaten ausgesetzt wird. Zur Wah-rung der Bundeseinheitlichkeit bedarf die Anord-nung des Einvernehmens mit dem Bundesministe-rium des Innern, wenn die Abschiebung länger alssechs Monate ausgesetzt werden soll.
Herr Kollege, ich
muss jetzt doch auf die Redezeit achten.
Warum macht der Innenminister nicht von sich aus das
Angebot an die Länder? Wir haben ein Einvernehmen,
wenn wir bei diesen Problemfällen weit über sechs Mo-
nate hinaus bis zu dem Zeitpunkt, zu dem wir eine Blei-
beregelung getroffen haben, nicht abschieben. Das wäre
eine Initiative. Sie fällt auch in seinen Zuständigkeitsbe-
reich. Er hat sich ebenso wie die Länder in der letzten Zeit
sehr bewegt.
Ich möchte nur sagen: Es nützt alles nichts, wenn wir
im Dezember eine Regelung haben und Hunderte oder
Tausende vorher in die jetzt dort vorherrschenden Ver-
hältnisse abgeschoben werden. Ich könnte Ihnen zig Fälle
nennen, die so dramatisch sind wie die gerade geschilder-
ten. Wenn sie ausreisen müssen, wird ihr Leben, ihre Fa-
milie zerstört. Das sollten wir verhindern, denn unsere
Generation sollte das Recht, die Menschenwürde und all
das, wofür unsere Vorfahren jahrhundertelang gekämpft
haben, verteidigen. Genauso müssen wir uns auch gegen-
über anderen Ländern verhalten, wenn es nötig ist. Denn
Menschenrechte durchbrechen auch Landesgrenzen; wie
wir auch gegenüber den Nationen sagen, dass dies keine
innere Angelegenheit der Nationen ist.
Menschenrechte sind für die ganze Bundesrepublik
Deutschland da.
Sie sind damit einver-standen gewesen, dass ich die Redezeit in diesem Fall ver-längert habe,
denn wir wollten Ihre eindrucksvolle Rede gern hören.Wir sind stolz darauf, dass wir dieses Thema heuteAbend noch in dieser eindrucksvollen Weise behandelnkönnen.Auch die nachfolgenden Redner würden wahrschein-lich gern noch länger reden, als es die Redezeit erlaubt,aber ich bitte Sie, sich daran zu halten. In diesem Sinnehat die Kollegin Heide Mattischeck das Wort.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juli 2000
Dr. Christian Schwarz-Schilling10914
Frau Präsidentin! LiebeKollegen, liebe Kolleginnen! Ich möchte meinen kurzen –ich werde mich an die Redezeit halten – Redebeitrag da-mit beginnen, noch einmal all denen Dank zu sagen, diein den letzten Jahren den 350 000 Flüchtlingen und Ver-triebenen aus Bosnien und Herzegowina in unserem LandZuflucht und Aufnahme gewährt haben: dem Bund, denLändern, den Kommunen, vor allen Dingen aber den vie-len Menschen, die sich zum Teil in vorbildlicher Weiseganz persönlich um diese Menschen gekümmert haben,die vor dem schrecklichen Krieg und dem Genozid in ih-rer Heimat fliehen mussten oder vertrieben worden sind.
Der Dank gilt auch den vielen Flüchtlingsorganisationenund Wohlfahrtsverbänden, die sich dieser Not leidendenund gequälten Menschen angenommen und diese vielfäl-tig unterstützt haben.300 000 Flüchtlinge sind inzwischen in ihre Heimatzurückgekehrt. Sie sind dabei, die Trümmer wegzuräu-men, sich eine neue Existenz aufzubauen, ihr Land wie-der in Ordnung zu bringen. Welch schwere Aufgabe dasist, wissen wir, wenn wir es wollen. Sie brauchen abernoch lange internationale Unterstützung. Auch dies wis-sen wir.Die noch verbliebenen Flüchtlinge gehören weitge-hend den Problemgruppen an, die wir in unserem Antragbeschrieben haben, die zunächst von einer Rückführungausgenommen werden sollten. Seit dem Frühjahr diesesJahres – dies war auch der Grund für unsere Initiative –werden diese Personen weitgehend unterschiedslos auf-gefordert, Deutschland kurzfristig zu verlassen. Wer istnicht schon in seinem oder ihrem Wahlkreis von solchenPersonen angesprochen oder angeschrieben worden? Wirwissen, wie hilflos wir dann oft reagieren müssen.Wir wissen allerdings auch – dies haben wir in der letz-ten Woche auch von dem UNHCR-Vertreter bei einer Po-diumsdiskussion gehört –, dass es in den Bundesländerndurchaus unterschiedliche Herangehensweisen gibt. Hiernenne ich Nordrhein-Westfalen und auch Schleswig-Hol-stein, die mit Flüchtlingen unterschiedlich umgehen, diezum Kreis der im Antrag genannten gehören.Mit unserem Osterappell, den zu unserer Freude undÜberraschung ganz spontan 100 Abgeordnete unter-schrieben haben, wollten wir einen neuen Denkanstoß ge-ben, die begonnene Zwangsrückführung von Traumati-sierten, von Alten und Kranken, von Müttern mit kleinenKindern, von ethnisch gemischten Ehepaaren einzustel-len.An dieser Stelle erlaube ich mir, auf die besondereHartnäckigkeit des Kollegen Schwarz-Schilling in dieserSache hinzuweisen und mich dafür auch zu bedanken.
Das öffentliche Echo auf den Osterappell – das habenSie sicher alle zur Kenntnis genommen – war durchwegpositiv. Dies hat uns ermutigt, diesen Gruppenantrag ein-zubringen. Ermutigt hat uns – das will ich an dieser Stelleauch sagen – die Unterstützung von Hans Koschnick undauch die Rede vom Bundespräsidenten Johannes Rau.Johannes Rau sagte in seiner viel beachteten Rede überEinwanderung und Asyl, dass es zum einen Menschengibt, die wir hier bei uns brauchen und brauchen werden,die wir einladen, zu uns zu kommen, und solche, die unsbrauchen. Zu der letzten Kategorie gehören weitgehendjene, von denen wir heute sprechen. Einige, wenn auchwenige, gehören allerdings durchaus auch zu denen, diewir dringend brauchen. Ich denke da zum Beispiel an eineFrau aus Bosnien, um deren Verbleib in Deutschland sichder Inhaber einer Änderungsschneiderei in meinem Wahl-kreis händeringend bemüht; denn er findet sonst nieman-den.Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, dass circa 225 Ab-geordnete den Antrag unterschrieben haben, macht deut-lich, dass es für dieses Anliegen eine breite Unterstützungim Deutschen Bundestag gibt. Ich bin sehr froh darüber,dass Innenminister Schily sich eindeutig dafür ausgespro-chen hat, für den Personenkreis der Traumatisierten dengesetzlichen Rahmen voll auszuschöpfen.So viel Deutschland für die Flüchtlinge getan hat, sogroßherzig sollten wir jetzt mit denen umgehen, die die-ser schreckliche Krieg am stärksten und wohl auch dau-erhaft betroffen und beschädigt hat.
Wir sollten zur Kenntnis nehmen – der Kollege Schwarz-Schilling hat schon darauf hingewiesen –, dass Österreich65 000, Schweden 53 000 und Dänemark 27 000 Bosnierund Bosnierinnen dauerhaft aufnimmt. In den USA– auchdas wurde gesagt – haben bereits 140 000 Männer undFrauen aus Bosnien Aufnahme gefunden. Ich denke, wirsollten uns davon nicht beschämen lassen.Wir fordern in unserem Antrag mit den vielen Unter-schriften kein neues Gesetz; wir fordern auch keine Ge-setzesänderung. Wir bringen darin unsere Erwartungzum Ausdruck, im Rahmen bestehender Gesetze und un-ter Berücksichtigung auch der Genfer Konvention alles zuunternehmen, damit dem betroffenen Personenkreis keineAusreiseaufforderung, verbunden mit Abschiebungsdro-hung, ausgesprochen wird. Sollte dies schon geschehensein, dann sollte sie widerrufen werden.Ich möchte auch die Hoffnung zum Ausdruck bringen,dass die ausführenden Ausländerbehörden das Votum deshöchsten Souveräns in unserem Lande – ich gehe davonaus, dass die Abstimmung heute positiv verlaufen wird –zur Kenntnis nehmen, respektieren und danach handeln.
Wir fordern die Bundesregierung auf, sich dafür einzu-setzen, dass im Rahmen von Einzelfallprüfungen Mini-malkriterien angewendet werden und dass für diesen Per-sonenkreis, von dem wir heute sprechen, Möglichkeitenauch für einen längerfristigen Aufenthalt mit einem gesi-cherten Rechtsstatus in Deutschland geschaffen werden.Ich bin fest davon überzeugt, dass uns das gelingen wird,und bitte deshalb um Zustimmung. Ich bedanke mich
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dafür, dass wir hier heute Abend eine so breite Unterstüt-zung finden.Danke schön.
Nun erteile ich der
Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, F.D.P.-
Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kollegin-
nen! Herr Schwarz-Schilling, Sie haben als Kenner der
Region wirklich treffend, überzeugend und ergreifend die
Entwicklung und auch die Situation der derzeit noch in
Deutschland verbleibenden Flüchtlinge geschildert. Des-
halb darf für uns in dieser Debatte nicht der Satz gelten,
der die Ausländerpolitik derzeit mitbestimmt, nämlich:
Wir wollen die Menschen aufnehmen, die uns nützen, und
nicht die Menschen, die uns ausnutzen. – Dieser Satz galt
für uns, die Initiatoren dieses Antrages, nicht, denn wir
wollen gerade, dass es in der Flüchtlingspolitik einen an-
deren Tenor gibt.
Wir wollen erreichen – niemand besser als Herr
Schwarz-Schilling hat uns das mit zwei Beispielen vor
Augen geführt –, dass die zum Teil völlig perspektivlose
Situation von einer bestimmten Gruppe von Bürger-
kriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien ernst
genommen wird. Es handelt sich um Einzelschicksale.
Wir wollen erreichen, dass sich nicht nur Bürgermeis-
ter aller Parteien vor Ort an uns als Parlamentarier wen-
den mit dem Ziel einer Aufschiebung der gesetzten Aus-
reisefrist, einer Verlängerung der Duldung für eine Fami-
lie mit Kindern, sondern dass dies hier, wo es hingehört,
im Bundestag debattiert und auch von der Bundesregie-
rung aufgegriffen wird.
Wir wollen, dass die Möglichkeiten des Ausländer-
rechtes für die traumatisierten Flüchtlinge, für die Lager-
insassen, für die Kriegsdienstverweigerer und für die De-
serteure, für Mütter oder Väter allein mit Kleinkindern
und für unbegleitete Minderjährige ausgeschöpft werden.
So wie es innerhalb kürzester Zeit möglich gewesen
ist, mit der Blue Card in Bayern die Einwanderung von
Facharbeitskräften aus einem bestimmten Bereich auslän-
derrechtlich großzügig zu regeln, so ist es auch ohne
Problem möglich, diesen Personengruppen, die zudem
zahlenmäßig gar nicht mehr ins Gewicht fallen, einen ver-
festigten Aufenthaltsstatus nach dem geltenden Auslän-
derrecht zu geben. Dadurch kann ihnen Sicherheit gege-
ben werden, sodass sie nicht von einer Fristsetzung zur
nächsten leben müssen und möglicherweise Familien aus-
einander gerissen werden müssen.
Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des Grup-
penantrages beantragen ausdrücklich keine Änderung des
Ausländergesetzes. Es ist kein Gesetzentwurf. Wir wollen
die politische Entscheidung, dass das Ausländerrecht aus-
geschöpft wird, dass nach dem Ausländerrecht nicht nur
eine befristete Duldung erteilt wird, sondern ein verfes-
tigter Aufenthaltsstatus. Dass das möglich ist, zeigt schon
die von uns zu begrüßende Bewegung des Bundesinnen-
ministers, was die traumatisierten Flüchtlinge angeht.
In diesem Zusammenhang erlauben Sie mir ein Wort zu
der speziellen Berliner Situation. Nach der Praxis des
Berliner Innensenates werden fast alle Kriegsflüchtlinge
aus Bosnien, denen anerkannte Fachärzte in Deutschland
eine Traumatisierung bescheinigt haben, seit dem Früh-
jahr 1999 pauschal aufgrund von Anweisungen von Poli-
zeiärzten noch einmal begutachtet. Diese Gutachten und
auch ärztliche Bewertungen stehen häufig nicht in Über-
einstimmung mit internationalen Qualitätsstandards. Dies
ist – so haben es auch Verwaltungsgerichte in Berlin fest-
gestellt – eine rechtswidrige Praxis. Sie traumatisiert
diese Flüchtlinge zusätzlich.
Wir wollen, dass hiervon ein Signal ausgeht, dass diese
Praxis beendet wird. Die Innenministerkonferenz wird
diese Beendigung auf ihrer nächsten Tagung beraten und
hoffentlich beschließen.
Deshalb – ich habe nur eine sehr kurze Redezeit – bitte
ich Sie, diesen Gruppenantrag zu unterstützen; denn er
enthält nur Selbstverständliches zum geltenden Auslän-
derrecht.
Vielen Dank.
Jetzt hat das Wort die
Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.
Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Der Osterappell und der jetzt von 230 Kolleginnen
und Kollegen unterschriebene Gruppenantrag ist für mich
ein ganz außergewöhnliches Ereignis. Dieses Ereignis be-
wegt mich tief, weil es für die Menschenrechte in unse-
rem Land enorm wichtig ist.
Unsere Debatte heute Abend hat etwas von einer Stern-
stunde, nicht weil es schon so entsetzlich spät ist.
Gleich ist es wiederganz früh.Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Vielmehr ist diese politisch parlamentarische Ini-tiative, die, wie ich erwarte, positive Änderungen mit sichbringen wird, für unsere Glaubwürdigkeit wichtig. Glaub-würdigkeit bemisst sich am Umgang mit denen, die ver-folgt, die vertrieben, die Opfer von ganz schrecklichenVerbrechen geworden sind und die bei uns Hilfe und Zu-flucht gesucht und vielerorts gefunden haben. Denen soll
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Heide Mattischeck10916
jetzt genau dieser für ihr Leben und für ihre Zukunftnötige Schutz entzogen oder verweigert werden.Die 230 Abgeordneten sind vielleicht die bisher größteüberparteiliche parlamentarische Menschenrechtsgruppefür die Beachtung humanitärer Grundsätze in der Flücht-lingspolitik. 230 Abgeordnete mischen sich im allerbestenSinne ein und formulieren mit diesem Antrag deutlicheKritik an der menschenrechtlichen Realität in unsermLand. Sie schließen nicht die Augen, sie schauen nichtweg, sie schweigen nicht, sondern sie leisten damit de-mokratischen Widerstand gegen die Entrechtung desRechts von Flüchtlingen, gegen Ruck-zuck-Abschiebun-gen in eine völlig unsichere Zukunft. Bayern geht übri-gens mit besonders gnadenlosem Beispiel voran. Dennjetzt werden in Bayern selbst ehemalige Lagerhäftlinge ineiner wahren Abschiebewut von Abschiebungen nichtausgenommen. 230 Kolleginnen und Kollegen formulie-ren ihren Widerspruch gegen rigorose und unzumutbareHärte und einen unmenschlichen Umgang mit Schutzbe-dürftigen. Als Beispiel möchte ich nennen, dass in Berlin,wie Frau Leutheusser-Schnarrenberger ausgeführt hat,traumatisierte Flüchtlinge in Berlin in Handschellen zupolizeiärztlichen Gutachtern geführt werden.Ich bin froh und stolz, dass es gelungen ist, über Par-teigrenzen hinweg ein Bündnis für mehr Humanität zuschließen und als Deutscher Bundestag die Bundesregie-rung aufzufordern, von den Bundesländern das einzu-fordern, was seit langem und zu Recht von Kirchen, vonWohlfahrtsverbänden, von vielen Unternehmen, vonFlüchtlingsorganisationen und von Mitbürgern, die uns inunzähligen Briefen um Unterstützung in Einzelschicksa-len bitten, eingefordert wird.Wir fordern die politisch Verantwortlichen auf, die Lo-gik der Debatte endlich umzudrehen und die Schutzge-währung wieder in den Vordergrund zu stellen,
anstatt bürokratische und kalte Erlasse zu exerzieren,ohne Rücksicht auf die tatsächliche Situation in denHerkunftsländern oder auf die Realität, die Angst und dieSorgen der Betroffenen zu nehmen.Es braucht einen differenzierten Umgang mit spezifi-schen Gruppen, die nicht oder noch nicht zurückkehrenkönnen. Dabei handelt es sich, wie schon angesprochenworden ist, um allein stehende, alte, traumatisierte und be-hinderte Menschen sowie um ethnische Minderheiten wieRoma und Askali. Es handelt sich um Menschen, derenHäuser zerstört sind und die beim besten Willen nicht insNichts zurückkehren können.Wir brauchen eine gewissenhafte Einzelfallprüfungund wir brauchen die Gewährung von Bleiberecht für zumBeispiel junge Menschen, die faktisch in unsere Gesell-schaft integriert sind. Problemfälle – das sind die etwa50 000 noch verbliebenen Bosnier – sind kein Problem fürunsere Gesellschaft. Sie haben existenzielle Probleme,bei deren Lösung wir ihnen helfen müssen.Würden zum Beispiel traumatisierte Frauen jetztzwangsweise abgeschoben werden, würde ihnen eine Re-traumatisierung drohen. Ganz abgesehen davon gibt es inBosnien keine Möglichkeit, die Behandlung adäquat fort-zusetzen. Von einer freiwilligen Rückkehr zu sprechen istdaher purer Hohn.
Tatsache ist, dass massiver Ausreisedruck ausgeübtwird, ohne die Kritik von allen Hilfsorganisationen ernstzu nehmen. Im Menschenrechtsausschuss haben alleHilfsorganisationen auf die Situation im Herkunftslandhingewiesen. Es wird keine Rücksicht auf die Bitten vonUNMIK und UNHCR genommen, die ernsthaft davorwarnen, dass eine unkoordinierte und überstürzte Rück-führung von Menschen zum Beispiel in den Kosovo eineDestabilisierung mit sich bringen würde.Ich erwarte, dass unser Beschluss etwas bewirken wirdund nicht einfach zu den Akten gelegt wird. Ich erwarte,dass die Abgestumpftheit der Politik beendet wird unddass sich mancher Innenminister darauf besinnt – wie esunser Kollege Schwarz-Schilling gesagt hat –, was unserGrundgesetz zum Ausdruck bringt: Die Würde des Men-schen ist unantastbar. Das ist unser moralischer Imperativ,das ist unsere historische Verantwortung, die sich im Um-gang mit den Menschenrechten zeigen muss.Es geht nicht nur um das Schicksal von Flüchtlingenund Vertriebenen, es geht vor allem um die Stärke unsererDemokratie. Stark ist ein starker Staat nur dann, wenn erdie Schwachen schützt und ihnen das gewährt, was siebrauchen, nämlich Leben und Zukunft. Unsere Initiativeist also auch ein Beitrag für eine wehrhafte Demokratie inDeutschland.
Jetzt hat das Wort die
Kollegin Ulla Jelpke, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Als mir dieser Antrag von einigen meinerKollegen zur Unterschrift vorgelegt wurde, dachte ich,dieser Antrag hätte etwas Besonderes sein können. Ichdachte, Abgeordnete aus allen Parteien des DeutschenBundestages hätten sich für Menschen eingesetzt, die ineiner Notsituation stehen. Damit wäre der Antrag gera-dezu ein Lichtblick in der aktuellen Einwanderungsdis-kussion geworden. Es geht hier nämlich nicht um dieFrage der Nützlichkeit von Menschen, sondern um die be-drohliche Lage von Menschen.Herr Schwarz-Schilling, ich habe großen Respekt vorIhnen bezüglich der Rede, die Sie heute gehalten haben.Wenn ich mich hier umschaue, so sehe ich keinen einzi-gen Kollegen Ihrer Fraktion, der dem Innenausschuss an-gehört. Denn sie sind diejenigen, die in den letzten Mo-naten und Jahren immer wieder blockiert haben. Dadurchist es zu der Abschiebepolitik gekommen, die Sie heutekritisiert haben.
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Claudia Roth
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Diese Debatte beschämt mich deshalb, weil ich in denletzten Wochen und Monaten viele Anträge und Anfragenzu diesen Problemen gestellt habe. Ich möchte hier deut-lich sagen, dass ich es nicht gut finde, dass man bei einersolchen Frage nicht in der Lage war, PDS-Abgeordnetebei diesem Antrag einzubeziehen.
Dies ist ein wichtiger Antrag, der in die richtige Rich-tung geht. Auch ich bin der Meinung, dass Behinderte,Kranke, alte Menschen, Traumatisierte und Angehörigebestimmter Ethnien nicht abgeschoben werden dürfenund dass eine sorgfältige Einzelfallprüfung stattfindenmuss. Mit diesem Appell würde der Bundestag ein Zei-chen setzen, dass die gegenwärtige Abschiebepolitik sonicht fortgesetzt werden kann.Auch ich nenne das Beispiel einer kurdischen Familie,die gerade in das Kirchenasyl gegangen ist. Die Frauwurde vergewaltigt. Sie war schwanger und verlor ihrKind. Die Ausländerbehörde verlangt trotzdem, obwohldie Frau traumatisiert ist, dass sie das Land verlässt.Dieser Antrag kann nur ein Appell sein. Wir sind derMeinung, dass der Schutz von Kranken und Traumati-sierten vor Abschiebung nicht im Belieben der Auslän-derbehörde liegen darf. Wir müssen – das hat auch HerrSchwarz-Schilling angesprochen – § 53 Abs. 4 des Aus-ländergesetzes neu formulieren, und zwar so, dass die Eu-ropäische Menschenrechtskonvention entsprechend derAuslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Men-schenrechte bei der Entscheidung über eine Abschiebungbeachtet werden muss. Wir werden einen solchen Antragerarbeiten und vorlegen, damit das Abschieben nicht imBelieben der Ausländerbehörde liegt.Wir werden diesem Appell zustimmen. Ich wünschemir aber einen anderen Umgang mit Abgeordneten, diesich gerade bei solchen Fragen engagiert eingesetzt ha-ben.Danke.
Jetzt hat die Parla-
mentarische Staatssekretärin Dr. Cornelie Sonntag-
Wolgast das Wort.
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein bisschenschade, dass am Schluss dieser Debatte noch ein partei-politisches Gegeneinander aufgekommen ist, die eigent-lich so wohltuend ungewöhnlich verlaufen ist.Ich finde es schon eindrucksvoll, dass so viele Namenaus den unterschiedlichen politischen Lagern vereint aufeinem Antrag zu finden sind. Fraktionsübergreifende Ini-tiativen sind nach wie vor eine parlamentarische Rarität.Sie kommen am ehesten zustande, wenn es um Fragen derMenschenrechte geht. Ich erinnere mich noch – das liegtschon einige Jahre zurück – an die Große Anfrage vonweiblichen Abgeordneten. Es handelte sich hier um deninternationalen Frauenhandel. Ich erinnere mich auch andie übergreifende Initiative zu dem Vorstoß, die genitaleVerstümmelung schärfer zu ahnden.Die Initiative, über die wir heute sprechen, verlangt fürbestimmte Flüchtlingsgruppen aus Bosnien und Herzego-wina und aus dem Kosovo bis auf weiteres das Blei-berecht in Deutschland. Das entspricht einer breitenStimmung in der Bevölkerung der Bundesrepublik. Ichweiß aus der täglichen Praxis, wie viele solcher Bitten unsmündlich und schriftlich erreichen. Gerade Flüchtlingeaus Bosnien und Herzegowina haben in Deutschland einehohe Akzeptanz.Es wird einige von Ihnen überraschen, wenn ich Ihnensage: Die Bundesregierung fühlt sich durch diesen Antragkeineswegs auf die Armesünderbank gedrängt, sondernsie fühlt sich in mehreren Punkten bestätigt. Sie ist sichder Tatsache bewusst, dass bestimmte Personengruppenbesonderen Schutz brauchen.So sind zum Beispiel ethnische Minderheiten aus demKosovo nach wie vor von dem, was wir „zwangsweiseRückführung“ nennen, ausgenommen. Das Bundesinnen-ministerium hat die zuständigen Landesbehörden schonvor einem halben Jahr ausdrücklich gebeten, die freiwil-lige Rückkehr dieser Menschen äußerst behutsam anzu-gehen. Ebenso setzt sich das Bundesinnenministeriumdafür ein, dass Menschen, die als Zeugen vom Internatio-nalen Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien be-nannt worden sind, mit ihren Familien einen Auf-enthaltstitel in Deutschland bekommen.Minister Schily hat sich auch – das wurde schon er-wähnt – für die schwer Traumatisierten, vor allemFrauen, und für ehemalige Lagerhäftlinge aus Bosnien-Herzegowina und aus dem Kosovo eingesetzt mit demZiel, dass die Behörden den gesetzlichen Rahmen vollausschöpfen und von den auf drei Monate beschränktenDuldungen absehen, schon um diesen Menschen einegründliche medizinische und psychotherapeutische Be-handlung zu ermöglichen.Chronisch Traumatisierte sollen eine Aufenthaltsbe-fugnis erhalten, so geht es aus dem Schreiben an die In-nenminister und Senatoren der Länder hervor. Ich nutzedie Gelegenheit, um die zuständigen Behörden ausdrück-lich zu bitten, auch entsprechend zu verfahren. Sensibi-lität und der Wille, Ermessensspielräume wirklich undentschieden auszunutzen, sollten auch vor den Türen derörtlichen Ausländerämter nicht Halt machen.
Auch wer schon im Rentenalter ist und keine Angehöri-gen in Bosnien-Herzegowina hat, ist gegenwärtig eben-falls von der Rückführung ausgenommen.Schließlich möchte ich darauf hinweisen, dass wir imDialog mit dem Bundesministerium für Arbeit und So-zialordnung über eine Lockerung des Arbeitsverbotesmit Blick auf Flüchtlinge und Asylbewerber beraten unddass wir, so hoffe ich, in allernächster Zeit zu einer Lö-
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Ulla Jelpke10918
sung kommen werden, die den Gegebenheiten auf demArbeitsmarkt ebenso gerecht wird wie den berechtigtenInteressen der Betroffenen.Das Prinzip Freiwilligkeit – hier unterscheiden wiruns vielleicht in Nuancen, Frau Kollegin Roth – hat sichbei der Rückkehr doch bewährt. Wer hätte schon vor zweioder drei Jahren gedacht, dass sich von den fast 350 000Flüchtlingen der allergrößte Anteil aus freien Stückenwieder in die Heimat begeben würde? Jetzt sind noch et-was mehr als 38 000 Menschen in Deutschland, die ei-gentlich ausreisen müssten. Ende des Jahres, so schätztder UNHCR, werden es voraussichtlich noch 21 000 sein.Den entsprechenden politischen Willen der Länder vo-rausgesetzt, könnte zu diesem Zeitpunkt im Rahmen derInnenministerkonferenz eine Altfallregelung für dieseMenschen vereinbart werden.Ich muss genauso deutlich darauf hinweisen, dass wirnicht generell auf das Mittel der zwangsweisen Rück-führung verzichten können. Außerdem haben wir es – daswissen alle, die den Antrag unterzeichnet haben – mit derKompetenz der Länder zu tun.Ich möchte trotzdem klar unterstreichen: Die Bundes-regierung versteht diesen Antrag als eindringlichen Ap-pell vieler, die sich aus großer Verantwortung für dasSchicksal der betroffenen Menschen zu Wort melden.Dass dieser Aufruf von so vielen Abgeordneten unter-schiedlicher politischer Lager getragen wird, stellt unse-rer parlamentarischen Demokratie, glaube ich, ein gutesZeugnis aus.Ich bedanke mich.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag mit
dem Titel „Humanitäre Grundsätze in der Flüchtlingspo-
litik beachten“, Drucksache 14/3729. Wer stimmt für die-
sen Antrag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Damit ist
der Antrag einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 c auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Zu-
sammenarbeit von Arbeitsämtern und Trägern
der Sozialhilfe
– Drucksache 14/3765 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ich eröffne die Aussprache. Alle Reden zu diesem Ta-
gesordnungspunkt sind zu Protokoll gegeben.1) Deshalb
schließe ich die Aussprache wieder.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 14/3765 an den in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschuss vorgeschlagen. Gibt es anderweitige
Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf heute, Freitag, den 7. Juli 2000, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.