Protokoll:
14111

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 111

  • date_rangeDatum: 29. Juni 2000

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:09 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 14/111 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 111. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 I n h a l t : Nachträgliche Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeordneten Ursula Lietz und Dr. Dieter Thomae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10421 A Eintritt des Abgeordneten Bernd Wilz in den Deutschen Bundestag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10421 A Wahl der Abgeordneten Marlene Rupprecht als stellvertretendes Mitglied in die Parlamen- tarische Versammlung des Europarates . . . . . 10421 B Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . 10421 B Absetzung der Tagesordnungspunkte 18 a und b 10422 C Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 10422 C Begrüßung des Generalsekretärs der OSZE, Herrn Jan Kubis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10477 A Zusatztagesordnungspunkt 2: Abgabe einer Regierungserklärung: Aus- stieg aus der Kernenergie – Chance für eine Energiepolitik im gesellschaftlichen Konsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10423 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Antrag der Abgeordneten Dr. Peter Paziorek, Dr. Klaus W. Lippold (Offen- bach), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion CDU/CSU: Die Folgen des Ausstiegs aus der Kernenergie für den Standort Deutschland (Drucksache 14/3667) . . . . . . . . . . . . . . . . 10423 B in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Kurt-DieterGrill, Gunnar Uldall, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion CDU/CSU: Energie- politik für Deutschland – Konsequenzenaus dem Energiedialog 2000(Drucksache 14/3507) . . . . . . . . . . . . . . . . 10423 B Gerhard Schröder, Bundeskanzler . . . . . . . . . 10423 C Dr. Angela Merkel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 10426 B Jürgen Trittin, Bundesminister BMU . . . . . . . 10429 C Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/CSU 10432 B Jürgen Trittin, Bundesminister BMU . . . . . . . 10432 C Walter Hirche F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10432 D Michael Müller (Düsseldorf) SPD . . . . . . . . . 10435 B Eva-Maria Bulling-Schröter PDS . . . . . . . . . 10437 B Peter Dreßen SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10438 A Christoph Matschie SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 10439 C Kurt-Dieter Grill CDU/CSU . . . . . . . . . . . 10441 B Dr. Otto Wiesheu, Staatsminister (Bayern) . . 10441 D Christoph Matschie SPD . . . . . . . . . . . . . . 10443 C Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10444 B Dr. Peter Paziorek CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 10445 D Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10446 A Volker Jung (Düsseldorf) SPD . . . . . . . . . . . . 10448 A Kurt-Dieter Grill CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 10449 B Dr. Werner Müller, Bundesminister BMWi . . 10451 A Kurt-Dieter Grill CDU/CSU . . . . . . . . . . . 10452 C Walter Hirche F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10454 B Tagesordnungspunkt 4: Abgabe einer Regierungserklärung: Zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in Feira am 19./20. Juni 2000 . . . . . . . . . 10455 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Ursula Lötzer, Rolf Kutzmutz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS: E-Europe: die europä- ische Informationsgesellschaft sozial und demokratisch gestalten (Drucksache 14/3623) . . . . . . . . . . . . . . . . 10455 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Fraktion CDU/CSU: Euro- päische Lebensmittelbehörde nach Deutsch- land (Drucksache 14/3669) . . . . . . . . . . . . . . . . 10455 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle, Detlef Parr, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion F.D.P.: Europäische Lebensmittelbehörde nach Bonn holen (Drucksache 14/3300) . . . . . . . . . . . . . . . . 10455 D Hans Eichel, Bundesminister BMF . . . . . . . . 10455 D Peter Hintze CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 10459 A Joachim Poß SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10461 C Carl-Ludwig Thiele F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . 10463 B Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10465 A Hans Michelbach CDU/CSU . . . . . . . . . . . 10466 A Carl-Ludwig Thiele F.D.P. . . . . . . . . . . . . . 10466 D Wolfgang Gehrcke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 10467 C Markus Meckel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10468 C Dr. Gerd Müller CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 10469 D Dietmar Nietan SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10471 C Dr. Gerd Müller CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 10473 A Tagesordnungspunkt 26: Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Anpassungsproto- kollen zu den Europa-Abkommen zwischen den Europäischen Gemein- schaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits, der Republik Ungarn, der Tschechischen Republik, der Slowa- kischen Republik, der Republik Po- len, der Republik Bulgarien und Rumänien andererseits (Drucksache 14/3464) . . . . . . . . . . . . . 10473 D b) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 7. September 1999 zwischen der Bun- desrepublik Deutschland und der Re- publik Usbekistan zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Ge- biet derSteuern vom Einkommen und vom Vermögen (Drucksache 14/3465) . . . . . . . . . . . . . 10473 D c) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 21. Mai 1999 zwischen der Regierung derBundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Moldau über den Luftverkehr (Drucksache 14/3475) . . . . . . . . . . . . . 10473 D d) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 28. Juli 1995 zwischen der Regie- rung der Bundesrepublik Deutsch- land und derRegierung derAserbaid- schanischen Republik über den Luft- verkehr und zu dem Protokoll vom 29. Juni 1998 zur Berichtigung und Ergänzung des Abkommens vom 28. Juli 1995 zwischen der Regierung derBundesrepublik Deutschland und der Regierung der Aserbaidschani- schen Republik überden Luftverkehr (Drucksache 14/3476) . . . . . . . . . . . . . 10474 A e) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 6. März 1997 zwischen den Par- teien des Nordatlantikvertrags über den Geheimschutz (Drucksache 14/3457) . . . . . . . . . . . . . 10474 A f) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes (Drucksache 14/3553) . . . . . . . . . . . . . 10474 B g) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umrechnung und Glät- tung steuerrechtlicher Euro-Beträge (Drucksache 14/3554) . . . . . . . . . . . . .10474 B h) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung verkehrswe- gerechtlicher Vorschriften (Drucksache 14/3646) . . . . . . . . . . . . . 10474 B i) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000II Gesetzes zur Bekämpfung der Ar- beitslosigkeit Schwerbehinderter (Drucksache 14/3645) . . . . . . . . . . . . . 10474 C j) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Bundesfern- straßengesetzes (Drucksache 14/2994) . . . . . . . . . . . . . 10474 C k) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Änderung des Schornstein- fegergesetzes und anderer schorstein- fegerrechtlicher Vorschriften (Drucksache 14/3650) . . . . . . . . . . . . . 10474 C l) Antrag der Abgeordneten Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid), Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Abgabe von Hilfsmitteln durch Gesundheits- handwerker sichern (Drucksache 14/3184) . . . . . . . . . . . . . 10474 D m) Antrag der Abgeordneten Detlef Parr, Dr. Dieter Thomae, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion F.D.P.: Hoch- wertige Hilfsmittelversorgung durch Gesundheitshandwerker sichern (Drucksache 14/2787) . . . . . . . . . . . . . 10474 D n) Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus Grehn, Petra Bläss, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion PDS: Aufhe- bung des Asylbewerberleistungsge- setzes (Drucksache 14/3381) . . . . . . . . . . . . . 10474 D o) Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Heidi Lippmann, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion PDS: Einstufung des irakischen Giftgasangriffs am 16. März 1988 auf Halabja als Völ- kermord – Humanitäre Hilfe für die Opfer des Angriffs (Drucksache 14/2916) . . . . . . . . . . . . . 10475 A Tagesordnungspunkt 27: Abschließende Beratungen ohne Aus- sprache a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 14.Dezember1998 zurÄnderung des am 3. Dezember 1980 in Bonn un- terzeichneten Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika zur Vermeidung der Doppelbesteue- rung auf dem Gebiet der Nachlass-, Erbschaft- und Schenkungsteuern (Drucksachen 14/3248, 14/3678) . . . . 10475 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau und der Fraktion PDS: Anerkennung eines Asylanspruchs für jugoslawi- sche Deserteure und Kriegsdienst- verweigerer (Drucksachen 14/1183, 14/3540) . . . . 10475 C c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu- nität und Geschäftsordnung zu der Un- terrichtung durch das Europäische Par- lament gemäß § 93 Abs. 1 GO: Be- schluss des Europäischen Parlaments über die Prüfung der Mandate zur 5. Direktwahl zum Europäischen Par- lament vom 10. bis 13. Juni 1999 – EuB-EP 575 – (Drucksachen 14/2817 Nr. 1.5, 14/3437) 10475 D d) – j) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses Sammelübersichten 167, 168, 169, 170, 171, 172, 173 zu Petitionen (Drucksachen 14/3529, 14/3530, 14/3531, 14/3532, 14/3533, 14/3534, 14/3536) . . .10476 A, B, C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 15: Beschlussempfehlung des Rechtsaus- schusses zu den dem Bundestag zugelei- teten Streitsachen vor dem Bundesver- fassungsgericht (Drucksache 14/3703) . . . . . . . . . . . . . . . . 10476 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 16: Beschlussempfehlung des Rechtsaus- schusses zu den dem Bundestag zugelei- teten Streitsachen vor dem Bundesver- fassungsgericht (Drucksache 14/3704) . . . . . . . . . . . . . . . . 10476 D Tagesordnungspunkt 6: Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 25 Jahre KSZE/OSZE (Drucksache 14/3666) . . . . . . . . . . . . . . . . 10476 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion F.D.P.: OSZE stärken (Drucksache 14/3674) . . . . . . . . . . . . . . . . 10476 D Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 III Uta Zapf SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10477 A Willy Wimmer (Neuss) CDU/CSU . . . . . . . . 10479 A Rita Grießhaber BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10480 B Ulrich Irmer F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10481 A Wolfgang Gehrcke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 10482 B Joseph Fischer, Bundesminister AA . . . . . . . . 10483 B Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU . . . . . . . . . . 10485 A Prof. Gert Weisskirchen (Wiesloch) SPD . . . 10486 C Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10487 B Hans Raidel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 10487 C Zusatztagesordnungspunkt 8: Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bun- desregierung zur jüngsten Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation, wo- nach Deutschland im internationalen Vergleich der Gesundheitssysteme Platz 25 einnimmt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10489 A Dr. Ruth Fuchs PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10489 A Dr. Martin Pfaff SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10490 A Dr. Wolf Bauer CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 10491 B Christa Nickels, Parl. Staatssekretärin BMG 10492 A Dr. Dieter Thomae F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . 10492 D Eike Hovermann SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10493 C Annette Widmann-Mauz CDU/CSU . . . . . . . 10494 C Katrin Dagmar Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10495 D Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10496 D Götz-Peter Lohmann (Neubrandenburg) SPD 10497 D Dr. Hans Georg Faust CDU/CSU . . . . . . . . . . 10498 D Helga Kühn-Mengel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 10499 D Aribert Wolf CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 10501 A Monika Knoche BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10502 A Tagesordnungspunkt 7: a) Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Gunnar Uldall, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Initiative zur Stärkung der Ostseeregion (Drucksache 14/3293) . . . . . . . . . . . . . 10503 A b) Antrag der Fraktionen SPD und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Die Chancen der Ostseekooperation nutzen (Drucksache 14/3587) . . . . . . . . . . . . . 10503 B in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion F.D.P.: Für eine kohärente Ostseepolitik (Drucksache 14/3675) . . . . . . . . . . . . . . . . 10503 B Franz Thönnes SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10503 B Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU . . . 10504 D Angelika Beer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10507 A Jürgen Koppelin F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10508 C Heide Simonis, Ministerpräsidentin (Schleswig- Holstein) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10510 B Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU 10511 C Helmut Holter, Minister (Mecklenburg-Vorpom- mern) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10512 D Johannes Pflug SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10513 D Dr.-Ing. Paul Krüger CDU/CSU . . . . . . . . . . 10515 A Christoph Zöpel, Staatsminister AA . . . . . . . . 10516 A Tagesordnungspunkt 8: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Ver- ordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1251/1999 zurEin- führung einer Stützungsregelung fürEr- zeuger bestimmter landwirtschaftlicher Kulturpflanzen zur Einbeziehung von Faserflachs und -hanf; Vorschlag für ei- ne Verordnung des Rates über die ge- meinsame Marktorganisation für Faser- flachs und -hanf (Drucksachen 14/2747 Nr. 2.54, 14/3415) 10517 A Waltraud Wolff (Zielitz) SPD . . . . . . . . . . . . . 10517 B Albert Deß CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10519 A Steffi Lemke BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10521 A Marita Sehn F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10522 A Kersten Naumann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10522 D Tagesordnungspunkt 9: Zweite und dritte Beratung des von den Ab- geordneten Ernst Burgbacher, Gisela Frick, weiteren Abgeordneten und der Fraktion F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Änderung des Einkommen- steuergesetzes (Abschaffung der Trink- geldbesteuerung) (Drucksachen 14/1731 (neu), 14/3272) . . 10523 C Ernst Burgbacher F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . 10523 D Horst Schild SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10525 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000IV Klaus-Peter Willsch CDU/CSU . . . . . . . . . . . 10526 A Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10528 A Heidemarie Ehlert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 10529 A Tagesordnungspunkt 10: Antrag des Abgeordneten Werner Lensing und weiteren Abgeordneten der Fraktion CDU/CSU, der Abgeordneten Uta Titze- Stecher und weiteren Abgeordneten der Fraktion SPD, der Abgeordneten Ekin Deligöz und weiteren Abgeordneten der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie des Abgeordneten Hildebrecht Braun (Augsburg) und weiteren Abgeordneten der Fraktion F.D.P.: Für einen verbes- serten Nichtraucherschutz am Arbeits- platz (Drucksache 14/3231) . . . . . . . . . . . . . . . . 10529 C Werner Lensing CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 10529 D Uta Titze-Stecher SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10531 C Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. . . . . . . 10533 C Ekin Deligöz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10534 A Petra Bläss PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10535 A Dr. Irmgard Schwaetzer F.D.P. . . . . . . . . . . . . 10535 D Tagesordnungspunkt 11: Antrag der Abgeordneten Ulf Fink, Eva- Maria Kors, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Zukunft der sozialen Pflegeversicherung (Drucksache 14/3506) . . . . . . . . . . . . . . . . 10536 C Ulf Fink CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10536 C Regina Schmidt-Zadel SPD . . . . . . . . . . . . . . 10537 B Detlef Parr F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10539 B Katrin Dagmar Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10540 B Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10541 C Erika Reinhardt CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 10541 D Wolfgang Zöller CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 10542 B Tagesordnungspunkt 12: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Abgeordneten Ursula Burchardt, Ulrike Mehl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion SPD sowie der Abgeordneten Matthias Berninger, Dr. Uschi Eid, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Bildung für eine nachhaltige Entwicklung (Drucksachen 14/1353, 14/3319) . . . . . . . 10543 C Tagesordnungspunkt 13: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Klaus Riegert, Friedrich Bohl, weiteren Abgeordneten und der Fraktion CDU/CSU eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Vereinsförderung und der Verein- fachung der Besteuerung der ehrenamt- lich Tätigen (Drucksachen 14/1145, 14/3412) . . . . . . . 10543 D Klaus Riegert CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 10544 A Wilhelm Schmidt (Salzgitter) SPD . . . . . . . . 10545 D Gerhard Schüßler F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . 10547 D Winfried Hermann BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10548 C Dr. Klaus Grehn PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10549 D Tagesordnungspunkt 15: a) Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Den so- zialen Wohnungsbau erhalten und reformieren (Drucksache 14/3664) . . . . . . . . . . . . . 10550 D b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Dirk Fischer (Hamburg), weiteren Ab- geordneten und der Fraktion CDU/CSU eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes zur Änderung des Wohnungsbindungsgesetzes und des Altschuldenhilfe-Gesetzes (Drucksachen 14/2763, 14/3578) . . . . 10550 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Dirk Fischer (Hamburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Soziale Wohnraumförderung – Reform im Einklang mit einer kohärenten Woh- nungs- und Städtebaupolitik (Drucksache 14/3668) . . . . . . . . . . . . . . . . 10551 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 11: Antrag der Abgeordneten Horst Friedrich (Bayreuth), Hans-Michael Goldmann, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Wohngeld erhöhen, Bürokratie abbauen, Länderkompetenzen stärken: Reform- chancen beim sozialen Wohnungsbau konsequent nutzen (Drucksache 14/3676) . . . . . . . . . . . . . . . . 10551 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 V Wolfgang Spanier SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10551 A Dr. Michael Meister CDU/CSU . . . . . . . . . . . 10553 B Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10555 A Hans-Michael Goldmann F.D.P. . . . . . . . . . . . 10556 B Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10557 A Christine Ostrowski PDS . . . . . . . . . . . . . . . . 10558 B Dieter Maaß (Herne) SPD . . . . . . . . . . . . . . . 10559 C Dr.-Ing. Dietmar Kansy CDU/CSU . . . . . . . . 10560 D Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Fraktion CDU/CSU: Import- verbot für qualgezüchtete Tiere (Drucksache 14/3505) . . . . . . . . . . . . . . . . 10562 C Tagesordnungspunkt 16: Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- nanzausschusses zu dem Antrag der Abge- ordneten Heidemarie Ehlert, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion PDS: Bekämpfung der sinkenden Zahlungsmoral durch Änderung des Umsatzsteuerrechtes (§ 20 UStG) (Drucksachen 14/1878, 14/2843) . . . . . . . 10562 D Heidemarie Ehlert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 10563 A Tagesordnungspunkt 23: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Uwe Jens, Dr. Ditmar Staffelt, weiteren Abgeordneten und der Fraktion SPD sowie den Abgeordneten Dr. Antje Vollmer, Margareta Wolf (Frank- furt), weiteren Abgeordneten und der Frakti- on BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zurSiche- rung der nationalen Buchpreisbindung (Drucksachen 14/3509, 14/3699) . . . . . . . 10564 A Tagesordnungspunkt 25: Zweite und dritte Beratung des Entwurfs ei- nes Zweiten Gesetzes zur Änderung des Rindfleischetikettierungsgesetzes (Drucksachen 14/3369, 14/3648, 14/3700) 10564 B Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10564 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 10565 A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags: Für einen verbesserten Nichtrau- cherschutz am Arbeitsplatz (Tagesordnungs- punkt 10) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10565 D Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. . . . . . . 10565 D Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung: Bildung für eine nach- haltige Entwicklung (Tagesordnungspunkt 12) 10566 D Adelheid Tröscher SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 10566 D Ursula Burchardt SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10567 D Ulrike Mehl SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10568 D Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) CDU/CSU 10569 C Winfried Hermann BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10572 C Ulrike Flach F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10573 A Dr. Heinrich Fink PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10573 D Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Importverbot für qualgezüchtete Tiere (Tagesordnungspunkt 14) . . . . . . . . . . . . . . . . 10574 B Marianne Klappert SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 10547 B Heinrich-Wilhelm Ronsöhr CDU/CSU . . . . . 10576 C Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10577 C Ulrich Heinrich F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10578 A Eva-Maria Bulling-Schröter PDS . . . . . . . . . 10578 D Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung: Bekämpfung der sin- kenden Zahlungsmoral durch Änderung des Umsatzsteuerrechtes (§ 20 UstG) (Tagesord- nungspunkt 16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10579 B Simone Violka SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10579 B Jochen-Konrad Fromme CDU/CSU . . . . . . . 10580 D Werner Schulz (Leipzig) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10583 B Jürgen Türk F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10583 D Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der nationalen Buchpreisbindung (Tagesord- nungspunkt 23) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10584 A Monika Griefahn SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10584 A Dr. Norbert Lammert CDU/CSU . . . . . . . . . . 10585 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000VI Dr. Antje Vollmer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10585 C Gudrun Kopp F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10586 A Dr. Heinrich Fink PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10586 C Siegmar Mosdorf, Parl. Staatssekretär BMWi 10587 A Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Än- derung des Rindfleischetikettierungsgesetzes (Tagesordnungspunkt 25) . . . . . . . . . . . . . . . . 10587 D Jella Teuchner SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10587 D Peter Bleser CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 10589 B Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10590 A Ulrich Heinrich F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10591 A Kersten Naumann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10591 D Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 VII Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000
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    Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 Vizepräsident Rudolf Seiters 10564 (C) (D) (A) (B) 1)Anlage 6 2) Anlage 7 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10565 (C) (D) (A) (B) Adam, Ulrich CDU/CSU 29.06.00** Altmaier, Peter CDU/CSU 29.06.00 Becker-Inglau, Ingrid SPD 29.06.00 Behrendt, Wolfgang SPD 29.06.00** Bettin, Grietje BÜNDNIS 90/ 29.06.00 DIE GRÜNEN Bindig, Rudolf SPD 29.06.00** Dr. Blüm, Norbert CDU/CSU 29.06.00 Brudlewsky, Monika CDU/CSU 29.06.00 Bühler (Bruchsal), CDU/CSU 29.06.00** Klaus Buwitt, Dankward CDU/CSU 29.06.00** Follak, Iris SPD 29.06.00 Friedrich (Altenburg), SPD 29.06.00 Peter Gebhardt, Fred PDS 29.06.00 Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 29.06.00 Haack (Extertal), Karl SPD 29.06.00** Hermann Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 29.06.00 DIE GRÜNEN Dr. Hornhues, CDU/CSU 29.06.00** Karl-Heinz Hornung, Siegfried CDU/CSU 29.06.00** Hörster, Joachim CDU/CSU 29.06.00** Jäger, Renate SPD 29.06.00** Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 29.06.00 Lintner, Eduard CDU/CSU 29.06.00** Lörcher, Christa SPD 29.06.00** Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 29.06.00** Erich Prof. Dr. Meyer (Ulm), SPD 29.06.00 Jürgen Müller (Berlin), PDS 29.06.00** Manfred Neumann (Gotha), SPD 29.06.00** Gerhard Polenz, Ruprecht CDU/CSU 29.06.00 Dr. Schäfer, Hansjörg SPD 29.06.00 Schily, Otto SPD 29.06.00 Schloten, Dieter SPD 29.06.00** Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 29.06.00 Hans Peter von Schmude, Michael CDU/CSU 29.06.00** Sothmann, Bärbel CDU/CSU 29.06.00 Weiß (Emmendingen), CDU/CSU 29.06.00 Peter Wiese (Hannover), SPD 29.06.00 Heino Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 29.06.00** Wolf (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 29.06.00 Margareta DIE GRÜNEN Zierer, Benno CDU/CSU 29.06.00** ** für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm-lung des Europarates Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags: Für einen verbesser- ten Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz (Tages- ordnungspunkt 10) Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Wenn man die heutige Rednerliste zum Thema Nichtraucherschutz durchschaut, mag der Eindruck aufkommen, als sei sich der deutsche Bundestag im Grunde darüber einig, dass unser Initiative-Antrag richtig und notwendig ist. Da ich jedoch weiß, dass viele Abgeordnete aus den unterschied- lichsten Gründen anderer Meinung sind, danke ich aus- drücklich meiner Kollegin Irmgard Schwaetzer dafür, dass sie ihre Gegenposition hier vor der Öffentlichkeit deutlich macht. Sie spricht erkennbar für viele Kollegin- nen und Kollegen, die es vorgezogen haben, heute nichts zu sagen. Sich zu bedanken heißt aber nicht, ihr auch zu- zustimmen. Ganz im Gegenteil: Ich habe als Mitinitiator eines verbesserten Nichtraucherschutzes in den vergange- nen Monaten dazu beigetragen, dass aller ideologischer entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht Ballast beim Nichtraucherschutz gestrichen wurde. Wir wollen nicht die Menschen erlösen. Wir wollen auch nicht als quasi selbsternannte Pfleger unsere Einsicht an die Stelle der Entscheidung willensschwacher Raucher set- zen. Kurz: Als Liberaler respektiere ich auch den Willen des Einzelnen, der sich selbst umbringen will, als Raucher schleichend und auf Raten. Ich halte aber auch nichts von Klagen krebskranker Dauerraucher gegen die Produzen- ten von Tabakwaren, die angeblich über die Gesundheits- risiken nicht genug aufgeklärt haben. Ich halte es für außerordentlich ärgerlich, wie in der Öffentlichkeit und eben auch bei einem großen Teil der Abgeordneten die Gefahren des Rauchens und des Mit- rauchen-Müssens verharmlost werden. Wer seine Augen noch zum Lesen und seinen Verstand noch zum Nachden- ken hat, kommt um die Erkenntnis nicht herum, dass Ni- kotin wohl der größte Killer in Deutschland ist. Ich will aber heute die gesundheitlichen Gefahren des Rauchens und des Mitrauchen-Müssens gar nicht in den Vorder- grund stellen, da dies meine Mitinitiatoren bereits getan haben. Ich verweise in diesem Zusammenhang nur darauf, dass in Deutschland Gefährdungen durch Asbest oder Formaldehyd oder PCB am Arbeitsplatz sehr ernst ge- nommen werden, dass ganze Gebäude abgerissen oder mit horrendem Aufwand saniert werden, dass aber gleich- zeitig das Problem der Zuführung des Umweltgiftes Nummer eins, Nikotin, in unglaublicher Weise vernied- licht wird. Wir haben eine Arbeitsstättenverordnung, die von den jeweiligen Regierungen rot-gelb oder schwarz-gelb im- mer wieder verfeinert wurde. Sie regelt die Zahl der Beine eines Stuhls im Büro, verpflichtet uns selbst in Kleinstbe- trieben zur Errichtung von getrennten Toiletten für Da- men und Herren und bemüht sich, alles Mögliche – Sinn- volle, aber nicht zwingend Notwendige – im betrieblichen Bereich sicherzustellen. Wenn aber ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin un- ter der Nikotinzufuhr am Arbeitsplatz leidet, dann hat sie keinen Schutz durch unsere Gesetze oder Verordnungen. Sie muss sich selbst gegenüber den Mitarbeitern, die am Arbeitsplatz rauchen wollen, und gegenüber dem Arbeit- geber, ja oft auch gegenüber dem Betriebsrat rechtferti- gen, um ihren natürlichen Anspruch auf einen rauchfreien Arbeitsplatz durchsetzen zu können. Es ist abenteuerlich, wenn hier auf die Eigenverant- wortung und Eigeninitiative des einzelnen Arbeitnehmers abgestellt wird. Warum in Gottes Namen soll er Kollegin- nen und Kollegen verärgern und seinen Anspruch auf gute Luft verteidigen müssen? Warum muss er sich von törich- ten Kollegen als scheinbar illoyal, jedenfalls als illiberal bezeichnen lassen? Warum muss er die Ochsentour durch drei Gerichtsinstanzen machen, um schließlich beim Bundesarbeitsgericht Recht zu bekommen? Auch derjenige, der beim Arbeitsgericht gewinnt, muss in erster Instanz seine Kosten oder die Kosten des Anwal- tes selbst zahlen. Warum diesen finanziellen, zeitlichen und emotionalen Aufwand dem einzelnen Arbeitnehmer aufbürden, obwohl es eine selbstverständliche Pflicht des Arbeitgebers ist, dafür zu sorgen, dass seine Mitarbeiter in guter Luft, das heißt in nicht gesundheitsgefährdender, aber auch in angenehmer Umgebung arbeiten können? Es ist Teil der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers, das Mögliche für die Gesundheit und die Lebensqualität sei- ner Mitarbeiter zu tun. Wir wissen aber, dass bei Milli- onen von Arbeitsplätzen die Sicherstellung eines rauch- freien Arbeitsplatzes nicht gewährleistet ist, obwohl dies ohne Schwierigkeiten möglich wäre. Kurz: Wir halten es für eine schlichte Notwendigkeit, dass der Arbeitgeberseite durch die Arbeitsstättenverord- nung deutlich gemacht wird, welche Pflichten ein Arbeit- geber auch im Bereich der Gesundheitsvorsorge und im Bereich des Schutzes vor schlechter Luft zukommt. Gewiss gibt es auch andere üble Düfte. Da wir uns bei unserem Thema schon an der Schnittstelle von Gesund- heitspolitik und Sozialpolitik befinden, darf ich die Sache hier auch beim Namen nennen: Viele Menschen leiden ge- legentlich unter Blähungen. Es ist gesellschaftlicher Kon- sens durch alle Gruppen der Bevölkerung, dass Probleme mit Blähungen an Orten gelöst werden, wo andere Men- schen nicht belästigt werden. Nun geht es bei der Abluft in solchen Fällen nicht um gesundheitsgefährdende, son- dern nur um die das Wohlbefinden beeinträchtigende Zu- führung von übler Luft. Beim Mitrauchen-Müssen wird die Lebensfreude in ähnlicher Weise beeinträchtigt; dazu kommt noch die Gesundheitsgefährdung. Leider hat sich durch die Dominanz der Raucher in der Gesellschaft bis- her nicht in gleicher Weise wie bei dem Problem der Blähungen ein gesellschaftlicher Konsens entwickelt, dass man nikotingeschwängerte Abluft den Kollegen nicht zumutet. Natürlich können wir diese Botschaft im Einzelge- spräch vielen Menschen sagen: Denk daran, dass andere nicht in Deinem Abluftkamin sitzen wollen! Dennoch sollten wir alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer erreichen und diejenigen, die den Mut nicht aufbringen, gegen die Mitarbeiter, Betriebsrat und Chefs anzugehen, stützen. Daher unser Antrag, die Arbeitsstättenordnung zu ändern. Bitte stimmen Sie diesem Anliegen zu! Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung: Bildung für eine nachhaltige Entwicklung (Tagesord- nungspunkt 12) Adelheid Tröscher (SPD):Mit der Agenda 21 hat die Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Ent- wicklung, UNCED, ein Schlussdokument vorgelegt, das die Unterzeichnerstaaten verpflichtet, ihre Gesamtpolitik am Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung auszurichten. Insbesondere in Kapitel 36 der Agenda 21 wird dazu aufgerufen, auch bei uns die Bildungsinvestitionen zu- gunsten eines nachhaltigen Entwicklungsweges substain- able development – auf allen Ebenen – national, regional Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10566 (C) (D) (A) (B) und kommunal –, in allen Bereichen – schulisch und außerschulisch – sowie bei allen Akteuren – staatlichen und nichtstaatlichen – zu steigern. Hierzu braucht man Mittel und Konzepte. Dabei werden vor allem an die Umweltbildung und die entwicklungspolitische Bildung neue Anforderungen he- rangetragen. Die Lösung der globalen Probleme verlangt einen tief greifenden gesellschaftlichen und politischen Wandel. Und gerade dabei kommt der schulischen wie außerschulischen Bildungsarbeit eine Schlüsselrolle zu. Die Förderung des Bildungswesens gehört zu den Schwerpunkten der deutschen Entwicklungszusammen- arbeit. Viele Länder, vor allem in Afrika südlich der Sa- hara, sind kaum noch in der Lage, die hohen Kosten, die ein halbwegs funktionierendes Bildungswesen verur- sacht, aufzubringen. Erforderliche Reformen können oft nicht durchgeführt werden. Es gilt jedoch, immer stärkere Jahrgänge der jungen Generation mit Kenntnissen und Fertigkeiten auszustatten, die für eine aktive Beteiligung am wirtschaftlichen und sozialen Leben notwendig sind. Im Mittelpunkt unserer Entwicklungszusammenarbeit im Bildungsbereich steht insbesondere der Auf- und Aus- bau von Bildungseinrichtungen in den Entwicklungslän- dern selbst. Daneben hat die Aus- und Fortbildung von Angehörigen aus den Partnerländern in der Bundesrepu- blik eine ergänzende Funktion. Dies basiert vor allem auf folgenden Erkenntnissen: Investitionen in die Grundbildung haben hohe volks- wirtschaftliche und persönliche Erträge; berufliche Bil- dung und Hochschulbildung sind effektiver und nachhal- tiger, wenn sie auf einer ausreichenden Grundbildung auf- bauen. Wichtige Projektansätze, die unterstützt werden, sind die Förderung des muttersprachlichen Anfangsunter- richts, die Verbesserung des naturwissenschaftlichen Un- terrichts, die Einführung praktischer Fächer, die Lehrmit- telentwicklung und -herstellung sowie die Lehreraus- und -fortbildung. Und ebenso werden Alphabetisierungspro- gramme im Zusammenhang mit der Unterweisung in Fra- gen der Gesundheit, der Hygiene, der Landwirtschaft und des Umweltschutzes gefördert. Und hinzu kommen in den nächsten Jahren auch eine verstärkte Bereitstellung und Nutzung von modernen Informationstechnologien. Insofern ist es unabdingbar, dass die entwicklungspo- litische Bildung, neben der Umweltbildung, als tragende Säule einer Bildung für nachhaltige Entwicklung verstan- den wird. Entwicklungspolitische Bildung, einschließlich aller Kultur-, Aus- und Fortbildungsprogramme, ist durch For- schungs-, Entwicklungs- und Modellvorhaben in ähnli- chem Umfang wie die Umweltbildung zu fördern. Damit sollen Kenntnisse über die sozialen, politischen, ökono- mischen, ökologischen und kulturellen Lebensumstände der Menschen in den Ländern des Südens verbessert, soll das Verständnis für globale Zusammenhänge vertieft so- wie zum Einsatz für die Menschenrechte und für nach- haltige Entwicklung in der „Einen“ Welt motiviert wer- den. Ein Beispiel hierfür ist auch, dass die Bundesregie- rung die zweite Nord-Süd-Kampagne des Europarates „Global Interdependence and Solidarity: Europe against Poverty and Social Exclusion“ aktiv unterstützt. Grundbildung allein macht die betroffenen Menschen weder satt noch reich; sie ist auch nicht in der Lage, so- ziale Gerechtigkeit herbeizuführen. Grundbildung kann aber ihr Potenzial dann entfalten, wenn entsprechende Rahmenbedingungen, insbesondere Beschäftigungsmög- lichkeiten, gegeben sind. Bildung hat aber generell eine große Bedeutung für den Einzelnen und seine Familie. Sie trägt zur Erhöhung des Selbstbewusstseins und der Eigenständigkeit bei; sie ver- bessert damit auch die Chancen, Einkommen zu erzielen bzw. zu erhöhen, die persönlichen und familiären Le- bensbedingungen durch Selbsthilfe zu verbessern und sich vor Ausbeutung zu schützen. So zeigen etwa Weltbankstudien, dass schon eine vier- jährige Schulbildung die Produktivität von kleinen land- wirtschaftlichen Betrieben generell erhöht. Bildung kann sich auch auf Kinderzahl, Ernährung und Gesundheit aus- wirken. So haben zum Beispiel Frauen mit mehr als vier Jahren Schulbildung etwa ein Drittel weniger Kinder als analphabetische Frauen. Die Mortalitätsrate ihrer Kinder ist halb so hoch wie die von analphabetischen Frauen. Schließlich haben Kinder von Eltern mit Schulbildung eine deutlich größere Chance, selbst eingeschult zu wer- den und eine längere Schulbildung zu erhalten als Kinder von analphabetischen Eltern. Dies zeigt: Die durch Bildung vermittelten und erwor- benen Fertigkeiten, Kenntnisse, Fähigkeiten und Wert- vorstellungen nützen dem Einzelnen und seiner Familie. Sie tragen zur Entwicklung von Wirtschaft und Gesell- schaft bei und sind eine wichtige Voraussetzung für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Natur sowie für das Zusammenleben und Überleben in einer sich wan- delnden Welt. In Bildung zu investieren heißt in diesem Sinne, in Menschen zu investieren und ihnen eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Auch so werden wir dem Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung bei uns, aber auch in den Län- dern des Südens gerecht. Ursula Burchardt (SPD): Nachhaltige Entwicklung lässt sich auf eine einfache Formel bringen: Weniger ist mehr; mehr Wohlstand und mehr Lebensqualität durch weniger Energie- und Ressourcenverbrauch, weniger Schadstoffe, Emissionen und Abfälle. Hinter dieser einfa- chen Formel steckt eine anspruchsvolle Aufgabe, ein ge- waltiges Innovationsprogramm. Innovation aber setzt In- novationsfähigkeit voraus. Kurz gesagt: Nachhaltige Ent- wicklung braucht neue Qualifikationen. Darum geht es in unserem Antrag und der vorliegenden Beschlussempfeh- lung. Innovationen für Nachhaltigkeit erfordern zunächst einmal neues Sach- und Fachwissen über die komplexen Zusammenhänge zwischen Mensch, Natur und Technik. Doch Wissen alleine reicht nicht: Nachhaltige Entwick- lung erfordert neue Fähigkeiten: vor allem vernetztes und vorausschauendes Denken, die Fähigkeit zu Kommunika- tion und Kooperation neuer Art und vor allem die Fähig- keit zu lebenslangem Lernen. Dies sind genau die Qualifikationen, die die Innovati- onsfähigkeit einer Gesellschaft im Zeitalter der Globali- sierung ausmachen. Sie sind die Voraussetzung dafür, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10567 (C) (D) (A) (B) dass struktureller Wandel nicht nur erlebt und erlitten wird. Sie ermöglichen Teilhabe und die Fähigkeit zur ak- tiven Mitgestaltung des Wandels. Damit sind die wesentlichen Ziele umrissen. Diese müssen Eingang finden in die klassischen Bildungsinsti- tutionen von der Grundschule bis zur Universität und in die berufliche Aus- und Weiterbildung. Eine zunehmend wichtige Rolle spielen aber auch informelle Lernprozesse etwa im Rahmen von lokalen Agenden in den Kommu- nen. Auch hier muss angesetzt werden. Zu all diesen Bereichen enthält unser Antrag, der vor einem guten Jahr in den Bundestag eingebracht wurde, konkrete Forderungen. Mit großer Zufriedenheit stelle ich fest, dass die Bundesregierung schon einige zentrale Punkte aufgegriffen hat: Ein wichtiger Impuls für die schulische Bildung ist BINE, das Bund-Länder-Projekt „Bildung für eine Nachhaltige Entwicklung“. Das Fünf- jahresprogramm wird vom BMBF und den Ländern mit 25 Millionen DM gefördert. Ziel ist die strukturelle Verankerung der neuen Lernin- halte und neuer Lernformen und -methoden in die schuli- sche Regelpraxis. Fächerübergreifendes Lernen soll zum zentralen Unterrichts- und Organisationsprinzip an Schu- len werden. Was heißt das praktisch? Ich will nur zwei Beispiele nennen. Erstens. Schüler lernen, ökologisch zu wirtschaften: Sie gründen Schülerfirmen, organisieren Herstellung und Vertrieb von Produkten, bieten Dienstleistungen an und achten dabei darauf, Ressourcen sparend und zugleich ökonomisch zu arbeiten. Zweitens. Schüler unterziehen ihre Schulen einem Nachhaltigkeitstest. So erkunden sie in ihrem eigenen Le- bens- und Arbeitsbereich, wie beispielsweise Wasser oder Energie eingespart werden können, wie Abfall und Ähn- liches zu vermeiden ist und kooperieren dabei mit Betrie- ben und der Verwaltung ihrer Kommune. So können junge Menschen wirklich für das Leben ler- nen, Wissen und Erfahrung erwerben, was für sie als Ar- beitnehmer, als Konsument und als Bürger nützlich ist. Auch die berufliche Bildung braucht eine nachhaltige Erneuerung. Das gilt für die Standardlernziele in den Aus- bildungsordnungen, die Entwicklung neuer Berufsbil- dung und die Rahmenpläne für den Berufsschulunterricht. Besonders wichtig ist uns in diesem Zusammenhang, dass auch die Ausbildung der Ausbilder auf den Prüfstand kommt. Was die Aus- und Fortbildung betrifft, fordern wir zunächst einmal zuständigkeitshalber die Bundesregie- rung auf, nachhaltige Entwicklung zum selbstverständli- chen Bestandteil von Fortbildungskonzepten zu machen. Wenn beispielsweise, wie von uns in einem Antrag vor wenigen Wochen gefordert, in allen Ministerien und Bun- desbehörden demnächst Umweltcontrolling und Um- weltmanagement stattfinden sollen, liegt es in der Verant- wortung des Arbeitgebers, die Mitarbeiter dafür fit zu ma- chen. Ich habe die informellen Lernprozesse angesprochen. Sie vollziehen sich in den vielfältigsten Aktivitäten, zum Beispiel in Umwelt- und Entwicklungsinitiativen oder in lokalen Agendaprozessen. Sie verdienen mehr Unterstüt- zung durch Beratung und Förderung von Netzwerken. Diese ist angelegt in dem BMBF-Programm „Netzwerk Lernende Regionen“ und dem BLK-Programm „Lebens- langes Lernen“. Das für eine nachhaltige Entwicklung erforderliche Wissen muss auch produziert werden. Deshalb wollen wir neue Schwerpunkte in der Forschungspolitik. Auch da ist schon einiges auf den Weg gebracht worden. Ich erwähne beispielhaft die Projekte zu nachhaltigem Konsum und Lebensstilen und den Förderschwerpunkt „Nachhaltiges Wirtschaften“, bei dem ausdrücklich vorgesehen ist, mit den Akteuren aus Bildungseinrichtungen, Verbänden und Vereinigungen auf regionaler Ebene zusammenzuarbei- ten, um die praktische Relevanz der einzelnen Projekte si- cherzustellen. Ich begrüße es außerordentlich, dass aus unserem An- trag eine gemeinsame Beschlussempfehlung aller Frak- tionen des Hauses geworden ist. Das ist wichtig für die Sache. Es mag Erklärung und Trost für die interessierten und engagierten Menschen in der Republik sein, die seit gut einem Jahr darauf warten, dass der Deutsche Bundes- tag entscheidet. Schon im Vorfeld der Einbringung, noch in der Phase der Entstehung des Antrages haben uns viele gute Hin- weise und Anregungen erreicht. Ich möchte die Gelegen- heit nutzen, all denjenigen außerhalb des Bundestages zu danken, die dazu beigetragen haben, dass aus unserem Antrag eine runde und erfolgreiche Initiative geworden ist. Abschließend möchte ich die Gelegenheit nutzen, um im parlamentarischen und außerparlamentarischen Raum für die nationale Nachhaltigkeitsstrategie zu werben, die die Bundesregierung mit einem Kabinettsbeschluss am 12. Juli 2000 starten wird. Denn dieses Unternehmen wird nur ein Erfolg werden, wenn es als gemeinsame Anstren- gung aller Kräfte innerhalb und außerhalb des Parlaments betrieben wird. Ulrike Mehl (SPD): Ich freue mich, dass wir heute ei- nen gemeinsamen Antrag zur „Bildung für eine nachhal- tige Entwicklung“ beraten können. Wir knüpfen damit an die vergangenen Legislaturperioden an, in denen wir zu- mindest in Fragen der Umweltbildung zwischen den Fraktionen weit gehende Übereinstimmungen erzielen konnten. Damit stellen wir die Bedeutung der Bildung für die Verwirklichung einer „nachhaltigen Entwicklung“ he- raus und wir geben den vielen ehrenamtlich oder in ihrer Freizeit tätigen Akteuren ein wichtiges positives Signal. An dieser Stelle all jenen, die sich in Verbänden und Initiativen für die Umweltbildung zum Teil langjährig en- gagieren, einen herzlichen Dank. Aber es darf nicht das Missverständnis aufkommen, dass die Aufgaben der klassischen Umweltbildung, die die erste Säule der Bildung für eine nachhaltige Entwick- lung bildet, damit bereits abgehakt wären, und es jetzt nur Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10568 (C) (D) (A) (B) noch um die Erweiterung der Begriffsdefinition ginge. Vielmehr müssen parallel zu dem inhaltlich vollzogenen Paradigmenwechsel, unabhängig von bundes- oder lan- despolitischer Zuständigkeit, auch bestehende Defizite aufgearbeitet werden. Zwar ist 1971 im Umweltprogramm der damaligen Bundesregierung zum ersten Mal die Verknüpfung von Bildungs- und Umweltpolitik verankert worden. Damals hieß es: „Umweltbewusstes Verhalten muss als allgemei- nes Bildungsziel in die Lehrpläne aller Bildungsstufen aufgenommen werden.“ Heute wissen wir, dass umwelt- gerechtes und soziales Verhalten nur zu einem geringen Teil von Lernen und Wissen und schon gar nicht nur von Lehrplänen abhängt. Es geht also um mehr als nur um reine Wissensvermittlung, wenngleich das Wissen eine wesentliche Vorraussetzung für künftiges Handeln ist. Es kommt vielmehr darauf an, dass der gesamte Hand- lungsrahmen stimmt. Es muss umweltfreundliche Alter- nativen geben, die in das Leben des Einzelnen oder in be- triebliche Entscheidungsprozesse mit allen wirtschaftli- chen und sozialen Aspekten hineinpassen. Deshalb muss „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ in die Ge- samtstrategie zur nachhaltigen Entwicklung eingebettet werden. Deshalb halte ich die in unserem Antrag unter Punkt 3 geforderten Forschungs- und Entwicklungspro- gramme und die dazu passenden Modellversuchspro- gramme, die sich mit nachhaltigen Konsum- und Lebens- stilen sowie nachhaltigem Wirtschaften befassen sollen, für außerordentlich wichtig. Wir brauchen Erkenntnisse darüber, wie wir es schaf- fen können, Wissen und Handeln besser miteinander in Einklang zu bringen, und wir brauchen neue Ideen, um das umzusetzen. Wir kennen doch alle die Schere im Kopf. Selbst wenn wir die umweltpolitischen Notwendig- keiten kennen, heißt das noch lange nicht, dass wir uns auch dementsprechend verhalten, unter anderem deshalb, weil es einfach nicht unserem Lebensstil entspricht. Das hat auch jede Menge mit Bequemlichkeit zu tun, auf die keiner gern verzichtet. Wer denkt denn heute noch darü- ber nach, ob man in unseren Breiten überhaupt eine Kli- maanlage im Auto braucht, die vielleicht einen halben Li- ter Benzinverbrauch mehr bedeutet, wenn das schon fast zur Standardausstattung eines Kleinwagens gehört? Oder wie steht es mit der Stand-by-Schaltung unseres Fernsehers oder des Videorecorders? Wir kommen nicht darum herum, uns mit den neuen gesellschaftlichen Ent- wicklungen auseinander zu setzen. Für unsere Jugendli- chen muss umweltfreundliches Verhalten eben cool sein und nicht megaout. Dafür brauchen wir neue Kampagnen und die neuen Medien, ohne die wir die Kinder und Ju- gendlichen kaum noch erreichen werden. Gerade deshalb ist es wichtig, die Lebensstile zu erforschen, gegebenen- falls zu ändern und dafür zu sorgen, dass vernünftige Handlungsalternativen entwickelt und angeboten werden, die zum jeweiligen sozialen Umfeld passen. Für die Politik heißt das: Wir müssen sozialverträgli- che Alternativen in der Verkehrspolitik erarbeiten, damit der ÖPNV attraktiver wird und verbrauchsarme Autos nicht nur entwickelt, sondern auch auf den Markt gebracht werden. Wir müssen die Lebenszyklen von Produkten vom Anfang bis zum Ende verfolgen, damit Energieinput, Schadstoffe und das Abfallaufkommen in die Gesamtbi- lanzen einfließen. Wir müssen beispielsweise biologisch erzeugte Nahrungsmittel konkurrenzfähiger machen und die Kosten für die Nutzung nicht erneuerbarer Ressourcen erhöhen. Diese Themen sind auch Grundlage unserer Po- litik. Für diejenigen, die sich mit diesem Thema seit lan- gem beschäftigen, trage ich vielleicht Eulen nach Athen. Aber eben diejenigen wissen auch, dass die hohe Bedeu- tung dieses Themas nicht in der großen Mehrheit der Köpfe verankert ist. „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ ist kein Selbstzweck; vielmehr soll sie zur Lösung der genannten Probleme beitragen. Sie ist auch deshalb von großer Be- deutung, weil Politik und Verwaltung kreative Anregun- gen zur Gestaltung ihrer umwelt- und entwicklungspoliti- schen Ziele brauchen. Das in unserem Antrag geforderte Aus- und Fortbildungskonzept für die Ministerien und die Bundesverwaltung kommt deshalb auch nicht von unge- fähr. „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ kann das Umsteuern in der Umwelt-, Entwicklungs-, Wirtschafts-, Sozial-, Verkehrs- und Landwirtschaftspolitik nicht erset- zen. So steht es in unserem gemeinsamen Antrag. Ich hoffe, wir werden auch bei der Konkretisierung und Um- setzung der Ziele für die Umweltbildung nachhaltig die Opposition auf unserer Seite haben. Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU): Im Juni 1998 hat die Bund-Länder-Kommission für Bil- dungsplanung und Forschungsförderung ihren Orientie- rungsrahmen „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ vorgelegt. Mit dem Orientierungsrahmen sollte die Um- weltbildung als integraler Bestandteil einer dem Leitbild der Nachhaltigkeit verpflichteten Zukunftsgestaltung ge- fördert werden. Gleichzeitig wirkt die Umweltbildung als umweltpolitisches Instrument. Heute – zwei Jahre spä- ter – beraten wir die Beschlussempfehlung und den Be- richt des Ausschusses für Bildung, Forschung und Tech- nikfolgenabschätzung zu einem Antrag der Regierungs- koalition zu eben diesem Thema. Die Bund-Länder-Kommission hat mit ihrem Orientie- rungsrahmen den Weg aufgezeigt, wie Umweltbildung er- folgreich in unser Bildungssystem Eingang finden kann. Die Umweltbildung hat in kurzer Zeit Einzug in Kinder- gärten, Schulen, Hochschulen und die berufliche Bildung gehalten. Darüber hinaus belegen zahllose erfolgreiche Initiativen, sei es zur Energieeinsparung oder zur Abfall- vermeidung, wie die Kreativität der jungen Menschen auch den Umweltgedanken und das dahinter stehende An- liegen in hervorragender Weise transportieren und umset- zen kann. Auf allen Ebenen – von der internationalen Ebene bis auf die kommunale Ebene – werden Projekte umgesetzt und der Umweltschutzgedanke praktisch weiterentwi- ckelt. Die Medien transportieren heute täglich eine un- überschaubare Vielfalt von Informationen zu dem Thema. Unternehmen, Verbände und weitere Nichtregierungsor- ganisationen haben den Umweltschutz nicht nur auf ihre Fahnen geschrieben, sondern praktizieren ihn für jeder- mann erkennbar mit großem Erfolg. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10569 (C) (D) (A) (B) Umweltbildung ist nur ein Bestandteil der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung. Mit dem Titel „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ der hier vorliegenden Be- schlussempfehlung liegt die Messlatte für das jetzt ange- strebte Resultat sehr viel höher. Insofern ist es erfreulich, dass heute auf diesen hervorragenden Stand aufgebaut werden kann. Mit dem Antrag wird die Grundlage gelegt, die drängenden gesellschaftlichen Probleme in Deutsch- land in Angriff zu nehmen, die noch nicht so dynamisch angegangen wurden wie die Umweltprobleme. Von der erfolgreichen Verbreitung des Leitbildes der „Nachhaltig- keit“ im Umweltbereich soll jetzt also im Bildungsbereich der Weg frei gemacht werden für eine Übertragung auf an- dere wichtige gesellschaftliche Felder und Systeme. Der Gebrauch des Attributes „nachhaltig“ ist in den letzten Monaten und Jahren schon hyperinflationär ge- stiegen. Es wird deutlich, dass die Zeit überreif ist, die An- forderungen der Nachhaltigkeit auf alle gesellschaftlichen Teilbereiche zu übertragen. Wir in Deutschland kommen damit der in der Agenda 21 enthaltenen Forderung nach, die Menschen durch Bildung in die Lage zu versetzen, ihre Anliegen in Bezug auf eine nachhaltige Entwicklung aller Lebensbereiche abschätzen und angehen zu können. Das heißt, den Bürgern soll Wissen über die sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und ökologischen Entwick- lungszusammenhänge der Gesellschaft und der Welt, in der sie leben, vermittelt werden. Dazu ist es notwendig, hier in Deutschland ein Ent- wicklungsbewusstsein zu schaffen. Es muss verdeutlicht werden, dass „alles fließt“ und kein gesellschaftlicher Teilbereich, auch nicht die Gesellschaft als Ganzes, dau- erhaft auf ihrem Status quo verharren kann. In Zeiten schnellen und tief greifenden Wandels sind schnellere und tief greifendere Anpassungen an die veränderte Umwelt notwendig, als wir sie aus Zeiten großer Stabilität ge- wohnt waren. Eine wirksame umwelt- und entwicklungsorientierte Bildung muss sich von daher sowohl mit der Dynamik der natürlichen und der sozioökonomischen Umwelt als auch mit der menschlichen Entwicklung befassen. Sie soll in alle Fachdisziplinen eingebunden werden und alle geeig- neten Methoden und Kommunikationsmittel anwenden. Umwelt- und Entwicklungskonzepte einschließlich der Demographie sind in alle Bildungsprogramme einzubin- den. Ziel ist es, in der Bevölkerung ein Entwicklungsbe- wusstsein zu schaffen, mit dessen Hilfe die Herausforde- rungen im Zeitalter der Globalisierung bewältigt werden können und neue Wege hin zu einer nachhaltigen Ent- wicklung beschritten werden. Der Bildungsbereich muss das dazu notwendige Wis- sen schaffen, verdichten und verbreiten. Interdisziplina- rität, das heißt die Zusammenarbeit verschiedener Wis- senschaftsbereiche, darf sich nicht nur auf einzelne ge- sellschaftliche Teilbereiche erstrecken, sondern muss mit Blick auf das Verständnis gesellschaftlicher Zusammen- hänge alle betroffenen wissenschaftlichen Teilbereiche einbeziehen. Damit werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die Politik sehr viel stärker querschnitts- orientiert als bisher an die drängenden Probleme herange- hen kann, deren Ursachen ergründen kann, anstatt dauer- haft an Symptomen zu kurieren. Benötigt werden dafür Schlüsselqualifikationen in der Bevölkerung ebenso wie ein ökologisches, ökonomi- sches, soziales, technisches und kulturelles Grund- und Sachwissen. Die Vernetzung dieses Wissens bildet die Vo- raussetzung für eine sinnvolle Erhöhung des Wissens- standes aller Mitglieder der Gesellschaft. Es ersetzt je- doch nicht das Fachwissen in den einzelnen Wissen- schafts- und Forschungsbereichen, das die notwendige Basis für eine dauerhaft zukunftsfähige Entwicklung un- seres Gemeinwesens darstellt. Was nun ist eine nachhaltige Entwicklung? Auch wenn der Begriff der Nachhaltigkeit vielfach noch schillernd vieldeutig verwendet wird, signalisiert er – ausgehend von den Überlegungen der Brundtland-Kommission in den 80er-Jahren – den Anspruch einer langfristig zu- kunftsfähigen Ausrichtung unserer Gesellschaft und der gesellschaftlichen Teilsysteme. Hinzu kommt die Forde- rung nach inter- wie intragenerativer Gerechtigkeit. Das heißt nichts anderes, als dass einmalige Mitnahmeeffekte einer Generation zulasten nachfolgender Generationen unterbleiben sollen oder gesellschaftliches Trittbrettfah- rerverhalten zugunsten einer dauerhaft tragfähigen gesell- schaftlichen Entwicklung abzustellen ist. Es stellt sich doch in diesem Zusammenhang zum Bei- spiel die Frage, ob es nachhaltig ist, wenn verstärkt fos- sile Energieträger in Kohle-, Öl- oder Gaskraftwerken verheizt werden, nur weil die rot-grüne Koalition die Kernkraftwerke in Deutschland abschalten will, und wenn der Bereich der Kernforschung, in dem in Deutsch- land in Teilbereichen noch großes Know-how vorhanden ist, ausgetrocknet werden soll. Die Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ hat in der vergangenen Legislaturperiode den Versuch unternommen, das Leitbild der Nachhaltig- keit auf alle gesellschaftlichen Teilbereiche zu übertragen. Sie hat zum Beispiel Forderungen aufgestellt, den gesell- schaftlichen Bestand an Kapital, sei es Natur-, Human- oder Sachkapital, im Zeitablauf nicht zu verringern. Trotzdem gibt es Schwierigkeiten, den Begriff der nachhaltigen Entwicklung auf der Basis der Konferenz von Rio 1992 hinreichend zu bestimmen. Ich möchte auf die Schwierigkeiten mit dem Begriff „Entwicklung“ in Deutschland hinweisen. Bei uns meint Entwicklungspolitik die Entwicklung der unterentwickelten Völker. Kaum jemand verbindet mit diesem Begriff die Entwicklung des eigenen Landes. In der angelsächsischen Welt gibt es hingegen mit dem Wort „development“ einen ganzheitlichen Entwicklungs- begriff. Entwicklung heißt dort nicht nur Entwicklung weniger entwickelter Staaten, sondern auch Entwicklung des eigenen Landes. Ich frage Sie, ob es im Sinne der Ziele einer nachhalti- gen Entwicklung ist, wenn wir in Deutschland den Begriff derartig verengen. Ich frage Sie, ob wir den Begriff der Entwicklungspolitik nicht in einem viel umfassenderen Ansatz auch auf das eigene Land ausdehnen sollten. Wir sollten uns nicht scheuen, zum Beispiel die Strukturpoli- tik unterentwickelter Regionen im eigenen Land künftig als Teil der Entwicklungspolitik zu sehen. Denn wenn wir Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10570 (C) (D) (A) (B) das nicht tun, dann könnte man vermuten, wir hätten hier in Deutschland die Überzeugung gewonnen, den Höhe- punkt möglicher gesellschaftlicher Entwicklung bereits erreicht zu haben. Ich glaube angesichts unserer Arbeits- losenzahlen, der sozialen Probleme und der völlig über- zogenen Ansprüche an zukünftig zu erbringende Leistun- gen kann davon ernsthaft wohl keine Rede sein. Wir müssen vielmehr ein integriertes Entwicklungsmodell entwerfen, nicht nur für die weniger entwickelten Staaten, sondern insbesondere auch für unsere Gesellschaft. Wir müssen die künstliche Trennung zwischen der Entwick- lungspolitik bundesdeutscher Natur und etwa der Struk- turpolitik aufheben und ein umfassendes Entwicklungs- modell entwerfen, das nicht nur ökonomische, sondern auch ökologische, soziale, kulturelle, wirtschaftliche wie bildungspolitische Zielsetzungen umfasst. Die drängendsten Entwicklungsprobleme liegen der- zeit in Deutschland selbst. Wer meint, für unsere zukünf- tige Entwicklung stünde die Situation der Lesben und Schwulen in Simbabwe oder die Situation der Frauen in Togo im Vordergrund, der scheint die Realität in Deutsch- land nicht hinreichend wahrzunehmen. Nehmen wir als Beispiel die Auswirkungen der demo- graphischen Entwicklung in Deutschland und die damit einhergehenden sichtbaren und absehbaren gesellschaftli- chen Probleme: Wenn jede weitere Generation nur noch zwei Drittel der Größe der vorherigen Generation um- fasst, dann sind wir rein rechnerisch nach 70 Jahren bei knapp der Hälfte, nach gut 100 Jahren bei gut einem Vier- tel der heutigen Bevölkerungsstärke angelangt. Diese Entwicklung ist nicht nachhaltig. Wenn es sich um eine Tierart handeln würde, wären heftige Debatten über einen besonderen Artenschutz in vollem Gange. Statt dessen wird derzeit über Einwanderung debattiert und um Pro- zentzahlen bei der Rente gefeilscht. Angebracht wäre aber eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den tiefer liegen- den Ursachen für unsere gesellschaftlichen Fehlentwick- lungen und den daraus resultierenden unausweichlichen Veränderungen, die auf uns zukommen werden. Wie nachhaltig kann eigentlich ein Alterssicherungs- system angesichts dieser demographischen Fehlentwick- lungen überhaupt sein? Ein Teil der Bevölkerung hat Kin- der und trägt die Erziehungsmühen und -kosten für die nachfolgende Generation. Der andere Teil – ohne eigene Kinder und die daraus resultierenden Belastungen – er- wartet, dass diese Kinder einmal ihre Rente sichern wer- den. Andererseits werden die Integrationskosten für aus- ländische Arbeitskräfte und deren Angehörige, die die Bevölkerungslücke füllen, von allen Gesellschaftsmit- gliedern getragen. Familien mit schulpflichtigen Kindern tragen auch hierbei eine doppelte Belastung. Vielleicht sollte man die gegenwärtigen Gespräche zu Einwande- rung, Familienpolitik, Renten- und Gesundheitssystem einmal um solche bislang tabuisierten Gesichtspunkte er- weitern. Damit könnte man zu einem Entwurf für eine dauerhaft tragfähige und infolgedessen auch zu einer nachhaltigen Entwicklung in Deutschland kommen. Was ergibt sich aus diesen Überlegungen an Anforde- rungen für unser Bildungssystem? Zwei Gesichtspunkte sind besonders zu berücksichtigen: Einerseits muss die Tauglichkeit des Bildungssystems für seine dauerhaft tragfähige Entwicklung geprüft werden. Zum anderen müssen die Inhalte einer nachhaltigen Bildung über den Umweltbereich hinaus auf weitere gesellschaftliche Ent- wicklungsfragen hin ausgerichtet und verbreitet werden. Dem Bildungsbereich kommt hierbei die Aufgabe zu, das Wissen zu schaffen und zu den Menschen zu transportie- ren. Gesellschaftliche Veränderungen und technischer Fortschritt dürfen nicht aus Angst und Unkenntnis abge- lehnt werden, sondern müssen als Chance aufgefasst wer- den, sich in einer schnell wandelnden Welt im internatio- nalen Wettbewerb der Gesellschaften und Völker zukünf- tig zu behaupten. Nachwuchsmangel in der naturwissenschaftlichen Forschung und Defizite in der schulischen Ausbildung, die als Vorbereitung für erfolgreiche Humankapitalbil- dung an Universitäten notwendig ist, sind sichtbare Symptome für die Krise unseres Bildungssystems. Die Schwächen sind offenbar, und es gilt, die Ursachen zu erkennen, sie offenzulegen und zu beheben, statt an Symptomen herumzukurieren. In Deutschland müssen vor allem Defizite im naturwissenschaftlich-technischen, ökonomischen, politischen sowie im sozialen Bildungs- bereich behoben werden. Der aktuelle OECD-Bericht spricht eine deutliche Sprache: Er vergleicht unter anderem den Bildungsstand der älteren und der jüngeren Generation. Der Bildungs- stand der 55- bis 64-Jährigen in Deutschland – also den- jenigen, die mehrheitlich bereits im (Vor-)Ruhestand sind – liegt weltweit hinter den USA auf Platz 2. Im Ge- gensatz dazu liegt Deutschland bei den 25- bis 34-Jähri- gen nur mehr auf Platz 7 hinter Japan, Norwegen und so- gar Ländern wie Korea und Tschechien. Dies ist ein untrüglicher Beleg dafür, dass wir im in- ternationalen Wettbewerb bereits zurückgefallen sind. Auf die leidige Green-Card-Blamage, die auch ein Zei- chen für das Versagen unseres Bildungssystems ist, auf den akuten Mangel an naturwissenschaftlichen Nach- wuchskräften im Forschungs- wie im Unternehmensbe- reich möchte ich hier gar nicht erst näher eingehen. Eines sei aber gesagt: Wenn Bundeskanzler Schröder als ver- antwortlicher Landespolitiker noch vor wenigen Jahren Studienplätze im Informatikbereich massiv abgebaut hat, dann belegt das eine denkbar kurzfristige Orientierung, vergleichbar mit dem Zukunftshorizont von Spekulanten an der Börse. Wenn dann als Rechtfertigung auch noch darauf verwiesen wird, man würde im Land ohnehin mehr Informatiker ausbilden, als der eigene Bedarf ausmacht, das heißt die jungen Menschen würden anschließend wahrscheinlich in einem anderen Bundesland arbeiten, dann wird die Kirchtur msorientierung und Zukunftsver- gessenheit dieser Politikerpersönlichkeit offenbar. Nachhaltigkeit im Bildungswesen bedeutet, diese sichtbaren Defizite zu erkennen und strukturelle Vorkeh- rungen zu schaffen, um sie zu unser aller Wohle schleu- nigst zu beseitigen. Deshalb brauchen wir mehr Wettbe- werb im Hochschulbereich, und zwar nicht nur zwischen den von engmaschigen Rahmensetzungen gebremsten re- formfreudigen Hochschulen, sondern auch und gerade zwischen den verschiedenen Bundesländern. Erst im Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10571 (C) (D) (A) (B) Wettbewerb um das bessere Bildungssystem wird sich die Qualität der Bildung in Deutschland nachhaltig verbes- sern. Bund und Länder dürfen sich nicht länger in ideologi- schen Schützengräben verstecken, wenn es zum Beispiel um die strukturelle Modernisierung des Hochschulwesens oder um eine stärker an den individuellen Kenntnissen, Fähigkeiten und Neigungen eines Schülers orientierte schulische Förderung geht. Investitionen in die Ausbil- dung heute sind Investitionen in unseren Wohlstand von morgen. Dabei sollten wir uns alle – auch die Kultusmi- nisterkonferenz – vor Augen führen, dass nicht unbedingt die Großen die Kleinen übertrumpfen, in jedem Fall aber die Schnellen die Langsamen abhängen. Kurzfristige Überlegungen und bürokratisches Besitz- standsdenken muss daher schnellstens zugunsten lang- fristig erfolgreicher strategischer Ansätze zurückgestellt werden. Die Bundesregierung muss alles in ihrer Macht stehende tun, um gemeinsam mit den Ländern unser Bil- dungssystem fit für den globalen Wettbewerb im 21. Jahr- hundert zu machen. Um über Fortschritte und den Stand der Entwicklungen bei der Sanierung unseres Bildungssystems die Öffent- lichkeit zu informieren, soll daher ein Bericht der Bun- desregierung über die erreichten Fortschritte zum Abbau der Defizite mindestens einmal pro Legislaturperiode vorgelegt werden. Darin soll die Bundesregierung die vorliegenden Konzepte und deren praktische Umsetzung für ein nachhaltiges Bildungssystem ausführlich darstel- len. Sie soll aktiv mitwirken, Konzepte und Elemente ei- ner Bildung für eine nachhaltige Entwicklung in den Strukturen des bestehenden Bildungssystems zu imple- mentieren. Der strukturelle Reformbedarf, der durch eine entsprechende Bildungsoffensive offenbart wird, soll be- schrieben und seine Ursachen sollen erörtert werden. Ich bin überzeugt, dass damit ein wichtiger Baustein für eine nachhaltige Ausrichtung unserer Gesellschaft gelegt wird. Eine qualifizierte Übersicht über die Entwicklung unseres Bildungssystems ist eine wertvolle Grundlage für die an- stehende Modernisierung unserer Gesellschaft und ihrer Teilsysteme. Lassen Sie mich abschließend darauf hinweisen, dass die Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ in der vergangenen Legislaturperiode empfoh- len hat, einen „Rat für Nachhaltigkeit“ einzurichten. In- zwischen sind zwei Jahre vergangen, ohne dass dieser Vorschlag umgesetzt worden wäre. Angesichts der herr- schenden Problemlage bin ich der Überzeugung, dass ein solcher Rat heute notwendiger wäre denn je, um die nach- haltige Bildungsoffensive ins Leben zu rufen, zu unter- stützen und auch in anderen Bereichen weitere Impulse für die nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaft zu geben. Die Defizite unseres Bildungssystems liegen offen vor uns; die Folgen für unsere Gesellschaft sind bereits heute deutlich spürbar; es ist jetzt höchste Zeit zum Handeln; geredet wurde genug. Mit der zügigen Umsetzung der in dem Antrag zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung enthaltenen Forderungen kann ein wichtiger Schritt für eine dauerhaft prosperierende Entwicklung unseres Ge- meinwesens getan werden. Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die meisten Bürger erfuhren in ihrer Schulzeit keine Um- weltbildung oder Bildung für eine nachhaltige Entwick- lung, wie wir sie heute kennen. „Heimat- und Natur- kunde“ hieß das Fach damals vor Jahrzehnten. Und wenn die Lehrerinnen und Lehrer gut waren, haben sie bei ihren Schülern Interesse und Freude an der Heimat und Natur geweckt – oder gar Staunen hervorgerufen. In den 60er- und 70er-Jahren wich dieses Staunen über die Natur zunehmend einem Staunen über Technik und Fortschritt, auch in den Bildungseinrichtungen. Doch die ersten großen Umweltkatastrophen, das Heraufziehen der globalen Klimaveränderung, haben die Pädagogik stark verändert. Die negativen Kehrseiten des ungezügel- ten Wirtschaftswachstums machten sich bemerkbar und änderten auch das Lernen. Lernen wurde zunehmend zum Lernen mit und an der Katastrophe, so wie Umweltpolitik eine Reaktion auf Verschmutzung und Katastrophe war. Inzwischen ist aus der einstmals beschränkten Um- weltpolitik eine komplexe Politik für eine nachhaltige Entwicklung geworden – und entsprechend müssen sich auch Bildung, Erziehung und Lernen wieder ändern. Das Ziel lautet heute: Förderung der Kompetenz für nachhal- tige Entwicklung. Unser Antrag ist ein anspruchsvoller Auftragskatalog, eine Selbstverpflichtung der Bundesre- gierung, genau dies zu ändern und die Kluft zwischen dem Umweltbewusstsein und dem noch fehlenden, nachhalti- gen Handeln zu schließen. Der Paradigmenwechsel weg von der „klassischen Umweltbildung“ bedeutet nämlich nicht die Abkehr vom Schutz der Umwelt, sondern deren Weiterentwicklung, zum Beispiel in und durch Entwicklungspolitik. Um- weltbildung ist nicht allein das Wissen um Ozonloch, Treibhauseffekt, Artensterben oder Meeresverschmut- zung. Umweltbildung in diesem erweiterten Sinne ist die Grundlage für die dringend notwendige Trendwende zum nachhaltigen, umweltverträglichen Wirtschaften in allen Lebensbereichen und deshalb ist Umweltbildung ein Schlüsselbegriff für die zukünftige Entwicklung. Sie för- dert Kompetenz in Sachen Nachhaltigkeit. Deshalb fordern wir eine Neuausrichtung der Ausbil- dungs- und Prüfungsordnungen am Leitbild der nachhal- tigen Entwicklung: Früh Gelerntes wird im Berufsleben und im Alltag zur automatischen Praxis. Techniker und Ingenieure, die sich in Ausbildung und Studium intensiv mit Ökoeffizienz auseinander gesetzt haben, werden im Beruf automatisch anders, nachhaltiger konstruieren, pla- nen und bauen als heute. Wir brauchen eine neue Bildung für nachhaltige Ent- wicklung, die sich mit unseren Konsum- und Lebens- stilen auseinander setzt. Dafür brauchen wir Forschungs- und Entwicklungsvorhaben, Modellversuche und Pro- jekte, die den Wechsel zur Nachhaltigkeit durch einen Wandel von Konsum, Produktion und Lebensstil ermög- lichen. Und wir brauchen eine Bildungsoffensive, die nicht nur die formellen Strukturen umfasst, also die Lehr-, Studien- und Ausbildungspläne, sondern genauso Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10572 (C) (D) (A) (B) auch nicht formelle Strukturen. Sie muss vor Ort an- setzen: dort, wo Menschen leben, lernen und arbei- ten – eben ganzheitlich –, nehmen Sie nur die vielfältigen Umweltprojekte in Kindergärten, Kirchengemeinden, Be- trieben und Vereinen oder die lokalen Agenden in den Kommunen. Bis zur Rio-plus-Zehn-Konferenz für Umwelt und Ent- wicklung der UN müssen wir eine nationale Nachhaltig- keitsstrategie vorlegen. Und in dieser Strategie erwarte ich, dass sie ein wichtiges Kapitel zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung enthält. Nachhaltige Entwicklung und eine dazu gehörende Bildungspolitik wird zum Markenzeichen dieser Regie- rung werden. Nur so bewerkstelligen wir den dringend notwendigen Wechsel zu einer umwelt- und zukunftsver- träglichen Entwicklung in Verantwortung vor der Dritten Welt und in Verantwortung vor den künftigen Generatio- nen. Ulrike Flach (F.D.P.):Der vorliegende Antrag gibt der Thematik „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ ei- nen schönen Rahmen. Er geht auf viele internationale, eu- ropäische und nationale Verträge, Absichtserklärungen, Übereinkommen, Studien und Vereinbarungen ein, die das Ziel deutlich machen, Bildung in eine Nachhaltig- keitsstrategie mit internationaler Perspektive einzubetten. Der Antrag fordert die Bundesregierung aber auch auf, mit konkreten Maßnahmen diese Zielsetzung zu verwirk- lichen und insbesondere die Umweltbildung und die ent- wicklungspolitische Bildung als die beiden Hauptsäulen für die Durchsetzung einer nachhaltigen Entwicklung zu fördern. Er fordert die Bundesregierung auf, den Orien- tierungsrahmen der Bund-Länder-Kommission für Bil- dungsplanung und die Empfehlungen des Bundesinstituts für Berufsbildung umzusetzen, aber auch durch die Erar- beitung eines Aus- und Fortbildungskonzeptes für Minis- terien und Bundesverwaltung selbst etwas zu tun. Der An- trag ist gut und hat deshalb auch im Ausschuss einhellige Zustimmung gefunden. Gerade wegen unserer gemeinsamen Unterstützung der Ziele des Antrages sollten wir einen Blick auf die Rea- lität grün-roter Bildungspolitik werfen. Denn nicht einmal die geschliffenste Formulierung des Antrages kann das Ziel erreichen, wenn die harten Fakten im Lande nicht stimmen. Nachhaltige Entwicklung entsteht nicht durch gutes Zureden. Sie brauchen gerade in den Entwicklungslän- dern auch Naturwissenschaftler und Ingenieure, um zum Beispiel Umwelttechnik zu entwickeln und anzuwenden. Das sollen natürlich überwiegend einheimische Fachleute sein, aber wir wissen, dass sie nicht überall ausreichend zur Verfügung stehen. Wir brauchen also auch deutsche Ingenieure und Naturwissenschaftler in Entwicklungslän- dern. Und da stellen wir fest, dass wir ja nicht mal in der Lage sind, unseren eigenen Bedarf zu decken. Ich will die Green Card für IT-Fachkräfte nur am Rande erwähnen, viel dramatischer wird uns in den nächsten Jahren der eklatante Mangel an Ingenieuren treffen. Nach einer Stu- die des Verbandes der Elektrotechnik, Elektronik und In- formationstechnik haben wir in den genannten Bereichen nur 55 Prozent der Studienanfänger, die wir noch 1990 hatten. Jährlich werden circa 13 000 Absolventen benö- tigt, wir haben aber nur die Hälfte. Ähnlich sieht es bei den Chemikern, Physikern und zum Beispiel auch bei den Kerntechnikern aus. In Kürze werden wir hier Diskussio- nen über Anwerbungen ausländischer Fachkräfte in die- sen Bereichen führen. Deutschland droht – zumindest par- tiell – dramatischer Akademikermangel. Nachhaltige Entwicklung muss auch durch entwick- lungspolitische Bildungsarbeit unterstützt werden. Und da kann ich keinen Schwerpunkt bei Ihnen entdecken. Mi- nisterin Wieczorek-Zeul hat in ihrer Presseerklärung zum Haushalt 2001 angekündigt: Die Mittel für die Förderung entwicklungspolitischen Engagements von Kirchen, Stif- tungen und die entwicklungspolitische Bildungsarbeit verbleiben auf dem Niveau des Jahres 2000 bei 600 Mil- lionen DM. Im Haushalt 2000 war das BMZ aber über- proportional gekürzt worden. Sie bleiben also auf dem Schmalspurniveau; von Schwerpunktsetzung keine Spur. Uns Liberalen ist es wichtig, dass der Gedanke der Bil- dung für eine nachhaltige Entwicklung in die Überarbei- tung von Rahmenplänen für den Unterricht an beruflichen Schulen und die Ausgestaltung von Studienordnungen der Berufsschullehrer Eingang findet. Dies muss fächer- und ausbildungsübergreifend geschehen. Wir haben diese For- derung aufgestellt und sie ist auch im Antrag enthalten. Im Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, den bereits bestehenden Bericht zur Umweltbildung zu einem Bericht zur „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ zu er- weitern. Dabei erwarte ich konkrete Ergebnisse in der konzeptionellen Weiterentwicklung und der praktischen Umsetzung der Ziele. Weiterhin soll – so steht es im An- trag – auf die Probleme der „Dissemination“ der Ergeb- nisse eingegangen werden. Und damit wir alle heute noch etwas für unsere nachhaltige Bildung tun, habe ich das Wort „Dissemination“ nachgeschlagen. Es bedeutet „Aussaat oder Verbreitung“. In diesem Sinne wünsche ich den Zielen des Antrages eine weite Dissemination, insbe- sondere in das konkrete Handeln der Bundesregierung, wo noch viel zu tun ist. Dr. Heinrich Fink (PDS): Der vorliegende Antrag ist eine nach Meinung der PDS folgerichtige Reaktion auf ei- nen wesentlichen Aspekt der Agenda 21. Allerdings kommt diese Reaktion acht Jahre nach der Rio-Konferenz recht spät. Zwar hat der Bundestag schon 1994 beschlos- sen, die Agenda 21 zur Leitlinie ihrer Politik zu machen, praktische Ergebnisse muss man allerdings mit der Lupe suchen und wird dann zu der traurigen Erkenntnis kom- men, dass es sie in erwähnenswertem Maße einfach nicht gibt. Es gibt sie deswegen nicht, weil der vorigen Bun- desregierung der politische Wille zur Umsetzung fehlte. Die PDS hat dem Antrag im Ausschuss zugestimmt, weil er den richtigen Weg zeigt. Sie wird ihm auch heute in toto zustimmen. Meine Zweifel sind allerdings nicht ausgeräumt, denn es fehlt die Flankierung durch andere gesetzgeberische Maßnahmen, die helfen, die Agenda 21 umzusetzen. Außerdem stimmen unpräzise Formulierun- gen skeptisch. Meine Skepsis, dass alles so bleibt, wie es bisher ist, ist nicht ausgeräumt. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10573 (C) (D) (A) (B) Welche Folgen der Umsetzung hat der Satz in der Be- schlussempfehlung: „Neue Anforderungen werden aktu- ell insbesondere an die Umweltbildung und die entwick- lungspolitische Bildung herangetragen“. Das ist richtig – schon sehr lange sogar –, doch gerade ein Blick auf die aktuelle Umwelt- und Verkehrspolitik der Bundesregierung bietet wenig Anlass zu Optimismus. Ich sehe nicht, dass die Anerkennung der Notwendigkeit der Agenda 21 tatsächlich auch zu einem Umsteuern in den genannten Ressorts geführt hat. Wie aber soll Umweltbildung glaubhaft vermittelt werden, wenn beispielsweise ökologisch sinnvolle Ver- kehrsträger wirtschaftlich immer mehr das Nachsehen ha- ben und die Politik es geschehen lässt? Es werden immer mehr Bahnstrecken stillgelegt. Die Verlagerung von Transporten von der Straße auf die Schiene oder auf das Wasser ist Lippenbekenntnis geblieben. Welche Folgen hat der Satz in der Beschlussempfeh- lung, der lautet: „Die Industriestaaten tragen in besonde- rer Weise Verantwortung für eine dauerhafte tragfähige Entwicklung der Völkergemeinschaft.“ Welche Verant- wortung erwächst für uns daraus? Wie wird diese richtige Erkenntnis, die letztlich zur Allgemeinbildung gehört, po- litisch umgesetzt? Ist Bildung nicht erst dann Bildung, wenn sie praktische Konsequenzen hat? Nur dann kann man eigentlich von Nachhaltigkeit sprechen. Deutschland ist in puncto nachhaltiger Entwicklung gegenwärtig alles andere als ein Vorbild. Dieses Einge- ständnis wenigstens in einer Formulierung hätte den An- trag glaubwürdiger gemacht. So erweckt er den Eindruck, wir seien schon ziemlich gut, könnten und wollten jetzt le- diglich noch besser und vorbildlicher werden. Doch wir können nicht nur, wir müssen besser werden. Deshalb wird die PDS diesem Antrag trotz seines Defizits an Konsequenz zustimmen. Schon wenn er nur dazu bei- tragen sollte, dass das Bewusstsein für die Notwendigkeit nachhaltiger Entwicklung nicht nur auf den Schulbänken, sondern auch auf den Regierungsbänken wächst, hätte er seinen Zweck erfüllt. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Importverbot für qualgezüchtete Tiere (Tagesordnungspunkt 14) Marianne Klappert (SPD): Um es gleich zu Beginn deutlich zu sagen: Wir sprechen hier und jetzt nicht über ein Importverbot für Kampfhunde, auch wenn dieses ge- genwärtig in aller Munde ist. Und das nicht zu Unrecht, auch das will ich betonen. Selbst einer Tierschutzbeauf- tragten bleibt nichts anderes übrig, als angesichts des er- heblichen Gefährdungspotenzials, das diese Hunde dar- stellen, ein solches Importverbot ausdrücklich zu be- grüßen. Wir sprechen deshalb nicht über dieses Importverbot, weil ein solches nach dem Tierschutzgesetz nicht möglich ist. Denn das Tierschutzgesetz regelt den Tierschutz, nicht den Menschenschutz. Ein Importverbot für Kampfhunde wird aber nicht aus Tierschutzgründen ausgesprochen, sondern aus Gründen der öffentlichen Si- cherheit und Ordnung. Das fällt dann in die Länderkom- petenz. Ich hätte aber nichts dagegen, wenn die Bun- deskompetenz vor dem Hintergrund der tragischen Vor- fälle in diesem Falle erweitert würde, um schnell und konsequent reagieren zu können. Aber das steht auf einem anderen Blatt, und wird morgen ausführlich in einer Ak- tuellen Stunde debattiert werden. Das Thema Qualzüchtungen ist ja auch viel umfang- reicher, als es die aktuelle Verengung auf den Bereich übersteigerter Aggressivität erkennen lässt. Ich bin mir si- cher: Im Ziel sind wir uns hier im Hause alle einig. Und dieses Ziel ist, Qualzüchtungen endgültig der Vergangen- heit angehören zu lassen. Aber wir streiten – nicht zum ersten Mal – über den richtigen Weg zu diesem Ziel. Diesmal tun wir es gewis- sermaßen mit umgekehrten Vorzeichen. Wir sind in der Regierung, Sie in der Opposition. Dass sich aus der Op- position heraus leicht Forderungen erheben lassen, um de- ren Umsetzung man sich selbst nicht zu bemühen braucht, ist eine alte Erfahrung. Dass man es sich aber als Regie- rung bzw. als Regierungsfraktion nicht so leicht machen kann, auf eine so populäre Forderung einzugehen, weil es gewichtige Gründe gibt, die einer solchen Forderung ent- weder entgegenstehen oder aber deren Erfüllung schwie- rig machen, müssten Sie selbst noch wissen. Wenn Sie es inzwischen vergessen haben sollten, erinnere ich Sie jetzt daran. Bei der 1998 abgeschlossenen Novellierung des Tier- schutzgesetzes hat es eine Reihe von Vorschlägen auch zur Problematik der so genannten Qualzüchtungen gege- ben – einer von CDU und CSU war nicht darunter. Es war nicht zuletzt die SPD – im Verbund mit dem Bundesrat –, die eindeutige und eindeutig restriktive Regelungen für diesen eminent tierschutzrelevanten Bereich gefordert hat. Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dass Züchtungen, die für die Tiere mit Leiden, Schmerzen oder Schäden verbunden sind, verboten werden müssen. Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dass für die Festlegung von Zuchtzielen nicht die Phantasie der Züch- ter und der potenziellen Käufer ausschlaggebend sein darf, sondern das Wohlbefinden der Tiere. Wir haben im- mer wieder darauf hingewiesen, dass es nicht auf das De- sign ankommen darf, nicht auf das, was gerade en vogue, also Mode ist, sondern was dem Tier dient. Es ist dann in das Tierschutzgesetz ein Verbot von Züchtungen aufge- nommen worden, bei denen die Tiere bzw. ihre Nach- kommen aufgrund anatomischer, physiologischer oder ethologischer Merkmale an Gesundheit und Wohlbefin- den beeinträchtigt sind. Das war und ist ein großer Fort- schritt. Allerdings blieb nach wie vor äußerst umstritten, was denn nun als Qualzüchtung im Sinne dieses Paragraphen zu definieren sei. Deshalb hat das BML eine Gutachter- gruppe berufen, die Kriterien für die Auslegung des § 11 b Tierschutzgesetz erarbeiten sollte. Zwischenzeit- lich – das geht ja auch aus Ihrem Antrag hervor – ist die- ses umfangreiche Gutachten vorgelegt, und es finden sich Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10574 (C) (D) (A) (B) darin die Beschreibung zahlreicher Qualzüchtungen und entsprechende Vorschläge, wie damit umzugehen sei. Diese reichen bis zu einem Zuchtverbot. Ich weise bewusst darauf hin, dass es Qualzüchtungen nicht nur bei Hunden gibt – die gegenwärtige Diskussion um die so genannten Kampfhunde suggeriert gelegent- lich, dass es nur um krankhafte Aggression bei Hunden ginge –, sondern dass in diesem Gutachten Katzen, Ka- ninchen und Vögel abgehandelt werden, wobei der Be- reich über die Vögel bei weitem der umfangreichste ist. Ich weise deshalb besonders darauf hin, um deutlich zu machen, dass wir es hier nicht mit einer tagesaktuellen Problematik zu tun haben, sondern mit einem über Jahre und Jahrzehnte vernachlässigten Tierschutzproblem, das weite Bereiche der Heimtierzucht umfasst. Wenn Sie also in der Pressemitteilung zu Ihrem Antrag die Kampfhunde besonders herausheben, so ist das sicher angesichts der gegenwärtigen Diskussion taktisch nicht ungeschickt, aber es verengt den Blick, der doch sehr viel umfassender sein muss. Wie gesagt: Wir waren und sind uns jetzt in dem Ziel, solche Qualzüchtungen – ob bei Hunden oder Katzen, ob bei Kaninchen oder Vögeln, ja auch in der landwirt- schaftlichen Nutztierzucht – unmöglich zu machen, einig. Lebewesen dürfen nicht zum Gegenstand blinden Ehrgei- zes von Züchtern werden. Wir sind uns jetzt plötzlich auch einig in dem Ziel, ein Importverbot für solche Qualzüch- tungen erreichen zu wollen. Das ist an sich eine erfreuli- che Entwicklung. Aber ich kann Ihnen hier einen Rück- griff auf das Novellierungsverfahren zum Tierschutzge- setz nicht ersparen. Denn auch bei diesem speziellen Teil der Qualzuchtproblematik waren es die SPD-Bundestags- fraktion und der Bundesrat, die ein restriktives Verbot der Einfuhr bzw. Verbringung von Qualzüchtungen nach Deutschland gefordert haben. Ich zitiere aus unserem da- maligen Gesetzentwurf: Wirbeltiere, an denen Schäden feststellbar sind, von denen anzunehmen ist, dass sie den Tieren durch tier- schutzwidrige Handlungen zugefügt worden sind, dürfen nicht gewerbsmäßig in den Geltungsbereich dieses Gesetzes verbracht, gewerbsmäßig in den Ver- kehr gebracht oder gewerbsmäßig gehalten werden. Im Absatz 2 wird dieses Verbot auch auf die nicht ge- werbsmäßig Handelnden ausgedehnt. Damit hätten wir eine sehr ausschließliche Gesetzesformulierung gehabt, die dem angestrebten Ziel – das jetzt auch Ihr Ziel ist, Kol- lege Ronsöhr – sicher mehr gedient hätte, als die dann be- schlossene Formulierung, die sich jetzt im Gesetz befin- det. Die daran beteiligt waren, werden sich erinnern, dass wir im Vermittlungsverfahren eine lange und intensive Diskussion gerade zu diesem Punkt hatten, und dass letztendlich eine Formulierung dabei gefunden wurde, die die Absicht deutlich machte, aber wenig hilft zur Ver- wirklichung dieser Absicht. Wir haben uns aber – schwe- ren Herzens, das dürfen Sie mir glauben – davon über- zeugen lassen, dass wir mit einem so restriktiven Verbot, wie wir es vorgesehen hatten, gegen EU-Bestimmungen und WTO-Regelungen verstoßen hätten. Und deshalb kam eine Gesetzesformulierung zustande, die niemanden so recht glücklich macht. Zwar ist nach wie vor von einem Verbringungsverbot die Rede oder von einer Genehmi- gung der Einfuhr bzw. Verbringung, aber das alles wird unter den Vorbehalt gestellt, der sich im Schlusssatz des § 12 Tierschutzgesetz findet. Dort heißt es – und ich muss das wörtlich zitieren, weil es für die Beratung Ihres An- trages von Bedeutung ist –: Eine Rechtsverordnung nach Satz 1 Nr. 1, 2 oder 3 kann nicht erlassen werden, soweit diese nicht zur Durchführung von Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft auf diesem Gebiet erforderlich ist oder völkerrechtliche Verpflichtungen entgegenstehen. Eine Rechtsverordnung nach Satz 1 Nr. 4 oder 5 kann nicht erlassen werden, soweit Gemeinschaftsrecht oder völkerrechtliche Verpflichtungen entstehen. Das heißt ja nichts anderes, als dass eine nationale Regelung von internationalen Bestimmungen abhängig ist. Wussten Sie das nicht, als Sie Ihren Antrag stellten? Hat sich denn niemand die Mühe gemacht, in den Akten des Vermittlungsverfahrens die Vorbehalte der CDU-ge- führten damaligen Bundesregierung zu einem Importver- bot nachzulesen? Oder sind Sie jetzt der Ansicht, dass das CDU-geführte Landwirtschaftsministerium damals falsch argumentiert hat? Wir hätten es gerne gesehen, wenn das eine unzutreffende Argumentation gewesen wäre. Aber nach einer – wie es so schön heißt – belastbaren rechtli- chen Prüfung erwies sich diese Argumentation leider als kaum angreifbar. Und da sich die internationalen rechtli- chen Regelungen nicht geändert haben, hat diese Argu- mentation weiterhin Gültigkeit. Diese lässt sich kurz wie folgt zusammenfassen: Ein nationales Importverbot für Tiere aus Qualzüchtungen ist EU-rechtlich problematisch und WTO-rechtlich nicht zulässig. EU-rechtlich proble- matisch, weil Einfuhrverbote oder -beschränkungen we- der ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen Mitgliedstaaten darstellen dürfen. WTO-rechtlich un- zulässig wäre ein solches nationales Importverbot, weil durch eine solche Regelung ein Drittstaat faktisch ge- zwungen würde, seine Gesetzgebung den Tierschutzvor- schriften der EU bzw. Deutschlands anzupassen. Eine sol- che extraterritoriale Anwendung nationaler Gesetzgebung ist nach der Rechtsprechung des WTO-Streitschlich- tungsorgans unzulässig. Um es deutlich zu sagen: Das WTO-Recht lässt keine Einschränkung des Handels aus Gründen des Tierschutzes zu. Deshalb hat die damalige Bundesregierung den einschränkenden Nachsatz in den § 12 eingefügt. Wo sie Recht hatte, hatte sie Recht. Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass ausgerechnet ich ein- mal die CDU-geführte alte Bundesregierung gegen die CDU verteidigen müsste. Die Pressemitteilung des Kolle- gen Ronsöhr zur Einbringung dieses Antrages hat mich vor diesem Hintergrund nicht wenig erheitert. Dort heißt es: Da Tierschutz entweder konkret ist oder gar nicht, bleibt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit diesem An- trag ihrem Prinzip treu, den Tierschutz, wo notwendig und möglich, durch Änderungen der entsprechenden Gesetze und nicht durch populistische Phrasen zu verbessern. Ja, was anderes als eine populistische Phrase ist denn Ihr Antrag vor dem Hintergrund völkerrechtlicher Rege- lungen? Was anderes als eine symbolische Forderung ist Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10575 (C) (D) (A) (B) denn dieser Antrag, angesichts der Tatsache, dass ein sol- ches nationales Importverbot – so bedauerlich das auch ist – mit internationalen Regelungen nicht in Überein- stimmung zu bringen ist? Was anderes, als der Versuch, eine schnelle Öffentlichkeitswirkung zu erreichen, ist denn die ausdrückliche Verknüpfung Ihres Antrages mit der Kampfhundeproblematik? Vor diesem Hintergrund ist ihr Antrag alles andere als konkret, weil er nicht umsetz- bar ist. Vielleicht könnte man ihn noch als konkrete Poe- sie bezeichnen, aber dazu fehlt ihm leider das Poetische. Ich will das noch einmal deutlich machen, damit das al- les nicht in den falschen Hals kommt: Es ist in der Tat ein unerträglicher Tatbestand, dass das deutsche Verbot von Qualzüchtungen durch Importe ausgehebelt werden kann. Aber mit einem nationalen Importverbot ist diese Uner- träglichkeit nicht zu beseitigen. Aber nicht nur völker- rechtliche Regelungen machen einen solchen nationalen Alleingang problematisch, dem sich die CDU/CSU im Übrigen zum Beispiel bei der Käfigbatteriehaltung von Legehennen immer verweigert hat; die qualgehaltenen Tiere dürfen nicht raus, die qualgezüchteten nicht rein, das ist eine etwas merkwürdige Tierschutzlogik. Es muss ja immer auch bedacht werden, ob und wie und vor allem wie wirkungsvoll sich ein solches Verbot kontrollieren lässt. Da scheint mir die sachliche Schwie- rigkeit zu liegen. Bis auf wenige Ausnahmen – wenn ein Verbot bestimmter Hunderassen erlassen würde, gehörten diese zu den wenigen Ausnahmen –, wären für ein Ein- fuhr- bzw. Verbringungsverbot Einzelfallprüfungen erfor- derlich. Es gibt nur wenige Rassen bzw. Zuchtlinien von Heimtierarten, bei denen bei jedem Tier von einem Ver- stoß gegen § 11 b des Tierschutzgesetzes ausgegangen werden kann. Die Mehrheit der betroffenen Tiere ist dem- gegenüber nicht durch offensichtliche Merkmale be- stimmbar. Soweit also nicht in den Begleitdokumenten Angaben über Erbdefekte enthalten sind, ist eine Einzel- fallprüfung durch einen Amtstierarzt zwingend, der den Nachweis führen müsste, dass eine Qualzucht vorliegt. Das dürfte in vielen Fällen ein aufwendiges und schwie- riges Verfahren sein. Die Durchsetzbarkeit eines solchen Importverbotes ist also ziemlich fraglich, um es vorsich- tig zu formulieren. Über ein nationales Importverbot hinaus wird gefor- dert, dass Europäische Übereinkommen zum Schutz von Heimtieren um ein Import- und Handelsverbot qualge- züchteter Wirbeltiere zu ergänzen. Ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung im Rahmen der in fünfjährigen Abständen erfolgenden multilateralen Konsultation eine solche Ergänzung vorschlagen wird. Es ist allerdings fraglich, ob vor dem Hintergrund, dass nicht alle EU-Mit- gliedstaaten beteiligt sind, handelsbeschränkende Maß- nahmen und Beschränkung der Einfuhr Unterstützung finden würden. Und selbst wenn, stellt sich auch hier die Frage nach der praktischen Durchsetzbarkeit entspre- chender Bestimmungen. Sie werden mir sicher abnehmen, dass der SPD-Bun- destagsfraktion diese Qualzuchtproblematik am Herzen liegt. Schließlich haben wir uns für eine möglichst res- triktive Regelung schon im Novellierungsverfahren zum Tierschutzgesetz vehement eingesetzt. Es bleibt aber die ärgerliche Tatsache, dass sein gangbarer Weg bislang noch nicht in Sicht ist. Es wird aber – und dazu biete ich unsere Mitarbeit ausdrücklich an – in den Ausschussbera- tungen zu prüfen sein, wie man des Problems Herr wer- den kann. Wir sind jedenfalls für jeden praktikablen Vor- schlag dankbar. Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU/CSU): Seit der Mensch Tiere gehalten hat, hat er auch versucht, die Tiere durch Zucht für seine Zwecke hin zu verändern. Durch diese Weise sind zum Beispiel die verschiedenen Hun- derassen für die Jagd entstanden. Die größten züchteri- schen Aktivitäten gab es aber bei der Tierhaltung in der Landwirtschaft. Zumindest wir von der landwirtschaftli- chen Seite kennen die Vielzahl von Rinder-, Pferde- und Schafrassen, deren Namen von bestimmten Land- schaftstypen abgeleitet sind. Man hat dabei gezielt die Tiere herausselektiert, die mit den jeweiligen Umweltver- hältnissen am besten zurechtkamen. Sie wissen, dass heute besonders im Rinderbereich durch die Fortentwick- lung in der Landwirtschaft wie etwa durch den modernen Stallbau die Außenbedingungen weithin egalisiert worden sind, was zur Folge hat, dass wir heute besondere Tierras- sen in Sonderprogrammen erhalten müssen. Sicher hat man in der Vergangenheit auch in der Zucht unserer Nutztiere Fehler gemacht, indem man in be- stimmten Fällen bei der Zucht zu viel Gewicht auf das Merkmal Leistung gelegt hatte. Insgesamt kann man aber feststellen: Hätten wir es nur mit der Züchtung unserer landwirtschaftlichen Nutztiere zu tun, so bräuchten wir uns über das heutige Thema der Qualzüchtungen nicht zu unterhalten. Diese in dem Gutachten zur Auslegung von § 11 b des Tierschutzgesetzes ausführlich beschriebenen Verirrungen bei den Zuchtzielen sind sämtlich auf die Be- strebungen zurückzuführen, den Tieren eine selbstdefi- nierte Art der Schönheit angedeihen zu lassen. Das Er- gebnis dieser Bemühungen äußert sich dann in Minder- leistung der Sinnesorgane, Deformation des Skelettes, geminderte Fortpflanzungsfähigkeit oder auch Verhal- tensstörungen, weil die Zucht auf Schönheitsmerkmale oder auch auf bestimmte Größenvorstellungen mit Schä- den des Tieres gekoppelt sind, die bei diesen Schäden oder Leiden auslösen. Dieses Problem ist schon seit längerem bekannt und man hat bei der Tierschutzgesetzgebung darauf reagiert. Nach § 11 b des Tierschutzgesetzes ist es verboten, Wir- beltieren Schmerzen, Leiden oder Schäden durch Zucht zuzufügen. Es liegt allerdings in der Natur der Sache, dass man Auflagen und Verbote nur aussprechen kann, wenn man sich dafür auf nachvollziehbare Kriterien stützen kann. Das Gutachten zur Auslegung von § 11 b des Tier- schutzgesetzes ist dafür eine wertvolle Hilfe. Es ist mir klar, dass die Bewertung einer Qualzucht aus Sicht des Tierschutzes und aus Sicht der betreffenden Züchter un- terschiedlich vorgenommen wird. Sicher gibt es dabei auch fließende Übergänge, welche die konkrete Entschei- dung schwierig machen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch genügend eindeutige Fälle, wie das Gutachten ausweist. Durch das Tierschutzgesetz ist nach § 11 das Bundesministerium ermächtigt, die erblich bedingten Veränderungen, Verhaltensstörungen und Aggressions- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10576 (C) (D) (A) (B) steigerungen näher zu bestimmen und dabei insbesondere bestimmte Zuchtformen und Rassemerkmale zu verbieten oder zu beschränken. Ich fordere die Bundesregierung auf, bei den eindeutig tierschutzwidrigen Züchtungen im Sinne dieser Ermächtigung tätig zu werden. Ich möchte dabei aber gleichzeitig dafür plädieren, dass man hier mit Gespür für das Umfeld vorgeht. Hobbyzüchter, die sich in Vereinen zusammengeschlossen haben, müssen von dem Tierschutzanliegen überzeugt und so mit ins Boot ge- nommen werden. Vielerorts wird auch noch Bewusst- seinsbildung notwendig sein. Es ist auf jeden Fall positiv zu werten, dass an dem Gutachten auch die Züchter und Zuchtverbände gearbeitet haben. Vielleicht kann man in Zusammenarbeit mit diesen Akteuren die ersten Schritte tun. Unser Antrag greift ein Problem auf, das bisher noch nicht zur Sprache gekommen ist. Während wir hier in Deutschland darüber beraten, wie man die Bestimmungen des Tierschutzgesetzes in der Praxis umsetzen kann, ist es nach der jetzigen Gesetzeslage jedermann jederzeit mög- lich, qualgezüchtete Tiere nach Deutschland einzuführen. So versuchen wir mühsam, national solche Züchtungen einzudämmen, auf der anderen Seite existieren keinerlei Schranken gegen die Einfuhr solcher Tiere. Auch zu die- ser Problematik sieht das Tierschutzgesetz eine Ermäch- tigung vor, durch eine Rechtsverordnung den Import qual- gezüchteter Wirbeltiere zu verbieten. Die Bundesregie- rung muss diese Ermächtigung nutzen, um die bestehende Gesetzeslücke zu schließen. Wir sind uns hier alle in dem Ziel einig, ein hohes Tier- schutzniveau für die gesamte EU festzuschreiben. Das eu- ropäische Übereinkommen zum Schutz von Heimtieren ist der geeignete Rahmen, um für die gesamte EU ein Im- port- und Handelsverbot für qualgezüchtete Wirbeltiere zu erreichen. Ich fordere die Bundesregierung auf, sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass das euro- päische Übereinkommen zum Schutz von Heimtieren ent- sprechend ergänzt wird. Der Europarat hat sich bereits 1995 eingehend mit dem Thema Qualzüchtung befasst, insofern sind die Vertrags- parteien für das Thema Qualzüchtung bereits sensibili- siert. Nutzen wir diese Chance! Zuletzt möchte ich noch ein Thema ansprechen, das wegen der schrecklichen Vorkommnisse in der jüngsten Zeit Politik und Öffentlichkeit stark beschäftigt, nämlich die Kampfhunde. Unser Antrag „Importverbot für qual- gezüchtete Tiere“ umfasst auch diesen Problembereich, da nach Aussagen des Gutachtens die Zucht auf ein über- steigertes Angriffs- und Kampfverhalten ein artgemäßes Sozialverhalten der Hunde verhindert, worin sich eine Form des Leidens manifestiert. Würde unserem Antrag gefolgt, wäre folglich auch die Einfuhr dieser Kampf- hunde verboten und strafbar. Wie wichtig das wäre, zei- gen uns Medienberichte. Danach werden vor allem in Ost- europa in großer Zahl Kampfhunde von klein an auf Ag- gressivität getrimmt und dann gleichsam als „lebende Waffe“ nach Deutschland verkauft. Ich bin nicht der Meinung, dass unser Antrag das Pro- blem der Kampfhunde beseitigt. Klar ist aber, dass jetzt Nägel mit Köpfen gemacht werden müssen. Zurzeit wird vielerorts an gesetzlichen Maßnahmen gezimmert. Es bleibt abzuwarten, ob es zu einer Lösung kommt, die das Problem Kampfhunde bundesweit in den Griff bekommt. Sollte das Verbot der Einfuhr von aggressiven Hunderas- sen über andere Wege erreicht werden, soll mir das recht sein. Dann bliebe aber noch immer die große Zahl der übrigen Qualzuchten, die über die Grenzen wandern. Ich fordere Sie deshalb auf, unserem Antrag zuzustimmen und nicht in vorauseilendem Gehorsam auf eventuelle Be- denken des Justizministeriums Rücksicht zu nehmen. Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Als der Punkt „Import qualgezüchteter Tiere“ auf die Tages- ordnung des heutigen Plenums gesetzt wurde, konnte nie- mand die tragische Aktualität ahnen. Die Gefahren durch gefährliche Hunde und insbesondere durch unverantwort- liche Halter müssen unbedingt gebannt werden. Dafür be- darf es eines abgestimmten Maßnahmebündels, wie es die Länder seit langem diskutieren, die Innenminister auch bereits verabschiedet und die Bundesregierung es jetzt sehr schnell für den von ihr zu beeinflussenden Bereich formuliert hat: ein Zuchtverbot für Kampfhunde, für die Hunderassen American Pitbull-Terrier, American Staf- fordshire-Terrier und Staffordshire-Terrier, aber auch für potenziell gefährliche Rassen und Kreuzungen. Seine Umsetzung wird vom BML geprüft. Das Halten gefährli- cher Tiere soll nur noch mit Erlaubnisvorbehalt gestattet sein. Verstöße gegen Zucht- und Haltungsverbote sollen strafrechtlich geahndet werden, und zwar nicht nur durch Geld, sondern auch durch Freiheitsstrafen. Städte und Ge- meinden werden nachdrücklich darauf hingewiesen, be- reits bestehende rechtliche Möglichkeiten zu nutzen, um den Leinen- und Maulkorbzwang für gefährliche Hunde konsequent durchzusetzen. Mit dem jetzt geplanten Hundehalterführerschein und einer Eignungsprüfung wird eine alte grüne Forderung endlich aufgegriffen. Auch am Thema Importverbot für qualgezüchtete Tiere, das auch in diesen Maßnahmenka- non gehört, arbeiten wir schon lange. Bündnis 90/Die Grünen haben sich bereits in ihrem Entwurf zur Novellie- rung des Tierschutzgesetzes 1995 für ein Importverbot qualgezüchteter Tiere ausgesprochen. Wir konnten seinerzeit im Vermittlungsausschuss bei der Novelle des Tierschutzgesetzes die Einführung einer Ermächtigungsgrundlage im § 12 (2) Nr. 4 erreichen, die das Importverbot für Qualzüchtungen ermöglicht. Ihre rechtliche Umsetzung ist allerdings umstritten. Das BML prüft derzeit, wie sie zu bewerkstelligen ist. Allerdings ist dieser Passus in erster Linie eine Bestimmung des Tier- schutzes. Ein Gutachten des BML nennt als notwendige Zuchtziele Gesundheit und Vitalität, Vermeidung enger Verwandtschaftszucht, Vermeidung exzessiver anatomi- scher, physiologischer und ethologischer Übertreibungen, also Übertypisierung, Vermeidung bzw. Begrenzung von Erbkrankheiten und Defekten sowie den Ausschluss von Rassen, deren spezifischer Typus nur durch Merkmale er- zielt werden kann, die bei den Elterntieren und/oder ihren Nachkommen bzw. ihrer Nachzucht zu Schmerzen, Lei- den oder Schäden führen können. Die Gutachter empfeh- len bei vielen Züchtungen ein Verbot, zum Beispiel für das Araucauna-Huhn mit den so genannten Ohrbommeln. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10577 (C) (D) (A) (B) Die Züchtung führt zur Deformationen der Gehörgänge bis hin zur Taubheit. Zum Thema Kampfhunde empfehlen die Gutachter, ei- nen Wesenstest zu fordern, in dem die Fähigkeiten zu so- zialem Verhalten gegenüber Artgenossen nachzuweisen ist. Sie sprechen sich zudem für ein Zuchtverbot für Tiere aus, die den Wesenstest nicht bestehen. Gegen das Importverbot bestehen EU-rechtliche Be- denken, weil Einfuhrverbote oder Beschränkungen weder ein Mittel zur Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen Mitgliedstaaten dar- stellen dürfen. Diese Bedenken sollten jetzt schnellst- möglich ausgeräumt werden, wie wir insgesamt davon überzeugt sind, dass nach dem Schock der letzten Tage die Politik jetzt in großer Übereinstimmung zu den richtigen Maßnahmen – wir diskutieren das gesamte Thema ja noch ausführlich – finden muss und wird, damit es zu keiner weiteren Gefährdung von Menschen durch gefährliche Hunde kommt. Ulrich Heinrich (F.D.P.):Die aktuellen – schlimmen – Vorkommnisse mit Kampfhunden erfordern sofortiges Handeln. Kritisch ist allerdings anzumerken, dass alles, was der Bundesinnenminister und die Innenminister der Länder jetzt in höchster Eile umsetzen, schon lange dis- kutiert und seit Mai bereits von den Innenministern ver- abredet war. Wieso haben Sie nicht schon im Mai gehan- delt, Herr Schily? Mit Ihrem Zögern haben Sie den Men- schen und uns, der Politik, einen schlechten Dienst erwiesen. Zu Recht beklagen die Menschen und die Me- dien unseren Aktionismus. Zu Recht wird der Vorwurf er- hoben, die Politik handele immer erst dann, wenn es be- reits zu spät sei. Leider auch in diesem Fall. Dennoch gehen die jetzt beschlossenen Maßnahmen in die richtige Richtung: Erstens. Das Bundeskabinett beauftragte den Bundes- landwirtschaftsminister, eine Initiative für ein Zucht- und Importverbot von Kampfhunden vorzulegen. Das Kabi- nett will in zwei Wochen eine Gesetzesänderung zum Tierschutzgesetz beschließen. Zweitens. Das Bundesjustizministerium hat den Auf- trag, ein Konzept zu erarbeiten, wie Verstöße gegen die Verbote bestraft werden sollen. Dabei geht es um Geld und Freiheitsstrafen. Drittens. Richtig sind zudem die strikten Maßnahmen, die in den Ländern, zum Beispiel Hamburg, vollzogen werden. Notwendig ist allerdings auch, dass das ganze Paket an Regelungen endlich vor Ort eingehalten und streng von der Polizei und den zuständigen Behörden kontrolliert wird. Es hilft nichts, wenn der Bund die Verantwortung auf die Länder schiebt und diese wieder mit dem Zeige- finger auf die Kommunen zeigen. Im Vermittlungsausschuss haben wir über alle Frakti- onsgrenzen hinweg 1998 das Verbot von Qualzüchtungen im neuen Tierschutzgesetz beschlossen. Damit hat der Grundsatz, dass niemand einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen darf, eine weitere beispielhafte Konkretisierung im Tierschutz- gesetz erfahren. Die Durchsetzung dieses gesetzlichen Grundsatzes bei der Zucht von Tieren ist im § 11 b Tier- schutzgesetz geregelt. Das heißt, bei der Zucht von Tieren soll möglichst jede Form des Schmerzes, Leidens oder der Schädigung von Tieren verhindert werden. Wo aber liegt die Grenze zwischen zulässiger Zucht und verbotener Qualzucht? Das BML-Gutachten zur Aus- legung von § 11 b des Tierschutzgesetzes konnte nicht alle Streitpunkte zwischen Tierschützern und -züchtern besei- tigen. Dennoch trägt das Gutachten dazu bei, wichtige Definitionshilfen zu geben und so einen noch besseren Tierschutz in Deutschland durchzusetzen. Tierschutzwi- drige Rassestandards und Übertypisierungen bei der Zuchtauswahl werden auch weiterhin kontrovers zwi- schen den widerstreitenden Parteien diskutiert werden müssen. Im Zusammenhang mit dem Thema „Kampf- hunde“ herrscht aber hoffentlich Einigkeit darüber, dass Aggressionszucht gleich Qualzucht ist. Auf nationaler Ebene müssen wir selbstverständlich unsere Hausaufgaben erledigen, um die Menschen vor aggressiv gezüchteten Hunden zu schützen. Ein Import- verbot für Qualzüchtungen bestimmter Hunderassen ins- besondere aus Osteuropa ist aber schon lange überfällig. In diesem Punkt sollten alle Fraktionen gemeinsam mit der Bundesregierung und den Züchterverbänden schnells- tens wirksame Lösungen finden. Leider hat der Tierschutz in Europa und außerhalb Europas nicht den Stellenwert wie in Deutschland. Der Antrag der CDU, den Import qualgezüchteter Wirbeltiere nach Deutschland zu verbie- ten und eine entsprechende europarechtliche Änderung herbeizuführen, geht daher voll in die richtige Richtung. Selbstverständlich wird die F.D.P. den vorliegenden An- trag unterstützen. Richtig ist aber auch, das eine zu tun, ohne das andere zu unterlassen. In einer Presseverlautbarung von Anfang Juni kritisiert der agrarpolitische Sprecher der CDU/CSU „populistische Phrasen“ im Tierschutzbereich. Lieber Herr Kollege Ronsöhr, Sie sollten nicht das, was Ihre Parteifreunde in der CDU und CSU in den Ländern längst in die Landesverfassungen aufgenommen haben, derartig durch den Kakao ziehen. Ich sage Ihnen voraus, dass auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion früher oder später für eine Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz stim- men wird. Eva-Maria Bulling-Schröter (PDS): Paragraph 11 b des Tierschutzgesetzes verbietet Wirbeltiere zu züchten, wenn damit gerechnet werden muss, dass bei der Nach- zucht erblich bedingt Körperteile oder Organe fehlen, un- tauglich oder verunstaltet sind und den Tieren dadurch Schäden, Leiden oder Schmerzen zugefügt werden. So weit, so gut. Nur logisch folgerichtig ist dann auch, dass es ein Im- portverbot für derlei qualgezüchtete Tiere geben muss. Deshalb ist es selbstverständlich, dass die PDS-Fraktion den Antrag des Importverbots für qualgezüchtete Tiere unterstützt. Ein Importverbot ist die eine Seite der Medaille. Auch in diesem Lande werden Tiere qualgezüchtet, ohne dass Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10578 (C) (D) (A) (B) dagegen irgendwelche Sanktionen greifen. Auch in die- sem Lande werden ganze Rassen kaputt gezüchtet; denn das Interesse an der schnell verdienten Mark tritt bei vie- len Züchtern in den Vordergrund und führt dazu, dass zahlreiche Deformationen weitergegeben werden. Auch ziehe ich Rassestandards, besonders wenn sie überzogen sind, in Zweifel. Nicht der gesunde Pekinese, Mops oder die Bulldogge werden in einer Rasseschau prä- miert, sondern der Hund, der durch seine extreme Verkür- zung des Gesichtsschädels dem gesteckten Ziel Kurz- köpfigkeit nahe kommt. Viele Hunde leiden unter massi- ven Atemproblemen und Gaumenspalten. Die Neigung zu Schwergeburten ist oft die Regel. Dackel wurden langgezüchtet und leiden oft furchtbar unter der Dackellähme, einem Bandscheibenvorfall, der häufig nur operativ behoben werden kann. Die Existenz anderer Hunderassen wird durch Scheinargumente be- gründet, wie zum Beispiel die Verträglichkeit von Nackt- hunden für Allergiker. Dass diese Tiere mit einem Letalfaktor behaftet sind, der die reinerbigen Nachkommen bereits in der Gebär- mutter absterben lässt, interessiert Züchter dieser Rasse nicht. Auch die Tatsache, dass der Verlust des Haarkleides genetisch mit einer anomalen Verdickung der Haut und extremen Fehlstellung der Zähne einhergeht, ist von un- tergeordneter Bedeutung. Bei einigen Hühnerrassen ist die so genannte Schwanzlosigkeit ein Merkmal. Aufgrund dieser Missbildung fehlen nicht nur Schwanzgefieder und Bürzeldrüse, sondern auch hintere Abschnitte der Wirbel- säule. Vor dem Schlupf und in den ersten Lebensmonaten sterben fast doppelt so viele Tiere wie bei normalschwän- zigen Hühnern. Außerdem haben schwanzlose Hühner- küken häufiger Probleme beim Kotabsatz bis hin zum Verschluss der Kloakenöffnung durch festklebenden Kot. Das sind einige Beispiele zur Zwangszucht. Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Von daher meine ich, ein Importverbot für qualgezüchtete Tiere ist sinnvoll und notwendig. Aber ich meine auch, dass wir hier in diesem Land etwas gegen die tierschutzwidrigen Qualzuchten tun müssen. Es kann nicht sein, dass aus Profitgründen oder abnormen Züchterehrgeiz Tiere von Geburt an leiden müssen. Ich fordere Sie hiermit auf, endlich dafür Sorge zu tra- gen, dass auch der Paragraph 11 b des Tierschutzgesetzes tatsächlich durchgesetzt wird und Rassemerkmale nach derlei Kriterien untersucht werden. Wir haben auch eine Verantwortung für diese bedauernswerten Kreaturen. Ich meine, wir sollten sie ernst nehmen. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung: Be- kämpfung der sinkenden Zahlungsmoral durch Änderung des Umsatzsteuerrechtes (§ 20 UstG) (Tagesordnungspunkt 16) Simone Violka (SPD): Sinkende Zahlungsmoral ist vorrangig ein Problem der seit vielen Jahren auch sinken- den Moral in unserer Gesellschaft. Anders ist es nicht nachzuvollziehen, wenn sich Firmen, aber auch Privat- verbraucher daran gewöhnt haben, erst nach der drittten Mahnung eine Rechnung zu bezahlen ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Dadurch entstehen besonders für Selbstständige, Handwerker, aber auch kleine und mittlere Betriebe oft existenzgefährdende Situationen. Sie müssen meist schon vorher mit Lohn- und Materialkosten in Vorleistung gehen und sind darauf angewiesen, dass ihre berechtigten Forderungen auch tatsächlich und schnellstens erfüllt werden. Vor allem in den neuen Bundesländern war und ist das täglich ein Thema. Denn wo Arbeitnehmer den Mut ha- ben, zu Unternehmern zu werden, wo kaum Eigenkapital- mittel vorhanden sind und der Kredit gerade mal für einen Unternehmerstart light reicht, muss mit jeder Mark dop- pelt gerechnet werden. Aber ausbleibende Zahlungen von berechtigten Forderungen treffen nicht nur Betriebe und Handwerker in den neuen Ländern. Nur treten dort noch heute oftmals die Auswirkungen schneller und härter auf. Wir alle sehen die Handwerkerfrauen, die vor dem Brandenburger Tor in den Hungerstreik getreten sind, weil sie durch säumige Auftraggeber unverschuldet ihrer Existenz beraubt wurden. Sie alle erhoffen sich Hilfe von der Politik, aber vielleicht auch von der Gesellschaft, der in diesen Tagen vor Augen geführt wird, was passiert, wenn den Verpflichtungen nicht oder viel zu spät nachge- kommen wird. Ich denke, wir alle sind uns einig, dass die schon seit Jahren sinkende Zahlungsmoral ein sehr großes Problem ist, das man anpacken muss. Nun kommt es aber darauf an, dieses Problem an der richtigen Stelle anzupacken. Ich bin nicht wie die PDS der Meinung, das durch Änderung des Umsatzsteuerrechts erreichen zu können, zumal im Antrag der PDS das Modell zur Umsatzsteuerberechnung auf vereinnahmten Entgelten als Option vorgeschlagen wird und ich nicht bereit bin zu glauben, ein säumiger Schuldner würde sich freiwillig für dieses System ent- scheiden und sich damit selbst der Möglichkeit berauben, seine Mehrwertsteuer sofort nach Rechnungserhalt vom Finanzamt einzufordern. Also greift die Grundidee bereits an dieser Stelle ihres Antrages ins Leere. Nachdem in der letzten Legislaturperiode die abge- wählte Bundesregierung ihre Möglichkeiten nicht genutzt hat, sich dieses Problems auch in einem Gesetzentwurf anzunehmen, haben wir nicht erst viele Jahre verstreichen lassen, um auf diesem Gebiet Abhilfe zu schaffen. Wir haben nicht lange geredet, sondern gehandelt. Natürlich können Politik und Gesetze nicht alles für einen Unter- nehmer regeln, aber sie müssen ihn in die Lage versetzen, besser und reibungsloser sein Recht durchzusetzen. Da es mittlerweile schon schick war, seine Rechnung erst nach der dritten Mahnung zu bezahlen, haben wir mit unserem Gesetz zur Beschleunigung fälliger Zahlungen dafür gesorgt, dass der Verzug von Geldforderungen be- reits automatisch nach 30 Tagen eintritt und nicht erst nach der dritten Mahnung. Gleichzeitig werden die Ver- zugszinsen auf 5 Prozent über dem Diskontsatz angeho- ben, damit der Auftraggeber eine höhere Hemmschwelle hat, die begründeten Zahlungen zu verweigern und den Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10579 (C) (D) (A) (B) Auftragnehmer als für ihn billigen Kreditgeber zu miss- brauchen. Wir haben auch dafür gesorgt, dass Abschlagszahlun- gen zum gesetzlichen Leitbild des Werkvertragsrechts gehören. Das hilft dem Unternehmer, seine geldliche Vor- leistung für zum Beispiel Material in Grenzen zu halten. Aber auch der Verbraucher bekommt Rechtssicherheit, denn der Abschlag kann nur gefordert werden, wenn ent- sprechende Leistungen auch erbracht wurden und bzw. oder der Besteller Eigentum daran erhält. Damit wird auch in gewissem Maße einer Forderung der Handwerker entsprochen, die immer wieder beklagen, dass sie keinen Anspruch mehr auf eingebaute Materialen haben, auch wenn die Rechnung ungetilgt bleibt. Diese Abschlagszah- lungen können die Höhe einer nicht erbrachten Zahlung erheblich mindern und die verbauten Materialien können schon während der Bauphase berechnet und zur Zah- lungsanweisung gebracht werden. Viele Vergütungsforderungen aus der Bauwirtschaft werden durch den Streit um tatsächlich oder angeblich vorhandene Mängel behindert. Dieses Problem kann natürlich nicht einfach durch ein Gesetz aus der Welt ge- schaft werden. Eine Teillösung konnte aber erreicht wer- den, weil die Abnahme wegen unerheblicher Mängel nicht mehr vollständig verweigert werden kann. Ein paar gesprungene Fliesen im Bad werden also nicht mehr dazu führen, dass die Bezahlung der Rechnung für das ganze Haus ausbleibt. Wenn sich die beiden Vertragspartner über Art und Umfang der Mängel nicht einig werden, kann der Unternehmer einen unabhängigen Gutachter be- stellen. Wenn keine Mängel vorliegen, kann der Gutach- ter eine Fertigstellungsbescheinigung ausstellen und da- mit kann dann der Beurkundungsprozess stattfinden. In dem Gesetz wurde auch eine erhebliche Verbesse- rung für Subunternehmer geschaffen, denn oft leisten diese Subunternehmer ordentliche Arbeit und schauen danach beim Geld in die Röhre. Das liegt in vielen Fällen nicht daran, dass der Kunde ein säumiger Zahler ist, son- dern daran, dass der Hauptauftragnehmer dieses Geld nicht an die Subunternehmer weitergibt. In dem Gesetz, welches nun schon seit 1. Mai 2000 in Kraft ist, wird in dieser Beziehung endlich eine klare Regelung getroffen. Der Zahlungsanspruch des Subunternehmers besteht, so- bald der Besteller an den Hauptunternehmer zahlt. Die PDS-Fraktion sieht also, dass wir uns darüber Ge- danken gemacht haben, wie man den Unternehmern und Unternehmen in diesem Land hinsichtlich berechtigter Forderungen helfen kann. Die Zahlungsmoral aber kann man per Gesetz nur schlecht verbessern, denn wie das Wort Moral schon sagt, hat Zahlungsmoral etwas mit Ver- antwortungsbewusstsein, Disziplin, Ethos und Fairness zu tun, und diese Dinge kann man nicht per Gesetz errei- chen, so schön das auch wäre. Das muss in den Köpfen aller reifen. Jeder muss einsehen, dass er mit seinem Ver- halten jemand anderem schadet. Es kann nicht angehen, dass ein Bauunternehmer Schneider wegen seiner schein- bar cleveren geschäftlichen Aktivitäten noch bewundert wird, weil es ihm vielleicht gelungen ist, die Banken zu linken. Er hat nicht nur die Banken gelinkt, er hat vor al- lem mit der Existenz von vielen ehrlichen Handwerkern und Unternehmern gespielt. So etwas darf nicht bewun- dert und unterstützt werden. Diese Menschen sind nicht anonym, sie haben Namen und Gesichter, wie die Frauen vor dem Brandenburger Tor. Ich will an dieser Stelle aber auch nicht unerwähnt las- sen, dass das Gesetz schon immer für den Auftragnehmer die Möglichkeit vorsah, sich von vornherein besser abzu- sichern. Bei großem Auftragsvolumen kann der Auftrag- nehmer vom Auftraggeber eine Bankbürgschaft verlan- gen, auch noch nach Unterzeichnung des Auftrages. Al- lerdings macht vor allem in der Baubranche kaum einer von diesem Recht Gebrauch, weil in dieser Branche das Bestehen auf einer Bankbürgschaft mit Misstrauen in die Integrität des Auftraggebers gleichgesetzt wird und man Angst hat, danach nie wieder einen Auftrag zu erhalten. In der Industrie sind solche Bürgschaften zwischen Ver- tragspartnern inzwischen gang und gäbe. Und auch im Kreditwesen ist es völlig üblich und legitim, Sicherheiten zu verlangen. Ich kann an dieser Stelle nur an die Unter- nehmer appellieren, von diesem Recht Gebrauch zu ma- chen, denn nur wenn es alle tun, wird es auch in allen Wirtschaftsbereichen als Normalität anerkannt werden können. Das geltende Umsatzsteuergesetz bewährt sich schon seit vielen Jahren, und da wir Ihren Antrag ablehnen wer- den, wird es sich in dieser Form auch weiterhin bewähren. Ich erkenne an, dass Sie etwas gegen die sinkende Zah- lungsmoral tun wollen, aber Ihr Antrag ist nicht unbedingt ein geeignetes Mittel dazu. Ich habe Ihnen aufgezeigt und an Beispielen verdeutlicht, was in unserem Gesetz zur Be- schleunigung fälliger Zahlungen alles verankert ist. Das alles sind Maßnahmen, die den Betroffenen tatsächlich helfen können. Aber leider haben Sie sich, als dieses Ge- setz im Bundestag zur Abstimmung stand, der Stimme enthalten. Für mich ist das nicht nachvollziehbar. Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Das Thema an sich ist nicht neu. Wir haben im Februar schon einmal über diese Problematik beraten. Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, sind dabei auf halbem Wege stehen geblieben. Sicherlich hat es Erleichterungen und Verbesserungen gegeben, aber das von uns vorgeschla- gene Bauvertragsgesetz hätte viel nachhaltiger gewirkt. Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch einmal daran er- innern, dass anstelle einer wirklichen Lösung nur ein „ma- geres SPD-Spätzchen“ ins Werk gesetzt wurde, wie das der Kollege Freiherr von Stetten damals ausgedrückt hat. Der Antrag spricht ein wichtiges Problem an. Sie ha- ben die Fragen in Ihrem ursprünglichen Antrag – Druck- sache 14/99 – anschaulich verdeutlicht. Ich will die Ana- lyse hier noch einmal vortragen: Die Zahlungsmoral hat sich in den letzten Jahren in der Bundesrepublik Deutschland zur „Zahlungsunmoral“ und damit zu einer existenziellen Bedrohung des gesamten Wirtschaftslebens entwickelt. Gewerbliche Rechnungen wurden in Deutschland 1997 durchschnittlich nach 65 Ta- gen bezahlt – 1985 waren es noch 55 Tage. Zwischen ers- tem und drittem Quartal 1998 verschlechterte sich das Zahlungsverhalten bei 25 Prozent der westdeutschen und 45 Prozent der ostdeutschen privaten Schuldner bzw. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10580 (C) (D) (A) (B) 34 Prozent – West – und 51 Prozent – Ost – der gewerbli- chen Schuldner. Kein gesellschaftlicher Bereich, auch nicht die öffentliche Hand, ist von dieser Entwicklung ausgenommen. Der Zahlungseingang für Schlussrech- nungen an Behörden des Bundes und der Länder erfolgt mittlerweile durchschnittlich erst nach rund 100 Tagen, obwohl zum Beispiel nach Verdingungsordnung Bau, VOB, solche Rechnungen innerhalb von zwei Monaten zu begleichen sind. Hierzu ist mir ein ganz krasser Fall im Zusammenhang mit dem Bau des Bundesamtes für Strah- lenschutz bekannt geworden, wo 6-stellige Summen erst nach erheblichen Interventionen ausgezahlt wurden und ein Handwerksbetrieb in Existenznot geraten ist. Das ist allerdings kein Einzelfall. Die Prüfungszeiten sind unan- gemessen lang. Nach Untersuchungen im sächsischen Bau- und Aus- baugewerbe mussten 1997 und 1998 sachsenweit rund 2 bis 3 Prozent aller Forderungen für Bauleistungen ab- geschrieben werden. 1995 und 1996 waren das nur etwa 1 bis 1,5 Prozent. Das sind 600 Millionen DM aus Bau- leistungen, die jedes Jahr verloren gehen. 4 Milliarden DM wurden erst nach Mahnungen und unter Zeitverzug von 6 Monaten ausgeglichen. 20 Prozent aller Forderun- gen wurden für strittig erklärt. Das ist nicht nur in Sach- sen, sondern überall in den neuen Bundesländern so. Zahlungssäumnisse beim Kunden führen zu einem ver- späteten Geldeingang beim Gläubiger. Das verschlechtert die Liquidität und nötigt oder motiviert ihn selbst zu schlechterem Zahlungsverhalten, was wiederum dessen eigene Gläubiger in Schwierigkeiten bringen kann. Ein- schränkung der wirtschaftlichen Aktivität bis hin zur In- solvenz und dadurch bedingte Arbeitslosigkeit sind die Folge. Letztere wiederum ist eine maßgebliche Ursache für immer schlechteres Zahlungsverhalten der privaten Verbraucher. Dieses aber wirkt sich erheblich auf die Li- quidität im gewerblichen Bereich, insbesondere von Ein- zelhändlern, Baugewerbebetrieben und anderen Hand- werkern aus. Dieser Teufelskreis führt nicht nur über die sich so beschleunigende Pleiten-Spirale zu enormen volkswirtschaftlichen Verlusten. Der Rekord von 27 828 Un- ternehmensinsolvenzen 1998 zog Forderungsausfälle von 59 Milliarden DM und den Verlust von rund 500 000 Ar- beitsplätzen nach sich. Hauptursachen der Pleiten wa- ren laut Creditreform außer Managementproblemen vor allem Finanzierungsschwierigkeiten, bedingt durch mise- rable Zahlungsmoral. Daneben wird dieser Teufelskreis aber auch durch kri- minelles Handeln in Schwung gehalten, welches die ge- sellschaftliche Moral immer weiter untergräbt. So ergab eine Umfrage des Bundesverbandes Deutscher Inkasso- unternehmen unter seinen Mitgliedern: „Vorsatz“ sei mit 45 Prozent inzwischen drittwichtigste Ursache für sin- kende Zahlungsmoral bei privaten Schuldnern – nach „Arbeitslosigkeit“ 87 Prozent, und „Überschuldung, 80 Prozent, aber deutlich vor „Liquiditätsengpass“, 28 Prozent, und „Vergesslichkeit“, 9 Prozent, Mehrfach- nennung möglich. Die heutige Rechtsordnung und -anwendung macht es finanziell potenten Auftraggebern zu leicht, sich auf Kosten schwächerer Auftragnehmer zu bereichern. Die Sachlage ist klar. Ob die Änderungen vom Früh- jahr dieses Jahres wirklich etwas bewirkt haben, wissen wir noch nicht. Wenn ich das richtig verstanden habe, wollen Sie mit Ihrem Antrag aus der Drucksache 14/1878 langfristig eine Umstellung bei der Mehrwertsteuer von der „Soll-Ver- steuerung“ zur „Ist-Versteuerung“. Das klingt zunächst ganz einfach und Sie machen es sich recht leicht, wenn Sie in der Begründung schreiben: „Zusätzliche Kosten entstehen nicht, da sich nur der Zeitpunkt der Einnahme verschiebt.“ Schon dies ist falsch. Bei einem Aufkommen von rund 230 Milliarden DM aus der Mehrwertsteuer und 5 Prozent Zinsen macht das einen Zinsverlust von fast 1 Milliarde DM aus. Das ist keine Kleinigkeit. Eine derartige Veränderung würde aber auch handels- rechtliche Probleme aufwerfen. Wenn ein Unternehmen Waren in Rechnung gestellt hat und der Kaufpreis fällig ist, muss dieser Vermögensposten in der Bilanz ausge- wiesen werden. Damit verbunden ist aber auch die Steu- erschuld gegenüber dem Finanzamt. Deshalb ist diese ebenfalls in der Bilanz auszuweisen. Wenn nun bei der Mehrwertsteuer zum Ist-System übergegangen würde, fielen der Ausweis von Vermögenszufluss und Steuerver- bindlichkeit unterschiedlich aus. Dies kann nicht hinge- nommen werden, deshalb gibt es einen guten Grund für die Soll-Versteuerung jenseits jeglicher fiskalischer Argu- mente. Deshalb ist ein Systemwechsel abzulehnen. Dem steht auch nicht entgegen, dass es gegenwärtig für Kleinunternehmer bis zu 250 000 DM Umsatz bzw. 1Mil- lion DM Umsatz in den neuen Bundesländern nach § 20 Umsatzsteuergesetz eine Optionsmöglichkeit gibt. Dies betrifft in der Regel Unternehmen, die nicht zur doppel- ten Buchführung verpflichtet sind, sondern bei denen eine einfache Einnahme-Überschussrechnung ausreicht. Bei diesen stellt sich das rechtliche Problem des Abweichens in der Bilanz nicht. Sie wollen durch eine Verlagerung der Fälligkeit die Zahlungsbereitschaft von Unternehmen verbessern. Der von Ihnen vorgeschlagene Weg ist dazu völlig ungeeignet. Wenn man davon ausgeht, dass nach Ihrem Konzept Vor- steuer-Abzug und Mehrwertsteuer gleichzeitig fällig wer- den sollen, dann kann sich der Liquiditätsvorteil, der da- raus erwächst, nur auf die steuerpflichtige Wertschöpfung des Unternehmens beziehen. Bei einer Umsatzrendite von 10 Prozent und einem Umsatz von 1 Million DM wäre das ein Betrag von 100 000 DM. Der Mehrwertsteueranteil darauf beträgt 16 000 DM. Geht man nun von einer durch- schnittlichen Zahlungszeit von 65 Tagen aus, wie Sie das in Ihrem Antrag vom 20. April 1999 auf Drucksa- che14/799 fordern, dann bedeutet das, dass 16 000 DM ma- ximal 65 Tage später als nach geltendem Recht abgeführt werden. Bei einer 10-prozentigen Verzinsung wäre das ein Zinsvorteil von 1 600 DM. Ganz abgesehen davon, dass sich der Vorteil noch dadurch reduziert, dass ja die Mehrwertsteuer nicht täglich abzuführen ist, kann mir niemand erklären, dass ein derartiger Vorteil nachhaltig in der Lage ist, ein Unternehmen vor einem Konkurs zu schützen. Die Einführung des Optionsrechtes nach § 20, seine Ausweitung, ist nicht in der Lage, Druck auf zahlungsun- willige Unternehmer zu machen. Wer nicht zahlen will Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10581 (C) (D) (A) (B) oder nur verspätet zahlen will, der wird nicht optieren, weil er dadurch die Vorsteuer erst später geltend machen könnte. Das Verfahren wäre auch sehr umständlich, denn man müsste dann bei den gebuchten, zum Vorsteuerabzug be- rechtigenden Vorgängen unterscheiden zwischen denen, für die bereits Entgelte zugeflossen sind, und denen, für die noch keine Entgelte zugeflossen sind. Das ist faktisch nicht zu leisten. Das „Ist-Verfahren“ wäre übrigens für viele Unterneh- men auch von einem großen Nachteil. Es ist doch nicht immer so, dass der zum Vorsteuerabzug berechtigende Vorgang und der Eingang von Erlösen zeitnah erfolgen. Viele Produkte gehen zunächst auf Lager oder verweilen als Rohstoffe in der Produktion. Für alle diese Teile könnte dann die Vorsteuer erst wesentlich später geltend gemacht werden als nach geltendem Recht. Jetzt tritt die Vorsteuer Abzugsberechtigung praktisch mit der Bezah- lung oder Rechnungslegung der Ware ein. Nach Ihrem Vorschlag könnte es bei Ladenhütern und Saisonware zu erheblichen finanziellen Belastungen des Unternehmers kommen. Schon diese wenigen genauen Betrachtungen machen deutlich, dass Ihr Antrag falsch ist. Wenn man eine Verbesserung der Zahlungsmoral er- reichen will, muss dies durch unmittelbaren Druck auf den Schuldner entstehen. Der lässt sich mit dem von Ih- nen vorgeschlagenen Weg gerade nicht erreichen. Ich will aber dennoch anerkennen, dass Sie mit dem Antrag ein richtiges und wichtiges Problem angesprochen haben. Dabei stellt sich das Problem für unterschiedliche Betriebe sehr unterschiedlich dar: Die Großbetriebe mit einem hohen Eigenkapitalanteil werden von dieser Pro- blematik wesentlich weniger betroffen als gerade klein- und mittelständische Betriebe mit einem durchschnittli- chen Eigenkapital von 18 Prozent. Für sie stellen sich alle mit Liquidität verbundenen Fragen viel schärfer dar als für andere. Es handelt sich im Wesentlichen um ein Problem des Mittelstandes. Das muss einen veranlassen, noch einmal über die Auswirkung der Steuerpolitik dieser Regierung nachzudenken. Gerade für diese besonders betroffene Gruppe wird wenig getan. Der von der Regierung beabsichtigte Systemwechsel bei der Versteuerung von Erträgen von Aktiengesellschaf- ten, GmbHs und Kapitaleinkünften vom Vollanrechungs- verfahren, das 1975 unter der damaligen sozial-liberalen Koalition mit unserer Zustimmung eingeführt worden ist, zum Halbanrechnungsverfahren ist nicht nur eine Frage der Steuerabschöpfungstechnik, sondern auch eine gesell- schaftspolitische. Die von Ihnen beabsichtigte Trennung von Unternehmer und Unternehmung machen wir nicht mit. Will Deutschland entsprechend dem Sozialstaatsprin- zip eine Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit der Bürger – also, wer viel hat, zahlt viel, wer wenig hat, zahlt wenig oder nichts –, dann muss die Letztversteuerung auf der Ebene der Personen erfolgen. Dies geht nur, wenn die Erträge und Steuern der Aktiengesellschaften und GmbHs voll auf das individuelle Einkommen angerechnet werden und am Ende die Steuerlast für den Einzelnen bestimmt wird. Versteuert man dagegen – wie von der Bundesre- gierung geplant – Körperschaften endgültig und rechnet nur die Hälfte der Erträge bei den Personen an, bedeutet dies eine Trennung von Unternehmen und Unternehmern. Gerade dieses gilt es zu vermeiden, denn der engagierte Mittelstand hat Deutschland weit nach vorne gebracht. Dieser und insbesondere auch die Kleinsparer werden durch einen Systemwechsel benachteiligt. Jeder, der bis- her weniger als 40 Prozent Steuern gezahlt hat, muss in Zukunft mehr zahlen als bisher. Es tritt also genau das Ge- genteil von dem ein, was gewollt ist. Es ist verständlich, wenn die großen Industrieverbände wegen dieses Streites die Steuerreform nicht scheitern se- hen wollen, weil dieses Problem aus ihrer Sicht zu ver- nachlässigen ist. Ihre Mitgliedschaft besteht praktisch nur aus großen Aktiengesellschaften. Sie haben Vorteile von einem Wechsel. Für den unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsplätze wichtigeren Teil des Mittelstandes und un- ter sozialpolitischen Gesichtspunkten ist dies allerdings ganz anders zu beurteilen und deshalb eine der Kernfra- gen der Steuerreform. Ganz nebenbei kann eine rechtsformneutrale Besteue- rung nur durch die Vollanrechnung von Einkommen und Steuern bei den Personen gewährleistet werden. Dies ist die einzige Form, der einzige Weg, wie dieses zu errei- chen ist. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist das wich- tig. Deshalb kann man über dieses Problem nicht einfach hinweggehen. Nicht umsonst haben kürzlich praktisch alle Steuer- wissenschaftler Deutschlands, über 78 Professoren, dazu aufgerufen, keinen Systemwechsel vorzunehmen. 90 Prozent der Unternehmen liegen mit ihrem Ein- kommen unter 150 000 DM, 80 Prozent unter 100 000 DM. Das sind die Unternehmen, die nach ihrer Politik zwar voll an der Verbreiterung der Bemessungsgrundlage teilhaben, aber praktisch nicht entlastet werden. Wir wer- den eine Steuerpolitik nicht mitmachen, die im Ergebnis bedeutet, dass der Mittelstand die Entlastung für die großen Kapitalgesellschaften finanziert. Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit noch einmal klarstellen, dass auch der Systemwechsel mehr als Steu- ertechnik ist. Sie liefern Steuersenkung und ideologisch bedingte Veränderungen im „Doppelpack“. Den Teil Steuersenkung können und wollen wir mittragen, wenn er denn auf alle Teile der Wirtschaft und die Facharbeiter ausgedehnt wird. Den Teil der Ideologie – und damit gebe ich die Antwort auf den Kollegen Poß von heute morgen – tragen wir nicht mit. Trennen Sie das, dann kann es auch eine Verständigung geben. Solange Sie den Doppelpack nicht auflösen, tragen Sie die Verantwortung für ein mög- liches Scheitern. Die mittelständischen Betriebe haben durch Ihre Steu- erpolitik des „Entzugs von Liquidität“ im Rahmen des Steuerentlastungsgesetzes schon jetzt schweren Schaden erlitten. Sie haben durch Ihre Steuerpolitik, insbesondere durch das Steuerentlastungsgesetz, das in Wahrheit ein Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10582 (C) (D) (A) (B) Steuerbelastungsgesetz war, dafür gesorgt, dass staatliche Einnahmen früher fließen als das nach dem Ablauf des bisherigen Rechtes zu erwarten gewesen wäre. Teilwert- berichtigung, Veränderung bei den Abschreibungen usw. führen dazu, dass Steuereinnahmen, die erst in einigen Jahren fällig gewesen wären, schon heute fließen. Das hat zwei Folgen: Zum einen wird den Betrieben heute Liqui- dität entzogen, die sie dringend für Investitionen und zur Finanzierung von Produktionen benötigen, und zum an- deren führt das zu einer Bugwelle von Steuern bei dem Staat. Der jetzt vermehrte Mittelzufluss wird in Zukunft „Steuerlöcher“ produzieren. Damit betreiben Sie heute schon Politik zulasten der künftigen Jahre. Das Thema Abschreibungstabellen ist auch noch nicht ausgestanden. Wir sind gespannt, was da jetzt auf die Wirtschaft zukommt. Dazu kommt die Belastung aus der Ökosteuer. Gerade die schwachen Betriebe sind durch die 630-DM-Regelungen besonders betroffen gewesen. Die wahren Früchte Ihrer Arbeitsmarktpolitik können Sie auf der so genannten Schröder-Uhr der „Wirtschafts- woche“ ablesen. Es kommt eben nicht auf die Zahl der Ar- beitslosen an, denn die verändert sich auch ohne Zutun der Politik und ohne wirtschaftliche Entwicklung allein durch die demographischen Veränderungen. Maßgeblich ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Diese ist durch Ihre Politik nicht gestiegen – die Schröder-Uhr weist gegenüber der Regierungsübernahme ein Minus von 729 000 auf –, sondern gesunken. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Gerade an diesen Punkten muss grundsätzlich ange- setzt werden. Hier tun Änderungen Not. Das hilft Betrie- ben mehr als die Umstellung im Mehrwertsteuersystem von der „Soll-Versteuerung“ zur „Ist-Versteuerung“. Werner Schulz (Leipzig) (Bündnis 90/Die Grünen): Alle Fraktionen in diesem Hause stimmen darin überein, dass die sinkende Zahlungsmoral in der Bundesrepublik Deutschland zu einem ernsthaften Problem für die Wirt- schaft geworden ist. Insbesondere bei kleineren Unter- nehmen führt diese Entwicklung zu Liquiditätsengpässen und zu einer Beeinträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit. Gerade in den neuen Bundesländern ist dies ein besonde- res Problem, weil die Kapitaldecke vieler Unternehmen sehr dünn ist. Sie sind daher nicht in der Lage, über einen längeren Zeitraum Außenstände vorzufinanzieren. Auch die Zeiträume, bis fällige Forderungen durch die Schuldner beglichen werden, werden immer größer. Das vermehrte Zurückhalten von teilweise erheblichen Forde- rungen kleiner und mittlerer Betriebe bringt diese immer mehr in Bedrängnis, vor allem in der Bauwirtschaft. Diese Verhältnisse – darüber waren wir uns alle einig – sind nicht länger hinnehmbar. Alle Fraktionen haben des- halb Vorschläge eingebracht, um hier Abhilfe zu schaffen. Die heutige Debatte ist allerdings eher ein Nachkarten denn eine zielführende Veranstaltung. Ende Februar ha- ben wir hier eine Gesetzesänderung beschlossen, die nach unserer Auffassung geeignet ist, den negativen Auswir- kungen schnell und unverzüglich entgegenzuwirken. Mein Kollege Wilhelm hat damals ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich dabei um eine erste Verbesse- rung handelt, dass die Koalitionsfraktionen aber auch be- reit sind, weiter gehende Regelungen zu erarbeiten. Mit den beschlossenen Neuregelungen ist uns, so glaube ich jedenfalls, ein ganz guter und ausgewogener Wurf gelungen, wobei wir, wenn Sie sich erinnern, durch- aus auch Anregungen der Opposition aufgenommen ha- ben. Das von uns verabschiedete Gesetz hat sich am Be- richt der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Verbesserung der Zahlungsmoral“ und den Ergebnissen der Anhörung des Rechtsausschusses orientiert. Wir werden damit die Zah- lungsverschleppungen energisch bekämpfen und glei- chermaßen den Verbraucherschutz verbessern. Die wesentlichsten Veränderungen waren die Anhe- bung der Verzugszinsen, um die Inanspruchnahme billi- ger „Justizkredite“ zu beenden, die Einführung eines ge- setzlichen Anspruchs auf Abschlagszahlungen sowie die Verfahrensvereinfachung durch die Fertigstellungsbe- scheinigung. Und ganz so schlecht können unsere Vor- schläge ja nicht sein, weil sogar die F.D.P. zugestimmt und weder die Union noch die PDS das Gesetz abgelehnt haben. Der heute zur Abstimmung stehende Vorschlag der PDS ist bereits im Oktober des vergangenen Jahres eingebracht worden. Die im Februar beschlossenen Gesetzesänderun- gen waren der PDS bei Antragstellung also nicht bekannt. Von daher habe ich durchaus Verständnis für diesen An- trag. Leider ist es in der Sache wieder einmal ein Versuch, mit ungeeigneten Mitteln scheinbare Verbesserungen zu er- reichen. Die steuerrechtlichen Vorschläge der PDS werden den entsprechenden Druck auf säumige Zahler nicht auf- bauen können. Warum sollten ausgerechnet die „schwarzen Schafe“ für das vorgeschlagene Modell optieren? Wir wollen mit den im Februar beschlossenen Rege- lungen Erfahrungen sammeln. Wir gehen davon aus, dass wir damit unser gemeinsames Ziel besser erreichen. Den Antrag der PDS können wir aus den genannten Gründen daher nur ablehnen. Jürgen Türk (F.D.P.): Das Zahlungsmoral-Problem ist inzwischen leider zu einem Dauerbrennerthema im Bundestag geworden. Wir haben, um der mangelnden Zahlungsmoral zu begegnen, schon alle möglichen Ge- setze auf den Weg gebracht: von der Zwangsvoll- streckungsnovelle, einem Kapitalaufnahmeerleichte- rungsgesetz, einer Neuregelung des Schiedsverfahrens- rechts, einem Vergaberechtsänderungsgesetz bis hin zum erst im Mai dieses Jahres in Kraft getretenen Gesetz zur Beschleunigung fälliger Zahlungen. Trotz aller Anstrengungen ist uns der große Wurf aber offenbar noch nicht gelungen, wie man unschwer an den seit Tagen hungerstreikenden Unternehmerinnen am Brandenburger Tor erkennen kann, die mangelnde Zah- lungsmoral an den Rand des Ruins getrieben hat. Wir kön- nen und dürfen also in unseren Anstrengungen nicht nach- lassen, dem Handwerk zu seinem Recht, sprich: zu sei- nem ehrlich und sauer verdienten Geld zu verhelfen. Deshalb ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass die PDS sich dieses Problems angenommen und Vorschläge zur Änderung des Umsatzsteuerrechts unterbreitet hat. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10583 (C) (D) (A) (B) Die F.D.P. hat schon früher einmal gefordert, die Grenze für die bereits jetzt im Osten mögliche Ist-Be- steuerung von 1 auf 5 Millionen DM anzuheben, um Klein- und Mittelbetriebe finanziell zu entlasten und das Entstehen von Liquiditätsengpässen zu vermeiden. In die- sem Punkt gehen wir also sogar über das hinaus, was die PDS will. Gerechterweise sollte diese Regelung für Ost und West gleichermaßen gelten, denn Zahlungsprobleme gibt es in allen Teilen Deutschlands. Das Umsatzsteuerrecht grundsätzlich dahin gehend zu ändern, dass die Berechnung erst nach vereinnahmten Entgelten vorgenommen wird, ist aus meiner Sicht nicht notwendig, weil größere, leistungsstärkere Betriebe in der Lage sind, Zahlungsverzögerungen oder -ausfälle zu ver- kraften und daher eine solche Regelung nicht unbedingt brauchen. Darüber hinaus widerspräche dies auch EG- Recht und würde sich schon aus diesem Grund verbieten. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Si- cherung der nationalen Buchpreisbindung (Tagesordnungspunkt 23) Monika Griefahn (SPD): Bücher sind nicht nur ein Wirtschaftsgut. Vielmehr sind Bücher ein bedeutendes Kulturgut, das eine Gesellschaft und ihren Zustand wi- derspiegeln kann. Die Literatur eines Landes und seiner Gesellschaft sind deshalb besonders schützenswerte Er- zeugnisse des geistigen Lebens. Diese Erzeugnisse sollen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich sein und nicht nur der Erbauung einer Elite dienen. Bücher sollen aber auch nicht so vermarktet werden können, dass sie als Wirt- schaftsfaktor nicht mehr interessant sind, also nicht mehr produziert werden. Um dieses zu gewährleisten, haben wir seit 113 Jahren die Buchpreisbindung. Sie hat sich seitdem bewährt. Die EU-Kommission hat nun entschieden, dass die Preisbin- dung auf nationaler Ebene erhalten werden kann. Das ist eine richtige Entscheidung. Und ich möchte an dieser Stelle ganz herzlich Staatsminister Dr. Michael Naumann danken. Er hat gezeigt, dass die Institution des Kulturstaatsministers und er als engagierte Person wirk- lich etwas bewegen können. Im grenzüberschreitenden Buchhandel soll es die Preisbindung nicht mehr geben; auch Österreich hat hier eine nationale Lösung gefunden. Deshalb haben wir das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen ergänzt. Die Ergänzungen sehen vor, dass so genannte Reimporte deut- scher preisgebundener Bücher in berechtigten Fällen bei der Wiedereinführung ebenfalls der deutschen Preisbin- dung unterliegen. Wie richtig und wichtig diese Ergänzung ist, wird ge- rade im Fall der österreichischen Kette Libro mehr als deutlich. Mithilfe des Internets versucht Libro, die deut- sche Preisbindung zu unterlaufen. Und andere Inter- nethändler stehen laut Presse „in den Startlöchern“, um ebenfalls verbilligt deutsche Bücher auf den Markt zu bringen. Welche wirtschaftliche Gefahr gerade für die kleinen und mittleren Verlage und Buchhändler droht, kann man sich leicht vorstellen. Mit unseren Ergänzungen wird dies verhindert werden. Wir haben mit diesem Gesetzentwurf ein Instrument geliefert, das den Richtern, die in Fällen von einstweili- gen Verfügungen gegen Reimporte zu entscheiden haben, als wichtige Auslegungshilfe dient. Die erfolgten Klar- stellungen im Gesetz sind eindeutig. Dieses Instrument ist wichtig, weil bei Reimporten, die objektiv der Unterwan- derung der Preisbindung in Deutschland dienen, schnell entschieden werden muss. Dies ist im Fall des Vertriebes per Internet wichtig. Und wir haben gerade heute im „Ta- gesspiegel“ lesen dürfen, wie das laufen soll: Bestellung per Internet im Libro-Laden in Berlin mit dem Verspre- chen, Bücher 20 Prozent billiger zu bekommen. – Der Schutz der nationalen Buchpreisbindung kann deshalb mit unseren Gesetzesergänzungen wirkungsvoll gewähr- leistet werden. Im Interesse der Autoren, der Händler und der Verlage wollen wir Reimporte verhindern. Geistige Nahrung in Form von Literatur ist genauso wichtig wie jede andere Nahrung. Die heutige Versorgung mit Buchhandlungen ist derart, dass auch abgelegene Gebiete erreicht werden. Dies ist im Sinne einer „Versorgung“ der Bevölkerung notwendig und wünschenswert. Es geht also darum, diese Erzeugnisse zu schützen und den Zugang zu ihnen zu er- halten. Ohne unsere Initiative würde eine Verflachung des An- gebotes drohen, weil irgendwann nur noch die Bücher im Angebot sein würden, die sich verkaufen. Autoren, die kein breites Publikum haben, würde auf Dauer die Mög- lichkeit zur Publikation entzogen werden. Die Verlage würden nur noch das herstellen, was sich gut verkauft. Diese „McDonaldisierung“ kann im Ernst niemand wol- len. Deshalb ist die Ergänzungsklausel über die Re- importe im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen unabdingbar gewesen. Im Übrigen bin ich nach einem Ge- spräch mit der europäischen Kulturkommissarin Reding froh, dass sich eine engagierte Frau mit dem Wettbe- werbskommissar Monti geeinigt hat, dass diese Lösung der nationalen Preisbindung möglich ist. Es ist allgemein anerkannt, dass das Buch einen Dop- pelcharakter hat. Es ist Kulturgut und Handelsgut in einem. Darüber hinaus dient es als Kommunikationsmit- tel der Sprache und der Integration von homogenen Sprachräumen. Die Preisbindung hat damit eine eminente kulturpolitische Implikation, die durch unsere Gesetzes- änderungen erhalten bleibt. Als kulturpolitisches Instru- ment ist sie von Verlegern, Buchhändlern und Autoren oh- nehin anerkannt. Es gilt nun, Bestrebungen wie denen von Libro zu wi- derstehen und die neue Gesetzesregelung konsequent um- zusetzen. Wir haben auch in Zukunft als Kulturpolitike- rinnen und -politiker dafür zu sorgen, dass die literarische Produktion und der Vertrieb in Deutschland unter den bestmöglichen Bedingungen vonstatten gehen können. Deshalb ist diese Gesetzesänderung wichtig und richtig. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10584 (C) (D) (A) (B) Sie ist im Sinne unserer Autoren, Verlage und Buchhänd- ler und damit in unser aller Sinn. Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung bzw. Ergänzung des Geset- zes gegen Wettbewerbsbeschränkungen ist der in man- cherlei Hinsicht bemerkenswerte Schlusspunkt langjähri- ger Bemühungen von Bundesregierung und Parlament um eine Sicherung der nationalen Buchpreisbindung. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sich während der Zeit ihrer Regierungsverantwortung wie nach dem Regie- rungswechsel nachhaltig für dieses Anliegen eingesetzt und dabei in der Auseinandersetzung innerhalb des Buch- handels wie gegenüber der Europäischen Gemeinschaft ausdrücklich die Notwendigkeit einer differenzierten Regelung gegenüber den allgemeinen Regelungen des Wettbewerbsrechts vertreten. Nach den erfolgreichen Bemühungen um eine Zustim- mung der Europäischen Kommission für die Aufrechter- haltung der besonderen Regelungen für die Preisbindung von Büchern sind schließlich auch Vereinbarungen mit unserem Nachbarland Österreich gefunden worden, die die beiderseits gewünschte nationale Buchpreisbindung auch für Reimporte sicherstellen, sofern sie eine Umge- hung der nationalen Preisbindung bewirken. Für die Ein- beziehung auch des Internetbuchhandels in diese Rege- lung hat sich ganz besonders unser Kollege Anton Pfeifer eingesetzt, dessen persönliche Rücksprache mit den Ver- antwortlichen im österreichischen Parlament schließlich verhindert hat, dass künftig ein österreichischer Buch- händler dasselbe Buch im Laden zu einem Festpreis und im Internet zu einem niedrigeren Preis hätte anbieten kön- nen. Damit können entsprechend der Vereinbarung mit der Europäischen Kommission ab 1. Juli dieses Jahres zwei nationale Regelungen in Österreich und Deutsch- land an die Stelle der bisherigen grenzüberschreitenden festen Ladenpreise treten. Die heute im Bundestag zu verabschiedende Gesetzes- änderung stellt auch insofern eine Besonderheit dar, als über die bereits vorhandeneRegelung in § 15Abs. 1 Satz 1 des GWB hinaus nun eine zusätzliche „Klarstellung“ im Gesetzestext erfolgt, die der bisherigen Spruchpraxis des Bundeskartellamtes zur Frage der Lückenlosigkeit der Buchpreisbindung entspricht und in gerichtlichen Ausei- nandersetzungen die Geltung der Preisbindung bei Streit- fällen unzweideutig und ihre Durchsetzung wirksamer machen soll. Dies ist eine durchaus ungewöhnliche „Ser- viceleistung“ des Gesetzgebers, die den besonderen Stellenwert verdeutlicht, die der Deutsche Bundestag Büchern als Kultur- und nicht nur Wirtschaftsgütern im Unterschied zu anderen Produkten beimisst. Die Erwar- tung der Verlage und Buchhandlungen an den Gesetzge- ber, angemessene Rahmenbedingungen für Produktion und Vertrieb von Büchern zu bewahren, wird damit in ei- ner Weise erfüllt, von denen manche andere mehr oder weniger vergleichbare Sektoren im Wirtschafts- wie im Kulturbereich nur träumen können. Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag ver- bindet mit ihrer Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf die Erwartung, dass die Verlage und Buchhandlungen ih- rerseits in der künftigen Handhabung der Buchpreisbin- dung alles unterlassen, was in der Vergangenheit Zweifel an der Ernsthaftigkeit der für unverzichtbar erklärten Gel- tung gebundener Ladenpreise erzeugt hat. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist dem Einsatz der rot-grünen Bundesregierung zu verdan- ken, dass die EU-Kommission nach zahlreichen Ge- sprächen mit den Verfahrensbeteiligten die Aufrechter- haltung der nationalen Buchpreisbindung akzeptiert hat. Wir waren und wir sind davon überzeugt, dass in der der- zeitigen Situation des deutschen Buchhandels die Auflö- sung der nationalen Buchpreisbindung äußerst negative Folgen gehabt hätte. Schon jetzt sind zahlreiche kleinere Buchläden von Insolvenzverfahren bedroht, weil sie es sich nicht leisten können, in die Haupteinkaufsmeilen zu ziehen, um dort entsprechende Gewinne zu erwirtschaf- ten. Mit geringer Personalstärke müssen sie trotzdem ein vernünftiges Angebot zustande bringen. Es ist ganz deut- lich, dass die nationale Buchpreisbindung eine Chancen- gleichheit gewährt, die sowohl für die Verkaufsseite als auch für die Verlagsseite sehr vorteilhaft ist. Sie alle kennen die Szenarien, die sich für den Fall der Aufhebung der nationalen Buchpreisbindung ergeben: Kostbare Lyrikbände könnten kaum noch produziert wer- den, weil Sie im Vergleich zur literarischen Massenware relativ teuer werden und nicht so leicht zu vermarkten sind. Die Preisdifferenzen zwischen Massenprodukten und literarischen Raritäten werden immer größer. Kleine und mittelgroße Buchläden geraten in ökonomische Schwie- rigkeiten, weil sie der Konkurrenz mit den großen Ver- treibern nicht gewachsen sind. Das alles sind Erscheinun- gen, die wir verhindern wollen. Die Landschaft des deut- schen Buchhandels soll in ihrer Qualität erhalten bleiben. Ich meine, dass wir den nötigen Schritt unternommen ha- ben. Ich möchte hier ausdrücklich Staatsminister Naumann für seine Nachdrücklichkeit und seinen Einsatz in dieser Frage danken. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieses Er- gebnis ohne sein Verhandlungsgeschick nicht hätte er- reicht werden können! Das neu festgeschriebene Reimportverbot ist notwen- dig, wie die Aktivitäten des österreichischen Buch- konzerns „Libro“ zeigen. Ein Aushebeln der Buchpreis- bindung ist in jedem Fall zu verhindern. Eine Preisbin- dung, die leicht umgangen werden kann, verdient ihren Namen nicht und macht keinen Sinn. Die Möglichkeiten des Internetvertriebs, die von dem angesprochenen Un- ternehmen wahrgenommen werden, verlangen ein schnel- leres Eingreifen der Gerichte bei entsprechenden Ver- stößen. Auch dafür schaffen wir jetzt die entsprechenden Grundlagen. Die neuen Handelswege müssen sich ge- nauso an die bestehenden Rechtsstrukturen anpassen. Diese neuen Geschwindigkeiten verlangen von uns als Gesetzgeber eine besondere Aufmerksamkeit. Es gibt jetzt eine wichtige Auslegungshilfe für die Ge- richte, die über Fälle von Reimporten zu entscheiden ha- ben. Mit der Beantragung einer einstweiligen Verfügung Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10585 (C) (D) (A) (B) können Konkurrenten gegen den Verdacht auf Reimporte vorgehen. Die Umsetzung wird nicht in allen Fällen leicht sein; dennoch bin ich zuversichtlich, dass sowohl in Deutschland als auch in Österreich das geltende Recht eingehalten wird. Wir brauchen einen regen Handel mit Büchern und wir brauchen dazu auch das Internet; denn damit können ganz neue Märkte erschlossen werden. Wenn ein neues Me- dium einem alten, aber noch immer hervorragenden Me- dium helfen kann, zu expandieren, dann finde ich das ge- nau richtig; aber legal muss das Ganze selbstverständlich sein. Ich bitte Sie, dem Gesetzesentwurf zur Sicherung der nationalen Buchpreisbindung zuzustimmen. Unter Be- rücksichtigung der aktuellen Situation des deutschen Buchhandels ist er die einzig vernünftige Regelung. Ich danke Ihnen. Gudrun Kopp (F.D.P.): Im Deutschen Bundestag be- steht fraktionsübergreifend Konsens über die Beibehal- tung der nationalen Buchpreisbindung. Dabei kann ich nicht verschweigen, dass uns Liberalen als Anhänger und Verfechter der freien Marktwirtschaft ein Abweichen von diesem ordnungspolitischen Grundsatz wahrlich nicht leicht gefallen ist. Dennoch überwiegt auch bei der. F.D.P. sehr klar der Wille, einen entscheidenden Beitrag zur Wahrung des Kulturgutes Buch, in seiner breiten Vielfalt zu leisten. Wir würdigen die Tatsache, dass das Buch in Deutsch- land einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert genießt. Es ist Kulturträger und repräsentiert damit ein Stück deutsche kulturelle Identität. Zweifellos wird der Inter- net-Handel auch und gerade in diesem Marktbereich neue Strukturen bringen, die es sorgfältig zu begleiten gilt. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Regierungs- koalitionen soll eine Klarstellung zur möglichen Rechts- unsicherheit bei Reimporten erfolgen. Grundsätzlich sind zwar schon heute Reimporte von Verlagswerken im Gel- tungsbereich des § 15 Abs. l Satz 1 GWB erfasst. Auf meine Nachfrage wurde jedoch seitens des Ministeriums betont, dass einige Zusätze im bereits bestehenden Gesetz zur Reimportproblematik nötig seien, um eine Umgehung der Buchpreisbindung durch Reimporte in der Praxis auf schnellstem Weg abwenden zu können. Offen bleibt dabei für mich die Frage, ob die EU-Kommission diesen Zusatz tatsächlich akzeptieren wird und ihn nicht als Behinde- rung des Binnenhandels oder gar als Provokation bean- standen könnte. Wir setzen voraus, dass die Bundesregie- rung diesbezüglich vorab Kontakt mit der Kommission aufgenommen und für Klarstellung gesorgt hat. Ein cha- otisches Hin und Her wie beim WestLB-Verfahren würde unserem gemeinsamen Anliegen schaden. Fazit: Die F.D.P. befürwortet die nationale Buchpreis- bindung aus kulturpolitischen Erwägungen und unter- stützt folgerichtig die, wie es heißt, notwendige Klarstel- lung, dass auch Reimporte der Preisbindung unterliegen, sofern Sie allein der Umgehung der nationalen Preisbin- dung dienen. Dr. Heinrich Fink (PDS): Die wichtigsten Argumente für die Erhaltung der Buchpreisbindung, die mit dem vor- liegenden Gesetzentwurf eine zusätzliche Absicherung erfahren soll, sind bereits vorgetragen worden. Ich möchte sie aus meiner Sicht wie folgt bekräftigen. Ausgangspunkt ist auch für mich: Im Buch ist in erster Linie ein Kulturgut und erst mit beträchtlichem Abstand ein Wirtschaftsgut zu sehen. Mit dem gedruckten Wort ist natürlich auch unzulängliches, verwerfliches oder gar verbrecherisches Gedankengut in die Welt gekommen. Aber ohne Zweifel kann die Rolle des Buches für den Grad an humanistischen, sozialen und demokratischen Errungenschaften, den wir zumindest in bestimmten Tei- len unserer Welt erreicht haben, kaum überschätzt wer- den. Und wie sich erfreulicherweise herausgestellt hat, wird das Buch diese Rolle auch durch die neuen Medien wohl nicht verlieren. Aus dieser Prämisse „Das Buch – ein Kulturgut“ müs- sen sich dann auch die entscheidenden Bedingungen und Kriterien seiner Produktion und Verteilung herleiten. Seine Rolle als Kulturgut kann das Buch nur dann erfül- len, wenn es die ganze Vielfalt der in der Gesellschaft vor- handenen kulturellen Intentionen zur Geltung bringt und wenn alle, die nach ihm verlangen, die Möglichkeit ha- ben, es zu erwerben. Dies wenigstens annähernd sicher- zustellen, verlangt einen ständigen Erneuerungsprozess in der Autorenschaft, hinreichenden Spielraum für literari- sche Experimente und eine vielgestaltige Verlagsland- schaft mit Verlegerpersönlichkeiten, die ideell, aber auch materiell in der Lage sind, diese ganze Vielfalt der Be- dürfnisse aufzunehmen und neben Bestsellern in kleinen Auflagen auch Neues, Ungewohntes, Unbequemes und Provokatives und damit in der Regel nicht Gewinnträch- tiges zu produzieren. Die auf diese Weise entstehende Vielfalt an Titeln muss dann auch flächendeckend und zu erschwinglichen Preisen von den Bürgern erworben wer- den können. Ich glaube zwar nicht, dass die Buchpreisbindung al- lein die Garantie dafür bietet, in den Grenzen unseres Lan- des das Buch als unersetzliches alltägliches Kulturgut für alle zu erhalten bzw. erst überhaupt zugänglich zu ma- chen. Dem stehen noch viele soziale und mit der Bil- dungsmisere verbundene Hindernisse im Wege. Ich bin aber mit wohl allen Mitgliedern dieses Hauses der Mei- nung, dass die Buchpreisbindung unter den gegebenen Verhältnissen ein wichtiges Instrument dafür ist, zumin- dest den Status quo auf diesem Gebiet zu wahren. Und deshalb kann ich nur hoffen, dass die mit dem Gesetzent- wurf verfolgte Absicht sich auch gegenüber den techni- schen Möglichkeiten behaupten wird, mit denen, wie be- reits angekündigt, versucht werden wird, die Reimport- klausel zu umgehen und einen Konkurrenzkampf einzuleiten, der all das gefährden würde, was hier nur sehr kurz angedeutet werden konnte. Der Bundestag hat sich über viele Jahre aus guten Gründen und in großer Einmütigkeit dafür eingesetzt, das Kulturgut Buch aus der Logik von Marktradikalismus und Profitmaximierung herauszuhalten. Sollte das nicht An- lass sein, unbefangen gegenüber neoliberalen Dogmen noch intensiver darüber nachzudenken, wie dieses Prinzip Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10586 (C) (D) (A) (B) generell für die Kernbereiche von Kultur und Bildung zur Geltung gebracht werden kann? Meine Fraktion jeden- falls wird weiterhin in diese Richtung wirken, weil sie der Auffassung ist, dass Kultur und Bildung nur auf dieser Grundlage die Rolle spielen können, die sie für die ge- deihliche Entwicklung eines jeden Menschen und der ge- samten Gesellschaft ohne Zweifel haben. Siegmar Mosdorf, Parl. Staatssekretär beim Bundes- minister für Wirtschaft und Technologie: Es wäre ein her- ber Schlag gewesen, wenn im Jahr des 500. Geburtstags von Johannes Gutenberg die Buchpreisbindung in Deutschland verboten worden wäre. Kurz vor der abschließenden Entscheidung über ein Verbot konnte der seit Jahren währende Streit mit der Eu- ropäischen Kommission um die deutsch-österreichische grenzüberschreitende Buchpreisbindung durch einen Kompromiss beigelegt werden. Hierfür hat sich die Bun- desregierung und insbesondere Herr Staatsminister Naumann nachhaltig eingesetzt. Eine Untersagung der Buchpreisbindung in Deutschland und Österreich konnte abgewehrt werden. Allerdings muss der grenzüberschreitende Sammelre- vers in zwei unterschiedliche nationale Buchpreisbin- dungssysteme aufgeteilt werden, und zwar ab dem 1. Juli 2000. Das ist der Tag, ab dem es keine grenzüberschrei- tende Buchpreisbindung mehr geben darf. Auf rein nationaler Ebene ist die Buchpreisbindung si- chergestellt. Was aber ist mit Importen? Importe aus an- deren EU-Ländern können nicht preisgebunden werden. So besagt es wenigstens der Grundsatz in der gefundenen Kompromissformel. Allerdings darf die nationale deutsche Buchpreisbin- dung auch nicht missbräuchlich umgangen werden. Eine solche Umgehung würde zum Beispiel dann vorliegen, wenn Bücher zwar faktisch über die Grenze gebracht würden, im Ausland aber nie zum Verkauf angeboten wür- den, sondern sofort wieder nach Deutschland zurückge- bracht würden. Erst recht gilt das natürlich, wenn die Bücher gar nicht transportiert werden, sondern nur die Geschäfte über das Ausland laufen. In solchen Fällen – so sagt es auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs – dürfen auch re-impor- tierte Bücher in die Preisbindung mit einbezogen werden. Wäre das nämlich nicht der Fall, dann könnte bei syste- matisch betriebenen Reimporten die deutsche Buch- preisbindung zunichte gemacht werden. Um dies zu verhindern, haben wir eine Ergänzung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen vorgeschla- gen. In dessen § 15 wird nämlich die Preisbindung von Verlagserzeugnissen als einzige Ausnahme von dem all- gemeinen Verbot, Festpreise zu vereinbaren, ausdrücklich erlaubt. Hier soll jetzt klargestellt werden, dass sich diese Er- laubnis auch auf missbräuchlich reimportierte Bücher bezieht, die nur zum Zweck der Umgehung der deutschen Preisbindung über die Grenze gebracht worden sind. Dies ist notwendig, weil die betroffenen deutschen Verlage die Umgehung der Preisbindung durch unzulässige Re- importe nur dann wirkungsvoll verhindern können, wenn sie binnen kürzester Frist einstweilige Verfügungen bei Ge- richt veranlassen können. Nur so kann der unzulässige Vertrieb von Büchern wirkungsvoll untersagt werden. Denn der schönste Kompromiss aus Brüssel nützt nichts, wenn er in der Praxis leer laufen würde. Es ist deswegen dringend erforderlich, schnell eine Lö- sung zur Sicherung der deutschen Buchpreisbindung zu finden, bevor das System von zu vielen Seiten ausgehöhlt werden kann. Die Buchpreisbindung gibt es in Deutschland zwar nicht schon seit den Zeiten von Herrn Johann Gänsfleisch – wie Gutenberg mit Klarnamen hieß – aber immerhin auch schon seit 1887. Und hat sich seither be- währt. Denn es gibt bei uns eine beispiellose Titelvielfalt und eine Vielzahl kleiner und mittelgroßer Verlage. In Deutschland gibt es mehr als 3 300 Verlage, wo- bei die kleinsten Unternehmen mit Umsätzen unter 32 500 DM gar nicht erfasst sind, mit rund 28 350 Be- schäftigten und einem jährlichen Umsatz von über 17,7 Milliarden DM. Außerdem haben wir dank der Preis- bindung immer noch ein enges Netz von kleinen, mittle- ren und größeren Buch- und Fachzeitschrifteneinzelhänd- lern mit rund 30 800 Mitarbeitern und kulturellem Ser- vice. Die Preisbindung nützt insbesondere auch den Auto- ren: Sie brauchen Leser und einen Buchmarkt, auf dem auch anspruchsvolle Bücher und Schriftsteller ohne große Publicity eine Chance haben. Die Preisbindung ist Garant dafür, dass von Verlagen in Deutschland auch zukünftig weit mehr als 75 000 Neu- erscheinungen im Jahr veröffentlicht werden. Sie ist inso- weit also Garant der Meinungsvielfalt und Kunstfreiheit. So soll es auch bleiben, und genau dafür soll die von uns vorgeschlagene Ergänzung des Gesetzes gegen Wett- bewerbsbeschränkungen sorgen. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Geset- zes zur Änderung des Rindfleischetikettierungs- gesetzes (Tagesordnungspunkt 25). Jella Teuchner (SPD): Am 17. April hat der EU-Agrarrat die Einzelheiten des europäischen Systems der Kennzeichnung von Rindern und der Etikettierung von Rindfleisch beschlossen. Ab 1. September 2000 müs- sen die Orte der Schlachtung und der Zerlegung angege- ben werden, ab 2002 die Orte von Geburt, Mast und Schlachtung. Angegeben werden muss der Mitgliedstaat, die Herkunftsangabe „EU“ reicht nicht aus. Deutschland konnte sich hier mit seinem Standpunkt durchsetzten. Wir wollen in Deutschland die zweite Stufe der Etiket- tierung vorziehen. Schon ab dem 1. September 2000 soll in Deutschland die komplette Herkunftskennzeichnung vorgeschrieben sein. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10587 (C) (D) (A) (B) Mit der Änderung des Rindfleischetikettierungsgeset- zes, über die wir heute abstimmen werden, schließen wir die dazu in Deutschland notwendigen gesetzlichen Vorar- beiten ab. Ich denke, wir haben mit dem jetzt vorliegen- den Gesetzesvorschlag Regelungen gefunden, die nach- vollziehbare Informationen für den Verbraucher und die Rückverfolgbarkeit und Sicherheit von Rindfleisch si- cherstellen und eine vernünftige Verteilung der Kosten zwischen dem Bund und den Ländern vorsehen. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, das Regelwerk zur Sicherheit von Rindfleisch zusammenfassend zu betrach- ten. Ich möchte daran deutlich machen, nach welchen Prinzipien wir die Rindfleischproduktion gestalten. Ich denke, dass wir damit auch schon in die Diskussion um die Pläne der Europäischen Union zur Lebensmittelsi- cherheit einsteigen können, die uns in nächster Zeit noch stark beschäftigen werden. Upton Sinclair hat 1906 in seinem Roman „Der Dschungel“ die Zustände in den Schlachthöfen von Chicago beschrieben. Heute sind die in diesem Roman be- schriebenen Zustände nicht mehr vorstellbar. Wir haben viel erreicht auf dem Weg zu möglichst sicheren und ge- sunden Lebensmitteln, auch wenn das Vertrauen der Ver- braucherinnen und Verbraucher durch den BSE-Skandal geschwächt wurde. Unser Ziel muss es sein, sowohl die Unbedenklichkeit sicherzustellen, als auch das Vertrauen in die Lebensmit- tel zu stärken. Wenn die Verbraucher von der Qualität der Lebensmittel nicht überzeugt sind, werden sie diese nicht kaufen. Von schlechten Produkten werden sie nicht lange überzeugt sein. Für unsere Landwirte bedeutet dies, dass sie richtig damit liegen, auf Qualität zu setzen. Nur so können sie im Wettbewerb bestehen. Erreichen können wir dieses Ziel, indem wir uns an klaren Prinzipien orientieren, die von Verbraucherverbän- den stets eingefordert und auch im Weißbuch Lebensmit- telsicherheit der Europäischen Kommission benannt wer- den: Wir müssen die Lebensmittelsicherheit im gesamten Herstellungsprozess betrachten. Die Unbedenklichkeit des Rinderbratens ist erst dann gewährleistet, wenn auch das Futter sicher ist, mit dem das Rind großgezogen wor- den ist. Dies bedeutet, dass Futtermittelerzeuger, Land- wirte und Lebensmittelunternehmen für die Qualität der Lebensmittel verantwortlich sind. Wir müssen die Futter- und Lebensmittel zurückverfolgen können. Nur so kön- nen gefährliche Produkte sofort aus dem Handel genom- men werden, wenn ein Risiko für die Gesundheit der Ver- braucher besteht. Wir müssen uns beim Gesundheits- schutz der Verbraucher am Vorsorgeprinzip orientieren. Und nicht zuletzt müssen wir diese Prinzipien für den Ver- braucher transparent machen. Dazu dient die Etikettie- rungspflicht für Rindfleisch. Ich habe es schon angesprochen: Eine Rindfleischeti- kettierung bleibt eine leere Hülse, wenn die Qualität des Produktes nicht stimmt. Die deutschen Landwirte produ- zieren hochwertige und sichere Lebensmittel. Ein Netz- werk von lebensmittelrechtlichen Vorschriften, die amtli- che Lebens- und Futtermittelkontrolle der Länder und die Strategie der Minimierung von Belastungen sorgen dafür, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher einwandfreie Lebensmittel kaufen können. Wir haben also die Voraus- setzungen, mit der Rindfleischetikettierung das Vertrauen der Verbraucher zu stärken. „D“ steht in Zukunft für Qua- litätsrindfleisch aus Deutschland. Sofern es EU-rechtlich möglich ist und die Länder und die betroffenen Verbände keine Einwände haben, werden wir durch eine deutsche Flagge das Fleisch von in Deutschland geborenen, aufgewachsenen und geschlach- teten Rindern noch deutlicher kennzeichnen. Den Ver- brauchern würde ein Höchstmaß an Erkennbarkeit beim Einkauf geboten. Mit der obligatorischen Rindfleischetikettierung schaffen wir eine Herkunftskennzeichnung, die auf guter Qualität aufbaut. Wir schaffen eine bessere Rückverfolg- barkeit und Transparenz. Der Verbraucher bekommt die Möglichkeit, seine Kaufentscheidung bewusst zu treffen. Dies bedeutet ein gestiegenes Sicherheitsgefühl beim Ver- braucher und Absatzchancen für unsere Landwirte. Ich will dies an einem Beispiel deutlich machen: Zwi- schen 1994 und 1997 sank der Pro-Kopf-Verbrauch pro Jahr an Rindfleisch in Deutschland im Zusammenhang mit der BSE-Krise um rund 13 Prozent. Der Grund war eine starke Unsicherheit der Verbraucher. Die Verbrau- cher können sich zwar darauf verlassen, dass Deutschland BSE-frei ist. Erst mit der obligatorischen Rindfleischeti- kettierung können sie sich aber auch sicher sein, dass sie deutsches Rindfleisch essen, wenn sie dies wollen. Ich denke, wir sind uns alle einig, dass die obligatori- sche Rindfleischetikettierung ein mehr an Nahrungsmit- telsicherheit und Transparenz für die Verbraucher bringt. Die Verbraucherverbände unterstützen sie genauso wie der Bauernverband, der Bund genauso wie die Länder. Und auch der Lebensmittelhandel zeigt ein großes In- teresse an einer Herkunftskennzeichnung. Eine Untersu- chung der Verbraucherzentralen 1999 ergab, dass 82 Prozent der Verbrauchermärkte, 78 Prozent der Super- märkte und 46 Prozent der Metzgereien freiwillig Anga- ben zur Herkunft von Rindfleisch machen. Dies spricht dafür, dass die Rindfleischetikettierung positiv aufge- nommen wird. Auch der Erfolg von regionalen Qualitäts- gütezeichen spricht dafür, dass die Verbraucher regionale Vermarktungsstrukturen honorieren. Allerdings hat die Studie der Verbraucherzentralen ergeben, dass die Qua- lität der freiwilligen Angaben sehr unterschiedlich ist. Eine obligatorische Kennzeichnung, die klar festgelegt ist und auf rückverfolgbaren Daten beruht, ist daher notwen- dig. Ich möchte daher, dass dieses Gesetz baldmöglichst in Kraft tritt. Ich hoffe, dass es nicht durch die Frage, wer die Kontrollen durchzuführen hat, verzögert oder gar verhin- dert wird. Blicken wir noch einmal zurück ins letzte Jahr mit sei- nen Dioxin- und Klärschlammskandalen. Die Lebensmit- telsicherheit war im letzten Jahr trotz dieser Skandale zu jeder Zeit gewährleistet. Die Ursachen dieser Skandale liegen im Versagen Einzelner in der Produktionskette. Einzelne haben das Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher in die Sicherheit der Lebensmittel erschüt- tert. Die Lebensmittelüberwachung funktionierte jedoch Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10588 (C) (D) (A) (B) und sorgte dafür, dass diese Skandale nicht zu Katastro- phen wurden. Auch wenn es nur Einzelne waren, so zeigt es doch: Ohne Kontrollen können wir unseren Sicherheitsstandard nicht halten. Kurzfristiges Gewinnstreben scheint für manche doch wichtiger zu sein als langfristig zufriedene Kunden und Verbraucher. Wir müssen deshalb auch die Etikettierung kontrollieren. Wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass diese Kontrollen Geld kosten. Ich denke, wir stimmen heute über einen Antrag ab, der die Zuständigkeiten und damit die Kosten sinnvoll und ausgewogen zwischen dem Bund und den Ländern ver- teilt und auch die Selbstkontrolle der Lebensmittelprodu- zenten ermöglicht und anerkennt. Wenn wir heute diesen Antrag verabschieden, haben wir einen wichtigen Schritt getan. Wir werden aber nicht stehen bleiben. Mit dem Weißbuch für Lebensmittelsi- cherheit hat die Europäische Kommission eine Diskus- sion angestoßen, an der wir uns beteiligen werden. Die Kommission hat einige Fragen aufgeworfen, mit denen wir uns beschäftigen müssen: Wie wird in Zukunft die wissenschaftliche Beratung für die Entscheidungen zur Lebensmittelsicherheit aussehen? Können unsere Schnellwarnsysteme verbessert werden? Brauchen wir nicht doch eine offene Volldeklaration für Futtermittel? Werden die Kontrollen überall im notwendigen Umfang durchgeführt? Wir werden uns diesen Fragen stellen. Wenn wir dann Antworten finden, die die gleiche Sicherheit und Trans- parenz wie die Regelungen zur Rindfleischproduktion bieten, können wir ein Höchstmaß an Lebensmittelsicher- heit gewährleisten. Die Strategie der Minimierung der Be- lastungen werden wir weiter verfolgen. Einen großen Schritt machen wir, wenn wir heute den vorliegenden Ent- wurf verabschieden. Peter Bleser (CDU/CSU): Für die meisten Menschen ist nach der Medizin die Ernährung von entscheidendem Einfluss auf unser höchstes Gut, die Gesundheit. Es ist deshalb verständlich und logisch, dass Meldungen über mögliche gesundheitliche Gefahren durch den Verzehr bestimmter Lebensmittel zu einer sofortigen Veränderung des Käuferverhaltens führen. Der Dioxinskandal in Bel- gien, aber noch eklatanter die BSE-Rinderkrankheit in Großbritannien, haben zu enormen, noch heute andauern- den Veränderungen der Verzehrgewohnheiten geführt. Die deutschen Verbraucher haben sich in diesem Zusam- menhang als besonders sensibel erwiesen. Um das verlo- ren gegangene Vertrauen in die Qualität, insbesondere un- seres Rindfleisches, wieder herzustellen, ist eine klare und lückenlose Rückverfolgbarkeit von Rindfleisch und dessen Verarbeitungsprodukten überfällig. Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt deshalb die Ab- sicht der Bundesregierung, mit diesem Gesetz die obliga- torische Etikettierung von Rindfleisch ab dem 1. Septem- ber 2000 einzuführen. Die deutsche Landwirtschaft er- bringt bereits seit vielen Jahren erhebliche Vorleistungen zur Umsetzung dieses Gesetzes. Ab Januar 2000 müssen alle Rinder eines Bestandes zwei Ohrmarken tragen, ei- nen Rinderpass besitzen und in einer elektronischen Da- tenbank gemeldet sein. In jedem Betrieb muss ein Be- standsregister geführt werden. Zu- oder Abgänge müssen in kürzester Frist gemeldet werden. Wir sind also in der Lage, den Aufenthaltsort jedes deutschen Rindes zu er- mitteln. Wir können den Lebensweg jedes Tieres von der Geburt an bis in die Fleischtheke lückenlos verfolgen. Wir können sogar sagen, mit welchen Artgenossen jedes Tier in seinem Leben in Kontakt getreten sein kann. Das alles bedeutet für die Landwirte, aber auch für Transpor- teure, Schlachtbetriebe und Verarbeiter einen erhebli- chen, auch finanziellen Aufwand. Die Bauern und das Fleischgewerbe haben deshalb einen Anspruch darauf, dass ihre Anstrengungen, ihre Sorgfalt bei der Haltung, bei der Fütterung und bei der Verarbeitung von Rindern dem zu Recht kritischen Verbraucher leicht und schnell erkennbar vermittelt werden können. Ein nur mit einem Zahlencode versehenes Etikett dient letztlich der Rück- verfolgbarkeit einer ausgeschilderten Fleischpartie. Von Bedeutung ist dies bei Beanstandungen oder einer Seu- chenbekämpfung. DemVerbraucher erschließt sich damit in der kurzen Zeit seiner Kaufentscheidung die Herkunft des Tieres nicht. Wir wollen dem Verbraucher durch ein leicht erkennbares Zeichen die Herkunft des Rindflei- sches oder daraus hergestellterWaren vermitteln. Wir, die CDU/CSU-Fraktion, fordern deshalb, neben dem Buch- staben D die deutsche Flagge oder die Nationalfarben als Hintergrund der Etikettennummer für aus Deutschland stammende Rindfleisch- oder Verarbeitungsprodukte zwingend vorzuschreiben. Damit kann jeder Verbraucher schnell und sicher Rindfleisch deutscher Herkunft von Fleisch aus anderen Ländern unterscheiden. Die Bundes- regierung hat im Ausschuss für Ernährung, Landwirt- schaft und Forsten zugesagt, dieser von mir kommenden Forderung im Rahmen einer Verordnung zu entsprechen, sofern die EU-Kommission zustimmt. Damit wird unser Ziel einer leichten Erkennbarkeit von aus Deutschland kommendem Rindfleisch oder dessen Verarbeitungspro- dukten erreicht. Da in Deutschland bisher kein hier geborenes Rind an BSE erkrankt ist, kann man jede Gefährdung, die von die- ser Krankheit ausgeht, durch den Kauf von deutschem Rindfleisch sicher ausschließen. Das hat bisher auch Bun- deslandwirtschaftsminister Funke so gesehen. Deshalb haben wir kein Verständnis dafür, dass die EU-Kommis- sion vorschreibt, auch in Deutschland, ab dem 1. Oktober diesen Jahres so genanntes Risikomaterial, wie zum Bei- spiel das Hirn von Schlachtkörpern, einer getrennten Ent- sorgung zuzuführen. Der deutschen Landwirtschaft wer- den damit Kosten in Höhe von circa 60 Millionen Mark aufgebürdet. Dies ist der Dank dafür, dass in Deutschland schon immer alle Vorkehrungen gegen eine Verbreitung des BSE-Erregers getroffen wurden. Unsere Tierkörper- beseitigungsanlagen haben, anders als in Großbritannien, diese auch bei Schafen verbreitete Krankheit, sicher eli- miniert. Dass Landwirtschaftsminister Funke noch nicht einmal gegen diese EU-Pläne gestimmt hat, sondern sich der Stimme enthielt, ist ein Verrat an unseren Bauern. Ich fasse zusammen: Erstens. Unserem Antrag, eine klare und leicht erkenn- bare Etikettierung durch das Aufbringen der deutschen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10589 (C) (D) (A) (B) Flagge oder der Nationalfarben für hier geborene, aufge- wachsene und geschlachtete Tiere gesetzlich vorzuschrei- ben, wird nach entsprechender Zusage im Ausschuss auf dem Verordnungswege entsprochen. Zweitens. Wir fordern Sie auf, weitere massive Belas- tungen von den deutschen Rindfleischerzeugern durch eine separate Entsorgung so genannter Risikomaterialien fernzuhalten. Drittens. Wir stimmen dem Gesetzentwurf zu und hof- fen, bei den Menschen wieder mehr Vertrauen für die hohe Qualität eines herzhaften Stück Rindfleischs zu wecken. Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Verhältnis und das Vertrauen der Verbraucher zur Erzeu- gung der Lebensmittel in Deutschland ist für Bündnis 90/ Die Grünen eine zentrale Frage. Alle Maßnahmen zur Verbesserung im Bereich der Futtermittel, der Herkunfts- etikettierung, der Kennzeichnung und der Vermarktung, die die Lebensmittelsicherheit und Transparenz stärken, stehen für uns unter der Zielsetzung Vertrauen herzustel- len und Zustimmung zu qualitativ hochwertiger Produk- tion zu erzielen. Einen wichtigen Schritt auf diesem Weg tun wir heute. Mit dem uns heute vorliegenden Zweiten Gesetz zur Än- derung des Rindfleischetikettierungsgesetzes können die Verbraucherinner und Verbraucher endlich – nachdem die alte Bundesregierung schon vor Jahren versprochen hatte, die Herkunftskennzeichnung einzuführen, und dies nicht einmal in den Hochphasen der BSE-Krise umzusetzen in der Lage war – erkennen, welches Fleisch aus Deutsch- land kommt. Mit den obligatorischen Angaben „D/D/D“ plus einer Identifizierungsnummer auf dem Etikett kann die Herkunft vom Geburtsort des Tieres bis zur La- dentheke verfolgt werden. Zusätzliche Angaben zur Re- gion, zur Produktionsweise etc. sind möglich, sodass die regionale Vermarktung gestärkt wird. Zur Erleichterung der Erkennung werden wir die Einführung farblicher Kennzeichen – Landes- oder Bundesfarben – unterstützen und auf die Genehmigung durch die EU hinwirken. Die Sicherheit der Angaben wird durch hoheitliche Kontrol- len gewährleistet und so auch die Gebührenbelastung be- grenzt. Durch die nationale Kennzeichnung, für die Gesund- heitsministerin Andrea Fischer bei der Europäischen Kommission hart gestritten hat, und die Kennzeichnung britischen Rindfleisches können sich die Verbraucherin- nen und Verbraucher bewusst für oder gegen den Kauf von britischem Rindfleisch entscheiden. Wer auf Nummer sicher gehen will, greift am besten auf Produkte aus deut- scher und regionaler Produktion sowie aus artgerechter und ökologischer Tierhaltung zurück. Umstritten war bisher noch die Finanzierung der Überwachung des Gesetzes. Der Änderungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündisses 90/Die Grünen berücksichtigt nun wesentliche Anliegen der Länder. Die Lasten der Überwachung werden auf Bund und Länder verteilt. Die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Er- nährung überwacht die Einhaltung der Etikettierungs- syteme und kontrolliert die anerkannten unabhängigen Stellen. Die Länder werden zudem ermächtigt, die Über- wachung auf private Stellen im Wege der Beleihung zu übertragen. Die Wirtschaft hat weiterhin die Möglichkeit, freiwillige Zusammenschlüsse zu Etikettierungs- und Kontrollsystemen auch im Rahmen der obligatorischen Etikettierung fortzuführen. Die Länder können dann den Umfang ihrer Überwachungsmaßnahmen verringern. Ge- rade in Deutschland sind die Voraussetzungen für die ob- ligatorische Kennzeichnung gut, denn die Fleischwirt- schaft macht bereits seit 1998 von der freiwilligen Etiket- tierung Gebrauch. Allein mit dem Orgainvent-System werden schätzungsweise 70 Prozent der in Deutschland geschlachteten Rinder etikettiert. Mit der schnellen Umsetzung des Rindfleischetikettie- rungsgesetzes kommt Deutschland seiner europarechtli- chen Verpflichtung nach und nimmt gleichzeitig eine Vor- reiterrolle zum Wohle des Verbrauchers ein, weil die ob- ligatorische Herkunftsangabe, die europaweit ab dem 1. Januar 2002 in Kraft tritt, national vorgezogen wird. Die EU-Agrarminister und das Europäische Parlament werden voraussichtlich in Kürze über das zukünftige EG-Rindfleischetikettierungsrecht beschließen. Es ist zu erwarten, dass Europäisches Parlament und Rat die be- treffende EG-Verordnung im Juli 2000 verabschieden werden, sodass die obligatorische Rindfleischetikettie- rung wie vorgesehen am 1. September 2000 beginnen kann. Der vorliegende Gesetzentwurf wurde im Agrar- ausschuss einmütig begrüßt. Wir fordern die Bundeslän- der auf, jetzt zügig im Bundesrat zuzustimmen, damit die Regelung sofort greifen kann. Das Gesetz ist ein Baustein im BSE-Schutzprogramm der Bundesregierung. Ein weiterer von der Bundesregie- rung eingeforderter Vorschlag der Kommission ist die Einführung einer obligatorischen offenen Deklaration der Futtermittel. Landwirte werden den Verbraucherwün- schen künftig nur durch eine klare und transparente Kenn- zeichnung beim Kauf von Futtermitteln entsprechen kön- nen und müssen die Möglichkeit haben, sich selbst abzu- sichern gegenüber den Lieferanten. Notwendig ist zudem eine Kennzeichnung von gentechnisch veränderten Kom- ponenten in Futtermitteln sowie ein Verbot der noch vier zugelassenen Antibiotika als Leistungsförderer. Die An- forderungen an die Futtermittel sollten europaweit in ei- ner Novel Feed Verordnung verbindlich geregelt werden. Angesichts der Sicherheitsbedürfnisse der Verbraucher war auch der jüngste Beschluss der EU-Agrarminister, dass ab dem 1. Oktober 2000 so genannte Risikomateria- lien wie Hirn, Augen und Rückenmark von geschlachte- ten Rindern, Ziegen und Schafen im Alter von mehr als zwölf Monaten entfernt werden müssen und nicht mehr zu Tierfutter verarbeitet werden dürfen, unumgänglich. In Deutschland ist zwar noch nie ein originärer BSE-Fall aufgetreten. Dennoch hat das Beispiel Dänemark gezeigt, dass Möglichkeiten der Übertragung bestehen. Die an sich sicheren Drucksterilisationsmethoden sind dann nach Ansicht der Kommission nicht mehr ausreichend. Vor die- sem Hintergrund wäre die Beibehaltung dieser Risikoma- terialien in Fleisch und Wurst sicherlich kein Verkaufs- schlager. Die Rückstände aus der Tierkörperbeseitigung können nun einer energetischen Nutzung zugeleitet wer- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10590 (C) (D) (A) (B) den. Die entsprechende Förderung wird über die Biomas- severordnung durch die Bundesregierung bereitgestellt und muss jetzt ausgeschöpft werden. So können die Kos- ten für Landwirte und Lebensmittelverarbeiter gering ge- halten werden. Um das Vertrauen der Verbraucher wiederzugewinnen und zum Schutz des Images von Fleischprodukten sollten aus Sicht von Bündnis 90/Die Grünen Tiermehle – wie in Frankreich – generell aus der Futterkette genommen wer- den. Eindeutige, verbraucherfreundliche Kennzeichnung und klare Sicherheitsbestimmungen werden sich auf Dauer als wichtiger Markt- und Standortvorteil für die deutsche Landwirtschaft erweisen. Die Fleischwirtschaft sollte dies als Chance offensiv nutzen und in ihre Ver- marktungsstrategien einbeziehen. Ulrich Heinrich (F.D.P.): BSE war und ist eine ge- fährliche Seuche, die nach wie vor eine Gefahr für die Ge- sundheit der Menschen in ganz Europa darstellt. Deshalb muss dem Verbraucherschutz absoluter Vorrang vor wirt- schaftlichen Interessen eingeräumt werden. Jahr für Jahr treten alleine in Großbritannien mehr als 2000 BSE-Fälle auf. Bisher sind 53 Todesfälle zu bekla- gen. Schon aus diesem Grunde hätte das Exportverbot für britisches Rindfleisch niemals aufgehoben werden dür- fen. Erst nach Einführung der europaweiten obligatori- schen Etikettierung hätte man an diesen Schritt denken können. Die Bundesregierung und insbesondere die grüne Ge- sundheitsministerin, Andrea Fischer, haben beim Schutz der Verbraucher vor der Rinderseuche BSE Durchset- zungskraft vermissen lassen. Frau Fischer hätte dafür sor- gen müssen, dass unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft eine obligatorische Etikettierung von Rindfleisch zum 1. Januar 2000 auch tatsächlich EU-weit eingeführt wurde. Mit der obligatorischen Kennzeichnung und Etikettie- rung von Rindfleisch und deren Erzeugnissen bekommt der Verbraucher die Gewissheit, dass er das hochwertige Nahrungsmittel Rindfleisch aus Deutschland angeboten bekommt. Jüngste BSE-Ausbrüche in Frankreich, Dänemark und Großbritannien signalisieren, dass die Seuche in diesen Ländern noch nicht besiegt ist. Im Gegensatz zu Großbri- tannien, dem Hauptverursacher der BSE-Krise, hat man in Deutschland große Anstrengungen unternommen, um rechtzeitig ein voll funktionsfähiges System zur Rind- fleischetikettierung aufzubauen. Die Einigung der EU-Agrarminister am 14. April die- ses Jahres, die Einführung der Etikettierung von Rind- fleisch nun doch zum Teil wie ursprünglich vereinbart von 2003 auf 2001 vorzuziehen, ist aus Verbrauchersicht zu begrüßen. Demnach sollen ab dem 1. September dieses Jahres die Verbraucher über den Schlachtort und die Her- kunft des Tieres an der Ladentheke informiert werden. Ab dem 1. Januar 2002 soll die Etikettierung auch Aufschluss über Geburtsort und Mastbetrieb geben. Die Vorstellungen von Agrarminister Karl-Heinz Funke, in Deutschland die Zusatzinformationen über den Ort der Geburt und Mast, der Schlachtung und der Zerle- gung des Tieres bereits ebenfalls im September diesen Jahres einzuführen, sind zwar aus verbraucherpolitischer Sicht lobenswert, benachteiligen aber zugleich die deut- schen Landwirte und alle beteiligten Wirtschaftszweige in ihrer Wettbewerbsfähigkeit. Eine zusätzliche Kennzeich- nung erfordert zusätzliche Kosten. Fest steht: Deutschland war und ist BSE-frei. Das be- stätigen auch aktuelle Untersuchungen des Internationa- len Tierseuchenamtes, bei denen eindeutig festgestellt worden ist, dass bei deutschen Tieren noch kein Fall von Rinderwahn festgestellt worden ist. Mit Stolz verkündete Bundeslandwirtschaftsminister Funke dieses Ergebnis und erklärte beim Treffen der EU-Agrarminister, dass Sonderregelungen wie das Beseitigen von Risikomateria- lien in Deutschland nicht notwendig sind. Deshalb ist die Enthaltung Deutschlands bei der jüngsten Sitzung der EU-Agrarminister nicht nachvollziehbar. Hier hätte ein klares Nein erfolgen müssen. Zur Durchsetzung schärferer Schutzbestimmungen, wonach die EU-Kommission beabsichtigt, künftig Risi- komaterial geschlachteter Rinder, Ziegen und Schafen im Alter von mehr als zwölf Monaten zu entfernen, gibt es nach Auffassung der F.D.P. keine Veranlassung. Man kann nicht Länder wie Deutschland und Großbritannien über einen Kamm scheren. Hätte die EU die zwingende Modernisierung der Tiermehlproduktion entsprechend des deutschen Systems durchgesetzt, bräuchte man eine Sonderregelung für Risikomaterialien nicht einzuführen. Das deutsche System, diese Materialien mit einem ther- mischen Verfahren bis zum Zerfall der Weichteile zu er- hitzen und anschließend mindestens 20 Minuten lang bei einer Temperatur von 133 °C und einem Druck von 3 bar zu halten, ist absolut sicher. Kersten Naumann (PDS):Mit dem vorliegenden Ge- setzentwurf beschließen wir eine jener Regelungen, die zwar ein dringendes gesellschaftliches Problem auf- greift – die Sicherung der Gesundheit der Verbraucher –, durch die das Problem aber nicht an der Wurzel gepackt wird. Bei dem Rindfleischetikettierungsgesetz handelt es sich um eine der üblichen „end-of-pipe“-Lösungen. Nachdem ein Störfall eingetreten ist, kann rückverfolgt werden, was die Ursache war. Und wie die Vergangenheit lehrt, ist das für den Verursacher nicht so dramatisch, als wenn er durch Einhaltung gesetzlicher Bestimmungen auf Profite verzichtet hätte. Mit dem Etikettierungsgesetz kann Etikettenschwindel nicht verhindert werden. Wir beschließen also heute nach dem Prinzip: Der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach. Wenn es um die Gesundheit der Ver- braucher geht, sollte dieses Prinzip allerdings unzulässig sein. Deshalb fordern wir weitere Anstrengungen bei der Beseitigung von gesundheitlichen Gefahrenquellen, die leider nur all zu bekannt sind – Stichworte: BSE, Dioxin, Wachstumshormone, Antibiotika usw. Für verhängnisvoll halten wir, wenn die Rindfleischetikettierung auf ein Mar- ketinginstrument reduziert wird, wie das die Verarbei- tungsindustrie tut. Eine hochwirksame Gesundheitsvorsorge muss in der Primärproduktion von Rindern ansetzen. Notwendig ist Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10591 (C) (D) (A) (B) eine Produktionsorganisation, durch die auf allen Produk- tionsstufen eine zuverlässige Kontrolle gesichert wird. Agrarpolitisch ist eine Verbundlandwirtschaft zu fördern, die durch stabile Kooperationsketten eine technologisch bedingte und wechselseitige Kontrolle aller Produktions- partner ermöglicht. Wir stimmen Professor Windhorst von der Hochschule Vechta zu: „Die Erzeugung tierischer Nahrungsmittel steht an einer Wende.“ Nach seiner Auffassung gibt es „in der tierischen Veredelung zum Aufbau kontrollierter Pro- duktionssysteme keine Alternative ... Grundsätzlich kön- nen Herkunfts- und Qualitätssicherungssysteme nur dann funktionieren, wenn geschlossene Produktionssysteme bestehen.“ Was wir brauchen ist eine konsequente Weiterführung der Prüfsiegelpolitik der CMA. Erfahrungen aus den Nie- derlanden besagen: „Die Sicherheit beginnt beim Roh- stoff und damit beim Tier, was strikte Gesundheitspro- gramme auf Erzeugerebene erfordert.“ In der Bundesre- publik gibt es dafür aber sehr schlechte Voraussetzungen. Bei einer Auslastung der Rinderschlachtkapazität von 30 Prozent wird der notwendige Konsolidierungsprozess zu einer Verschärfung des Rindertourismus führen. Die für den Herkunftsnachweis so wünschenswerte Regionalisie- rung der Produktion und Verarbeitung wird durch die Marktgesetze nicht realisiert werden. Deshalb müssen die Verbraucher weiter außerparla- mentarischen Druck ausüben, damit auch mit dem Etiket- tierungsgesetz ihre berechtigten Interessen nicht auf der Strecke bleiben. Die Etikettierung muss ein Einstieg in eine grundlegende Veränderung der Agrarproduktion sein. Und dem muss die Agrarpolitik Rechnung tragen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10592 (C)(A) Druck: MuK. Medien-und Kommunikations GmbH, Berlin
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411100000
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

Zunächst möchte ich der Kollegin Ursula Lietz, die
am 19. Juni ihren 60. Geburtstag feierte, und dem Kolle-
gen Dr. Dieter Thomae, der am 23. Juni ebenfalls seinen
60. Geburtstag beging, nachträglich die besten Glück-
wünsche des Hauses aussprechen.


(Beifall)

Sodann teile ich mit, dass der Kollege Dr. Jürgen

Rüttgers am 5. Juni 2000 auf seine Mitgliedschaft im
Deutschen Bundestag verzichtet hat. Als sein Nachfolger
hat der Abgeordnete Bernd Wilz am 14. Juni 2000 die
Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich
heiße den uns aus früheren Wahlperioden bekannten Kol-
legen, der heute Vormittag allerdings nicht anwesend sein
kann, herzlich willkommen.


(Beifall)

Die Fraktion der SPD hat mitgeteilt, dass der Kollege

Rolf Hempelmann als stellvertretendes Mitglied aus der
Parlamentarischen Versammlung des Europarates aus-
scheidet. Nachfolgerin soll die Kollegin Marlene
Rupprecht werden. Sind Sie damit einverstanden? – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist die Kollegin
Rupprecht als stellvertretendes Mitglied in die Parlamen-
tarische Versammlung des Europarates gewählt.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
verbundene Tagesordnung dieser Woche um weitere Zu-
satzpunkte erweitert werden. Die Punkte entnehmen Sie
bitte der folgenden Zusatzpunktliste:

1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Haltung der Bundesregierung zur Reduktion der Investi-
tionen im Bundeshaushalt 2001 und den sich aus geringe-
ren Aufträgen ergebenden Wirkungen auf den Mittelstand

(siehe 110. Sitzung)


2. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung: Ausstieg aus
der Kernenergie – Chance für eine Energiepolitik im ge-
sellschaftlichen Konsens

3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter Paziorek,
Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach), Kurt-Dieter Grill, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Die Folgen des
Ausstiegs aus der Kernenergie für den Standort Deutsch-
land – Drucksache 14/3667 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula Lötzer, Rolf
Kutzmutz, Angela Marquardt, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS: E-Europe: die europäische Informations-
gesellschaft sozial und demokratisch gestalten
– Drucksache 14/3623 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien

5. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU: Europä-
ische Lebensmittelbehörde nach Deutschland
– Drucksache 14/3669 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Guido
Westerwelle, Detlef Parr, Hildebrecht Braun (Augsburg), wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Europäische
Lebensmittelbehörde nach Bonn holen – Drucksache
14/3300 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut
Haussmann, Ulrich Irmer, Günther Friedrich Nolting, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: OSZE stärken
– Drucksache 14/3674 –

8. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Haltung
der Bundesregierung zur jüngsten Einschätzung der Welt-
gesundheitsorganisation, wonach Deutschland im interna-
tionalen Vergleich der Gesundheitssysteme Platz 25 ein-
nimmt

9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut
Haussmann, Ulrich Irmer, Jürgen Koppelin, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der F.D.P.: Für eine kohärente Ostsee-
politik – Drucksache 14/3675 –

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(C)



(D)



(A)



(B)


111. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000

Beginn: 9.00 Uhr

10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.-Ing. Dietmar
Kansy, Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Soziale Wohn-
raumförderung – Reform im Einklang mit einer kohären-
ten Wohnungs- und Städtebaupolitik
– Drucksache 14/3668 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Haushaltsausschuss


(Bayreuth)

weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Wohngeld
erhöhen, Bürokratie abbauen, Länderkompetenzen stär-
ken: Reformchancen beim sozialen Wohnungsbau konse-
quent nutzen – Drucksache 14/3676 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuss

12. Erste Beratung des von den Abgeordneten Günter Nooke,
Ulrich Adam, Hartmut Büttner (Schönebeck), weiteren Abge-
ordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Ent-
wurfs eines Dritten Gesetzes zur Bereinigung von SED-

(Drittes SED-Unrechtsbereingungsgesetz – 3. SED-UnBerG)

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

13. Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Nooke, Ulrich
Adam, Hartmut Büttner (Schönebeck), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU: Den jenseits von Oder und
Neiße Verschleppten wirksam und dauerhaft helfen
– Drucksache 14/3670 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss

14. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.: Besse-
rer Schutz der Bevölkerung – insbesondere von Kindern –
vorAngriffen von Kampfhunden

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit es bei einigen Tagesordnungspunkten erforderlich
ist, abgewichen werden.

Außerdem sind folgende Umstellungen der Tagesord-
nung vereinbart worden:

Nach der sogleich beginnenden Regierungserklärung
des Bundeskanzlers soll die Aussprache hierzu in Verbin-
dung mit dem unter Tagesordnungspunkt 5 stehenden An-
trag der CDU/CSU-Fraktion zur Energiepolitik in
Deutschland erfolgen.

Die Debatte zum sozialen Wohnungsbau soll unmittel-
bar nach der Verbesserung der Vereinsförderung – das ist
Tagesordnungspunkt 13 – aufgerufen werden.

Die Tagesordnungspunkte 23 – Buchpreisbindung –
und 25 – zweite und dritte Lesung des Rindfleischetiket-
tierungsgesetzes – sollen nicht am Freitag, sondern heute
als letzte Tagesordnungspunkte beraten werden.

Die Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen Kon-
trollgremiums soll am Freitag als erster Punkt der Tages-
ordnung um 9 Uhr aufgerufen werden.

Die Tagesordnungspunkte 18 a und b – Änderung des
Art. 16 des Grundgesetzes – und Tagesordnungs-
punkt 21 – Grundstücksrechtsänderungsgesetz – sollen
abgesetzt werden.

Des Weiteren mache ich auf nachträgliche Ausschuss-
überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerk-
sam:

Der in der 108. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Ausschuss für Wirtschaft und Technologie zur Mit-
beratung überwiesen werden.

Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Ände-
rung des Gerätesicherheitsgesetzes und des
Chemiekaliengesetzes – Drucksache 14/3491 –

(Erste Beratung 108. Sitzung)

Überwiesen:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Der in der 108. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene Antrag soll zusätzlich dem Rechtsaus-
schuss, dem Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung,
dem Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-
genabschätzung und dem Ausschuss für die Angelegen-
heiten der Europäischen Union zur Mitberatung über-
wiesen werden.

Antrag der Abgeordneten Hildebrecht Braun

(Augsburg), Ernst Burgbacher, Paul K. Friedhoff,

weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.:
Rechtsextremismus entschlossen bekämpfen –
Drucksache 14/3106 –
Überwiesen:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Der in der 108. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für
Angelegenheiten der neuen Länder zur Mitberatung
überwiesen werden.

Antrag der Abgeordneten Ute Vogt (Pforzheim),
Ernst Bahr, Eckhardt Barthel, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeord-
neten Annelie Buntenbach, Cem Özdemir,
Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlich-
keit, Antisemitismus und Gewalt – Drucksache
14/3516 –
Überwiesen:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss




Präsident Wolfgang Thierse
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(C)



(D)



(A)



(B)


Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Der in der 108. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene Antrag soll zusätzlich dem Finanzausschuss
zur Mitberatung überwiesen werden.

Antrag der Abgeordneten Günter Gloser, Hermann
Bachmaier, Hans-Werner Bertl, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der SPD sowie der Abge-
ordneten Christian Sterzing, Ulrike Höfken,
Claudia Roth, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Europä-
ischer Rat in Feira – Europa entschlossen vo-
ranbringen – Drucksache 14/3514 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union (f)

Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss

Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe Zusatzpunkte 2 und 3 sowie Tagesordnungs-
punkt 5 auf:
ZP 2 Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung

Ausstieg aus der Kernenergie – Chance für eine
Energiepolitik im gesellschaftlichen Konsens

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter
Paziorek, Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach), Kurt-
Dieter Grill, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Die Folgen des Ausstiegs aus der Kernenergie
für den Standort Deutschland
– Drucksache 14/3667 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Kurt-
Dieter Grill, Gunnar Uldall, Dr. Klaus W. Lippold

(Offenbach), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion der CDU/CSU
Energiepolitik für Deutschland – Konsequen-
zen aus dem Energiedialog 2000
– Drucksache 14/3507 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung

zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundeskanzler Gerhard Schröder.


Gerhard Schröder (SPD):
Rede ID: ID1411100100
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Nacht
zum 15. Juni hat sich die Bundesregierung mit der Ener-
giewirtschaft darauf geeinigt, die Nutzung der Kernener-
gie geordnet zu beenden. Gleichzeitig wird für die ver-
bleibende Laufzeit der sichere und ungestörte Betrieb der
existierenden Anlagen gewährleistet.

Die breite Zustimmung, welche die Einigung bei den
Koalitionsparteien, aber auch in der öffentlichen Meinung
und in der Energiewirtschaft gefunden hat, zeigt, dass wir
einen fairen Kompromiss gefunden haben. Nur die
Opposition malt wegen des Ausstiegs aus einer angebli-
chen Zukunftsenergie gleichsam den Untergang des
Abendlandes an die Wand.


(Widerspruch bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So sind sie!)


Warum, so frage ich mich, wollen Sie die Realität nicht
nur in Deutschland nicht zur Kenntnis nehmen? Kein Un-
ternehmen der Energiewirtschaft denkt auch nur im
Traum daran, in absehbarer Zeit in Deutschland irgendei-
nen Antrag für den Neubau eines Kernkraftwerkes zu stel-
len. Kein Energieunternehmen dachte und denkt im
Traum daran, ein solches Kraftwerk zu errichten.

Der Investitionsbedarf je Kilowattstunde liegt bei der
Kernenergie mindestens doppelt so hoch wie bei anderen
Energieträgern. Den Energiestandort Deutschland wer-
den wir mit der Kernenergie nicht sichern oder gar ent-
wickeln können. Dieses Problem ist auf der Seite der Op-
position immer noch nicht erkannt worden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Gleichzeitig – das mussten wir insbesondere bei eini-
gen CSU- und CDU-geführten Länderregierungen fest-
stellen – verweigern Sie sich der Lösung der schwierigen
Probleme, die die Nutzung der Kernenergie vor allen Din-
gen auf dem Entsorgungssektor mit sich bringt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das ist eine üble Nachrede!)


– Das ist keine üble Nachrede. Schauen Sie sich doch mal
die Erklärungen Ihres Herrn Stoiber an! Was passiert denn
beständig in Bayern? Da predigt man den Ausbau der
Kernenergie, glaubt aber, dass andere Bundesländer wie
Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen die Entsor-
gungsfragen für Bayern lösen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch des Abg. Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU])


Das ist klassische Politik nach dem Sankt-Florians-Prin-
zip: Man hält die Fahne hoch, aber die Arbeit sollen die




Präsident Wolfgang Thierse

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(C)



(D)



(A)



(B)


anderen machen. Das ist Verantwortung, wie sie Bayern
versteht. So geht das nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wer sich wie der eine oder andere Ministerpräsident –
es ist übrigens nicht nur Herr Stoiber; auch bei Herrn
Teufel ist Ähnliches festzustellen – für die Nutzung der
Kernenergie stark macht, aber ausschließlich den anderen
Bundesländern die Entsorgungslasten, also die Entsor-
gung der radioaktiven Abfälle, überlassen will, der macht
sich wirklich total unglaubwürdig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Eine solche Politik zulasten anderer darf es nicht geben.
Wir haben damit Schluss gemacht. Wir werden diese Po-
litik auch in Zukunft nicht durchgehen lassen.

Über viele Jahre hinweg hat die Nutzung der Kern-
energie zu heftigen gesellschaftlichen Auseinanderset-
zungen in unserem Land geführt. Die Bilder von massi-
ven, teilweise auch gewaltsamen Protestaktionen haben
sich in unser aller Gedächtnis eingeprägt. Von Wyhl über
Wackersdorf bis hin nach Brokdorf und Gorleben reichen
die Spuren dieses gesellschaftlichen Konfliktes. Das poli-
tische Bewusstsein einer ganzen Generation wurde durch
die Auseinandersetzungen um die Kernenergie mitbe-
stimmt. Anhänger und Gegner standen einander jahrzehn-
telang fast unversöhnlich gegenüber.

Als in jener Nacht zum 15. Juni 2000 die Einigung er-
zielt war und ein grüner Umweltminister


(Lachen bei der CDU/CSU)

– das ist so und Sie können sicher sein, dass das noch
lange so bleiben wird –


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


und die Chefs der wichtigsten Unternehmen der deut-
schen Energiewirtschaft zugestimmt hatten – ich verstehe
ja, dass Ihnen das sehr Leid tut; aber sie hatten Gründe, so
zu handeln –,


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie wurden von Ihnen geknebelt! Sie wurden von Ihnen erpresst!)


wurden diese Konflikte beendet.
Ein kurzer Blick zurück hilft, das Ergebnis richtig ein-

zuordnen. Fast über ein Jahrzehnt hinweg wurde in insge-
samt drei Anläufen versucht, einen solchen Konsens zu
vereinbaren. Ich weiß wirklich, wovon ich rede. Ich habe
selbst viel Zeit investiert, um den unfruchtbaren Grund-
satzstreit über die Kernenergie zu beenden und – das ist
genauso wichtig – die drängenden praktischen Probleme,
die damit zusammenhängen, wirklich zu lösen. Mehrmals
hätte es fast geklappt. Jetzt ist es so weit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dass es im dritten Anlauf gelungen ist, ist ein Erfolg
der Bundesregierung, aber auch ein Zeichen für die poli-

tische Kultur in unserem Land. Gerade den Menschen, die
in Wackersdorf und Gorleben friedlich gegen Kernkraft
demonstriert haben,


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Steinewerfer Fischer!)


sage ich: Ich weiß, dass es vielen nicht schnell genug ge-
gangen ist. Aber bei aller Kritik im Einzelnen muss man
sehen, dass es nicht anders möglich war. Wir haben kon-
troverse Positionen zusammenbringen müssen. Daher ist
es kein Wunder, dass Kompromisse gemacht werden
mussten.

Im Mittelpunkt der Vereinbarung steht ein Kompro-
miss über die Regellaufzeit der Anlagen. Ursprünglich
hatten die Kraftwerksbetreiber 40 Volllastjahre gefordert.
Selbst in der Schlussrunde hatten sie 35 Kalenderjahre als
Mindestlaufzeit verlangt. Die Bundesregierung – Sie wis-
sen das – ging nach gewiss schwierigen Einigungsge-
sprächen auch innerhalb der Koalition – das soll über-
haupt nicht bestritten werden – mit der Forderung nach
30 Kalenderjahren in die Verhandlungen. Die vereinbarte
Regellaufzeit von 32 Kalenderjahren stellt einen fairen
und auch für die Gegner der Kernenergie vertretbaren
Kompromiss dar.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Wo bleibt das Klatschen der Grünen?)


Ich weiß, wie schwer dieser Kompromiss auch den
Chefs der Versorgungsunternehmen gefallen ist. Sie müs-
sen ihre Entscheidungen – sie können das jetzt auch – vor
ihren Aktionären, aber auch vor den Beschäftigten recht-
fertigen. Ihre Zustimmung wurde sicher durch die verein-
barte Flexibilisierung der Laufzeiten erleichtert. Sie er-
laubt den Unternehmen, moderne und wirtschaftliche An-
lagen länger zu betreiben, wenn sie dafür ältere und
weniger wirtschaftliche Anlagen früher stilllegen.

Ich will aber eines sehr klar machen: Flexibilisierung
bedeutet nicht, dass die Betriebsdauer der Anlagen in das
Belieben der Unternehmen gestellt worden sei. Vielmehr
wurde für jedes Atomkraftwerk auf der Basis der
Regellaufzeiten eine feste Strommenge vereinbart, wel-
che das Kraftwerk in der verbleibenden Restlaufzeit noch
produzieren darf. Nur wenn ein Kraftwerk früher als ver-
einbart vom Netz geht, darf ein anderes länger laufen.
Wenn ältere Anlagen abgeschaltet werden, erhöht dies
insgesamt betrachtet auch das Sicherheitsniveau der noch
bestehenden, der laufenden Anlagen. Die älteren sind in
der Regel schlechter als moderne Kraftwerke gegen Stör-
fälle geschützt. Es gibt Ausnahmen. Das ist bekannt. Auch
darauf kann reagiert werden.

Somit war die Flexibilisierung der Laufzeiten der
Schlüssel, um das Interesse der Betreiber an einem wirt-
schaftlichen Betrieb der Anlagen, um das es uns entgegen
dem, was so geredet worden ist, immer auch ging, mit un-
serem gemeinsamen Interesse an einer verbesserten Si-
cherheit vereinbaren zu können.

Im Übrigen gibt es beim Thema Sicherheit keinen Ra-
batt. Ich will hier ganz klar hinzufügen, dass von den Ge-
sprächspartnern auch nie ein Rabatt in puncto Sicherheit
gefordert worden ist. Kernkraftwerke müssen in Deutsch-




Bundeskanzler Gerhard Schröder
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(C)



(D)



(A)



(B)


land weiterhin auf einem auch international gesehen sehr
hohen Sicherheitsniveau betrieben werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Darüber hinaus haben wir uns darauf verständigt, dass
erstmals die Pflicht zur periodischen Sicherheitsüber-
prüfung gesetzlich verankert wird.

Ganz entscheidend kommt es mir darauf an, dass bei
der Entsorgung der radioaktiven Abfälle der nun wirklich
vorhandene Problemstau aufgelöst wird. Schließlich war
es die neue CSU-Vorsitzende, Frau Merkel, die 1998 – –


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: CDU-Vorsitzende! – Dr. Peter Struck [SPD]: CDU-Vorsitzende, Herr Bundeskanzler!)


– Das war wirklich keine Absicht, obwohl man das hätte
vermuten können. Entschuldigung.


(Heiterkeit bei der SPD und dem Bündnis 90/ Die Grünen)


Es war die CDU-Vorsitzende, Frau Merkel, die 1998
wegen der Überschreitung von Grenzwerten den Trans-
portstopp verhängt hatte.

Heute sind wir uns mit den Ländern und den Unter-
nehmen über das Sicherheitspaket für die Transporte ei-
nig. Ebenso haben wir uns mit der Energiewirtschaft über
die Beendigung der Wiederaufarbeitung verständigt. Da-
bei werden die bestehenden internationalen Vereinbarun-
gen eingehalten. Auch hier geht es nicht nur um sichere
Entsorgung, sondern die Beendigung der Wiederaufarbei-
tung liegt auch im wirtschaftlichen Interesse der versor-
genden Unternehmen.

Die fast an Hysterie grenzende Erregung wegen der Er-
richtung standortnaher Zwischenlager kann ich nun
wirklich nicht nachvollziehen.


(Uta Titze-Stecher [SPD]: Wir auch nicht!)

Tatsächlich haben sich die Regierungschefs von Bund und
Ländern schon 1979 in diesen viel zitierten Vereinbarun-
gen darauf verständigt, dass weitere Zwischenlager not-
wendig sind. Der bayerische Ministerpräsident, der sich
so gern auf diese Verständigung beruft, lässt diesen Teil
allerdings unter den Tisch fallen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ist er!)


So etwas nennt man wohl selektive Wahrnehmung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Im Übrigen sind die standortnahen Zwischenlager ver-

nünftig. Wir wollen und wir werden damit erreichen, dass
unnötige Transporte in die regionalen Zwischenlager, also
nach Ahaus und Gorleben, unterbleiben. Auch das,
denke ich, liegt in unser aller Interesse. Darüber hinaus ist
es auch wirtschaftlich vernünftig.

Vor allen Dingen bedeutet die neue Regelung auch eine
faire Lastenverteilung zwischen den Bundesländern. Da-
mit wird deutlich, dass die Entsorgung der radioaktiven

Abfälle wirklich alle Bundesländer betrifft und nur in ge-
meinsamer Verantwortung aller Bundesländer getragen
werden kann. Jene Drohungen, die wir da hören, wer al-
les was nicht genehmigen werde, zeugen wirklich von to-
taler Verantwortungslosigkeit, was diese Frage angeht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Im Übrigen handelt es sich hier um Zwischenlager und
nicht um Endlager. Das betone ich ausdrücklich, weil es
gelegentlich Erklärungen gibt, die da Missverständnisse
aufkommen lassen sollen.

In der Vereinbarung mit der Energiewirtschaft bekennt
sich der Bund ausdrücklich zu seiner gesetzlichen Pflicht,
ein Endlager für radioaktive Stoffe einzurichten. Die Er-
kundung des Salzstocks in Gorleben wird für mindestens
drei, längstens jedoch zehn Jahre unterbrochen. In diesem
Zeitraum sollen die bestehenden Zweifel an der Eignung
des Salzstocks überprüft werden. Bereits jetzt arbeitet
eine Expertengruppe daran, Eignungskriterien für ein
Endlager festzulegen – damit auch klar wird, dass die
Eignungskriterien abstrakt festgelegt werden müssen und
dann geprüft werden muss, ob ein bestimmtes Endlager
geeignet ist oder nicht.

Ich fordere die Länder nachdrücklich auf, bei der Um-
setzung der Vereinbarung konstruktiv mitzuarbeiten. Ich
denke, dies liegt im Interesse der Entsorgung und damit
im Interesse der Unternehmen und der Beschäftigten. Wer
auch auf diesem Feld, wie ich habe lesen müssen, Er-
klärungen abgibt, was er alles nicht mit verantworten will,
der macht sich selbst verantwortlich, wenn Entsorgung
nicht funktioniert, und hat dann auch die wirtschaftlichen
Folgen dessen zu verantworten.

Nachdem wir den Grundsatzstreit um die Kernenergie
politisch beendet haben, kommt es jetzt darauf an, den
Blick nach vorn zu richten. Wir stellen fest, dass sich die
europäische Energiewirtschaft in einem dramatischen
Umbruch befindet. Die Liberalisierung der Märkte hat
den Druck auf Kosten und Preise enorm verschärft. Im
harten europäischen Wettbewerb sind die Unternehmen
auf langfristig kalkulierbare Rahmenbedingungen ange-
wiesen. Die gemeinsam erzielte Vereinbarung gibt ihnen
die notwendige Planungssicherheit.Gemeinsam werden
Bundesregierung und Energiewirtschaft daran arbeiten,
eine umweltverträgliche und wettbewerbsfähige Energie-
versorgung zu erhalten und weiterzuentwickeln. Der ge-
fundene Konsens ermöglicht den Unternehmen die wirt-
schaftliche Optimierung ihrer Anlagen, die Sicherung der
Arbeitsplätze und einen gleitenden Übergang in einen
neuen Mix der Energieträger.

Vor allem stehen wir vor der Herausforderung, die Er-
fordernisse des Klimaschutzes und einer wettbewerbs-
fähigen Energiewirtschaft miteinander vereinbar zu ma-
chen. Auf dem Weg zu einer umweltverträglichen und
wettbewerbsfähigen Energiepolitik hat die Bundesregie-
rung auch nach dem internationalen Urteil bereits wich-
tige Marksteine gesetzt: Wir unterstützen massiv die Pho-
tovoltaik. Unser Programm vor allen Dingen für die
Kraft-Wärme-Kopplung im Bereich der öffentlichen
Energieversorgung wird nicht nur in Deutschland als




Bundeskanzler Gerhard Schröder

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(D)



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(B)


vorbildlich begriffen. Weiterhin – das ist mir wichtig –
setzen wir auf die heimischen Energieträger, also auf
Steinkohle und Braunkohle gleichermaßen. Moderne
Kraftwerke mit niedrigen Umweltbelastungen und hohen
Wirkungsgraden weisen da den Weg. Vergangene Woche
habe ich in Lippendorf das modernste Braunkohlekraft-
werk der Welt mit eröffnen dürfen.

Für die Zukunft wird es aber entscheidend sein, dass
wir hier in unserem Land etwas tun, was man im Bereich
der Energiewirtschaft „Effizienzrevolution“ nennt. Mit
dem Einsatz moderner Technik können wir in 20 Jahren
die Nachfrage nach Energieträgern um ein Drittel ver-
mindern. Dazu gehört übrigens das Dreiliterauto ebenso
wie das Strom sparende Fernsehgerät und das hoch effizi-
ente Kraftwerk. Bei einer weltweit steigenden Nachfrage
nach Energieträgern machen wir damit unsere Volkswirt-
schaft unabhängiger und damit fit für die Zukunft. Gleich-
zeitig entlasten wir durch einen sinkenden Energiever-
brauch die Umwelt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, ich will die Hoffnung nicht
aufgeben, dass auch noch einige Ministerpräsidenten der
deutschen Länder zu der Einsicht kommen, dass es sich
auch aus wirtschaftlichen Gründen nicht lohnt – von Ge-
sellschaftspolitik will ich in diesem Zusammenhang und
in Bezug auf sie erst gar nicht sprechen –, gleichsam in die
strahlende Rüstung des Atomritters zu schlüpfen, um ein
letztes Mal die Schlachten der Vergangenheit zu schlagen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich hoffe, dass begriffen wird, dass diese Konsensver-
einbarung den Weg für eine neue und wirklich zukunfts-
fähige Energiepolitik freimacht. Diesen Weg wird die Ko-
alition auch in Zukunft entschlossen gehen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411100200
Ich erteile das Wort
der Kollegin Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Angela Merkel (CDU/CSU) (von der CDU/CSU
mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Herr Bundeskanzler, als Sie soeben versuchten,
uns in die Nacht vom 14. auf den 15. Juni 2000 zu ent-
führen, da habe ich zwei Dinge Revue passieren lassen:
Zum einen habe ich mich an die Castortransporte und an
die vielen Gespräche mit Menschen erinnert, die große
Angst vor diesen Transporten und vor der friedlichen Nut-
zung der Kernenergie hatten und haben. Ich brauche nicht
zu betonen, dass ich immer anderer Meinung war und die
friedliche Nutzung der Kernenergie für vertretbar halte.
Aber diese Menschen haben meinen Beteuerungen im
Hinblick auf die Sicherheit der deutschen Kernkraftwerke
und der Castortransporte nicht glauben wollen.

Ich bin damals zur Bürgerinitiative nach Lüchow-
Dannenberg gefahren, habe mit den Menschen dort ge-
sprochen und mir ihre Sicht der Dinge schildern lassen.
Ich weiß, dass diese Menschen gefordert haben, sofort
auszusteigen, und zwar deshalb, weil sie jeden Energie-
konsens, der den Ausstieg aus der Kernenergie in be-
stimmten Zeiträumen vorsieht, ablehnten, weil sie die
Verantwortung für die Kernenergie auch vorübergehend
für nicht tragbar hielten. Diese Menschen hatten an den
Regierungswechsel, an Rot-Grün, große Erwartungen.
Sie haben deshalb gefordert: Dieser Ausstieg muss sofort
erfolgen.


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Waren Sie mal Umweltministerin oder nicht? Was hatten denn die Menschen Ihnen gegenüber für Hoffnungen? – Weitere Zurufe von der SPD)


– Herr Präsident, darf ich um Ruhe bitten.

(Glocke des Präsidenten)


Je mehr Sie schreien, umso wahrer wird es. Sie wissen das
doch; falls nicht, sollten Sie wieder mal nach Lüchow-
Dannenberg fahren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Lächerlich!)


Wenn ich mir die von Ihnen getroffene Vereinbarung
anschaue, dann muss ich feststellen, dass die von Ihnen
über Jahre vorgebrachte Argumentation, dass die Sicher-
heit der bestehenden Kernkraftwerke, die Sicherheit der
Transporte und die Sicherheit der Zwischenlager nicht ge-
währleistet seien, offensichtlich falsch war.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Walter Hirche [F.D.P.]: Eine Lüge!)


Denn Ihre Vereinbarung mit der deutschen Atomenergie-
wirtschaft lautet, dass der Betrieb von Kernkraftwerken,
die Lagerung von Atommüll und alles, was dazugehört, in
den nächsten 32 Jahren vertretbar bzw. verantwortbar
sind. Das ist aus dem Blickwinkel vieler Menschen, die
sich täglich Sorgen gemacht haben, ein langer Zeitraum.


(Zuruf von der SPD: Wen vertreten Sie hier eigentlich?)


Herr Bundeskanzler, es geht offensichtlich nicht um
das, was Sie viele Jahre gesagt haben, und schon gar nicht
um das, was die Herrschaften von den Grünen gesagt ha-
ben. Sie haben nicht wegen des Umweltschutzes, nicht
wegen der Energieversorgung und nicht wegen der Wirt-
schaftlichkeit eine Vereinbarung getroffen, sondern um
taktische, ideologische Vorhaben auf gerade noch vertret-
bare Art und Weise umzusetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wenn Sie in dieser Vereinbarung jetzt davon sprechen,

dass die periodische Sicherheitsüberprüfung, wie wir sie
mit den Betreibern auf freiwilliger Basis festgelegt hatten,
ins Gesetz übernommen werden soll, dann sagen Sie im-
plizit, dass die Sicherheit immer gewährleistet war. Das




Bundeskanzler Gerhard Schröder
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möchte ich hier einfach einmal festhalten: Die Sicher-
heitsphilosophie wird in dieser Vereinbarung in keinem
einzigen Punkt angetastet. Sie hat sich bewährt und des-
halb wird sie auch noch 30 Jahre reichen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich kann mich noch sehr gut an die Behauptung erin-

nern – ich weiß nicht, ob Frau Griefahn im Raume ist, die
das immer besonders klar ausgesprochen hat –, dass es
sich bei den Hallen in Gorleben und Ahaus sozusagen um
völlig unsichere „Tennishallen“ handle. Dies alles haben
Sie inzwischen akzeptiert, weil es richtig und vernünftig
war. Nach Ihrer Meinung soll nun an jedem Kernkraft-
werk ein solches Zwischenlager errichtet werden.

Worum geht es eigentlich? Herr Bundeskanzler, Sie sa-
gen, Sie hätten in der Entsorgungsfrage, die in der Tat die
entscheidende Frage im Hinblick auf die Verantwortbar-
keit der Nutzung der Kernenergie ist, Fortschritte erzielt.
Ich kann dies nicht erkennen. Die Erkundungen von
Gorleben sind weit fortgeschritten. Sie trauen sich nicht
zu sagen, dass Gorleben nicht geeignet ist. Sie trauen sich
auch nicht, ein langjähriges Moratorium zu beschließen,
weil Sie Angst haben, dann mit dem Rechtsstaat in Kon-
flikt zu geraten.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie wissen doch, dass das politisch gar nicht geht! Das ist doch Unsinn!)


Aber Sie sagen, Sie werden den Entsorgungsvorsorge-
nachweis dahin gehend ändern, dass der Betrieb von
Kernkraftwerken nicht mehr an Fortschritte im Endlager-
bereich gebunden ist. Damit machen Sie implizit die Zwi-
schenlager für lange Zeit zu Quasiendlagern. Sie tun das,
was Sie selbst als Teufel an die Wand gemalt haben: Das
Flugzeug, das in der Luft ist und nicht landen kann, erhe-
ben Sie nun zum eigenen Maßstab, indem Sie sich wei-
gern, weitere Erkundungen für Endlager durchzuführen.
Das ist die Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Der zweite Punkt. Herr Bundeskanzler, Sie haben im

Zuge dieser Gespräche nicht einen einzigen Versuch un-
ternommen, mit den Ministerpräsidenten über eine Wei-
terentwicklung des Bund-Länder-Abkommens von 1979
zu verhandeln.


(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Sie waren selber lange Jahre Ministerpräsident. Sie müss-
ten wissen, dass sich diese Art des Umgangs einer Bun-
desregierung mit den Bundesländern auf Dauer rächt,
dass man so nicht vorgehen kann. Sie haben nicht einmal
den Versuch unternommen, mit denen zu sprechen, mit
denen Sie hätten sprechen können. Sie haben das einfach
ignoriert, ein Abkommen mit der Wirtschaft gemacht und
gedacht, damit sei die Sache vom Tisch.

Ich sage Ihnen voraus: Die Sache ist damit nicht vom
Tisch, weil wasserrechtliche und baurechtliche Genehmi-
gungsverfahren in die Kompetenz der Länder fallen. Des-
halb werden Sie Schwierigkeiten bei der Umsetzung
Ihres Lagerkonzeptes bekommen, die Sie persönlich
herbeigeführt haben, indem Sie nicht mit den Minister-

präsidenten gesprochen haben, wie es sich kollegia-
lerweise gehört hätte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Herr Bundeskanzler, Sie haben immer gesagt: Wer aus-

steigt, muss auch wissen, wo er einsteigt. Nun habe ich in
dieser Vereinbarung den wegweisenden Satz gefunden,
dass die Bundesregierung und die Elektrizitätsversor-
gungsunternehmen darüber sprechen werden, wie um-
weltverträgliche und wettbewerbsfähige Energieversor-
gung in Deutschland gestaltet werden kann. Ich finde
nicht, dass dies eine Bemerkung zu dem Thema „Wer aus-
steigt, muss auch wissen, wo er einsteigt“ ist. Ich sehe in
all Ihren Vereinbarungen nicht einen einzigen Hinweis da-
rauf, wo Sie einsteigen wollen und wie Sie die Defizite
beheben wollen, die Sie durch diese Vereinbarung her-
vorrufen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Herr Bundeskanzler, an einer Stelle haben Sie die

Katze etwas aus dem Sack gelassen. Als nämlich in Nord-
rhein-Westfalen Wahlkampf war, haben Sie gesagt: Für
die Kohlekumpel ist der Ausstieg aus der Kernenergie gut.
Das heißt aber für mich: Für das Klimaschutzziel ist er
mit Sicherheit nicht gut.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Für mich bleibt ein Rätsel, wie nach dem Ausstieg aus der
Kernenergie ein klimaverträglicher, CO2-freier Ersatz fürden 30-prozentigen Anteil der Kernenergie an der Grund-
last unserer Energieerzeugung geschaffen werden könnte.

Sie wollen – das hatten auch wir festgeschrieben – den
Anteil der erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2010 auf
10 Prozent steigern. Das ist ein ehrgeiziges Ziel.
Aber selbst wenn Sie annehmen, dass die gesamte er-
zeugte erneuerbare Energie für den Grundlastbereich ein-
gesetzt wird, was schon nicht wahr ist, bliebe noch immer
eine Differenz von 20 Prozent, über die Sie in dieser
Vereinbarung kein einziges Wort verloren haben.

Im Übrigen: Die Wirtschaft hatte gar keine andere
Wahl, als dieser Übereinkunft zuzustimmen. Sie haben
hier viel von Gesellschaftspolitik gesprochen. Die Art von
Gesellschaftspolitik, die diese Vereinbarung möglich ge-
macht hat und die über Jahrzehnte versucht wurde zu be-
treiben, halte ich für einen Rechtsstaat für außerordentlich
kritisch, nämlich zu versuchen, mit einem ausstiegsorien-
tierten Vollzug von Gesetzen die einmal von der Mehrheit
beschlossenen Gesetze außer Kraft zu setzen.

Wenn es aber so wäre, Herr Bundeskanzler, dass in
Deutschland niemand daran denkt, ein neues Kernkraft-
werk zu bauen, dann müssten Sie doch nicht in ein
Atomgesetz schreiben, dass der Neubau verboten ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es ist doch gerade nicht so, dass Sie sicher sein können,
dass auf absehbare Zeit niemand mehr eine solche Ent-
scheidung trifft. Wenn es nämlich so wäre, bräuchten wir
uns alle gemeinsam gar nicht aufzuregen. Sie müssen den
Neubau verbieten, weil Ihnen das ein ideologisches
Grundanliegen ist. Meines Wissens ist es in der deutschen
Geschichte zum ersten Mal der Fall, dass der Bau eines




Dr. Angela Merkel

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ganz bestimmten Typs von Anlagen grundsätzlich und per
Gesetz verboten wird, ohne dass Sicherheitsaspekte,
Schadstoffaspekte oder genehmigungsrechtliche Vorbe-
halte der Grund dafür sind. Deshalb halte ich diese Ver-
einbarung schon vom Prinzip her für schlecht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Was die politische Kultur in unserem Lande anbelangt,

so kann ich nur sagen, dass mich diese Abmachung mit
äußerster Skepsis erfüllt. Es ist nämlich eine Abmachung,
die die betreffende Branche relativ gut stellt, die aber sei-
tens der Bundesregierung zulasten Dritter durchgeführt
wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie geht erstens – ich will Ihnen dies aufzählen – zulas-

ten der internationalen Sicherheitsstandards. Ich finde,
man muss schon relativ ruhig schlafen können, wenn man
akzeptiert, dass in Russland 15 Reaktoren vom Typ
Tschernobyl stehen und Deutschland mutwillig und wis-
sentlich aus dem technologischen Know-how und aus
der Verbesserung von Sicherheitsvorschriften aussteigt.
Meine Damen und Herren, durch diese Vereinbarung mit
der deutschen Wirtschaft lassen natürlich die Reputation
und das Gewicht Deutschlands zur Verbesserung von
Sicherheitsbestimmungen beim Betrieb von Kernkraft-
werken im internationalen Maßstab massiv nach.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Damit überlassen Sie Frankreich und Amerika das Feld.
Die Internationale Atomenergiebehörde war auf dem
Wege, international gemeinsame Sicherheitsstandards zu
entwickeln. Deutschland wird sich dort nicht mehr ein-
bringen können. Sie werden damit leben müssen, dass un-
ser Einfluss gerade hinsichtlich der Verbesserung der Si-
cherheit russischer Kernkraftwerke nachlässt.

Herr Bundeskanzler, bei Ihnen ist jetzt ein Wettrennen
ausgebrochen, darauf zu achten, dass bloß kein Hermes-
kredit mehr zur Verbesserung der Sicherheit irgendeines
Kraftwerks auf dieser Welt gegeben wird. Ich kann nur sa-
gen: Dies hat für mich mit verantwortbarer Politik nichts
zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Diese Vereinbarung geht zulasten des Klimaschutzes,

zulasten der Ausbildungskapazitäten und ganzer Berufs-
zweige sowie zulasten des technologischen Fortschritts in
der Bundesrepublik Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411100300
Kollegin Merkel, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Griefahn?


Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1411100400
Nein, ich gestatte
keine Zwischenfragen.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist aber schwach! – Weitere Zurufe von der SPD)


– Ich möchte fortfahren.

Herr Bundeskanzler, Ihre Bundesregierung fühlt sich
angeblich dem Prinzip der Nachhaltigkeit verpflichtet.
Sie haben eine politische Drucksituation herbeigeführt:
Sie haben eine Branche dazu gezwungen, mit Ihnen ein
Abkommen zu schließen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist doch lächerlich! Wie kann man eine Branche zwingen? Erklären Sie das mal!)


– Aber Herr Struck, das ist doch ganz klar.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie sind doch fern jeder Realität!)

Sie haben gesagt, dass Sie dies ansonsten durch gesetzli-
che Maßnahmen erreichen werden. – Damit haben Sie der
Nachhaltigkeit keinen Dienst erwiesen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, Sie haben keine politische

Alternative aufgezeigt. Ich persönlich sehe nicht, wie die
Bundesrepublik Deutschland als Energiestandort erhal-
ten bleiben kann. Ich habe aber auch noch nicht gehört,
dass Sie sich wirklich dazu bekannt haben. Sie haben sich
weder dazu bekannt, aus eigener Kraft die Versorgungssi-
cherheit in Deutschland gewährleisten zu wollen, noch
haben Sie sich dazu bekannt, dass Sie die Wettbewerbs-
fähigkeit erhalten wollen. Ich glaube, dass wir in diesem
Hause – CDU und CSU werden dazu Vorschläge unter-
breiten – einmal darüber diskutieren sollten, was das
Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland als ei-
nes hoch entwickelten Industrielandes ist und wie es ge-
lingen kann, in der Energieversorgung aus eigener Kraft
vorne zu sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Sonst, so sage ich Ihnen voraus, wird es dazu kommen,
dass in unserem Land keine Energie mehr produziert
wird, dass aus unserem Land alle energieintensiven Bran-
chen flüchten, weil sie keine sicheren Investitionsbedin-
gungen vorfinden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Denn Sie wissen ganz genau, dass durch die Einführung
der Ökosteuer und die Tatsache, dass Sie bei den Ver-
handlungen über eine europaeinheitliche Ökosteuer nach-
gelassen haben, für die deutsche Wirtschaft völlig unkal-
kulierbare Investitionsbedingungen entstanden sind.


(Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glaubt Ihnen doch kein Mensch mehr!)


Der Wettbewerbskommissar der EU hat den Ausnah-
mebestimmungen für die energieintensive Industrie bis
zum Ende des Jahres 2003 zugestimmt. Aber Sie haben
keine Antwort auf die Frage, wie es nach 2003 weitergeht.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Warten Sie einmal ab!)





Dr. Angela Merkel
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Nach allen Regeln der Europäischen Union werden diese
Subventionen dann auch als solche gewertet werden, wer-
den die Ausnahmeregelungen bezüglich der Beihilfen
wegfallen und muss die deutsche Wirtschaft anschließend
die Ökosteuer voll zahlen. Sie sind dieses Risiko einge-
gangen, wieder aus rein ideologischen Gründen. Damit
haben Sie, Herr Bundeskanzler, Ihr Wort gebrochen.
Denn Sie haben versprochen: Erhöhung der Mineralöl-
steuer um höchstens sechs Pfennig, danach nur noch im
Rahmen einer europaeinheitlichen Ökosteuer. Daran ha-
ben Sie sich nicht gehalten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Diese Vereinbarung zwischen der Bundesregierung

und den Energieversorgungsunternehmen denkt nicht an
morgen. Diese Vereinbarung ist nicht zu Ende gedacht.
Sie ist alles andere als ein Konsens über die Energie-
produktion und die Energieversorgung in der Bundesre-
publik Deutschland. Sie ist ein Übereinkommen zulasten
Dritter. Deshalb ist diese Vereinbarung ein Teil dessen,
was wir an Ihrer Politik grundsätzlich kritisieren: Es geht
nicht, dass Sie – wie diese Vereinbarung zeigt – in einer
Zeit der Globalisierung und Internationalisierung eine
nationale und kleinkarierte Politik betreiben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es geht vielmehr darum, im internationalen Rahmen die
soziale Marktwirtschaft weiterzuentwickeln.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es geht darum, führend bei der Bestimmung von Sicher-
heitsstandards zu sein. Es geht darum, Forschungs- und
Entwicklungspotenziale zu stärken, anstatt sie einzudäm-
men. Es geht darum, internationale Sicherheitsstandards
weiterzuentwickeln. Und es geht darum, als Hochindu-
strieland selber Energie zu erzeugen, anstatt sie zu impor-
tieren.

Deshalb, Herr Bundeskanzler, steht diese Vereinba-
rung für mich in einer langen Liste von Dingen, die Sie
nicht zu Ende gedacht haben: Noch vor wenigen Jahren
haben Sie einen Studiengang für IT-Fachleute in Hildes-
heim geschlossen.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt dieser Kalauer!)


Heute müssen Sie in einer Ad-hoc-Aktion die Green Card
einführen. Ich sage Ihnen voraus, dass Ihnen bei der Kern-
energie Ähnliches passieren wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Heute machen Sie eine Vereinbarung zum Ausstieg aus ei-
ner ganzen Hochtechnologiebranche und morgen, in we-
nigen Jahren, werden Sie ad hoc Spezialisten aus dem
Ausland holen müssen, weil wir Know-how im Bereich
der Kerntechnik brauchen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dies nennen wir eine Politik, die nicht zu Ende gedacht
ist, die nicht generationenübergreifendes Denken einbe-
zieht, die sich eben nicht auf die internationalen Rahmen-

bedingungen einstellt und die dem Gebot der Nachhaltig-
keit gerade nicht gerecht wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. – Lachen bei der SPD)


Deshalb, Herr Bundeskanzler, werden wir – dafür ha-
ben Sie alle Voraussetzungen geschaffen – bei einem Re-
gierungswechsel 2002


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


diese Vereinbarung rückgängig machen und der Kern-
energie in Deutschland wieder eine Perspektive geben.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der F.D.P. – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind erschüttert!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411100500
Ich erteile dem Bun-
desminister Jürgen Trittin das Wort.

Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-

(vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie von Abgeordneten der SPD mit Beifall begrüßt)

sich die Bundesregierung mit den Energieversorgungsun-
ternehmen politisch darauf verständigt hat, die Nutzung
der Atomkraftwerke in diesem Lande geordnet zu been-
den, scheint bei Ihnen, in den Reihen der Opposition, ein
großes Maß an Verwirrung ausgelöst zu haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: 5:1!)


Wer soll Ihnen denn eigentlich die Atomkraftwerke –
das heißt die Zukunftstechnologie, von der Sie hier die
ganze Zeit reden – überhaupt noch bauen? Während
Sie – Herr Huber hat das gesagt – von dem 14. Juni als
schwarzen Tag für die Bundesrepublik sprechen, scheint
es mir eher so zu sein, dass dies ein schwarzer Tag für
schwarze Ideologen und atomare Glaubenskrieger gewe-
sen ist, denen die Orientierung abhanden gekommen ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Verehrte Frau Merkel, Sie sind der Versuchung des
Bundeskanzlers, sich hier in die atomare Strahlenrüstung
zu werfen, erst im zweiten Teil Ihrer Rede nachgegangen.
Im ersten Teil haben Sie versucht, sich als Sofortausstei-
gerin darzustellen.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Gnädige Frau, weder die schimmernde Rüstung des
Atomstreiters noch die schwarze Jacke des Sofortausstei-
gers passt Ihnen. Beides steht Ihnen nicht. Sie sollten es
lassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Sie wären besser Modeberater geworden!)





Dr. Angela Merkel

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(A)



(B)


Meine Damen und Herren, mit der Befristung der
Laufzeiten der 19 Atomkraftwerke hier in Deutschland
auf 32 Jahre ab Produktionsbeginn sorgen wir dafür, dass
hier die bestehenden Atomkraftwerke im Schnitt nach
13 Jahren vom Netz gehen. Und wir sorgen durch die
exakte Bestimmung der Strommengen dafür, dass es
sich dabei um einen selbstvollziehenden Ausstieg handelt.
Wir wollen eben bei diesem Ausstieg keine quälenden ge-
richtlichen, insbesondere verwaltungsgerichtlichen Aus-
einandersetzungen.

Der Eindruck, den Sie hier erwecken, Deutschland ma-
che diesen Ausstieg im Alleingang, ist falsch. Es ist nicht
nur so, dass sich eine Befristung auf 32 Jahre nach Inbe-
triebnahme international durchaus sehen lassen kann. Es
gibt kein Land, in dem dies schneller geht. Nein, die Be-
hauptung, dass überall um uns herum Atomkraftwerke ge-
baut und betrieben werden, die dann anschließend den
Strom hier nach Deutschland liefern – man muss es an
dieser Stelle noch einmal mit Nachdruck sagen –, stammt
eher aus der Märchenküche des Deutschen Atomforums.

Mit dem Ausstieg Deutschlands aus der Atomenergie
ist nunmehr die Mehrheit der Mitgliedstaaten der Euro-
päischen Union atomkraftwerksfrei oder hat entspre-
chende Ausstiegsbeschlüsse gefasst. Und – um auch das
anzufügen – selbst im atomar so hoch entwickelten Frank-
reich herrscht mittlerweile ein Planungsstopp.

Meine Damen und Herren, wir achten gerade bei dem
Beitritt neuer Länder in die EU wie etwa Litauen oder
Bulgarien darauf, dass die Stilllegung von unsicheren Re-
aktoren erfolgt. Diese Stilllegung von unsicheren Reakto-
ren wie Ignalina und andere ist für diese Länder Beitritts-
voraussetzung. Die Behauptung, uns wäre die Sicherheit
in diesen Ländern egal, sollten Sie, meine Damen und
Herren, vor diesem Hintergrund besser nicht länger auf-
recht erhalten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn hier von der Verantwortung in der Entsorgungs-
frage die Rede ist, dann muss ich allerdings sagen, Frau
Merkel: Es ist schon ein starkes Stück, was Sie uns vor-
halten. Wer war dafür verantwortlich, dass über Jahre hin-
weg in diesem Lande der einfache Transport von
Atommüll nach Frankreich und nach Großbritannien so-
wie die Wiederaufarbeitung genannte Umwandlung die-
ses Mülls in noch giftigeren Müll, nämlich in Plutonium,
als Entsorgungsnachweis gegolten haben? Sie waren
dafür verantwortlich! Und Sie predigen uns etwas von
Verantwortung?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir beenden die Produktion von Plutonium durch ein
Verbot derWiederaufarbeitung.Wir haben mit den Un-
ternehmen vereinbart, dass künftig der Nachweis der
tatsächlichen Verwertung und nicht die Ablieferung ins
Ausland Voraussetzung dafür ist, dass wiederaufgearbei-

tet werden kann. Das bedeutet: Verantwortung ernst neh-
men.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich füge eins hinzu: Aus dieser Verantwortung heraus
reduzieren wir die Zahl der Atomtransporte drastisch.
Die Energieversorgungsunternehmen tun auch dieses im
Konsens mit uns. Wir wollen die drei Transporte des
Atommülls aus dem Atomkraftwerk in die Wiederaufar-
beitung, von der Wiederaufarbeitung in ein Zwischenla-
ger und vom Zwischenlager dann irgendwann in ein End-
lager auf einen einzigen Transport reduzieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir wollen die Zahl der Transporte nach Ahaus und
Gorleben tunlichst auf ein Minimum reduzieren. Ich füge
auch hinzu: Wir tun dies ohne Abstriche der Sicherheit.
Für die Anwohner der Zwischenlager zum Beispiel in
Gundremmingen oder Philippsburg gelten künftig die
gleichen Sicherheitsstandards, meine Damen und Herren
von CDU/CSU, wie Sie sie in Ahaus und Gorleben für
ausreichend halten, wo der Müll, der in Philippsburg und
Gundremmingen produziert wurde, bisher angeliefert
wurde. Da gibt es keine Abstriche.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich füge ein Weiteres hinzu, wenn ich von Sicherheit
spreche: Es gibt nicht nur keinen Rabatt bei der Sicher-
heit. Was bedeuten denn der geltende Sicherheitsstandard
und die zugrunde liegende Sicherheitsphilosophie, von
denen in dieser Vereinbarung die Rede ist? Nach den Vor-
schriften des Atomgesetzes ist der jeweilige Stand von
Wissenschaft und Technik Grundlage für die Bestimmung
von Sicherheit. Wir haben es hier mit einem dynamischen
und sich weiterentwickelnden Sicherheitsprozess zu tun
und nicht einfach mit dem Festschreiben eines heutigen
technischen Standards. Dieses sage ich mit Nachdruck in
Richtung Diskussion um Zwischenlager.

Ich habe mit Freude gelesen, meine Damen und Her-
ren, dass sich inzwischen auch der hessische Ministerprä-
sident Roland Koch unsere Auffassung von einem sicher-
heitsorientierten Vollzug des Atomgesetzes zu Eigen ge-
macht hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich habe mit gewissem Interesse zur Kenntnis genom-
men, dass hier gesagt worden ist, wir würden mit der Un-
terbrechung der Erkundung des Salzstocks in Gorleben
die Frage der Entsorgung auf kommende Generationen
verschieben. Nein, das tun wir nicht. Aber Sie haben sich
damit, liebe Frau Merkel, selber ins Bein geschossen. Jah-
relang haben Sie den Bürgerinnen und Bürgern in Gorle-
ben, in Lüchow-Dannenberg erzählt, es ginge hier ledig-
lich um eine standort- und entscheidungsoffene Erkun-
dung. In Wirklichkeit – dafür bin ich Ihnen dankbar –




Bundesminister Jürgen Trittin
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(C)



(D)



(A)



(B)


haben Sie mit Ihrer heutigen Rede nachdrücklich unter-
strichen, dass die Vorwürfe der Lüchow-Dannenberger
Stimmen gerechtfertigt waren. Es ging in Gorleben nie
um eine Erkundung. Es ging um den Bau eines Zwi-
schenlagers, nein, eines Endlagers, um das Schaffen von
Tatsachen. Dieses ungeprüfte Schaffen von Tatsachen
stoppen wir mit dieser Vereinbarung. Das ist der Weg, den
wir gehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Walter Hirche [F.D.P.]: Das Zwischenlager stoppen Sie?)


Wir werden all die Zweifel an der Geeignetheit von
Salz als Wirtsgestein, an der Frage, ob es nicht vernünfti-
ger ist, Atommüll rückholbar zu lagern, an der Frage des
Ein-Endlager-Konzepts in dem Zeitraum des Moratori-
ums entsprechend prüfen und in ein verantwortbares Kon-
zept umsetzen.


(Beifall des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD])


Daher ist es auch vernünftig, dass wir das Endlager
Schacht Konrad in Salzgitter vorerst nicht in Betrieb neh-
men. Wir wollen offene Entscheidungen und keine Fakten
durch Vorabentscheidungen schaffen.

Ich füge hinzu: Ich freue mich, dass es an dieser Stelle
endlich gelungen ist, diese entscheidungsoffene Diskus-
sion eines verantwortbaren Endlagerkonzepts in Überein-
stimmung mit den Energieversorgungsunternehmen zu
einem Abschluss zu bringen. Wir werden in dieser Frage
noch eine Reihe von Diskussionen, Gesprächen und Ver-
handlungen – auch mit den Ländern – zu führen haben.

Liebe Frau Merkel, Ihre Rede war – mit Verlaub –
rückwärts gewandt. Sie sagen uns, wir müssten zu einem
kollegialeren Verhältnis mit den Ministerpräsidenten der
Länder kommen. Ich bin einmal Föderalismusminister
gewesen, und weil ich aufgrund dieser Tatsache weiß, wo-
von ich rede, sage ich Ihnen: Wer jahrelang mit den Län-
dern nur in Form von bundesaufsichtlichen Gesprächen
verkehrt hat, ist der Letzte, der sich hierher stellen und uns
zu einem kollegialen Umgang mit den Ländern ermahnen
darf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn es eine Verantwortung gibt, dann ist diese Ver-
antwortung an einem Faktum am besten zu illustrieren:
Unsere Kinder können es sich nicht aussuchen, ob sie
noch in einer Welt mit oder ohne Atommüll leben können.
Kein demokratischer Vorgang in Form von Abstimmung
oder Wahl kann den durch die damalige Entscheidung
verursachten Müll wieder aus der Welt schaffen. Der Ein-
stieg in die Atomenergie war in der Tat unumkehrbar. Die
Verantwortung dafür müssen diejenigen tragen, die da-
mals diesen Beschluss gefasst haben.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Helmut Schmidt!)


Es geht heute darum, den Ausstieg aus dieser so belasten-
den und eben gerade nicht nachhaltigen Energieerzeu-

gung – es ist das Gegenteil einer nachhaltigen Energiege-
winnung – tatsächlich unumkehrbar zu machen.

Ich habe wenige Tage nach den Verhandlungen in
Klettwitz auf einer alten Braunkohlehalde den größten
Windenergiepark Europas eröffnet. In unmittelbarer
Nähe dieses Projekts werden zwei neue Anlagen ähnli-
cher Größenordnung installiert. Photovoltaikanlagen
sind in Deutschland mittlerweile derart nachgefragt, dass
die entsprechenden Anlagen auf dem deutschen Markt
nicht mehr zu beschaffen sind. Wir erleben es – Sie wis-
sen das sehr genau –, dass fast in jedem Dorf dieser
Republik Biomasseanlagen geplant werden. Die Bun-
desrepublik ist heute schon Spitzenreiter in der Energie-
erzeugung durch Windkraft und erlebt einen Boom er-
neuerbarer Energien wie noch nie in der Geschichte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das ist die Wirklichkeit und Sie reden davon, wie wir
den Einstieg in eine andere Energie schaffen. Dieser Ein-
stieg läuft von selbst, findet jeden Tag statt und wir haben
dafür die Rahmenbedingungen durch Energieeinsparung
und Verbesserung der Energieeffizienz geschaffen. Dazu
gehört auch die Ökosteuer. Frau Merkel, wenn Sie sich
hier noch einmal als Hintze kostümiert hinstellen, holen
wir Ihr altes Ökosteuerkonzept aus den Schubladen mei-
nes Ministeriums.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir wollen die Verdoppelung der Stromerzeugung aus
erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2010. Wir haben da-
von nicht nur geredet, sondern dies in einem Gesetz um-
gesetzt. Wir wollen mögliche weitere Ersatzkapazitäten
zum Beispiel durch Gaskraftwerke und eine entspre-
chende Erweiterung der Kraft-Wärme-Kopplung über
den kommunalen Bereich hinaus mit dem Ziel einer Ver-
doppelung schaffen.

Damit machen wir klar, dass Klimaschutz und
Atomausstieg nicht in Widerspruch zueinander stehen.
Nur wenn wir die atomaren Überkapazitäten abbauen, ha-
ben erneuerbare Energien und intelligente sowie effizi-
ente Technologien am Markt eine Chance. Wenn zum Bei-
spiel RWE heute plant, anstatt künftig Strom zu vertrei-
ben Brennstoffzellen in die Häuser zu liefern, die dann
überschüssigen Strom einspeisen, hat diese Bundesregie-
rung für diese Strategie die Rahmenbedingungen ge-
schaffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Frau Merkel, Herr Stoiber, Herr Koch, Sie können
natürlich ankündigen, dass Sie das Atomgesetz, wenn Sie
irgendwann einmal wieder eine Mehrheit haben – Sie wa-
ren so verwegen, von 2002 zu sprechen –, wieder ändern.
Das können Sie, das ist wohlfeil, das kostet nichts, das
können Sie ankündigen. Sie geben damit auch ein Stück
zu, dass Sie die Verabschiedung des Gesetzes wohl nicht
verhindern können. Aber Sie werden sich daran verheben,
die Windparks, die Biomasseanlagen, die Gas- und
Dampfkraftwerke, die kommunalen und industriellen




Bundesminister Jürgen Trittin

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(A)



(B)


Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen zugunsten der Atom-
energie wieder aus der Welt zu schaffen.


(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Sie haben doch keine Ahnung! Sie wissen doch gar nicht, wovon Sie reden!)


Und deswegen ist es richtig: Der Einstieg in eine andere
Energiepolitik macht den Ausstieg aus der Atomenergie
tatsächlich unumkehrbar.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wie kräftig Sie bei diesen Versuchen sind, haben Sie
beim Erneuerbare-Energien-Gesetz gesehen. Sie haben
im Bundesrat gesagt: Wir werden das blockieren. Und
was ist dabei herausgekommen? Gar nichts ist dabei he-
rausgekommen. Nicht einmal der Bauernverband – ent-
schuldigen Sie, dass ich den Bauernverband hier in einem
Atemzug nenne, aber der Präsident ist nun einmal CSU-
Mitglied – mochte bei Ihrem Kurs mitfahren, weil er
wusste, dass erneuerbare Energien eine Chance gerade für
den ländlichen Raum in diesem Lande sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Meine Damen und Herren, deswegen ist der Ausstieg
aus der Atomenergie eine Zäsur. Er hat das Tor aufge-
macht hin zu einer Energiezukunft, die auf Erneuerbarkeit
und Effizienz setzt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411100600
Ich erteile dem Kolle-
gen Klaus Lippold, CDU/CSU-Fraktion, das Wort zu ei-
ner Kurzintervention.


Dr. Klaus W. Lippold (CDU):
Rede ID: ID1411100700
Herr
Minister Trittin, wenn ich Sie gerade richtig verstanden
habe, haben Sie gesagt, der hessische Ministerpräsident
habe sich jetzt Ihren Auffassungen von einem sicherheits-
orientierten Vollzug angeschlossen. Ich sage ganz deut-
lich in der mir eigenen Art: Ich habe selten eine unver-
schämtere Fehldarstellung erlebt als diese.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Sie sollten sich auch selber zitieren!)


Die hessische Landesregierung unter Ministerpräsi-
dent Wallmann hat eine Reihe von Sicherheitsanforde-
rungen für Biblis aufgestellt. Diese sind dann nicht um-
gesetzt worden infolge des Sachverhalts, dass die hessi-
sche Landesregierung zu Rot-Grün wechselte. Rot-Grün
hat nichts getan, um diese Sicherheitsanforderungen zu
realisieren. Nachdem Sie dann, Gott sei Dank, aus der
hessischen Landesregierung wieder herausgeflogen sind,
bedauerlicherweise hier in Berlin Platz nahmen, haben
wir erleben müssen, dass die erneut vorgetragenen
Nachrüstungsforderungen der hessischen Landesregie-
rung von Ihnen blockiert wurden. Das ist der Sachverhalt.

Es ist eine Unverschämtheit, Herr Trittin, jetzt hier zu
sagen, Herr Koch schließe sich Ihnen an. Sachverhalt ist,
dass wir Sie zum Jagen treiben müssen und dass jetzt in
dieser Vereinbarung hoffentlich etwas realisiert wird, was
schon seit langem hessische Unionspolitik gewesen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411100800
Herr Minister Trittin,
Sie haben Gelegenheit zu einer Antwort.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Lass es! – Dr. Peter Struck [SPD]: Bringt ja nichts!)


Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit: Der Hinweis mag ja richtig
sein, dass es nichts bringt, aber da außer dem Kollegen
Lippold hier noch ein paar andere Kolleginnen und Kol-
legen im Raum sind, will ich dennoch antworten.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Der kapiert es nicht!)

Lieber Herr Kollege Lippold, wir haben in der Tat den

Versuch einer scheibchenweisen Nachrüstung, die nicht
die Grundlagen berücksichtigt, zum Beispiel Erd-
bebensicherheit und anderes, aufgehalten. Diese Billig-
nachrüstung des Landes Hessen hat die Bundesaufsicht
verhindert. Und jetzt lese ich in der Zeitung, dass Herr
Koch erklärt, es werde keine Billignachrüstung des Reak-
tors Biblis A mit ihm geben. Das empfinde ich als nach-
drückliche Bestätigung dessen, was die Bundesregierung
gemacht hat,


(Lachen bei der CDU/CSU)

und deswegen freue ich mich, dass auch Roland Koch
nunmehr zum sicherheitsorientierten Vollzug des Atom-
gesetzes steht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411100900
Ich erteile das Wort
nunmehr dem Kollegen Walter Hirche, F.D.P.-Fraktion.


Walter Hirche (FDP):
Rede ID: ID1411101000
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Was Worte so alles bedeuten können. Da hört
man heute den Bundeskanzler und den Bundesumweltmi-
nister hier sagen, es gebe einen umfassenden Konsens mit
der Energiewirtschaft darüber, dass mit der Kernenergie
Schluss gemacht werden müsse. Ich empfehle die Lektüre
der Pressemitteilung der Elektrizitätsunternehmen, in der
das Gegenteil steht. In dieser Erklärung heißt es:

Die Unternehmen sind weiterhin überzeugt, dass die
Kernenergie aus ökonomischen und ökologischen
Gründen Bestandteil des Energiemixes bleiben
sollte.

Dort heißt es auch:
Die Vereinbarung ... kann einen umfassenden
Energiekonsens nicht ersetzen.




Bundesminister Jürgen Trittin
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(C)



(D)



(A)



(B)


Hier im Parlament wird der Öffentlichkeit etwas vorge-
gaukelt, was überhaupt nicht vorhanden ist.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Der Kern der Vereinbarung ist die Garantie der Bun-

desregierung, dass der Betrieb der Kernkraftwerke und
die Entsorgung des nuklearen Materials in Zukunft nicht
mehr durch politisch motivierte Störungen behindert wer-
den. Aus Sicht der Betreiber ging es darum, sich Rechts-
sicherheit zu kaufen und sich durch Verzicht auf unbe-
schränkte Betriebsgenehmigungen von Manipulationen
des bestehenden Rechts durch rot-grüne Regierungen
freizukaufen. Die Betreiber zahlen für Rechtsfrieden in
Deutschland. Sie können das, weil sie notfalls ihren ver-
minderten Gewinn in Preisen – zulasten Dritter – über-
wälzen können.

Bei dem so genannten Atomkonsens stellt sich damit
meines Erachtens zuallererst die Frage nach den Folgen
für unseren Rechtsstaat. Muss denn künftig jeder, der
nach bestehendem Recht handelt, Sorge haben, dass er zu-
sätzlich an den Staat zahlen bzw. auf Gewinnansprüche
verzichten muss, weil eine rot-grüne Obrigkeit mit Na-
delstichen oder mit einem ausstiegsorientierten Vollzug
seine Tätigkeit behindert? Die jetzige Vereinbarung erin-
nert an die Methode der Schutzgeldzahlung, wie sie in an-
deren Bereichen der Welt üblich ist.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist ein Stück aus dem Tollhaus, wie es der frühere
Chefredakteur der Zeitung „Einheit“ der damaligen
IG Bergbau und langjährige SPD-Bundestagsabgeord-
nete Niggemeier überdeutlich formuliert hat.


(Zurufe von der SPD: Oh!)

– Sie wollen das nicht hören, aber es ist so. – Die Unter-
nehmen stellen in ihrer Presseerklärung fest:

Eine Alternative, mit der sich ein vergleichbarer
Schutz ihrer Investitionen erzielen ließe, sehen die
Unternehmen nicht.

Deutlicher kann man die Einschätzung von rot-grünen
Regierungen durch die Wirtschaft und damit die Bedro-
hung von Arbeitsplätzen nicht formulieren. Ich hoffe al-
lerdings, dass dieser Bundestag genauso wie wir Liberale
unter Rechtsstaatlichkeit etwas anderes versteht.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auch wenn man eine Sachlage politisch verändern
möchte – das ist Ihr gutes Recht –, muss man sich an
Recht und Gesetz halten. Herr Bundeskanzler, können Sie
die gegebenen Garantien denn überhaupt durchsetzen?
Der niedersächsische Umweltminister, Genosse Jüttner,
erklärt: „Wir wollen nachbessern.“ Das ist geradezu eine
kindische Aussage, wenn der Genosse Kanzler doch die
Vereinbarung geschlossen hat. Die Fraktionsvorsitzende
der Grünen im Niedersächsischen Landtag äußert, diese
Entsorgungspolitik könne nicht zum Maßstab der Dinge
werden. Man könne von ihr nicht erwarten, dass sie den
Atomkonsens nutzt, um für Ruhe in Gorleben zu sorgen.
Sie werde weiter Druck machen.

Festzustellen ist: Die Zauberlehrlinge zündeln weiter.
Ich wünsche den Unternehmen, dass sie wirklich den
Rechtsfrieden bekommen, den sie teuer bezahlen.

Mit dem so genannten Konsens – das möchte ich in
aller Klarheit feststellen, obwohl die Presse davon voll
ist – hat Rot-Grün alle moralisch hochtourig aufgedrehten
Positionen der Vergangenheit über Bord geworfen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die SPD hatte 1986 einen Ausstieg in zehn Jahren be-
schlossen. Heute, 14 Jahre nach 1986, sagt sie, dass viel-
leicht in 30 Jahren das Ende kommen werde – immerhin
ein gewaltiger Wandel! Die Grünen haben vom Sofortaus-
stieg gesprochen, und zwar angeblich aus Sicherheits-
gründen. Jetzt wird von einer Garantie der Laufzeit von
32 Jahren – so steht es in der Vereinbarung – bzw. von –
faktisch – 35 Jahren gesprochen.

Frau Merkel hat es schon ausgeführt: Die Vorwürfe
hinsichtlich angeblicher Sicherheitsrisiken bei Kern-
kraftwerken waren immer eine politische Lüge von
Rot-Grün. Das will ich hier noch einmal in aller Klarheit
feststellen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wer der Meinung ist, dass es solche Sicherheitsrisiken

gibt, der müsste, wie von den Grünen beschlossen, einen
Sofortausstieg vornehmen. Aber indem Sie eine Laufzeit
von faktisch 35 Jahren festschreiben, beweisen Sie selber,
dass Sie in der Öffentlichkeit immer nur Panikmache be-
trieben und Angst erzeugt haben. Es gibt keine Sicher-
heitsgründe gegen den weiteren Betrieb von Kernkraft-
werken in Deutschland.

Man höre und staune, was zur Entsorgung gesagt wird!
Schacht Konrad soll planfestgestellt werden. Das ist gut
so. Ich finde es nicht gut, dass Sie den Sofortvollzug nicht
beantragen. Denn was ist die Folge? Der Nuklearmüll,
zum Beispiel aus der Nuklearmedizin, wird weiterhin in
der Republik, oberirdisch in Sammellagern, gelagert. Für
Sie besteht darin offenbar eine größere Sicherheit als bei
einem unterirdischen Verbringen. Wenn das alles so sicher
ist, dann schlage ich Ihnen vor: Nehmen Sie doch die
Parkplätze von Krankenhäusern und sammeln Sie dort
den Nuklearmüll! Wenn Sie das tun, dann sparen Sie sich
den Transport in die Sammellager.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Ist das jetzt das Niveau?)


– Herr Müller, Sie müssen doch feststellen, dass Sie in al-
len von Ihnen in der Vergangenheit vertretenen Punkten
gescheitert sind.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU)


Was Gorleben betrifft, will ich deutlich sagen, dass der
Kanzler heute aus der Anlage zu der Vereinbarung nicht
richtig berichtet hat. In dieser Anlage zur Vereinbarung
wird festgestellt, dass die Eignungshöffigkeit von Gorle-
ben nicht infrage gestellt ist. Im Gegenteil, die positiven
Befunde der bisherigen Erkundungen geben zu der An-
nahme Anlass, dass die Geeignetheit gegeben ist. Trotz-




Walter Hirche

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(C)



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(A)



(B)


dem will man die Erkundung des Salzstockes unterbre-
chen. Sie wollen zusätzliche Kriterien untersuchen. Das
kann man machen; aber es ist gegen die Sicherheit. Sie
tragen damit nicht zu mehr Sicherheit bei.

Sofortausstieg: Pustekuchen. Es gibt Laufzeitgaran-
tien, also gibt es sichere Kraftwerke. Das Aus für Gorle-
ben und Konrad: völlig falsch. Zu welchen Verbiegungen
die Grünen in der Lage sind, kann man eigentlich nur
noch mit Mitleid konstatieren.

Ich komme zu Wirtschaftsminister Müller und seiner
Interpretation – das ist vielleicht das Interessanteste – der
Vereinbarung. Nach einer Pressemitteilung der dpa von
gestern äußerte sich Herr Müller skeptisch zu den Mög-
lichkeiten, den vermehrten Import ausländischen Nu-
klearstroms zu verhindern. Es könne sein, dass wir se-
henden Auges mit diesem unerfreulichen Zustand leben
müssten.

Was ist die Folge? Diese Bundesregierung will in der
Bundesrepublik Strom aus Kernspaltung unterbinden;
aber sie weiß zum gleichen Zeitpunkt, dass er durch Nu-
klearstrom aus Frankreich oder Russland ersetzt wird.
Soll das verantwortlich sein? Das ist das Gegenteil von
Verantwortung!


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Der Bundeswirtschaftsminister setzte in aller Deut-

lichkeit noch eins oben drauf, indem er einen späteren
Wiedereinstieg in die CO2-freie Kernenergie nicht aus-schloss. Diese Frage könne sich in einigen Jahren tatsäch-
lich stellen. Wenn sie sich in drei Jahrzehnten stellt, dann
ist das genau der Zeitpunkt, da man alte Anlagen sowieso
durch neue ersetzen muss. Das heißt, in dieser Bundesre-
gierung gibt es mindestens einen, der der Meinung ist,
dass zumindest das, was öffentlich von dieser Vereinba-
rung verkauft wird, Nonsens, reiner Wortmüll ist. Auch
nachfolgende Beiträge werden uns das nicht ausreden
können.

Insbesondere ist es versäumt worden – es hätte sich ge-
lohnt, darüber mit den Elektrizitätsversorgungsunterneh-
men zu sprechen –, eine Vereinbarung über die Verstär-
kung der Sicherheitsforschung zu treffen. Bei Sicher-
heitsforschung denke ich an das Trennen von nuklearem
Müll, an Transmutation, an Sicherheitsforschung im Be-
reich schmelzsicherer Hochtemperaturreaktoren oder an
die Sicherheitszusammenarbeit mit osteuropäischen und
asiatischen Sicherheitskommissionen. All das will diese
Bundesregierung aufgeben. Das ist ein Verzicht auf Si-
cherheit für die Bevölkerung in Deutschland, und es ist im
Übrigen ein Schlag gegen jede Klimapolitik auf der Erde.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben doch hoffentlich noch das gemeinsame Ziel,
Energie auch künftig preiswürdig, sicher und umweltver-
träglich zur Verfügung zu stellen. Meine Damen und Her-
ren, wer das will, der darf nicht erst einen Ausstieg orga-
nisieren und hinterher erforschen, wie denn Einstiege in
neue Technologien erreicht werden können. Umgekehrt
muss es sein: Erst Einstiege und dann kann man über Aus-
stiege und Veränderungen im Einzelnen reden.

Da die Zahlen in den letzten Tagen auf den Tisch ge-
kommen sind, sage ich hier noch einmal: Im Jahre 1999
hat der Strom aus Kernenergie insgesamt 31 Prozent und
der Strom aus Kernenergie in der Grundlast mehr als
60 Prozent ausgemacht. Wer glaubt, dass man das ohne
weiteres beiseite schieben kann, der ist schlicht und ein-
fach falsch gewickelt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will noch einen Punkt aufgreifen, weil ich meine,
dass wir dann, wenn wir über Energiepolitik allgemein re-
den, auch schauen müssen, wo Brücken der Verständi-
gung sind. Herr Müller, wir haben das im Rahmen dessen,
was Sie als Energiedialog organisiert haben, gemeinsam
versucht. Ich finde diesen Teil der Energiepolitik auch
richtig und bedauere, dass zum einen die CDU/CSU und
zum anderen die Umweltverbände da ausgestiegen sind.
Aber es fehlen in dem Zusammenhang natürlich die ent-
scheidenden Dinge. Es fehlt eine Vereinbarung über die
Energiefragen im Verkehr, und es fehlt der Teil Kernener-
gie. Deswegen wäre es wichtig, dass sich diese Bundes-
regierung nun einmal dazu äußerte, wie das Thema Ener-
gieeffizienz, von dem auch Sie gestern gesprochen haben,
aufgegriffen werden soll.

Ich glaube schon – diesen Punkt will ich hier aus-
drücklich bestätigen –, dass uns die Anregungen, die un-
ter anderem von Ernst Ulrich von Weizsäcker unter dem
Stichwort „Faktor 4“ in die Debatte gebracht worden sind,
beim Thema Energiepolitik weiter bringen als manche an-
deren Gefechte. Ich persönlich bin auch davon überzeugt,
dass dieses Thema wahrscheinlich mehr Bedeutung hat
als das Thema alternative Energien. Jedenfalls muss bei-
des zusammengebracht werden. Warum wird das nicht ge-
macht, Herr Müller?


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Das tun wir doch!)


– Nein. – Das ist ganz einfach: weil Sie Energieein-
sparung – so hat mir ein Kollege Ihrer Fraktion etwas re-
signiert gesagt – nicht fotografieren können. Bei Photo-
voltaik und bei Windanlagen ist das anders. Davon kann
man mehr hermachen.

Deswegen, meine Damen und Herren, ist es erforder-
lich, dass wir an dieser Stelle weiterhin über das Thema
Energieeffizienz reden und dass wir insbesondere auch im
Zusammenhang mit den Klimafragen überlegen, wie weit
die Themen Umwelt und Entwicklung und Energie zu-
sammengebracht werden können. Ich beziehe mich damit
auf die Anregungen von Professor Schellnhuber, dem
Potsdamer Klimaforscher, der im Übrigen gesagt hat, es
wäre ein Fehler, jetzt die Kernenergie aus dem Netz zu
nehmen, weil sie uns helfen kann, den Umstieg in alter-
native Energien besser und sicherer zu betreiben. Weiter
hat er gesagt – ich finde, dass wir in den Ausschüssen des
Bundestags darüber diskutieren müssen –, richtig wäre
eine Solarallianz mit den Ländern in den Wüstenregionen,
in den arabischen Ländern, die heute noch vom Öl leben
und die morgen vielleicht andere Energieformen herstel-
len können und von denen wir profitieren können.




Walter Hirche
10434


(C)



(D)



(A)



(B)


Aber das alles bedeutet, dass wir in sorgfältiger Weise
Einstiege in neue Techniken, in Innovationen organisieren
müssen und nicht nur Subventionen verteilen dürfen. Vor
allem müssen wir die Kernenergie als CO2-freie Energieund damit als eine Energieform, die den Treibhauseffekt
mindern kann, auch in Zukunft nutzen. Wer in Deutsch-
land aus der Kernenergie aussteigt, der wird dafür sor-
gen – diese Erkenntnis bleibt auch nach der Vereinbarung,
die Sie so loben –, dass anderswo in der Welt weiterhin
Kernkraftwerke gebaut werden, und zwar ohne deutsche
Sicherheitsphilosophie. Das, meine Damen und Herren,
ist das Gegenteil von dem, was verantwortlich ist. Mora-
lisch verantwortlich sind das Festhalten am Beitrag der
Kernenergie für eine sichere Zukunft, der Ausbau alterna-
tiver Energien und das Nutzen von mehr Energieeffizienz.
Nur mit diesen drei Maßnahmen zusammen werden wir
weiterkommen. Was Sie hier als Vereinbarung vorlegen,
ist ein Schritt in die falsche Richtung, nützt niemandem
und dient einzig und allein der Demütigung und Dome-
stizierung der Grünen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie haben das wieder missverstanden!)


– Wenn das ein Erfolg sein soll, Herr Schmidt, dann gra-
tuliere ich Ihnen dazu. Aber ich finde, das ist ein bisschen
zu billig. Dieser Weg trägt nichts zur Lösung der Ener-
gieprobleme in Deutschland bei.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411101100
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Michael Müller, SPD-Fraktion.


Michael Müller (SPD):
Rede ID: ID1411101200
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Das Wichtigste an dieser Ver-
einbarung zum Atomkompromiss ist, dass es sich um eine
Richtungsentscheidung zugunsten von Zukunftstechnolo-
gien handelt. Das ist der Kern. Wir überwinden und been-
den endlich eine lähmende Debatte, die die Neuordnung
der Energieversorgung über Jahre blockiert hat. Das ist
der entscheidende Punkt.

Erstens. Wir machen den Weg frei für die vorhandenen,
aber viel zu wenig genutzten Zukunftstechnologien, für
eine Effizienzrevolution, für die Solartechnik und für
Einsparungen. Das ist der richtige Weg.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Insofern geht es nicht nur darum, dass wir eine riskante
Technologie kritisieren und möglichst schnell aus ihr aus-
steigen, sondern es geht auch um einen Para-
digmawechsel, nämlich die Hinwendung zu einer Ener-
giepolitik, deren oberstes Ziel lautet, mit möglichst wenig
Energie auszukommen, statt an den verschwenderischen
und ineffizienten Strukturen festzuhalten. Das ist der ent-
scheidende Punkt, den man sehen muss.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Insofern ist es gut, dass wir diese lähmende Debatte der
letzten Jahre beenden.

Zweitens. Die Zukunftsvorsorge gebietet, jetzt an
eine Neuordnung der Energieversorgung zu denken. Ma-
chen wir uns nichts vor: Es wird in der Bundesrepublik
wie auch in den meisten anderen Ländern kein neues
Atomkraftwerk mehr gebaut werden können.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Abwarten!)

Im Übrigen, Frau Merkel, wenn Sie ehrlich sind, braucht
man zur Bestätigung dieser Aussage nur das während Ih-
rer Amtszeit geänderte Atomgesetz zu zitieren. Nach § 7
Abs. 2 heißen die Anforderungen für ein neues Atom-
kraftwerk in der Bundesrepublik, dass die Folgen eines
Schadens auf die Anlage begrenzt bleiben müssen. Das
schafft keine Technologie und es ist keine Atomtechnolo-
gie absehbar, die dies schaffen würde. Sie selbst haben so-
zusagen den Schlussstrich unter die Nutzung der Atom-
energie gezogen. Nur, das erzählen Sie öffentlich nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das hat sie aber nicht verstanden!)


Nach dem heute geltenden Atomgesetz ist faktisch kein
Neubau möglich.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Das ist falsch!)

Das ist der eigentliche Schluss aus § 7 Abs. 2. Oder ken-
nen Sie Ihr eigenes Gesetz nicht? Wo gibt es eine Atom-
technologie, die im Falle eines Unfalls den Schaden auf
die Anlage begrenzt? – Es gibt sie nicht. Sie reden immer
abstrakt vom EPR, der bisher weitgehend nur auf dem Pa-
pier steht. Auch er kann all dies, soweit wir wissen, nicht
erfüllen.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Wären Sie einmal zum Weltingenieurtag nach Hannover gefahren! Da haben das 1 500 Ingenieure diskutiert!)


– Ja, ist klar, das kennen wir seit 30 Jahren.
Drittens. Wir können endlich Akzeptanz in der Bevöl-

kerung für die Energiepolitik schaffen. Mit einem Fest-
halten an der Atomenergie wäre es nicht möglich, Akzep-
tanz zu schaffen. Akzeptanz ist aber gerade für die Ener-
gieversorgung – sie ist ein Kernbereich jeder
Industriegesellschaft – wichtig. Wir schaffen mit einer
Veränderung der Grundlagen der Energieversorgung Ak-
zeptanz und Konsens und öffnen den Weg für Zukunfts-
technologien. Das ist wichtig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Im Übrigen – lassen Sie mich auch darauf hinweisen –
ist es nicht so, dass wir beim Ausstieg alleine dastehen.
Österreich ist ausgestiegen, Dänemark hat per Par-
lamentsbeschluss den Nichteinstieg beschlossen, in
Belgien gibt es jetzt einen Rahmenbeschluss für den
Ausstieg, Italien hat per Parlamentsbeschluss den Aus-
stieg festgelegt, die Schweiz hat ein Moratorium be-
schlossen, Schweden hat den Ausstieg beschlossen. Zur
Situation in England kann ich nur die „Financial Times“
zitieren: „Als die Atomenergie privatisiert wurde, wurde




Walter Hirche

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(C)



(D)



(A)



(B)


klar: Es war der kostspieligste Fehler der Industriege-
schichte.“ In den USAhaben Bundesstaaten den Ausstieg
aufgrund von Entscheiden der Bevölkerung beschlossen.
Auch in Japan gibt es in der Zwischenzeit erhebliche Kri-
tik am Atomprogramm. Man kann die Vorfälle in Tokai-
mura nicht so herunterspielen, dass man sagt, das seien
Fehler eines Entwicklungslandes. Japan ist ein Hochtech-
nologieland. Dort sind solche Unfälle passiert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Viertens. Als weiteren Punkt sehen wir – das möchte
ich hier festhalten –, dass wir das mit der Atomenergie
verbundene Risiko nicht verantworten können. Dabei
geht es primär nicht um die Eintrittswahrscheinlichkeit,
sondern um den möglichen Schadensumfang. Jede Risi-
koberechnung hat zwei Komponenten: Die eine ist die
Eintrittswahrscheinlichkeit; sie liegt bei der Atomkraft
zweifellos nicht so hoch wie die eines Autounfalls. Die
andere aber ist der mögliche Schadensumfang. Der Scha-
densumfang eines Unfalls in einem Atomkraftwerk ist mit
dem anderer Technologien, auch mit dem der chemischen
Industrie, nicht vergleichbar. Das hat eine andere Qualität.
Deshalb muss man auch zu einer entsprechenden Schluss-
folgerung kommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dasselbe gilt auch für die Entsorgung. Frau Merkel, ich
habe mich sehr über Ihre Kritik an den Zwischenlagern
gewundert. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Debat-
ten über den Energiekonsens seit 1992, wo Sie 1995 öf-
fentlich Herrn Stoiber kritisiert haben, weil er kein regio-
nales Zwischenlager zulassen wolle. Was gilt denn nun?
Die damalige Einsicht kann auch heute nicht falsch sein.
Deshalb sollten Sie heute nicht so tun, als ob Sie nicht
selbst diese Forderung geteilt hätten. Da Sie uns parteipo-
litische Ideologie vorwerfen, sollten Sie bedenken, was
Sie selbst zu diesem Thema geäußert haben.

Der Ausstieg ist vor allem eine Chance für den Um-
stieg. Das ist wichtig und der Kern, der beachtet werden
muss. Herr Hirche, Sie haben Recht – ich sehe das auch
so –: Es gibt natürlich riesige Gefahren, die auf uns zu-
kommen, insbesondere die Gefahr durch ausländischen
Atomstrom. Allerdings müssen Sie fairerweise zugeben:
Dieses Problem stellt sich unabhängig vom Ausstieg


(Walter Hirche [F.D.P.]: Nein!)

angesichts der im Ausland angebotenen Dumpingpreise
für Atomstrom.


(Zustimmung bei der SPD)

In Wahrheit liegt hierin eine grundsätzliche Herausforde-
rung an die Energiepolitik nach der Liberalisierung der
europäischen Strommärkte. Sie sollten nicht die Auswir-
kung mit der Ursache verwechseln, was Sie mit Ihrer un-
sauberen Argumentation tun.

Tatsächlich haben wir durch die Veränderung der
Energiemärkte gewaltige Probleme auch in Bezug auf die
nationale Gestaltung des Umweltschutzes. Wir haben
große Probleme in Bezug auf einen Strom, den wir nicht

wollen, weil er aus unsicheren Kraftwerken stammt. In-
sofern stellt sich durch die Liberalisierung prinzipiell die
Frage, was Politik heute zur Neuordnung und Neustruk-
turierung der Energieversorgung leisten kann. Dies ist
keine Frage des Ausstiegs. Sie stellt sich jetzt nur schnel-
ler und deutlicher. Das ist richtig. Aber das Grundproblem
geht sehr viel tiefer. Es stellt sich die Frage, ob die Politik
ihren Primat bezüglich einer effizienten und umweltver-
träglichen Energieversorgung überhaupt durchsetzen
kann. Genau das versuchen wir.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Wir haben heute das Risiko, dass wir auf der Basis der
vorhandenen Großstrukturen mit ihren hohen Reserve-
margen in Gefahr geraten, dass die Energiepolitik in der
Zukunft nur noch durch einen hohen Stromabsatz be-
stimmt wird. Wir wissen aber – zum einen vor dem Hin-
tergrund der langfristig sehr viel dringender werdenden
Ressourcenprobleme, zum anderen wegen der fatalen
Folgen einer ineffizienten Nutzung für die Ökologie und
insbesondere für den Klimaschutz –, dass so keine zu-
kunftsfähige und nachhaltige Energieversorgung erreicht
werden kann.

Es geht also um die Frage, ob die Politik eine Energie-
versorgung durchsetzen kann, die verbrauchsnah, dezen-
tral und solar ausgerichtet ist und die möglichst hohe Ef-
fizienzsprünge in Nutzung und Wandlung machen kann.
Dies ist die Schlüsselfrage. In dem Ausstieg aus der
Atomenergie liegt die Chance, diese Frage positiv zu ent-
scheiden. Im Übrigen: Die Atomenergie ist die uneffizi-
enteste Energieversorgung mit einem Wirkungsgrad von
gerade einmal 34 Prozent. Unter den wichtigen Energie-
trägern gibt es keine ineffizientere Energie als die Atom-
energie, was die Auslastung in der Umwandlungstechnik
angeht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Neuordnung ist dringend erforderlich, um die Sta-
gnation und den Status quo, der viel mit den gegebenen
Energieversorgungsstrukturen zu tun hat, zu überwinden.
Wir machen uns Sorgen um die Beschäftigung, um die
Energieerzeugung in der Bundesrepublik und den Um-
weltschutz. Deshalb liegt in der Neuordnung und nicht im
Festhalten an alten Strukturen die Chance, diese Zu-
kunftsherausforderungen zu bestehen. Das ist für uns ein
entscheidender Punkt, für Ausstieg und Umstieg.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir wollen diesen Weg in Richtung Energiedienstleis-
tung, Effizienzrevolution und Nutzung der regenerativen
Energien gehen, die eine Einheit bilden. Wir wollen bei
diesen Zukunftstechnologien Vorreiter werden; wir wol-
len auf diesem Feld die Nummer eins werden. Das ist un-
ser Ziel. Wenn wir das erreichen, dann schaffen wir etwas,
was unter dem Gesichtspunkt globaler Verantwortung
überfällig ist und womit wir uns sehen lassen können.




Michael Müller (Düsseldorf)

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(C)



(D)



(A)



(B)


Wir haben die große Chance, dieses Ziel zu erreichen.
In der Bundesrepublik gibt es ein Einsparpotenzial von
über 40 Prozent des heutigen Energieumsatzes. Die rege-
nerativen Energien haben immer noch nur einen beschei-
denen Anteil von 2,3 Prozent an der Endenergie. Wir kön-
nen diese Potenziale sehr viel besser nutzen und damit
einen wichtigen Beitrag für eine nachhaltige Energiever-
sorgung leisten. Wir werden das tun.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, lassen Sie mich drei ab-
schließende Bemerkungen machen.

Erstens. Wir werden – so interpretieren wir die Verein-
barung nicht; sie lautet so auch nicht – keine Einschrän-
kungen bei der Sicherheit hinnehmen. Das ist mit uns
nicht zu machen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wie der Bundeskanzler gesagt hat! – Walter Hirche [F.D.P.]: Das hat es auch früher nicht gegeben!)


Im Gegenteil! Das wäre rechtlich auch gar nicht möglich,
Herr Hirche – das wissen auch Sie –, weil das sozusagen
der wesentliche Grund für den Ausstieg ist. Wir können ja
nicht selbst den wesentlichen Grund für den Ausstieg
konterkarieren. Wir machen das nicht. Es gibt keine Ein-
schränkungen bei der Sicherheit.

Zweitens. Es gibt kein Stillhalten in Bezug auf die Ent-
wicklung der neuen Energiemärkte. Im Gegenteil! Weil
Ausstieg und Umstieg zusammengehören, muss die Dy-
namik für die neuen Energiemärkte umso stärker entfaltet
werden.

Drittens. Wir werden durch die Neustrukturierung der
Energieversorgung alles tun, um die Auslandsgefahren,
die durchaus gegeben sind, abzuwehren. Zumindest wer-
den wir die Gesetze so ändern, dass sie kaum eintreten
werden. Dies ist aber nur durch den Umbau möglich.
Dafür ist heute, auch wenn ich mir weiter gehende Kon-
zepte vorstellen könnte, wenigstens der Weg vorgegeben.
Es ist einfach unfair, wenn sich jemand, der diese Rich-
tung überhaupt nicht will, hier hinstellt und fragt: Warum
tut ihr nicht mehr? Das ist scheinheilig. Das machen wir
nicht mit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411101300
Ich erteile das Wort
der Kollegin Eva Bulling-Schröter, PDS-Fraktion.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1411101400
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es gleich vorweg
zu sagen: Die PDS-Fraktion lehnt die Vereinbarung zwi-
schen Bundesregierung und Energieversorgern ab.


(Zuruf von der SPD: Das ist klar!)

SPD und Bündnis 90 ignorieren die Gefahren, die von

Atomkraftwerken ausgehen. Es schert sie nicht, dass die
Entsorgung ungelöst bleibt. Sie verspüren keine Verant-
wortung für die Folgen des Uranabbaus in vielen Teilen

der Welt. Es kümmert sie nicht, dass Wiederaufberei-
tungsanlagen in Frankreich und Großbritannien Mensch
und Umwelt mit radioaktiven Emissionen belasten. Der
Umweltminister will Transporte mit hochradioaktiven
Abfällen noch in diesem Jahr wieder zulassen.

Die Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und
den EVUs ist kein Ausstieg. Sie ist ein Geschenk des
Kanzlers zum Bergfest der Atomindustrie; denn es soll
mindestens noch einmal so viel Atomstrom und -müll pro-
duziert werden, wie bisher insgesamt in Deutschland her-
gestellt wurde.

Die Bundesregierung hatte angenommen, dass der
Ausstieg aus der Atomkraft im Konsens mit der Atom-
industrie vereinbart werden könne. Das war ein Fehler.


(Zustimmung bei der PDS)

Statt von Beginn an auf vertrauliche Gespräche mit der In-
dustrie zu setzen, hätten Sie ein breites Bündnis mit aus-
stiegswilligen Kräften in der Gesellschaft suchen müssen.


(Beifall bei der PDS – Christoph Matschie [SPD]: Ganz kluge Idee!)


Die Bundesregierung verkündet nun, der Weg für den
Einstieg in eine neue Energieversorgung sei jetzt frei, wie
dies Herr Müller gerade wieder getan hat. Ich frage mich:
Warum eigentlich? Schließlich beabsichtigt die Bun-
desregierung, den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke zu
garantieren. Keines der beiden strittigen Endlagerprojekte
Gorleben und Konrad wird beendet. Die Urananreiche-
rungsanlage in Gronau wird zur Versorgung des Welt-
marktes mit Uran erheblich ausgebaut. Neue Zwischenla-
ger sollen genehmigt werden. Die Konditionierungsan-
lage in Gorleben erhält eine Genehmigung. Die geplante
Novelle zur Strahlenschutzverordnung ermöglicht eine
kostengünstige Deponierung von schwach kontaminier-
ten Abfällen im Straßenbau. Also noch einmal die Frage:
Warum?

Viele Jahre lang haben auch SPD und Grüne Sicher-
heitsmängel in deutschen Atomkraftwerken erkannt und
die mangelnden politischen Konsequenzen aus den Si-
cherheitsmängeln beklagt. Und jetzt soll alles im grünen
Bereich sein?

Ein Zitat aus der Vereinbarung beweist das:
... die Bundesregierung wird keine Initiative ergrei-
fen, um diesen Sicherheitsstandard und die diesem
zugrunde liegende Sicherheitsphilosophie zu ändern.
Bei Einhaltung der atomrechtlichen Anforderungen
gewährleistet die Bundesregierung den ungestörten
Betrieb der Anlagen.

Im Klartext: Die Bundesregierung behauptet, dass die
Vorsorge gegen Schäden, die sie bei ihrem Amtsantritt
vorgefunden hat, dem Stand von Wissenschaft und Tech-
nik entspricht. Das ist aber Unsinn.
Sie müssen wohl eingestehen, dass bei einer Kern-
schmelze kein Betonmantel hält. Das wollen Sie jetzt ein-
fach so hinnehmen. Wir werden es erleben, wie Sie in po-
litischer Verantwortung die Risiken kleinreden, vertu-
schen und verharmlosen werden.




Michael Müller (Düsseldorf)


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(C)



(D)



(A)



(B)


Die Vereinbarung zwischen Bundesregierung und
Energieversorgern wird die Konflikte um die Nutzung
der Atomenergie nicht beilegen können. Die Erfahrung
lehrt, dass auch künftig mit Störfällen in Atomanlagen ge-
rechnet werden muss. Und auch künftig werden Atom-
skandale Schlaglichter auf den parteipolitisch-industriel-
len Filz werfen.

Obgleich die mit den technischen Risiken verbundenen
politischen Risiken als bedrohlich eingeschätzt werden
müssen, hat sich eine große Mehrheit der Partei der Grü-
nen für einen Weg entschieden, der die Antiatombewe-
gung spalten, isolieren und kriminalisieren wird. Dazu ist
nichts anderes zu sagen als: Verrat!


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411101500
Kollegin Bulling-
Schröter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dreßen?


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1411101600
Ja.


Peter Dreßen (SPD):
Rede ID: ID1411101700
Frau Kollegin, sind Sie mit mir
einer Meinung, dass es besser ist, den Spatz in der Hand
zu haben, als die Taube auf dem Dach, der Sie vielleicht
noch nachfliegen müssen? Wenn Sie einmal berück-
sichtigen, dass die Antiatomkraftbewegung am Kaiser-
stuhl begonnen hat und die Leute dort heute froh über den
Ausstieg sind, da sie feststellen, dass nun ein Ende abzu-
sehen ist: Meinen Sie dann nicht, dass dieser Weg der
richtigere ist als Ihr Weg, der Ihnen unter Umständen von
den Gerichten untersagt worden wäre, sodass Sie dann
überhaupt nichts in der Hand gehabt hätten? Meinen Sie
nicht, dass durch den gemeinsam gefundenen Ausstiegs-
konsens jetzt eher ein Fortschritt erzielt worden ist als
durch den Weg, dem Sie jetzt nachweinen und von dem
Sie meinen, Sie hätten ihn mit brachialer Gewalt durch-
setzen können, ohne zu bedenken, dass das vermutlich an-
schließend vom Gericht wieder einkassiert worden wäre?


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1411101800
Die Frage des
Fortschritts und des Kompromisses sieht natürlich jeder
anders. Ich sehe das anders als Sie. Erstens glaube ich
nicht, dass die Menschen vor Ort mit Ihrem Kompromiss
zufrieden sind. Ich weiß nicht, ob Sie im Fernsehen den
Parteitag der Grünen beobachtet haben. Ich habe das sehr
wohl getan. Ich habe die Fraktionsvorsitzende der Grünen
im Landtag von Niedersachsen gehört, die dazu eine ganz
andere Meinung hat. Tatsache ist, dass in einer ganzen
Reihe von Standorten bis zur Hälfte der Mitglieder der
Grünen ausgetreten sind. Das spricht für sich.

Zweitens meine ich: Klar kann man über die Gerichte
etwas erreichen; aber Sie haben das erst gar nicht probiert.
Dieser Konsens ist dadurch entstanden, dass Sie immer
weiter zurückgegangen sind. Was war denn mit dem
Atomgesetz? Es wurde von Trittin zurückgezogen. Dann
gab es das Versprechen, zum 1. Januar 2000 würde die
Wiederaufbereitung beendet. Auch dieses Versprechen
wurde nicht eingehalten. Ich meine, dieser Konsens ist
Nonsens und es hätte andere Möglichkeiten gegeben.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)


Die Energieversorger bestätigen das inzwischen. Sie
verstehen unter „sicherem Betrieb“ offenkundig etwas
anderes als der grüne Koalitionspartner. Die Chefs von
Preussen-Elektra und Bayernwerk, Harig und Majewski,
schrieben an ihre „lieben Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
ter“, dass der Atomkonsens kein Ausstieg sei. Wörtlich:
„Die Vereinbarung bedeutet nicht das Ende der Kern-
energie in Deutschland.“ Im Gegenteil, der Vertrag biete
ein „Maximum an politischer Betriebssicherheit“.

In der Gewissheit, dass durch einen zukünftig nicht
auszuschließenden Wechsel der Mehrheiten im Bund an-
deres bestimmt wird – sie warten ja nur darauf –, konnte
die Atomindustrie den geplanten Verzicht auf die Geneh-
migung neuer AKWs beruhigt und lapidar zur Kenntnis
nehmen. Aber sie werden es wieder versuchen. Die Si-
cherheitsforschung bleibt laut Vereinbarung ohnehin frei,
sodass die technische Fortentwicklung von Atomreakto-
ren gesichert ist. Das war in „Kennzeichen D“ vor zwei
Wochen zu sehen.

Strom aus abgeschriebenen Atomkraftwerken wird für
mindestens die kommenden 20 Jahre sehr wettbewerbs-
fähig sein, sodass sich eine tatsächlich sozial-ökologische
Energiewende für Umwelt und Beschäftigung nicht wird
entfalten können. Kollege Müller hat über das Preisdum-
ping gesprochen. Diese Dinge sind absehbar.

Sie haben wörtlich vereinbart:
Die Bundesregierung wird keine Initiative ergreifen,
mit der die Nutzung der Kernenergie durch einseitige
Maßnahmen diskriminiert wird. Dies gilt auch für
das Steuerrecht.

Im Klartext: Es erfolgt also keine Besteuerung von Kern-
brennstoffen. Die Subventionierung über steuerfreie Ent-
sorgungsrückstellungen läuft weiter.


(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alles falsch!)


Die vereinbarten Regelungen zur Entsorgung des
Atommülls stehen im krassen Widerspruch zu den Wahl-
versprechen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Sie
hatten das Aus für die Endlager Gorleben und Schacht
Konrad angekündigt. Nun jedoch soll das Endlager
Schacht Konrad genehmigt werden, obwohl ein separates
Endlager für so genannte schwach wärmeentwickelnde
Abfälle überflüssig ist und in Übereinstimmung mit dem
Koalitionsvertrag ein zentrales Endlager für alle Arten ra-
dioaktiver Abfälle eingerichtet werden sollte.

Erstmals trifft die Bundesregierung im Anhang des
Konsenses eine positive Eignungsaussage für das Endla-
ger Gorleben. Es gibt zwar ein drei- bis siebenjähriges
Moratorium; aber alle Voraussetzungen werden geschaf-
fen, um danach mit der Erkundung und Genehmigung
weiterzumachen.

Ein weiteres Zitat aus der Vereinbarung:
Es wird gemeinsam nach Möglichkeiten gesucht,
vorläufige Lagermöglichkeiten an den Standorten
vor Inbetriebnahme der Zwischenlager zu schaffen.




Eva-Maria Bulling-Schröter
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(C)



(D)



(A)



(B)


Als Interimslösung sollen Castorbehälter also auch an
Plätzen gelagert werden dürfen, die dafür bisher nicht vor-
gesehen sind.

Meine Damen und Herren, auch das ist ein Ausfluss der
Hilflosigkeit. Hier hangelt sich die Bundesregierung von
einer Zwischenlösung zu einer Zwischenzwischenlösung.
Ihr bleibt auch nichts anderes übrig; denn die Endlager-
frage ist technisch eben nicht lösbar und Transporte ent-
halten ein zusätzliches Risiko.

Aufzulösen wäre das nur durch einen sofortigen Aus-
stieg, wenngleich das nicht im Hinblick auf den schon
produzierten Abfall möglich ist. Aber dieser Ausstieg
wird ja nun um eine Generation verschoben und damit
wird dieses Problem für unsere Kinder und Enkel nach-
haltig verschärft.


(Beifall bei der PDS)

Die Wiederaufarbeitung wird nicht verboten. Die

Bundesregierung vereinbarte, dass angelieferte Brennele-
mente verarbeitet werden dürfen. Schon heute liegen
deutsche Brennelemente in französischen und britischen
Anlagen auf Halde. Bis Mitte 2005 sollen weitere Trans-
porte erlaubt sein. Die Cogema stört das überhaupt nicht.
Sie rechnet damit, dass sie etwa noch bis zum Jahr 2015
den in deutschen Kraftwerken vorhandenen Berg an
Brennelementen wieder aufarbeiten kann. So lange reicht
nämlich der Vorrat.

Einige Kommentatoren meinen, mit dieser Vereinba-
rung sei der SPD und den Grünen ein Befreiungsschlag
geglückt und es sei nun genügend Raum entstanden, der
es der Regierung erlaube, sich den regenerativen und ra-
tionellen Energietechnologien stärker zuzuwenden. Des-
halb noch ein gut gemeinter Hinweis zur taktischen Lage:
Wenn Sie hier Ihre Atompläne durchpeitschen und damit
die Energieversorger ihre Bestandsgarantien erhalten ha-
ben, dürfte Rot-Grün auf energiepolitischem Gebiet vor-
erst ausgespielt haben, da der Reformbedarf der mächti-
gen Energieversorger fürs Erste wirklich gedeckt ist.

Ich appelliere daher an Ihren taktischen Instinkt, we-
nigstens mit dem angekündigten Gesetz zur Einführung
einer Quote bei der Kraft-Wärme-Kopplung nicht allzu
lange zu warten. Die PDS-Fraktion hat hierzu bereits ei-
nen Gesetzentwurf eingebracht. Auch Vorschläge der Ko-
alition zur Regulierung des Strommarktes und des Netz-
zugangs sowie zur Anrechnung der Netzkosten stehen bis
heute aus und sollten noch vor der parlamentarischen
Auseinandersetzung über Ihre Atompläne verabschiedet
werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Ergebnis der
Konsensverhandlungen stellt eine geldwerte Sicherung
von Marktanteilen für die Atomkraftbetreiber für die
Dauer von noch mindestens 25 bis 30 Jahren dar. Nicht
einmal vergleichbare Regelungen zur Finanzierung des
Steinkohlenbergbaus haben eine so lange Laufzeit. Dies
ist somit kein Ausstieg zum Nulltarif. In Geldwert ausge-
drückt, übersteigen die vereinbarten Strommengen alles,
worüber bisher als Gründe für drohende Klagen auf Scha-
densersatz oder Ausgleich diskutiert wurde. 2,62 Tera-
wattstunden Atomstrom stellen einen Geldwert dar, der
im Streitfall Forderungen der Energieversorger begrün-

den könnte, die um ein Vielfaches höher sind als der Zeit-
wert der Anlagen, wie er im Atomgesetz als maximale
Höhe bei Entschädigungen geregelt wurde.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411101900
Kollegin Bulling-
Schröter, Sie müssen zum Ende kommen.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1411102000
Zudem wird die
Monopolmacht der Energiekonzerne mit dieser Vereinba-
rung weiter ausgebaut werden.


(Beifall bei der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411102100
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Christoph Matschie, SPD-Fraktion.


Christoph Matschie (SPD):
Rede ID: ID1411102200
Herr Präsident! Werte
Kolleginnen und Kollegen! Nach dem bisherigen Verlauf
der Debatte habe ich den Eindruck, dass die Tatsache, dass
es gelungen ist, einen Konsens zwischen Bundesregie-
rung und Energieversorgern zu erreichen, die Opposition
völlig verwirrt. Sie wissen überhaupt nicht mehr, was Sie
uns eigentlich vorwerfen wollen. Frau Merkel hat uns auf
der einen Seite vorgeworfen, die Atomwirtschaft sei zu
gut weggekommen; auf der anderen Seite hat sie uns vor-
geworfen, wir richteten riesigen wirtschaftlichen Schaden
an. Sie hat uns auf der einen Seite vorgeworfen, wir stie-
gen nicht schnell genug aus; auf der anderen Seite hat sie
uns vorgeworfen, wir würgten eine Technologie ab, die
weiterhin zukunftsweisend sei. Ich glaube, Sie müssen
sich noch einmal zusammensetzen und entscheiden, wel-
chen Vorwurf Sie uns eigentlich machen wollen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sind jetzt die Konzerne zu gut weggekommen oder rich-
ten wir großen wirtschaftlichen Schaden an? Steigen wir
zu schnell oder zu langsam aus? Darüber müssen Sie sich
zunächst einmal einig werden.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Sie müssen die Argumente schon richtig verstehen! Das ist die Voraussetzung!)


Man sollte versuchen, zu einer sachlichen Debatte
zurückzufinden und keine ideologisch aufgeladene Aus-
einandersetzung zu führen. „Wer aussteigt, muss auch
wissen, wo er einsteigt“ – völlig richtig. Aber daraus ein
Panikszenario zu machen – wenn die ersten Atomkraft-
werke vom Netz gehen, geht das Licht aus oder kommt
massenweise Strom aus dem Ausland –, ist sachlich über-
haupt nicht zu rechtfertigen.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Das hat doch Ihr Wirtschaftsminister gesagt!)


Wir reden im Moment über enorme Überkapazitäten auf
den Strommärkten sowohl in der Bundesrepublik als auch
in Europa insgesamt. Wir sind im Moment nicht in einer
Situation, wo abgeschaltete Anlagen unverzüglich durch
andere Anlagen ersetzt werden müssten.




Eva-Maria Bulling-Schröter

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(C)



(D)



(A)



(B)


Wir haben vor diesem Hintergrund ein Ausstiegssze-
nario, das uns die Zeit einräumt, wirklich die Weichen für
eine neue Energiepolitik zu stellen. Die ersten Schritte
dazu haben diese Bundesregierung und diese Koalition
getan. Wir haben ein Gesetz zur Förderung erneuerbarer
Energien beschlossen, das wirklich Bewegung in diesen
Markt gebracht hat, gegen das Sie sich aber gewehrt ha-
ben und das wir gegen Ihren Widerstand hier im Parla-
ment durchsetzen mussten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben ein erstes Gesetz zur Förderung der Kraft-
Wärme-Kopplung auf den Weg gebracht. Auch dieses Ge-
setz wird dazu beitragen, umweltfreundliche Energieer-
zeugung in diesem Land zu sichern und weiter zu fördern.

Manche werfen uns vor, dass der Ausstieg nicht schnell
genug komme. Ich glaube, dass es angesichts jahrelanger
Auseinandersetzungen notwendig war, einen Weg zu su-
chen, der praktisch tatsächlich umsetzbar ist, der dem
Rechtsrahmen unseres Landes entspricht und der ver-
sucht, die Interessen in dieser Gesellschaft auszugleichen.
Ich glaube, dass es mit dieser Vereinbarung gelungen ist,
einen geordneten Ausstieg aus der Kernenergie im Kon-
sens zu ermöglichen. Das ist ein hohes Gut und wird
dazu beitragen, dass dieser gesellschaftliche Konflikt an
Schärfe verliert.


(Beifall bei der SPD)

Herr Hirche, Sie haben versucht, Umweltsachverstän-

dige für Ihre Argumentation heranzuziehen, die Atom-
energie sei für die Lösung des Klimaproblems unver-
zichtbar. Nun sind Sie nicht mehr so häufig im Umwelt-
ausschuss anzutreffen und haben die Debatten vielleicht
nicht ganz mitgekriegt. Wir haben gerade vor einigen Wo-
chen die Vertreter des Sachverständigenrates für Um-
weltfragen bei uns im Ausschuss gehabt und haben diese
Frage diskutiert. Der Sachverständigenrat für Umweltfra-
gen hält die Nutzung der Atomenergie für nicht verant-
wortbar. Ich zitiere:

Der Umweltrat hält aufgrund der Charakteristiken
bestrahlter Brennelemente und der darin begründe-
ten, in weiten Teilen ungelösten Entsorgungspro-
bleme eine weitere Nutzung der Atomenergie für
nicht verantwortbar.

Wir haben die Frage diskutiert, ob man angesichts des
Klimaproblems trotzdem Ja sagen müsse. Der Umweltrat
sagt: Nein, das ist nicht verantwortbar.

Die Atomenergie leistet weltweit einen Beitrag zur
Primärenergieversorgung von 7 Prozent.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Reden Sie doch einmal über den Strom! Der Strom ist das Entscheidende! Lenken Sie nicht ab! 60 Prozent im Strombereich Grundlast!)


– Herr Hirche, da geht es nicht nur um den Strom; denn
auch andere Energieerzeugung trägt zum Treibhauseffekt
bei. – Das entspricht 436 Kernkraftwerken. Wie viele
Kernkraftwerke wollen Sie denn weltweit bauen, um das
Klimaproblem zu lösen? Schon die Enquete-Kommis-

sion, die sich mit den Klimafragen auseinander gesetzt
hat, hat es eindeutig formuliert: Die Atomenergie ist kein
Beitrag zur Lösung des Klimaproblems.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dann beschwören Sie hier den Verlust von Arbeits-
plätzen in diesem Bereich der Energieversorgung.
Ich glaube, dass durch die Energiepolitik, die wir betrei-
ben, genau das Gegenteil eintreten wird: Wir werden mehr
Arbeitsplätze bekommen, weil im Bereich der regenerati-
ven Energien und im Bereich der Energieeinsparung die
Arbeitsintensität wesentlich höher ist als in den Groß-
kraftwerken. Wir werden auch ein neues Know-how be-
kommen, ein Know-how, das es jetzt zu entwickeln gilt,
weil der Markt dafür in der Zukunft vorhanden ist. Es geht
um die Konversion der Atomtechnologie. In vielen Teilen
der Welt stehen alte Atomkraftwerke, die stillgelegt wor-
den sind oder in nächster Zeit stillgelegt werden. Wir sind
jetzt gut beraten, Technologien zu entwickeln, die es er-
möglichen, diese Standorte zu konvertieren, und dazu bei-
tragen, die Atomenergienutzung sicher zu beenden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Walter Hirche [F.D.P.]: Das sind Passivstrategien! Wir brauchen Offensivstrategien!)


Wir als wichtiges Industrieland haben ein Zeichen ge-
setzt. Dies haben wir nicht allein getan – das wurde schon
gesagt –; es gibt auch andere Länder, die den Ausstieg be-
schlossen haben. Auch die Länder, die einen solchen Be-
schluss nicht gefasst haben, gehen mit der Nutzung der
Atomenergie sehr pragmatisch um. In den Vereinigten
Staaten beispielsweise ist seit 1979 kein Kernkraftwerk
mehr ans Netz gegangen. Und wenn man die Verantwort-
lichen fragt, wie die Zukunft der Atomenergie in ihrem
Land diskutiert wird, antworten sie: Welche Zukunft mei-
nen Sie denn? Diese Technologie hat keine langfristige
Zukunft. – Das liegt nicht an einer rot-grünen Ideologie,
sondern schlicht und einfach daran, dass diese Großtech-
nologie keine Chance hat, auf den liberalisierten Ener-
giemärkten effizient zu agieren und sich durchzusetzen.
Das kann Ihnen passen oder nicht, meine Damen und Her-
ren, es ist aber so.


(Beifall bei der SPD – Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das stimmt aber so nicht, Herr Matschie! – Walter Hirche [F.D.P.]: Dann brauchen Sie aber keine Vereinbarung!)


– Doch, wir brauchen eine Vereinbarung, Herr Hirche,
weil wir nicht darauf warten wollen, dass sich diese Ent-
wicklung peu à peu mit all den Problemen und wei-
teren gesellschaftlichen Auseinandersetzungen von allein
durchsetzt, sondern weil wir politisch dafür sorgen wol-
len, dass der Ausstiegspfad geordnet gegangen wird und
parallel dazu eine neue Energiepolitik aufgebaut wird,
eine Energiepolitik, die in das 21. Jahrhundert gehört und
nicht die Kämpfe des letzten Jahrhunderts ausficht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Christoph Matschie
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(C)



(D)



(A)



(B)


Dann wird hier immer das Gespenst der großen Strom-
importe an die Wand gemalt:


(Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Das machen Sie doch!)


Wenn wir die Kernkraftwerke abschalten, wird der Strom
von den Kernkraftwerken aus den Nachbarländern im-
portiert. Was die osteuropäischen Nachbarn anbetrifft, so
hat der Umweltminister dazu schon einiges gesagt. Wir
haben als Beitrittsvoraussetzung die Stilllegung der Anla-
gen festgeschrieben, die den Sicherheitskriterien der Eu-
ropäischen Union nicht genügen. Es wird also nicht der
Fall sein, dass Strom aus solchen Anlagen von uns impor-
tiert wird. Im Übrigen existieren in den Nachbarländern
überhaupt nicht die Kapazitäten, um die Strommengen zu
liefern, die wir in Deutschland als Ersatz für die Energie
der jetzt am Netz befindlichen Atomkraftwerke brauchen.
Sie bauen also Gefahrenszenarien auf, die in der Realität
überhaupt nicht sachlich begründet werden können.

Auf der anderen Seite ist es richtig, dass wir schon jetzt
Strom importieren. Das wird auch in Zukunft so sein. Nie-
mand kann bei einem liberalisierten Strommarkt aus-
schließen, dass Strom importiert bzw. exportiert wird. Das
ist ein normaler Vorgang. Ihn gibt es jetzt und ihn wird es
auch in Zukunft geben.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Passiert das nun oder nicht?)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411102300
Kollege Matschie, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grill?


Christoph Matschie (SPD):
Rede ID: ID1411102400
Aber selbstverständlich.


Kurt-Dieter Grill (CDU):
Rede ID: ID1411102500
Herr Kollege
Matschie, wenn Ihre These richtig ist, dass ein solcher Im-
port nicht zu befürchten ist, sind Sie dann mit mir der Mei-
nung, dass Herr Michael Müller vollkommen falsch liegt,
wenn er ein Verbot des Imports von Atomstrom fordert?


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Ich habe überhaupt kein Verbot gefordert!)



Christoph Matschie (SPD):
Rede ID: ID1411102600
Ich kenne eine solche
Forderung des Kollegen Müller nicht.


(Lachen bei der CDU/CSU – Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Das stimmt auch nicht! Das ist absolut falsch!)


Ich glaube, dass man sich bei einem liberalisierten Markt
Gedanken darüber machen muss, ob der Wettbewerb auf
fairen Bedingungen beruht, das heißt, ob die Standards in
etwa vergleichbar sind und ob die Länder gleiche
Öffnungsbedingungen – das ist ja das Problem zwischen
der Bundesrepublik und Frankreich – haben. Darum geht
es, nicht darum, ob grundsätzlich ein Import oder Export
stattfindet.


(Beifall des Abg. Dr. Norbert Wieczorek [SPD])


Ich glaube, solche ideologischen Debatten brauchen wir
an dieser Stelle nicht zu führen.


(Beifall bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU)


Wir haben eine Energiepolitik begonnen, die auf den
effizienten Umgang mit Ressourcen setzt, auf eine Effi-
zienzrevolution beim Energieverbrauch und auf den Aus-
bau regenerativer Energien. Das sind die Potenziale, die
es im 21. Jahrhundert zu nutzen gilt. Nach technischen
Abschätzungen haben wir in der Bundesrepublik ein En-
ergieeinsparpotenzial von 40 Prozent. Das ist im Moment
unsere größte Energiereserve. Diese gilt es zu nutzen. Da-
durch werden wir viele Arbeitsplätze schaffen.

Langfristprognosen gehen davon aus – das Deutsche
Zentrum für Luft- und Raumfahrt hat dazu Studien vor-
gelegt –, dass wir etwa im Jahre 2050 in der Lage sein
werden, 60 Prozent der Energieversorgung über regenera-
tive Energien abzudecken. Effizienz und regenerative
Energien – das ist erfolgversprechend für das 21. Jahr-
hundert, nicht das Festhalten an einer veralteten Groß-
technologie, die sich am Markt nicht mehr durchsetzen
kann.

Deshalb kann ich Ihnen nur raten: Geben Sie Ihre ideo-
logisch begründete Blockadehaltung auf – auch Frau
Merkel wird es nicht gelingen, der Atomenergie noch ein-
mal eine Perspektive zu geben –


(Walter Hirche [F.D.P.]: Aber der Markt wird ihr wieder eine geben!)


und gestalten Sie mit uns eine zukunftsorientierte Ener-
giepolitik, die auf Einsparung, auf Effizienz und auf rege-
nerative Energien setzt!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411102700
Ich erteile das Wort
dem bayerischen Staatsminister Otto Wiesheu.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411102800
Herr Prä-
sident! Hohes Haus! Der Bundeskanzler spricht vom
„Konsens zum Ausstieg“. Ich kann nur feststellen: Den
hat es nicht gegeben und den gibt es nicht. Das, was als
„Konsens“ bezeichnet wird, hat die Energiewirtschaft
hingenommen unter dem Zwang der Verhältnisse. Man
hat ihr rechtzeitig die Folterwerkzeuge gezeigt. Man hat
Zwang ausgeübt. Man hat, wenn man so will, die Ener-
giewirtschaft erpresst.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Walter Hirche [F.D.P.])


Die Energiewirtschaft bringt das in dem Papier auch
zum Ausdruck. Dort heißt es, man nehme die Zielsetzung
der Bundesregierung zur Kenntnis. Dabei von Konsens
oder Zustimmung zu reden – das, Herr Trittin, wissen Sie
angesichts der Verhandlungen auch –, ist Verbalrabulistik;
es ist falsch.

Es hat auch keinen Konsens mit den Ländern gegeben.
Man hat ihn auch gar nicht gesucht. Im Gegensatz zu




Christoph Matschie

10441


(C)



(D)



(A)



(B)


1979, als Bundeskanzler Schmidt die Länder seinerzeit zu
den Verhandlungen eingeladen hat, um zu einem Konsens
zu kommen, war hier ein Konsens nicht einmal ange-
strebt. Gleiches gilt für die Gemeinden. Sie werden viel-
leicht sagen: „Die brauchen wir auch nicht.“ Sie werden
sie brauchen.

Das ist auch der Punkt bei den Vorwürfen, die der Herr
Bundeskanzler gegenüber Bayern erhoben hat. Im Jahre
1979 hat es ein Konzept gegeben: mit der Wiederaufar-
beitung in Wackersdorf, der Zwischenlagerung in Ahaus
und Gorleben sowie der Endlagerung in Gorleben. Wir in
Bayern haben uns – das möchte ich hier feststellen – von
der Wiederaufarbeitung nicht verabschiedet. Wir hätten
unsere Lasten getragen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Ausstieg erfolgte nicht durch die bayerische Politik,
sondern durch die Energiewirtschaft. Deshalb lasse ich
uns das nicht vorhalten.

Darüber hinaus gab es seinerzeit eine geschlossene
Entsorgungskette,mit Wiederaufarbeitung, Zwischenla-
gerung und Endlagerung. Heute das Endlager Gorleben
infrage zu stellen – wie Sie es tun –, Zweifel zu äußern,
die in keiner Weise wissenschaftlich begründet sind,
heißt, die Entsorgungskette zu unterbrechen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sagen Sie einmal Ihre Verantwortlichkeit bei der Entsorgungskette!)


Ihr Bestreben, Zwischenlager bei den Standorten ein-
zurichten, bedeutet, aus den Zwischenlagern quasi Endla-
ger zu machen, weil Sie sich in Sachen Endlager nicht in
die Pflicht nehmen lassen wollen. Sie sagen, Sie wollen
damit Transporte einsparen. Was für ein Problem aber lö-
sen Sie bei der Vermeidung der Transporte? Sie lösen ein
Problem, das Rot-Grün durch die Demagogie der letzten
20 Jahre selbst geschaffen hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Völliger Unsinn!)


Die Transporte sind kein Problem, kein technisches und
kein ökologisches.

Sie sagen, wenn Zwischenlager nicht sofort realisier-
bar seien, könne man „Zwischenzwischenlager“ schaffen,
dann stehen die Castoren halt einfach so herum. Ange-
sichts dessen müssen Sie sich fragen lassen, welche tech-
nischen Anforderungen Sie hier stellen. Aber es geht ja
weiter: Die Zwischenlager werden de facto Endlager. Sie
sagen, mit der Errichtung von Zwischenlagern und weite-
ren Untersuchungen garantierten Sie die Entsorgungs-
kette. Das tun Sie gerade nicht. Sie als Bundesregierung
können die Errichtung der Zwischenlager nicht gewähr-
leisten, weil Sie die Mitwirkung der Kommunen nicht ga-
rantieren können. Denn dort gibt es ja Gott sei Dank –
oder auch nicht – auch Rote und Grüne. Wenn die
Gemeinden die baurechtliche Zustimmung für Zwi-
schenlager verweigern oder wenn Bürgerinitiativen diese
im Wege von Bürgerentscheiden verhindern, dann sind
die Gemeinden daran über Jahre gebunden. Das bedeutet,
dass Sie den Energieversorgern vorgaukeln, der Entsor-

gungsweg werde eingehalten, obwohl Sie das nicht ge-
währleisten können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das ist leichtfertig und das kritisieren wir. Deswegen sa-
gen wir: An einem derartigen Konsens hätten Länder und
betroffene Gemeinden beteiligt werden müssen. Sie kön-
nen das, was Sie hier versprechen, nicht einhalten. Mög-
licherweise ist das Ihre Strategie.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Auf alle Fälle ist es nicht haltbar.
Es hieß immer: Wer aussteigt, muss sagen, wo er ein-

steigt. Die Ziele waren immer klar: eine sichere, eine
wettbewerbsfähige, eine umweltverträgliche Energiever-
sorgung. Jeder weiß heute, dass mit den regenerativen
Energien die Grundlastversorgung oder die Grund-
lastausstattung bei Strom, die jetzt weitgehend durch die
Kernenergie erfolgt, nie und nimmer hergestellt werden
kann. Das wird nicht möglich sein. Ihr 100 000-Dächer-
Programm, das Sie aufgelegt haben, ist Blendwerk. Mit
dem schaffen Sie nicht einmal 1 Prozent der Energiever-
sorgung. Mit dem leisten Sie überhaupt keinen Beitrag.
Kraft-Wärme-Kopplung, Windenergie und Biomasse
können Sie auf bis zu 10 Prozent ausbauen. Damit schaf-
fen Sie die für einen Industriestandort notwendige Grund-
versorgung beim Strom in keiner Weise. Ich warne Sie vor
Ihren Illusionen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Kommen Sie doch einmal zu Ihren Zukunftsvorstellungen! Sie machen alles nur mies!)


– Mit solchen Einwürfen, ich würde alles mies machen,
kann ich relativ wenig anfangen. Der Industriestandort
Deutschland braucht eine gesicherte Energieversorgung.
Wir können uns bei der Energieversorgung nicht auf ein
Lotteriespiel verlassen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Am Schluss bleibt der verstärkte Einsatz von Kohle,
Gas und Öl. Dies führt zu einem Anstieg der CO2-Men-gen, die ausgestoßen werden. Es ist zweifelsohne so, dass
die 150 bis 170 Millionen Tonnen an CO2-Ausstoß, diejetzt durch die Kernenergie eingespart werden, dann auf
andere Weise auftreten.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 60!)


15 Jahre lang erklärt uns Rot-Grün: CO2 ist das Pro-blem dieses Jahrhunderts und des nächsten auch noch.
Plötzlich ist es kein Problem mehr.


(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das nehmen wir immer noch ernst!)


Plötzlich ist es egal. Wenn man mit Ihren Leuten disku-
tiert, sagen die: Wir wissen, dass der CO2-Ausstoß vorü-bergehend ansteigt. Aber wie lange steigt er an und was ist
bei Ihnen „vorübergehend“? Dies wird die nächsten Jahr-




Staatsminister Dr. Otto Wiesheu
10442


(C)



(D)



(A)



(B)


zehnte der Fall sein, wenn Sie das realisieren können, was
Sie realisieren wollen. Ich glaube, dass die Entwicklung
Ihnen dabei noch einen Strich durch die Rechnung ma-
chen wird.

Sie leisten damit auch keinen Beitrag zur Sicherheit in
der Kernenergie. Darauf will ich gar nicht weiter einge-
hen, aber auf einen Punkt, der von Rot und Grün immer
bestritten wird: Der Strommarkt ist nicht mehr national
zu regeln. Der Strommarkt ist europäisch geregelt, ob es
Ihnen passt oder nicht. Wer heute meint, dass er den
Strommarkt noch national regeln kann, gehört zu den letz-
ten Nationalisten, die wir in diesem Lande haben. Wir
können den Strommarkt nicht mehr national regeln.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bayern!)


– Herr Trittin, der ist europäisch bestimmt. – Sie werden
dies auch nicht verhindern können. Fragen Sie doch bei
den Energieversorgern in Baden-Württemberg nach, wo-
her die Stromangebote kommen!


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist der Grund, warum die Bayern nicht unterschrieben haben, Herr Minister!)


Fragen Sie doch bei Yello-Strom nach! Fragen Sie doch
einmal bei den Vertretern der Energiewirtschaft aus Russ-
land, Tschechien oder anderen Ländern nach, die zu uns
kommen und Strom zu einem Preis von 2 Pfennig pro Ki-
lowattstunde anbieten! Ich möchte sehen, wie wir bei der
Stromverteuerung über das EEG und die anderen The-
men, die Sie auflegen, diesen Angeboten begegnen sollen.
Dann haben Sie keine sichere, keine preiswerte und auch
keine ökologische Energieversorgung mehr.


(Vo r s i t z : Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Machen Sie sich keine Illusionen: Die Aussage, dass
die Kraftwerke europäischen Standards entsprechen müs-
sen, ist natürlich richtig, aber tun sie das nicht? Mohovce,
Bohunice und das KKW in Tschechien lassen sich die Si-
cherheitstechnik von Siemens und den amerikanischen
Firmen liefern. Glauben Sie denn, dass Sie denen gegen-
über behaupten können, Sie würden die Sicherheitsstan-
dards nicht einhalten? Diese produzieren aber zu anderen
Kosten. Sie können im Rahmen des europäischen Ener-
giemarktes Energielieferungen aus diesen Ländern nicht
aufhalten. Bei uns kann jeder der Energiebezieher selber
entscheiden, welches Angebot er annimmt. Dann werden
wir die Kernkraftwerke bei uns stilllegen und Kernener-
giestrom aus anderen Ländern zwangsläufig beziehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411102900
Herr
Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Matschie von der SPD-Fraktion?


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411103000
Nur
dann, wenn es nicht zulasten meiner Redezeit geht.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Es geht nicht zulasten von ihr!)


– Es geht nicht zulasten von ihr. Dann bitte gern.


Christoph Matschie (SPD):
Rede ID: ID1411103100
Herr Minister, Sie haben
eben das Problem beschrieben, dass Strom in die Bundes-
republik importiert wird, und dies als Argument gegen un-
ser Ausstiegskonzept verwandt. Ist Ihnen eigentlich be-
kannt, dass Deutschland auch Strom exportiert und dass
der Saldo zwischen Export und Import im Moment posi-
tiv für die Bundesrepublik ist?


(Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Aber wir reden doch über die Zukunft!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411103200
Das ist
mir sehr wohl bekannt, weil wir von Bayern aus auch
Strom Richtung Österreich liefern, und zwar im Winter,
wenn es dort weniger Wasserstrom gibt. Im Sommer be-
ziehen wir diesen von dort mit. Das machen die Österrei-
cher, die sonst sehr gegen die Kernenergie sind, im Übri-
gen auch mit der Ukraine.
Sie beziehen auch von dort im Austausch Kernenergie-
strom.


(Horst Kubatschka [SPD]: Das geht technisch überhaupt nicht! – Walter Hirche [F.D.P.]: Natürlich geht das technisch!)


– Das geht technisch sehr wohl, weil die Gleichrichter-
kopplungen vorhanden sind. Die Stromnetze sind ge-
schlossen. Vielleicht sind Sie nicht auf dem aktuellsten
technischen Stand. Das geht sehr wohl und wird auch
praktiziert.

Meine Damen und Herren, es kommt noch etwas
hinzu; vielleicht hat man sich das nicht überlegt: Die
Kommunen müssen den Strom dort einkaufen, wo sie ihn
am billigsten bekommen. Wenn Herr Müller sagt, man
muss dafür sorgen, dass man Kernenergiestrom nicht aus
anderen Ländern nach Deutschland liefern kann, dann
muss ich Ihnen sagen, die Kommunen müssen ab einer
gewissen Einkaufsmenge ihre Bezüge europaweit aus-
schreiben. Wir müssen sie rechtsaufsichtlich veranlassen,
den Strom dort zu beziehen, wo er am günstigsten ist. Das
wird lustig. Da werden sich Ihre rot-grün regierten Kom-
munen arg freuen.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Was Sie machen, ist die Vernichtung einer vernünfti-
gen und guten Technologie, einer sicheren, preiswerten
und umweltfreundlichen Energieerzeugung, ist die Ver-
nichtung von Tausenden von Arbeitsplätzen, ohne dass
gleichwertige geschaffen werden. Das ist keine Energie-
politik. Das bedeutet für einen Energiestandort die Ver-
teuerung der Produktion und die Gefährdung von Ar-
beitsplätzen im Stahl-, Chemie-, Papier-, Glas-, Porzel-
lan-, Zement-, Zellstoff-, Aluminiumbereich und in vielen
anderen Bereichen. Reden Sie doch einmal mit den Ver-
tretern der IG Chemie, Bergbau und Energie, was die zu
dem Thema sagen! Reden Sie doch einmal mit den Be-
triebsräten in diesen Betrieben! Reden Sie doch einmal
mit den Leuten, die konkret mit den Themen konfrontiert
sind!

Ich freue mich immer, wenn Vertreter der SPD zur Por-
zellanindustrie gehen und sagen, der Strom muss billiger




Staatsminister Dr. Otto Wiesheu

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(C)



(D)



(A)



(B)


werden, und dann dafür stimmen, dass der Strom perma-
nent teurer wird. Meine Damen und Herren, Sie geraten
hier in einen Widerspruch und Zwiespalt, den Sie auf
Dauer nicht aushalten werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie sorgen dafür, dass sich Deutschland aus einer

wichtigen, weltweit relevanten Hochtechnologie abmel-
det. Bei über 400 Kernkraftwerken, die es weltweit gibt,
wird die Abschaltung der 19 in Deutschland keinen Bei-
trag zur Erhöhung der Sicherheit leisten. Im Gegenteil.
Sie wird einen Beitrag dazu leisten, dass wir uns aus der
weltweiten sicherheitspolitischen Diskussion ausblenden,
obwohl wir bisher die höchsten technischen Anforderun-
gen gestellt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Walter Hirche [F.D.P.])


Was das für diese Technologie bedeuten soll, ist mir
nicht klar. Ich kann nur eine Bilanz ziehen. Die Bundes-
regierung handelt hier leichtfertig. Das ist kein Beitrag zur
sicheren, preiswerten und umweltfreundlichen Energie-
versorgung. Das ist auch kein Beitrag zur Innovation. Das
ist nicht zu verantworten angesichts eines Industriestand-
ortes, wie wir ihn in Deutschland haben, der auf eine si-
chere und preiswerte Energieversorgung angewiesen ist.
Das ist nicht solide und seriös. Es trägt auch nicht lang.


(V o r s i t z : Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Es fällt zunächst noch gar nicht auf – das ist das Pro-
blem –, und zwar deswegen nicht, weil sichere und stabile
Grundlagen der Energieversorgung vorhanden sind.

Sie fragen: Wer will schon in den nächsten zehn Jahren
ein Kernkraftwerk bauen? Genau genommen will in den
nächsten zehn Jahren fast niemand ein großes Kraftwerk
bauen, weil der Park ausreicht. Deswegen glauben Sie,
sündigen zu können. Nur, das wird nicht lange halten.
Das, was hier gemacht wird, ist nichts anderes als Schar-
latanerie, weil man auf der Basis einer stabilen Grundlage
sündigt, aber keine Konzeption für die Zukunft hat.

Was Sie hier praktizieren, ist Genugtuung für politi-
sche Ideologie, aber keine Antwort auf die Fragen, die die
Praxis stellt. Deswegen sagen wir Nein zu diesem Kurs.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411103300
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Michaele Hustedt vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411103400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass Sie der
Konsens umtreibt, kann ich ja verstehen. Dass Sie für
Atomkraft sind, ist ehrlich. So ist das nun einmal. Aber es
ist verlogen, wenn Sie hier so tun, als ob Sie die Interes-
sen der Stromkonzerne vertreten.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Vorsicht! Das hat keiner getan!)


– Sie tun hier so, als ob Sie aufseiten der Stromkonzerne
stehen.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Der Verbraucher und der Wirtschaft! Das ist wichtig!)


Der selbst ernannte Freund ist in der Politik häufig der
größte Feind.

Herr Wiesheu, gerade Sie haben das heute wiederum
ziemlich deutlich gemacht. Ich freue mich schon darauf,
wie Sie an der Seite von Herrn Stoiber


(Horst Kubatschka [SPD]: Der Herr Waigel auch noch!)


organisiert in einer Bezugsgruppe vor dem Zwischenlager
XY in Bayern gegen die Zwischenlager demonstrieren.
Damit finden Sie sich vollständig auf der Seite der so ge-
nannten Verstopfer wieder – Seite an Seite mit der Anti-
AKW-Bewegung –, was Jürgen Trittin immer vorgewor-
fen wurde.

Herr Wiesheu, ich glaube nicht, dass Sie die Position,
in Bayern die meisten Atomkraftwerke in Deutschland zu
betreiben und gleichzeitig zu sagen, die Zwischenlage-
rung von Atommüll komme in diesem Land nicht in
Frage, sondern solle gefälligst in Niedersachsen oder in
Ahaus in Nordrhein-Westfalen passieren, politisch durch-
halten können. Das ist eine Position, die moralisch nicht
vertretbar und politisch nicht durchhaltbar ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich möchte Ihnen die Tatsache, dass Sie hier nur im ei-
genen Interesse und nicht im Sinne der wirtschaftlichen
Interessen der Stromkonzerne sprechen, mit einem klei-
nen Rückblick auf die Geschichte deutlich machen. Wer
hat denn die Idee des Energiekonsenses überhaupt erst
auf die Tagesordnung gebracht? Das war in den Jahren
1991/1992 – Herr Müller weiß das besser als ich – die
VEBA, die damals die Regierung Kohl aufgefordert hat,
einen Konsens zum geordneten Auslaufen der Atomener-
gie in Deutschland zu organisieren, und zwar mit der Be-
gründung, ein Betreiben einer Technologie, die nicht auf
Akzeptanz in der Bevölkerung stoße, sei auf Dauer auch
für die Stromkonzerne in Deutschland nicht akzeptabel.
Herr Kuhnt von RWE hat in den damaligen Gesprächen
deutlich gemacht, man setze auf ein geordnetes Auslau-
fen, solange diese Akzeptanz nicht gegeben sei.

Die Regierung Kohl hat damals diesen Konsens ver-
hindert. Es ist viel Zeit verschwendet worden, um diesen
Kompromiss in der Gesellschaft hinzubekommen. Es hat
jahrelange Grabenkämpfe bis hin zu bürgerkriegsähnli-
chen Zuständen gegeben. Jetzt haben wir diesen Kom-
promiss, der in den Jahren 1991/1992 von den Stromkon-
zernen selbst angestoßen worden ist.

Die Stromkonzerne haben aus wohlverstandenen wirt-
schaftlichen Interessen diesem Konsens zugestimmt. Sie
könnten ihr Geld auch anders als mit Atomkraft verdie-
nen. Andere Technologien, wie zum Beispiel moderne
Gaskraftwerke, rechnen sich im Wettbewerb wesentlich
besser, da sie wesentlich kürzere Amortisationszeiten und
eine größere Akzeptanz haben.




Staatsminister Dr. Otto Wiesheu
10444


(C)



(D)



(A)



(B)


Die Einzigen, die mit diesem Kompromiss nicht leben
können, sind anscheinend Sie. Sie stellen sich damit jen-
seits eines gemeinsamen Konsenses in der Gesellschaft.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Die ganze Wirtschaft hat das abgelehnt! Sie nehmen das einfach nicht zur Kenntnis, weil es für Arbeitsplätze schädlich ist!)


Deutlich wurde das auch dadurch, wie Sie sich im
Energiedialog verhalten haben. Da hat der Kollege Grill
verkündet, die CDU steige aus, am nächsten Tag saßen Sie
wieder in der Steuerungsgruppe. Da hat der Fraktionsvor-
sitzende Merz gesagt, die CDU sei ausgestiegen, am
nächsten Tag hat Frau Merkel verkündet, die CDU sei
weiter am Energiedialog beteiligt. Ich glaube, Sie sollten
sich einmal fragen, ob Ihre Pro-Atom-Haltung ohne Wenn
und Aber und Ihr Festhalten an der Atomenergie als Zu-
kunftstechnologie richtig sind, obwohl jeder weiß, dass
das eine Sackgassentechnologie des letzten Jahrhunderts
ist.

Ihre Haltung ist die Ursache dafür, dass Sie völlig am
Rande der Gesellschaft stehen und sich außerhalb jegli-
cher vernünftigen Debatte über die Zukunft der Energie-
versorgung befinden.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Denken Sie immer daran, dass solche Worte auf Sie zurückfallen können!)


Sie behaupten, die Bundesregierung habe kein Kon-
zept. Ich muss Ihnen sagen: Von allen Vorrednern der Op-
position, vor allem von Frau Merkel, habe ich außer
einem Bekenntnis zur Atomenergie kein einziges Wort
darüber gehört, wie denn aus Ihrer Sicht das Klima-
schutzziel zu erreichen ist.

Aus Ihrer Sicht wäre es logisch gewesen, den Bau von
neuen Atomkraftwerken vorzuschlagen. Ich habe auch
das nicht gehört. Sie wissen sehr wohl, warum Sie dieses
nicht vorschlagen: Sie würden weit und breit keinen In-
vestor finden, der sich in diesem Bereich betätigen würde.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Wenn ich ausreichend Kapazität habe, brauche ich doch auch nichts zu bauen! Ganz pragmatisch!)


Von Ihnen liegen auch keine anderen Vorschläge auf
dem Tisch. Das ist ein Oppositionsverständnis, welches
wir in der Tat so niemals vertreten würden. Ich glaube, die
Ursache dafür liegt darin, dass Sie Ihren Frieden mit dem
Atomkonsens nicht machen können. Diesen Konflikt –
mit Ihrer Pro-Atom-Haltung außerhalb der Gesellschaft
zu stehen oder mit uns zusammen in der Gesellschaft an
einem zukunftsfähigen Energieversorgungskonzept mit-
zuarbeiten – müssen Sie erst einmal klären und sich ent-
scheiden.

Die rot-grüne Regierung dagegen geht ihren Weg. Wir
haben nicht nur den Ausstieg beschlossen, wir haben auch
begonnen mit dem Einstieg in eine umweltverträgliche
Energieversorgung.

Das Gesetz für die erneuerbaren Energien, das welt-
weit ambitionierteste Förderprogramm für die erneuer-
baren Energien, wurde hier schon mehrmals genannt.

Selbstverständlich ist es nicht so, dass damit in fünf Jah-
ren 30 Prozent der Stromerzeugung erreicht werden kön-
nen. Aber gerade in der Industrie muss man mit Investiti-
onszeiträumen von 30 bis 40 Jahren rechnen. Das sind die
Planungshorizonte. Ich sage Ihnen: In 30, 40 oder 50 Jah-
ren werden wir auch in Deutschland 50 Prozent der Ener-
gieerzeugung aus erneuerbaren Energien, aus Wind, aus
Biomasse, aus Photovoltaik, aus Erdwärme haben.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das glauben Sie doch selber nicht!)


Selbstverständlich kann man nur mit regenerativen
Energien, durch einen geschickten Mix aus Biomasse, aus
Wind, aus Photovoltaik, dann auch aus Speicherstoffen
wie zum Beispiel Wasserstoff, auch die Grundlast sicher-
stellen. Es ist eine völlig irre Vorstellung, dass man ohne
Atomkraft die Grundlast nicht betreiben kann; das funk-
tioniert auch in dem Übergangszeitraum. Es gibt viele
hoch industrialisierte Länder, die ohne Atomkraft eine flo-
rierende Wirtschaft haben.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Die machen das dann mit Kohle! CO2 lässt grüßen in all diesen Län-dern!)


Malen Sie doch hier nicht den Beelzebub an die Wand!

(Walter Hirche [F.D.P.]: Das ist doch die Lage auf dieser Welt!)

Es geht auch ohne Atomenergie, es geht sogar besser als
mit Atomenergie.

Bevor wir das Solarzeitalter richtig eröffnen und damit
einen Anteil von 50 bis 100 Prozent erreichen, werden wir
eine Übergangsphase haben, in der wir auf die Energie-
einsparung setzen werden.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Sie können doch nicht durch ein 100 000-Dächer-Programm die Grundlast ersetzen! – Zuruf von der SPD: Das will doch keiner!)


Es wird eine Energieeinsparverordnung geben. Wir wer-
den außerdem ein Altbausanierungsprogramm auf den
Weg bringen, wo wir große Einsparpotenziale sehen, und
wir werden auch die hocheffiziente Nutzung fossiler
Energieträger vorantreiben, damit sie nicht verschwendet
werden, sondern damit mit ihnen sparsam umgegangen
wird. Das ist – es wurde bekanntlich schon mehrmals ge-
sagt – das Konzept der rot-grünen Bundesregierung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411103500
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Peter
Paziorek von der CDU/CSU-Fraktion.


Dr. Peter Paziorek (CDU):
Rede ID: ID1411103600
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Herr Matschie fragte uns als
Opposition: Was werfen Sie uns eigentlich vor? Unsere
Kritik an Ihrem Ausstiegskurs kann in einem Satz zusam-
mengefasst werden: Die Atomausstiegspolitik der rot-
grünen Bundesregierung ist politisch unverantwortlich




Michaele Hustedt

10445


(C)



(D)



(A)



(B)


und bezogen auf die bisherigen Positionen von Rot und
Grün auch in höchstem Maße unglaubwürdig.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wie unglaubwürdig Ihre jetzige Haltung ist, ergibt sich

schon daraus, dass seit der Gründung der Partei der Grü-
nen immer wieder die Sicherheit der deutschen Atom-
kraftwerke angezweifelt wurde. Die massiven Sicher-
heitsdefizite waren, wie Sie damals ja behaupteten, auch
Anlass für gewaltsame Auseinandersetzungen auf der
Straße.


(Monika Ganseforth [SPD]: Teilen Sie die?)

Nun aber sind die Kernkraftwerke laut Trittin so sicher,

dass sie noch 32 Jahre laufen können. Wenn sie so unsi-
cher wären, wie Sie es in der Vergangenheit immer be-
hauptet haben, dann hätten Sie sie sofort abstellen müs-
sen. Dass Sie das nicht getan haben, belegt doch, wie un-
glaubwürdig Ihre bisherigen Positionen waren.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411103700
Herr Kol-
lege Paziorek, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kol-
legin Hustedt?


Dr. Peter Paziorek (CDU):
Rede ID: ID1411103800
Gerne.


Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411103900

Herr Paziorek, Sie wollen sich ja hier mit Qualität an der
Debatte beteiligen.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Der führt sie ein! Nach Ihrer Rede ist es schon nötig, dass wir zur Qualität zurückkehren!)


Ist Ihnen entgangen, dass es einen Unterschied zwischen
Gesamtlaufzeiten und Restlaufzeiten gibt? Ist Ihnen
vielleicht auch entgangen, dass die durchschnittlichen
Restlaufzeiten 13 Jahre betragen und die Gesamtlaufzei-
ten 32 Jahre sind? Das heißt, da das letzte AKW vor un-
gefähr elf Jahren ans Netz gegangen ist, dass Sie diese elf
Jahre auch für das letzte AKWabziehen müssen. Ist Ihnen
entgangen – noch einmal die Wiederholung der Frage –,
dass es einen Unterschied gibt zwischen den Gesamt- und
den Restlaufzeiten? Das ist das kleine Einmaleins.


Dr. Peter Paziorek (CDU):
Rede ID: ID1411104000
Frau Hustedt, gehen
Sie davon aus, dass mir das nicht entgangen ist. Aber die
Kompliziertheit Ihrer Rechnung und die Kompliziertheit
Ihrer Darlegung zeigt doch, welche Schwierigkeiten Sie
haben, von Ihrer bisherigen Position abzurücken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Frau Hustedt, Sie haben doch gerade in Ihrer Rede

auch gefordert, die Union solle sich entscheiden. Deshalb
sage ich Ihnen noch einmal für die CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion ganz deutlich: Unsere Fraktion steht für die
friedliche Nutzung der Kernenergie und hält den von der
rot-grünen Bundesregierung ausgehandelten Ausstieg aus
der Kernenergie aus gesamtpolitischen, aus ökologischen
und aus wirtschaftlichen Gründen für einen Irrweg.

Die friedliche Nutzung der Kernenergie leistet näm-
lich ganz im Sinne des Leitbildes der nachhaltigen Ent-
wicklung einen bedeutsamen Beitrag für die Energie-
versorgung. Dieser Beitrag ist mittel- und längerfristig
notwendig, um eines der Ziele der Agenda 21 von Rio
umzusetzen. Eines dieser Ziele ist, die benötigte Ener-
gie unter größtmöglicher Schonung fossiler Energie-
quellen bei geringer Belastung der Erdatmosphäre zu er-
zeugen und zu nutzen. Von diesem Ziel rücken Sie in
unserem Lande – leider – ab, wenn Sie jetzt immer
mehr der stärkeren Nutzung der Steinkohle das Wort re-
den.

Der vereinbarte Atomkonsens ist eine schwere Nieder-
lage – das ist auch ganz wichtig – für den Forschungs- und
Entwicklungsstandort Deutschland. Durch den Atomaus-
stieg wird Deutschland international auf sicherheits-
technische Einflussnahme verzichten müssen. Dies wird
langfristig die deutsche Wettbewerbsfähigkeit auf diesem
speziellen Technologiegebiet beschädigen; denn die Wirt-
schaft eines Landes, das seine Kernkraftwerke abschaltet,
wird im Ausland Schwierigkeiten haben, zu erklären,
warum man gerade deren Sicherheitstechnik kaufen soll.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist in erster Linie auch ein großes ethisches Pro-

blem. Ich stelle nur die Frage: Ist es vertretbar, dass sich
gerade Deutschland mit seiner Sicherheitsphilosophie aus
der internationalen Diskussion verabschiedet? Ich meine
– kurz gesagt –: Nein, das ist ethisch unverantwortlich.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Der Bundeskanzler hat in seinen Ausführungen davon
gesprochen, der Union ginge es bei der Frage des Atom-
ausstiegs vielleicht um den Untergang des Abendlandes.
Darum geht es gar nicht. Aber bei dem Atomausstieg geht
es höchstwahrscheinlich um die Aufgabe der sicherheits-
technischen Führungsrolle Deutschlands in Europa. Dies
halte ich insgesamt für unverantwortlich.


(Monika Ganseforth [SPD]: Das ist doch wohl übertrieben!)


Der jetzige Kurs bedeutet in Wahrheit den Verlust von
Forschungs- und Entwicklungskompetenz in einer natur-
wissenschaftlichen Kerndisziplin. Wenn Sie den Mut ge-
habt hätten, dies Ihren Anhängern zu sagen, dann hätten
Sie einen verantwortungsvollen Weg eingeschlagen. Aber
bei allen Politikfeldern, die Sie im Augenblick beschrei-
ten, stellt man immer wieder fest: Der rote Faden Ihrer Po-
litik ist der Populismus.


(Horst Kubatschka [SPD]: Das ist ein Witz!)

Sie versuchen, mit geringstmöglichem Widerstand durch-
zukommen. Sie haben manchmal nicht den Mut, eine
schwierige Diskussion mit Ihrer Klientel zu führen. Das
muss ich Ihnen in aller Deutlichkeit vorwerfen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir werden durch den Atomausstieg langfristig von ei-

nem Exporteur zu einem Importeur von technischem
Know-how. Das wird uns langfristig international in die
Isolation führen.




Dr. Peter Paziorek
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(C)



(D)



(A)



(B)


Ein Wort zu den äußerst polemischen Aussagen von
Herrn Trittin, die er im Sinne einer Parteitagsrede ge-
macht hat, als er das Bild an die Wand malte, mit den
erneuerbaren Energien ließe sich die Atomenergie jetzt er-
setzen. Deutschland wird erhebliche Schwierigkeiten ha-
ben, Herr Bundesumweltminister, seinen Klimaschutz-
verpflichtungen nachzukommen. Die Eindämmung der
weltweiten CO2-Emissionen zur Stabilisierung des Welt-klimas ist die größte umweltpolitische Herausforderung
unserer Generation. In diesem Zusammenhang darf man
nicht nur auf das nationale Ziel 2005 verweisen. Schließ-
lich müssen wir auch noch das Ziel von Kioto – minus
12 Prozent – erfüllen. Die Reduktionspolitik muss nach
2005 weitergehen.


(Monika Ganseforth [SPD]: Das ist richtig!)

Deshalb frage ich: Meinen Sie wirklich, dass wir durch

den notwendigen Mix aus Energieeinsparung und ratio-
naler Energieanwendung tatsächlich den Wegfall der
Kernenergie – auch bezogen auf das Ziel 2012 – ausglei-
chen können?


(Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Wenn ich die Äußerungen des ehemaligen Umweltse-
nators von Hamburg, Herrn Vahrenholt, als Beispiel
nehme, der ausdrücklich davor warnt, zu glauben, dass
sich mit den erneuerbaren Energien 2005, 2010 oder
2015 die Kernenergie ersetzen ließe, und der damit zu
Recht die Frage aufwirft: „Wie realistisch ist das Errei-
chen des Reduktionsziels?“, dann finde ich es sehr trau-
rig, dass solche kritischen Stimmen in Ihrer Partei einfach
weggebügelt werden. Wenn Sie auf solche Stimmen ge-
hört hätten, dann hätten Sie auch mit einer Atompoli-
tik eine verantwortungsbewusste CO2-Reduktionspolitikmachen können. Aber Sie hören nicht auf solche Stimmen
und führen deshalb Deutschland auch in der internationa-
len Klimaschutzpolitik in eine Sackgasse.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Monika Ganseforth [SPD]: Sie hätten doch dieses Ziel auch mit der Atomenergiepolitik verfehlt!)


Eines wird auch in Ihrem Papier zum Energiedialog,
Frau Ganseforth, ganz deutlich: Es gibt keinen belast-
baren Energiekonsens. Es gibt keine aussagekräftigen
Zahlen und Rechnungen – es gibt nur allgemeine Aussa-
gen –, die belegen sollen, wie Sie mittelfristig die Kern-
energie durch erneuerbare Energien ersetzen wollen.
Auch das Papier zum Energiedialog gibt darauf keine
Antwort. Wenn Sie das Papier lesen, dann müssen Sie zu-
geben, dass Sie an diesem Punkt eine große inhaltliche
Schwachstelle haben.


(Monika Ganseforth [SPD]: Unseres ist ja auch anders! Effizienzsteigerung!)


Natürlich wird die Atomenergie jetzt im internationa-
len Bereich – wir haben den liberalisierten Strommarkt –
einen Kostenfaktor darstellen. Es wird eine spannende
Frage werden, wie Sie Atomstromtransporte vor dem
Hintergrund des EU-Rechts verhindern wollen. Herr

Matschie, wir haben Ihre Aussage hier gehört. Auch Herr
Müller hat gerade gesagt, er habe kein Interesse daran. Sie
sagen, es werde mit Ihnen keine rechtliche Regelung ge-
ben, die beinhaltet, dass zum Beispiel der EU-weite Im-
port von Atomstrom nach Deutschland verhindert wird.
Wenn Sie das so sagen, dann ist das der neueste Stand,
auch wenn wir andere Papiere aus Ihrer Umgebung ken-
nen. Ich bin einmal gespannt, wie Sie in den nächsten Jah-
ren verhindern wollen, dass deutscher Atomstrom durch
ausländischen Atomstrom tatsächlich ersetzt wird und
wie Sie das als einen Erfolg Ihrer Ausstiegspolitik ver-
kaufen wollen. Das wird nicht möglich sein und wir wer-
den es Ihnen nicht durchgehen lassen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Der Bundeskanzler hat davon gesprochen, uns gehe es
in Sachen des Endlager- und Entsorgungskonzeptes um
die Anwendung des Sankt-Florians-Prinzips. Ich will in
aller Deutlichkeit sagen: 1979, 1980 und 1990 haben
Bund und Länder vereinbart, gemeinsam ein Entsor-
gungskonzept über die verschiedensten Ebenen zu tra-
gen. Zwei Eckpunkte dieses Konzepts will ich nennen:
zum einen die Zwischenlagerung – dabei ist Ahaus ge-
nannt worden; das liegt im Münsterland, ganz in der Nähe
meines Wohnortes – und zum anderen langfristig die Fort-
setzung der Erkundung in Gorleben.

Sie müssen den Menschen hinsichtlich der Zwi-
schenlagerstandorte, egal ob es sich um Ahaus oder um
die neuen Standorte der dezentralen Konzepte handelt,
eine Antwort darauf geben, ob sie zu Recht befürchten,
dass aus den in ihrer Nähe liegenden Zwischenlagerstand-
orten langfristig doch verkappte Endlager werden, weil
Sie nicht den Mut haben, die Erkundungen in Gorleben
fortzusetzen.

Was bedeutet das Moratorium? Wenn Sie in diesem Pa-
pier an anderer Stelle sagen, Sie seien der Ansicht, dass
Gorleben zum heutigen Zeitpunkt tatsächlich nicht als si-
cher bezeichnet werden kann, dann frage ich Sie: Warum
erkunden Sie in Gorleben dann nicht weiter? Ich kann Ih-
nen die Antwort geben: Sie erkunden in Gorleben nur des-
halb nicht weiter, weil Sie dann Schwierigkeiten mit Ihrer
Anhängerschaft bekämen. Sie erkunden nicht deswegen
nicht weiter, weil Sie der Ansicht sind, Gorleben sei unsi-
cher. Sie erkunden nur deshalb nicht weiter, weil Sie nicht
den Mut haben, diese Frage mit Ihrer Anhängerschaft zu
diskutieren. Daran kann man erkennen, wie verantwor-
tungslos Sie in diesem Bereich Politik betreiben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411104100
Herr Kol-
lege, kommen Sie bitte zum Schluss.


Dr. Peter Paziorek (CDU):
Rede ID: ID1411104200
Danke schön, Herr
Präsident.

Abschließend sage ich: Kernenergie ist für uns keine
Auslaufveranstaltung. Die Union wird die friedliche Nut-
zung in jedem Fall weiterhin propagieren. Dies ist für uns




Dr. Peter Paziorek

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(C)



(D)



(A)



(B)


nämlich eine selbstverständliche Verpflichtung gegen-
über nachfolgenden Generationen; denn die Kernkraftop-
tion muss für sie offen gehalten werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411104300
Als
nächster Redner hat der Kollege Volker Jung von der
SPD-Fraktion das Wort.


Volker Jung (SPD):
Rede ID: ID1411104400
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Dass der Ausstieg aus der
Kernenergie nach diesem Energiekonsens kontrovers
bleiben wird, war absehbar und irritiert uns nicht beson-
ders. Allerdings ist die Situation neu, dass Drohungen von
unionsregierten Ländern im Raum stehen, bei der Errich-
tung von standortnahen Zwischenlagern nicht zu koope-
rieren. Nach meiner Auffassung ist das genau das Gleiche,
was Sie rot-grünen Landesregierungen jahrelang vorge-
worfen haben: Sie betrieben einen ausstiegsorientierten
Gesetzesvollzug. Wir werden in der Zukunft wahrschein-
lich darüber reden müssen, dass ein ausstiegsbehindern-
der Gesetzesvollzug betrieben wird, den wir nicht akzep-
tieren werden.

Wir werden das insbesondere deswegen nicht tun, weil
sich die Vereinbarung über den Ausstieg nach meiner
festen Überzeugung als unumkehrbar erweisen wird;
denn – der Bundeskanzler hat es hier gesagt und ich wie-
derhole es – seit über zehn Jahren denkt kein einziges
Energieversorgungsunternehmen in unserem Land mehr
daran, ein neues Kernkraftwerk zu bauen, nicht nur we-
gen der bekannten Akzeptanzprobleme, sondern insbe-
sondere auch wegen wirtschaftlicher Erwägungen. Man
befürchtet, dass neue Kernkraftwerke nicht wirtschaftlich
eingesetzt werden können. Diese Problematik wird auf
Dauer so bleiben, weil der liberalisierte europäische Bin-
nenmarkt das nicht zulassen wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Monika Ganseforth [SPD]: Das wollen die nicht wahrhaben!)


Darum betrachten wir es als einen großen Erfolg der
Bundesregierung, dass es jetzt gelungen ist, einen Kon-
sens über den Ausstieg aus der Kernenergie zu finden. Da-
mit ist ein klarer Auftrag der Wähler aus der Bundestags-
wahl 1998 eingelöst worden; denn unsere Bevölkerung
vertraut der Beherrschbarkeit dieser Technologie seit dem
Super-GAU in Tschernobyl und dem Beinahe-GAU in
Harrisburg nicht mehr.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es ist ein großer Erfolg, meine Damen und Herren,

dass die Elektrizitätsversorgungsunternehmen auf Ent-
schädigungsansprüche verzichten. Das gilt für die Lauf-
zeitbegrenzung der Kernkraftwerke, das gilt aber auch für
mögliche Pönalen aus der Wiederaufarbeitung – die
EVUs haben sich verpflichtet, alle zumutbaren Möglich-
keiten zu nutzen, um eine frühestmögliche Beendigung
der Wiederaufarbeitung sicherzustellen –, und das gilt

schließlich auch für die Investitionen in die Exploration
von Gorleben und Schacht Konrad.

Es ist auch ein Erfolg, dass mit der Definition von Rest-
strommengen, die übertragbar sind, der Einsatz von Kern-
kraftwerken optimiert werden kann, und zwar in die Rich-
tung „Neu für Alt“. Damit wird ein wesentlicher Beitrag
zur Sicherheit geleistet.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dieses Modell hat es dem RWE auch ermöglicht, die In-
betriebnahme von Mülheim-Kärlich jetzt zu den Akten zu
legen. Es ist in das Kontingent einbezogen, und damit
werden alle Schadenersatzansprüche obsolet.

Meine Damen und Herren, es ist auch ein Erfolg, dass
es jetzt regelmäßig Sicherheitsüberprüfungen geben
wird. Das ist einvernehmlich so festgelegt worden.

Es ist schließlich ein Erfolg, dass durch die Errichtung
standortnaher Zwischenlager die Zahl der Castortrans-
porte in der Zukunft ganz erheblich reduziert wird. Damit
haben wir Zeit gewonnen, und damit können wir ein trag-
fähiges Endlagerkonzept entwickeln, das der einzige Ent-
sorgungsweg werden soll.

Meine Damen und Herren, ich nehme die Hinweise
schon ernst, dass wir in der Zukunft ein schlüssiges Ener-
giekonzept brauchen. Ich habe verschiedentlich von einer
belastbaren Substitutionsstrategie gesprochen, damit wir
den Verzicht auf die Kernenergie ermöglichen und gleich-
zeitig unsere Klimaschutzziele weiter verfolgen können
und damit Arbeitsplätze am Standort Deutschland si-
chern.

Es geht um nicht mehr und nicht weniger als darum –
darin stimme ich durchaus mit Herrn Hirche überein –,
dass wir einen Anteil von mehr als 30 Prozent der Kern-
energie an der Stromerzeugung substituieren müssen, und
ich stimme mit Herrn Hirche auch darin überein, dass es
um einen Anteil der Kernenergie von mehr als 50 Prozent
an der Grundlaststromerzeugung geht. Das ist ein Pro-
blem, das wir hier nicht wegreden dürfen.

Ich finde aber, dass die Strategie gut vorgezeichnet ist.
Dazu hat der Energiedialog 2000, in dem eine ganze
Reihe von bemerkenswerten Übereinstimmungen gefun-
den worden ist, wesentliche Beiträge geleistet. Auf dieser
Grundlage soll nach Aussage des Bundeswirtschaftsmi-
nisters im Herbst ja auch ein Energiekonzept entwickelt
werden.

Ich meine, dass eine solche Substitutionsstrategie vier,
fünf Elemente beinhalten sollte. In der Diskussion wird
immer vergessen, dass mit der Kernenergie Überkapazi-
täten abgebaut werden können. Das steht zwar nicht in
dem Papier über den Energiedialog 2000, weil das Kapi-
tel Kernenergie als kontrovers ausgeklammert worden ist,
aber es wird von den EVUs heute so gesagt, dass es not-
wendig ist, in der Zukunft Kapazitäten stillzulegen. Das
ist ein Baustein.

Zweitens. Wir müssen die erneuerbaren Energie-
quellen wirksamer fördern. Dazu haben wir das Ge-
setz über erneuerbare Energien verabschiedet und das
100 000-Dächer-Solarprogramm auf den Weg gebracht.




Dr. Peter Paziorek
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(C)



(D)



(A)



(B)


Ich bin mir durchaus bewusst, dass diese erneuerbaren
Energieträger nur begrenzt im Grundlastbereich einge-
setzt werden können – bei der Wasserkraft sieht das etwas
anders aus –, aber das ist ein sehr wesentlicher additiver
Beitrag. Darum müssen wir vor allem Energie einsparen.
In diesem Sinne arbeiten wir mit Hochdruck an einer En-
ergieeinsparverordnung.

Ein wesentlicher Punkt ist meiner Meinung nach des
Weiteren, dass in der Zukunft die Kraft-Wärme-Kopp-
lung ausgebaut wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich verweise da auf einschlägige Studien, die im letzten
halben Jahr vorgelegt worden sind und in denen die Kraft-
Wärme-Koppelung als kostengünstigste Möglichkeit be-
zeichnet wird, gleichzeitig Energie zu erzeugen und die
CO2-Emissionen zu reduzieren. Ganz wichtig ist dabei,dass dieser Energieträger vorwiegend im Grundlastbe-
reich eingesetzt wird. Hier kommt tatsächlich eine Sub-
stitution zum Zuge.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir haben in diesem Zusammenhang das Soforthilfege-
setz verabschiedet, weil es ja keinen Sinn macht, meine
Damen und Herren, erhebliche Kapazitäten einer Ener-
gieform vom Netz gehen zu lassen, die wir in Zukunft
ausbauen wollen. Nach meiner Auffassung müsste diese
Regelung aber durch eine dauerhafte Ausbauregelung ab-
gelöst werden.

Wenn all diese Bausteine nicht ausreichend sein soll-
ten, um den entsprechenden Substitutionsbeitrag zu er-
bringen, dann werden wir konsequenterweise auch daran
denken müssen, hoch effiziente konventionelle Kraft-
werke neu zu bauen. Meine feste Überzeugung ist aber,
dass sich das nicht als notwendig erweisen wird.

Meine Damen und Herren, wenn wir alle diese Bau-
steine intelligent und flexibel kombinieren und daraus
eine Konzeption entwickeln, dann wird es uns gelingen –
davon bin ich fest überzeugt –, Kapazitäten zu verringern,
Arbeitsplätze am Standort Deutschland zu sichern und in
der Zuliefererindustrie zu vermehren und am Ende auch
unsere Klimaschutzziele zu erreichen.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411104500
Als
nächster Redner hat der Kollege Kurt-Dieter Grill von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Kurt-Dieter Grill (CDU):
Rede ID: ID1411104600
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte schon noch
einmal deutlich machen, dass es in der jetzigen Zeit nicht
die Hauptaufgabe ist, darüber zu diskutieren, welche
neuen Kapazitäten wir brauchen. Vielmehr müssen wir in
den nächsten fünf bis acht Jahren des ersten Jahrzehnts
dieses Jahrhunderts mit marktwirtschaftlichen Instrumen-
ten den Abbau der sonst immer so gescholtenen

Überkapazitäten vollziehen; auch Sie haben sie ja im-
mer beredt beklagt. In Wahrheit muss in Deutschland
nicht ein einziges Megawatt neuer Leistung installiert
werden, weil wir in Deutschland selbst genug Strom pro-
duzieren. Das ist das Entscheidende.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zustimmung bei Abgeordneten der SPD)


– Vor diesem Hintergrund können Sie sich aber nicht hier
hinstellen und sagen, Sie hätten zum einen ein Konzept –
das stimmt nicht, da Sie auf den Ausstieg nicht vorberei-
tet sind – und zum anderen sei es die wichtigste Aufgabe,
Neubauten zu errichten.


(Monika Ganseforth [SPD]: Das hat Herr Paziorek gesagt!)


Herr Trittin selber hat als Vertreter der Bundesregie-
rung Ende März, Anfang April dieses Jahres auf die Frage,
ob die erneuerbaren Energien die Kernenergie ersetzen
können – das vertreten Sie ja hier –, geantwortet, dass das
abwegig sei. Mit den von Herrn Trittin geschalteten An-
zeigen, in denen es heißt, nach der Kernenergie kommen
Wind, Wasser und was auch immer, zum Beispiel Solar,
versagen Sie schon wieder in der Sache und täuschen die
Bevölkerung ein weiteres Mal.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Herr Müller wird ja nicht müde, hier vorzutragen, wie
es sich in Dänemark und Österreich verhält. Herr Müller,
ich will dazu nur sagen: Die dänischen Werte beim CO2-Ausstoß liegen an der Spitze Europas, nämlich 14 Tonnen
CO2 pro Kopf und Jahr; das liegt insbesondere daran, dassdie Dänen mit Strom aus KWK für das stillgelegte Kern-
kraftwerk Barsebäck in Schweden Ersatz leisten. Das
schlägt sich in ihrer CO2-Bilanz mit 4 Millionen TonnenCO2 mehr jährlich nieder. Auch in der heutigen Debattehaben Sie keine Antwort darauf gegeben, welche Mengen
an CO2 durch Ihre Energiepolitik freigesetzt werden undwas das klimapolitisch bedeutet.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Noch etwas ist Ihnen vorzuwerfen: Sie stellen sich hier

hin und sagen: Dass keiner baut, hat etwas mit den Über-
kapazitäten zu tun. Ihr Bundeswirtschaftsminister hat
aber heute in der „Zeit“ ein Interview gegeben. Schon
letztes Jahr auf der kerntechnischen Tagung im Mai hat er
gesagt: Die deutschen Unternehmen können sich gerne
am EPR in Frankreich beteiligen. Heute lese ich in der
„Zeit“, dass er natürlich nicht ausschließe, dass wieder
Kernkraftwerke gebaut werden. Aus Ihren Äußerungen
zugunsten erneuerbarer Energien, für einen Wiederein-
stieg in die Kerntechnik und der Tatsache, dass der
Bundeskanzler an Stelle von Kernkraftwerken Kohle-
kraftwerke bauen will, ist kein schlüssiges Konzept zu er-
kennen. Sie veranstalten hier vielmehr einen Marsch in
die Sackgasse der Klimapolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ich will mich noch mit einem zweiten Punkt auseinan-
der setzen. Sie suggerieren – auch in der Antwort auf Frau
Merkel und mit dem, was der Bundeskanzler und Herr




Volker Jung (Düsseldorf)


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(C)



(D)



(A)



(B)


Trittin gesagt haben –, dass Gorleben und das gesamte
Entsorgungskonzept eine Angelegenheit der CDU/CSU,
von Helmut Kohl und von Angela Merkel, sei. Hören Sie
auf, die Menschen im Lande zu verdummen! Ernst
Albrecht musste die Zusagen von Alfred Kubel 1977 ein-
lösen, dass in Niedersachsen ein nukleares Entsorgungs-
zentrum gebaut wird. Das ist die Wahrheit. Was in Gorle-
ben steht, ist nicht die Folge der Politik von CDU/CSU,
sondern die Folge der Politik der Regierung Schmidt in
den 70er-Jahren. Das ist die Realität.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist ganz interessant, dass heute in diesem Haus zwei

Parteien die Mehrheit bilden, von denen die eine, nämlich
die Sozialdemokraten, durch ihre totale Technikgläubig-
keit in den 70er-Jahren die Basis für die Entstehung der
anderen Partei, der Grünen, als einer Protestbewegung ge-
gen die Politik der Sozialdemokraten in den 60er- und
70er-Jahren gelegt hat. Insofern beteiligen Sie sich an der
Bewältigung dessen, was die Sozialdemokraten in ihrer
Technik- und Machbarkeitsgläubigkeit in den 70er-Jahren
als Erbe hinterlassen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Dazu eine weitere Bemerkung. Wenn der Bundeskanz-
ler heute sagt, die CDU/CSU verweigere sich in der Ent-
sorgungsfrage, dann ist das so unglaublich verlogen, weil
Ernst Albrecht nicht danach gefragt hat, wer in jener Zeit
in Bonn regiert hat. Er hat vielmehr danach gefragt, wer
die Aufgaben wahrnehmen muss und wie man die Aufga-
ben wahrnehmen muss. Insofern müssen wir über die Ver-
gangenheit der SPD reden.

Wir müssen konstatieren: Sie malen das Bild eines
Konsenses an die Wand. In Wahrheit schaffen Sie neue
Konfrontationen. Sie schaffen zum Beispiel eine Kon-
frontation mit den Ländern, weil Sie wider den Geist der
Verfassung den Konsens mit den Ländern aufgeben und
den Dialog bewusst abgebrochen haben, ohne deutlich zu
machen, wie es ohne einen solchen Konsens weitergehen
soll.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Sie haben auch in grob fahrlässiger Weise die Kom-
munen aus der Willensbildung ausgenommen. Sie haben
diejenigen, die von Ihrer Politik betroffen sind – Sie sind
doch basisdemokratisch –,


(Zuruf von der CDU/CSU: Das waren sie!)

vollkommen aus der Diskussion gehalten. Hinter ver-
schlossenen Türen ist etwas ausgehandelt worden, was
nicht gesellschaftlicher Konsens sein kann, weil vier Un-
ternehmen der Strombranche und zwei Parteien miteinan-
der verhandelt haben. Aber das Volk, die Gesellschaft, die
Betroffenen und die Verantwortlichen an den Standorten
sind nicht an diesen Gesprächen beteiligt gewesen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Aus einer solchen Politik kann kein Vertrauen erwachsen.

(Zuruf der Abg. Monika Ganseforth [SPD])


– Frau Ganseforth, ich glaube, es wäre besser, wenn Sie
schweigen würden.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

In den letzten 20 Jahren haben Sie an allen Kernkraft-

werkstandorten sozusagen die Auseinandersetzung ge-
schürt. Weil meine Redezeit dafür nicht reicht, will ich
jetzt nicht aufzählen, was alles in diesem Zusammenhang
gelaufen ist. Aber einen Punkt will ich herausgreifen. Von
Griefahn bis Jüttner haben alle gesagt, dass Castoren-
Behälter unsicher seien und dass das Zwischenlager in
Gorleben unsicher sei. Wenn Sie jetzt sagen, diese Behäl-
ter seien sicher, können auf die grüne Wiese gestellt wer-
den und brauchen nur eine Betonhaube, dann handelt es
sich, schlicht und einfach gesagt, um eine verlogene Poli-
tik gegenüber den Bürgern, denen Sie gestern noch erzählt
haben, das sei die Politik der Union.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Walter Hirche [F.D.P.]: Weil das eine grüne Wiese ist, geht das!)


Ich möchte dazu noch einen Hinweis geben. Das Kon-
zept der Betonhauben haben wir schon 1980 in Gorleben
diskutiert. Ernst Albrecht hat es wegen mangelnder Si-
cherheitsvorsorge abgelehnt. Ich finde es nett, dass Sie
Konzepte akzeptieren, die Albrecht schon 1980 wegen
mangelnder Sicherheitsvorsorge abgelehnt hat. Diesen
Hinweis kann ich Ihnen nicht ersparen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will Ihnen sagen, worin für mich die Verlogenheit

Ihrer Politik liegt. Gerhard Schröder hat 1989 – damals
wollte er Ministerpräsident in Niedersachsen werden –
versprochen, dass in Gorleben eines Tages nur noch Kar-
toffeln gebuddelt werden. Sie haben die Ängste der Men-
schen für das Ziel instrumentalisiert, politische Macht zu
erringen, und nicht für das Ziel, die Sorgen der Menschen
abzubauen. Das ist das Entscheidende.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Sie haben Krieg inszeniert und gerieren sich jetzt als
Friedensstifter. Sie sorgen dafür, dass Ihre eigene Kriegs-
führung zu Ende geht. Aber Sie werden zum Schluss er-
klären müssen, warum das, was gestern falsch war, heute
richtig ist.

Ich könnte Ihnen das am Beispiel Schacht Konrad
nachweisen.


(Christoph Matschie [SPD]: Überlegen Sie, welche Worte Sie verwenden!)


– Herr Matschie, Sie haben keine Ahnung von der Sache.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411104700
Herr Kol-
lege, kommen Sie bitte zum Schluss.


Kurt-Dieter Grill (CDU):
Rede ID: ID1411104800
Ja, ich komme zum
Schluss. – Gerhard Schröder hat im Juni 1990 als Minis-
terpräsident erklärt, Schacht Konrad könne wegen man-
gelnder Sicherheit nie in Betrieb gehen. Am 13. Okto-
ber 1990 hat er Herrn Rau geschrieben: Selbstverständ-




Kurt-Dieter Grill
10450


(C)



(D)



(A)



(B)


lich stimmen wir dem schnellstmöglichen Bau eines End-
lagers für nicht wärmeentwickelnde Abfälle in Konrad
zu. – Nur ein halbes Jahr lag zwischen der Aussage „nicht
sicher“ und der Zustimmung zum Bau eines Endlagers.

Der entscheidende Unterschied zwischen Ihnen und
uns ist nicht das Ja oder Nein zur Kernenergie, sondern
der entscheidende Unterschied ist, dass wir gegenüber
den Menschen wahrhaftig waren, Sie aber nicht!


(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der F.D.P. – Lachen bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411104900
Das Wort
hat jetzt der Bundeswirtschaftsminister Werner Müller.

Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie: Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ren! Lieber Herr Grill, wenn ich Ihnen so zuhöre, wenn
ich das, was Sie sagen, mit den Dingen vergleiche, die im
Lande zu sehen sind, so ist das Einzige, was ich unter-
streichen kann, das Wort „wahrhaftig“. Sie haben wahr-
haftig eine energiepolitisch insgesamt desolate Lage hin-
terlassen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU – Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Das hätten Sie als Unternehmensvertreter nie gesagt! – Peter Hintze [CDU/CSU]: Das Sein bestimmt das Bewusstsein!)


Ich hoffe, dass es mir gelingt, Ihnen das deutlich zu ma-
chen, denn Energiepolitik ist etwas, was sich auf die lange
Frist richtet. Insofern würden wir insgesamt als Nation
besser fahren, wenn wir sie in den Grundzügen überpar-
teilich formulieren könnten. Wenn Sie sich dieser über-
parteilichen Formulierung entziehen, dann müssen wir
das eben allein machen. Aber Sie sind unverändert
eingeladen, sich in die Energiepolitik dieser Bundesregie-
rung mit einzuklinken, denn sie ist nicht unvernünftig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn ich allerdings von Herrn Paziorek höre, dass das
Überdenken von energiepolitischen Positionen, das Auf-
einanderzugehen dazu führe, dass man völlig unglaub-
würdig werde, wenn also beispielsweise jemand, der ei-
gentlich sofort aus der Kernenergie aussteigen will, aber,
um einen Konsens zu erzielen, um energiepolitisch vor-
wärts zu kommen, sagt: „Gut, dann steigen wir einen Mo-
ment später aus“,


(Zuruf von der CDU/CSU: Einen Moment? – Heiterkeit bei der CDU/CSU)


von Ihnen mit der Behauptung angeprangert wird, er
werde völlig unglaubwürdig, dann ist mir völlig klar,
warum Sie bewegungslos auf einer Position verharren
und jedwede Konsensüberlegung von vornherein ableh-
nen,


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das sind Fundis!)


in der völlig falschen Hoffnung, Sie würden dadurch
glaubwürdig.

Wer in diesem Lande eine Energiepolitik betrieben hat,
die, wenn ich das einmal in aller Nüchternheit sagen darf,
20 Jahre lang den Ausstieg aus der Kernenergie systema-
tisch vorbereitet hat, kann sich doch nicht hier hinstellen
und sagen: Erstens sind wir 2002 wieder dran – diese Hy-
pothese lassen wir einmal weg –, und zweitens machen
wir im Jahre 2002 die große Kernenergiezukunft. – Ich
will Sie einmal daran erinnern, dass in der Amtszeit der
Regierung Kohl kein einziges Kernkraftwerk bestellt
wurde,


(Zuruf von der CDU/CSU: Weil kein Antrag gestellt wurde!)


mit dem Ergebnis – Sie reden immer über die Export-
fähigkeit –, dass zum Ende der Amtszeit Kohl die Firma
Siemens ihre Nukleartechnik nach Frankreich einge-
bracht hat.


(Zuruf von der CDU/CSU: Warum wohl?)

– Warum? Weil in der Amtszeit der Regierung Kohl eine
Energiepolitik betrieben wurde, die in jeder Beziehung
nicht sachgerecht war.


(Zuruf von der CDU/CSU: Grill war um drei Klassen besser!)


Wenn Sie wirklich an der Zukunft der Kernenergie Inte-
resse gehabt hätten – wider die große Mehrheit des Vol-
kes –, dann hätten Sie nicht den Brüter stillgelegt, dann
hätten Sie nicht den Hochtemperaturreaktor stillgelegt,
sondern dann hätten Sie für Neubauten von Kernkraft-
werken gesorgt, dann hätten Sie für ein anständiges Ent-
sorgungskonzept gesorgt, und schlussendlich hätten Sie
auch Wackersdorf nicht stillgelegt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Walter Hirche [F.D.P.]: Bei ausreichenden Kapazitäten baut man nicht zu!)


Wackersdorf, lieber Herr Wiesheu, ist nicht von der Wirt-
schaft stillgelegt worden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Doch! – Walter Hirche [F.D.P.]: Selbstverständlich! – Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Sie reden wider besseres Wissen!)


Ich war bei den Verhandlungen dabei. Wackersdorf ist
stillgelegt worden, weil der bayerische Ministerpräsident
die Erteilung von Baugenehmigungen verweigert hat.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Nein, Herr Müller, das stimmt nicht! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


– Es ist vieles Geschichtsklitterung, was Sie hier betrei-
ben. Ich will Ihnen sagen: Das Thema Kernenergie ist in
den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit für das vorbereitet
worden, was jetzt zu Papier gebracht worden ist, nämlich
für einen geordneten Ausstieg. Ich halte es für sehr be-
merkenswert, dass Sie die Stromwirtschaft vorher dahin
gehend beeinflussen wollten, dass sie sich nicht in autono-
mer Entscheidung mit der Bundesregierung auf einen
geordneten Ausstieg verständigt. Der Stromwirtschaft




Kurt-Dieter Grill

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(D)



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vorzuwerfen, sie wäre erpresst worden, ist also geradezu
aberwitzig.


(Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Das werfen wir nicht der Stromwirtschaft vor, sondern Ihnen! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Das hat sie doch selber gesagt!)


– Die Stromwirtschaft hat nie gesagt, sie sei erpresst wor-
den. Die Stromwirtschaft hat Sie, die CDU/CSU, aufge-
fordert, diesen Vereinbarungen zuzustimmen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich kann mich dieser Aufforderung nur anschließen, will
allerdings hinzufügen: Sie müssen sich nicht erpresst
fühlen, dieser Aufforderung nachzukommen; es geht in
diesem Punkt tatsächlich auch ohne Sie.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe gesagt, Sie haben eine energiepolitische Bau-
stelle hinterlassen, weshalb wir zunächst einmal einiges
begradigen müssen.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wenn das Trittin sagt, habe ich Verständnis dafür, aber wenn Sie so etwas sagen, kann ich das nicht nachvollziehen!)


– Warten Sie doch ab; ich will Ihnen gerade die Trümmer
auf der Baustelle vorführen.

Sie beschweren sich darüber, dass man nicht genau
weiß, was man mit Stromimporten nach Deutschland,
namentlich mit Kernenergiestrom aus Frankreich und aus
Osteuropa, macht. Die damalige Opposition hat das
Energiewirtschaftsgesetz nicht gemacht; das haben Sie
gemacht! Sie haben zugelassen, dass es möglich ist, dass
kein deutsches Unternehmen Strom nach Frankreich, aber
Frankreich beliebig Strom nach Deutschland exportieren
kann.


(Beifall bei der SPD – Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht, Herr Müller! Das ist die Unwahrheit! – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist unter Ihrem Niveau!)


– Das ist nicht die Unwahrheit, sondern das ist der heutige
Zustand und der ist in Ihrem Gesetz verankert. Das ist ei-
ner der Trümmer in diesem Gesetz.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Das ist, positiv gesagt, selektive Wahrnehmung!)


Ich will Ihnen einen zweiten Trümmer nennen. Wie
kann man eigentlich ernsthaft ein Gesetz machen, mit
dem der deutsche Strommarkt in den Wettbewerb entlas-
sen wird, aber um Ostdeutschland ein Schutzzaun gelegt
wird, damit Ostdeutschland jahrelang um etliche Pfennige
höhere Strompreise zu zahlen hat und den Stromwettbe-
werb nur im Fernsehen verfolgen kann?


(Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Das ist doch falsch!)


Was ist denn das für ein Gesetz?

(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411105000
Herr Bun-
desminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Grill?

Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie: Ja.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411105100
Bitte
schön, Herr Grill.


Kurt-Dieter Grill (CDU):
Rede ID: ID1411105200
Herr Bundeswirt-
schaftsminister, ist Ihnen erstens bekannt, dass RWE
kürzlich einen Stromliefervertrag über 100 Gigawattstun-
den mit einer Papierfabrik in Frankreich, sinnigerweise
im Wahlkreis des Energiestaatssekretärs im französischen
Wirtschafts- und Finanzministerium, abgeschlossen hat?

Zweitens. Warum sind Sie eigentlich der Meinung,
dass die Schutzklausel für die VEAG so falsch ist? Das
war doch die einzige Möglichkeit, die VEAG in diesem
Wettbewerb am Leben zu erhalten!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich denke, Sie sollten uns in Anbetracht dessen, was Sie
selber verkündet haben, einmal darlegen, wie die VEAG
in dem Wettbewerb, den Sie jetzt hier anmahnen, hätte er-
halten werden können.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es! Richtig!)


Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie: Was das Thema Stromexport nach
Frankreich anbelangt: Den einen angesprochenen Ver-
trag kenne ich. Ich war selbst am Zustandekommen betei-
ligt und habe EDF gebeten, in diesem Falle ein Auge zu-
zudrücken.


(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Denn nach den Regeln der EDF ist das noch immer nicht
möglich. Aber das hat mit dem Thema nichts zu tun.

Ich will Ihnen sagen, welchen Fehler Sie im Energie-
wirtschaftsgesetz gemacht haben. Die Frage der Rezi-
prozität ist eine überaus wichtige Frage. Sie haben für die
Reziprozität die falsche Institution eingesetzt, die darüber
entscheiden soll.


(Zuruf von der SPD: Richtig!)

Deswegen haben wir den Zustand, dass wir in etliche Län-
der nicht exportieren können, dass aber nach Deutschland
beliebig importiert werden kann. Das ist der erste Punkt
und den nenne ich einen Trümmer auf der Baustelle.


(Zuruf von der SPD: So ist es!)

Sie sprachen von der VEAG. Es ist gut, dass Sie dieses

Thema erwähnen. Denn wir haben, um die VEAG zu sta-
bilisieren, unendlich viel Arbeit zu leisten, weil Sie bei-
spielsweise die in diesem Bereich vorgenommene Priva-
tisierung so gestaltet haben, dass Sie für die Bergarbeiter
und die Stromwerker Ostdeutschlands in keiner Weise
eine gesicherte Perspektive in den Kaufvertrag hineinge-




Bundesminister Dr. Werner Müller
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(B)


schrieben haben. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass in
Ostdeutschland irgendwie ein Mindestniveau an Verstro-
mung festgeschrieben wird.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt doch nicht!)


Wenn man die Verträge so exekutierte, wie Sie sie gestal-
tet haben, dann könnte die VEAG morgen nur noch als
Netzbetrieb agieren. All das müssen wir begradigen. Auch
das ist eine Baustelle, Herr Grill, die von Ihrer Partei hin-
terlassen worden ist.

Ich will Ihnen die nächste nennen: Sie haben im Be-
reich der Steinkohle mit den Vertretern des Bergbaus ei-
nen öffentlichkeitswirksamen Vertrag abgeschlossen, ha-
ben aber die Mittel, die Sie dem Bergbau zugesagt haben,
nicht einmal richtig in die Haushalte eingestellt – da be-
gann das Problem –, wissend, dass diese Regelungen auf
europäischer Ebene nur noch kurzfristig abgesichert sind.
Sie haben nichts dazu getan, um irgendeine Nachfolgere-
gelung für den EGKS-Vertrag auf die Reihe zu bekom-
men.

Eine weitere echte Baustelle, die wir vorgefunden ha-
ben, war, dass Sie zwar ein bestimmtes CO2-Einsparzielformuliert haben – das war grundsätzlich richtig –, aber
keine Maßnahmen dahin gehend getroffen haben, dass die
Strukturen der Energiewirtschaft so verändert werden,
dass dieses Einsparziel bis zum Jahre 2005 auch wirklich
erreicht werden kann.

Die einzige Einsparung, die in Ihrer Amtszeit erzielt
wurde, war durch den Rückgang der Zahl der großen
Kombinate und die Restrukturierung der Energieversor-
gung in Ostdeutschland zustande gekommen. Bei den
westdeutschen Energieversorgungsstrukturen ist nichts
dafür getan worden, dass eine wirkliche CO2-Einsparungin Richtung des bis zum Jahre 2005 versprochenen Zieles
erreicht wird. Ich möchte hinzufügen, dass das bis zum
Jahre 2005 angestrebte Ziel nur eine Durchgangsstation
ist. Wir werden bis zum Jahre 2020 weitaus größere Ein-
sparziele erreicht haben müssen. Das ist, so glaube ich,
parteiübergreifend in den Klima-Enqueten früherer Re-
gierungen festgestellt worden.

Angesichts dessen, dass bis 2020 etwa 40 Prozent der
CO2-Emissionen eingespart werden sollen, will ich daraufhinweisen, dass das weit mehr ist, als dazu die Kernener-
gie einen Beitrag leistet. Die Kernenergie leistet einen
Beitrag in Höhe von 10 Prozent zur deutschen Energie-
versorgung. Wenn Sie 40 Prozent der CO2-Emissioneneinsparen wollen, müssen Sie eine richtige Effizienzrevo-
lution hinbekommen.


(Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: 10 Prozent ist doch etwas! – Walter Hirche [F.D.P.]: Das ist doch nicht strittig!)


Sie müssen ein zunehmendes Wirtschaftswachstum mit
einem sinkenden, nicht mit einem konstanten Energiever-
brauch erreichen. Dafür müssen wir die erforderlichen
Strukturen festlegen.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Eben!)

Dies ist während Ihrer Amtszeit nicht erfolgt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir müssen jetzt beispielsweise eine Energieeinspar-
verordnung vorlegen. Denn ein Problem habe ich: Sie
können nicht immer alles dem Strom anlasten. 70 Prozent
der Primärenergie dienen nicht der Stromerzeugung. Dort
also liegen die großen Einsparpotenziale. Deswegen müs-
sen wir uns namentlich um die Themen Verkehr und
Raumwärmebereitstellung kümmern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dort brauchen wir – ich sage das noch einmal – eine Effi-
zienzrevolution. Das Thema Kernenergie erledigt sich
en passant.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Das glauben Sie!)

Eines will ich noch betonen: Wir stehen unter keinem

hohen Zeitdruck, weil sich das Thema Kernenergie, be-
triebswirtschaftlich gesehen, in einem im Hinblick auf die
Unternehmen schadensfreien Prozess erledigen wird.

Übrigens, Herr Paziorek, es ist nicht sehr schwer nach-
zurechnen: Wir sprechen von 32 Jahren Gesamtlaufzeit.
Sie dürfen nicht immer von 32 Jahren Restlaufzeit spre-
chen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn Sie von dieser Gesamtlaufzeit 20 Jahre abziehen,
kommen Sie auf das richtige Ergebnis; nur damit sich nie-
mand erschreckt angesichts dessen, was Herr Paziorek so-
eben festgestellt hat.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Bei der Mengenlehre nicht dabei gewesen! Kreide holen!)


Während dieses Prozesses wird die Kernenergie auslau-
fen. In den nächsten zwei, drei oder vier Jahren wird
Kernenergieleistung nicht nennenswert vom Netz gehen.

Das heißt, wir haben jetzt die Chance, das, was wir im
Energiedialog versucht haben zu verwirklichen, nämlich
uns eine Energieversorgungsstruktur des Jahres 2020 vor-
zustellen – diese ist in ihren Konturen vorgegeben, weil
sie enorm CO2-sparend sein muss –, umzusetzen und ge-meinsam Schritte festzulegen, wie wir uns Jahr für Jahr zu
diesem Ziel hin entwickeln.

Den Versuch eines Energiedialoges habe keineswegs
nur ich, sondern hat auch der Vorsitzende des Forums Zu-
kunftsenergien, Herr Breuer von der Deutschen Bank, ge-
meinsam mit mir veranstaltet. An diesem Energiedialog
haben mehrere Gewerkschaftsvorsitzende, etliche Unter-
nehmer, die alle Arten der Energie vertraten, nämlich
Kohle, Öl und Gas, und die Kraftwerke und Windräder
bauen, Umweltverbände und Vertreter der Parteien teilge-
nommen. Ich halte es schon für bemerkenswert, dass Sie
bis zur Formulierung des Abschlussberichtes sehr kon-
struktiv mitgearbeitet haben. Ich beklage mich darüber
nicht, sondern bedanke mich ausdrücklich dafür. Nur,
nachdem Sie den Abschlussbericht mit formuliert haben –
Herr Hirche weiß das; er hat zusammen mit Herrn Grill ei-
nige kritische Punkte eingebracht –, zum Schluss, als die-
ser Bericht veröffentlicht werden sollte, zu sagen: „Wir
steigen jetzt aus“, das ist ein etwas komisches Verhalten.
Das zeugt nicht davon, dass man wirklich gemeinsam an




Bundesminister Dr. Werner Müller

10453


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(A)



(B)


diesen großen Zukunftsaufgaben arbeiten will. Deswegen
appelliere ich noch einmal an Sie: Arbeiten Sie an diesen
großen Aufgaben mit! Die Aufgaben sind weit größer als
etwa die Diskussion des Themas Kernenergie.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Zum Thema Kernenergie will ich deutlich sagen: Es

geschieht niemandem irgendein Schaden. Auch die Kom-
munen sind nicht ausgeschlossen worden. Vielmehr ha-
ben wir von den kommunalen Eigentümern von Kern-
kraftwerken den klaren Satz gehört, man wolle durch die
Miteigentümer vertreten werden. Was Sie vielleicht stört,
ist, dass außer Ihnen mit Ihrer parteipolitischen Denke alle
mit dieser Regelung zufrieden sind. Deswegen werden
wir an dieser Regelung festhalten und sie auch umsetzen.
Wir werden entsprechende gesetzliche Regelungen ver-
einbaren.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411105300
Herr Bun-
desminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Hirche?

Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie: Ja.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411105400
Bitte
schön, Herr Hirche.


(Abg. Walter Hirche [F.D.P.] wartet darauf, dass das Mikrofon eingeschaltet wird und die rote Lampe aufleuchtet)


Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie: Haben Sie keinen Strom?


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)



Walter Hirche (FDP):
Rede ID: ID1411105500
Mit dem roten Saft ist es bei
mir so ein Problem.

Herr Müller, Sie haben eben gesagt, es seien alle zu-
frieden. Was sagen Sie denn zu der Presseerklärung der
Stromkonzerne, die sagen, sie hätten die Vereinbarung
getroffen, weil nur so der störungsfreie Betrieb der Kraft-
werke und die Entsorgung zu gewährleisten seien?
Bedeutet nicht diese Pressemitteilung, dass hier eine
Nötigungssituation vorgelegen hat und sich die Kraft-
werksbetreiber dann in dieser Nötigungssituation ratio-
nal verhalten haben?


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie: Von einer Nötigungssituation, die Sie
hier unterstellen, habe ich – das habe ich schon einmal ge-
sagt – auch durch Inaugenscheinnahme der Verhandlun-
gen über zwei Jahre nichts beobachten können. Die Her-
ren haben dort in keiner Weise bedroht gesessen. Sie ha-
ben nach einer halbstündigen Klausur gesagt, sie machen
diesen vorbereiteten Text gerne mit.


(Lachen bei der CDU/CSU)


Sie haben ihn paraphiert und in der Presse den Wunsch
geäußert, dass CDU und CSU – vielleicht haben sie sogar
auch die F.D.P. erwähnt – dieser Vereinbarung zustimmen
und sie als Opposition mittragen. Das würde ich von
jemandem, der erpresst worden ist, nicht erwarten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe schon einmal gesagt: Wenn hier Druck aus-
geübt wurde, dann durch die briefliche Warnung an die
Stromwirtschaft, sich mit der SPD und den Grünen nicht
auf irgendetwas zu verständigen. Allerdings war der Hin-
weis, sonst werde man sich in zwei Jahren, wenn man
wieder am Ruder sei, rächen,


(Joachim Poß [SPD]: So sind sie nun einmal, nicht nur in dieser Frage!)


nicht so furchtbar wirkungsvoll. Das werden wir alles
Ende 2002 sehen.


(Joachim Poß [SPD]: Vom kriminellen Sumpf bis zur Erpressung – alles bei der Union vorzufinden!)


Insgesamt ist energiepolitisch in den letzten zwei Jah-
ren viel erreicht worden. Ich will mit einem Thema be-
ginnen, das Ihnen auch nicht sehr lieb ist. Aber Sie haben
es mit erfunden. Wir müssen, wenn wir Energie einsparen
wollen, peu à peu eine pretiale Lenkung einführen. Das
Thema Ökosteuer ist auch unter diesem Gesichtspunkt
zu sehen. Es geht nicht nur um die Finanzierung der Ren-
ten, sondern auch um eine ökologische Steuerung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Ja, wie denn?)


Wir haben beim Strom in Bezug auf den Wettbewerb
das erledigt, was Sie noch nicht gemacht hatten, nämlich
eine Marktzugangsverordnung, und zwar nicht auf der
Basis staatlicher Regulierung, sondern auf der Basis einer
freiwilligen Verbändevereinbarung. Erst danach ist
Wettbewerb möglich geworden. Sie könnten sich viel-
leicht sogar freundlicherweise dem Satz anschließen: Gel-
ben Strom gibt es erst seit Rot-Grün.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Erst beklagen Sie die Liberalisierung – –)


– Ich beklage die Liberalisierung nicht. Ich beklage, dass
man Liberalisierung ins Gesetz schreibt und im Umfeld
nichts regelt, beispielsweise nicht, wie das Stromeinspei-
sungsgesetz weiterlaufen soll, wenn der Strompreis sinkt.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Richtig!)

Deswegen war dies das Nächste, was wir novellieren
mussten. Ich beklage, dass man die Finanzierung der
Kommunen nicht geregelt hat. Deswegen mussten wir
eine Änderung der Konzessionsabgabenverordnung vor-
nehmen. Hätten wir dies nicht getan, müssten die
Kommunen heute einen Einnahmeausfall von 5 Milliar-
den DM hinnehmen. All das sind die mehr oder weniger
großen Trümmer, die Sie hinterlassen haben.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Von der früheren Regierung wurden die entscheidenden Weichenstellungen vorgenommen!)





Bundesminister Dr. Werner Müller
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(C)



(D)



(A)



(B)


Wir haben die Förderung der erneuerbaren Ener-
gien auf völlig neue Füße gestellt. Wir haben die Mittel
dafür insgesamt pro Jahr verzehnfacht. Wir haben auch
ein Gesetz zur Energieeinspeisung erneuerbarer Energien
verabschiedet, das es ermöglicht, die Einspeisung pro-
zentual zu verdoppeln. Vorher wurden lediglich Wind-
mühlen gebaut; das war auch gut. Jetzt aber haben wir den
Bereich der Förderung so ausgeweitet, dass die Nutzung
aller regenerativen Energien, von der Photovoltaik bis zur
Biomasse, angereizt wird. Und nach unseren Beobach-
tungen zeitigt dies auch Erfolge.

Des Weiteren haben wir in dem bereits zitierten Ener-
giedialog einige Grundsätze festgelegt, auf denen wir im
Herbst unser Energieprogramm aufbauen werden. Ich
würde mich freuen, Herr Hirche, wenn die Zustimmung
seitens der F.D.P. bestehen bliebe. Die CDU ist dazu un-
verändert aufgerufen.

Wir haben auch für den GasmarktVorbereitungen ge-
troffen. Wir werden in absehbarer Zeit eine Vereinbarung
seitens der Verbände haben, damit auch der Zutritt zum
Gasmarkt geregelt ist und auch in diesem Bereich der
Wettbewerb eingeführt werden kann. Allerdings bleibt
abzuwarten, in welcher Größenordnung wir die EU-
Richtlinie umsetzen. Nach den letzten Recherchen habe
ich nämlich festgestellt, dass niemand rund um Deutsch-
land den Gasmarkt zu 100 Prozent liberalisieren will. Wir
hatten dies bisher vor. Wir müssen also prüfen, ob wir bei
unserem Vorhaben bleiben oder ob wir uns den übrigen
Ländern in Europa anschließen wollen.

Ich kann verstehen – das darf ich abschließend sagen –,
dass Ihnen die heutige Debatte über die Kernenergie
nicht so richtig passt. Es ist nämlich etwas gelungen,
woran Sie jahrzehntelang vergeblich gearbeitet haben,
nämlich einen Streit in der Bevölkerung so zu befrieden,
dass die Industrie feststellt: „Uns entsteht kein Schaden“,
dass der kernenergiekritische Teil der Bevölkerung sagt:
„Damit können wir leben“ und der sonstige energiewirt-
schaftliche Sachverstand im Lande zu dem Schluss
kommt: „Das ist nicht unvernünftig“. Auf dieser Basis
werden wir weitermachen.


(Beifall bei der SPD)

Es gilt unverändert meine Bitte an die CDU zu überle-

gen, ob sie bei den Grundlinien der Energiepolitik nicht
doch zu einer konstruktiven Haltung zurückkehren
möchte, etwa in dem Sinne, wie es im Energiedialog an-
gelegt war, und nicht zu kneifen, wenn sie gemeinsam mit
der jetzigen Regierung ein Papier unterschreiben soll. Sie
sind aus dem Energiedialog doch nur deshalb ausge-
stiegen, weil Sie zurzeit in vielen Bereichen Opposition
nur um der Opposition willen betreiben, koste es, was es
wolle.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist billig!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411105600
Ich
schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/3507 und 14/3667 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie die Zusatz-
punkte 4 bis 6 auf:

4. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in
Feira am 19./20. Juni 2000

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula
Lötzer, Rolf Kutzmutz, Angela Marquardt, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
E-Europe: die europäische Informationsgesell-
schaft sozial und demokratisch gestalten
– Drucksache 14/3623 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien

ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Europäische Lebensmittelbehörde nach
Deutschland
– Drucksache 14/3669 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Guido
Westerwelle, Detlef Parr, Hildebrecht Braun

(Augsburg), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion der F.D.P.
Europäische Lebensmittelbehörde nach Bonn
holen
– Drucksache 14/3300 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411105700
Herr Prä-
sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Eu-
ropäische Rat in Feira hat letzte Woche die europäische
Einigung vorangebracht. Das gemeinsame europäische
Haus wächst. In Feira haben wir einen weiteren Bauab-
schnitt fertig gestellt und uns neue Ausbaupläne vorge-
nommen.




Bundesminister Dr. Werner Müller

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(D)



(A)



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Die Bundesregierung hat im Ecofin-Rat dem Beitritt
Griechenlands zur Euro-Zone zum 1. Januar 2001 zu-
gestimmt. Aus der Euro-11-Gruppe wird dann die Euro-
12-Gruppe. Der griechische Finanzminister wird bereits
am nächsten Treffen der Gruppe teilnehmen. Griechen-
land hat auf einem langen und schwierigen Weg einen er-
folgreichen Konvergenzprozess hinter sich. Dazu kann
man Griechenland nur gratulieren. Ich freue mich, dass
Griechenland mit seiner langen Geschichte und seinem
großen Beitrag, den es zur europäischen Kultur geleistet
hat, Mitglied der Euro-Zone wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU])


Sie sehen daran übrigens, welche Stabilitätsgemein-
schaft die Euro-Zone inzwischen ist. Vor zehn Jahren
hätte sich niemand vorstellen können, dass Griechenland
und viele andere Länder in so kurzer Zeit von hohen In-
flationsraten und hohen Zinsen herunterkommen und das
Staatsdefizit ganz konsequent begrenzen. Deswegen sage
ich: Wir haben allen Grund, Griechenland zu diesem Er-
folg zu gratulieren. Aber natürlich darf es in seinen An-
strengungen nicht nachlassen. Das erwarten wir gerade
jetzt, da es nun der Gemeinschaft der Euro-Länder an-
gehören wird. Großes Kompliment an Griechenland,
verbunden mit der nachdrücklichen Aufforderung: Wer
dazugehört, muss sich auch zukünftig so verhalten, wie er
sich verhalten hat, um dazugehören zu können.

Möglicherweise wird dieser Schritt die Beitrittsdiskus-
sion in Dänemark und Schweden positiv beeinflussen.
Das können wir uns, so denke ich, alle nur wünschen.


(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Möglicherweise auch negativ!)


– Nein, dieser Schritt ganz gewiss nicht, Herr Thiele, im
Gegenteil!

Der Europäische Rat hatte sich in Lissabon zu einem
ehrgeizigen Ziel bekannt: Innerhalb von zehn Jahren soll
aus Europa der dynamischste und wettbewerbsfähigste
Wirtschaftsraum weltweit werden. In Feira wurden dazu
jetzt weitere konkrete Schritte eingeleitet. So wurde ein
Aktionsplan gebilligt, der die bessere Nutzung des Inter-
nets fördern soll. Der Zugang zum Internet soll billiger,
schneller und sicherer werden. Für die Menschen in Eu-
ropa soll der Umgang mit dem Internet einfacher, ja
schlicht selbstverständlich werden – und zwar für alle
Menschen. Eine „digitale Kluft“ zwischen denen, die Zu-
gang zum Internet haben und es nutzen, und denen, die
keinen Zugang haben oder die Möglichkeiten des Inter-
nets nicht nutzen können, darf es nicht geben.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Vor allem auch keine neue Steuer! Keine Internetsteuer!)


– Es geht doch nicht um eine Internetsteuer. Das ist wie-
der einer der, vorsichtig ausgedrückt, falschen Zwi-
schenrufe.


(Joachim Poß [SPD]: Gehen Sie doch nicht auf Herrn Michelbach ein!)


Es geht darum, dass die Steuern, die heute zu Recht erho-
ben werden, auch dann erhoben werden können, wenn die
entsprechenden Aktionen über das Internet stattfinden.
Darum und um nichts anderes geht es.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Und die Drittländer?)


Unbestritten ist die große Bedeutung der Forschung
für wirtschaftliche Dynamik. In Feira haben sich die Mit-
gliedstaaten der Europäischen Union geeinigt, einen ge-
meinsamen europäischen Forschungsraum zu entwickeln.
Einzelstaatliche und europäische Forschungsprogramme
sollen vernetzt werden.

In die gleiche Richtung zielt die neue Initiative „Inno-
vation 2000“ der Europäischen Investitionsbank. Durch
die Europäische Investitionsbank werden rund 1 Milli-
arde Euro an Risikokapital für kleine und mittlere Unter-
nehmen bereitgestellt. Ein zusätzliches Darlehenspro-
gramm mit einem Volumen von 12 bis 15Milliarden Euro
soll Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung
sowie die Informations- und Kommunikationsnetze för-
dern. Die Chancen, die in neuen Techniken liegen, müs-
sen von Europa verwirklicht werden. Verzichtet Europa
darauf, wird es an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. An-
dere Länder werden die Vorteile der Informations- und
Kommunikationstechnik zu nutzen wissen.

Europa stellt die Weichen, um die Möglichkeiten der
New Economy und einer wissensbasierten Gesellschaft
ausschöpfen zu können. Dabei helfen auch die „Grund-
züge derWirtschaftspolitik“. Diese Empfehlungen ent-
halten auch in diesem Jahr wieder ein solides Stück wirt-
schaftspolitischer Koordinierung. Diese wird im zusam-
menwachsenden Europa immer wichtiger. – Sie erinnern
sich an das, was der französische Staatspräsident vorges-
tern hier dazu gesagt hat. – Die Umsetzung der Empfeh-
lungen bleibt selbstverständlich eine nationale Aufgabe.

Wir wollen Innovation und Beschäftigung. Unsere
Politik muss aber durch eine Dimension der sozialen Ab-
sicherung auch auf europäischer Ebene ergänzt werden.
Diese Aufgabe muss von Staat und Sozialpartnern ge-
meinsam bewältigt werden. Wenn wir beispielsweise über
lebenslanges Lernen reden, ist das einerseits eine Sache
der Unternehmen, verlangt andererseits aber auch, dass
man die Sozialpartner auf europäischer Ebene in die Ge-
spräche einbindet.

Unter französischer Präsidentschaft soll ein europä-
isches sozialpolitisches Aktionsprogramm verabschiedet
werden. Das europäische Sozialmodell wird dadurch
noch konkretere Formen annehmen. Auch dies ist ein Bei-
trag dazu, dass Europa zueinander findet.

Meine Damen und Herren, die Bedeutung des öffent-
lich-rechtlichen Rundfunks, der kommunalen Ver- und
Entsorger und der Sparkassen wird von europäischer
Warte anders beurteilt als aus deutscher Sicht. Wie Sie
wissen, befinden wir uns in dieser Frage in intensiver Dis-
kussion mit der Europäischen Kommission.

Die Bundesregierung hat ihre Haltung zu den ver-
schiedenen Bereichen der Daseinsvorsorge in Feira noch
einmal deutlich gemacht. Wir brauchen hier Rechtssi-




Bundesminister Hans Eichel
10456


(C)



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(A)



(B)


cherheit und wir kämpfen für unsere Institutionen. Die
Kommission wurde vom Europäischen Rat aufgefordert,
ihm im Oktober in Biarritz eine aktualisierte Mitteilung
zur Daseinsvorsorge vorzulegen. Die deutsche Haltung ist
der Kommission bekannt. Wir entwickeln sie in Abstim-
mung mit den Ländern.

Meine Damen und Herren, die institutionellen Rah-
menbedingungen der Europäischen Union haben sich in
der Vergangenheit bewährt, aber sie waren für eine we-
sentlich kleinere Staatengruppe gemacht. Mit wachsender
Mitgliederzahl zeigen sich die Nachteile – beispielsweise
der Einstimmigkeitsregel – deutlicher. Die Bundesregie-
rung plädiert dafür, das Vetorecht zunehmend durch qua-
lifizierte Mehrheitsentscheidungen zu ersetzen. Mit Blick
auf die kommende Osterweiterung sind keine Alternati-
ven dazu denkbar. Deshalb muss die Regierungskonfe-
renz zu den institutionellen Reformen ein Erfolg werden.
Deutschland wird in dieser Frage eng mit Frankreich zu-
sammenarbeiten. Auch das haben Sie hier aus dem Munde
des französischen Staatspräsidenten im Einzelnen hören
können. Bis Ende dieses Jahres lässt sich die Frage der
Mehrheitsentscheidungen hoffentlich klären.

Hätten wir die Weiterentwicklung der Entscheidungs-
strukturen bereits erreicht, wäre eine Lösung bei der Zins-
besteuerung kurz danach möglich gewesen. Noch gilt
aber die Einstimmigkeitsregel. Deshalb musste eine Lö-
sung gesucht werden, der alle Mitgliedstaaten zustimmen
konnten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei der Be-
steuerung von Zinserträgen ist in Feira ein Durchbruch
gelungen.


(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Na!)

Wer die Verhandlungen kennt – Sie wissen doch genau,
wie viele Jahre Sie daran ohne jeden Erfolg gearbeitet ha-
ben –,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – CarlLudwig Thiele [F.D.P.]: Wir kennen auch die Ergebnisse!)


weiß: Dass wir jetzt Luxemburg und Großbritannien, also
die beiden Länder mit Extrempositionen, in einer Zielset-
zung vereint haben, ist in der Tat ein Durchbruch. Dass
wir noch nicht alle Schritte gemacht haben, ist völlig rich-
tig. Aber dass wir jetzt den ersten Schritt geschafft haben,
um den Sie selber – ich kritisiere das übrigens gar nicht –
lange Zeit gerungen haben, ohne ihn je geschafft zu ha-
ben, ist ganz offenkundig. Ich sage ausdrücklich: Uns ist
der Durchbruch gelungen.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Scheinerfolg!)


Schon viele Jahre ärgern wir uns, weil das unkoordi-
nierte Nebeneinander verschiedener Steuersysteme zur
Hinterziehung von Steuern auf Zinserträge genutzt wird.
Nicht nur für uns Deutsche ist das ein Problem. Andere
europäische Staaten sehen das genauso. Das untergräbt
die Zustimmung zu einem Steuersystem überhaupt. Des-
wegen sage ich mit Nachdruck: Den Kommentar, den ich
heute in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zu die-

sem Thema gelesen habe, kann ich überhaupt nicht ak-
zeptieren.


(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Das haben wir nicht anders erwartet!)


– Ich sage das nur. Wenn Sie Europa so gestalten, dass Eu-
ropa und auch die einzelnen Länder ein Hort für Steuer-
hinterziehung sind, werden Sie keine Zustimmung zu Eu-
ropa bekommen. Schlimmer noch: Sie werden auch die
Zustimmung zu den nationalen Steuersystemen verlieren.
Das ist die gemeinsame Überzeugung aller 15 Finanzmi-
nister.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Schon sehr lange wird das Problem im europäischen
Rahmen diskutiert. Zwischenzeitlich hatten einige Stim-
men schon an einer Lösung und damit an der Handlungs-
fähigkeit Europas in strittigen Fragen gezweifelt. Diese
Zweifler müssen nun verstummen. Europa hat sich hier
nach harten, quälenden Debatten – das ist wohl wahr – als
handlungsfähig erwiesen. Die Gemeinsamkeiten sind
größer und wichtiger als nationale Einzelinteressen. Im
Diskussionsprozess haben sich letztlich alle bewegt. So
ist ein guter Kompromiss erzielt worden.

Alle Mitgliedstaaten streben als Ziel einen Informati-
onsaustausch über Zinserträge von Ausländern in ihrem
Land an. Grenzüberschreitend gezahlte Zinsen werden ab
2003 in den meisten Mitgliedstaaten von einer Informa-
tion an das jeweils heimische Finanzamt begleitet. Ab
2010 wird das bei allen Mitgliedstaaten der Fall sein.

Diese gemeinsame Zielvereinbarung ist der entschei-
dende Durchbruch in den Verhandlungen. Unterschiedli-
che nationale Systeme werden auf ein Ziel zustreben.
Auch das gehört für mich zu einer wirksamen Koordinie-
rung der nationalen Wirtschafts- und Finanzpolitiken.
Wie erfolgreich dieses Vorgehen sein kann, hat der wirt-
schaftliche Konvergenzprozess der letzten Jahre inner-
halb der Europäischen Union belegt.

Für einen Übergangszeitraum – zwischen 2003 und
2009 – können fünf Mitgliedsländer – Luxemburg, Bel-
gien, Griechenland, Österreich und Portugal – eine Quel-
lensteuer auf Zinsen von Ausländern erheben. Einen Teil
der so erzielten Einnahmen müssen sie an die Wohnsitz-
staaten der Ausländer abführen. Diese Verpflichtung, ei-
nen Teil der Einnahmen aus Zinserträgen von Ausländern
an den Wohnsitzstaat abzugeben, wird die Neigung zur
Einführung einer Quellensteuer sicherlich eher dämpfen.

Bis Ende dieses Jahres werden wir uns innerhalb der
Europäischen Union auf die Höhe der Quellensteuer eini-
gen. Ich erwarte einen Steuersatz zwischen 20 und 25 Pro-
zent als Mindesthöhe. Auch über weitere Details der Zins-
richtlinie müssen wir uns bis zum Ende des Jahres ver-
ständigen.

Die Länder, die berechtigt sind, im Übergangszeitraum
eine Quellensteuer einzuführen, werden sich dies viel-
leicht noch überlegen. Es macht nämlich keinen Sinn,
eine Quellensteuer für Steuerausländer einzuführen, die
schon bald durch einen Informationsaustausch abgelöst




Bundesminister Hans Eichel

10457


(C)



(D)



(A)



(B)


werden soll. Vielleicht kommt der Informationsaustausch
schneller, als Skeptiker das jetzt glauben.


(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Vielleicht auch nicht!)


Meine Damen und Herren, die Einigung auf den Infor-
mationsaustausch ist einer Reihe von Ländern sehr
schwer gefallen. Aber auch diese Länder haben europä-
ischen Interessen Vorrang vor nationalen eingeräumt; so
auch wir. Allein das ist schon ein Erfolg. Hervorheben
möchte ich, dass sich Großbritannien, Luxemburg und
Österreich bewegt haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die österreichische Regierung ist inzwischen bereit zu
prüfen, ob für die Aufhebung des Bankgeheimnisses für
Steuerausländer eine Verfassungsänderung nötig ist. Ge-
gebenenfalls will die österreichische Regierung die nöti-
gen Schritte einleiten.

In Deutschland wird sich für Steuerinländer am Bank-
geheimnis nichts ändern. Aber natürlich wird Deutsch-
land für Steuerausländer auch eine Informationspflicht an
den Wohnsitzstaat einführen. Das Bankgeheimnis ist –
wie in den anderen europäischen Ländern – auf Inländer
beschränkt. Alles andere wäre in der Tat kaum zu vertre-
ten und würde jedes Land, das es anders definiert, ver-
trags- und gemeinschaftsunfähig machen.

Weder verfassungsrechtlich noch europarechtlich ist
das zu kritisieren. Der Quellensteuerabzug sichert eine
Besteuerung von deutschen Steuerpflichtigen. Eine zu-
sätzliche Informationspflicht ist deshalb nicht mehr nötig.
Die Entscheidung von Feira zeigt aber wieder einmal
deutlich: Die europäische Dimension gewinnt zunehmend
an Bedeutung für die nationale Politik.

Meine Damen und Herren, wenn die Einigung über die
Einzelheiten der Zinsrechtlinie Ende des Jahres steht,
können Verhandlungen mit Drittstaaten beginnen, um
die Wirksamkeit der Zinsrichtlinie nicht nur auf die Euro-
päische Union zu beschränken. Es kann keine Rede davon
sein, dass Nicht-EU-Staaten die Zinsrichtlinie überneh-
men sollen. Es kann aber auch keine Rede davon sein,
dass wir uns mit unserer Entscheidung in der Europä-
ischen Union von den Entscheidungen von Nicht-Mit-
gliedern abhängig machen – was natürlich nicht aus-
schließt, dass einzelne Länder bei ihrer Entscheidung,
wenn es um die endgültige Einführung der Zinsrichtlinie
geht, schon hinsehen, wie sich Nicht-EU-Länder verhal-
ten. Wir streben aber vergleichbare Regelungen an. Es ist
zum Beispiel sichtbar, dass in der Schweiz Bewegung in
die Diskussion gekommen ist.

Verhandlungen werden von der Europäischen Union
mit den Vereinigten Staaten, der Schweiz, Liechtenstein,
Monaco, Andorra und San Marino geführt. Außerdem
müssen die abhängigen Gebiete von EU-Staaten in die
Verhandlungen einbezogen werden. Dabei ist klar, dass in
erster Linie die Länder, von denen sie abhängig sind, die
Verantwortung dafür tragen, dass dort genau die gleichen
Regime eingeführt werden, wie sie in der Europäischen
Union gelten. Wir wollen sicherstellen, das Steuerbetrü-
ger nicht in diese Länder ausweichen.

Das Signal, das von dieser Einigung in Feira ausgeht,
ist eindeutig: Die Tage der leichten Steuerhinterziehung
sind in Europa gezählt. Jeder muss wissen: Steuerhinter-
ziehung hat auf unserem Kontinent keine Zukunft mehr.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Rolf Kutzmutz [PDS])


Ich freue mich sehr, dass jetzt auch die OECD massiv ge-
gen Steueroasen vorgeht. In Steueroasen wird nun die
Luft dünn.

Auch andere Institutionen gehen dagegen vor: das Fo-
rum für Finanzmarktstabilität, das noch der frühere Bun-
desbankpräsident Tietmeyer geführt hat, sowie die G7.
Man muss wissen: Weltweit – angesichts der technischen
Entwicklung ist dies auch hohe Zeit – geht es darum, die
Steuerregime der Länder auch wirklich durchzusetzen
und nicht zuzulassen, dass sich einzelne Länder zu Flucht-
burgen für Steuerhinterzieher und Steuerhinterziehung
entwickeln.


(Beifall des Abg. Günter Gloser [SPD])

Zum verhandelten Steuerpaket gehört nicht nur die

Zinsrichtlinie, sondern auch der Verhaltenskodex zur
Bekämpfung von schädlichem und unfairem Steuer-
wettbewerb. Die Mitgliedstaaten sind sich darin einig,
dass die Rücknahme schädlicher Maßnahmen in der Ver-
antwortung der Mitgliedstaaten bleibt. Der Rücknahme-
prozess soll bis zum Ende des Jahres 2002 abgeschlossen
sein. Auch in Deutschland gibt es eine – weniger gewich-
tige – Regelung, die wir zurücknehmen sollen. Die Bun-
desregierung wird dies dem Deutschen Bundestag und
dem Bundesrat vorschlagen.

Feira war ein Durchbruch. Die Ergebnisse dürfen nicht
unterschätzt werden. Wer für die Besteuerung von Zins-
erträgen mehr erwartet hatte, hat für die Positionen unse-
rer Nachbarn zu wenig Verständnis aufgebracht. Tragbare
Kompromisse können Sie aber nicht erzielen, wenn Sie
nicht verstehen, warum Ihre Partner so handeln, wie sie
handeln. Die Einigung in der Zinsbesteuerung ist ein
wichtiger Baustein des gemeinsamen europäischen Hau-
ses. Ohne Zweifel braucht Europa Visionen. Aber erst das
Zusammenfügen einzelner Bausteine bringt das wirt-
schaftliche und politische Zusammenwachsen voran.
Ohne harte Arbeit bleiben Visionen nur Visionen.

Alle Mitgliedstaaten tragen diesen Kompromiss. Ein
Ende des Problems unversteuerter Zinserträge und hinter-
zogener Steuern ist jetzt abzusehen. Es wird zwar noch ei-
nige Jahre dauern, aber wir haben viel geschafft. Mit Un-
geduld wären wir gescheitert, mit Zähigkeit haben wir
dieses Ziel erreicht. Deshalb war Feira ein Erfolg für ganz
Europa. Herr Kollege Waigel, ich vermute, auch Sie
freuen sich ein Stück weit mit, dass wir so weit gekom-
men sind, nachdem auch Sie um diesen Teil schon
gekämpft haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411105800
Ich er-
öffne jetzt die Aussprache. Als erster Redner hat der Kol-
lege Peter Hintze von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.




Bundesminister Hans Eichel
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(B)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1411105900
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Der französische Staatsprä-
sident hat hier vor dem Plenum des Deutschen Bundesta-
ges eine große europapolitische Rede gehalten. Diese
Rede war Ausdruck eines guten deutsch-französischen
Verhältnisses, das über Jahrzehnte von französischen und
deutschen Politikern aufgebaut und entwickelt wurde. Es
gehört zu den europapolitischen Grundüberzeugungen
der demokratischen Fraktionen dieses Hauses, dass vom
guten Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich
Europa insgesamt profitiert.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Präsident Chirac hat deutlich gemacht, dass wir in
wichtigen Bereichen mehr Europa brauchen und dass zu-
gleich die Europa tragenden Nationalstaaten eine unver-
brüchliche Bestandsgarantie bekommen. Die von Chirac
skizzierte historische Synthese zwischen einer stärker
werdenden Europäischen Union und selbstbewussten Na-
tionalstaaten bezeichnet unseren Handlungsauftrag:
stark in der Wirtschaftspolitik, stark gegen Gefahren von
innen und außen, aber dennoch die nationalen Eigenstän-
digkeiten und Bedürfnisse achtend und bewahrend. Ein
solches Europa – die Vereinigten Nationalstaaten von Eu-
ropa – wollen wir für zukünftige Generationen errichten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.])


Wir in der CDU/CSU-Fraktion haben uns darüber ge-
freut, dass der französische Präsident wichtige Kernele-
mente in seiner Rede aufgegriffen hat, die auch wir seit
Jahren vertreten. So trifft sich die vorgeschlagene „Pio-
niergruppe“ als europäisches Integrationszentrum mit der
von Wolfgang Schäuble und Karl Lamers entwickelten
Idee von Kerneuropa. Ein großer Fortschritt – das haben
wir erreicht – ist auch die Betonung der notwendigen
Kompetenzabgrenzung in einer europäischen Verfassung.
Das ist eine zentrale Kernforderung von Angela Merkel,
Edmund Stoiber und Friedrich Merz an das europäische
Reformprojekt.

Wir haben uns hier im Bundestag oft anhören müssen,
das interessiere außerhalb Deutschlands niemanden, und
nun hat uns der französische Staatspräsident vor dem Ple-
num des Deutschen Bundestages gesagt, das sei ein wich-
tiges Anliegen der Völker Europas. Ein großer Erfolg!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Günter Gloser [SPD]: Aber wie schaut die Praxis aus?)


– Hier kommt gerade der Zwischenruf des Kollegen
Gloser: „Aber wie schaut die Praxis aus?“

Meine sehr geehrten Damen und Herren, werfen wir ei-
nen Blick auf die Regierungsbank. Heute steht eine Re-
gierungserklärung zum europäischen Gipfel von Feira auf
der Tagesordnung. Anwesenheit des Bundeskanzlers –
Fehlanzeige. Anwesenheit des Bundesaußenministers –
Fehlanzeige.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wie die Inhalte, alles Fehlanzeige!)


Der Bundesfinanzminister war da; darauf werde ich
gleich noch zu sprechen kommen.

Ich halte es – gelinde gesagt – für einen ziemlichen
Skandal, dass in einer zentralen Situation der europä-
ischen Reformdiskussion der deutsche Bundeskanzler vor
dem Gipfel und nach dem Gipfel einfach wegtaucht und
dem Parlament die Debatte über die zentralen Fragen Eu-
ropas verweigert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Widerspruch bei der SPD)


Wenn man die Berichte liest, die die portugiesische Präsi-
dentschaft erstellen musste, weil insbesondere von
Deutschland so wenig gekommen ist,


(Zuruf von der SPD: Ach, Hintze!)

dann wissen wir auch, warum der Bundeskanzler heute
wieder nicht gekommen ist. Der Bundeskanzler spricht
heute nicht zu uns, weil er in der Sache nichts zu sagen
hat. Das ist der Punkt!


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist schon schade – und das ist ein Bruch mit der eu-

ropapolitischen Tradition dieses Hauses –, dass uns vor so
wesentlichen Ereignissen wie einem europäischen Gipfel
die Aussprache hier im Plenum verweigert wird oder die
Regierung so tut, als müsse man sich nur über Ergebnisse
des Ecofin-Rates austauschen.


(Zuruf von der SPD)

– Das ist auch wichtig, auch richtig – darauf komme ich
gleich noch –, aber doch viel zu kurz gesprungen.

Wir stehen in einer historischen Situation: Es geht um
die Wiedervereinigung Europas. Es geht um die großen
Reformkonzepte. Es geht um mehr Effizienz, mehr Trans-
parenz, mehr Kraft in der Europäischen Union – und die
Regierungsbank ist wie leer gefegt. Der Finanzminister
müht sich schiedlich und redlich, seine Sachen vorzutra-
gen – die Ergebnisse werde ich gleich noch kommentie-
ren –, aber ansonsten ist bei der Regierung auf breiter
Front Fehlanzeige. Das ist trostlos, meine Damen und
Herren!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Nun wollen wir nicht den Anwesenden zu sehr kriti-

sieren. Der Bundesfinanzminister hat sich ja hier bemüht,
die kleinen Ergebnisse des Gipfels doch noch in ein
großes Licht zu tauchen.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo Sie doch in den letzten Jahren Ihrer Regierung so große Ergebnisse erzielt haben!)


Wenn man Ihr Beifallsverhalten eben verfolgte, konnte
man feststellen: Er hat sich viel Mühe geben müssen, um
dafür wenigstens die Zustimmung der Regierungsfraktio-
nen zu bekommen. Man kann dazu nur sagen: Das war
auch nicht beifallwürdig. Was ist denn in Wahrheit her-
ausgekommen? Es ist in Wahrheit eine mit vielen Wenn
und Aber gespickte Vereinbarung herausgekommen,


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sehr richtig!)







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(D)



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die im allerbesten Falle zu einer riesigen Bürokratie und
zu einer Durchlöcherung des Bankgeheimnisses in Eu-
ropa führt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Uwe Küster [SPD]: Wollen Sie etwa weiterhin Spekulanten und ähnliche Leute unterstützen?)


Wenn etwas mehr Kraft darauf verwendet worden
wäre, beispielsweise europaweit eine Quellensteuer
durchzusetzen, dann könnten Sie sich Ihren Zwischenruf
ersparen; wir hätten den Datenschutz gesichert und wir
hätten auch in der Sache etwas Vernünftiges gemacht, so
wie es unser Bundesfinanzminister Waigel in seiner Re-
gierungszeit angestrebt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Vielleicht wären die Staats- und Regierungschefs ja

erfolgreicher gewesen, wenn sie nicht ihre ganze Energie
auf die Drangsalierung eines kleinen Mitgliedstaates,
Österreichs, gerichtet


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: So ist es! Bravo!)


und sich hier nicht vertragswidrig aufgeführt hätten,

(Beifall bei der CDU/CSU)


sondern ihre Energie darauf gerichtet hätten, den europä-
ischen Geist zu entdecken, zu stärken und ihrer histori-
schen Aufgabe gerecht zu werden.

Ich sage nur eines ganz ruhig: Besonders traurig finde
ich, dass Deutschland als Nachbar Österreichs, als guter
Freund, der weiß, wie europafreundlich Herr Schüssel,
die jetzige österreichische Regierung und die Vorgänger-
regierung jeweils operiert haben, keinen einzigen Beitrag
dazu leistet, vernünftig aus dieser verfahrenen Situation
herauszukommen. Deswegen fordern wir die Bundesre-
gierung auf, endlich etwas zu unternehmen, damit mit Ös-
terreich wieder fair umgegangen wird, liebe Freunde.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sehr richtig! Bravo! Sehr gut!)


Die größte Fehlanzeige von Feira war allerdings der
Zwischenbericht über den Stand der Regierungskonfe-
renz. Über diesem Bericht steht zwar „Fortschritts-
bericht“. Aber eigentlich müsste Stillstandsbericht hei-
ßen, weil die Regierungskonferenz ein hohes Maß an
Stillstand signalisiert. Nach monatelanger Diskussion ist
keine einzige der wesentlichen Fragen beantwortet und
kein einziges Problem vom Tisch geräumt worden.

Wir erwarten vom Europäischen Rat Perspektiven. Wir
erwarten von der deutschen Bundesregierung, dass sie im
Europäischen Rat dazu Beiträge leistet, dass sie sie mit
dem Parlament und der Öffentlichkeit diskutiert und dass
sie die Dinge voranbringt. Dies hat die deutsche Bundes-
regierung nicht getan. Deswegen ist es vielleicht gut, dass
der Bundeskanzler in dieser Debatte abgetaucht ist, damit
die Peinlichkeit nicht gar so deutlich wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ein Zusammenhang ist besonders wichtig: Äußere
Stärke können wir nur gewinnen, wenn wir auch die in-
nere Stärke weiterentwickeln. Dies werden wir nicht
erreichen, wenn wir die notwendige Vertiefung der Euro-
päischen Union allein als Angelegenheit der vielen Re-
gierungen in Europa verstehen. Ein Europa der Haupt-
städte würde den Herausforderungen der Globalisierung
allein nicht gerecht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nein, wir müssen auf dem großen europapolitischen Weg
fortschreiten, den wir in den letzten Jahrzehnten einge-
schlagen haben, der uns stark gemacht hat und der uns in
Zukunft noch stärker machen wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Die CDU/CSU kommt doch vom Weg ab!)


Die wichtigste historische Aufgabe ist die Überwin-
dung der Teilung und die Wiedervereinigung Europas.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Hierbei hat auch Deutschland eine wichtige Aufgabe. Wir
waren Anwälte der Wiedervereinigung Europas. Wir müs-
sen das auch bleiben und zusammenstehen. Wir müssen
bei der jetzigen Regierungskonferenz die Grundlagen
dafür schaffen, dass auch ein größeres Europa weiterhin
stark ist und gut funktioniert.

Das Europa der 15, das wir heute haben, wird im Prin-
zip nach den gleichen Regeln geführt, wie sie ursprüng-
lich für die sechs Gründerstaaten galten. Seitdem haben
sich die Zeiten, die Bedingungen und die Aufgaben geän-
dert. Mit der Osterweiterung der Europäischen Union,
mit diesem großen Projekt, wird sich die Mitgliederzahl
nahezu verdoppeln. Wir wollen, dass Europa stärker
wird und dass es besser wird. Deshalb muss die
Handlungsfähigkeit Europas vor seiner Erweiterung ge-
steigert werden. Wir brauchen einen weit gehenden
Übergang zum Prinzip der Mehrheitsentscheidungen,
eine Konzentration der exekutiven Aufgaben und eine
größere Transparenz bei der europäischen Gesetzgebung.

Ich möchte einen Aspekt der Diskussion der letzten
Wochen aufgreifen – wir haben ja einiges eingebracht,
was zu Widerspruch führte, worüber aber mittlerweile
Konsens herrscht –: Wir wissen, dass nicht alles auf der
laufenden Regierungskonferenz zu lösen ist. Neben dem
erfreulicherweise aufgegriffenen Thema der verstärkten
Zusammenarbeit sind vorrangig die drei offenen Fragen
von Amsterdam zu klären, insbesondere der Übergang
zum Prinzip der Mehrheitsentscheidung. Darin stimmen
wir überein. Diese Themen müssen noch vor Jahresende,
also unter französischer Präsidentschaft, vollständig und
weitblickend gelöst werden. Es darf keine „leftovers“ der
„leftovers“ geben. Die offenen Fragen müssen jetzt be-
antwortet werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es muss aber weitergehen: Unmittelbar nach Ab-

schluss der Reformkonferenz müssen wir uns auf die
Ziele und die Grenzen der europäischen Integration ver-
ständigen. Die EU muss schlanker, unbürokratischer,




Peter Hintze
10460


(C)



(D)



(A)



(B)


demokratischer und konsequenter subsidiär aufgebaut
werden. Die grundlegende Weiterentwicklung der Archi-
tektur Europas muss in den nächsten zwei Jahren ab-
geschlossen werden. Wir wollen, dass die Erweiterung
schnell vorangeht. Wir wollen mit der Weiterentwicklung
der Architektur vor der Erweiterung fertig sein. Wir schla-
gen vor, an dem Prozess der europäischen Verfassungs-
gebung auch die Kandidatenstaaten zu beteiligen, die
später zur Europäischen Union gehören werden und für
die eine solche Verfassung die gemeinsame Grundlage für
politisches Handeln und Wirken in Europa sein wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Kernelement dieser zu entwickelnden europäischen
Architektur ist eine klare Aufgabenteilung zwischen
Europa, Nationalstaaten und Regionen. Dabei geht es im-
mer um die Frage: Wer macht was? Unsere Antwort lau-
tet: so viel Bürgernähe wie irgend möglich und so wenig
Zentralismus wie nötig. Die CDU/CSU-Fraktion hat seit
langem die große Bedeutung dieser Frage für die Zustim-
mung der Bürger zur Europäischen Union unterstrichen,
oft gegen kritischen Widerstand aus diesem Hause. Aber
wir müssen das jetzt machen. Alle werden davon profitie-
ren: Die Union wird stärker; die Nationalstaaten erhalten
eine Bestandsgarantie. Hier liegt die Chance eines klug
ausgearbeiteten Verfassungsvertrages, so wie wir ihn vor-
geschlagen haben.

Wenn es um Europa geht, dann geht es immer auch um
Beschwernisse. Das wird in einigen Anträgen aufgegrif-
fen. Es geht um die Frage, wie man auf einem so großen
Markt Lebensmittelsicherheit schaffen kann. Salmonellen
im Huhn, Östrogene im Kalb, BSE im Rind – es macht die
Leute schon nervös, wenn sie das lesen oder wenn sie da-
von betroffen sind. Deswegen ist es richtig, dass ein eu-
ropäisches Amt für Lebensmittelsicherheit auf diesem
großen Markt dafür sorgt, dass die Menschen mit Freude
französische Hühnchen, deutsche Rinder und österreichi-
sche Kälber verspeisen können, sofern sie nicht Vegeta-
rier sind.

Wir schlagen vor, dass ein solches europäisches Amt
für Lebensmittelsicherheit, das nach den Überlegungen in
der Nähe von Brüssel angesiedelt sein soll, in Deutsch-
land errichtet wird. Wir haben eine Reihe von Vorschlä-
gen für Standorte entlang der Rheinschiene gemacht:
Frankfurt, Bonn und Düsseldorf sind ins Spiel gebracht
worden. Man könnte auch an Wuppertal denken. Es gibt
viele gute Standorte. Wir sind der Auffassung: Es gibt in
Deutschland ein hohes Maß an Sensibilität für die Fragen
des Gesundheitsschutzes und für den Verbraucherschutz.
Ein solches Amt hätte in Deutschland einen guten Platz.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Zum Schluss möchte ich einen Wunsch ausdrücken.
Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sich der
Bundeskanzler vor Eintritt in die entscheidende Phase der
Verhandlungen der Regierungskonferenz im Plenum des
Deutschen Bundestages der Debatte mit dem Parlament
stellt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Wir müssen hier die Grundlinien diskutieren. Wir müssen
hier darüber diskutieren, wie das europäische Projekt von
Deutschland aus betrachtet wird. Die Tradition, die bisher
alle Kanzler der Bundesrepublik Deutschland gewahrt ha-
ben, muss endlich auch von dem amtierenden Bundes-
kanzler aufgegriffen werden.

Wir in der CDU/CSU-Fraktion sind bereit, einen ver-
nünftigen europapolitischen Weg mitzugehen, der Europa
stärker macht, die Souveränität der Nationalstaaten
achtet und das Gute an der europäischen Idee weiter för-
dert. Wir sind bereit, die Regierung bei einem solchen
Weg zu unterstützen. Das Mindeste ist, dass wir Gelegen-
heit haben, uns im Parlament über die zentralen Fragen
Europas auszutauschen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411106000
Als
nächster Redner hat der Kollege Joachim Poß von der
SPD-Fraktion das Wort.


Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1411106100
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Lieber Kollege Hintze, wenn Sie sich hier so
aufplustern und die Regierung so scharf angehen, wie Sie
es getan haben, dann dient das offenkundig nur einem
einzigen Zweck: Sie wollen von Ihren internen Schwie-
rigkeiten ablenken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie wissen nämlich nicht, wo es langgehen soll. Auch Sie
werden mit Interesse den Artikel des Europakollegen
Elmar Brok gelesen haben: „Union am Scheideweg“. Ge-
nau da befinden Sie sich. Sie wissen nicht, wo es mit Ih-
nen europapolitisch langgehen soll. Dies – nicht die Bun-
desregierung – ist das aktuelle Problem in der Bundesre-
publik Deutschland.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Merz hat noch vor wenigen Wochen von gestör-
ten deutsch-französischen Beziehungen gesprochen. Ich
will Ihnen nicht die ganze Latte von Zitaten vorhalten, die
deutlich machen, wie orientierungslos Sie sich auch auf
dem Felde der Europapolitik – aber bekanntermaßen nicht
nur dort – bewegen.

Die Bundesregierung ist auf einem guten Wege. Feira
hat das unterstrichen. Die Richtlinien für die weitere Dis-
kussion wurden entwickelt und die Voraussetzungen für
einen erfolgreichen Abschluss der Regierungskonferenz
unter französischer Präsidentschaft wurden geschaffen.
Dafür gebührt der portugiesischen Ratspräsidentschaft
Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die verstärkte Zusammenarbeit ist nun offiziell Ge-

genstand der europäischen Agenda. Die Bundesrepublik
wird unsere französischen Partner nachhaltig in dem Be-
streben unterstützen, dieses Instrument zur Vertiefung der




Peter Hintze

10461


(C)



(D)



(A)



(B)


Integration und zur Vorbereitung der EU auf die Ost-
erweiterung auszubauen.

In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag hat sich
der französische Präsident Chirac für eine europäische
Verfassung stark gemacht. Diese soll es nicht heute oder
morgen geben; er hat das in einer zeitlichen Perspektive
gesehen. Er wünschte sich dieses Vorhaben nicht nur als
einen Akt von Staatslenkern, sondern auch und gerade als
verfassunggebenden Prozess der europäischen Bürger.
Ich denke, Chirac hat Recht: Die breite Beteiligung der
europäischen Bürgerinnen und Bürger kann europäische
Identität schaffen.

Wir sind uns darüber einig, dass ein solch konstitutives
Einigungswerk auch eine Kompetenzabgrenzung zwi-
schen den verschiedenen Ebenen in der EU beinhalten
sollte. Dieses Vorhaben wird bisher nur von zwei Mit-
gliedstaaten der EU, wenn auch von zwei großen, unter-
stützt. Es muss also noch eine Mehrheit von dieser Idee
überzeugt werden.

Da ist es mehr als störend, ja kontraproduktiv, wenn
Herr Merz, wenn Frau Merkel mit der Ablehnung der Ra-
tifizierung des Vertrages von Nizza drohen, falls die Frage
der Kompetenzabgrenzung bis dahin noch nicht geregelt
ist. Diese Frage darf doch nicht Gegenstand von Opposi-
tionstaktiken werden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Aber von Europapolitik!)


Wenn Sie so weitermachen, dann wird der bewährte eu-
ropapolitische Konsens zwischen den großen politischen
Kräften in unserem Lande bald wirklich der Vergangen-
heit angehören.

Wir begrüßen daher ausdrücklich, dass Volker Rühe,
Elmar Brok und andere die Haltung der Bundesregierung
unterstützen. Wir fordern die CDU/CSU auf, dem Kom-
promissvorschlag der Bundesregierung und des nie-
dersächsischen Ministerpräsidenten Sigmar Gabriel zu
folgen, die Frage der Kompetenzabgrenzung auf einer
neuen Regierungskonferenz bis zum Jahre 2004 zu re-
geln.

Der Europäische Rat von Feira hat sich auch mit vie-
len wirtschafts-, finanz- und steuerpolitischen Themen
befasst. Herr Eichel hat darüber berichtet. So wurden die
ersten Schritte zur Umsetzung der vom Europäischen Rat
in Lissabon beschlossenen Strategien gebilligt, die Eu-
ropa binnen zehn Jahren zum weltweit wettbewerbs-
fähigsten Wirtschaftsraum machen sollen. Die Beispiele
sind Ihnen bekannt: der E-Europe-Aktionsplan mit dem
Schwerpunkt eines kostengünstigen Internet-Zugangs
und die Charta für Kleinunternehmen, die die Bedeutung
dieser Unternehmen für Wachstum, Wettbewerbsfähig-
keit und Beschäftigung hervorhebt. An all diesen Vorha-
ben war die Bundesregierung maßgeblich beteiligt.

Bei der Zinsbesteuerung konnte ein wichtiger Ein-
stieg erreicht und damit ein Erfolg in einer Frage erzielt
werden, die seit vielen Jahren ungelöst war. Der anwe-
sende Kollege Waigel hatte bereits im Jahre 1989 die
Chance, im Grunde genommen zu einem vergleichbaren
Einstieg zu kommen. Da ging es um die Vereinbarung ei-

nes Informationssystems. CDU/CSU und F.D.P. haben
das damals abgelehnt.


(Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir hatten zugegebenermaßen das Problem Luxem-

burg. Wir hatten in den letzten Jahren übrigens noch
größere Probleme als nur Luxemburg.


(Zurufe von der CDU/CSU)

Wir als größte Wirtschaftsmacht in Europa hätten dieses
Problem damals schultern können. Deshalb schelten Sie
doch bitte jetzt nicht Bundesfinanzminister Eichel, der es
mit unglaublicher Zähigkeit erreicht hat, dass wir den Ein-
stieg geschafft haben.


(Beifall bei der SPD – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Was hat er denn erreicht? Was denn? – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


Bundesfinanzminister Hans Eichel gebührt Dank für
seine Hartnäckigkeit, durch die es überhaupt zu einem Er-
gebnis gekommen ist.

Das Ergebnis hätte besser sein können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das stimmt! Bravo!)


Erst wer bedenkt, wie unterschiedlich die Interessen der
Mitgliedstaaten bei der gleichmäßigen Besteuerung der
Zinseinkünfte sind, wer in Betracht zieht, welche Sensi-
bilität diesem Thema innewohnt, und wer sich daran erin-
nert, wie viele Anläufe für eine Einigung schon gemacht
worden sind, der kann ermessen, welch großer Schritt in
Feira gelungen ist. Auch Sie wissen das, jedenfalls die
Sachkundigen unter Ihnen. Herr Michelbach, Sie wissen
das vielleicht nicht; aber die Sachkundigen wissen, wie
schwierig es ist, zu solchen internationalen Fortschritten
zu kommen.


(Lachen des Abg. Hans Michelbach [CDU/CSU])


Die jetzt gelungene Einigung ist auch ein deutliches
Signal an diejenigen, die ihre Zinserträge bislang nicht
oder nicht vollständig versteuert haben. Steuerhinterzie-
hung ist nämlich kein Kavaliersdelikt, sondern eine
Straftat.


(Beifall bei der SPD)

Offensichtlich sehen Sie das anders. Frau Merkel hat

den Kompromiss von Feira in der „Bild am Sonntag“
nämlich so bewertet, dass er das Bankgeheimnis aus-
höhle. Herr Hintze hat sich ähnlich geäußert. Damit such-
ten Frau Merkel oder Herr Hintze für die Union wohl die
Rolle als Schutzpatronin bzw. Schutzpatron der Steuer-
hinterzieher.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Uwe Hiksch [PDS])


Diese Position, die Sie da einnehmen, finde ich schon toll.
Wer das so genannte Bankgeheimnis in Deutschland,

konkret: § 30 a Abs. 3 der Abgabenordnung, dahin gehend
versteht, dass es verhindern soll, Steuerhinterziehung auf-




Joachim Poß
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(D)



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zudecken, der kann sich über das Ergebnis von Feira
tatsächlich nicht freuen. Die große Mehrheit der Steuer-
pflichtigen in Deutschland wird aber froh darüber sein,
dass auch bei den Zinsen eine gleichmäßige und gerechte
Besteuerung herbeigeführt werden soll.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wann denn?)

Der Ehrliche darf nicht länger der Dumme sein.

Deutschland wird nach der Richtlinie, die nach dem
Beschluss bis Ende 2002 verabschiedet werden soll, In-
formationen über in Deutschland erzielte Kapitalerträge
von Steuerausländern erteilen müssen. Hinsichtlich der in
Deutschland erzielten Kapitalerträge von Steuerinländern
gilt das nicht. Das heißt, dass die schützenswerten Be-
lange von in Deutschland ansässigen Steuerpflichtigen im
Verhältnis zu ihren Banken voll gewahrt werden. Panik-
mache ist also total unbegründet. Der jetzt gefundene
Kompromiss nimmt schließlich den Druck, ohne Abstim-
mung mit unseren Partnern eine rein nationale Regelung
finden zu müssen.

Dieses Beispiel zeigt aber: Wir brauchen eine globali-
sierungstaugliche Zinsbesteuerung genauso, wie wir ein
globalisierungstaugliches Unternehmensteuerrecht brau-
chen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deswegen sollte das Signal von Feira auch ein Aufruf an
die Mitglieder von CDU und CSU sein, im Vermittlungs-
verfahren zum Steuersenkungsgesetz ihre nicht nachvoll-
ziehbare Fundamentalopposition gegen den System-
wechsel bei der Körperschaftsteuer aufzugeben.


(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Dass Sie das nicht verstehen, kann ich ja nachvollziehen!)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Bundes-
regierung war aber auch noch in einem anderen Vorhaben
erfolgreich: Das deutsche Anliegen zur Daseinsvorsorge
wurde aufgegriffen. Auf Initiative der Bundesregierung
forderte der Europäische Rat die Kommission auf, ihre
Mitteilung über gemeinwohlorientierte öffentliche Leis-
tungen bis zum nächsten Gipfel zu aktualisieren.

Sie können sehen: Europa ist bei uns, bei dieser Koali-
tion in guten Händen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411106200
Als
nächster Redner hat der Kollege Carl-Ludwig Thiele von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.


Carl-Ludwig Thiele (FDP):
Rede ID: ID1411106300
Sehr geehrter Herr Prä-
sident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!
Der Formelkompromiss zur Zinsbesteuerung, der auf dem
Europäischen Gipfel in Feira gefunden wurde, enthält alle
Merkmale, die Entscheidungen der Europäischen Union
bei den Bürgern in Verruf gebracht haben:

Erstens. Er ist halbherzig. Die Übergangsfrist von neun
Jahren ist viel zu lang.

Zweitens. Wegen der zusätzlichen Meldepflicht wird
eine Unmenge an zusätzlicher Arbeit bei Banken, Finanz-
ämtern, Steuerberatern und Steuerpflichtigen anfallen.


(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: So ist es!)


Die Bürokratie wird ausufern. Es werden so zwar Arbeits-
plätze geschaffen, aber andere Arbeitsplätze, als wir uns
das in Deutschland und in Europa vorstellen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Die F.D.P. ist doch oberster Schutzpatron der Steuerhinterzieher!)


Der Kompromiss hat ferner nichts mit Steuerharmoni-
sierung zu tun. Es wird lediglich festgeschrieben, dass je-
der Staat weiterhin seine eigene Zinsbesteuerung vorneh-
men kann. Das Ergebnis wird sein: Gleichmacherei statt
Wettbewerb, Schnüffelei statt Vertrauen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


Dieser Beschluss kann keine Begeisterung auslösen.
Ich verstehe, Herr Finanzminister, dass Ihnen der

Kommentar aus der „FAZ“ von heute nicht gefällt. Dort
heißt es: „Die Fehlgeburt von Feira“. Auch die „Frank-
furter Rundschau“, die ja eigentlich den Sozialdemokra-
ten näher stehen sollte, kommentierte am 21. Juni:

An der Grenze des Absurden.
Die EU hat eine neue Fortbewegungsart entwickelt:
Kein Stillstand mehr, aber auch noch kein Fort-
schreiten.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

So wird das Ergebnis, das Sie erreicht haben, beurteilt.
Der Austausch wechselseitiger Dankadressen dafür, dass
man verhandelt hat, darf nicht darüber hinwegtäuschen,
dass Ergebnisse an dieser Stelle nicht erreicht wurden.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das war Ringelpiez!)


Fast zehn Jahre soll es dauern, bis alle EU-Staaten die-
sen Informationsaustausch eingeführt haben. Dieses muss
erst einmal erreicht werden. Da haben Sie noch mehrere
schwierige Abstimmungsprozesse vor sich.

Auch die Auffassung dieser rot-grünen Regierung, sie
würde entschlossen handeln, kann nicht richtig sein; denn
in diesem Bereich geht es um eine Frist von zehn Jahren
und in dem Bereich der Atomkraft, über den wir vorher
diskutiert haben, geht es um eine Frist von 32 Jahren.
Wenn Sie entschlossen handeln, dann handeln Sie doch
hier und heute! Dazu haben Sie die Möglichkeit; das müs-
sen Sie nicht immer verschieben. Wir haben sogar gleich
die Möglichkeit weiterzuverhandeln, Herr Finanzmi-
nister.

Ich plädiere an dieser Stelle für die Position, die die
F.D.P. schon seit Jahren einnimmt. Führen wir doch in




Joachim Poß

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(B)


Deutschland endlich eine Abgeltungsteuer mit Anrech-
nungsmöglichkeit ein. Dieses ist die beste und unbüro-
kratischste Lösung.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Sie schafft Klarheit für den Bürger, erspart den Banken
ein Mitteilungssystem und stärkt den Finanzplatz
Deutschland. Damit haben wir die Möglichkeit, wieder
Kapital nach Deutschland zu holen, weil es dann attraktiv
ist, in Deutschland zu investieren. Der letzte Punkt ist: Sie
sichert dem Fiskus das Steueraufkommen. Von der der-
zeitigen Regelung waren erhebliche Steuermehreinnah-
men erwartet worden; die Wirklichkeit sah anders aus.
Wir müssen Deutschland angesichts des Wettbewerbs mit
anderen Staaten attraktiv für Kapital und für Investitionen
machen.


(Beifall bei der F.D.P. – Zuruf von der SPD: Gar keine Steuern mehr! Null!)


Das System der Abgeltungsteuer bedeutet – um das
noch einmal zu erklären –, dass mit Ausschüttung der Er-
träge diese endgültig besteuert werden und damit die
Steuerpflicht abgegolten ist. Die Anrechnungsmöglich-
keit bedeutet, dass ein Steuerpflichtiger die Möglichkeit
hat, die einbehaltene Steuer im Rahmen seiner Steuerer-
klärung anzugeben und verrechnen zu lassen. Das führt zu
dem Ergebnis, dass ein Steuerpflichtiger mit niedrigerem
Steuersatz hier entsprechend seiner Leistungsfähigkeit
besteuert wird.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vor allem bei der Abgeltungsteuer ist das dann der Fall! So ein Quatsch!)


Das ist ein Grundsatz, über den wir nachher weiter ver-
handeln werden, Herr Finanzminister.

Weil Österreich gerade in der Diskussion ist, will ich
bemerken: Das ist das Modell, welches in Österreich in
den vergangenen Jahren unter einer SPÖ-Regierung, also
unter einer sozialdemokratisch geführten Regierung, be-
schlossen wurde. Daher muss niemand behaupten, dass
dieses Modell unsozial wäre. Ich glaube auch nicht, dass
jemand die SPÖ aus der Sozialistischen Internationale
ausschließen will, weil sie unsoziale Maßnahmen durch-
geführt hätte. Das wird nicht der Fall sein.

Vor allem muss niemand die Sorge haben, dass diese
Regelung erst in neun, 15 oder 32 Jahren greift. Sie kann
heute beraten werden. Im Vermittlungsausschuss liegen
entsprechende Anträge von uns vor. Wir haben die Mög-
lichkeit, im Rahmen dieser Verhandlungen wirklich einen
Schritt weiterzukommen und nicht das Ganze immer wei-
ter ausufern zu lassen und fortzuschreiben.

Eine weitere Enttäuschung des Gipfels von Feira, die
ich in diesem Zusammenhang nicht verschweigen kann,
ist es, dass es keinen entscheidenden Schritt in Richtung
auf Aufhebung der Sanktionen gegen Österreich gibt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist geradezu absurd: Diese Sanktionenwaren und sind
stillos. Die Front der Befürworter der Sanktionen bröckelt
weiter ab. Diese Sanktionen sind eine Frechheit gegen-

über den österreichischen Bürgern, die das Parlament ge-
wählt haben. Die 14 Mitgliedstaaten betonen unentwegt,
es handele sich um bilaterale Maßnahmen und nicht um
Sanktionen der EU. Bei Fototerminen wird gehampelt
und gestrampelt, damit man ja nicht ins Bild kommt,
wenn man einem Österreicher die Hand schüttelt. Das
darf doch nicht wahr sein! Dieses Verständnis von Europa
leuchtet keinem vernünftigen Menschen in diesem Lande
ein.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Einer versteckt sich hinter dem anderen und nichts bewegt
sich.

Österreich hat auch in Feira wieder seine Europatreue
zum Ausdruck gebracht. Die Vorschläge – das ist sozusa-
gen das Schärfste, was sich die Regierung leistet –, eine
Beobachtermission oder „Drei Weise“ nach Österreich zu
entsenden, um zu schauen, ob sich Österreich vertrags-
konform verhält, sind Lachnummern und reine Aus-
flüchte.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

In Wien befinden sich mehr als 300 ausländische Di-

plomaten, die nichts anderes zu tun haben, als täglich zu
beurteilen, wie sich Österreich im nationalen und interna-
tionalen Maßstab verhält. Sie aber wollen die „Drei Wei-
sen“ nach Österreich schicken, um so zu neuen Erkennt-
nissen zu kommen. Ich kann Ihnen dazu nur sagen – das
ist die Auffassung der F.D.P. –: Beziehen Sie hier klar Po-
sition! Hören Sie mit der unwürdigen Diskriminierung
Österreichs und der Österreicher auf! Sorgen Sie dafür,
dass Europa sich einig ist! Akzeptieren Sie endlich, dass
die Österreicher in freier und geheimer Wahl ein Parla-
ment gewählt haben und sich für eine Mehrheit der jetzi-
gen Regierungskoalition entschieden haben! Das mag je-
der für richtig oder falsch halten.

Auch die F.D.P. ist gegen die Beteiligung der FPÖ an
der Regierung.


(Zuruf von der SPD: Aha!)

Aber das ist doch kein Grund für uns, Österreich in dieser
Form zu isolieren. Auch in Deutschland ist nicht jeder mit
der rot-grünen Regierung einverstanden.


(Lachen bei der SPD)

Aber sie ist gewählt und die Mehrheit des Bundestages
trägt derzeit noch diese Regierung.

Ich fordere Sie auch im Zusammenhang mit den anste-
henden Verhandlungen in Europa auf: Hören Sie mit den
Sanktionen gegen Österreich so schnell wie möglich auf!
Treten Sie den Rückweg zur Normalität an!

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411106400
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Christine Scheel von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.




Carl-Ludwig Thiele
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Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411106500

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Herr Thiele,
gerade die F.D.P. hat in 16 Jahren Regierungsverantwor-
tung mit der CDU und der CSU


(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Und schon einmal mit der SPD!)


keinen Fortschritt im Zusammenhang mit der Steuerhar-
monisierung,


(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Sie doch auch nicht!)


über die wir heute reden, erreicht. Im Gegenteil: Die Steu-
erhinterziehung ist unter Ihrer Regierungsverantwortung
quantitativ gestiegen. Diesen Punkt muss man vorab fest-
halten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/ CSU – Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Darüber freut sich die F.D.P.)


Boshaft könnte ich die F.D.P. als Schutzpatronin der Steu-
erhinterzieher titulieren. Ich glaube, das wäre passend für
diese Partei.


(Zustimmung bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt wird es aber persönlich!)


In der jetzigen Debatte geht es um das, was in Feira
ernsthaft verhandelt und auch nach vorn gebracht worden
ist. Das kann man auch aus unserer Sicht als einen sehr
zähen und langsamen Prozess werten, was er real ja auch
ist. Wir haben früher schon gesagt: Der Fortschritt auf eu-
ropäischer Ebene ist eine Schnecke, weil es sehr proble-
matisch und schwierig ist, innerhalb der Gemeinschaft
Veränderungen voranzutreiben, die von allen gemeinsam
getragen werden. Der Erfolg, der an dieser Stelle ent-
scheidend ist, besteht darin, dass man sich einstimmig zu
einem Ziel durchgerungen hat, und zwar mit einer sehr,
sehr großen Sensibilität, vor allem was die deutsche Seite
betrifft. Das müssen Sie in diesem Zusammenhang ein-
fach einmal zur Kenntnis nehmen.

Europäische Politik kann man gerade im Zusammen-
hang mit dem Steuerrecht und im Zusammenhang mit der
Harmonisierung in Steuerfragen nicht mit der Brech-
stange betreiben. In steuerpolitischen Zusammenhängen
gibt es nationale Interessen, die sehr viel stärker ausge-
prägt sind, als dies in vielen anderen Themenbereichen
der Fall ist. Daher muss man hier sehr sensibel vorgehen.
Angesichts des vorliegenden Ergebnisses kann man mit
gutem Recht sagen, dass endlich der Weg zu einer ein-
heitlichen EU-Zinsbesteuerung geebnet wurde und wir
gute Fortschritte darstellen können, was wir auch tun.

Natürlich bereitet es angesichts der Entwicklung und
angesichts der Interessen der einzelnen EU-Länder
Schwierigkeiten, dass das Einstimmigkeitsprinzip in
Steuerfragen, über das ich gerade gesprochen habe, für die
nächsten Jahre auch für den gestuften Weg zur Realisie-
rung der EU-Zinsbesteuerung festgeschrieben wurde. Da-
nach bedarf es mindestens zweier einstimmiger EU-Mi-
nisterratsentscheidungen, um die Richtlinie für eine ein-
heitliche Zinsbesteuerung Wirklichkeit werden zu lassen.
Das ist der richtige und auch Erfolg versprechende Weg.

Aber selbst wenn sich die EU-Regierungen im Dezem-
ber 2000 auf eine Ausweitung der Mehrheitsentscheidun-
gen im Rahmen des EU-Vertrages verständigen sollten,
bleibt diese Richtlinie auf jeden Fall dem Einstimmig-
keitsprinzip der 15 EU-Länder unterworfen.

Generell geht es darum, dass wir Wettbewerbsver-
zerrungen zwischen den EU-Ländern vermeiden und
dass wir zugleich – das ist ein sehr wichtiger Punkt – ein
investitions- und beschäftigungsfreundliches Klima im
europäischen Binnenmarkt gewährleisten. Dabei stehen
natürlich grenzüberschreitende Sachverhalte, wie die
grenzüberschreitenden Zinszahlungen, im Mittelpunkt.
Gerade bei Letzteren spielt das Problem der Steuerhinter-
ziehung eine sehr wesentliche Rolle, da sich grenzüber-
schreitende Zinszahlungen viel leichter der Besteuerung
entziehen können als Zinsen, die nur national gezahlt wer-
den. Für nationale Zinsen gibt es die Quellensteuer und
Kontrollmitteilungen. Von daher ist Ihr Hinweis auf die
Abgeltungsteuer, Herr Thiele, in diesem Punkt an der
falschen Stelle angebracht. In diesem Zusammenhang
geht es um Steuerausländer. Es geht nicht darum, wie wir
auf nationaler Ebene mit der Erfassung von Kapitalerträ-
gen umgehen.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Doch!)

Das ist eine Diskussion, die auf einer anderen Baustelle
stattzufinden hat.


(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Nein! – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist zu kurz gedacht!)


Hier geht es darum, wie wir international operieren. In
den USA beispielsweise sind schon vor Jahren Kontroll-
mitteilungen eingeführt worden, wie es sie auch in ande-
ren EU-Ländern bereits gibt. Das heißt, wenn Sie Ihr Geld
in Amerika anlegen und beim Finanzamt die Erträge da-
raus nicht angeben, dann kann es Ihnen durchaus passie-
ren, dass eine Kontrollmitteilung bei Ihrem Finanzamt
eingeht. Dies sollte weltweit einheitlich gehandhabt wer-
den. Zumindest sollten einander ähnliche Regelungen ge-
funden werden, mit denen zum Beispiel auch die Schweiz
oder andere so genannte Steueroasen – ich meine damit
nicht nur die Schweiz, sondern es gibt noch ganz andere
Steueroasen, wie Sie wissen – in die Verantwortung ge-
zogen werden können.

Bei den grenzüberschreitenden Zinszahlungen, die
sich der Steuerpflicht des jeweiligen Inlandes entziehen,
geht es nicht um Peanuts, sondern um Milliardensummen.
Nach einer UNO-Studie sind in den Steueroasen weltweit
5 000 Milliarden US-Dollar angelegt. Ich muss sagen: Es
ist ausdrücklich zu begrüßen, dass die OECD in ihrem
jüngsten Bericht – der Minister hat darauf hingewiesen –
35 Steuerparadiese benennt und zur Zusammenarbeit bei
der Bekämpfung der Steuerflucht von Unternehmen
und Privatleuten auffordert.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Dr.Antje Vollmer)

Das ist der richtige Weg, den wir auch von deutscher Seite
massiv unterstützen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)







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(D)



(A)



(B)


Wir begrüßen auch, dass es auf mehreren Ebenen, auf
der Ebene der EU, der OECD, bei den G7, verstärkt An-
strengungen gibt, Vereinbarungen für funktionsfähige
und tragbare Kapitalmärkte zu finden, die der Steuer-
flucht entgegenwirken sollen. Wir sind deshalb sehr froh
und begrüßen die Anstrengungen und die Initiativen, die
zu einem System der Auskunftserteilung für nicht Ansäs-
sige, also Steuerausländer, beitragen sollen.

Dieser Schritt ist realisierbar und wird greifen, wenn
sich die 15 EU-Länder über den Inhalt der Richtlinie ge-
einigt haben. Die Vereinbarung von Feira sieht eine Frist
bis zum 31. Dezember 2002 vor.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411106600
Frau Kol-
legin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Michelbach?


Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411106700

Bitte, Herr Michelbach.


Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1411106800
Frau Kollegin
Scheel, es ist richtig, dass wir eine Vereinheitlichung der
Kapitalbesteuerung vornehmen sollten, um die Steuer-
flucht einzudämmen. Aber warum sind Sie denn dann ge-
gen eine Abgeltungsteuer in Deutschland, wie die Union
sie in ihrem Alternativkonzept vorschlägt?


Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411106900

Derzeit sind auf der europäischen Ebene alle Länder mit-
einander im Gespräch darüber, wer in der Zukunft wel-
chen Weg gehen will. Bislang haben beispielsweise
Österreich und Luxemburg klipp und klar gesagt, was sie
wollen. Belgien, Griechenland und Portugal werden im
Laufe des Jahres 2000 dem Europäischen Rat mitteilen,
welchen Standpunkt sie vertreten. Es wird über einen
Quellensteuersatz von 15 bis 25 Prozent diskutiert. Öster-
reich und Luxemburg vertreten die Position, dass dieses
Niveau zu hoch sei, wollen also niedrigere Steuersätze
aufgrund der Wettbewerbsvorteile auf den Kapitalmärk-
ten für sich in Anspruch nehmen.


(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Wofür sind Sie denn?)


Wir sollten uns hier genau überlegen, was wir wollen.

(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Dann sagen Sie es doch einmal! Sagen Sie doch, was Sie wollen!)


Wir haben, was die Zinsbesteuerung betrifft, in Deutsch-
land im Prinzip ein sehr gutes System, Herr Michelbach.
Wir haben die Möglichkeit der Anrechnung bei der Ein-
kommensteuer.


(Zuruf von der CDU/CSU)

– Ich rede hier von Deutschland. Sie können das nur für
Deutschland diskutieren. Das ist genau der Fehler, den
auch Herr Thiele gemacht hat. Wir reden hier über Rege-
lungen für Steuerausländer und Sie kommen immer wie-

der mit Regelungen, die für die Besteuerung im Inland
gelten sollen.


(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Aber Sie können doch sagen, was Sie hier wollen! Wofür sind Sie denn?)


Wenn wir von Leistungsgerechtigkeit bei der Besteue-
rung reden, Herr Thiele, und wenn wir darüber reden, dass
wir in der Steuerpolitik hier zu einer Regelung kommen
müssen, mit der man die Einkünfte gleich behandelt und
die Leistungsgerechtigkeit in den Vordergrund stellt,
muss man sehen, dass die 15 Prozent Abgeltungsteuer, die
Sie vorschlagen, nicht leistungsgerecht sind.


(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Nein! 25 Prozent schlagen wir vor! Das haben Sie doch gerade selbst gesagt!)


– 25 Prozent; das wäre genau das gleiche Problem. Wenn
man die Steuerprogression kennt, wenn man weiß, wo
diese Steuer positiv und wo sie negativ greift, stellt man
fest, dass man wieder bei den kleineren Einkünften die
Probleme hat.


(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Überhaupt nicht! Die Anrechnungsmöglichkeit! Das stimmt doch nicht!)


Das wollen wir nicht. Entweder Sie erheben eine Ab-
geltungsteuer oder Sie lassen das System mit der Anrech-
nungsmöglichkeit, wie es ist. Wir sind dafür, dass wir jetzt
in aller Ruhe darüber beraten. Das System ist mit der
Anrechenbarkeit derzeit gut geregelt. Jetzt müssen wir se-
hen, wie wir das Problem in den Griff bekommen, dass die
Deutschen ihr Geld im Ausland anlegen, ohne dass der
deutsche Fiskus etwas von den Erträgen sieht, die steuer-
lich geltend gemacht werden müssten. Unsere Aufgabe
ist, Steuerhinterziehung zu vermeiden. Diese Diskussion
führen wir heute. Wir diskutieren nicht darüber, wie in Zu-
kunft die Zinsbesteuerung in Deutschland aussieht. Darü-
ber diskutieren wir an anderer Stelle, gerne auch mit Ih-
nen. Da befinden wir uns im Wettbewerb der Ideen und
sind sehr aufgeschlossen. Man muss an dieser Stelle ab-
wägen, was für die Zukunft das Beste ist. Das sage ich
auch an Ihre Adresse gewandt, Herr Thiele.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411107000
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Thiele?


Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411107100

Bitte, Herr Thiele.


Carl-Ludwig Thiele (FDP):
Rede ID: ID1411107200
Herzlichen Dank. – Die
Frage ist: Wie stellen sich die Grünen das vor? Sie haben
gerade vier, fünf Minuten darüber geredet, wie es sein
könnte. Aber Sie haben nicht gesagt, was Sie wollen. Sie
haben uns vorgeworfen, wir wollten, gerade die Bezieher
niedriger Einkommen, nicht nach der Leistungsfähigkeit
besteuern. Das stimmt nicht. Ich habe vorhin ausdrücklich
auf die Abgeltungsteuer mit Anrechnungsmöglichkeit
hingewiesen. Das stellt sicher, dass jeder Steuerpflichtige,
der einen niedrigeren Steuersatz hat als die Zinsabgel-




Christine Scheel
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tungsteuer, niedriger besteuert wird als ohne Anrech-
nungsmöglichkeit.

Aber die Hauptfrage lautet: Was wollen Sie von den
Grünen denn, Nebelkerzen werfen oder ein klares Kon-
zept?


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411107300

Herr Thiele, ich habe darauf hingewiesen, dass wir uns
darüber gerne im Rahmen des Themas nationale Besteue-
rung unterhalten können. In meiner Fraktion besteht ein
sehr breiter Konsens dahin gehend, dass man hier etwas
tun muss. Darüber sind wir uns einig.


(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Aber was denn? – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Warum lehnen Sie es dann ab?)


Das Einführen von Kontrollmitteilungen führt zu Vor-
teilen, die auch in sehr vielen anderen Ländern so formu-
liert worden sind. In zahlreichen EU-Ländern wurden be-
reits auf nationaler Ebene Kontrollmitteilungen einge-
setzt. In einigen europäischen Ländern wurde eine
Abgeltungsteuer eingeführt, und zwar mit unterschiedli-
chen Kriterien im Hinblick auf Anrechenbarkeit und
Nichtanrechenbarkeit. Wir haben uns jetzt darauf verstän-
digt, die Frage der Zins- bzw. Kapitalertragsbesteuerung
insgesamt auf den Prüfstand zu stellen und zu schauen,
welche unterschiedlichen Situationen bestehen. Denn je
nach Kapitalanlage gibt es unterschiedlichste Besteuerun-
gen. Auch das ist nicht zeitgemäß. Deswegen kann man
nicht isoliert eine Maßnahme herausgreifen und so tun, als
sei das die Lösung aller Dinge. Vielmehr brauchen wir
insgesamt ein Konzept zur Kapitalertragsbesteuerung.
Daran arbeiten wir. Bekanntermaßen sind unsere Kon-
zepte immer etwas substanzieller als das, was die F.D.P.
auf den Tisch legt.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – CarlLudwig Thiele [F.D.P.]: Das war doch überhaupt keine Antwort!)


Wir sind der Meinung, dass im Rahmen des EU-Ver-
trages das Einstimmigkeitsprinzip für weitere Bereiche
aufgehoben und zum Prinzip der qualifizierten Mehr-
heit übergegangen werden sollte. Ich habe vorhin bereits
darauf hingewiesen, dass für viele Länder die Steuerpoli-
tik ein nationales Heiligtum ist. Es ist daher sehr schwie-
rig, in diesem Bereich vom Einstimmigkeitsprinzip abzu-
weichen. Aber wir sollten auch vor Augen haben, dass bei
der Harmonisierung der Energiebesteuerung nichts vor-
angegangen ist, obwohl gemäß EU-Vertrag ein direkter
Harmonisierungsauftrag vorliegt. Dies gilt übrigens
ebenso für die Kerosinbesteuerung. Daher sollte man
überlegen, wie man angesichts dessen, dass andere Län-
der in diesem Zusammenhang ihr Vetorecht in Anspruch
genommen haben, in Zukunft verfahren sollte.

Abschließend eine Bemerkung zur qualifizierten
Mehrheit: Die qualifizierte Mehrheit ist etwas anderes –
das wird immer wieder durcheinander gebracht – als die
einfache Mehrheit, sodass sehr wohl weiterhin Kompro-

misse gesucht werden müssen. Mit der Einführung der
qualifizierten Mehrheit soll jedoch eine Blockade per Ve-
torecht ausgeschlossen werden.

Ich denke, dass im Hinblick auf die weitere Entwick-
lung dieser Fragen auf die im nächsten halben Jahr beste-
hende französische Präsidentschaft eine Schlüsselfunk-
tion zukommt. Wir setzen darauf, dass sich die EU-Län-
der auch in diesem Punkt aufeinander zu bewegen, und
zwar im Interesse eines gemeinsamen Europas und auch
mit Blick auf die Erweiterung der Europäischen Union
durch osteuropäische Länder.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411107400
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411107500
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich habe den Eindruck, dass
die zum Thema Europa gehaltenen Reden derzeit immer
bombastischer werden, die Visionen immer größer, die
realen Ergebnisse jedoch im gleichen Tempo abnehmen.
Das gilt meiner Meinung nach auch für Feira.


(Beifall bei der PDS)

Dieses Missverhältnis zwischen großen Visionen und
praktischer Politik wird auch bei den Bürgerinnen und
Bürgern in den Mitgliedsländern der Europäischen Union
wahrgenommen und stärkt die Vorbehalte gegen Europa.

Damit ich nicht missverstanden werde: Ich bin kein
Gegner von europäischen Visionen und einer streitbaren
Debatte darüber. Ich achte die notwendige Kleinarbeit,
die zu leisten ist, das zähe Dicke-Bretter-Bohren, außer-
ordentlich hoch. Aber ich verlange, dass mit den Men-
schen in unserem Land und in den anderen europäischen
Ländern über die bestehenden Probleme gesprochen wird.


(Beifall bei der PDS)

Die Erfolgspropaganda, die hier immer betrieben wird,
führt nicht dazu, zu überzeugen, täuscht über die eigentli-
chen Probleme hinweg und ist kontraproduktiv.

Auch ich habe heute Morgen in der Presse gelesen,
dass der Kanzler seine Abgeordneten aufgefordert hat, die
Arbeit der Regierung ordentlich zu loben. Dass das so
schnell umgesetzt werden würde, habe ich allerdings
nicht gedacht. Aber Sie täuschen sich darüber, wie so et-
was funktioniert: Nur mit Loben überzeugt man nicht.
Wenn man aufrichtig über Probleme redet und Wider-
sprüche deutlich macht, kann man überzeugen, nicht aber
auf diese Art und Weise.


(Beifall bei der PDS)

Ich verstehe, dass der Finanzminister in seiner Regie-

rungserklärung den Schwerpunkt selbstverständlich auf
die Fragen der Zinsbesteuerung und der monetären
Aspekte gelegt hat. Er selbst sprach davon, dass ein
Durchbruch erreicht worden sei; Kollege Poß war sehr
viel vorsichtiger und sagte, es sei ein Einstieg erreicht




Carl-Ludwig Thiele

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worden. Aber auch hier muss ich betonen, dass die ei-
gentlichen Probleme von der einstimmigen Entscheidung
des Ministerrates über die Richtlinien bis hin zu den Fra-
gen, was wann konkret verabredet wird, noch offen sind.
Es ist nicht absehbar, in welchem Zeitraum Europas Steu-
erschlupflöcher, die unbedingt geschlossen werden müs-
sen, geschlossen werden.

Vielleicht war nicht mehr drin – das kann schon sein –;
aber dann bin ich dafür, dass man das hier offen sagt und
begründet, warum nicht mehr drin war, anstatt zu sagen,
man habe einen Durchbruch erreicht, die Dinge seien ge-
regelt und alles gehe seinen Gang.


(Beifall bei der PDS)

Glauben Sie mir – ich habe damit sehr viel Erfahrung –,
diese Art von Politik wird auf Dauer nicht fruchten.

Ich möchte auch darauf aufmerksam machen, dass ei-
gentlich andere Fragen im Zentrum der Tagesordnung von
Feira gestanden haben, zum Beispiel die Frage der euro-
päischen Grundrechtecharta, die in das Vertragswerk
der Europäischen Union aufgenommen werden und damit
Rechtsverbindlichkeit erhalten muss. Auf der Tagesord-
nung war die Unteilbarkeit der Menschenrechte. Dies be-
dingt, dass auch soziale Rechte in diese europäische
Grundrechtecharta aufgenommen werden. Von der Bun-
desregierung erwarte ich – bisher ist wenig dazu gesagt
worden –, dass sie dafür noch konsequenter eintritt.

Ich halte es auch für falsch, dass man in Feira die Bei-
trittsländer nicht in die Ausarbeitung der europäischen
Grundrechtecharta einbezogen hat. Wer die Beitrittslän-
der nicht an der Erarbeitung einer Grundrechtecharta be-
teiligt, wird sie sehr schwer an der Erarbeitung der Ver-
fassung beteiligen können. Das ist ein Fehler. Niemand
hätte den Europäischen Rat daran gehindert, die Beitritts-
länder einzubeziehen.


(Beifall bei der PDS)

Auch die in Feira gefassten Beschlüsse zur Erweite-

rung der Union sind aus meiner Sicht zwiespältig. Ei-
nerseits werden Fortschritte der Kandidaten gelobt; ande-
rerseits wird festgestellt, dass noch viel zu tun bleibe. Das
ist das übliche Gerede. Ich bin in vielen Gesprächen in
den osteuropäischen Beitrittsländern immer mehr zu der
Auffassung gekommen, dass diese Unverbindlichkeit bei
den Menschen dort die Sorge stärkt, dass ihr Weg in die
Europäische Union nicht gesichert ist. Es wäre sinnvoller,
einen zeitlich klareren Rahmen zu setzen und deutlichere
Aussagen in diese Richtung zu machen. Das bedeutet
auch, die Beitrittsländer heute an allem zu beteiligen, was
überhaupt nur möglich ist.

Abschließend möchte ich Sie auf einen großen Wider-
spruch aufmerksam machen. In Feira ist auch beschlossen
worden, Länder am militärischen Teil der Europäischen
Union zu beteiligen, während sie aus dem anderen Teil
noch immer ausgegrenzt sind. Die Beitrittsschwelle zum
militärischen Teil ist also deutlich niedriger. Zu den Län-
dern, die sich an der militärischen Integration beteiligen
sollen, gehört übrigens auch die Türkei. Wenn man aber
einem Land attestieren muss, dass in ihm die Grund- und
Menschenrechte nicht gewahrt sind, dann darf man es
auch nicht am militärischen Teil beteiligen, wobei ich

nicht verhehlen will, dass ich überhaupt gegen den mi-
litärischen Teil bin.

In Feira ist klar entschieden worden – ich bedaure es
außerordentlich –, dass man an der Militarisierung der Eu-
ropäischen Union und an der Schaffung von Krisenein-
satzkräften festhalten wird. Das ist aus meiner Sicht ge-
nau der falsche Weg. Wir brauchen die Sozialunion, die
Umweltunion, eine Beschäftigungsunion. Der militäri-
sche Teil der Europäischen Union wird kein Problem lö-
sen, sondern viele neue Probleme in Europa aufhäufen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411107600
Jetzt hat der
Kollege Markus Meckel das Wort.


Markus Meckel (SPD):
Rede ID: ID1411107700
Verehrte Frau Präsidentin!
Kolleginnen und Kollegen! Mit den letzten Stichworten
wurden die Themen angesprochen, denen ich mich zu-
wenden möchte, nämlich die Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik und die europäische Sicherheits- und
Verteidigungspolitik. Allerdings ist der letzte Begriff
nicht ganz korrekt – das sollten wir immer wieder deut-
lich machen –; denn von Verteidigungspolitik soll an die-
ser Stelle eigentlich nicht die Rede sein. Die Verteidigung
der Staaten, die der NATO angehören, wird Sache der
NATO bleiben. Es geht vielmehr um Krisenmanage-
ment und Krisenbewältigung.

Wir alle haben die 90er-Jahre in Erinnerung. Wir alle
haben die Unfähigkeit Europas erlebt, zu gemeinsamen
Positionen und zu gemeinsamem Handeln zu kommen. In
Bosnien und vor allem im Kosovo hat sich die Schwäche
der Europäer deutlich herausgestellt. Obwohl dies alles
noch nicht so lange her ist, wurden bereits, so glaube ich,
sichtbare Erkenntnisfortschritte erzielt. Und dabei ist es
nicht geblieben, die Erkenntnisse wurden auch in Handeln
umgesetzt. Angesichts dessen, dass die Beschlüsse von
Köln und Helsinki gerade einmal vor einem bzw. vor ei-
nem halben Jahr gefasst wurden, sind wir ungeheuer wei-
ter vorangekommen. Auch in Feira hat es wieder große
Fortschritte gegeben.

Diese Fortschritte muss es auch geben, weil es um die
gemeinsame Handlungsfähigkeit der Europäer in Krisen
geht. Sie, Herr Gehrcke, werden es wahrscheinlich be-
grüßen – Sie haben nicht davon gesprochen –, dass die
Komplementarität von zivilem und militärischem Han-
deln deutlich ausgebaut worden ist. Gerade die Einrich-
tung eines zivilen, also nicht militärischen Ausschusses
für Krisenmanagement und Konfliktprävention zeigt, was
die Stärke der Europäischen Union ausmacht.


(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD])


Gerade bei der Koordinierung dieser beiden Dimen-
sionen haben wir ein großes Defizit. Schauen wir uns die
anderen Institutionen an, die hier eine wichtige Rolle spie-
len, sei es die NATO, sei es die OSZE, seien es die Verein-
ten Nationen. Die ungenügende Koordinierung war im-
mer wieder das zentrale Problem des gemeinsamen inter-




Wolfgang Gehrcke
10468


(C)



(D)



(A)



(B)


nationalen Handelns. Die Europäische Union entwickelt
jetzt beide Fähigkeiten. Zum einen bündelt sie ihre zivi-
len, ihre politischen Fähigkeiten. Zum anderen koordi-
niert sie sie mit den militärischen Fähigkeiten, die jetzt
aufgebaut werden. Ich glaube, darin liegt eine ganz zen-
trale Dimension des gemeinsamen Handelns der Europä-
ischen Union, des gemeinsamen Handelns, das wir in der
Vergangenheit immer wieder allzu schmerzlich vermissen
mussten.

Diese Fähigkeit wird sich deutlich erhöhen, unter an-
derem dadurch, dass man sich in Feira vorgenommen hat,
kurzfristig gemeinsam Polizeitruppen bereitzustellen.
Hier gab es in der Vergangenheit ungeheure Defizite. Es
ist ja richtig, wenn gesagt wird, dass in militärischen Fra-
gen die NATO sehr viel schneller handlungsfähig ist, weil
sie über eine eingespielte Organisation verfügt. Dies müs-
sen wir auf der militärischen Ebene lernen. Wir müssen
aber nicht nur auf der militärischen Ebene lernen, sondern
auch hinsichtlich ziviler Fragen. Hier haben wir uns als in-
ternationale Staatengemeinschaft in der Vergangenheit
nun wahrhaftig nicht mit Ruhm bekleckert. Das zeigt sich
daran, wie lange es im Laufe der verschiedenen Einsätze
gedauert hat, die entsprechenden Polizeikräfte vor Ort zu
bringen. Hier gibt es sehr große Defizite.

Hier sind wir in Feira deutlich vorangekommen mit
dem Vorhaben, für künftige Einsätze 5 000 Polizeibeamte
bereitstellen zu können. Zudem soll ein kurzfristiger Ein-
satz, also ein Einsatz innerhalb von 30 Tagen, von bis zu
1 000 Polizeikräften möglich sein. Ich denke, dies sind
große Erfolge.

Außerdem ist mit den europäischen NATO-Staaten
gesprochen worden, die nicht EU-Mitglied sind. Diese
Staaten wollen beteiligt werden. Vorredner haben gesagt,
wir wollten sie hinzuziehen. Aber genau das ist falsch. Sie
sagen selber: Wir wollen beteiligt werden, brauchen dafür
aber klare Strukturen und Vereinbarungen. Auch in dieser
Hinsicht sind wir in Feira einen großen Schritt vorange-
kommen. Die Notwendigkeit regelmäßiger Konsultatio-
nen ist aufgezeigt worden. Ebenso muss es gemeinsame
Arbeitsgruppen mit der NATO geben, die ein Abkommen
vorbereiten, das fertig sein soll, wenn die europäischen
Krisenreaktionskräfte in drei Jahren zur Verfügung ste-
hen. Darin sollen Fragen der Sicherheitsbestimmungen
und der konkreten Verfahren zur Bereitstellung von
NATO-Ressourcen für europäische Einsätze geklärt wer-
den. Dies ist ein wichtiges Stück Arbeit. Wichtig ist auch,
dass die Widerstände, die es insbesondere in der Türkei,
aber auch in Norwegen gibt, überwunden werden. Des-
halb muss die Transparenz dieser Verfahren deutlich wer-
den.

Es ist gut, dass es im Herbst eine Beitragskonferenz ge-
ben wird, sodass bis Nizza im Dezember klar ist, welche
Staaten welche Beiträge – auch militärisch – einbringen
können.

Ich möchte auf einen weiteren Punkt eingehen, und
zwar die gemeinsame Strategie gegenüber den Mittel-
meerstaaten. Es ist ganz wesentlich, dass wir nach der
gemeinsamen Strategie gegenüber Russland und der
Ukraine nun auch eine gemeinsame Strategie gegenüber
den Mittelmeerstaaten entwickeln. Dieser Region, die für

die nachbarschaftlichen Beziehungen der Europäischen
Union ganz zentral ist, müssen wir uns in besonderem
Maße widmen. Dies darf Deutschland nicht den südlichen
Mitgliedstaaten überlassen; wir als Deutsche sollten uns
daran intensiv beteiligen.

Zum Schluss möchte ich noch einen Punkt ansprechen,
der noch nicht geklärt ist, nämlich die parlamentarische
Begleitung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheits-
und der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspoli-
tik. Es wird hier noch einiger Anstrengungen und Ge-
spräche bedürfen. Die Parlamentarische Versammlung
der WEU – ihr Präsident ist ja Mitglied unseres Hauses –
hat beschlossen, sich entsprechend zu verändern, weil sie
der Meinung ist, dass es auch künftig einer solchen in-
terparlamentarischen Versammlung bedarf. Das Europä-
ische Parlament sieht dies anders und will ihre Aufgaben
voll übernehmen. Es sagt, wenn die WEU in die EU inte-
griert werde, sei auch die Parlamentarische Versammlung
nicht mehr nötig. Eines jedenfalls muss klar sein: Es muss
eine parlamentarische Begleitung der Außen- und Sicher-
heitspolitik geben. – Diese Diskussion müssen wir auch
intern weiterführen, um hier zu klaren Regelungen zu
kommen.

Europa ist langsam nicht nur ein großer Wirtschafts-
faktor, sondern wird auch zu einem wesentlichen politi-
schen Faktor in der Welt. Die internationale Staatenge-
meinschaft sieht dies durchaus mit großen Hoffnungen.
Unsere Aufgabe wird es sein, diesen Hoffnungen gerecht
zu werden. Gerade wir Deutschen tragen dafür eine große
Verantwortung.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411107800
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gerd Müller.


Dr. Gerd Müller (CSU):
Rede ID: ID1411107900
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Wir haben es wieder einmal
geschafft: Ich glaube, dass uns – so ein Fernsehsender
diese Europadebatte überträgt – kaum noch einer freiwil-
lig zuhört. Auch das Plenum haben wir wieder einmal leer
geredet. Ist das Europa?


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Das schaffen Sie auch noch!)


Europa hat so spannende Themen zu bieten. Aber wie
wir das präsentieren – parteiübergreifend! –, macht mir
Sorge. In Feira wurden 80 Punkte beschlossen, darunter
so spannende Themen wie die Aufstellung einer 5 000
Mann starken europäischen Polizei. Auch das Problem ei-
ner einheitlichen Zinsbesteuerung wurde angesprochen.
Was die europäische Entwicklung anbetrifft, sind wir in
einer der spannendsten Phasen der letzten 20 Jahre.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Sie
zuhören, wir sind in der Endphase der Diskussion über
eine Grundrechtscharta, was den Einstieg in eine europä-
ische Verfassung bedeutet. Die Mitgliedstaaten führen
Beitrittsverhandlungen mit zwölf mittelosteuropäischen




Markus Meckel

10469


(C)



(D)



(A)



(B)


Staaten. Die Bundesregierung will die Aufnahme der
Türkei in die Europäische Union; die ersten Gespräche
dazu laufen.

Aber bei all diesen wichtigen Themen verweigern sich
der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister dem
Plenum, der Öffentlichkeit. Dies können wir nicht akzep-
tieren, dies können wir nicht hinnehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir stehen vor der größten institutionellen Reform in Eu-
ropa der letzten 20 Jahre: Stimmenwägung im Minister-
rat, qualifizierte Mehrheit, Zusammensetzung des Euro-
päischen Parlaments. Dennoch ist die Bundesregierung
nicht bereit, diese zentralen Fragen mit dem Deutschen
Bundestag zu diskutieren.


(Günter Gloser [SPD]: Das stimmt doch einfach nicht!)


Dies ist ein autoritärer Regierungsstil – Geheimdiploma-
tie! Bundeskanzler Schröder sitzt öfter und länger am
Gendarmenmarkt als hier im deutschen Parlament.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das können wir uns nicht bieten lassen.

Deshalb werden wir in den nächsten Wochen eine Ini-
tiative ergreifen. Die Mitwirkungsrechte des Deutschen
Bundestags in zentralen Fragen der Europapolitik müs-
sen gestärkt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir werden einen Vorstoß zur Ergänzung des
Art. 23 Grundgesetz unternehmen, ein maßgebliches Mit-
entscheidungsrecht des Bundestages bei zentralen euro-
päischen Themen, die unsere Bürger im Staat interessie-
ren und berühren, einzuführen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Rede des französischen Staatspräsidenten Chirac

war hochinteressant. Wir wissen jetzt, was die Franzosen
wollen. Das Kolloquium des Privatmannes Joseph
Fischer an der Humboldt-Universität war hochinteres-
sant. Aber wir wissen nicht, was der frühere Straßen-
kämpfer und Basisdemokrat, der heutige deutsche Außen-
minister, als Außenminister in die Regierungskonferenz
einbringt. Das ist nicht hinnehmbar, das ist skandalös.


(Beifall bei der SPD – Günter Gloser [SPD]: Sogar Stoiber spricht mittlerweile eine andere Sprache!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Regie-
rung hätte – und dazu fordern wir sie auf – in Anknüpfung
an die Rede von Präsident Chirac die große Chance, die
zentrale Aussage von Chirac aufzugreifen und eine
deutsch-französische Initiative zur Kompetenzabgren-
zung in diese Regierungskonferenz – so wie es gute Tra-
dition der Regierung Kohl/Waigel war, ich erinnere an die
Subsidiaritätsinitiative –


(Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Amsterdam!)

einzubringen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Chirac, Prodi, die deutschen Bundesländer, der Privat-
mann Fischer, alle bezeichnen das Thema Kompetenzab-
grenzung als das jetzt drängendste zentrale Thema. Ich
möchte einen Grund von Bundeskanzler Schröder erfah-
ren, warum er auf diesen Zug nicht aufspringt.


(Markus Meckel [SPD]: Das ist ganz einfach, das wissen Sie doch!)


Dies ist der Schlüssel. Jeder stellt visionäre Reden in den
Raum. Es ist interessant, darüber zu schwadronieren und
zu visionieren, was in 50, in 100 Jahren in Europa sein soll
oder muss. Es ist interessant, notwendig, wichtig. Aber es
lenkt natürlich davon ab, dass die Bundesregierung dazu,
was konkret jetzt, heute, morgen, in zwei Jahren passieren
muss, nichts zu bieten hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir brauchen nicht nur eine neue Ordnung in Europa –

Herr Finanzminister Eichel, nachdem Sie die Regierungs-
erklärung abgegeben haben, halten Sie Hof auf der Re-
gierungsbank –, sondern wir brauchen natürlich auch eine
innere Reform der Bundesrepublik Deutschland, was
den Staat, den Verwaltungsapparat, die Finanzverfas-
sung – Theo Waigel hat dazu wichtige Anstöße gegeben –
und die Gesetzgebung, die Rechtsprechung anbetrifft.
Das wäre Substanz in der Politik. Nehmen Sie diese
Chance wahr und diese Anregung auf, wir als Opposition
würden Sie unterstützen. Es kann nicht sein, dass wir oben
eine neue Ebene, die europäische Ebene, draufsetzen,
aber heute in Deutschland die Situation haben, dass wir
für die Genehmigung von 20 Kilometern Autobahn wie
zum Beispiel bei der A 7 bei mir zu Hause in Füssen ein
35 Jahre dauerndes Genehmigungsverfahren brauchen.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Unglaublich!)


Deshalb müssen wir Deutschland auch nach innen euro-
pafähig machen. Das ist eine ganz wichtige Standortfrage.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das wird übersehen!)


Herr Eichel, die Aufnahme Griechenlands in den Eu-
rokreis zum jetzigen Zeitpunkt war ein schwerer Fehler.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Staatsverschuldung betrug 104 Prozent. Bei der In-
flationsbekämpfung wurde manipuliert. Sie haben die
Kriterien einfach einmal mit links hinweggeschoben und
das Vertrauen in den Euro beschädigt.

Sehr geehrter Herr Finanzminister, zur Zinsbesteue-
rung wurde vom Kollegen der F.D.P. Wesentliches und
Wichtiges gesagt. Ich kürze dies ab – ich stimme den Ar-
gumenten zu – denn ich möchte Ihnen, nachdem Sie heute
der Ersatzkanzler sind, noch einige andere Fragen stellen.
Im Zusammenhang mit der Regierungskonferenz und der
Osterweiterung stehen natürlich weitere zentrale Fragen
zur Debatte, die gerade den Finanzminister berühren.
Sagen Sie dem deutschen Volk: Wie wollen Sie die Ost-
erweiterung finanzieren? Das interessiert unsere Bür-
gerinnen und Bürger.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es!)





Dr. Gerd Müller
10470


(C)



(D)



(A)



(B)


Sagen Sie dem deutschen Volk, wie Sie das Finanzsys-
tem der EU korrigieren wollen. Deutschland zahlt
60 Prozent der Nettotransfers.


(Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Das müssen Sie doch wissen!)


Herr Finanzminister, beim Berliner Gipfel haben Sie
bewusst für den Beitritt in den nächsten Jahren Finanzbe-
schlüsse gefasst, die bis zum Jahre 2006 keine finanzielle
Grundlage für eine Erweiterung der Union schaffen. Wie
wollen Sie darauf reagieren? Kommen Sie ans Mikrofon.
Das sind die zentralen Themen.

Die Erweiterung der Europäischen Union ist auf der
Basis der Agenda-2000-Beschlüsse nicht möglich.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Das ist auch die Aussage von Staatsminister Zöpel im Eu-
ropaausschuss, von Kommissar Fischler und dem Präsi-
denten der EU-Kommission Prodi.


(Widerspruch bei der SPD)

Jeder Finanzmann weiß genau, die Finanzplanung bis
2006 beruht auf der Annahme von Verhandlungen mit
sechs und nicht mit zwölf Beitrittsstaaten. Dieser Finanz-
rahmen ist unter der Maßgabe beschlossen worden, dass
die beitretenden osteuropäischen Staaten von den Direkt-
beihilfen im Agrarbereich ausgeschlossen werden. Dies
wurde bisher alles über Bord geworfen. Das sind die Fra-
gen an den Finanzminister.

Herr Finanzminister, der ehemalige Bundeskanzler
Kohl und der ehemalige Finanzminister Waigel haben Ih-
nen ein Instrument an die Hand gegeben, das Instrument
der Kofinanzierung.


(Lachen bei der SPD)

Wir haben präzise Vorschläge zur Reform der Struktur-
und Kohäsionsfonds unterbreitet. Seit Sie im Amt sind, in
den vergangenen eineinhalb Jahren, haben Sie sich nicht
mehr mit diesem Thema beschäftigt. Sie haben kein Kon-
zept, keinen Vorschlag und keine Lösungsansätze.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411108000
Herr Kollege,
denken Sie bitte daran, dass Ihre Redezeit abgelaufen ist.


Dr. Gerd Müller (CSU):
Rede ID: ID1411108100
Frau Präsidentin, ich
komme zum Schluss. Wo ist Ihr Konzept? Wo ist Ihr Bun-
deskanzler?


(Hans-Werner Bertl [SPD]: Das ist ein Groschenroman, den Sie hier ablassen!)


Wir sehen mit großer Sorge, dass die Bundesregierung, al-
len voran der Bundeskanzler – ich komme zum Schluss –,
Europapolitik nur noch als willkommenen Event betrach-
tet: Bilder stellen, mit Staatsmännern spazieren gehen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411108200
Herr Kollege,
bitte.


Dr. Gerd Müller (CSU):
Rede ID: ID1411108300
Politik verkommt bei
Ihnen zum Infotainment, meine sehr verehrten Damen
und Herren.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Gisela Frick [F.D.P.] – Joachim Poß [SPD]: Absoluter Stuss!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411108400
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dietmar Nietan.


Dietmar Nietan (SPD):
Rede ID: ID1411108500
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Es erfreut mich immer wieder zu
sehen, welch große Sehnsucht in den Reihen der
CDU/CSU besteht, den Worten unseres Kanzlers zu lau-
schen. Ich kann das nachvollziehen. Ich werde Ihre Bitte
unterstützen, dass Sie ihn noch möglichst oft und mög-
lichst lange hören werden.


(Beifall bei der SPD)

Lassen Sie uns zu dem Thema zurückkommen, das An-

lass dieser Debatte sein sollte, nämlich der Europäische
Rat in Feira. Ich kann natürlich verstehen, dass aus Sicht
der Opposition die Ergebnisse einer solchen Veranstal-
tung immer unter dem Motto gesehen werden: Wir sehen
uns nicht an, ob das Glas halb voll ist, sondern bei uns ist
es grundsätzlich halb leer. Das ist legitim. Aber es wäre
sehr unredlich, wenn man wie Sie in diesen Rat hineinin-
terpretieren würde: Das hätte der Europäische Rat mit
weitreichenden historischen und abschließenden Ent-
scheidungen sein müssen. Sie alle wissen, dass es bei die-
ser Tagung darum ging, historische und weitreichende
Entscheidungen vorzubereiten. Ich glaube, diese Aufgabe
hat der Europäische Rat mit Bravour erfüllt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will nur noch einmal kurz sagen, – es ist schon an-
gedeutet worden –: Wir haben uns als aufstrebende, dy-
namische, wirtschaftliche Macht positioniert, auch im Be-
reich E-Commerce und im Bereich der Informationsge-
sellschaft. Wir haben das Ganze mit einer sozialen
Dimension verbunden – auch das ist ein Novum im Ver-
gleich zu dem, was EU-Politik darstellte, als noch jemand
anders die Regierungsverantwortung trug. An der sozia-
len Dimension wird unter französischer Präsidentschaft
weitergearbeitet. Auch da sind wir weitergekommen.

Es muss noch einmal deutlich gesagt werden: Es sind
die Weichen gestellt worden, Europa institutionell erwei-
terungsfähig zu machen. Ich betone an dieser Stelle aus-
drücklich: Es war richtig, dass auf dem Rat in Feira be-
schlossen wurde, sich auf die drei „leftovers“ von Ams-
terdam zu konzentrieren und sie mit einer weiteren
Erarbeitung der verstärkten Zusammenarbeit zu ergänzen.

Jeder, der im Sinn gehabt hat, die Themen für die Re-
gierungskonferenz in Nizza auszuweiten, hätte deren
Scheitern oder zumindest die Verwässerung der Ergeb-
nisse in Kauf genommen und damit letztlich die Erwei-
terungsfähigkeit infrage gestellt. Genau das galt es zu




Dr. Gerd Müller

10471


(C)



(D)



(A)



(B)


verhindern. Deshalb war der Beschluss, sich zu konzen-
trieren, richtig.


(Beifall bei der SPD)

Er war deshalb richtig, weil wir vor einer historischen

Herausforderung stehen, jetzt die EU-Erweiterung in
eine konkrete Phase zu bringen. Ich glaube, dass es nach
der Vollendung der deutschen Einheit gerade für uns eine
große Aufgabe ist, als Bundesrepublik Deutschland aktiv
an der Vollendung der Einheit Europas mitzuwirken. Wir
sind auf einem richtigen Weg und es ist falsch, es so dar-
zustellen, als wäre nicht gerade die deutsche Regierung
immer noch ein Motor der EU-Osterweiterung. Das wer-
den wir auch bleiben.


(Beifall bei der SPD)

Vor diesem Hintergrund gilt es noch einmal deutlich zu

sagen – das gebietet die Ehrlichkeit – : Es ist richtig, dass
solch ein historischer Prozess nicht nur Chancen, sondern
auch Risiken birgt. Darüber muss man mit den betroffe-
nen Menschen reden, darf aber nicht mit der Angst der
Menschen spielen, wie das einige Protagonisten der
CDU/CSU tun. Wir haben in der SPD klar Stellung bezo-
gen und gestern in der Fraktion einstimmig ein Papier mit
konkreten, konstruktiven Vorschlägen verabschiedet, mit
welchem wir uns in der EU-Osterweiterung positionieren.
Wir haben schon seit einiger Zeit mit unserem europapo-
litischen Sprecher, Günter Gloser, an der Spitze die
Grenzregionen besucht und dort mit den Menschen ge-
sprochen, um konstruktiv deren Sorgen und Bedenken
aufzunehmen und nicht etwa um Ängste zu schüren. Ich
glaube, das ist der richtige Weg.


(Beifall bei der SPD)

Wir setzen uns auch dafür ein, dass es auf Regierungs-

ebene eine ressortübergreifende Strategie zur Flankierung
dieses Erweiterungsprozesses – gerade auch für die
Grenzgebiete – gibt. Für all diejenigen, die immer noch
auf Angst setzen, sei die Information hinzugefügt, die wir
gestern von Herrn Verheugen erhalten haben, nämlich
dass auch die EU-Kommission an einem Aktionsplan für
die Grenzregionen arbeitet. Gemeinsam werden wir es
auch schaffen, die dort vorhandenen Probleme, die man
nicht wegreden soll, anzugehen. Man kann sie aber nur
dann angehen, wenn man konkrete Handlungsschritte ent-
wickelt, und nicht, wenn man mit der großen Angstwelle
arbeitet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will nicht noch einmal betonen, dass die EU-
Osterweiterung ein historischer Prozess ist, bei dem die
Chancen überwiegen. Wir können diesem historischen
Prozess nicht mit formalem Klein-Klein begegnen, son-
dern müssen jetzt vom Reden zum Handeln kommen. Es
müssen die Voraussetzungen für eine zügige Realisierung
der EU-Erweiterung geschaffen werden. Dazu gehört die
Schaffung eines angemessenen finanziellen Rahmens.
Ich will an die Adresse der CDU/CSU-Fraktion sagen:
Wenn ich mich an die Diskussionen im Rahmen der
Agenda 2000 erinnere, bin ich gespannt, welche Beiträge
wir von Ihnen erleben werden, wenn wir im Jahr 2003 die

Debatte über eine notwendige Reform der gemeinsamen
Agrarpolitik führen werden, um erweiterungsfähig zu
werden.

Diejenigen, die auf der einen Seite überall erzählen,
wir bräuchten ein möglichst frühes und schnelles Bei-
trittsdatum für die Länder in Mittel- und Osteuropa, die
sich aber auf der anderen Seite im Bereich der Agrarre-
formen zum Besitzstandswahrer aufschwingen und die
Ängste bei den deutschen Bauern schüren – so wie Sie das
tun, indem Sie ihnen erzählen, man brauche an der Agrar-
politik nichts zu ändern und könne trotzdem die Erweite-
rung erreichen –, handeln unverantwortlich. Ich bin wirk-
lich gespannt, wie Sie das in Zukunft angehen werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Uwe Küster [SPD]: Unseriös! – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Sie haben keine Ahnung!)


Ich sehe an dieser Stelle gewisse Parallelen zur deutschen
Einheit. Da ist von einigen Leuten erzählt worden, man
könne diese nebenbei aus der Portokasse bezahlen. Wir
brauchen nicht mehr weiter darüber zu reden, wozu dies
geführt hat.

Es ist auch wichtig – ich habe das schon gesagt –, jetzt
endlich den institutionellen Rahmen für die Erweiterung
zu schaffen und einen Fahrplan dafür vorzulegen. Kom-
missar Verheugen hat gestern im Europaausschuss deut-
lich gemacht, dass jetzt ein konkreter Fahrplan erarbeitet
wird. Darum geht es auch. Es wäre unredlich, sich schon
jetzt auf ein Datum zu fixieren. Viel redlicher ist es, ge-
meinsam – ich fordere Sie in diesem Zusammenhang auf,
konstruktiv daran mitzuwirken – an einem Fahrplan zu ar-
beiten. Ein solcher soll vorgelegt werden, um dann im
Jahre 2001 mit der konkreten Endphase der Beitrittsver-
handlungen beginnen zu können. Wir wollen die institu-
tionellen Reformen schaffen, um im Jahre 2003 beitritts-
fähig zu sein. Auf diese Weise haben wir auch einen Ziel-
korridor, den wir den Menschen in den mittel- und
osteuropäischen Staaten konkret nennen müssen, weil sie
diese Perspektive des Beitritts brauchen. Dies darf nicht
auf den Sankt-Nimmerleins-Tag vertagt werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich glaube, dass an dieser Stelle sehr viele Staaten in
Europa auf Deutschland schauen werden. Sie werden
nicht nur darauf schauen, ob die deutsche Regierung wei-
ter ein Motor bei der EU-Erweiterung bleibt, sie werden
auch darauf schauen, wie die größte Oppositionspartei da-
mit umgeht. Ich sage einmal: Wenn die Experten der
Konrad-Adenauer-Stiftung den Fraktionsvorsitzenden
zurechtrücken müssen,


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Wo ist denn der Fraktionsvorsitzende?)


indem sie in einem Papier deutlich machen, dass ein He-
reinnehmen der Diskussion über die Kompetenzabgren-
zung in die Konferenz von Nizza zu einer Belastung die-
ser Konferenz führen würde und deshalb nicht sachdien-
lich ist, dann frage ich mich in der Tat: Wer hat in der




Dietmar Nietan
10472


(C)



(D)



(A)



(B)


CDU/CSU-Fraktion das Sagen? Wer wird sich in der
CDU/CSU-Fraktion durchsetzen?


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411108600
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Müller?


Dietmar Nietan (SPD):
Rede ID: ID1411108700
Selbstverständlich.


Dr. Gerd Müller (CSU):
Rede ID: ID1411108800
Herr Kollege, können
Sie zur Kenntnis nehmen, dass die Forderung nach Auf-
nahme der Kompetenzabgrenzung in die laufenden Ver-
handlungen der Regierungskonferenz eine Forderung des
Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Herrn Merz, ist
und diese Forderung präzise am Sonntag im Interview des
ZDF und am Montag vom französischen Staatspräsiden-
ten in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag über-
nommen wurde? Wie bewerten Sie dies?


(Zurufe von der SPD: Oh! – Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Aber nicht auf dieser Regierungskonferenz!)



Dietmar Nietan (SPD):
Rede ID: ID1411108900
Ich bewerte das als sehr posi-
tiv. Das sehe ich auch im Zusammenhang mit der Initia-
tive der Bundesregierung, die ja auch gesagt hat, dass sie
auf einer weiteren Regierungskonferenz zur Kompetenz-
abgrenzung zu Beschlüssen kommen will. Aber im Ge-
gensatz zu Herrn Merz und zum Ministerpräsidenten von
Bayern


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Chirac!)

haben wir nicht – und auch nicht der Herr Chirac – eine
Perspektive eröffnet für die Kompetenzabgrenzung, die
erstens unrealistisch ist und zweitens die Regierungskon-
ferenz belasten würde. Das ist der Unterschied; den müs-
sen Sie zur Kenntnis nehmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Harte Kritik am französischen Präsidenten!)


Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal sagen, weil
es mir wirklich sehr wichtig ist: Wir müssen an dieser
Stelle auch als Parlament das Signal der Einmütigkeit set-
zen, dass wir alle die EU-Osterweiterung wollen. Ich sage
sehr deutlich: Wer – wie das hier angedeutet wird – sagt,
er sei bereit – wie zum Beispiel Herr Merz –, die Be-
schlüsse und die Ratifizierung der Regierungskonferenz
zu blockieren, wenn nicht genügend im Bereich der
Kompetenzabgrenzung geschehen sei, der setzt die zü-
gige EU-Osterweiterung aufs Spiel


(Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: So ist es!)

und der wird – auch das sage ich an dieser Stelle sehr deut-
lich – zum Sicherheitsrisiko für Europa.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Dann sind Sie ein Geisterfahrer!)


Für mich ist die entscheidende Frage: Wird sich die
Blockiererfraktion durchsetzen? Wir sehen das bei der
Rentenreform, wir sehen das beim Energiekonsens, wir

sehen das bei der Steuerdebatte. Sie können ja im Moment
nur noch blockieren, weil Ihnen die Inhalte fehlen. Aber
es wäre fatal, wenn Sie das auch in Europa machen wür-
den.

Ich rufe den konstruktiven Europapolitikern, von de-
nen es eine ganze Reihe gibt, die ich auch hier im Saal
sehe, zu: Sagen Sie das, was Sie uns immer unter vier Au-
gen sagen, auch öffentlich, dass wir eigentlich nicht weit
auseinander sind, dass wir an einem Strang ziehen,


(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Hat der Kollege Merz gemacht!)


und sorgen Sie dafür, dass die Blockierer in Ihren Reihen
endlich wieder in die Schranken gewiesen werden. Ich
glaube, von diesem Parlament muss das Signal ausgehen,
dass wir gemeinsam die EU-Osterweiterung wollen und
dass wir uns nicht im Klein-Klein ergehen, sondern diese
historische Aufgabe mit Tatkraft anpacken und nicht zer-
reden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411109000
Ich schließe da-
mit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung
der Vorlagen auf den Drucksachen 14/3623, 14/3669 und
14/3300 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis o auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-

gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den An-
passungsprotokollen zu den Europa-Abkom-
men zwischen den Europäischen Gemein-
schaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits,
der Republik Ungarn, der Tschechischen
Republik, der Slowakischen Republik, der
Republik Polen, der Republik Bulgarien und
Rumänien andererseits
– Drucksache 14/3464 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 7. September 1999 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Repu-
blik Usbekistan zur Vermeidung der Doppel-
besteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom
Einkommen und vom Vermögen
– Drucksache 14/3465 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem




Dietmar Nietan

10473


(C)



(D)



(A)



(B)


Abkommen vom 21. Mai 1999 zwischen der
Regierung der Bundesrepublik Deutschland
und der Regierung der Republik Moldau
über den Luftverkehr
– Drucksache 14/3475 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Finanzausschuss

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 28. Juli 1995 zwischen der Re-
gierung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung der Aserbaidschanischen Re-
publik über den Luftverkehr und zu dem Pro-
tokoll vom 29. Juni 1998 zur Berichtigung
und Ergänzung des Abkommens vom 28. Juli
1995 zwischen der Regierung der Bundesre-
publik Deutschland und der Regierung der
Aserbaidschanischen Republik über den
Luftverkehr
– Drucksache 14/3476 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Finanzausschuss

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 6. März 1997 zwischen
den Parteien des Nordatlantikvertrags über
den Geheimschutz
– Drucksache 14/3457 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss

f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes
– Drucksache 14/3553 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Um-
rechnung und Glättung steuerrechtlicher Euro-
Beträge (Steuer-Euroglättungsgesetz – StEuglG)

– Drucksache 14/3554 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

h) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung verkehrswegerechtlicher Vorschriften
– Drucksache 14/3646 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

i) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be-
kämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehin-
derter (SchwbBAG)

– Drucksache 14/3645 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

j) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Bundesfernstraßengesetzes (FStrÄndG)

– Drucksache 14/2994 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

k) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Schornsteinfegergesetzes und ande-
rer schornsteinfegerrechtlicher Vorschriften
– Drucksache 14/3650 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung

l) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid), Dr. Wolf
Bauer, Dr. Sabine Bergmann-Pohl, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Abgabe von Hilfsmitteln durch Gesundheits-
handwerker sichern
– Drucksache 14/3184 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef
Parr, Dr. Dieter Thomae, Dr. Irmgard Schwaetzer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
F.D.P.
Hochwertige Hilfsmittelversorgung durch
Gesundheitshandwerker sichern
– Drucksache 14/2787 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus
Grehn, Petra Bläss, Dr. Ruth Fuchs, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes
– Drucksache 14/3381 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
10474


(C)



(D)



(A)



(B)


Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss

o) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Heidi Lippmann, Carsten Hübner, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Einstufung des irakischen Giftgasangriffs am
16. März 1988 auf Halabja als Völkermord –
Humanitäre Hilfe für die Opfer des Angriffs
– Drucksache 14/2916 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschla-
gen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführ-
ten Ausschüsse zu überweisen. Einverstanden? – Das ist
der Fall. Dann ist das so beschlossen.

Interfraktionell ist vereinbart worden, den Tagesord-
nungspunkt 27, den ich gleich aufrufen werde, um die Be-
ratung von zwei Beschlussempfehlungen des Rechtsaus-
schusses zu Streitsachen vor dem Bundesverfassungsge-
richt, Drucksachen 14/3703 und 14/3704, zu erweitern.
Die Beschlussempfehlungen sollen am Ende dieses Ta-
gesordnungspunktes als Zusatzpunkte 15 und 16 beraten
werden. Einverstanden? – Dann ist so beschlossen.

Wir kommen also zum Tagesordnungspunkt 27 a bis j
sowie zu den Zusatzpunkten 15 und 16. Es handelt sich
um Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist,
sodass wir jetzt eine Reihe von Abstimmungen haben.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 a auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zu dem Protokoll vom 14. Dezember 1998
zur Änderung des am 3. Dezember 1980 in
Bonn unterzeichneten Abkommens zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und den
Vereinigten Staaten von Amerika zur Vermei-
dung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet
der Nachlass-, Erbschaft- und Schenkung-
steuern
– Drucksache 14/3248 –

(Erste Beratung 105. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-
ausschusses (7. Ausschuss)

– Drucksache 14/3678 –
Berichterstattung:

(Rednitzhembach)

Heidemarie Ehlert

Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache
14/3678, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen

wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be-
ratung mit den Stimmen des gesamten Hauses angenom-
men worden.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Stimmt jemand dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-
entwurf ist damit in dritter Lesung angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 27 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra
Pau und der Fraktion der PDS
Anerkennung eines Asylanspruchs für jugo-
slawische Deserteure und Kriegsdienstver-
weigerer
– Drucksachen 14/1183, 14/3540 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Rüdiger Veit
Dietmar Schlee
Marieluise Beck (Bremen)

Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke

Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksa-
che 14/1183 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung des Ausschusses? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit
den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS an-
genommen worden.

Tagesordnungspunkt 27 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Im-
munität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss) zu
der Unterrichtung durch das Europäische Parla-
ment gemäß § 93 Abs. 1 GO
Beschluss des Europäischen Parlaments über
die Prüfung der Mandate zur 5. Direktwahl
zum Europäischen Parlament vom 10. bis
13. Juni 1999
– EuB-EP 575 –
– Drucksachen 14/2817 Nr. 1.5, 14/3437 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm

Der Ausschuss empfiehlt, zu dieser Unterrichtung dem
Europäischen Parlament durch den Präsidenten des Deut-
schen Bundestages eine Stellungnahme zu übermitteln.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses? – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist damit einstimmig angenommen
worden.

Wir kommen jetzt zu einer Reihe von Beschlussemp-
fehlungen des Petitionsausschusses.




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

10475


(C)



(D)



(A)



(B)


Tagesordnungspunkt 27 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 167 zu Petitionen
– Drucksache 14/3529 –

Wer stimmt dafür? – Gibt es Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Sammelübersicht 167 ist einstimmig ange-
nommen worden.

Tagesordnungspunkt 27 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 168 zu Petitionen
– Drucksache 14/3530 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Auch Sammelübersicht 168 ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 27 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 169 zu Petitionen
– Drucksache 14/3531 –

Wer stimmt dafür? – Gibt es Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Sammelübersicht 169 ist einstimmig ange-
nommen worden.

Tagesordnungspunkt 27 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 170 zu Petitionen
– Drucksache 14/3532 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Sammelübersicht 170 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 27 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 171 zu Petitionen
– Drucksache 14/3533 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Sammelübersicht 171 ist mit den Stimmen der Koaliti-
onsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposi-
tion angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 27 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 172 zu Petitionen
– Drucksache 14/3534 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Sammelübersicht 172 ist mit den Stimmen der Koaliti-
onsfraktionen, der PDS, der F.D.P. gegen die Stimmen
von CDU/CSU angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 27 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 173 zu Petitionen
– Drucksache 14/3536 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Sammelübersicht 173 ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen wor-
den.

Zusatzpunkt 15:
Beschlussempfehlung des Rechtssausschusses
zu den dem Bundestag zugeleiteten Streitsachen
vor dem Bundesverfassungsgericht
– Drucksache 14/3703 –

Das ist die Übersicht 5.
Der Ausschuss empfiehlt, von einer Äußerung oder ei-

nem Verfahrensbeitritt abzusehen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung des Ausschusses? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
einstimmig angenommen worden.

Zusatzpunkt 16:
Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu
den dem Bundestag zugeleiteten Streitsachen
vor dem Bundesverfassungsgericht
– Drucksache 14/3704 –

Der Ausschuss empfiehlt, Stellungnahmen abzugeben
und den Präsidenten zu bitten, einen Prozessbevollmäch-
tigten zu bestellen. Wer stimmt dem zu? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Auch diese Beschlussempfeh-
lung ist einstimmig angenommen worden.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 und den Zusatz-
punkt 7 auf:

6. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,
CDU/CSU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
25 Jahre KSZE/OSZE
– Drucksache 14/3666 –

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, Günther
Friedrich Nolting, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der F.D.P.
OSZE stärken
– Drucksache 14/3674 –

Ich gehe davon aus, dass über den Antrag der Fraktio-
nen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 14/3399, der inhaltsgleich ist mit dem Antrag unter




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
10476


(C)



(D)



(A)



(B)


Tagesordnungspunkt 6, nicht weiter beraten wird. – Es
gibt keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Sie sind einver-
standen. Dann verfahren wir so.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst für
die SPD-Fraktion die Abgeordnete Uta Zapf.


Uta Zapf (SPD):
Rede ID: ID1411109100
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die Debatte, die wir heute führen, findet
aus Anlass des 25-jährigen Bestehens der KSZE/OSZE
statt. Ich freue mich ganz besonders, dass dieser Debatte
Jan Kubis, der Generalsekretär der OSZE – er hat auf der
Tribüne Platz genommen –, zuhört.


(Beifall)

Herr Kubis, es ist von Ihnen sehr freundlich, dass Sie
diese Debatte verfolgen.

Gerade für uns in der Bundesrepublik Deutschland hat
die KSZE bzw. die OSZE eine überragende Bedeutung.
Sie wurde als Konferenz für Sicherheit und Zu-
sammenarbeit in Europa am 1. August 1975 mit der
Schlussakte von Helsinki ins Leben gerufen. Vorher gab
es „talks about talks“, die die Modalitäten festlegen soll-
ten. Die Konferenz tagte zwei Jahre und dann wurde die
Schlussakte verabschiedet.

Diese Konferenz war ein Kind des Kalten Krieges und
der neuen Ostpolitik, der Entspannung, die maßgeblich
von Willy Brandt geprägt wurde. Sie hat trotz mancher
Rückschläge wesentlich zur Überwindung der Ost-West-
Konfrontation beigetragen und damit letztendlich auch
die Wiedervereinigung Deutschlands möglich gemacht.
Der Helsinki-Prozess führte zum friedlichen Wandel und
zum Fall des Eisernen Vorhangs.

35 Staaten verabredeten – ich zitierte –
im Interesse der Völker ihre Beziehungen zu verbes-
sern und zu verstärken, in Europa zum Frieden, zur
Sicherheit, zur Gerechtigkeit und zur Zusammenar-
beit sowie zur Annäherung zwischen ihnen und den
anderen Staaten der Welt beizutragen.

Der Prozess der Entspannung sollte erweitert, vertieft und
dauerhaft gemacht werden.

Die 35 Staaten legten zehn Grundprinzipien, den so ge-
nannten Dekalog, fest, die vornehmlich auf den Bereich
der zwischenstaatlichen Beziehungen ausgerichtet waren,
jedoch in der Praxis eine bedeutsame Berufungsgrund-
lage für die innergesellschaftliche Entwicklung darstell-
ten. Es waren Gewaltverzicht, Unverletzlichkeit der
Grenzen, friedliche Regelung von Streitfällen und – das
ist ganz besonders wichtig – die Achtung der Menschen-
rechte und der Grundfreiheiten einschließlich Gedanken,
Gewissens-, Religions- und Überzeugungsfreiheit.

Diese Verpflichtung auf die universelle Bedeutung der
Menschenrechte und Grundfreiheiten wird in der Schluss-
akte als wesentlicher Faktor für Frieden, Gerechtigkeit
und Wohlergehen bezeichnet. Die Menschen hinter dem
Eisernen Vorhang, die Bürger- und Menschenrechtler

werden sich von da an auf diesen Punkt berufen. Die Ein-
forderung dieser Rechte stärkt und stützt alle, die für Men-
schenrechte, Demokratie und Freiheit in Diktaturen
kämpfen.

Die Teilnehmerstaaten anerkannten damals ein – ich
zitiere nochmals –

gemeinsames Interesse an Bemühungen zur Ver-
minderung der militärischen Konfrontation und zur
Förderung der Abrüstung, die darauf gerichtet sind,
die politische Entspannung zu ergänzen und ihre
Sicherheit zu stärken.

Es ist bemerkenswert, dass schon an dieser Stelle der Be-
griff der gemeinsamen Sicherheit angesprochen worden
ist. Er war noch lange Zeit ein Stück weit umstritten, ob-
wohl sich die Staaten schon damals darauf verständigt
hatten. Vertrauensbildende Maßnahmen wie Ankündi-
gung von Manövern, Austausch von Beobachtern wurden
erstmals vereinbart.

Zwei für Europa bedeutsame Abrüstungsverträge
sind im Rahmen der KSZE geschlossen worden: 1990 der
erste Vertrag über konventionelle Streitkräfte – dieser
führte zu dramatischen Abrüstungsschritten; 50 000
Waffensysteme wurden abgerüstet – und 1999 der KSE-
Folgevertrag, mit dem der noch von den Bedingungen und
den Strukturen der Blockkonfrontation gezeichnete erste
KSE-Vertrag abgelöst wurde. Ich meine, es ist bemer-
kenswert, dass dieser Vertrag, der trotz einer damals durch
die NATO-Osterweiterung und durch den Kosovokonflikt
zwischen den größeren Parteien noch herrschenden Irrita-
tion geschlossen wurde, eine im Konsens erreichte sehr
gute Lösung darstellt, die tatsächlich zur Stabilität in Eu-
ropa beitragen kann.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


– Das sollte man ruhig einmal beklatschen; das ist wahr.
Heute betrachten wir die OSZE als ein wichtiges si-

cherheitspolitisches Instrument, weil sie die einzige Or-
ganisation ist, die alle europäischen Staaten, die USA, Ka-
nada sowie die Staaten des Kaukasus und Zentralasiens
umfasst. Ich glaube, das ist für uns in der augenblickli-
chen Situation erkennbar ein ganz wichtiger Vorteil.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diese geopolitische Reichweite ist keine Schwäche, son-
dern ist wegen des gesamteuropäischen Charakters eine
Stärke. Das ist, wie ich meine, auch ein Teil des Erfolgs
der OSZE.

Die breite Anlage des Aufgabenspektrums von sicher-
heitspolitischen Prinzipien – Korb I – bis hin zu wirt-
schaftspolitischen Prinzipien – Korb II – und die huma-
nitäre Dimension sowie der prozesshafte Charakter –
auch das ist ein wichtiger Punkt – haben dazu beigetragen,
dass die KSZE die dramatischen Veränderungen von der
bipolaren hin zur multipolaren Welt vollziehen und die
Herausforderungen aufgrund der neuen geopolitischen
und geostrategischen Bedingungen bewältigen konnte.




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

10477


(C)



(D)



(A)



(B)


Dies konnte deshalb gelingen, weil der Prozess der si-
cherheitspolitischen Vertrauensbildung und die Verstän-
digung auf gemeinsame Werte Grundlage waren.

Mit der Charta von Paris im Jahre 1990 begann die In-
stitutionalisierung der KSZE. Dies weist darauf hin,
dass ein Prozess der Identitätsfindung einsetzte, der die je-
weilige Rolle von KSZE, Europäischer Union, NATO,
WEU und Europarat zu definieren suchte und voneinan-
der abgrenzte. „Interlocking institutions“ – nicht „inter-
blocking“, wie manchmal gesagt wird – sollten entstehen.
An diesem Prozess arbeiten wir noch immer, weil sich all
diese Organisationen in ihrer Aufgabenstellung ja ein
Stück weit verändern.

Zweijährliche Folgetreffen, der Rat, das Sekretariat,
der Ausschuss Hoher Beamter waren zunächst die Organe
zur Institutionalisierung. Besonders wichtig aber sind die
Einrichtung des Konfliktverhütungszentrums in Wien und
das Büro für freie Wahlen in Warschau. All diese Institu-
tionen weisen darauf hin, dass Konfliktprävention, För-
derung von Demokratie und Menschenrechten und Stär-
kung der militärischen Ordnung in Europa Kernpunkte
der Aufgaben sein sollten.

In der Folge hat sich die OSZE auch in ihren Institu-
tionen weiter verbessert und weiterentwickelt. Dieser
Prozess dauert immer noch an. Nach dem Gipfel von Is-
tanbul sind wir jetzt aber an einem Punkt, an dem dieser
Prozess sehr deutliche Konturen angenommen hat und
den heutigen Risiken, der heutigen Situation in Europa
eine Antwort mit einem breiten Spektrum von im wei-
testen Sinne sicherheitspolitischen Möglichkeiten entge-
genzusetzen hat.

Aufgrund der Erfahrungen der KSZE in den Bereichen
Rüstungskontrolle, Abrüstung und Vertrauens- und Si-
cherheitsbildung sowie Verifikation wurde die OSZE die
lnstitution, die im Dayton-Vertrag, also nach dem Bos-
nien-Krieg, mit der Ausarbeitung und Überwachung der
Abrüstungsverpflichtungen beauftragt wurde. Die erfolg-
reiche Implementierung des Ergebnisses der Abrüstungs-
verhandlungen aus Artikel IV des Dayton-Vertrages ist
ein herausragender Beitrag zu Frieden und Stabilität auf
dem Balkan. Ich meine, dies ist wieder einmal ein Bei-
spiel dafür, dass wir gar nicht immer wahrnehmen, wel-
che ganz wichtige sicherheitspolitische Funktion diese
Organisation im Rahmen der Erfüllung ihrer Aufgaben
hat; denn dies sind keine dramatischen Aufgaben, sondern
eher solche, über die in der Presse nicht in breiter Form
berichtet wird. Mit der Erklärung zur Regionalorganisa-
tion setzte sich die KSZE wiederum Schwerpunkte bei
Frühwarnung, Konfliktverhütung und Krisenbewältigung
einschließlich der Maßnahmen zum Einsatz von Streit-
kräften, allerdings ohne den Gebrauch von Zwangsmaß-
nahmen. In dieser Zeit, liebe Kolleginnen und Kollegen,
nimmt auch die OSZE ihre erste Mission zur friedlichen
Regelung von Regionalkonflikten auf. Dies ist ein ganz
wichtiger Wendepunkt in der Tätigkeit dieser Organisa-
tion gewesen.

Ich glaube, dass der Budapester Gipfel, als die KSZE
beschloss, sich nicht mehr „Konferenz“, sondern „Orga-
nisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“
zu nennen, ein deutliches Zeichen dafür war, dass die

OSZE ihren Platz im Spektrum der Institutionen in Eu-
ropa gefunden hat. Zu diesem Zeitpunkt gab sie sich auch
endgültige Entscheidungsstrukturen.

Es ist bemerkenswert, dass die Schlussakte von Hel-
sinki schon 1975 dem erweiterten Sicherheitsbegriff ver-
pflichtet war, auf den wir heute unsere Sicherheitspolitik
gründen.

Korb III, die menschliche Dimension, hat zweifellos
gegenüber den anderen Körben die größte Sprengkraft
entfaltet. Die Einhaltung von Menschenrechten, Mei-
nungs- und Pressefreiheit, menschliche Kontakte über die
Blockgrenzen hinweg sowie die Zusammenarbeit bei
Kultur, Bildung und Wissenschaft war das, was die Men-
schen in Europa berührte und sie zu Handelnden in die-
sem Prozess werden ließ. Auch heute noch stellt Korb III
mit seiner Weiterentwicklung eine wichtige Dimension in
den Transformationsstaaten dar. Das sollten wir nicht ver-
gessen.

Das Gipfeltreffen von Lissabon baute die Schlüssel-
rolle der OSZE für die Förderung von Sicherheit und Sta-
bilität in allen Dimensionen aus. Es gab auch den ent-
scheidenden Anstoß zur Entwicklung der OSZE-Charta
für europäische Sicherheit, die im November 1999 auf
dem Gipfel von Istanbul verabschiedet wurde. Ich denke,
wir haben noch gar nicht ganz begriffen, welche Bedeu-
tung dem Gipfel von Istanbul in der Tat zukommt. Viel-
leicht wäre es gut, wenn wir einmal ein bisschen mehr De-
battenzeit bekämen, um das zu vertiefen.


(Ulrich Irmer [F.D.P.]: Ihr habt doch die Mehrheit!)


Frühwarnung, Konfliktverhütung und Krisenbewälti-
gung gehören heute zweifellos zu den wichtigsten Aufga-
ben der OSZE. 20 Missionen – ich habe sie vorhin schon
erwähnt – hat die OSZE bisher durchgeführt und die meis-
ten dieser Missionen dauern an. Man kann den Wert die-
ser Missionen nicht hoch genug einschätzen, auch wenn
nicht alle Missionen so erfolgreich gewesen sind, wie wir
uns das wünschen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411109200
Frau Kollegin,
denken Sie bitte an die abgelaufene Zeit.


Uta Zapf (SPD):
Rede ID: ID1411109300
Ja. – Die Erfolge sind nicht öffent-
lichkeitswirksam, denn wo kein Blut fließt, ist auch kein
CNN. Ich plädiere wirklich dafür, dass wir die Erfolge,
die dort bei der Konfliktprävention erreicht worden sind,
herausstellen.

Die Fortentwicklung – mein letzter Gedanke –,


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411109400
Letzter Satz,
bitte.


Uta Zapf (SPD):
Rede ID: ID1411109500
– die die OSZE auf dem Istanbuler
Gipfel erfahren hat, und die Institutionen, die wir dort ein-
gerichtet haben, wie die schnellen Eingreiftruppen ziviler
Art, werden wichtige Elemente zukünftiger Politik sein.




Uta Zapf
10478


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich sage noch ein letztes Wort: Wer Krisenprävention
will, muss diese auch finanziell ausreichend unterstützen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411109600
Das Wort hat
jetzt der Kollege Willy Wimmer.


Willy Wimmer (CDU):
Rede ID: ID1411109700
Frau Präsiden-
tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es gibt zum
Glück in dieser Welt Erfolgsgeschichten. Die Geschichte
von KSZE bzw. OSZE ist eine ganz unglaubliche Erfolgs-
geschichte. Wenn es diese Organisation nicht gegeben
hätte, würden wir hier nicht sitzen. Weil das eine Veran-
staltung der Macht, des Geistes, der Moral und des Rechts
gewesen ist und bleiben soll, ist es gut, dass wir Vorstel-
lungen dazu entwickeln und uns nicht nur am heutigen
Tag daran erinnern, dass vor 25 Jahren wesentliche Ent-
scheidungen getroffen worden sind.

Meine Damen und Herren, hier liegen uns jetzt zwei
Anträge vor. Das könnte auf den ersten Blick die An-
nahme begründet erscheinen lassen, dass auch unter-
schiedliche Auffassungen damit verbunden sind. Wenn
man sich die Anträge durchliest, kann man feststellen,
dass es nicht so ist. Ich kann zugunsten der F.D.P. sagen:
Wir sind eigentlich alle einer Meinung.


(Beifall des Abg. Ulrich Irmer [F.D.P.])

Ich bedauere ein wenig, dass die F.D.P. einen eigenen

Antrag vorgelegt hat. Dies zeigt aber, dass es bei allem
Konsens auch Differenzen gibt. Sie zeigen sich darin,
dass die alten Bundesregierungen Schmidt/Genscher,
Kohl/Genscher und Kohl/Kinkel der KSZE/OSZE we-
sentlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt haben, als es
die derzeitige Bundesregierung Schmidt/Fischer tut.


(Heiterkeit bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411109800
Herr Kollege,
„Schmidt“ ist nicht ganz richtig.


Willy Wimmer (CDU):
Rede ID: ID1411109900
Ich meine die
Regierung Schröder/Fischer.

Eines ist ganz offenkundig: Die Vorgängerregierun-
gen haben hinsichtlich der Weiterentwicklung der
KSZE/OSZE wesentlich mehr Initiativkraft entwickelt.
Sie haben konstruktiv diese Weiterentwicklung vorange-
trieben. Wenn man angesichts des letzten Gipfeltreffens
der OSZE in Istanbul – Frau Kollegin Zapf hat zu Recht
darauf aufmerksam gemacht – die eigentlichen Fragestel-
lungen der vor uns liegenden Zeit betrachtet, dann kann
man nur feststellen, dass die jetzige Bundesregierung
nicht mehr das leistet, was die früheren Bundesregierun-
gen geleistet haben.

Was ist in Istanbul gesagt worden? In Istanbul ist da-
rauf aufmerksam gemacht worden, dass wegen der
schwierigen Entwicklung im Kosovo und in Tschetsche-

nien – ich erinnere in diesem Zusammenhang an die be-
merkenswerte Rede des UN-Generalsekretärs Kofi
Annan – die Staaten wesentlich mehr Initiative zeigen
müssten, um das von ihm kritisierte Auseinanderfallen
von internationalem Recht und dem praktischen Tun in
der Zukunft zu verhindern. Wenn diese Aufforderung der
Vereinten Nationen früher an die jeweilige Bundesregie-
rung gerichtet worden ist – Herr Kinkel ist als Vertreter ei-
ner früheren Bundesregierung heute anwesend –, ist ihr
immer entsprochen worden.

Ich kann aufgrund der Aktivitäten des Bundesaußen-
ministers und aufgrund der Zusammenarbeit mit dem Par-
lament nicht sehen, dass das Außenministerium ange-
sichts des dringenden Appells des UN-Generalsekretärs
aktiv geworden ist. Ich empfinde dies als Manko; denn es
ist gerade unsere Aufgabe, aus der Wiedervereinigung un-
seres Landes und aus dem Prozess, der zu dem wieder ge-
einten Europa geführt hat, Perspektiven zu entwickeln,
die diesen Prozess auf Dauer unumkehrbar machen. Bei
allem Konsens in der Sache muss ich feststellen, dass
dazu eine größere Anstrengung der Bundesregierung
gehört. Angesichts des Appells von Kofi Annan will ich
diese sehr bewusst einfordern.

Vieles innerhalb der OSZE läuft sehr professionell. Ich
darf hinsichtlich der Leistung unserer Offiziere, hohen
Beamten und Experten in den Missionen der OSZE die-
ses Urteil abgeben. Ich will aber in diesem Zusammen-
hang eine Anmerkung machen. Es ist dankenswerterweise
heute so, dass das Außenministerium ehemalige Bot-
schafter und hohe Beamte des ehemaligen DDR-Außen-
ministeriums in internationalen Missionen einsetzt. Diese
Persönlichkeiten gereichen unserem Lande – das muss
man mit allem Nachdruck sagen – zwischen Tadschikis-
tan und dem Kaukasus zur Ehre.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)


Das ist ein wesentlicher Beitrag dafür, dass wir auch in
Deutschland in diesem Bereich zur Normalität zurück-
kehren können.


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Loquai zum Beispiel!)


– Ich bin sehr froh, dass Sie den Fall Loquai ansprechen,
Herr Kollege Gehrcke. In diesem Punkt mangelt es dem
Außenminister und auch dem Verteidigungsminister an
jeder Souveränität. Das muss man wirklich sagen.


(Beifall bei der PDS)

Ich will im Zusammenhang mit der aktuellen Entwick-

lung noch auf zwei Gesichtspunkte aufmerksam machen:
Der erste Gesichtspunkt. Die heutige Entwicklung zwi-

schen Nordkorea und Südkorea wäre ohne die KSZE
bzw. OSZE so nicht denkbar gewesen. Wenn wir Kon-
flikte nicht austragen, sondern verhindern wollen, sollten
wir viel dafür tun, unser Handeln an den tragenden Prin-
zipien der OSZE auf Dauer auszurichten.

Der zweite Gesichtspunkt. Wir haben in den Staaten
des östlichen Teils des asiatischen Kontinents, den
ASEAN-Staaten, schon vor Jahren eine Entwicklung




Uta Zapf

10479


(C)



(D)



(A)



(B)


beobachten können, die auf drei Prinzipien der
KSZE/OSZE beruht: präventive Diplomatie, Rüstungs-
kontrolle und Abrüstung sowie übergreifende Sicherheit.
Ich begrüße es außerordentlich, dass uns der damalige
österreichische Außenminister Schüssel in seiner Eigen-
schaft als Ratspräsident der OSZE – er hatte dieses Amt
für einige Wochen – darauf aufmerksam gemacht hat,
dass noch in diesem Jahr ein Dialog zwischen der OSZE
und den ASEAN-Staaten aufgenommen werden muss.

Meine Damen und Herren, wenn wir etwas aus der Ent-
wicklung lernen wollen – ich finde, wir sollten das –, dann
müssen wir einer Überlegung Rechnung tragen, die der
Sicherheit des ganzen Kontinentes zugute kommen wird,
dass nämlich die tragenden Prinzipien der transkontinen-
talen Sicherheit und Zusammenarbeit eine Grundlage un-
serer künftigen Sicherheit sein werden.

Wir haben vor wenigen Wochen noch über Überlegun-
gen zur Raketenabwehr gesprochen und das mit den
berühmten „Schurkenstaaten“ verbunden. Meine Damen
und Herren, wenn wir das auf Dauer machen wollen, was
wir in der Vergangenheit mit Erfolg betrieben haben und
was wir offensichtlich machen können, dann, so finde ich,
sollte diese Bundesregierung das Feuer in den Argumen-
ten nachliefern, was die Vorgängerregierungen zu unser
aller Nutzen gemacht haben.

Dies ist nicht nur eine Zeit der Erinnerung, sondern
auch eine Zeit der Hoffnung. Im Zusammenhang mit der
KSZE und der OSZE ist dies mehr als begründet.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411110000
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Rita Grießhaber.


Rita Grießhaber (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411110100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der „Ge-
burtstag“ der OSZE bietet mehr als genug Anlass, noch
einmal dankbar Revue passieren zu lassen, welche Ent-
wicklungen ohne sie wahrscheinlich so nicht möglich
gewesen wären. Die wichtige Rolle der OSZE in den
Fragen der europäischen Sicherheitsarchitektur ist uns
allen sehr gut im Bewusstsein. Wenn der Kollege Willy
Wimmer das Feuer in den Argumenten der Regierung ver-
misst, dann müssen wir doch einmal ganz ehrlich sagen,
wie schwierig die Situation vor Istanbul war und mit
welch großer, enormer Anstrengung nicht nur die Bun-
desregierung, aber auch sie, alles daran gesetzt hat, Istan-
bul zu einem Erfolg werden zu lassen. Der Kollege
Wimmer weiß sehr gut, dass die Erfolge, die man in der
OSZE erzielt, schwierig zu erzielen sind, dass sie lang-
fristig wirken und dass ein kurzes Strohfeuer, das Sie hier
einfordern, alles andere als angezeigt ist.


(Willy Wimmer [Neuss] [CDU/CSU]: Wer hat denn ein Strohfeuer eingefordert?)


Wir würdigen genauso die Rolle der OSZE bei der Ver-
wirklichung der deutschen Einheit. Nicht zu vergessen:
Mit der Charta von Paris wurde ein ganz bedeutsamer
Beitrag zu einer gerechten und dauerhaften Friedensord-

nung für ein geeintes, demokratisches Europa geleistet.
Diese Erklärung ist uns heute noch Verpflichtung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Die Kollegin Zapf hat schon darauf hingewiesen, dass
ein Teil der Schlussakte von Helsinki, der so genannte
Korb III, nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Er
hat dazu geführt, dass das Ostregime destabilisiert wurde
und die Öffnung stattgefunden hat. Er war doch im
Grunde die Initialzündung für viele Initiativen in den da-
maligen Ostblockländern. Er hat die Charta 77 ermög-
licht. Helsinki hat im Osten die zivilgesellschaftliche
Perspektive eröffnet. Ich glaube, das können wir gar nicht
hoch genug einschätzen.

Allerdings ist der große Transformationsprozess im
Osten noch längst nicht abgeschlossen. Vielerorts hat sich
angesichts der schleppenden Entwicklung auch Ernüchte-
rung breit gemacht und die anfängliche Begeisterung
wurde abgelöst.

Wir alle, so denke ich, mussten lernen, dass man die
OSZE nicht überfordern darf. Es geht darum, ihre ganz ei-
genen Stärken im weltweiten Geflecht der internationalen
Organisationen zu nutzen und zu unterstützen. Ich glaube,
da tun sich auch neue Aufgaben auf. Angesichts der Tat-
sache, dass wir dabei sind, die EU nach Osten zu erwei-
tern, heißt dies, dass wir die Dialogprozesse der Oster-
weiterung mit der OSZE intensivieren und fortführen
müssen.

Die OSZE hat den Vorteil und die Besonderheit, dass
in ihre Diskussionen sowohl unsere transatlantischen
Partner als auch Russland und die zentralasiatischen Staa-
ten mit eingebunden sind. Sie wird oft als das „Dach für
das gemeinsame Haus Europa“ bezeichnet. Damit sie dies
sein kann und die Dachbalken immer wieder auf Stabilität
überprüft werden können, muss einiges nachgebessert
werden. Das gilt auch für die Stärkung der Rolle des Ge-
neralsekretärs und nicht zuletzt für die OSZE-Missionen
in Krisengebieten.

Ich denke, hier gibt es viele Verbesserungsmöglichkei-
ten. Wir mussten gerade in Tschetschenien sehr schmerz-
haft erfahren, dass erfolgreiche Missionen den Koopera-
tionswillen der betroffenen Länder erfordern.

Die Umsetzung des wichtigsten Ziels, nämlich über die
Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu ei-
ner wirklichen Friedenssicherung beizutragen, ist eine
Mammutaufgabe, die wir nicht hoch genug einschätzen
können und die unser aller Anstrengung bedarf, damit sie
zum Erfolg führt. Wahrscheinlich bietet sie genug Arbeit
für mehr als 25 Jahre. Für diese Arbeit wünsche ich allen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der OSZE, dem für die
Medien Zuständigen bei der OSZE, Freimut Duve, und
stellvertretend für sie alle dem hier anwesenden General-
sekretär die erforderliche Geduld und Zähigkeit, um diese
Arbeit fortzusetzen. Ich glaube, wir haben alles, bloß kei-
nen Grund zum Jammern.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)





Willy Wimmer (Neuss)

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Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411110200
Wenn der Gene-
ralsekretär der OSZE von allen Rednern begrüßt wird,
möchte auch ich das von hier oben im Namen des ganzen
Hauses tun. Schön, dass Sie da sind!


(Beifall)

Das Wort hat jetzt der Herr Kollege Irmer.


Ulrich Irmer (FDP):
Rede ID: ID1411110300
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Wenn ein Mitglied der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen, wie Frau Grießhaber, hier sagt, wir hätten
keinen Grund zum Jammern, dann ist das eine Premiere
und ich freue mich sehr darüber. Herzlichen Glück-
wunsch, Frau Kollegin Grießhaber!


(Heiterkeit)

Im Übrigen ändern sich die Zeiten doch gewaltig. Der

Kollege Wimmer hat in seiner Weisheit eben nicht darauf
hingewiesen, dass seine Fraktion vor 25 Jahren dem ge-
samten KSZE-Prozess erheblichen Widerstand entge-
gengesetzt hat.


(Beifall bei der SPD)

Ihr seid klüger geworden; ich finde das sehr schön. Noch
vor zwei Jahren, glaube ich, konnte man von Bündnis 90/
Die Grünen hören, die NATO müsse abgeschafft werden
und ihre Aufgaben müsse die OSZE übernehmen. Das war
eine sehr kühne Vorstellung. Von dieser haben Sie inzwi-
schen Abstand genommen. Auch Sie sind inzwischen wei-
ser geworden. Herzlichen Glückwunsch auch hierzu!

Als vor 25 Jahren die Schlussakte von Helsinki verab-
schiedet wurde, hat wohl kaum einer geahnt, welcher
Sprengsatz sie werden würde und dass durch diesen
Sprengsatz eigentlich die gesamte Nachkriegsordnung
in Europa aus den Angeln gehoben werden würde. Die
Bürgerrechtsbewegungen in den kommunistischen Län-
dern bekamen dadurch einen ganz klaren Bezugspunkt
und konnten sich gegenüber ihren eigenen Regierungen
darauf berufen, dass diese bestimmte Punkte in Bezug auf
Menschenrechtsfragen – Pressefreiheit, Reisefreiheit –
akzeptiert hatten.

Bei Reisefreiheit fällt mir ein, dass es genau die
Schlussakte von Helsinki war, auf die sich die Ungarn vor
nunmehr fast elf Jahren berufen konnten, als sie die
Grenze öffneten und den DDR-Flüchtlingen die Ausreise
ermöglichten. Die Ungarn waren damals bilateral ver-
pflichtet, Menschen aus der DDR, die sich zu lange bei ih-
nen aufgehalten hatten, zurückzuschicken. Die Ungarn
hatten, clever wie sie sind, dann natürlich eine Interpreta-
tion zur Hand, die es nicht einmal nötig machte, sich auf
die Schlussakte von Helsinki zu berufen. Sie haben näm-
lich zu ihren Kollegen aus der DDR gesagt: In dem bila-
teralen Vertrag mit der DDR steht nur, dass wir Touristen
zurückschicken müssen, die sich länger bei uns aufhalten.
Schaut einmal, das sind doch offensichtlich keine Tou-
risten; die sind doch zu einem ganz anderen Zweck hier! –
Aber letzten Endes hätten sie sich möglicherweise doch
nicht getraut, die Grenze zu öffnen, hätten sie nicht die
Möglichkeit gehabt zu sagen: In der Schlussakte von Hel-

sinki, die alle unterzeichnet haben, steht, dass jeder reisen
darf, wohin er will.


(Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich heute, da wir
25 Jahre Schlussakte feiern, als Liberaler einen Namen
nennen möchte, ohne den dieser Prozess nicht so erfolg-
reich gewesen wäre: Ich meine Hans-Dietrich Genscher,
den damaligen Außenminister, dem wir dieses in hohem
Maße zu verdanken haben.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zum Unterschied zwischen NATO und OSZE: Die
NATO ist ein System kollektiver Verteidigung. Sie hat
ihre fest umrissenen Aufgaben. Die OSZE ist etwas qua-
litativ ganz anderes. Sie ist ein System kollektiver Sicher-
heit. Sie hat keine direkt militärischen Aufgaben. Sie kann
Aufgaben erfüllen, zu denen die NATO nicht berufen ist.
Dies muss sie tun.

Der Verteidigungsfall, für den die NATO in erster Li-
nie vorgesehen ist, ist sehr unwahrscheinlich geworden.
Was wir heute erleben, sind im Wesentlichen keine Kriege
zwischen Staaten, sondern Kriege innerhalb von Staaten,
sind Auseinandersetzungen, die sich daran entzünden,
dass Menschenrechte mit Füßen getreten, dass Minder-
heitenrechte missachtet werden und dass sich die betrof-
fenen Menschen das irgendwann nicht mehr gefallen las-
sen. Das führt dann zu kriegerischen Auseinandersetzun-
gen, zu Brutalität der Regierenden gegenüber diesen
Menschen und Minderheiten. Dafür sieht das Völkerrecht
bisher leider keine ausreichenden Regeln vor.

Verletzungen von Menschenrechten und Minder-
heitenrechten sind immer, wenn Sie dies einmal analy-
sieren, die Quelle der Kriege, die wir in den letzten
Jahren erlebt haben. Deshalb kommt es darauf an, zu ver-
suchen, überall präventiv dafür zu sorgen, dass demokra-
tische und rechtsstaatliche Strukturen eingeführt werden
und sich stabilisieren können.

Hier leistet die OSZE natürlich einen unglaublich
wichtigen Beitrag. Ihr Generalsekretär Kubis, den auch
ich jetzt noch einmal begrüße, hat uns vorhin gesagt, dass
die OSZE auch bei dem Annäherungsprozess der mittel-
und osteuropäischen Staaten an die Europäische Union
eine große Rolle spielt, indem sie sich nämlich vor Ort da-
rum kümmert, dass das Prinzip des Rechtsstaats und dass
Demokratie und Pressefreiheit geachtet werden und dass
demokratische Wahlen vorbereitet werden. All dies sind
unerlässliche Voraussetzungen dafür, dass ein Land für
die Mitgliedschaft in der Europäischen Union fit werden
kann. Die OSZE leistet hier also Pionierarbeit und ist für
das Erreichen von Sicherheit im umfassenden Sinne, also
gemäß dem erweiterten Sicherheitsbegriff, genau das In-
strument, das wir brauchen.

Noch ein Gesichtspunkt: Es wurde schon gesagt, dass
die OSZE die Organisation ist, die einen weiten geogra-
phischen Bogen von den Vereinigten Staaten über die






(C)



(D)



(A)



(B)


Mitglieder der Europäischen Union bis hin zu Russland
spannt. Wir wissen ja, dass es für die europäische Si-
cherheitsarchitektur insgesamt fast das Wichtigste ist,
zu versuchen, Russland in diese Bemühungen einzubin-
den. Gegen Russland zu operieren wäre mit Sicherheit das
Ende aller Sicherheitsbemühungen. In der OSZE arbeitet
Russland mit. Wir müssen deshalb versuchen, es dort
ganz stark zu halten. Das bedeutet nicht, dass man nicht
immer wieder auf Menschenrechtsverletzungen, wie sie
in Tschetschenien in massivster Weise geschehen sind,
hinweist und dass man nicht immer wieder betont, welche
Position man selber hat. Vielleicht wäre es eine Lösung,
nicht zu sagen: „Wir erheben den Zeigefinger und legen
denselben in eure Wunden“, sondern zu sagen: „Vielleicht
braucht ihr Russen unsere Hilfe; denn ihr habt da ein ech-
tes Problem. Der Terrorismus in der Kaukasusregion, in
Afghanistan bzw. in der gesamten weiteren geographi-
schen Gegend ist eine Gefahr erster Ordnung.“ Die Rus-
sen versuchen, mit den falschen Mitteln, wie wir wissen,
etwas dagegen zu tun. Aber sie versuchen es zumindest.
Wäre es nicht im Rahmen der OSZE eine gute Idee, den
Russen zu sagen: „Lasst uns euch bei der Bekämpfung
dieser Geißel der Menschheit, die der Terrorismus ist, hel-
fen“?


(Beifall bei der F.D.P.)

Es gibt ja weitere kriminelle Aktivitäten, deren sich die

OSZE annehmen will, indem sie versucht, dagegen anzu-
gehen. Ich meine Menschenhandel, Waffenhandel, Dro-
genhandel bzw. Schmuggel mit Dingen jeglicher Art. Die
OSZE hat das dafür erforderliche Instrumentarium. Wir
sollten sie dabei materiell, aber auch moralisch unterstüt-
zen. Insofern begrüße ich, dass sich alle Fraktionen dahin
gehend geäußert haben, auf die Zukunft der OSZE zu set-
zen.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411110400
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411110500
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Von den zahlreichen Jahresta-
gen, die wir hier im Bundestag zum Ausgangspunkt aktu-
eller Erörterungen gemacht haben, ist mir persönlich der
25. Jahrestag der Konferenz für Sicherheit und Zusam-
menarbeit in Helsinki einer der interessantesten und auch
einer der wichtigsten. Mit dem Helsinki-Prozess ist die
Überwindung der Spaltung Europas in zwei Blöcke ein-
geleitet worden; damit hat er mehr als viele andere Vor-
gänge das Gesicht Europas verändert.

Wenn man über den Helsinki-Prozess redet, dürften
Stichworte wie die Verträge von Moskau und Warschau,
der Grundlagenvertrag zwischen BRD und DDR, die
große Auseinandersetzung über die Stationierung von
Mittelstreckenraketen und die Nachrüstungsdebatte nicht
fehlen. Damals hat die Außenpolitik – darauf weise ich in
aller Deutlichkeit hin – die Menschen erreicht und erregt,

damals hat in unserem Volk wie in anderen Völkern über
Außenpolitik eine wirkliche Auseinandersetzung stattge-
funden. Ich bin ehrlich genug, zu sagen, dass ich mir eine
solche Art der Auseinandersetzung, die die Menschen er-
reicht, für heute zurückwünsche.

Helsinki hat ungeheuer viel verändert. In diesem Zu-
sammenhang spreche ich direkt die Kollegen der Fraktion
der SPD an: Ich habe es nie verstanden, warum Sie die
Entspannungspolitik und auch die Entspannungspolitiker
jener Zeit in den nachfolgenden Jahren so distanziert be-
handelt haben und warum Sie mit der Entspannungspoli-
tik so defensiv umgegangen sind. Manchmal hatte ich den
Eindruck, dass Sie Entspannungspolitik ebenso wie die
Entspannungspolitiker unter den Angriffen der Konserva-
tiven wie heiße Kartoffeln haben fallen lassen.


(Uta Zapf [SPD]: Das ist doch Unsinn, Herr Gehrcke! – Weiterer Zuruf von der SPD: Da haben Sie wohl was übersehen!)


– Ich glaube, da ist viel dran, und die entsprechenden
Leute empfinden das auch so.

Helsinki hat Ergebnisse gezeitigt, die bleibende Wir-
kungen hätten erzielen können. Ich will dafür nur einige
Beispiele nennen: das Verständnis von Sicherheit als ge-
genseitige Sicherheit, Gewaltverzicht und damit gekop-
pelt die Souveränität von Staaten und Grenzen. Helsinki
hat als Botschaft die Bereitschaft beinhaltet, militärische
Paktsysteme abzubauen und Systeme gegenseitiger Si-
cherheit aufzubauen. Man kann auch die interessanten
Menschenrechtsdebatten in Helsinki nachzeichnen, wo,
vereinfacht gesagt, zwei unterschiedliche Positionen in
Form des Ost-West-Konfliktes aufeinander getroffen
sind: die Betonung von individuellen und von kollektiven
Menschenrechten, von sozialen Rechten und Freiheits-
rechten. Ich halte es für eine der großen Leistungen von
Helsinki, dass daraus ein gemeinsamer Korb, ein gemein-
sames Verständnis sozialer wie auch individueller Frei-
heitsrechte geworden ist und eine staatliche Garantie sol-
cher Rechtsauffassungen erreicht worden ist.


(Beifall bei der PDS)

Ich erinnere an die Bemühungen in Helsinki, Rüstungs-
kontrolle und Abrüstung gemeinsam voranzutreiben.

Vieles von dieser gemeinsamen Grundlage ist verlas-
sen worden, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, zu dem
wir in Europa mit dem Zusammenbruch des Realsozialis-
mus zu tun hatten. Das wirft bei mir immer wieder den
Verdacht auf, dass vieles von dem, was in Helsinki verab-
redet worden ist, eigentlich funktional gemeint war.
Nachdem man den Hauptzweck erledigt hatte, war die
Umsetzung der Ziele von Helsinki offensichtlich nicht
mehr so bedeutend gewesen, wie es vorher gesagt worden
war.

Lassen Sie mich Sie mit wenigen Aussagen konfron-
tieren: Der Direktor des Internationalen Konversionszen-
trums Bonn, Herbert Wulf, stellte bei der Vorstellung des
neuen Jahrbuchs über Abrüstung und Konversion fest,
dass sich der Abrüstungstrend stark verlangsamt hat. Sein
Institut befürchtet „für das Jahr 2000 eine Trendwende zur
erneuten Aufrüstung“. Mit Blick auf die Versuche der




Ulrich Irmer
10482


(C)



(D)



(A)



(B)


USA, das angebliche Raketenabwehrsystem zu statio-
nieren, wird prognostiziert, dass Länder wie Russland, In-
dien und China nicht ohne Gegenreaktion damit umgin-
gen. Dieser Trend führt vom Helsinki-Prozess weg, da das
ein Prozess der Abrüstung war.

Man muss auch zur Kenntnis nehmen – das sage ich
mit einer gewissen Bitterkeit; die Zahlen können Sie alle
nachlesen –, dass Deutschland bei den Militärausgaben
Platz vier nach den USA, Japan und Frankreich, in
der Statistik der Weltgesundheitsorganisation aber nur
Platz 25 einnimmt. Mir wäre es umgekehrt lieber: Platz 25
bei den Rüstungsausgaben und Platz vier bei den Ge-
sundheitsausgaben.


(Beifall bei der PDS)

Das erfordert eine andere Politik. Ich kann Ihnen auch

in diesem Zusammenhang folgenden Hinweis nicht er-
sparen: Wenn in Helsinki jemand gesagt hätte, dass in Eu-
ropa wieder unter deutscher Beteiligung Krieg geführt
würde, hätte es diesen Helsinki-Prozess nicht gegeben.
Auch das muss man hier aussprechen, wenn man über
Helsinki redet. Wir können nicht nur über das Gemein-
same reden.

Die Botschaft von Helsinki war „OSZE first“. Heraus-
gekommen ist in der praktischen Politik: „NATO first“.
Das gehört ebenfalls dazu, wenn man den Helsinki-Pro-
zess bilanziert.

Ich bin der Auffassung, dass wir vor der Aufgabe ste-
hen, Politik neu zu gestalten, neu zu fassen, wieder geis-
tig, politisch und inhaltlich am Helsinki-Prozess anzu-
knüpfen, tatsächlich Abrüstung voranzubringen, das Völ-
kerrecht zu stärken und nicht weiter zu demontieren und
Menschenrechte sowohl im sozialen wie auch im indivi-
duellen Bereich – beides ist notwendig – umzusetzen.
Wenn wir in diesem Sinne mit dem Helsinki-Prozess um-
gehen, werden wir nicht alte Kontroversen neu führen
müssen, sondern können neue Politik gestalten.

Danke sehr.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411110600
Das Wort hat
jetzt der Herr Bundesaußenminister Joschka Fischer.


Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411110700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist schon
von allen Rednern und Rednerinnen betont worden, dass
die Schlussakte von Helsinki zweifellos eines der
weitsichtigsten und wirkungsvollsten politischen Doku-
mente der Nachkriegszeit gewesen ist und dass der ge-
samte Prozess wie auch die Schlussakte selbst ent-
scheidend zur friedlichen Überwindung der Spaltung Eu-
ropas, auch Deutschlands und Berlins beigetragen haben
und deshalb mit Recht das Etikett „historisch“ verdienen.

Bei all den festlich gestimmten Reden möchte ich doch
zumindest zu der des letzten Redners einige kritische An-
merkungen machen. Es wurden nämlich Dinge ausge-
blendet, die für den Helsinki-Prozess damals offensicht-
lich konstitutiv waren. Eine Entgegensetzung von Hel-
sinki-Prozess und NATO hat historisch überhaupt keinen

Bestand. Ohne die NATO hätte es den Helsinki-Prozess
nicht gegeben. Das muss man einmal konstatieren.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf von der CDU/CSU)


– Ich muss jetzt gar nichts zu meiner persönlichen Mei-
nung sagen; ich spreche nur von der Historie. Ohne die
Tatsache, dass es einen europäischen Integrationsprozess
gegeben hat, und ohne den Transatlantismus hätte es den
Helsinki-Prozess nicht gegeben. Andererseits wäre der
Helsinki-Prozess ohne die Unterdrückung der Ost- und
Mitteleuropäer, ohne die Unterdrückung der Men-
schenrechte durch die damalige Sowjetunion gar nicht
notwendig gewesen. Dies muss man ebenfalls hinzufü-
gen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Insofern halte ich überhaupt nichts davon, entschei-
dende Fakten auszublenden. Wenn man dies tut, kann man
sich meines Erachtens die Zustimmung zur OSZE schen-
ken; denn dann hat man den historischen Prozess nicht be-
griffen. Dann ist es eine weihevolle Rede, die aber den po-
litischen Prozess – es handelt sich schließlich um eine po-
litische Organisation mit einer Wirkung, die man zu Recht
historisch nennen kann – entwertet, weil man die für die
Fortentwicklung dieses Prozesses notwendigen Konse-
quenzen nicht zieht.

Damit spreche ich auch Herrn Wimmer an. Sie haben
hier Kofi Annan zitiert. Ich möchte Ihnen nur sagen, dass
Kofi Annan sehr deutlich darauf hingewiesen hat – dies ist
für mich eine der Verpflichtungen für die zukünftige
Gestaltung –, dass das Prinzip der Souveränität, so wich-
tig es auch als Grundlage des Regelns des Zusammenle-
bens der Staaten in der Welt ist, in der Welt von morgen
keinen Absolutheitsanspruch dergestalt mehr haben kann,
dass es menschenmörderische oder gar völkermörderi-
sche Handlungen von Regierungen bzw. Diktatoren und
vor allen Dingen die Tatenlosigkeit, das Zusehen der
internationalen Staatengemeinschaft rechtfertigen würde.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich bin der Meinung, dass man Kofi Annan vollständig zi-
tieren sollte.

Insofern sehe ich eine enge, übrigens auch organisatio-
nelle Verbindung zwischen dem Geist des Helsinki-Pro-
zesses und der Entwicklung auf dem Balkan. Damit Sie
mich nicht missverstehen: Die KVM ist für mich keine
gescheiterte Mission. Hätte Milosevic wirklich die Zei-
chen der Zeit erkannt und hätte er seine Politik geändert,
wäre er kompromissbereit gewesen, dann wäre die KVM
sogar eine sehr erfolgreiche Mission geworden.

Ich denke, dass gerade die OSZE gezeigt hat, dass sie
eben nicht nur ein traditionelles Sicherheitssystem ist, so
wichtig dies ist, sondern dass sie auch fortentwicklungs-
fähig ist. Dies wird an vielen Punkten im Bereich der
ehemaligen Staaten der GUS deutlich, wo die OSZE eine
erfolgreiche, konfliktpräventive Arbeit geleistet hat. Wir




Wolfgang Gehrcke

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(D)



(A)



(B)


haben es auch auf dem Balkan gesehen und sehen es im
Kaukasus.

Das alles gründet auf eine der großen Traditionen, de-
ren es im Grunde drei gibt, auf die Tradition der Abrüs-
tung. Herr Wimmer, wenn Sie uns mangelndes Engage-
ment vorwerfen, dann kann ich Ihnen nur sagen, dass es
unter den Bedingungen des Tschetschenien-Krieges und
auch der Bereitschaft einzelner sehr wichtiger Bünd-
nispartner, eher auf Konfrontation zu gehen, einer sehr
großen Anstrengung bedurfte, nicht nur im Vorfeld von
Istanbul, sondern auch in Istanbul selbst, diese Fortent-
wicklung hinzubekommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Bundesregierung hat sich mit allem Nachdruck dafür
eingesetzt.

Aber ebenso wichtig wie der Abrüstungsprozess ist das
System kollektiver Sicherheit. In diesem Zusammenhang
möchte ich Ihnen sagen: Meines Erachtens war der Ansatz
zum Stabilitätspakt vom Helsinki-Prozess inspiriert.
Wenn wir jetzt über den finalen Status des Kosovo reden,
dann sollten wir die Instrumente und den Geist von Hel-
sinki wieder aufnehmen. Wir können das nicht heute ent-
scheiden, schon gar nicht entlang des Interesses nur einer
Bevölkerungsgruppe. Vielmehr müssen die Interessen
aller Nachbarn berücksichtigt werden, wenn Frieden, Sta-
bilität und demokratische Entwicklung eine Chance ha-
ben sollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das ist für mich ein direkter Nutzen aus der Anwendung
des Helsinki-Prozesses.

Vielleicht war der große historische Fehler – damit ich
nicht missverstanden werde: im Rückblick; ich werfe das
niemandem vor, sondern schließe mich da selbstkritisch
mit ein –, dass wir beim Auseinanderbrechen Jugoslawi-
ens zu sehr auf die Substanz der Entscheidung und zu we-
nig auf das Verfahren geachtet haben. Der Kern des Ver-
fahrens von Helsinki war, bei sich im Grunde absolut
widersprechenden politischen Positionen die Gemein-
samkeit in den Vordergrund zu stellen. Deswegen bin ich
der festen Überzeugung: So wichtig die innere Aus-
söhnung im Kosovo heute ist, so wichtig wird es sein, dass
wir einen Prozess der regionalen Stabilität und Sicherheit
entwickeln, in dessen Zuge sich alle Beteiligten auf be-
stimmte Verfahren einigen, die einzuhalten sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Willy Wimmer [Neuss] [CDU/CSU]: Und das hat Annan in Istanbul gesagt!)


Das ist für mich der entscheidende Punkt.

(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Alle, auch Ser bien!)

– Selbstverständlich. Ein demokratisches Serbien hat le-
gitime nationale Interessen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Genauso wie die Albaner im Kosovo legitime Interessen
haben, so gilt das für Mazedonien, so gilt das für Grie-
chenland, so gilt das für Bulgarien – für alle Beteiligten!
Regionale Stabilität und Sicherheit durchzusetzen heißt:
Anerkenntnis der legitimen Interessen – und zwar von
Gleich zu Gleich –, Anerkenntnis der Grenzen, Aner-
kenntnis des Prinzips der Gewaltfreiheit und Anerkennt-
nis der Lösung dieser Probleme auf der Grundlage von
Vertrag und Recht.


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Dann muss man es endlich machen!)


Nur, das werden Sie mit Herrn Milosevic – damit Sie
mich nicht missverstehen: leider! – nicht bekommen. Das
wissen Sie so gut wie ich.


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Glauben Sie, dass Sie es mit Herrn Breschnew bekommen hätten?)


– Anders als bei Herrn Breschnew heißt das Prinzip von
Milosevic Krieg. Breschnew war sicher ein Diktator. Das
Prinzip, auf dem die Macht der Sowjetunion gründete,
war innere Unterdrückung – nicht aber Krieg, nicht aber
„ethnische Säuberung“. Das ist ein wichtiger Unter-
schied.


(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Es war ideologische Säuberung! – Wolfgang Gehrcke [PDS]: Das ist korrekt!)


– Ich möchte den Unterschied herausarbeiten. CDU-Bun-
deskanzler saßen mit ihm an einem Tisch – zu Recht; ich
habe das nicht zu kritisieren. Ich möchte nichts von der
Sowjetunion schönmalen, sondern den klaren Unter-
schied zu Herrn Milosevic herausarbeiten: Bei Milosevic
hat das Prinzip Krieg, das Prinzip „ethnische Säuberung“,
das Prinzip Massenvergewaltigung, das Prinzip Vertrei-
bung gegolten, und zwar nicht einmal, sondern insgesamt
viermal – und Weiteres wäre gefolgt. Man hat doch beim
besten Willen alles versucht, mit ihm zu einem Vertrag zu
kommen. Es war nicht möglich, weil er jeden Vertrag ge-
brochen hat. Damit ist ein Prozess analog zu Helsinki
nicht möglich, weil ein solcher ein Minimum an Vertrauen
und Vertragstreue voraussetzt, damit er überhaupt ins
Laufen kommen kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir sehen in der Konfliktprävention und zivilen Kri-
senbewältigung eine große Herausforderung. Dies gilt
insbesondere für die Fortentwicklung des Korbs III, wo
sich Freimut Duve mit seiner wirklich bewundernswerten
Arbeit für unabhängige Medien einsetzt. Die Frage der re-
gionalen Sicherheitsstrukturen habe ich bereits angespro-
chen. Dies wird im Kaukasus sehr große Bedeutung ha-
ben.

Die OSZE bietet auch für Konfliktmonitoring und all
diese Aspekte eine hervorragende Grundlage. Schließlich
bindet sie als kollektives Sicherheitssystem eine Vielzahl
von Staaten ein, zwingt sie auch und bietet Instrumente –
selbst wenn sie nicht immer einen direkten Durchgriff
ermöglichen – damit diese Staaten eingebunden werden




Bundesminister Joseph Fischer
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(D)



(A)



(B)


können, was wir gerade auch im Zusammenhang mit
Tschetschenien gesehen haben.

Es ist ein Ansatz, der mehr Frieden, mehr Zivilität bei
der Überwindung von Spaltung, Teilung und Unter-
drückung in der Welt von gestern möglich gemacht hat. Es
ist ein sehr moderner Ansatz, den wir im 21. Jahrhundert
weiter verfolgen und fortentwickeln wollen.

Ich bedanke mich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411110800
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Friedbert Pflüger.


Dr. Friedbert Pflüger (CDU):
Rede ID: ID1411110900
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bitte erlauben
Sie mir zunächst, dem Generalsekretär der OSZE und
auch dem deutschen Botschafter Bettzüge, der hier eben-
falls anwesend ist, im Namen der CDU/CSU, ich glaube
aber, auch im Namen aller ganz herzlich für den großarti-
gen Einsatz zu danken, den sehr viele OSZE-Mitarbeiter
in inzwischen über 20 Kurz- und Langzeitmissionen über-
all auf der Welt, die oft sehr gefährlich sind, leisten. Hier
ist eine großartige Arbeit geleistet worden. Die OSZE hat
inzwischen eine einmalige Kompetenz, was Krisenbe-
wältigung, Durchführung von Wahlen, Aufbau ziviler
Strukturen und Friedensschaffung im eigentlichen Sinne
angeht. Wir brauchen die OSZE in der Zukunft. Sie ist ein
unverzichtbarer Bestandteil. Herzlichen Dank und alles
Gute für die weitere Arbeit.


(Beifall im ganzen Hause)

Meine Damen und Herren, ich möchte am Anfang et-

was zu dem sagen, was der Kollege Gehrcke und auch der
Bundesaußenminister eben über die Historie gesagt ha-
ben. In der Tat ist es etwas schwierig nachzuvollziehen,
Herr Kollege Gehrcke, dass Sie sich hier hinstellen und
die KSZE als die große Friedensweichenstellung feiern,
wenn man sich vor Augen hält – das darf ich doch
sagen –, woher Sie kommen und was Sie damals gemacht
haben.


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Kein Problem! Man lernt aus seinen Fehlern!)


1968 waren Sie Gründungsmitglied der DKP. 1968 war
das Jahr, in dem die Warschauer-Pakt-Truppen in Prag
einmarschierten und den Prager Frühling niederschlugen.
Damals ist die KSZE-Idee in Moskau geboren worden,
aber doch nicht mit dem Ziel, Frieden und Freiheit oder
auch nur Dialog in Europa zu schaffen, sondern mit dem
Ziel, die Breschnew-Doktrin international abzusichern,
die Systemgrenzen abzusichern, die Menschen zu unter-
drücken, eine klare Trennungslinie zu schaffen, jenseits
derer der Westen kein Recht zur Intervention hat. Das war
damals der Moskauer Ansatz, der frevelhaft ist. Deswe-
gen können die guten Worte, die Sie jetzt hier gesagt ha-
ben, nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Lager in

der ganzen Phase dieser Auseinandersetzung total versagt
hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD – Wolfgang Gehrcke [PDS]: Jeder lernt aus seinen Fehlern und der Geschichte, wenn er etwas lernen will!)


– Es ist gut, dass Sie aus Ihren Fehlern lernen, aber man
wird sie auch noch benennen können. Denn das hilft für
die Zukunft.

Es war ein weiterer Fehler, jahrelang OSZE und NATO
gegeneinander auszuspielen. Hier gucke ich ein wenig in
Richtung der SPD.


(Gernot Erler [SPD]: Was?)

Ich habe sehr oft gehört: Vertraut nicht so sehr der NATO!
Macht keine NATO-Erweiterung! Viel wichtiger ist das
Instrument der OSZE. Immer, wenn es irgendwo Krisen
gab und sich der Westen entschied einzugreifen, kam die
Forderung: Lasst es die OSZE zuerst machen!


(Uta Zapf [SPD]: Das wäre auch besser gewesen!)


Ich glaube, beides zusammen ist wichtig. Das ist die
Lehre, die aus den Ereignissen der letzten Jahre zu ziehen
ist. Wir brauchen die NATO auch in Zukunft, wenn es um
manifeste Konflikte geht. Nur die NATO ist ein militäri-
sches Bündnis und das werden wir leider Gottes auch in
der Welt von morgen ab und zu benötigen, weil sich die
Menschen nicht wesentlich verbessern.

Gleichzeitig kommt die OSZE mit ihren großartigen
Mechanismen der Krisenbewältigung und der Prävention
dazu. Aber beides zu seiner Zeit.


(Uta Zapf [SPD]: Aber OSZE zuerst! Sonst ist nämlich alles zu spät!)


Deswegen ist diese Debatte darüber, ob OSZE first oder
NATO first, völlig unsinnig und sollte nach der heutigen
Debatte wirklich ein für alle Mal der Vergangenheit an-
gehören.

Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist ganz wich-
tig, dass wir uns noch einmal für eine Sekunde vergegen-
wärtigen, was mit der KSZE eigentlich in Gang gesetzt
worden ist. Wie gesagt, Moskau wollte sie benutzen, um
die Systemgrenzen zu zementieren. Der Westen war
zunächst sehr ablehnend. Er hatte den Verdacht, dass für
alle Zeiten ein Nachkriegs-Status-quo anerkannt wird.

Dann erst haben manche erkannt – ich gebe zu, meine
eigene Partei ein bisschen spät –, was für eine große
Chance gerade in der Idee der Unverletzlichkeit der Gren-
zen liegt.


(Uta Zapf [SPD]: „Ein bisschen spät“ ist gut! – Wolfgang Gehrcke [PDS]: So lernen wir alle!)


Wir haben die Unverletzlichkeit der Grenzen aner-
kannt und damit die Voraussetzung geschaffen, dass die
Grenzen überwunden werden können. Erst die Idee der
Unverletzlichkeit der Grenzen, der Anerkennung des Sta-
tus quo hat es möglich gemacht, Formen des Dialogs, der




Bundesminister Joseph Fischer

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Zusammenarbeit zu entwickeln und die Freiheit von Men-
schen, Informationen und Meinungen durchzusetzen.

Das war der entscheidende Punkt der KSZE. Man hat
die Ideen, die Meinungen, die Informationen an der
Grenze nicht mehr aufhalten können. Die Bürgerrechtler
jenseits der Grenze hatten plötzlich eine Berufungsin-
stanz. Die Charta-77-Leute, die KOR-Leute in Polen, die
Solidarnosc sind mit dem KSZE-Dokument, mit der
Schlussakte von Helsinki zu ihren jeweiligen Regierun-
gen gegangen und haben gesagt: Ihr selbst habt unter-
zeichnet, dass es Menschenrechte und Freizügigkeit gibt,
dass wir verreisen können müssen.

Damit hatten sie plötzlich eine Sprengkraft entfaltet.
Überall wuchsen die Helsinki-Watch-Komitees aus dem
Boden. Es war die große Leistung der KSZE, die Einheit
Europas vorzubereiten. Es war der erste wirkliche Sarg-
nagel des Systems des real existierenden Sozialismus.
Den Dank an all diejenigen, die damals an der KSZE mit-
gewirkt haben, sollten wir heute in der Tat aussprechen.
Er ist wirklich wichtig.

Meine Damen und Herren, Jalta ist überwunden und
Europa ist durch die KSZE wieder europäisiert worden.
Wir waren nach dem Ende des Krieges als Europäer nicht
nur materiell am Boden. Vielmehr waren die Machtzen-
tren an die Peripherie oder sogar aus Europa heraus-
gerückt: Moskau und Washington. Das eigentliche Eu-
ropa, die alte Welt, war entmachtet. Mit der KSZE haben
wir Europa das erste Mal wieder zum Akteur gemacht,
ohne uns von Amerika oder Russland zu distanzieren. Das
Gute an der KSZE/OSZE ist, dass sie alle drei Gravitati-
onszentren der internationalen Politik – Europa, Amerika
und Russland – zusammenbindet, aber in Europa den Fo-
kus hat. Das ist die große Leistung.

Wir haben Europa mit der KSZE europäisiert, es den
Europäern wieder zurückgegeben. Wir haben die europä-
ischen Staaten zu handelnden Objekten gemacht. Das ha-
ben auch Staaten wie Rumänien genutzt. Die Rumänen
haben zum Beispiel in Verhandlungen so etwas wie die
Unverletzlichkeit von Grenzen, keine militärische Inter-
vention durchgesetzt. Großer Dank an die rumänische Di-
plomatie bei allem, was man sonst zur Diktatur des rumä-
nischen Systems sagen kann!


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Ceausescu!)

Hier sind plötzlich Bewegungsspielräume entstanden.

Die Idee Mitteleuropa etwa hat sich aus dieser KSZE ent-
wickelt, zum Beispiel aus der Nachfolgekonferenz in
Budapest. Aus der Mitteleuropaidee ist dann die Gesamt-
europaidee gewachsen. Das ist eine große Leistung. Die
KSZE ist der erste Schritt auf dem Weg zur Wiederverei-
nigung Europas.

Mit der EU-Erweiterung werden wir jetzt einen weite-
ren wesentlichen Schritt in diese Richtung gehen. Das ist
die große zentrale Aufgabe der Zukunft: EU, OSZE und
NATO zusammen müssen die Sicherheitsarchitektur der
Zukunft bestimmen, mit Russland und Amerika, aber be-
stimmt von uns selbst, von diesem Kontinent, von diesem
großartigen Europa.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411111000
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gert Weisskirchen.


Gert Weisskirchen (SPD):
Rede ID: ID1411111100
Frau Präsi-
dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es lässt sich
jetzt leider nicht verhindern – ich hatte das gar nicht ge-
wollt, lieber Kollege Pflüger – auf Folgendes hinzu-
weisen: Natürlich kann man andere kritisieren, aber dann
muss man auch fair sein und dem Plenum deutlich
sagen – Sie haben das indirekt getan –: Die CDU/CSU
war es, die mit den albanischen Kommunisten die
Schlussakte von Helsinki abgelehnt hatte.


(Beifall bei der SPD)

Das ist nun einmal leider eine historische Realität.

Ich freue mich, dass wir heute darüber debattieren. Ich
fand es sehr ermutigend und erfrischend, dass der Außen-
minister hier über Selbstkritik gesprochen hat. Zur Selbst-
kritik gehört aber auch Folgendes – das sage ich an unsere
eigene Adresse, an die der Sozialdemokratie – :

Die erste Phase – Sie haben sie beschrieben – war die
Annäherung und Anerkennung des Status quo. Daraus er-
gab sich die Möglichkeit der Schaffung von Berufungs-
fällen für die Opposition, für die Dissidenz. Dadurch sind
die inneren Kräfte zur Veränderung ermutigt worden. Wir
haben dazu beigetragen.

Als es dann von der Phase der Annäherung zur Auf-
lehnung kam, haben viele bei uns berechtigte und ver-
ständliche Angst gehabt. Ich verweise auf die Vorkomm-
nisse auf dem Tiananmen-Platz in Peking. Es hätte sein
können, dass diese ungeheuere Dynamik, dass die Men-
schen ihre Sache in die eigene Hand nehmen, sich auf die
Freiheit selbst berufen, diese erkämpfen, die Angst hinter
sich lassen und gegen die diktatorischen Regimes auftre-
ten, die Gefahr hervorruft, dass alles in gefährliche Situa-
tionen, Krieg und Auseinandersetzung mündet, wie dies
1968 in Prag der Fall war.

In diesem Moment haben bei uns viele gezögert und
nicht das getan, worauf einige in den osteuropäischen
Ländern gewartet haben, nämlich die unverbrüchliche So-
lidarität deutlich und öffentlich zu hören. Das ist ein Mo-
ment der Selbstkritik, das wir ernst nehmen müssen.

Der wichtigste Punkt ist: Die dritte Phase von der Auf-
lehnung zur Selbstbestimmung, die mit der Pariser Charta
zusammenhängt, hat mit Milosevic – dass muss man, Herr
Gehrcke, einfach hinzufügen – einen Endpunkt gesetzt.
Nachdem Jugoslawien bereit war, sich an der KSZE und
OSZE zu beteiligen, kam es zu einem Wechsel hin zur
Selbstbestimmung in einer anderen Form als wir in West-
europa und auch viele andere Länder in Ost- und Mittel-
europa es gewohnt waren: Selbstbestimmung wurde von
Milosevic als Nationalismusrückfall in faschistische
Strukturen missbraucht. Um an den Werten der KSZE und
der OSZE festhalten zu können, mussten wir etwas dage-
gen unternehmen und mussten sozusagen die Mauer der
Werte verteidigen, mit der Folge, dass die Sache letztlich
so schrecklich ausgegangen ist, wie wir das alle mitemp-
funden haben.




Dr. Friedbert Pflüger
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(C)



(D)



(A)



(B)


Wenn der Außenminister heute davon spricht, dass wir
nicht nur über Substanzfragen, sondern auch über Verfah-
rensfragen reden müssen, ist das eine gewisse Form der
Selbstkritik. Ich würde doch darum bitten, dass wir alle an
diesem Punkt die richtigen Schlußfolgerungen ziehen.
Die wichtigste Schlußfolgerung gegenüber Jugoslawien
ist, den Stabilitätspakt in die Realität umzusetzen. Das ist
die wirkliche Aufforderung, die von Helsinki ausgeht und
die dazu führen kann, dass der Südosten Europas den An-
schluss an das findet, was die KSZE ausgelöst hat, näm-
lich die Selbstbestimmung zur Demokratie. Das fehlt jetzt
in der Republik Jugoslawien.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dazu können wir alle etwas beitragen.
Die wichtigsten Prinzipien der KSZE standen ganz am

Anfang, nämlich erstens Menschenrechte und zweitens
Demokratie. Das ist die wichtigste Grundmelodie der
Werte.


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Abrüstung!)

– Das wurde operativ in die Regime der Abrüstung um-
gesetzt, Herr Gehrcke. Es wurde umgesetzt in staatliche
Anerkennung. Dahinter lag doch etwas ganz anderes.
Schauen Sie sich doch einmal an, was Willy Brandt im
Oktober 1962 gesagt hat:


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411111200
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?


Gert Weisskirchen (SPD):
Rede ID: ID1411111300
Gerne, bitte
schön.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1411111400
Lieber Herr Kollege, können
Sie uns nicht zumindest noch sagen, dass zu den aller-
wichtigsten Prinzipien von Helsinki „nicht Krieg“, also
Frieden gehörte und dann Menschenrechte? Denn die
Menschenrechte nutzen nichts, wenn Bomben fallen.


Gert Weisskirchen (SPD):
Rede ID: ID1411111500
Lieber Herr
Kollege, seien Sie doch mal ehrlich zu sich selbst, wenn
Sie diese Frage stellen! Wer war es denn, der in Jugosla-
wien drei Kriege geführt hat, bis die internationale
Staatengemeinschaft gesagt hat, jetzt müsse Schluss sein?
Der vierte Krieg war vorbereitet. Das war doch Milosevic.
Oder sehe ich das ganz falsch?


(Gernot Erler SPD: Nein!)

Bitte denken Sie noch einmal darüber nach, ob die Sub-
stanz Ihrer Frage in eine andere Richtung führt!

Willy Brandt hat im Oktober 1962 gesagt:
Wir haben die Formen zu suchen, die die Blöcke von
heute überlagern und durchdringen. Wir brauchen so
viel reale Berührungspunkte und so viel sinnvolle
Kommunikation wie möglich. Wir brauchen uns vor
dem Austausch von Wissenschaftlern und Studenten,
von Informationen, Ideen und Leistungen nicht zu
fürchten.

Das hat die Grundlage für den KSZE-Prozess gelegt.
Die Mauer, die hier stand, aber keinen Bestand haben
konnte, war die Stein gewordene Ohnmacht der damali-
gen Regimes gegenüber dem Willen der Menschen, etwas
aufzubauen, etwas festzuhalten. Dass die Mauer gefallen
ist und die Regimes gestürzt worden sind, hängt nicht zu-
letzt damit zusammen, dass die Menschen begriffen und
gewollt haben, dass die KSZE etwas mit ihrer individuel-
len Freiheit zu tun hat. Das hat den Bann gebrochen und
schließlich dazu geführt, dass dieses Europa nun endlich
zur Demokratie und zur Rechtsstaatlichkeit in allen unter-
schiedlichen Regionen kommen kann. Das ist der Auftrag
der OSZE und der KSZE und den werden wir fortsetzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411111600
Das Wort hat
jetzt der Kollege Hans Raidel.


Hans Raidel (CSU):
Rede ID: ID1411111700
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Nach so vielen Aus-
flügen in die Geschichte – wir sind sehr dankbar für alles,
was hier geschehen ist – darf ich mich einigen praktischen
Fragen der Gegenwart zuwenden.

Wir sind uns alle darüber einig, dass die OSZE einen
entscheidenden Beitrag zum Aufbau einer europäischen
Sicherheitsarchitektur leistet. Der Unterschied zu früher
ist: Die KSZE hat sich von einer Konferenz zu einer Or-
ganisation gemausert. Sie hat als Organisation jetzt ganz
bestimmte Aufgaben zugewiesen erhalten, die Sie ja alle
in Ihren Beiträgen bereits beschrieben haben.

Im November 1999 wurde in Istanbul die europäische
Sicherheitscharta unterschrieben. Sie regelt viele Orga-
nisationsfragen und stellt diese neuen Instrumente zur
Verfügung, die nun weiter gehen, als das früher bei der
KSZE denkbar und üblich war. Künftig sollen also in die-
sem Rahmen die Koordination der verschiedenen sicher-
heitspolitischen Aktivitäten vorgenommen und die je-
weils geeigneten Mittel dazu entwickelt werden.

Neu ist seit Istanbul natürlich auch, dass zur Verhütung
und zur Beilegung von Konflikten die OSZE zu eigenen
friedenserhaltenden Maßnahmen berechtigt ist, weil sie
mittlerweile als regionale Organisation im Sinne der UN-
Charta deklariert worden ist. Das war früher bei der KSZE
nicht der Fall.

Die früheren Aufgaben sind geblieben, also Abrüstung,
Rüstungskontrolle, militärische Vertrauensbildung, Kon-
fliktvorbeugung, Demokratisierung, Überwachungsauf-
gaben bei Wahlen. Neu sind zusätzliche Instrumente, eben
diese React-Gruppen, die in Konfliktsituationen schnell
und frühzeitig vor Ort sein sollen und als zivile Kompo-
nente von Friedensoperationen dienen.

Ein wichtiges Instrument ist der erweiterte Polizeiein-
satz, der die Durchsetzung von Menschenrechten und
Grundfreiheiten unterstützen soll, zum Beispiel durch
Überwachungs- und Beobachtungsaufgaben, und der vor
allem die lokalen Polizeiorganisationen zu unterstützen
hat.




Gert Weisskirchen (Wiesloch)


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(C)



(D)



(A)



(B)


Um dieses alles organisatorisch zu bewältigen, wird im
Sekretariat in Wien ein neues Operationszentrum aufge-
baut, das den schnellen Einsatz dieser Missionen vorzu-
bereiten hat.

Zusammengefasst heißt das: Der Organisationscharak-
ter der OSZE und ihre Rolle als praktisches Instrument
der präventiven Diplomatie werden weiter ausgebaut. Da-
mit wächst die Bedeutung der OSZE. Die Unterzeichnung
des KSE-Änderungsvertrages während des Istanbul-Gip-
fels unterstreicht auch die unveränderte Rolle der OSZE
als Dach der konventionellen Rüstungskontrolle in Eu-
ropa. Es steht also künftig ein breites Spektrum von Op-
tionen zur Konfliktregelung zur Verfügung. Damit hat die
Charta von Istanbul eines geschafft: Sie hat der gesamt-
europäischen Sicherheit erstmals klarere Konturen ver-
liehen. Die OSZE steht jetzt gleichberechtigt – das war
früher auch nicht der Fall – neben NATO, EU und WEU.
Nun geht es darum, in Absprache miteinander jeweils das
richtige Instrument zu entwickeln.

Die deutsche Rolle ist mitentscheidend bei all den Pro-
zessen gewesen. Wir haben immer hervorragende Schritt-
macherdienste geleistet. Dies wird natürlich von unseren
Partnern anerkannt. Aber es werden auch weiterhin hohe
Erwartungen an uns gerichtet. Ich glaube, wir werden
diese Erwartungen erfüllen. Wir stellen uns der Verant-
wortung und leisten Beiträge durch qualifiziertes Perso-
nal, durch entsprechendes Gerät und vor allem durch den
nicht zu unterschätzenden finanziellen Beitrag.

Ich möchte an dieser Stelle, Herr Minister, auch einmal
alle Damen und Herren Ihres Hauses loben, die bei der
OSZE arbeiten. Es gibt viele Konzepte und gut durch-
dachte Instrumentarien, die im Auswärtigen Amt ent-
wickelt worden sind, die bereits auf den Weg gebracht
worden sind und mit denen entscheidende Organisations-
hilfe geleistet wird. Aber – das möchte ich kritisch an-
merken – wenn wir von hier aus alle diese Dinge unter-
stützen und die entsprechenden Aktivitäten positiv sehen,
so muss ich doch feststellen, dass das ganze System einen
entscheidenden Mangel hat, nämlich den, dass die
Parlamentarische Versammlung der OSZE noch im-
mer keine formellen Kompetenzen im Entscheidungspro-
zess der OSZE hat und dass viele wichtige Entscheidun-
gen weiterhin ohne die Einbeziehung der Parlamentarier
getroffen werden. Das ist in meinen Augen nicht in Ord-
nung, in einer Zeit, in der wir darüber reden, wie bei-
spielsweise die Mechanismen in Europa verändert wer-
den können, und wie das, was national zu entscheiden ist,
nun auch auf der nationalen Ebene verbleiben kann. Wie
soll denn für die OSZE Akzeptanz geschaffen werden,
wenn das Parlament in Wirklichkeit nicht an den Ent-
scheidungen beteiligt ist? Insoweit hat auch die heutige
Debatte einen entsprechenden Mangel: Wir können Bitten
äußern, aber wir können die Regierung in entscheidenden
Punkten nicht beauftragen, gemäß der Meinung des Par-
lamentes zu handeln. Ich selber bin der Meinung, dass in
weiteren Reformschritten diese Defizite beseitigt werden
sollten, damit Distanzen zur OSZE abgebaut werden.


(V o r s i t z: Vizepräsident Rudolf Seiters)

In der Öffentlichkeit gilt: die OSZE, das unbekannte

Wesen.

Wir führen hier eine Insiderdebatte. Häufig wird die
OSZE auch unter Wert dargestellt. Draußen begreift die
Bevölkerung nicht, wie wichtig dieses Instrument auf al-
len Ebenen geworden ist. Ich meine, es müsste allmählich
auch in Deutschland wieder mehr über Sicherheit öffent-
lich diskutiert werden, um ein besonderes Gefühl für die
Sicherheit und auch das notwendige Gefühl für die Fi-
nanzierung zu entwickeln; denn es muss heuer noch über
die Finanzierung der OSZE gesprochen werden. Der
Beteiligungsschlüssel ist neu festzulegen. Im Klartext:
Die OSZE braucht mehr Geld. Der Haushalt für OSZE-
Einsätze muss wesentlich angehoben werden, wenn all
das, was Sie positiv formuliert haben, auch in die Wirk-
lichkeit umgesetzt werden soll.

Diese Nagelprobe wird zeigen, wie ernst die gefassten
Beschlüsse und ihre Umsetzung genommen werden, vor
allem bei uns in Deutschland. Jetzt kommt es darauf an,
dass alle Mitgliedstaaten die OSZE fördern und entspre-
chend ausstatten, damit sie die ihr zugedachten Aufgaben
wirklich erfüllen kann.

Für uns alle gilt: Sicherheit kostet etwas. Herr Minis-
ter, an Sie ist die Bitte gerichtet, dass Sie bei den jetzt an-
stehenden Haushaltsberatungen dafür sorgen, dass das
notwendige Geld wirklich zur Verfügung gestellt wird,
weil sonst – Sie haben das ein bisschen kritisiert – auch
dieser Tag nur eine festliche Veranstaltung mit Festtags-
reden bleibt, bei der alle immer in der ersten Reihe sitzen.
Wenn es darauf ankommt, hinsichtlich der Handlungs-
fähigkeit Entscheidendes sicherzustellen, dann kommt
dem Geld die wichtigste Rolle zu.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411111800
Herr Kollege, kom-
men Sie jetzt bitte zum Schluss.


Hans Raidel (CSU):
Rede ID: ID1411111900
In dieser Frage ziehen wir
gerne an einem Strang. Wir unterstützen Sie zwar; aber
die Vorreiterrolle liegt natürlich bei Ihnen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Uta Zapf [SPD]: Die war schon immer unsere Rolle! Ihr habt das Geld verfrühstückt!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411112000
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den An-
trag der Fraktionen von SPD, CDU/CSU und Bünd-
nis 90/Die Grünen mit dem Titel „25 Jahre KSZE/OSZE“
auf Drucksache 14/3666? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen von
SPD, CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen bei Stimm-
enthaltung von F.D.P. und PDS angenommen.

Wer stimmt für den Antrag der Fraktion der F.D.P. mit
dem Titel „OSZE stärken“ auf Drucksache 14/3674? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist
mit den Stimmen von F.D.P. und CDU/CSU bei Enthal-
tung der übrigen Fraktionen angenommen.


(Uta Zapf [SPD]: Jetzt hat er es aber geschafft!)





Hans Raidel
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(C)



(D)



(A)



(B)


– Es gibt doch immer wieder Überraschungen mit dem
Sprechzettel.

Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Haltung der Bundesregierung zur jüngsten
Einschätzung der Weltgesundheitsorganisa-
tion, wonach Deutschland im internationalen
Vergleich der Gesundheitssysteme Platz 25
einnimmt

Für die Fraktion der PDS, den Antragsteller, gebe ich
der Kollegin Dr. Ruth Fuchs das Wort.


Dr. Ruth Fuchs (PDS):
Rede ID: ID1411112100
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Vorige Woche hat die WHO in London die
Ergebnisse eines internationalen Vergleichs der Gesund-
heitssysteme vorgestellt. Die Länder wurden daraufhin
untersucht, was sie mit den zur Verfügung stehenden fi-
nanziellen und personellen Ressourcen an medizinischer
Versorgungsqualität und an Gesundheitsgewinn für ihre
Bevölkerung tatsächlich erreichen können.

Nun haben wir es amtlich: Unser Gesundheitswesen
erhält keine so gute Bewertung, wie manche immer wie-
der glauben machen wollen. Auch wenn beim ersten Ver-
such einer solchen Rang- und Reihenfolge methodisch
vieles zu hinterfragen ist, hat Gro Harlem Brundtland, die
international angesehene Generaldirektorin der WHO,
doch völlig Recht: Diese Studie ist für die Verantwortli-
chen vieler Länder eine unangenehme Lektüre.

Auch bei uns sollte die Einstufung des deutschen Ge-
sundheitswesens auf Platz 25 zumindest Anlass für tiefere
Nachdenklichkeit sein.


(Beifall bei der PDS)

Denn diese Einstufung ist umso alarmierender, als das
deutsche Gesundheitswesen auch unbestreitbare Stärken
hat, die durchaus eine entsprechende Berücksichtigung
gefunden haben. So erreicht unser im Wesentlichen noch
immer auf Solidarität beruhendes System beim Vergleich
hinsichtlich einer gerechten Verteilung der finanziellen
Lasten immerhin einen weit vorne liegenden sechsten
Platz. Ähnlich positiv ist die Einordnung bei der Patienten-
orientierung. Auch Infrastruktur und wissenschaftlich-
technische Leistungsfähigkeit erhielten mit Recht sehr
gute Noten.

Offensichtlich hat die WHO die gravierenden
Schwächen des deutschen Gesundheitswesens aber nicht
übersehen. Zu ihnen gehören beispielsweise die vielfäl-
tige Zersplitterung aufseiten der Leistungserbringer, ins-
besondere die Trennung zwischen dem ambulanten Sek-
tor und dem Krankenhaus. Es gehört dazu die mangelnde
Kooperation innerhalb der ambulanten Versorgung mit
vielen unnötigen Doppel- und Mehrfachuntersuchungen.
Hinzu kommt eine Steuerung durch Vergütungssysteme,
die ärztliches Handeln tendenziell in eine medizinisch
nicht begründete Mengendynamik drängen. Außerdem
führt das verständliche Streben nach einzelbetrieblicher
Rentabilität vielfach zu unrationellem Mitteleinsatz und

erheblichen Effizienzverlusten im Gesamtgefüge. Ja,
mehr noch, insgesamt gilt leider: Je anreizkonformer sich
die einzelnen Leistungserbringer verhalten, desto unwirt-
schaftlicher arbeitet das Gesamtsystem.


(Beifall bei der PDS)

Dies hat zusammen mit mangelnder Bedarfsplanung

und dem Fehlen übergreifender Gesundheitsziele neben
kostspieliger Überversorgung eben auch weite Bereiche
mit Unter- bzw. Fehlversorgung geschaffen. Gerade die
zunehmend wichtige Prävention ist für Letzteres ein trau-
riges Beispiel.

Im Ergebnis – darauf kam es der WHO besonders an –
wurden mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht
das Versorgungsniveau und jener Gesundheitsfortschritt
erreicht, die real möglich gewesen wären. Genau deshalb
haben wir den Ansatz der Gesundheitsreform 2000, be-
stehende Unwirtschaftlichkeiten durch Strukturreformen
abzubauen, als richtig empfunden und ausdrücklich be-
grüßt. Unseres Erachtens war es allerdings grundfalsch,
dieses ohnehin nur begrenzte Streben mit einem rigorosen
Sparkurs zu verbinden und darauf zu setzen, dass Ratio-
nalisierungsreserven unter dem Druck des knappen Gel-
des quasi automatisch erschlossen würden.

Heute ist unübersehbar, dass die Grundprobleme des
Gesundheitswesens ungelöst geblieben, dafür aber Unzu-
friedenheit und Verärgerung auf allen Seiten weiter ge-
wachsen sind. Überall, bei Versicherten bzw. Patienten
wie bei Leistungserbringern, verstärkt sich das Gefühl,
dass es so nicht weitergehen kann.


(Beifall bei der PDS)

Vor diesem Hintergrund muss sogar befürchtet werden,
dass die Gesundheitsreform 2000 objektiv den Boden für
eine weitere Aushöhlung des Solidargedankens bereitet.
Schon hat mit Kanzler Schröder ein führender oder, bes-
ser gesagt, der führende SPD-Politiker erstmals öffentlich
die Auffassung vertreten, dass es im Gesundheitswesen
ohne zusätzliche finanzielle Selbstbeteiligung der Versi-
cherten nicht mehr gehen wird.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das hat er gesagt?)


Das ist ein klarer Bruch mit bisherigen sozialdemokrati-
schen Grundpositionen.


(Beifall bei der PDS – Zuruf von der F.D.P.: Das stimmt!)


Wenn das Praxis würde, dann wäre das nichts anderes als
die Fortsetzung des Marsches in die Zwei-Klassen-
Medizin, wie er zu Zeiten der Kohl-Regierung bereits
angetreten wurde. Dem werden wir uns entschieden ent-
gegenstellen; denn für uns gilt nach wie vor: Eine allen
Menschen gleichermaßen zugängliche und humane Ge-
sundheitsversorgung bleibt nicht nur sozial gerecht, son-
dern sie ist bei entsprechendem politischen Willen und
vor allem bei entsprechendem politischen Handeln auch
machbar, und zwar auch unter den sich verändernden
Rahmenbedingungen in dieser Gesellschaft.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der PDS)






Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411112200


10489


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411112300
Für die SPD-Frak-
tion spricht der Kollege Professor Dr. Martin Pfaff.


Prof. Dr. Martin Pfaff (SPD):
Rede ID: ID1411112400
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Die PDS hat eine Aktuelle Stunde
zum Weltgesundheitsbericht 2000 durchgesetzt und es ist
auch ihr gutes Recht, das zu tun. Ich frage mich allerdings,
Frau Kollegin, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, wenn
wir das im Ausschuss ordentlich vorbereitet hätten,


(Zurufe von der PDS)

weil ein so komplexes Thema mit so vielen Facetten dies
erfordert.


(Zurufe von der PDS)

Ich will nicht die Frage an Sie und auch nicht an mich

selbst richten, ob wir wirklich jedes Wort in diesem Be-
richt so gründlich gelesen haben, wie er es verdient hätte.


(Zurufe von der PDS)

Ist das heute vielleicht auch ein bisschen Show oder geht
es wirklich nur um die Substanz oder schwingt bei eini-
gen gar ein bisschen Schadenfreude mit?


(Zuruf von der PDS: Dafür ist es zu traurig!)

Das wäre natürlich ein ganz großer Hammer. Denn, so
frage ich, soll, nachdem die deutsche Fußballmannschaft
entzaubert worden ist, dies nun auch mit unserem soliden
Gesundheitswesen geschehen, das heißt, soll es einen
Nackenschlag nach dem anderen geben?


(Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Für die Fußballergebnisse sind Sie als SPD nicht verantwortlich! Das kann ich Ihnen garantieren!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie in anderen Be-
reichen des Lebens wird natürlich auch hier – deshalb
auch meine etwas frivole Zuspitzung – nicht so heiß ge-
gessen wie gekocht; denn erstens sind die Befunde zum
Verhältnis von Gesundheitskosten und -ertrag nicht so
neu, wie viele vielleicht glauben. Zweitens – vielleicht ist
auch das wichtig – sind die Befunde selbst, die Verfahren,
die Methoden zu hinterfragen. Drittens – das ist der erns-
te Teil – enthalten diese Befunde auch eine Botschaft.
Wenn sie richtig aufgegriffen wird, können wir daraus
Gewinn ziehen.

Ich beginne mit dem ersten Punkt. Schon in den 80er-
Jahren gab es eine Studie englischer Gesundheitsökono-
men, die aufzeigten, dass, wenn man die Ressourcen im
Gesundheitswesen mit dem gesundheitlichen Ertrag, ge-
messen an der Lebenserwartung, vergleicht, Deutschland
im Vergleich zu anderen Industrienationen so gut nicht
aussehen würde. Also nichts Neues. Die WHO-Studie
geht ein bisschen weiter, aber im Grundsatz misst sie den
Erfolg des Gesundheitswesens in ähnlicher Art. Man
könnte natürlich fragen, was diese Studie, wenn wir bei
einigen Indikatoren schlecht, bei anderen mittelmäßig
und bei wiederum anderen relativ gut abschneiden, über
das System insgesamt sagt.

Die erste Botschaft könnte beispielsweise lauten:
Deutschland hat das zweitteuerste Gesundheitswesen.
Wir brauchen also nicht mehr Geld im System, sondern

mehr Qualität. Das ist eine Forderung, die auch ohne die
Schlussfolgerungen dieses Berichts erwägenswert ist.

Zum Zweiten könnte man natürlich fragen, ob hier
nicht teilweise ein rein statistisches Produkt vorliegt,
nachdem sich im Zuge der deutschen Einigung die Le-
benserwartung in den neuen Ländern leider nicht überall
an die des Westens angeglichen hat, die Kosten aber ge-
stiegen sind.

Ich meine, der Bericht sagt mehr über die Gesundheit
der Menschen in Deutschland aus als über die Gesund-
heitsversorgung. Die Gründe hierfür möchte ich jetzt
gleich ansprechen:

Erster Grund: Wir wissen, dass die Gesundheit der
Menschen von vielen Faktoren, dem Lebensumfeld, der
Lebensführung, dem Ernährungsverhalten, dem Bewe-
gungsverhalten, dem Wohnumfeld, den Arbeitsbedingun-
gen und vielem mehr, abhängt. Die gesundheitliche Ver-
sorgung, das ist anerkannter Stand der Sozialmedizin, ist
nur ein Faktor von vielen. Das Ergebnis der Gesundheits-
versorgung an einem Indikator zu messen, nämlich der
Lebenserwartung minus Jahre der Krankheit, ist zumin-
dest zu hinterfragen.

Zweiter Grund: Selbst die WHO ist sehr vorsichtig. Sie
macht nur Intervallaussagen. Wenn man nun den obersten
Wert des Intervalls für Deutschland zum Beispiel bei der
Zielerreichung nimmt und nicht nur den angegebenen
Mittelwert, dann liegen wir zusammen mit der Schweiz
auf Platz 2. Man sieht also, wie fragwürdig die Ergebnisse
sind.

Dritter Grund ist die Frage der Vergleichbarkeit. Die
Länder, die Invalidität und Krankheit exakt und präzise
messen, bekommen einen höheren Abzug qualitativ wert-
voller Lebensjahre als die anderen. Wir sind ja im Allge-
meinen dafür bekannt, dass wir die Sachen sehr viel akri-
bischer angehen.

Lassen Sie mich deshalb etwas freimütig einen
berühmten Satz des ersten Trägers des Nobelpreises für
Ökonomie, Pauls Samuelson, zitieren. Er sagte: Wenn Sie
mir die Wahl der Annahmen überlassen, kann ich Ihnen
alles beweisen, was Sie sehen wollen.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: So ist es!)

Ich sage dazu: Wenn Sie uns die Annahmen, die Metho-
den und die Verfahren, übrigens auch bei der Gewichtung
der Teilindikatoren und bei der Aggregation, wählen las-
sen – wer sagt denn, dass man Indikatoren einfach zu-
sammenzählen und dann dividieren darf? –, dann beweise
ich Ihnen alles.

Dennoch bleibt ein ernster Kern übrig, liebe Genossin-
nen und Genossen.


(Heiterkeit im ganzen Hause)

– Entschuldigung, ich wollte sagen, liebe Kolleginnen
und Kollegen. Aber auch die anderen, die noch Genossin-
nen oder Genossen werden wollen, dürfen sich angespro-
chen fühlen. Es tut mir Leid.

Erstens. Der Zielerreichungsgrad unseres Gesund-
heitswesens muss ernsthafter hinterfragt werden. Wir






(C)



(D)



(A)



(B)


müssen uns nämlich auch fragen, ob wir überhaupt die In-
strumente haben, um gesundheitliche Ziele in Einzelbe-
reichen zu verfolgen. Ich meine, wir haben sie nur teil-
weise. Das ist der erste Kernpunkt.

Der zweite Kernpunkt ist die Frage, wo wir ansetzen
müssen, um die Unterschiede beim Gesundheitsstatus zu
beseitigen.

Es muss ja irgendetwas an dem Urteil von Fachleuten
dran sein, die auch in Kenntnis der Realität sagen, das von
Bismarck geschaffene deutsche Gesundheitswesen zählt
zu den besten der Welt.


(Aribert Wolf [CDU/CSU]: Das war vor der rot-grünen Amtsübernahme!)


Ich sage, das liegt an den genialen Grundprinzipien dieses
Systems, was auch von diesem Bericht nicht bestritten
wird.

Ich erwarte, dass diese Wertschätzung des deutschen
Gesundheitswesens auch international noch gegenwärtig
sein wird, wenn dieser Bericht, zumindest in Teilen, schon
vergessen ist.

Danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Dann müssen Sie aber etwas dafür tun!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411112500
Für die CDU/CSU-
Fraktion gebe ich nunmehr das Wort dem Genossen
Dr. Wolf Bauer.


(Heiterkeit im ganzen Hause)



Dr. Wolf Bauer (CDU):
Rede ID: ID1411112600
Herr Präsident! Meine
Damen! Meine Herren! Diese Bemerkung hat mich hart
getroffen, das muss ich ehrlich sagen.


(Zurufe von der CDU/CSU: Genosse Präsident!)


Ich meine aber, dass jedem einmal ein Versprecher pas-
sieren kann. Es hat mich nur verwundert, Herr Kollege,
dass Sie ausgerechnet in dem Moment in unsere Richtung
geschaut haben. Hätten Sie dabei nach links geschaut,
hätte ich ja dafür Verständnis gehabt.

Ich möchte jetzt auf das eingehen, was Sie gesagt ha-
ben, Herr Kollege Pfaff. Es ist in der Tat nicht ganz ein-
zusehen, warum wir heute diese Aktuelle Stunde durch-
führen. Besser wäre es gewesen, dieses Thema im Aus-
schuss vernünftig zu beraten, zumal wir heute bestimmte
Aspekte nur mehr oder weniger wahllos herausgreifen
und entsprechende Anmerkungen machen können.

Es ist mit Sicherheit eine große Fleißarbeit geleistet
worden, um diese Daten zusammenzutragen. Ich muss al-
lerdings sagen: Quantität der zusammengetragenen Daten
und Qualität der daraus gezogenen Schlussfolgerungen
klaffen in vielen Bereichen sehr stark auseinander.

Da wir weltweit nicht über die gleichen Rahmenbedin-
gungen verfügen, führt die Datenerhebung und damit die

Grundlage für eine derartige Expertise schon deshalb na-
hezu zwangsläufig zu Problemen. Denn Hunger und
Krieg auf der einen und Wohlstand und soziale Sicherung
auf der anderen Seite markieren deutlich die unterschied-
lichen Verhältnisse, in denen – ich muss sagen: leider –
Menschen leben müssen.

Es drängt sich daher die Frage auf: Kann man über-
haupt in allen Mitgliedstaaten vergleichbare Daten abfra-
gen? Noch schwieriger wird es, einen einheitlichen Maß-
stab zu finden, mit dem sich die Qualität zum Beispiel des
amerikanischen Gesundheitswesens genauso gut messen
lässt wie die Qualität des Gesundheitswesens im krisen-
geschüttelten Afghanistan.

Gleichwohl meint die WHO, anhand von fünf Kriterien
die Qualität der Gesundheitssysteme in 191 WHO-Mit-
gliedstaaten beurteilen zu können. Nach der Gesamtaus-
wertung liegen Frankreich und Italien ganz vorn; Sierra
Leone bildet auf Platz 191 das Schlusslicht; die Schweiz
liegt an 20., Deutschland an 25. und die USAan 37. Stelle.

Angesichts dieses Ergebnisses geraten viele, die hier-
zulande mit unserem Gesundheitssystem zu tun haben,
schon kräftig ins Staunen. Sollte unser Gesundheitswesen
mit all seinem Know-how, einem Höchstmaß an medizi-
nisch-technischen Leistungen, mit zahlreichen ambulan-
ten und stationären Gesundheitsangeboten und mit den
vielfältigen erfolgreichen Forschungsaktivitäten, vor al-
lem auf dem Gebiet der Krebsbekämpfung, wirklich
schlechter sein als das Gesundheitssystem Frankreichs
und Italiens?

Hat nicht manch einer von uns aus dem Urlaub den
Eindruck mitgenommen, dass unser Gesundheitswesen in
vieler Hinsicht nachahmenswert ist? Festzuhalten ist
auch, dass Deutschland bei der Leistungsfähigkeit des
Gesundheitssystems einen beachtlichen 5. Platz einnimmt –
auch darauf ist schon hingewiesen worden – und ebenso
bei der Zufriedenheit mit der medizinischen Versorgung.

Ein interessantes Detail betrifft die Selbstbeteiligungs-
quote. In den Industrieländern zahlen die Patienten durch-
schnittlich 25 Prozent der Arzt- und Medikamentenkosten
aus eigener Tasche. In den USAmuss der Patient 56 Pro-
zent selbst bezahlen, in Indien 80 Prozent und in den
meisten Entwicklungsländern sogar alles. Die Selbstbe-
teiligungsquote in Deutschland liegt um einiges unter den
durchschnittlichen Selbstbeteiligungsleistungen der In-
dustrienationen in Höhe von 25 Prozent. Darauf haben wir
seitens der Union in der Vergangenheit immer wieder hin-
gewiesen und mit der Einführung von sozialverträglich
ausgestalteten Zuzahlungsregelungen entsprechend ver-
antwortungsvoll gehandelt.

Wir sind von Rot-Grün für diese sozialverträglich ge-
stalteten Zuzahlungen permanent kritisiert worden.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Zu Recht!)

Noch im Bundestagswahlkampf 1998 hat die SPD an-
gekündigt, sich besonders der Zuzahlungen anzunehmen
bzw. angeblich überhöhte Zuzahlungen ganz abzuschaf-
fen. Wenn Sie diese Ankündigung ernst genommen hät-
ten, Frau Kollegin, hätten Sie das auch machen müssen


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Haben wir doch!)





Dr. Martin Pfaff

10491


(C)



(D)



(A)



(B)


und hätten nicht ganz moderat auf lediglich acht, neun und
zehn DM absenken dürfen. Das entspricht doch gar nicht
dem, was Sie vor der Wahl versprochen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es scheint in der Koalition – das ist vielleicht ein Licht-
blick – mittlerweile die Einsicht gereift zu sein, dass es
notwendig ist, eine sozialverträglich ausgestaltete Selbst-
beteiligung wieder verstärkt in die Diskussion zu bringen.

Ich möchte noch eine letzte Bemerkung zu dem WHO-
Gesundheitsreport machen.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Lohnt sich nicht!)

– Vielleicht doch, Herr Thomae. – Sollte Rot-Grün wei-
terhin völlig konzeptlos an unserem Gesundheitssystem
herumexperimentieren, ist es fraglich, ob wir zukünftig
selbst den 25. Platz in der WHO-Liste halten können. Mit
Budgetierung, die automatisch zur Rationierung führt, ist
das in der Tat mehr als fraglich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411112700
Ich gebe das Wort der
Parlamentarischen Staatssekretärin bei der Bundesminis-
terin für Gesundheit, Christa Nickels.

C
Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411112800
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Die Frage, wie das deutsche Ge-
sundheitssystem im internationalen Vergleich zu bewer-
ten ist, war schon immer Gegenstand von Spekulationen
und auch von Wunschdenken; denn die vorhandenen Da-
ten und Informationsgrundlagen reichen in aller Regel
nicht aus, um solche komplexen Leistungsvergleiche an-
zustellen.

Richtig ist, dass in den vergangenen Jahrzehnten die in-
ternationalen Organisationen zahlreiche Anstrengungen
unternommen haben, um die Qualität der Informationen
zur Beschreibung der unterschiedlichen Systeme zu
verbessern, und dass dabei auch Fortschritte erzielt wur-
den. Aber es gibt immer noch keine solide Datengrund-
lage, die einen internationalen Leistungsvergleich von
Kosten und Qualität wirklich zulässt.

Nun hat die Weltgesundheitsorganisation mit ihrem
Bericht „Health Systems: Improving Performance“ für
das Jahr 2000 einen Versuch in diesem schwierigen Feld
auf der Grundlage der ihr verfügbaren Daten unternom-
men und eine Hitliste der Gesundheitssysteme erstellt.

Dieser Versuch ist interessant und er ist diskussions-
würdig. Die Absicht der WHO, ihren Mitgliedstaaten da-
mit Hinweise zur Verbesserung der Systeme und der ge-
sundheitlichen Versorgung der Bevölkerung zu liefern, ist
lobens- und unterstützenswert. Doch dies ist schwierig,
solange die Daten und Informationen, die dieser Erhe-
bung zugrunde liegen, viele Mängel aufweisen. So wer-
den zum Beispiel Expertenurteile einbezogen, die kaum
repräsentativ sein dürften, und Schätzverfahren angewen-
det, die äußerst zweifelhaft erscheinen. Auch werden Da-
ten aus den Jahren 1997 und 1999 vermischt.

Was der WHO-Vergleich aber unterstreicht, ist, dass
die Höhe der Mittel, die in einem Land für das Gesund-
heitssystem aufgewandt werden, alleine noch kein Be-
weis für die Qualität der Versorgung ist. Die USA zum
Beispiel, die nach wie vor am meisten Geld für Gesund-
heit ausgeben, landen in keinem anderen Feld auf einem
vorderen Platz.

Unabhängig von der Qualität der Studie geht auch un-
ser Haus davon aus, dass die Frage des allgemeinen
Gesundheitszustandes der Bevölkerung ein wichtiges
Kriterium für die Qualität der Versorgung ist und dass
außerdem Indikatoren, wie das Ausmaß der Gesundheits-
unterschiede in der Bevölkerung und die Patientenorien-
tierung des Systems, von großer Bedeutung sind.

Der Ansatz der Weltgesundheitsorganisation bestärkt
uns deshalb in unseren Leitzielen: stärkere Patientenori-
entierung, mehr Qualität und Effizienz, bessere Zugangs-
chancen für sozial Benachteiligte, mehr Gewicht für
Prävention und Gesundheitsförderung. Viele dieser The-
men haben wir mit der Gesundheitsreform 2000 aufge-
griffen. Ich möchte hier nur einige Stichworte anführen:
Wir haben die hausärztliche Versorgung verbessert. Die
Verzahnung zwischen ambulantem und stationärem Sek-
tor wurde vorangetrieben. Wir sorgen für eine Stärkung
der Patientenrechte. Qualität wird zum zentralen Steue-
rungsparameter. Selbsthilfe und Gesundheitsförderung
werden ausgebaut.

All dies sind Bestandteile unserer Reform, die jetzt
Schritt für Schritt in die Praxis umgesetzt werden. Sie
werden die Effizienz und Effektivität unseres Gesund-
heitssystems weiter verbessern.

Deshalb will ich gar nicht darüber spekulieren, ob Platz 25
von 191 nun ein Platz ist, der uns bei einer Gesundheits-
europameisterschaft die Teilnahme am Viertelfinale
sichern würde oder nicht. Denn auch für das Ge-
sundheitswesen gilt: Nichts ist so gut, als dass es nicht
noch besser werden könnte. Dabei kann uns der Blick
über die Landesgrenzen, zum Beispiel zu unseren Nach-
barn in Europa, sicher helfen. Vor allem aber müssen wir
unser eigenes System immer wieder kritisch durchleuch-
ten und auf Fehlentwicklungen hin untersuchen. Es ist
und bleibt also Aufgabe der Politik, das Gesundheitssys-
tem auch in Zukunft zu verbessern und weiterzuent-
wickeln. – Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411112900
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht der Kollege Dr. Dieter Thomae.


Dr. Dieter Thomae (FDP):
Rede ID: ID1411113000
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Auch bei diesem Be-
richt der WHO zeigt sich, dass man der Arbeit der Welt-
gesundheitsorganisation sehr skeptisch gegenüberstehen
sollte. Ich bedaure es sehr, dass ein solcher Bericht abge-
fasst wurde und dass die einzelnen Länder untersucht und
analysiert wurden, ohne dass die Kriterien mit ihnen fest-
gelegt worden wären. Das, so meine ich, ist Anlass für
uns, diese Thematik im Gesundheitsausschuss mit der




Dr. Wolf Bauer
10492


(C)



(D)



(A)



(B)


Bundesregierung zu besprechen. Denn es kann nicht sein,
dass Kriterien auf den Weg gebracht werden, die nicht ge-
nau definiert werden können und die sehr, sehr viel Spiel-
raum lassen. Von daher wäre dies eine Angelegenheit, die
im Gesundheitsausschuss zu erörtern ist.

Sie sehen, wie problematisch dieser Fall ist, wenn Sie
zum Beispiel wissen, dass in Italien die Bettwäsche mit-
gebracht werden soll und das Essen ebenfalls mit ins
Krankenhaus gebracht wird. Vor diesem Hintergrund fra-
gen Sie sich, wie die Kriterien wirklich fundiert aufberei-
tet werden sollen. Von daher sage ich Ihnen: Bei dem An-
teil, den wir jährlich an die WHO zahlen, möchte ich in
die Lage versetzt werden, diese Kriterien mit zu bestim-
men. Das ist Aufgabe der Bundesregierung.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir wissen alle, dass jedes System in der Welt Vorteile
und Nachteile hat. Wir wissen, dass unser System eine
Menge Vorteile hat. Es gibt jedoch auch Nachteile. Die
jetzige Bundesregierung hat die Budgetierung in den Mit-
telpunkt Ihrer Gesundheitspolitik gestellt.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Was haben Sie denn gemacht?)


Das ist für mich einer der größten Nachteile, die wir seit
1998 erkennen müssen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Es zeigt sich, dass die Budgetierung dazu führt, dass chro-
nisch Kranke in diesem System massiv benachteiligt wer-
den.

Ich glaube, es kommt nicht von ungefähr, dass wir jetzt
feststellen, dass Untersuchungen beweisen, dass chro-
nisch Kranke nicht mehr die hoch innovativen Arzneimit-
tel bekommen. Ich sage Ihnen: Das ist unverantwortbar!


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich bitte Sie wirklich, diese Politik zu ändern. Denn es
nützt nichts, wenn Sie den Bürgern sagen, sie bekämen al-
les, ihnen dann aber über die Budgetierung Leistungen ab-
geschnitten werden. Dann ist mir – das sage ich so deut-
lich – eine sozialverträgliche Zuzahlung erheblich lieber.
Denn dadurch erhält derjenige, der finanziell benachtei-
ligt ist, über die Härtefallregelung, über die Überfor-
derungsregelung immer die notwendige medizinische
Leistung.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Walter Hirche [F.D.P.]: Das ist ehrlicher und sozial gerechter!)


Wir hatten in der alten Koalition in diesem Bereich ei-
nen vernünftigen Weg eingeschlagen. Beginnen Sie, Ihre
Entscheidung für die Budgetierung zu überdenken; es ist
dringend Zeit. Dann könnten wir mit Ihnen weiter über
den richtigen Weg diskutieren.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411113100
Für die SPD-Frak-
tion spricht der Kollege Eike Hovermann.


Eike Hovermann (SPD):
Rede ID: ID1411113200
Herr Präsident! Ver-
ehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn die WHO eine
Studie vorlegt, derzufolge das deutsche Gesundheitssys-
tem im internationalen Vergleich nur an 25. Stelle liegt,
also weit hinter Spanien, Italien und Portugal, so freut das
sicherlich zunächst niemanden von uns.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ist es!)

Aber, der Weltgesundheitsreport, um den es hier geht –
und den sicherlich alle gelesen haben, Frau Dr. Fuchs,
über 200 Seiten in Englisch –, verdient es, eingehend be-
trachtet und analysiert zu werden. Wie Sie wissen, basiert
die Studie auf Daten aus den Jahren 1997 und
1999 – vermischt, wie die Frau Staatssekretärin zu Recht
erklärt hat. Aber vergessen hat sie, dass die Daten
zunächst einmal ein Spiegel sind für 16 Jahre Gesund-
heitspolitik von Herrn Kohl, Herrn Seehofer und von Ih-
nen, Herr Dr. Thomae.

Kolleginnen und Kollegen, ich möchte aber nicht so
weit gehen wie die „Ärzte-Zeitung“, die das WHO-Ran-
king als „Statistik der Absurditäten“ bezeichnet hat. Doch
es ist sicher zulässig zu behaupten, dass sowohl die erho-
benen Daten als auch die Indikatoren dieser Studie nicht
tragfähig sind, um die Leistung von Gesundheitssystemen
insgesamt angemessen zu bewerten – ein Umstand, der
Ihnen, verehrte Frau Dr. Fuchs, bei genauerem Lesen der
Studie eigentlich nicht entgangen sein dürfte.

Ich frage mich deshalb wie mein Vorredner ernsthaft
nach dem Sinn dieser Aktuellen Stunde. Wollen Sie
tatsächlich ein Gesundheitssystem wie in Frankreich, das
zwar auf Platz eins der Gesamtwertung liegt, aber in der
Frage der gerechten Verteilung der Kosten nur auf
Platz 28? Oder möchten Sie von der PDS vielleicht ein
Gesundheitssystem wie in den USA? Denn dort sind die
Patienten laut Studie am zufriedensten – erstaunlich,
wenn man bedenkt, dass gerade dort die Kosten besonders
hoch sind, die Verteilung der Kosten fragwürdig und ein
großer Teil der Bevölkerung überhaupt nicht kranken-
versichert ist.

Obwohl es für eine abschließende Bewertung sicher
noch zu früh ist, möchte ich doch sagen, dass ich den Aus-
sagewert eines solchen Rankings für begrenzt halte. Ich
vermute aber, dass diese Studie für Sie von der PDS als
willkommener Anlass genommen worden ist, um die rot-
grüne Gesundheitspolitik zu attackieren.

Ich möchte Sie von der PDS fragen, ob es wirklich ver-
antwortlich ist, in einer Zeit knapper werdender finanzi-
eller Ressourcen – auch bedingt durch den Aufbau des
Gesundheitssystems Ost, durch Milliardentransfers von
den West- zu den Ostkassen – schlecht über unser Ge-
sundheitssystem zu reden. Das ist es insbesondere dann
nicht, wenn man bedenkt, dass seit dem Regierungswech-
sel durch die Gesundheitsreform 2000 erhebliche Schritte
für eine bessere gesundheitliche Versorgung eingeleitet
worden sind, deren Wirkungen in der WHO-Studie über-
haupt noch nicht erfasst worden sind.




Dr. Dieter Thomae

10493


(C)



(D)



(A)



(B)


Natürlich ist es immer wieder wichtig, die Frage nach
der Qualität unseres Gesundheitssystems neu zu stellen
und dabei auch den internationalen Vergleich nicht zu
scheuen. Deshalb frage ich Sie: In welchen anderen Län-
dern gibt es so umfangreiche Ansprüche auf Prävention
und Rehabilitationsleistungen – wenn auch für uns immer
noch zu wenig – wie in Deutschland?


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Da haben Sie Recht!)


In wie vielen europäischen Ländern ist die Zuzahlung zu
Arzneimitteln ähnlich niedrig?


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Da haben Sie Recht!)


Und nicht zuletzt frage ich: Wo wird so viel Wert auf gute
Ausbildung und Qualitätssicherung gelegt wie bei uns?

Trotzdem gibt es keinen Grund zur Selbstzufrieden-
heit. Denn die Kosten – das hat diese Studie eindrucksvoll
belegt – sind im Vergleich zu den erbrachten Leistungen
immer noch zu hoch. Wer meint, es müsse nun noch mehr
Geld in das Gesundheitssystem gepumpt werden, hat aus
unserer Sicht nicht die richtige Vorstellung von der Ge-
sundheitspolitik der Zukunft. Wir müssen nämlich dafür
sorgen, dass unser System der gesundheitlichen Versor-
gung zukunftsfähig bleibt. Die Bundesregierung hat mit
der Reform 2000 die ersten Schritte getan.

Dazu einige Beispiele: Mit der Gesundheitsre-
form 2000 haben wir erstmalig für sämtliche Versor-
gungsbereiche eine Verpflichtung zum umfassenden Qua-
litätsmanagement gesetzlich fixiert. Mit der integrierten
Versorgung – Sie haben die Situation von 1997/98 skiz-
ziert; nun ist ja inzwischen etwas passiert –


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Es ist nichts passiert!)


wird die Abschottung einzelner Versorgungsstufen been-
det.

Damit ist der Weg für ein verstärkt patientenorientier-
tes Gesundheitssystem geebnet. Auf der Grundlage von
auf „evidence based medicine“ basierenden Leitlinien
werden erstmalig in der Geschichte des deutschen Ge-
sundheitswesens Kriterien definiert, um auch in Zukunft
eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung zu
gewährleisten. Wir werden dabei in Zukunft noch mehr
als bisher darauf achten müssen, dass wir im Rahmen der
solidarischen Krankenversicherung die vorhandenen Mit-
tel sinnvoll und effektiv einsetzen und nicht sofort nach
einer Trennung von Pflichtleistungen und Wahlleistungen
oder gar nach Beitragserhöhungen rufen oder über die
Budgetierung lamentieren, bevor wir die Einsparpoten-
ziale, die in bestimmten Bereichen noch in Milliarden-
höhe vorhanden sind, ausgeschöpft haben.


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das sagen Sie einmal den Rheumatikern!)


Derzeit arbeitet die Bundesregierung – das ist ein An-
liegen von mir und wird sehr entscheidend sein – an den
rechtlichen Grundlagen für die Zusammenführung und
Auswertung von Gesundheitsdaten, die eine vernünftige
und qualitätsorientierte Steuerung der Mittel überhaupt

erst möglich machen. Über all diese Aufgaben – da
stimme ich mit der überwiegenden Zahl meiner Vorredner
überein – hätte man im Gesundheitsausschuss lange und
ausgiebig diskutieren müssen, anstatt dieses Thema hier
in fünfminütigen Reden – gezwungenermaßen nur ober-
flächlich – anzugehen. Das heißt, Sie haben uns dazu ver-
leitet, etwas zu tun, was wir eigentlich nicht tun sollten.

Frau Dr. Fuchs, Herr Dr. Thomae und alle anderen lie-
ben Kolleginnen und Kollegen und Genossen, ich bin si-
cher, dass wir, wenn die von der Regierung eingeleiteten
Schritte langsam greifen, den internationalen Vergleich
weder jetzt noch in Zukunft scheuen müssen und dass wir
Deutschland im zukünftigen Wettbewerb auf EU-Ebene
zum Gesundheitsstandort Nummer eins machen können.

Herzlichen Dank fürs Zuhören.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411113300
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht die Kollegin Annette Widmann-Mauz.


Annette Widmann-Mauz (CDU):
Rede ID: ID1411113400
Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege
Hovermann, dass Sie zum jetzigen Zeitpunkt noch von
milliardenschweren Einsparpotenzialen in der GKV spre-
chen, ist natürlich vor dem Hintergrund verständlich, dass
Sie im Zuge der Haushaltsplanberatungen 2001 milliar-
denschwere Steinbruchpotenziale, zum Beispiel die beab-
sichtigten Einsparungen bei den Beiträgen der Arbeitslo-
senhilfebezieher, brauchen, was aber in Zukunft nicht zu
einem wirklich guten und fundierten Gesundheitssystem
beitragen wird. Das, was Sie hier dargestellt haben, ist
sehr verräterisch.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ist Deutschland zweitklassig? Als ob es nicht schon

schlimm genug wäre: Nicht nur im Fußball sind wir grot-
tenschlecht. Nein, laut WHO-Bericht sind wir auch noch
im Gesundheitswesen weit abgeschlagen. Anders unser
Nachbar Frankreich: Er ist der aktuelle Fußballweltmeis-
ter, spielt um die Europameisterschaft und hat gemäß dem
Gesundheitsbericht der WHO das beste Gesundheitssy-
stem der Welt. Italien liegt an zweiter und Spanien an drit-
ter Stelle. – Auch die haben übrigens gute Fußballmann-
schaften. – Deutschland liegt hinter Zypern auf Platz 25.
Da müssen wir uns schon fragen: Was ist denn da eigent-
lich passiert?

Sicher, über die Methode dieser Studie lässt sich im
Einzelnen streiten. Da wird so mancher Apfel mit einer
Birne verglichen. Dennoch liegt unterm Strich erstmals
ein internationaler Vergleichsmaßstab vor, den wir durch-
aus ernst nehmen sollten; denn darin steckt eine ganze
Menge an politischer Brisanz.

Ich möchte einen Punkt hervorheben: Wenn die Regie-
rungsfraktionen hier sagen, dies sei entweder das Ergeb-
nis einer langfristig verfehlten Politik der heutigen Oppo-
sition oder wissenschaftlicher Unfug, dann haben sie den
Bericht aus meiner Sicht nicht aufmerksam gelesen. Der
Bericht betont nämlich, Deutschland sei im Bereich Fair-




Eike Maria Hovermann
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(A)



(B)


ness of Financial Contribution mit führend. Das heißt, wir
haben eines der sozial gerechtesten Gesundheitssysteme
der Welt. Genau das wird von Gro Harlem Brundtland
ausdrücklich gewürdigt.

Noch nach dem Bundestagswahlkampf haben Sie Gift
und Galle gespuckt und von Sozialabbau, sozialer Kälte,
Unanständigkeit in der Politik usw. geredet. Natürlich war
das, was Sie damals geredet haben, alles Unsinn. Dennoch
haben Sie ohne Not eine „Kehrwende“ in der Gesund-
heitspolitik verkünden müssen und ein gesundheitliches
Chaos geschaffen. Die Reduzierung von Zuzahlungen
und die Rücknahme von angeblichen Leistungsausgren-
zungen sollten – so war Ihr Anspruch – den Solidarge-
danken in der gesetzlichen Krankenversicherung stärken,
ohne die Beitragssätze zu erhöhen.

Doch heute ist das Gegenteil festzustellen: Jetzt fehlt
das Geld und Sie flickschustern mit Finanzsteuerung und
Budgets herum. Die Vergangenheit hat doch gezeigt –
auch die Gegenwart macht es wieder deutlich –, dass Bud-
gets zu Rationierung und zur Kürzung medizinischer
Leistungen führen. Ihr Festhalten an Budgets führt in un-
serem Land in die Zwei-Klassen-Medizin.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Teure Behandlungen werden zum Privileg derer, die sich
diese Behandlungen finanziell leisten können.


(Zuruf der Abg. Regina Schmidt-Zadel [SPD])

– Kollegin Schmidt-Zadel, ich werde das gleich noch wei-
ter ausführen.

Budgets sind keine adäquate Antwort auf die Heraus-
forderungen der Zukunft: auf die demographische
Entwicklung, den medizinischen Fortschritt und die
steigende Erwartungshaltung der Menschen. Dort, wo
Deutschland laut WHO richtig gut ist, bei der sozialen Ge-
rechtigkeit, vermurksen Sie die Dinge. Dort aber, wo ob-
jektiv Reformbedarf besteht, kommen Sie nicht zu Potte
bzw. verschärfen die Probleme. Ihre dirigistische Budge-
tierungspolitik vermindert die Effizienz unseres Gesund-
heitssystems. Genau das beklagt der WHO-Bericht.

In der Praxis sieht das dann folgendermaßen aus – es
wäre schon gut, wenn Sie mir zuhörten, Frau Schmidt-
Zadel, zumal Sie vorhin deutlich gemacht haben, dass Sie
diesen Bericht noch nicht ganz verstanden haben –:


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Bei der Therapie der multiplen Sklerose, bei Herz-Kreis-
lauf-Erkrankungen oder bei Antirheumatika gibt es ganz
neue, hoch innovative Präparate, die zugleich effizient
und schonend sind. Leider werden diese Arzneimittel nur
sehr selten verschrieben, weil sie teuer und die Budgets
ausgeschöpft sind. Diese Bundesregierung verlagert mit
ihrer Politik, ob sie es will oder nicht, das Morbiditätsri-
siko auf den Arzt und der Patient ist am Ende der Dumme.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

In letzter Konsequenz werden ihm diese Mittel vorenthal-
ten. Was die WHO am deutschen System bemängelt, wird
von Rot-Grün geradezu kultiviert. Wenn Sie so weiterma-

chen, werden wir beim nächsten Ranking auf Platz 87 ste-
hen.

Wir brauchen leistungsfähige Strukturen, um die Fair-
ness in unserem Gesundheitswesen zu erhalten. Die Teil-
habe aller am medizinischen Fortschritt darf keine Frage
des Geldbeutels werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Beitragseinnahmen der Krankenversicherung wer-

den mit den durch die steigende Nachfrage verursachten
Kosten nicht Schritt halten. Bei begrenztem Finanzbudget
kann es keine unbegrenzten Leistungen geben. Wir brau-
chen mehr Flexibilität und Wahlfreiheit. Kernleistungen
müssen solidarisch finanziert werden, Wahlleistungen
durch gestärkte Eigenverantwortung subsidiarisiert wer-
den.


(Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Sagen Sie mal, was eine Kernleistung ist!)


Wir brauchen Wettbewerb und Solidarität. Wir brau-
chen einen fairen Sozialstaat. Wir brauchen eine neue Po-
litik für eine neue Zeit. Unsere Diskussionspunkte, liebe
Kolleginnen und Kollegen, liegen seit letzter Woche auf
dem Tisch. Wir haben vorgelegt. Jetzt ist es an Ihnen
nachzulegen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411113500
Für Bündnis 90/Die
Grünen spricht nun die Kollegin Katrin Göring-Eckhardt.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

legen! Wir sollten aufhören, von Fußball zu reden. Das
Ausscheiden der deutschen Mannschaft hat uns alle ins
Mark getroffen; es ist sicherlich sehr schmerzhaft für uns.


(Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Das führt auch zum Nachdenken!)


Wir sollten diese Debatte auf die Gesundheit beschränken
und allenfalls über die Prävention diskutieren, die durch
den Breitensport erreicht wird.

Wenn wir heute über den WHO-Bericht sprechen, gibt
uns das zumindest Gelegenheit, von der alltäglichen Dis-
kussion über Detailfragen abzugehen und einmal einen
globalen Blick auf das Gesundheitssystem im Kontext zu
richten. Dieser Report bewirkt, dass wir uns Gedanken
darüber machen, wo wir mit unserem Gesundheitssystem
im internationalen Vergleich stehen, woran wir uns zu
messen haben. Er gibt uns natürlich auch Gelegenheit, da-
rüber nachzudenken, welche Kriterien zugrunde gelegt
wurden. Dass wir darauf künftig Einfluss nehmen, halte
ich für selbstverständlich.

Bei der Bewertung des Gesundheitssystems insgesamt
erreicht Deutschland nur Platz 25. Das kann uns eigent-
lich nur anspornen, das System in Deutschland weiter zu
verbessern. Ich glaube, da sind wir auf dem richtigen
Weg.

Sehen wir uns einmal die Werte im Einzelnen an: Be-
züglich des allgemeinen Gesundheitszustandes steht




Annette Widmann-Mauz

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(D)



(A)



(B)


Deutschland mit Platz 41 auf dem ungünstigsten Platz.
Bei dem Maß, das die Gleichheit der Überlebenswahr-
scheinlichkeit von Kindern misst, wird uns nur Platz 22
zugewiesen. – An dieser Stelle nur ein Beispiel dafür, wo
diese Bundesregierung Maßnahmen ergriffen hat – dieser
Bericht bezieht sich ja auf Ihre Regierungszeit –: Mit dem
Programm „Umwelt und Gesundheit“ setzen wir bei dem
Gesundheitszustand von Kindern an. Ich nenne als Stich-
wort nur die Messung der Grenzwerte im Umweltbereich
in Kindernasenhöhe. Wir haben Maßnahmen ergriffen,
die zu einer deutlichen Verbesserung des Gesundheitszu-
standes führen. – Bei der Bewertung der Erreichung von
Gesundheitszielen liegt Deutschland sehr viel weiter
vorne, nämlich auf Platz 14. Für mich ist es sehr erfreu-
lich – da stimme ich Ihnen zu, Frau Widmann-Mauz –,
dass wir bei der Bewertung der Gerechtigkeit der finanzi-
ellen Lastenverteilung mit Platz 6 bis 7 ganz gut ab-
schneiden.

Auch bezüglich der Akzeptanz des Systems in
Deutschland haben wir einen guten Platz. Das kann nur
Indiz dafür sein, dass von dem, was insbesondere Sie,
Herr Thomae, hier gerade vorgetragen haben, also von ei-
ner Rationierung der Leistungen, keine Rede sein kann.
Für uns ist die Akzeptanz des Systems ein wichtiger Wert,
den wir erhalten wollen. Das heißt aber auch, dass es Ver-
änderungen im System geben muss, damit die damit ver-
bundenen Werte der Solidarität und der Gerechtigkeit er-
halten bleiben können.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: „Verschärfte Budgetierung“!)


Fazit kann also nur sein: Im deutschen Gesundheitssys-
tem besteht weiterhin Handlungsbedarf, was die Verbes-
serung der medizinischen Leistungen, der Transparenz
und der Selbstbestimmung angeht. Es war und bleibt rich-
tig, das System zu reformieren.


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Wann?)


Weiterhin wird deutlich, dass wir trotz hoher Ausgaben
für Gesundheit nicht diejenigen sind, die im internationa-
len Vergleich am längsten leben oder am gesündesten
sind.

Ich möchte noch auf die Ziele und Schlussfolgerungen
des Reports näher eingehen. Der Report hat sich ein ho-
hes Ziel gesetzt, nämlich weltweit alle Gesundheitssys-
teme anhand bestimmter Indikatoren zu vergleichen.
Viele haben gesagt, dass die Erhebung der Daten mögli-
cherweise unzureichend und die Methoden der Datener-
fassung verbesserungswürdig seien. Trotzdem will ich Ih-
nen kurz sagen, welche Intentionen des Reports ich für
richtig halte.

Der Report hat zum Ziel, die gesundheitliche Versor-
gung in der ganzen Welt zu verbessern; die Ziele eines Ge-
sundheitssystems sollen klarer erkennbar werden. Im
Rahmen der Verbesserung der Gesundheit geht es eben
nicht nur um die Bewahrung der individuellen Gesund-
heit, sondern wird auch danach gefragt, wie viel die Men-
schen dafür zahlen und was sie dafür bekommen. Nach
Ansicht der WHO betrifft das nicht nur das Niveau und
die Menge der Versorgung. Innerhalb des Systems sollen

auch Ungleichheiten reduziert werden: Diejenigen, denen
es am schlechtesten geht, dürfen nicht von Armut bedroht
sein, wenn sie krank werden.

Obwohl weltweit viel Geld für das Gesundheitssystem
ausgegeben wird, werden die Potenziale, so auch in
Deutschland, nicht genutzt. Auch darf ein Gesundheits-
system nicht allein die Gesundheit der Bürger im Blick
haben. Es muss im Fall der Krankheit ebenso vor Armut
schützen. Gerade in den armen Ländern stellt das ein be-
sonderes Problem dar.

Die Verwaltung des Gesundheitssystems – auch das ist
eine Frage, über die wir weiter nachdenken sollten – muss
mit Augenmaß betrieben werden, ohne auf einem Auge
blind oder zu engstirnig zu sein.

All diesen Zielen kann ich nur zustimmen. Wir sind uns
der Verantwortung bewusst, ein Gesundheitssystem auf
hohem Niveau festschreiben und es trotzdem finanzierbar
halten zu müssen. Ich glaube, dass die Politik dieser
Regierung in einigem mit den Zielen dieses Reports über-
einstimmt, wenn auch nur auf nationaler Ebene. Wie in
dem Bericht angesprochen, geht es nicht allein um den
technischen und medizinischen Fortschritt, sondern auch
um die Zufriedenheit und das Gefühl der Aufgehobenheit
der Bürgerinnen und Bürger. Ich glaube, dass wir da auf
einem guten Weg sind.

Wir hoffen und gehen davon aus, dass wir in dem
nächsten Bericht der WHO weiter nach vorne rücken,
dass wir die Qualität des Systems in Deutschland verbes-
sern, dass wir Solidarität mit Eigenverantwortung verbin-
den, Belastungen und Leistungen in ein vernünftiges Ver-
hältnis setzen und dass das große Vertrauen, das das Ge-
sundheitssystem in Deutschland genießt, weiter Maßstab
für Politik bleibt, so wie das seit Übernahme dieser Re-
gierung der Fall ist.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411113600
Für die Fraktion der
PDS spricht der Kollege Dr. Ilja Seifert.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1411113700
Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf
der Tribüne! Ich bin schon ein bisschen verwundert: Da
legt eine angesehene internationale Organisation einen
Bericht vor, in dem das Gesundheitssystem der Bundes-
republik Deutschland nicht besonders gut abschneidet;
aber anstatt in sich zu gehen und ein bisschen selbst-
kritisch zu sein, zeigt man – mit Ausnahme der Kollegin
Göring-Eckardt; da klang das wenigstens etwas an – mit
dem Finger auf das Bewertungssystem der WHO, als
wenn diese der Bundesrepublik Böses wollte.

Das Gesundheitswesen ist doch – das sollte man sich
immer mal wieder vor Augen halten – einer der Bereiche,
in denen betriebswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Rech-
nungen auf jeden Fall in die Irre führen. Leider kann man
sich aber des Eindruckes nicht erwehren, dass auch die
jetzige Regierung ihr Handeln in diesem Bereich regel-




Katrin Dagmar Göring-Eckardt
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(C)



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(A)



(B)


mäßig an diesem Maßstab ausrichtet. Und es gibt noch
mehr Bereiche, in denen betriebswirtschaftliche Rech-
nungen nicht funktionieren: Kultur, Bildung, Wissen-
schaft, Wohnen, Sport usw.

Wenn man schon über Kosten redet, muss zumindest
die gesamtgesellschaftliche Sichtweise in den Blick ge-
nommen, muss eine volkswirtschaftliche Rechnung auf-
gemacht werden. Dabei geht es um die Frage: Was kostet
es, wenn so viele Menschen krank werden – weil sie keine
Arbeit haben oder weil sie, wenn sie Arbeit haben, unter
einem übermäßigen physischen oder psychischen Druck
stehen?

Ich habe immer noch die Illusion, dass es im Gesund-
heitswesen eigentlich um Menschen geht, die sich nicht
wohl fühlen: die krank sind, die ärztlicher oder pflegeri-
scher Hilfe bedürfen. Geredet wird aber ständig nur über
Geld, bestenfalls über Versicherungen. Wo bleiben denn
da die kranken Menschen?

Dann ein Wort zu den Ärztinnen und Ärzten: Sie kön-
nen sich – das bringt unser System mit sich; deswegen ist
es kritikwürdig – nicht ausschließlich oder wenigstens
vorrangig ihren Patientinnen und Patienten widmen. Sie
sind in erster Linie freie Unternehmer, wobei die Beto-
nung nicht auf „frei“, sondern auf „Unternehmer“ liegt.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Statt sich darum kümmern zu können, wie sie kranke
Menschen gesund machen können, müssen sie, um des ei-
genen Überlebens willen, sehen, wie sie Geld hereinbe-
kommen. Wenn das nicht kritikwürdig ist!

Es ist schon mehrfach gesagt worden: Unser Gesund-
heitssystem ist – bei all dem Positiven, das zu erbringen
es in der Lage ist – nicht nur für die Akutbehandlung da.
Bei der Vor- und Nachsorge ist noch allerhand zu tun. In
diesem Bereich könnte man durchaus auf Erfahrungen
zurückgreifen, die man zum Beispiel in der DDR gesam-
melt hat. Ich erinnere nur an die Dispensairebetreuung
und den Bereich der Vorsorge.

Dann haben wir zum Beispiel die unglaubliche Spal-
tung in ganz viele Kranken- und Pflegekassen, die auch
noch unterschiedliche Angebote haben. Dies bringt jede
Menge Probleme für diejenigen mit sich, die die Leistun-
gen brauchen; denn die Kassen können sich nicht darüber
einigen, wer denn nun zahlt. Wenn das nicht kritikwürdig
ist!

Für ausländische Menschen ist es wirklich völlig egal,
ob bei uns die Pflege- und die Gesundheitskassen getrennt
sind oder nicht. Für diese ist das Gesamtsystem wichtig.
Hier sieht man, dass Probleme einfach erfunden worden
sind – hausgemacht –, die wir nicht haben müssten und
die wir auch nicht brauchen.

Dann haben wir ein „wunderbares“ System, das un-
heimlich viel Geld kostet, nämlich das Gutachter-System.
Ich nenne es immer Schlechtachter-System; aber wer
möchte das schon akzeptieren? Angeblich ist es dafür ge-
schaffen worden, Leistungsmissbrauch zu verhindern. Ich
kann mich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass es
häufig dazu da ist, Patientinnen und Patienten zu drangsa-
lieren. Ich sage auch, wie ich das meine: Es kann nicht

sein, dass eine Gynäkologin zu einem querschnitts-
gelähmten jungen Mann kommt und beurteilt, in welche
Pflegestufe er einzuordnen ist. Wenn dies ein Gutachten
sein soll, ist das in meinen Augen eine Fehlentwicklung.

Letzte Bemerkung: Ich habe am Anfang gesagt, dass
ich mich darüber wundere, dass Sie die WHO wegen ih-
rer Kriterien kritisieren. Es gibt in Genf eine deutsche
Vertretung bei der WHO mit hoch motivierten, sehr enga-
gierten Menschen. Der Ausschuss für Gesundheit, zumin-
dest ein Teil davon, war dort. Was haben uns die Men-
schen dort gesagt? Sie fühlen sich im Stich gelassen, sie
fühlen sich nicht in Anspruch genommen. Sie möchten
gerne ihre großen und weltweit gewonnenen Erfahrungen
auch für das deutsche Gesundheitswesen nutzen. Leider
greift auch die neue Regierung viel zu wenig darauf
zurück. Ich bitte Sie, das zu ändern.

Wenn wir mit diesem Bericht selbstkritisch umgehen,
kann vielleicht das eintreten, was sich hier verschiedene
Kolleginnen und Kollegen gewünscht haben, nämlich
dass wir beim nächsten Mal besser dastehen. Wir sollten
aber nicht nur besser dastehen, sondern es sollte auch
wirklich besser sein. Darum geht es doch!

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411113800
Für die SPD-Frak-
tion gebe ich dem Kollegen Götz-Peter Lohmann das
Wort.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Alles Gute zum Namenstag, Peter!)



Götz-Peter Lohmann (SPD):
Rede ID: ID1411113900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr
geehrte Damen und Herren! Ich möchte zu Beginn auf
die Eingangsäußerungen des geschätzten Kollegen
Dr. Seifert reagieren. Ich persönlich empfinde es nicht als
Widerspruch, wenn man auf der einen Seite die Kriterien
kritisiert – ich persönlich tue das auch mit dem einen oder
anderen Kriterium, so bei dem Kriterium, über welches
ich reden werde –, und auf der anderen Seite für diese Un-
tersuchung, für diesen Report dankbar ist. Ich sehe jeden-
falls keinen Widerspruch darin, wie es bei Ihnen jetzt an-
klang. Vielleicht habe ich Sie auch falsch verstanden, aber
ich bitte Sie, meine Meinung zu akzeptieren.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Selbstverständlich!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden es sicher

verstehen, dass ich, der ich gleichzeitig Mitglied im Ge-
sundheits- und im Sportausschuss bin, mir in diesem Re-
port zuallererst den Bereich der Prävention und Rehabili-
tation herausgesucht habe. Ich habe in der Leistungsziffer
„Performance on Health Level“ den Bereich gefunden,
den man in etwa als direkten Beitrag des Gesundheitswe-
sens zur gesunden, beschwerdefreien Lebenserwartung
bezeichnen könnte. Genau bei dieser ja nicht unwesentli-
chen medizinischen Leistungsziffer erhält Deutschland –
die Kollegin Göring-Eckardt hat schon darauf hingewie-
sen – den schlechtesten Platz, den Platz 41.




Dr. Ilja Seifert

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(D)



(A)



(B)


Über diese Beurteilung bin ich dennoch nicht erschro-
cken; vielmehr bin ich für die Zukunft zuversichtlich und
optimistisch. Warum? Wir haben damit begonnen, in
§ 20 SGB V – im Gesetz zur GKV-Gesundheitsreform –
einige Änderungen und Neuerungen gerade auf dem Ge-
biet der Prävention und Selbsthilfe einzubringen. Es
macht Sinn, die beiden entscheidenden Absätze zu zitie-
ren, wenngleich hier bis auf wenige Ausnahmen weitge-
hend Fachleute sitzen. In Absatz 1 heißt es:

Leistungen zur Primärprävention sollen den allge-
meinen Gesundheitszustand verbessern und insbe-
sondere einen Beitrag zur Verhinderung sozial
bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen
erbringen.

Es soll genug sein. Übrigens gibt es auch Kritiker und
Spötter des Gesundheitswesens ganz allgemein. Sie fin-
den diese generelle Bezeichnung etwas irreführend; denn
eigentlich beschäftigt sich dieser Bereich ja erst mit den
Menschen, wenn sie krank sind.

Mir ist der Bereich der Prävention, Selbsthilfe und Re-
habilitation ungeheuer wichtig. Ich, der ich selbst in den
90er-Jahren auf dem Gebiet der Prävention gearbeitet
habe, denke immer noch daran zurück, wie deprimierend
es für mich war, als – ich glaube, es war 1995 oder
1996 – im Gesundheitswesen mit der Prävention Schluss
war, als die Kassen aufgehört haben, dafür zu bezahlen.
Ich konnte das schwer nachvollziehen. Aber es war so; das
ist nicht zu leugnen. Dennoch stimmt es mich für die Zu-
kunft optimistisch. Warum?

Leider ist es zur Zeit in der Praxis noch nicht so, dass
die Leistungen der Prävention so, wie es im Gesetz steht,
gehandhabt oder angewendet werden. Das liegt zum
großen Teil daran, dass die Krankenkassen zum Beispiel
zurzeit mit dem Deutschen Sportbund verhandeln. Die
spezifischen Maßnahmen müssen von den Spitzenver-
bänden der Krankenkassen hinsichtlich Qualität und
Wirksamkeit anerkannt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Ich kenne die Kritik meines hochgeschätzten Namens-
vetters aus der CDU/CSU-Fraktion gegenüber der Prä-
vention. Ich stimme darin sogar mit ihm überein. Es muss
alles durch Kriterien abgesichert sein.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Da sind wir wieder einig!)


Da gab es in der Vergangenheit auch Missbrauch. Wir hof-
fen, dass diesem Missbrauch durch die Forderungen nach
ganz konkreten Kriterien und Leistungskatalogen ein Rie-
gel vorgeschoben wird. Ich weiß zum Beispiel vom Deut-
schen Sportbund, dass er von den Krankenkassen mit har-
ten Leistungsanforderungen und einem Katalog in die
Mangel genommen wird, weil dieser Missbrauch verhin-
dert werden soll.

Unstrittig ist – Sie werden mir diesen Vorwurf nachse-
hen –, dass gerade Sportvereine und Sportverbände auf-
grund ihrer Erfahrungen und ihrer Strukturen geeigne-
te Anbieter von qualifizierten primärpräventiven Bewe-
gungsangeboten sein können. Wir wollen mit einem

Gesundheitssiegel arbeiten. Ich finde, der organisierte
Sport ist nicht ausschließlich, aber doch in besonderer
Weise dazu geeignet, für die Gesundheitsförderung, für
die Prävention etwas zu tun.


(Beifall bei der SPD und der PDS)

Mein Wunsch ist, dass sich die Krankenkassen und die

Anbieter möglichst schnell einigen, wenn es geht, noch in
diesem Jahr. Es gibt da einige Probleme.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Letzte Woche ist der Katalog beschlossen worden!)


– Gut, nicht mit allen Krankenkassen. Es gibt Unterschie-
de. Ich weiß, dass es zum Beispiel zwischen der IKK und
dem DSB Probleme gibt. In einigen Bundesländern läuft
die Sache aber schon ganz gut.

Es ist unser Ziel, auf diesem Gebiet mit den Selbsthil-
feorganisationen Rehabilitation und Prävention zu errei-
chen.

Wenn uns das gelingt, wenn die im Gesetz fixierten
Vorhaben hinsichtlich Prävention und Rehabilitation in
Zukunft in der Praxis realisiert werden, wird unser Ge-
sundheitswesen – davon bin ich fest überzeugt – vom
Rang 41 im eingangs erwähnten Bereich herunterkom-
men bzw. einen vorderen Platz einnehmen.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411114000
Das war eigentlich
ein guter Schlusssatz, Herr Kollege.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Götz-Peter Lohmann (SPD):
Rede ID: ID1411114100
Ja,
gut. Vielen Dank.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411114200
Ich gebe nun für die
CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Dr. Hans Georg Faust
das Wort.


Dr. Hans Georg Faust (CDU):
Rede ID: ID1411114300
Herr Präsident!
Werte Kolleginnen und Kollegen! Als Arzt, der in den
letzten 25 Jahren in einem deutschen Krankenhaus gear-
beitet hat, bin ich davon überzeugt: Wir haben in Deutsch-
land ein gutes Gesundheitssystem.


(Beifall der Abg. Regina Schmidt-Zadel [SPD])


Die WHO-Studie kann zu einem objektiven internatio-
nalen Vergleich trotz des Umfangs und vieler Details nur
teilweise etwas beitragen. Die Fragen an die Methodik,
die gestellt wurden, sollten uns aus meiner Sicht aber
nicht dazu verleiten, den gesamten Bericht in einer Art na-
tionalem Beleidigtsein als komplett unbrauchbar abzutun.
Ich hatte auch nicht den Eindruck, dass das heute so pas-
siert ist.

Ich denke, wir sollten noch einmal nachschauen, was
für eine hohe Qualität im deutschen Gesundheitssystem
spricht. Dazu gibt es in der Tat schon Untersuchungen.




Götz-Peter Lohmann (Neubrandenburg)

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(C)



(D)



(A)



(B)


Nach Professor Schwarz sind es der hohe und umfassende
Versicherungsgrad der Bevölkerung – das kommt teil-
weise auch in dem WHO-Bericht zum Tragen –, der weit-
gehend einkommensunabhängige Zugang zu Leistungen,
die hohen Dichteziffern von Ärzten, Krankenhausbetten,
Geräten, Arznei- und Heilmittelverfügbarkeit, die auch
Kritik auslösen, die hohen Forschungsausgaben für Ge-
sundheitstechnologien und ein sehr günstiger Platz bei der
Sterblichkeit unter der Geburt, die diese hohe Qualität
ausmachen.

Unsere Patienten sind nach den Umfragen mit unserem
System zufrieden. Das System der gesetzlichen Kranken-
versicherung, der frei wählbaren Haus- und Fachärzte, der
gut erreichbaren Krankenhäuser und der funktionierenden
Rettungsdienste hat ihr Vertrauen und gibt ihnen Sicher-
heit. Wenn man die Aussagen der Studie der WHO näher
betrachtet – behutsam und offen für einzelne Ergeb-
nisse –, wird man feststellen, dass sie sich mit den Unter-
suchungen anderer Wissenschaftler decken. Es gibt Hin-
weise darauf, dass die Qualität im bundesdeutschen Ge-
sundheitswesen in der Tat optimiert werden kann;
Indikatoren dafür sind ein mittlerer Platz in der Lebenser-
wartung der Bevölkerung in den OECD-Staaten und ein
mittlerer internationaler Platz bei der versorgungsbeding-
ten Frühsterblichkeit an der Volkskrankheit Herzinfarkt.
Die Fachleute kennen zum Beispiel die MONICA-Studie.

Ich spreche bewusst von einer Optimierung; denn un-
ser austariertes und zerbrechliches Gesundheitssystem
verträgt keine Erschütterung und keine Rosskuren, schon
gar nicht solche, denen es mit dem GVK-Solidaritätsstär-
kungsgesetz und dem Gesundheitsreformgesetz 2000 aus-
gesetzt war. Die dort festgeschriebenen Maßnahmen, die
Budgetierung und der Feldzug gegen die Krankenhäuser
mit monistischer Krankenhausfinanzierung sowie Pla-
nung der Krankenhausversorgung in Kassenhand ver-
schlechtern die Versorgung im ambulanten und statio-
nären Bereich und das können und dürfen wir unseren Pa-
tienten nicht zumuten.

Maßnahmen wie die integrierte, sektorenübergreifende
Versorgung und die Regelungen zum Qualitätsmanage-
ment sind zwar gut gemeint; sie sind aber überreguliert,
kompliziert und in der jetzigen Form nicht umsetzbar.
Neue Ausschüsse, neue Rahmenvereinbarungen sowie
neue Berechnungen von Risiken und Morbiditäten ma-
chen das System zunehmend komplizierter und schnüren
es immer weiter in seinen Paragraphenfesseln ein, sodass
es bald nicht mehr atmen kann.

Im ambulanten Bereich – das ist angesprochen wor-
den – führt die Budgetierung zu erheblichen Versor-
gungsdefiziten von chronisch kranken Patienten mit ho-
hem Arzneimittelbedarf. Im Bereich der Krankenhäuser
zeigt sich die nächste gefährliche – ich möchte fast sagen:
katastrophale – Entwicklung: die Art und Weise, wie das
pauschalierende Entgeltsystem eingeführt wird. Frau
Staatssekretärin, ich spreche hier nicht gegen ein neues
Entgeltsystem an sich. Ich spreche dagegen, dass dieses
Entgeltsystem als scharfes Preissystem von Anfang an
eingeführt werden soll und dass zumindest im Gesetzes-
text über das budgetneutrale Jahr 2003 hinaus keine Über-
gangsfristen vorgesehen sind. Wenn man weiß, dass nach

Expertenschätzungen die Verschiebungen von der Verlie-
rer- auf die Gewinnerseite 10 bis 15 Milliarden DM ver-
ursachen, wobei auf das deutsche Krankenhaussystem
insgesamt als Kostenblock 100 Milliarden DM entfallen,
dann wird einem die Tragweite dieser radikalen Operation
deutlich.

Ich möchte es an einem Bild veranschaulichen: Die
Bombe ist scharf gemacht, die Zeituhr ist eingestellt und
tickt. Kein anderes Land in der Welt hat ein derart schar-
fes Preissystem in dieser Art und Weise eingeführt und wir
wissen nicht einmal, wie unsere vielfältige bundesdeut-
sche Krankenhauslandschaft mit ihren eigenen individu-
ellen Fallmischungen mit Zu- und Abschlägen, mit ihren
unterschiedlichen Trägerschaften, mit unterschiedlichen
Versorgungsaufträgen bei der weiteren Ausgestaltung
Berücksichtigung finden soll. Das soll in diesen kurzen
Zeiträumen erst noch verhandelt werden. Ich sehe voraus,
dass die Entwicklung zumindest in den Flächenländern
zulasten der kleinen Akutkrankenhäuser in kommunaler
und frei-gemeinnütziger Trägerschaft gehen wird. Frau
Staatssekretärin, das ist keine Optimierung der Qualität,
das ist aus meiner Sicht der Versuch des Abbaus von
Krankenhausbetten auf kaltem ökonomischen Weg, nach-
dem der Monistikfeldzug gescheitert ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Kein Gesundheitssystem ist so gut, dass es sich nicht

noch optimieren ließe; kein System kann aber auch so gut
sein, dass es ohne Schaden für die Patienten politische
Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen verträgt. Die Poli-
tik der Budgetierung, der verdeckten Rationierung, der
Regulierung und des Dirigismus darf nicht fortgesetzt
werden. Das deutsche Gesundheitssystem muss vielmehr
behutsam auf den Weg von Flexiblisierung und Vertrags-
freiheit gebracht werden. Wenn das nicht bald geschieht,
landen wir vielleicht wirklich mit unserem Gesundheits-
system im Weltvergleich auf einem objektiven Platz 25.
Dafür zahlen unsere Versicherten die hohen Beiträge
nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411114400
Für die SPD-Frak-
tion gebe ich das Wort der Kollegin Helga Kühn-Mengel.


Helga Kühn-Mengel (SPD):
Rede ID: ID1411114500
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Weitere Anreden verkneife
ich mir. Dass Herr Dr. Bauer uns mit „liebe Genossinnen
und Genossen“ angesprochen hat, führt dazu, dass einer
von uns beiden aus seiner Partei austreten wird.

Frau Widmann-Mauz, Sie möchte ich ansprechen, weil
Sie diese Debatte ja auch genutzt haben, um hier einen
Rundumschlag gegen die Gesundheitspolitik der Regie-
rung zu beginnen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Einen sehr berechtigten!)


Ich möchte Ihnen noch einmal sagen, dass sich dieser Be-
richt der WHO auf die Zahlen von 1997 und 1999 bezieht.
In Ihrer Kritik findet eine Vermischung der Zahlen aus
den beiden Jahren statt. Sie sollten aber so ehrlich sein zu




Dr. Hans Georg Faust

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(C)



(D)



(A)



(B)


sagen, dass mit dieser Studie eben auch Ihre Gesund-
heitspolitik bewertet wurde. Ich kann mich gut an die Stu-
die der OECD zu Ihrer Regierungszeit von CDU/CSU
und F.D.P. erinnern. In der damaligen Studie wurde ganz
deutlich darauf hingewiesen, dass es in unserem Gesund-
heitssystem erhebliche Wirtschaftlichkeitsreserven gab
und sich demgegenüber auch ein Mangel an Effizienz
zeigte.

Ich möchte auch daran erinnern, dass wir mit unserem
Vorschaltgesetz viele falsche Faktoren Ihrer Politik korri-
giert haben. Wir haben die Zuzahlung zurückgenommen,
wir haben die chronisch Kranken deutlich entlastet,


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Für Familien ist es schlechter!)


wir haben die Kostenübernahme für den Zahnersatz für
Jugendliche, die nach 1978 geboren sind, wieder einge-
führt, und wir haben in der Folgezeit nicht nur ganz wich-
tige Akzente gesetzt, sondern Weichenstellungen vorge-
nommen,


(Beifall bei der SPD)

nämlich die Qualitätssicherung, die evidenzbasierte Me-
dizin betont, die Prävention, die Selbsthilfe gestärkt und
die Gesundheitsförderung als wichtiges Ziel eingeführt.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Positivlisten, Budgetierung!)


Die Kriterien der vorliegenden Studie bestärken uns ei-
gentlich darin, dass der Weg, den wir beschritten haben,
richtig ist.

Wenn ich das Bild vom Fußball, das der Kollege Pfaff
und auch andere bemüht haben, aufgreife, kann ich sagen,
dass unser Gesundheitssystem in der Tat einiges mit un-
serer Nationalelf gemeinsam hat.


(Aribert Wolf [CDU/CSU]: Den Trainer zum Beispiel!)


Wir können nämlich sagen, dass die teuersten Trainer, die
meisten Therapeuten und die längste Reservebank noch
nicht dazu führen, dass man einen Pokal holt.


(Beifall bei der SPD)

Das heißt, die Forderung nach immer mehr Geld, nach
weiteren Budgeterhöhungen, nach Öffnung und nach Ab-
schaffung der Budgets ist ganz ausdrücklich nicht der
richtige Weg. Das zeigen auch Beispiele etwa aus den
USA. Einige Kollegen waren gemeinsam mit mir in den
USA und haben die Einrichtungen dort gesehen. Wir alle
haben doch hinterher gesagt: Das möchten wir nicht: das
teuerste Gesundheitssystem, die Aushebelung des Soli-
dargedankens, unglaubliche Kosten bei gleichzeitigem
Ausschluss von mindestens 40 Millionen Menschen.


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Aber das englische System wollen wir auch nicht!)


Wenn Amerikaner und Amerikanerinnen sich in dieser
Studie zufrieden mit ihrem System äußern, dann – das ist
meine Hypothese – hat man bestimmte Gruppen nicht
oder nicht ausreichend befragt. Grund für Ausgrenzung
und Verschuldung ist dort ganz häufig eine chronische

Krankheit in der Familie. Das wollen wir ganz sicher
nicht.

Neben all der methodischen und fachlichen Kritik, die
an dieser Studie angebracht werden kann, ist es richtig,
dass wir uns dennoch mit den dort angesprochenen Punk-
ten in differenzierter Weise auseinander setzen.

Es gibt in unserem Gesundheitssystem bei aller Beto-
nung der Stärken eben auch Schwächen. Die hat die rot-
grüne Politik aufgegriffen und verändert. Die Probleme
sind bekannt. Ich sage aber noch einmal: Die Probleme
haben auch etwas mit der Misswirtschaft in 16 Jahren da-
vor zu tun. Deshalb haben wir einiges politisch korrigiert,
und wir wollen dies noch weiter tun.

Natürlich ist unser Gesundheitssystem teilweise zu ei-
nem medizinisch-bürokratischen Apparat geworden, der
auch einseitig Leistungserbringer und Kostenträger im
Fokus hat. Natürlich ist auch das Gespür für die Bedürf-
nisse der Patienten und Patientinnen verloren gegangen.
Deswegen haben wir im Rahmen unserer Gesundheitsre-
form auch die Patientenrechte gestärkt. Das ist doch ein
ganz wichtiger Punkt.

Natürlich ist es richtig, dass chronisch Kranke nicht
immer optimal behandelt werden. Aber es ist genauso
richtig, festzustellen, dass es in unserem System Fehlver-
sorgung und auch Überversorgung gibt. Die Beispiele
sind doch hinreichend bekannt: So werden bei uns Links-
herzkatheter zweieinhalbmal so oft eingesetzt. Das wis-
sen wir doch aus den USA. Die Amerikaner fragen uns
beispielsweise: Warum habt ihr eigentlich Angst vor
Atomkraftwerken? Ihr werdet bei Röntgenuntersuchun-
gen doch noch und nöcher bestrahlt. Es gibt viele andere
Beispiele, die hier schon oft dargestellt worden sind.

Die WHO-Studie – wir können es auch positiv sehen –
gibt Hinweise darauf, dass das Preis-Leistungs-Verhältnis
in unserem System nicht stimmt und verbessert werden
muss.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und PDS)

Damit setzen wir uns auseinander. Jedenfalls garantiert
das Nachschießen von Geldern noch nicht die Verbesse-
rung der Qualität. Auf diese Aussage müssten wir uns
doch einigen können.

Wir haben mit der Gesundheitsreform den Weg – ich
sage es noch einmal – für mehr Qualität, für mehr Präven-
tion, für eine auf Evidenz basierende Medizin und für die
Datenzusammenführung, an der wir noch arbeiten, frei
gemacht. Wir haben einen Koordinierungsausschuss ein-
gesetzt, der in Zukunft festlegen wird, um welche Inhalte
und um welche Standards es in Bezug auf die Qualität
geht. Dieser Ausschuss wird alle zwei Jahre einen Bericht
vorlegen, auf dessen Grundlage wir erkennen können, wo
in der Bundesrepublik Deutschland vor allem in der Ge-
sundheitspolitik noch gesetzgeberischer Handlungsbe-
darf besteht.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)





Helga Kühn-Mengel
10500


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411114600
Für die CDU/CSU-
Fraktion gebe ich das Wort dem Kollegen Aribert Wolf.


Aribert Wolf (CSU):
Rede ID: ID1411114700
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Natürlich kann man über
die Aussagekraft jeder Studie streiten, auch über die des
Ranking der WHO-Studie. Aber so einfach, wie Sie es
sich machen – für das Unangenehme in der Studie ist die
Union verantwortlich; für das Angenehme sind Sie ver-
antwortlich –, darf man es sich auch nicht machen. Das
entspricht wohl auch nicht der Wirklichkeit.


(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Doch! So ist es!)


Fest steht ebenfalls, dass es in unserem bundesdeutschen
Gesundheitswesen sehr wohl Probleme gibt und dass
dringender politischer Handlungsbedarf besteht.

Wenn wir im Deutschen Bundestag nicht einfach nur
nett über eine Studie plaudern, sondern uns ernsthaft mit
politischen Fragen beschäftigen wollen, dann müssen wir
fragen: Wo ist eigentlich das Konzept der Bundesregie-
rung, in dem dargelegt wird, wie das deutsche Gesund-
heitswesen wieder fit für die neuen Herausforderungen
gemacht werden kann? Darüber würden wir hier liebend
gern debattieren.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Aber leider gibt es keine Konzepte aus dem Hause
Fischer. Über nichts kann man schlecht reden. Statt Ant-
worten auf die großen Fragen des Gesundheitswesens zu
geben, verstrickt sich die Ministerin in Kleinigkeiten
oder – um im Bild zu bleiben –: Im Haus frisst der
Schwamm an den Grundmauern und Rot-Grün streicht
die Fenster.

Diese rot-grüne Konzeptlosigkeit fällt auch der Öf-
fentlichkeit auf. So möchte ich aus der Ausgabe der
„Rheinischen Post“ von vor fünf Tagen zitieren:

Zugleich erweckt die auf der ganzen Linie geschei-
terte Bundesministerin Andrea Fischer (Grüne) den
Eindruck, als könne es unter dem Zwangsdeckel be-
grenzter Budgets unbegrenzte Leistungen geben.

Sie wollen uns doch nicht weismachen, dass das bisschen
Herumgemurkse mit dem GKV-Solidaritätsstärkungsge-
setz und mit dem GKV-2000-Gesetz alles gewesen sein
soll, was Sie in der Gesundheitspolitik bis zum Ende der
Legislaturperiode bieten wollen.

Viele Leistungserbringer sind frustriert und demoti-
viert. Sie sind durch den täglichen Kampf mit den rot-grü-
nen Budgets und mit der überbordenden Abrechungs-
bürokratie zermürbt. Wer heute wirtschaftlich einiger-
maßen über die Runden kommen will, der hat immer
weniger Zeit für den Patienten. Erst heute Vormittag gab
es hier in Berlin eine Veranstaltung des Bündnisses für
Gesundheit, auf der es wieder überdeutlich geworden ist.
Sie müssen die Anreize eigentlich genau andersherum set-
zen: mehr Zeit für den Patienten, weniger Zeit für ab-
rechnungstechnische Pirouetten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nicht nur die Leistungserbringer sind frustriert. In Ge-
sprächen mit Patienten und Versicherten häufen sich die
Aussagen, dass es Untersuchungen, Medikamente, ärztli-
che und zahnärztliche Leistungen immer öfter nur noch
gegen Barzahlung gebe.

Das Schlimmste ist, dass inzwischen auch schon die
Versicherten resigniert haben und sich kaum mehr be-
schweren oder protestieren; vielmehr fügen sich viele in
dieses System der heimlichen Zuzahlungen, bei dem es
weder Härtefallregelungen noch eine Sozialklausel gibt.
Auch das ist die traurige Wirklichkeit nach eineinhalb
Jahren rot-grüner Gesundheitspolitik.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ist es leider!)


Da wundert sich der Kanzler noch, dass SPD und
Grüne bei Umfragen immer weiter an Boden verlieren.
Mich wundert auch nicht, dass die gesetzlichen Kranken-
kassen, in denen fast 90 Prozent unserer Bundesbürger
versichert sind, seit dem Amtsantritt dieser Bundesregie-
rung einen massiven Ansehensverlust hinnehmen müssen
und von vielen nur noch als etwas Dritt- und Viert-
klassiges empfunden werden. Das müsste uns alle in der
Seele schmerzen; dem können wir doch nicht tatenlos zu-
sehen.

Die Ministerin müsste jetzt eigentlich lange genug im
Amt sein, um die Denkphase abgeschlossen zu haben; sie
müsste nun endlich handeln. Auch die Krankenkassen
rennen uns die Bude ein und fragen: Wo bleibt die
versprochene Organisationsreform? Ist Frau Fischer im
Kabinett wirklich so schwach, dass sie nicht verhindern
kann, dass andere rot-grüne Minister, wie Herr Eichel und
Herr Riester, die gesetzliche Krankenversicherung ganz
ungeniert als Steinbruch für ihre Haushaltslöcher nutzen.
Warum lässt sie es zu, dass ab dem nächsten Jahr der
Krankenversicherung und damit der Krankenbehand-
lung – jährlich wiederkehrend – 1,2 Milliarden DM Fi-
nanzmittel durch die Absenkung der Beitragsbemes-
sungsgrundlage bei der Arbeitslosenversicherung entzo-
gen werden?


(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

Einem Herrn Seehofer wäre das unter Garantie nicht pas-
siert.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Niemals!)

Was muss eigentlich noch geschehen, bis diese Minis-

terin einsieht, dass sie mit dem Aufgabenfeld Gesundheit
restlos überfordert ist? Man kann ihr eigentlich nur raten,
es nicht so zu machen wie Erich Ribbeck, nämlich zu war-
ten, bis auch noch der letzte Zuschauer auf der Tribüne
pfeift, um erst dann die Konsequenzen zu ziehen. Die Mi-
nisterin sollte sich und uns dieses Pfeifkonzert und diesem
Land eine hilflos dahinstolpernde Gesundheitspolitik er-
sparen.

Im Gegensatz zu Rot-Grün haben wir von der Union
unsere Rezepte auf den Tisch gelegt:


(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Regina SchmidtZadel [SPD]: Wo denn? Ich habe sie nicht gesehen!)







(C)



(D)



(A)



(B)


weniger Budgetierung und staatliche Reglementierung,
dafür mehr Transparenz für die Patienten, mehr Eigen-
verantwortung für die Versicherten bzw. für die Selbst-
verwaltung und mehr Wahlmöglichkeiten für alle. Das
sind die Mittel, mit denen unser Gesundheitswesen wie-
der an die Weltspitze kommt. Das – nicht dieses stümper-
hafte Dahinstolpern – ist es, was die Gesundheitspolitik in
den nächsten Jahren braucht.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU – Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Eine sehr gute Rede!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411114800
Als letzte Rednerin in
dieser Aktuellen Stunde spricht nun für Bündnis 90/Die
Grünen Monika Knoche.


Monika Knoche (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1411114900

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen!
Das eigentliche Thema war ja die WHO-Studie. Herr
Wolf, gestatten Sie mir folgende Bemerkung – Sie haben
aus Ihren Reihen so viel Beifall bekommen –: Ich habe
den Eindruck gehabt, dass bei Ihnen in den vergangenen
anderthalb Jahren ein bisschen Teilamnesie im Spiel ist.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Ich weiß noch sehr gut, wie viel Raubbau bei den gesetz-
lichen Kassen durch Verschiebebahnhöfe betrieben wor-
den ist. In der Tat kann es keine dauerhafte Lösung sein,
die Einnahmebasis vor dem Hintergrund der zu lösenden
Probleme zu schmälern.


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: War die denn zeitlich befristet?)


Ich habe es immer gern, dass man sich auf die Sache
bezieht, wegen der die Aktuelle Stunde einberufen wor-
den ist. Wir haben in vielen Beiträgen gehört, dass es Be-
reiche gibt, die von der WHO sehr positiv bewertet wor-
den sind. Ein herausragender Bereich, der in seiner Be-
deutung bitte nicht unterschätzt werden soll, besteht
darin, dass wir ein hohes Maß an Verteilungsgerechtig-
keit, an allgemeiner Zugänglichkeit haben. Die Bevölke-
rung fühlt sich von diesem Solidarsystem angesprochen.
Das, meine sehr geehrten Kollegen und Kolleginnen von
der CDU/CSU, haben wir in der Tat einem Prinzip zu ver-
danken, mit dem die rot-grüne Regierung nicht brechen
will und nicht brechen wird, nämlich dem der solidari-
schen, paritätisch finanzierten Krankenversorgung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn Sie jetzt in die moderne Attitüde verfallen und
permanent von Wahl- und Regelleistungen sprechen,
dann werden Sie in die Ungleichheit der Zugänglichkeit
einsteigen, dann werden Sie genau diese wirklich sehr
wertvollen Errungenschaften, die wir in diesem Land ha-
ben, zur Disposition stellen. Diese Bewertung wird nicht
einmal die WHO, selbst wenn sie nach anderen Kriterien
entscheiden wird, einer Gesundheitspolitik noch ausspre-
chen können. Dessen bin ich mir ganz sicher. Wenn wir

uns der Modernität bewusst sind, das heißt, wenn wir uns
der hohen Garantie für Zugänglichkeit, für Freiheit, für
Gerechtigkeit unseres Gesundheitswesens bewusst sind,


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Dann hätten wir aber ein anderes Gesetz beschließen müssen!)


dann werden wir es auf der stabilen Basis, auf der es seit
100 Jahren besteht, erhalten und fortführen können.

Dass wir uns, wie hier angeregt worden ist, über die
Aktuelle Stunde hinaus im Gesundheitsausschuss mit der
Studie näher befassen, wobei diese aber erst übersetzt
werden muss, damit wir sie auch in den Details bewerten
können, scheint mir interessant zu werden. Auch ich halte
es für gerechtfertigt, dass wir uns das, wie es die WHO ge-
tan hat, mit einem Helikopterblick anschauen, um genau
zu erkennen, welche Lösungen andere Industriestaaten
oder auch sonstige andere Staaten mit vergleichbaren Sys-
temen gefunden haben. Dabei dürfen wir natürlich nicht
vergessen, dass es schon in Europa, aber vor allem welt-
weit kulturell bedingt ein sehr unterschiedliches Ver-
ständnis von Krankheiten und einen unterschiedlichen
Umgang mit Befindlichkeitsstörungen gibt. Von daher ist
es sicherlich ein sehr, sehr anspruchsvolles Unterfangen,
die Systeme und die Versorgungszufriedenheit der Bevöl-
kerung in den einzelnen Ländern miteinander zu verglei-
chen.

Nichtsdestotrotz sollten wir dies versuchen und die
Einrichtungen der WHO für unsere Arbeit nutzen. Dabei
denke ich an Fragestellungen, die wir als rot-grüne Bun-
desregierung übrigens jetzt gerade angehen. Wir wissen
beispielsweise um das Defizit im Zusammenhang mit der
Frage, wie Männer und Frauen im System behandelt wer-
den. In einer Großen Anfrage, die wir gerade erarbeiten,
geht es darum, wie wissenschaftlich geklärt werden kann,
in welcher Weise die gesundheitliche Versorgung von
Frauen auf dem bestehenden sehr hohen Gesamtniveau
der Vorsorgung im Geschlechtervergleich gerechter ge-
staltet werden kann.


(Aribert Wolf [CDU/CSU]: Wen fragen Sie denn da? Die Regierung, die Sie selber stellen?)


Wir haben ein Programm zum Thema „Umwelt und
Gesundheit“ auf den Weg gebracht, in dem wir insbeson-
dere die Gesundheitsbelastung von Kindern durch die
Ausflüsse der Industriestaaten hervorheben. Das ist eine
Herausforderung, der wir uns stellen müssen. Dabei geht
es aber auch darum zu klären, was in diesem Rahmen
präventiv getan werden kann, das heißt, was getan werden
kann, um den Schutz vor Krankheiten und die Sorge für
die Gesundheit künftiger Generationen sicherzustellen.
Das erschöpft sich nicht nur in Messwerten.

Auch andere Politikerinnen und Politiker neben mir
wissen, dass wir uns die Sterblichkeitsrate bei Kindern
näher anschauen müssen. Dazu habe ich einen Gedanken,
der in diesem Zusammenhang von Bedeutung sein kann.
Wir wissen, dass wir mit der Perinatologie hervorragende
Leistungen anbieten können. Wir können frühestgeborene
Kinder wirklich in einem hohen Maße gesund am Leben
erhalten; aber wir haben die höchste Rate von tödlichen
Verkehrsunfällen mit Kindern in Europa. Das verweist da-




Aribert Wolf
10502


(C)



(D)



(A)



(B)


rauf, dass wir hinsichtlich der Anforderungen, die durch
die WHO formuliert worden sind, interdisziplinär beraten
und handeln müssen und das wollen wir als rot-grüne
Bundesregierung tun.

Ich meine also, dass wir gut beraten sind, wenn wir uns
den Fragestellungen, die die WHO aufgeworfen hat, auch
im Gesundheitsausschuss widmen, das heißt, wenn wir
diese Fragestellungen in unsere weitere Arbeit aufneh-
men.


(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411115000
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b sowie
den Zusatzpunkt 9 auf:
7. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten

Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Gunnar Uldall,
Dr. Bernd Protzner, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Initiative zur Stärkung der Ostseeregion
– Drucksache 14/3293 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Chancen der Ostseekooperation nutzen
– Drucksache 14/3587 –
Beschlussfassung

ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, Jürgen
Koppelin, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der F.D.P.
Für eine kohärente Ostseepolitik
– Drucksache 14/3675 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst dem
Kollegen Franz Thönnes für die SPD-Fraktion das Wort.


Franz Thönnes (SPD):
Rede ID: ID1411115100
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Aus der Historie ist Folgen-
des überliefert: Bereits im Jahre 1261 räumte Birger Jarl,
Reichskanzler des Königs Eric Ericson und angeblicher
Gründer Stockholms, den „fürsichtigen und besonderen

Männern Vogt, Rat und Gemeinde zu Hamburg“ auf de-
ren Bitte hin vertraglich das Recht ein, dass

… wir eure Bürger, die mit ihren Waren in unser
Land kommen, an dem gleichen Vorrecht des Frie-
dens und der Zollfreiheit teilhaben lassen mochten,
wie ihr sie unseren Leuten in euren Mauern verstat-
tet ... Darüber hinaus sollt ihr wissen: Wenn jemand
von den Eurigen bei uns durch Schiffbruch Schaden
läuft, so darf jeder bei dem Schiffbruch Beteiligte
ohne Beschwerde das wieder in Besitz nehmen, was
er von seinen Sachen herausholen und retten kann.

Mag aus heutiger Sicht diese Geste vielleicht etwas
sarkastisch klingen, so ist sie jedoch – weit vor der Blüte-
zeit der Hanse – Ausdruck der handels- und sicherheits-
politischen Bedeutung guter Beziehungen an den Ufern
des Mare Balticum. In den letzten Jahren findet rund um
dieses Meer ein nahezu beispielloser Prozess in der Ge-
schichte Europas statt. In keiner anderen Region unseres
Kontinents wird so erfolgreich demonstriert, wie unab-
hängige Nationen, wie Staaten in unterschiedlichen
Bündnissen, wie Länder mit unterschiedlichem Entwick-
lungsstand friedlich miteinander kooperieren, ja, wie Eu-
ropa zusammenwächst.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Für uns alle ist es von daher eine Verpflichtung, diesen

Prozess fortzusetzen. Das Gipfeltreffen der Regierung-
schefs aus den nördlichen EU-Ländern Dänemark, Finn-
land und Schweden auf Einladung von Gerhard Schröder
Anfang dieses Jahres in Kiel, der erste Antrittsbesuch des
norwegischen Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg im
April in Deutschland, der Besuch des Bundeskanzlers zur
Eröffnung der Willy-Brandt-Ausstellung und zur Grün-
dung der norwegisch-deutschen Willy-Brandt-Stiftung im
Mai in Oslo, der erstmalige Staatsbesuch eines deutschen
Regierungschefs in diesem Monat in den Ländern des
Baltikums, in Estland, Lettland und Litauen, all das zeigt:
Es ist gut für Europa, es ist gut für den Norden, es ist gut
für Deutschland, dass es nun einen Bundeskanzler gibt,
der so eindrucksvoll deutlich macht,


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

dass die jetzige Bundesregierung die Ostseeregion und
die mit ihr verbundenen Chancen der Zusammenarbeit für
Deutschland ganz weit oben auf der politischen Tages-
ordnung angesiedelt hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Philosophie ist und bleibt richtig. Ostseekoopera-
tion war und ist das richtige Konzept in der neuen Zeit.
Will man sich das Tempo und die Bedeutung der Ent-
wicklung für Deutschland vor Augen führen, bedarf es nur
der Nennung zweier Daten: Als die EWG gegründet
wurde, gehörte gerade einmal die Küste Schleswig-Hol-
steins zu ihren Grenzen. In wenigen Jahren werden die po-
litische Union und der EU-Binnenmarkt knapp 95 Prozent
der Küstenlinie der Ostsee umfassen. Die Ostsee wird
zum EU-Binnenmeer. Sie trennt nicht mehr. Die Ostsee
verbindet.




Monika Knoche

10503


(C)



(D)



(A)



(B)


Heute bereits exportiert Deutschland mehr Güter und
Dienstleistungen in die Ostseeregion als in die Vereinig-
ten Staaten und Japan zusammen. Im Rahmen der Neu-
orientierung des Außenhandels gehen heute bereits von
Estland 80 Prozent, von Lettland 75 Prozent und von
Litauen 60 Prozent des Exports in die Ostseeregion. Die
neuen Bauwerke über das Meer im Norden sind Ausdruck
sich festigender Verbindungen. Die Öresund-Region wird
sich nicht mit Oslo, Stockholm oder Helsinki, sondern mit
Warschau und Berlin messen – eine Herausforderung, der
wir uns stellen sollten.

Ostseepolitik ist auch immer Friedenspolitik gewesen.
Noch nie hatte die EU wie jetzt mit der 1 300 Kilometer
langen Grenze Finnlands solch eine direkte Nachbar-
schaft zu Russland. Die Initiative Finnlands aus dem Jahr
1997 zur „Entwicklung der nördlichen Dimension der
EU“ beschreibt den Gestaltungsraum der Union im Nor-
den und sie macht ebenso deutlich: Ohne Russland kann
es keine stabile Neuordnung Europas geben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.])


Deutschland übernimmt nun erstmals am 1. Juli dieses
Jahres den Vorsitz im Ostseerat. Wir sind stolz darauf,
dass nun ein deutscher Kanzler gemeinsam mit dem
Außenminister den Vorsitz hat, der daran arbeitet, dass
eine Vision Realität wird: Die Vision von der Ostsee als
Region einer blühenden, friedlichen und freundschaftli-
chen Zusammenarbeit der Länder im Norden Europas.
Wir alle spüren, wie uns dazu die Länder des Nordens die
Hände reichen: Schweden hat einen „Advisory Council
for Baltic Sea Cooperation“ eingesetzt und investiert um-
fangreich in die Ostseearbeit. Norwegen hat seine „Tysk-
landstrategi“ entwickelt, um die Beziehungen zwischen
unseren Ländern zu vertiefen. Finnlands „Nordic Dimen-
sion“ hatte ich bereits erwähnt. Die Länder im Baltikum
und in Polen haben ihre Anstrengungen, um den Erweite-
rungsprozess der EU zügig voranzubringen, verstärkt.
Der Ostseerat ist das wirksame Forum von EU-Mitglieds-
ländern, EU-Beitrittskandidaten und Nichtmitgliedstaa-
ten; in ihm finden sich Nationen unterschiedlicher Si-
cherheits- und Bündnissysteme wieder.

Deutschland hat die Möglichkeit, zu einer treibenden
Kraft im Ostseeraum zu werden und mit dazu beizutragen,
dass der friedliche Prozess und das Konzept der Regions-
bildung im Norden vorangebracht werden kann und dass
der Erweiterungs- und Vertiefungsprozess in der Europä-
ischen Union zügiger vorangeht.

Die Ostsee verbindet. Verbindungen benötigen Stütz-
pfeiler. Der wichtigste Pfeiler sind die Menschen. Deswe-
gen kommt es darauf an, Bedingungen für die Beschäfti-
gung und für das lebenslange Lernen sowie die Lebens-
bedingungen zu verbessern und die Nachhaltigkeit in
einer lebenswerten Region weiterzuentwickeln. Stabilität
durch Kooperation bleibt der zweitwichtigste Pfeiler.
Ohne eine stabile Ostseeregion, ohne die Einbeziehung
Russlands gibt es kein stabiles Gesamteuropa. Dazu
gehört auch die Einbeziehung Kaliningrads.

Ein wesentlicher weiterer Pfeiler sind Kultur und Wis-
senschaft. Beides sind Angebote und Gelegenheiten für
vertrauensbildende Maßnahmen. Bestehende Netzwerke
sind hier weiterzuentwickeln. In diesem Sinne rege ich im
Rahmen der Jugendbegegnung und ihrer Stärkung die
Gründung eines Ostseejugendwerkes an. Fundament
hierfür könnte das bereits gemeinsam von Finnland und
Schweden getragene Ostseejugendsekretariat in Kiel sein.
Unsere Zukunft im Norden ist die Jugend. Geben wir ihr
noch mehr die Möglichkeit der Begegnung und der Zu-
sammenarbeit! Geben wir ihr die Gelegenheit, mit gegen-
seitiger Toleranz ihre eigene Zukunft in der Ostseeregion
zu gestalten!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der estnische Dichter Uku Masing hat einmal formu-
liert:

Kleine Völker haben schon deshalb einen weiten Ho-
rizont, weil sie an der Existenz der anderen nicht vor-
beikommen.

Diesen Satz kann man auch umkehren: Große Völker ha-
ben schon deshalb einen engeren Horizont, weil sie die
Existenz der anderen manchmal leichtfertig übersehen.

Vor diesem Risiko sollten wir uns bewahren und daher
die Chancen der Ostseekooperation offensiv nutzen!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU] und des Abg. Rolf Kutzmutz [PDS])



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411115200
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Wolfgang Börnsen.


Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1411115300
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Franz, das war eine sehr sachbezogene
Regierungsrede. Ich finde, dass es der Aspekt der Ju-
gendförderung im Ostseeraum verdient, herausgehoben
zu werden. Aber trotzdem möchte ich ein wenig Wasser in
den Wein gießen, weil nicht alle Blütenträume so reifen.

Die deutsche Bundesregierung hat bisher verpasst,
klare und sachbezogene Positionen für eine Ostseepolitik
im 21. Jahrhundert zu formulieren.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Quatsch!)


Während man vor 1998 noch von einer offensiven Ost-
seepolitik sprechen konnte, sind derzeit nationale An-
sätze nicht mehr erkennbar. Weder im Koalitionsvertrag
noch in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers hat
die Wachstumsregion Ostsee ihren Niederschlag gefun-
den. Bis heute liegt kein Zukunftskonzept „Ostsee“ vor.
Aufgrund der Erfordernisse von Sicherheit, Einheit, Ar-
beit und Wohlstand ist die bisher praktizierte passive Ost-
seepolitik eine verpasste Chance. Die Bundesregierung
hätte gut daran getan, an die aktive Ostseepolitik der 90er-
Jahre anzuknüpfen. Sollte dies konzeptionell, klar und




Franz Thönnes
10504


(C)



(D)



(A)



(B)


konsequent geschehen, wird sie auch durch die Union
darin unterstützt.

Trotz meiner grundsätzlichen Kritik anerkenne ich den
kürzlich erfolgten Besuch von Bundeskanzler Schröder in
den drei baltischen Staaten. Auch wenn man dort bitter
enttäuscht gewesen ist, weil kein Zeitpunkt für den EU-
Beitritt genannt wurde, so kann man doch sagen, dass eine
Kanzlervisite überfällig war. Ich hätte mir gewünscht,
dass Helmut Kohl trotz der Drohvorbehalte Russlands
ebenso verfahren wäre.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Mit unserer Großen Anfrage zur Zukunft des Wirt-
schaftsraums Ostsee, eingebracht am 1. Dezember 1999,
und mit unserem Antrag zur Stärkung der Ostseeregion
vom 9. Mai stellen CDU und CSU klar, dass es uns darum
geht, den Norden wieder nach Berlin zu holen. Als Parla-
mentarier beklage und kritisiere ich, dass nach sieben
Monaten die Bundesregierung immer noch nicht in der
Lage ist, eine Antwort auf unsere Große Anfrage bezüg-
lich der Ostsee zu geben. Über ein halbes Jahr ist bereits
vergangen. Verantwortlich dafür ist der Bundesaußenmi-
nister. Dies ist ein unglaublicher Vorgang.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Jetzt unmittelbar vor Beginn des deutschen Vorsitzes
im Ostseerat am 1. Juli gibt es ein erstes, zweieinhalb
Seiten starkes Papier aus Berlin. Dieser Fünf-Punkte-Ka-
talog wurde von Außenminister Fischer im norwegischen
Bergen beim Treffen der Fachminister in der vergangenen
Woche lieblos vorgelesen. Im Schnelldurchgang wurden
die zehn Außenminister der Ostseeanrainer von Fischer
unterrichtet. Dann hat er sich – wie meine skandinavi-
schen Freunde und die Freunde von Franz mitteilten – läs-
sig in den Sessel gesetzt und gelangweilt geschwiegen.

Zwischen Frühstück und Mittag war er dort. Dann ver-
abschiedete sich der Berliner Repräsentant bereits und
ließ nach diesem Kurzauftritt die erstaunten Kollegen mit
der Aufarbeitung der Ostseezukunftsprobleme allein.
Eine Herzensangelegenheit scheint dem Hessen der Ost-
seerat nicht gewesen zu sein. Seine Abwesenheit heute bei
einem außenpolitischen Thema ist ein deutliches Zeichen
für die Nichtbeachtung dieser Problematik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Dabei enthält die Aktionsstudie durchaus Brisanz. Wie

soll der Energieverbund um die Ostsee aussehen? Mit
oder ohne Russland? Haben der Autoverkehr oder der
Seeverkehr bei der vorgesehenen Verkehrsplanung Vor-
rang? Welchen Stellenwert nimmt die Fehmarnbelt-Que-
rung ein? Macht sie weitere Verkehrsinvestitionen in Jüt-
land und dem Norden Schleswig-Holsteins überflüssig,
oder gibt es eine neue Projektierung? Nach welchen Kri-
terien wird die neue Liste „Regionale Projekte“ erstellt?
Trifft es zu, dass Mecklenburg-Vorpommern und Schles-
wig-Holstein darin keine Berücksichtigung mehr finden?

Mit heißer Nadel, so Beobachter der Bergen-Konfe-
renz, ist am Ostseenetz genäht worden. Deutschland
muss mit mehr Seriosität nachlegen, damit es nicht zu ei-

nem Flickenteppich kommt. Dabei kann dieser Wachs-
tumsraum in Europa weltweit zu einem Motor für neue
Entwicklungen und Wohlstand werden. Er ist ein ein-
zigartiger wirtschaftlicher, kultureller und politischer
Modellraum, der einer kraftvollen und konzeptionellen
Politikbeachtung durch Deutschland bedarf.

Doch auch zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krie-
ges ist die Großregion in Lebenserwartung, Wirtschafts-
kraft, Kapitalausstattung und Umweltstandards zwischen
West und Ost geteilt. Gemessen am europäischen Brutto-
inlandsprodukt sind die östlichen Staaten arme Länder.
Im Mittel der Jahre 1995 bis 1997 betrug in Lettland der
Anteil je Einwohner 25 Prozent des durchschnittlichen
europäischen Wohlstands und in Polen 35 Prozent. Insge-
samt haben die EU-Bewerber 75 Prozent weniger als der
Durchschnitt der westeuropäischen Staaten, also nur ein
Viertel unseres Wohlstandes, und dies bei einem sozialen
Standard, der noch weit entfernt von dem des Westens ist.

Doch trotz aller Schwächen werden bereits jetzt in der
Ostseeregion gut 6 Prozent des Welthandels erwirtschaf-
tet, rund 100 Milliarden Dollar jährlich. Experten schät-
zen die regionalen Wachstumschancen in der nächsten
Dekade auf bis zu 250 Prozent.

Entscheidend für diese positive Entwicklung ist je-
doch, ob und wie die gezielten und erfolgreichen Initiati-
ven der 90er-Jahre mit Beginn des neuen Jahrhunderts
fortgesetzt werden. Dabei liegt Deutschlands Zukunfts-
markt direkt vor unserer Haustür. Unsere Exporte nach
Dänemark betrugen 1999 16,5 Milliarden DM, nach
Schweden 22 Milliarden DM, nach Norwegen 7,6 Milli-
arden DM, nach Finnland 11 Milliarden DM, nach Polen
24 Milliarden DM. Auch für die baltischen Staaten sind
wir der Haupthandelspartner. Damit gehen 9,6 Prozent
des deutschen Exportes oder – anders gesagt – jede zehnte
Mark in den Ostseeraum. Nur gegenüber den USAgibt es
eine vergleichbare Exportleistung mit knapp 100 Milliar-
den DM.

Wir profitieren von den Ostseeanrainern, diese aber
auch von uns. Durchschnittlich 10 Milliarden DM beträgt
deren Ausfuhr in die Bundesrepublik. Wir sind deren
größter Exportmarkt. Als gemessen an der Einwohnerzahl
größtes, als wirtschaftlich stärkstes Land, als Brücken-
land zu Mitteleuropa haben wir für diese Region eine be-
sondere Verantwortung.

Ein florierender Handel festigt den Ostseeraum und
stabilisiert gleichzeitig bei uns Wirtschaft, Gewerbe und
Arbeitsplätze. Doch das Regierungsdefizit an Ostsee-En-
gagement nimmt eher zu als ab. Das zweieinhalbseitige
Positionspapier zum deutschen Ratsvorsitz geht punktuell
die Ostseeproblematik an, ist aber kein Signal für ein öko-
nomisches, ökologisches, soziales und kulturelles Ostsee-
region-Netzwerk. Die englische Fassung enthält keine
Aussage zur militärischen Sicherheitslage, weder Hin-
weis noch Unterstützung zu der nachdrücklich geäußerten
Absicht der baltischen Staaten, endlich Mitglied der
NATO zu werden. Auch fehlt im Ansatz jede Zeitkonkre-
tisierung eines sehnlich erwünschten EU-Beitritts von
Estland, Lettland, Litauen und Polen. Eine Osterweite-
rung hier ist ein echter Baustein für den Frieden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)





Wolfgang Börnsen (Bönstrup)


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Schließlich wird die Finanzierung von gemeinsamen Ost-
seevorhaben ganz ausgeklammert, auch die Problematik,
dass keines der bisher praktizierten sechs Brüsseler För-
derprogramme ostseeumspannende Aktivitäten möglich
macht.

Brisant wird dieser in Bergen vorgebrachte Beleg bun-
desdeutscher Nordpolitik durch seine Auslegung, die
Joschka Fischer im Ansatz und die Sie, Frau Simonis, in
einem Namensartikel im „Flensburger Tageblatt“ sehr
viel deutlicher formulierten. Ich zitiere:

Hat zu Beginn der Arbeit des Ostseerates die Außen-
politik das Geschehen bestimmt, wird Ostseekoopera-
tion inzwischen mehr zur Gesellschaftspolitik.

Und zur Regionalpolitik.
Nein, da sind die anderen Ostseeanrainer anderer Auf-

fassung. Eine Degradierung der Anliegen von elf Staaten
auf die Ebene der Regionalpolitik – nach der Devise: Ber-
lin raus, Kiel rein – nimmt dieser Großregion ihre Bedeu-
tung.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Besonders der elfte Ostseepartner, Russland, macht

die politische Dimension dieses Raumes offensichtlich.
Die Ostseekooperation bedeutet für den Nordwesten
Russlands die Möglichkeit, durch grenzüberschreitende
Zusammenarbeit das Entstehen neuer Trennungslinien in
Europa zu verhindern. Kaliningrad, Königsberg, bietet
sich dafür an. Doch Brückenbauer müssen die Außenmi-
nister bleiben. Alles andere würde dem Ansehen Deutsch-
lands schaden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Gründung des Ostseerates vor zehn Jahren, an der

der damalige dänische Außenminister Ellemann-Jensen,
Hans-Dietrich Genscher und Helmut Kohl ebenso beson-
deren Anteil haben wie Carl Bildt aus Schweden, war die
Schlüsselentscheidung für die umfassende Entwicklung
dieser Großregion. Ministerpräsident Björn Engholm hat
damals eine Renaissance des Hansegedankens propagiert.
Dieser Gedanke war Ausgangspunkt für die Bildung des
Rates.

Die in diesem Raum geleistete zehnjährige Aufbauar-
beit ist grandios. Die Ostsee als Meer ist nachweisbar sau-
berer und gesünder geworden, neue Transportbrücken wie
die über den Großen Belt und den Öresund haben Ent-
fernungen radikal verringert, der Handel hat sich mehr als
verdoppelt.

Den Nichtregierungsorganisationen – vom Ostseever-
bund der Handelskammern unter Kieler Präsidentschaft
über Städtepartnerschaften bis zur Schaffung des „Baltic
Sea Trade Union Network“ durch die Gewerkschaften –
gilt es für diesen Einsatz zu danken. Über 70 die Ostsee-
anrainer erfassende Organisationen gehören dazu, getra-
gen von Idealen, daran orientiert, hier ein beispielhaftes
Friedens- und Kooperationsmodell zu schaffen.

Aber solange Armut und Arbeitslosigkeit als sozialer
Sprengstoff im östlichen Teil der Ostseeregion nicht aus-
geräumt sind, solange das Monatseinkommen in Litauen
450 DM und nicht 4 500 DM wie in den Westländern be-

trägt, solange Schleuser und Schmuggler zur Steigerung
der Kriminalität beitragen, solange NATO-Sicherheit und
EU-Mitgliedschaft nicht für alle gelten, herrscht Hand-
lungszwang.

Wir brauchen ein Ostseekonzept für dieses Jahrhun-
dert. Hier hat die deutsche Politik anzusetzen. Die großen
historischen Herausforderungen des Ostseeraums sind je-
doch nicht allein durch Direktiven „von oben“ zu meis-
tern. Städte, Regionen, Wirtschaftsverbände und private
Initiativen sind zu fördern, der Prozess des Zusammen-
wachsens ist „von unten“ dauerhaft zu stärken. Hier hat
die Landesregierung von Schleswig-Holstein, besonders
durch Minister a. D. Gerd Walter, hilfreiche Anstöße ge-
geben. Auch die Anregung der Kieler CDU-Landtags-
fraktion, ein alle Ostseeländer umspannendes Schul- und
Jugendwerk einzurichten, die ähnlich der Idee meines
Vorredners ist, ist anzuerkennen und aufzugreifen.

In der Ostseeregion ist ein weltweit bedeutender Mo-
tor für Wachstum und Wohlstand angesprungen. Jetzt gilt
es, seine Taktfrequenz zu verfestigen und die Drehzahl zu
erhöhen. Dazu bedarf es eines übergreifenden politischen
Leitbildes, einer Ostseeoffensive auf allen Ebenen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Pfeiler müssen sein, dazu beizutragen, dass die politi-
sche Stabilität in den jungen Demokratien gesichert wird,
dass die EU sich stärker in dieser Region engagiert und
umfassende Programme vorstellt und dass der deutsche
Beitrag für die Ostseeregion sich auch an dem orientieren
sollte, was die Schweden praktizieren. Die Schweden ha-
ben extra 1 Milliarde Schwedenkronen für die Ostsee ge-
sichert. Wie hier ein neuer Akzent gesetzt und eine Aus-
weitung gestaltet wird, sollte auch der Bundesrepublik ein
Beispiel sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben in diesem Raum 300 verschiedene Univer-

sitäten und Hochschulen konzentriert. Das ist mit die
größte Konzentration kultureller, wissenschaftlicher und
bildungsorientierter Art. Es gilt, ein Netzwerk zu schaf-
fen, um diese Konzentration für ganz Europa und für die
ganze Welt nutzbar zu machen.

Ein letzter Punkt. Ich glaube sehr wohl, dass gerade im
Umweltschutz im Rahmen der Helcom-Liste und im Rah-
men von Baltic 21 eine Vielzahl an fördernden Aktivitä-
ten in Gang gesetzt worden sind, die zu Ende geführt wer-
den müssen. Doch ich glaube, dass dafür die Vorausset-
zung sein muss, eine seriöse Ostseepolitik zu betreiben,
und zwar auch durch den Herrn Außenminister, der heute
wieder fehlt.

Frau Simonis, Sie haben wohl die missglückte Bergen-
Maßnahme des Außenministers vorausgesehen, als Sie
vor dem Treffen in Norwegen veröffentlichten, dass Sie
von der Bundesregierung einen kraftvollen Ratsvorsitz
erwarten. Einem politischen Luftikus, verehrte Frau Mi-
nisterpräsidentin, kann man nicht mehr auf die Sprünge
helfen.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)





Wolfgang Börnsen (Bönstrup)

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Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411115400
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin Angelika
Beer.


Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411115500
Herr
Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr
Börnsen, Sie selber haben es soeben zugegeben: Jahre-
lang war die Bundesrepublik Deutschland politisch sehr
weit weg von der Ostsee. Die rot-grüne Regierung unter
Federführung des Kanzlers aber hat die Ostseekoopera-
tion auf ihre Agenda gesetzt. Sie wissen sehr gut, dass
heute mehrere Staatsbesuche stattfinden und der Außen-
minister nicht bei jeder Debatte anwesend sein kann. Ich
freue mich auf den nicht minder wichtigen Beitrag von
Staatsminister Zöpel, der die Position der Bundesregie-
rung darstellen wird.

Die rot-grüne Regierung in Schleswig-Holstein unter
Heide Simonis hat – auch das ist Ihnen bekannt; das freut
mich natürlich als schleswig-holsteinische Bundestagsab-
geordnete ganz besonders – sich von Anfang an für die
Ostseekooperation eingesetzt und neue Initiativen, politi-
sches Engagement und Bewegung in die Kooperation hin-
eingetragen.

Die Europäische Union ist ein wichtiger Akteur in der
Ostseepolitik geworden. Wir begrüßen, dass sie im letzten
Jahr die finnische Initiative der „Nördlichen Dimension“
aufgegriffen und die Erarbeitung eines „Aktionsplanes
Nördliche Dimension“ der EU beschlossen hat.

Die Übernahme des Vorsitzes im Ostseerat durch
Deutschland bietet uns Chancen:

Erstens. Wir wollen der Arbeit des Ostseerates mehr
Gewicht verleihen und unterstützen das Vorhaben, den
Ostseerat als Schirm der gesamten Regierungszusam-
menarbeit seiner Mitglieder zu konstruieren.

Zweitens. Wir wollen den Vorsitz nutzen, um eine wei-
tere Verzahnung der Ostseepolitik mit der Europäischen
Union zu erreichen und weitere Synergieeffekte zu erzie-
len. Dabei ist aus meiner Sicht insbesondere die Einbin-
dung von Nichtregierungsorganisationen ein wichtiges
politisches Anliegen.

Drittens. Wir wollen eine größere Einbeziehung der
EU-Kommission in die Ostseekooperation erreichen und
die Kompetenzen für den Ostseeraum übersichtlicher ge-
stalten. Deshalb schlagen wir die Einrichtung eines „Bal-
tic Sea Desk“ vor.

Viertens. Im Rahmen dieser Präsidentschaft möchten
wir eine besondere Verantwortung wahrnehmen: Die Ost-
see war – das haben, so glaube ich, wir alle konstatiert –
in der Zeit des Ost-West-Gegensatzes räumlich und poli-
tisch marginalisiert und die Kooperation zwischen den
Anrainerstaaten war durch diesen Konflikt eingeengt. In-
zwischen eröffnen sich ganz neue Chancen, da die Ostsee
eine Klammer zwischen verschiedenen europäischen Re-
gionen bildet. So kann sie zu einer Region mit eigener
Identität werden und dies soll sie auch. Diese Klammer-
funktion bekommt dadurch eine besondere Bedeutung,
dass nur in der Ostseeregion die beiden Hauptpole der eu-
ropäischen Entwicklung, nämlich das Europa der Europä-

ischen Union und Russland, aneinander grenzen. Dadurch
erhält der ehemalige Gegner und jetzige Partner Russland
die Rolle eines wichtigen Akteurs im Rahmen der Ost-
seekooperation.

Deswegen, Herr Kollege Börnsen, ist Ihr nationaler
Ansatz, der in Ihrem Antrag deutlich wird, meines Erach-
tens viel zu kurz gegriffen. Daher werden wir Ihren An-
trag ablehnen.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in der Ostseere-
gion sind wir natürlich auch mit Risiken und Proble-
men konfrontiert; einige von ihnen möchte ich anspre-
chen. Zwischen den verschiedenen Staaten um die Ostsee
herum gibt es ein starkes Wohlstandsgefälle und in eini-
gen Staaten eine sehr hohe Arbeitslosigkeit. Die Differen-
zen zwischen den politischen Kulturen, der Entwicklung
der Zivilgesellschaften und den Möglichkeiten der politi-
schen Mitsprache durch die Bürgerinnen und Bürger er-
schweren den Dialog und machen ihn zu einer Herausfor-
derung, die sicherlich nicht leicht zu meistern ist.

Zum Glück leben in der Region nach wie vor Minder-
heiten; auch sind neue wie zum Beispiel die russische
Minderheit in den baltischen Ländern hinzugekommen.
Ferner stehen dringende Fragen des Umweltschutzes auf
der Tagesordnung. Die Fragen einer umweltfreundlichen
Energieversorgung besonders in den baltischen Ländern
und in Nordwestrussland müssen erörtert werden. Als
Stichwort nenne ich nur den Bellona-Report und verweise
auf die in ihm nachlesbaren Risiken.

Aber es gibt auch Chancen in dieser Region, zum Bei-
spiel die Chance, die Instrumente der Prävention weiter-
zuentwickeln. Gerade nach dem Ende des Ost-West-Kon-
fliktes haben wir doch die Chance, dass der ehemalige
Gegner die Zukunft der Region kooperativ mitgestaltet.
Eine besondere Herausforderung ist dabei die Frage der
Integration der baltischen Länder sowie Russlands und
dessen Exklave Kaliningrad, da zwischen diesen Staaten
immer noch Spannungen bestehen. Es wäre fahrlässig, sie
zu negieren. Aufgabe der Ostseekooperation ist es, diese
Lage ins Konstruktive zu wenden. Das kann nicht mit ei-
ner Formel geschehen – das wissen Sie genau, Herr
Börnsen –, sondern das bedarf einer politischen Anstren-
gung über Parteigrenzen hinweg.

Dazu kann gerade die EU-Erweiterung beitragen, da
sie nicht als Bedrohung wahrgenommen werden kann und
darf und sie der wirtschaftlichen Stabilisierung der Re-
gion dient.

Wir unterstützen die Idee eines „region building“, das
ungeachtet des EU-Mitgliedsstatus auf Integration statt
auf Ausgrenzung innerhalb der Ostseekooperation setzt.
Ziel dieses „region building“ soll es sein, die Ostsee zu ei-
nem Modellprojekt des friedlichen Zusammenlebens un-
ter Beachtung zukunftsfähiger ökologischer und ökono-
mischer gemeinschaftlicher Entwicklung auszubauen.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in diesem Zusam-
menhang müssen wir auch menschenrechtliche Aspekte
berücksichtigen. Im Ostseeraum müssen alle Minderhei-
ten respektiert werden und sich frei entfalten können. Ich
unterstreiche, dass die organisierte Kriminalität, insbe-
sondere Frauenhandel und Prostitution, bekämpft werden






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muss. Die Ursachen hierfür liegen oft in sozialen Miss-
ständen. Deswegen ist der langfristige Weg, das Wohl-
standsgefälle zu beseitigen und zukunftsfähige Arbeits-
plätze zu schaffen, sicherlich der richtige Ansatz. Grenz-
kontrollen allein können diese Probleme nicht lösen. Im
Gegenteil: Eine Abschottung nach außen kriminalisiert
oft doch gerade diejenigen, die Unterstützung am nötigs-
ten bräuchten, und unterläuft das Bestreben, eine Modell-
region aufzubauen, die sich gerade über nationalstaatliche
Interessen hinaus definiert.

Ganz kurz weise ich auf die Notwendigkeit zukunfts-
gerichteter Energie- und Verkehrskonzepte hin. In diesem
Zusammenhang wird die Abschaltung des Atomkraftwer-
kes Ignalia in Litauen ein ganz wichtiges Signal sein.

Die Bundesregierung hat die Chancen für die Region
und die Bedeutung der Region für Europa und für
Deutschland erkannt; wir Schleswig-Holsteiner haben
diese Bedeutung auch für unser Land erkannt und handeln
dementsprechend. Wir werden uns deshalb aktiv am Pro-
jekt „Modellregion“ beteiligen.

Lassen Sie mich noch die „Nordeuropäische Initiative“
ansprechen. Sie belegt, dass die Amerikaner – dies geht
über die europäische Dimension hinaus – eine dauerhafte
Stabilität in der Region, die im Rahmen der Ostseekoope-
ration erreicht werden soll, als wichtigen Bestandteil
der euroatlantischen Sicherheit ansehen. Wir haben die
Chance, dass sich die Ostsee zu einem Meer des Friedens
weiterentwickelt. Das Programm der „Nordeuropäischen
Initiative“ wird dazu in den nächsten Jahren einen we-
sentlichen Beitrag leisten; hier ist explizit auch eine Zu-
sammenarbeit mit den NROs vorgesehen.

Eine Reduzierung auf den Standort Ostsee und auf
Wirtschaftsaspekte, wie sie die CDU/CSU zum Teil – ich
sage: zum Teil – vornimmt, ist meines Erachtens viel zu
kurz gegriffen, denn zu dieser Region gehört viel mehr.
Zu ihr gehören gleichwertig auch die Fortentwicklung
von Demokratie und Grundrechten, von Umweltschutz
sowie von Frieden und Sicherheit. Diese Elemente sind
die Basis für Kooperation, nicht allein der wirtschaftliche
Aspekt.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die deutsche Ost-
seepolitik muss europäische Ostseepolitik sein, sowohl
im Handeln als auch im Denken. Ich glaube, hier ist es die
Aufgabe der Nationalstaaten, sich an Projekten zu beteili-
gen und konkrete Politik umzusetzen sowie zivilgesell-
schaftliche und auf Freiwilligkeit bauende Ansätze zu för-
dern wie zum Beispiel den Ausbau von Freiwilligendiensten
im Rahmen des ökologischen Jahres.


(V o r s i t z: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Noch ganz kurz zu den Kernpunkten unserer Präsi-
dentschaft im Ostseerat im kommenden Jahr: Erstens ist
mit dem multilateralen Ansatz des Ostseerates die Ko-
operation mit der Europäischen Union im Ostseeraum zu
ergänzen und dadurch die Umsetzung des Aktionsplanes
„Nördliche Dimension“ zu unterstützen. Zweitens ist die
Zusammenarbeit der Subregionen und der Zivilgesell-
schaften zu stärken. Drittens ist bei der Stärkung der wirt-
schaftlichen Zusammenarbeit, insbesondere im Rahmen

des technologischen Wandels, die hoch entwickelte Infor-
mationstechnologie zu nutzen und weiterzuentwickeln.
Viertens sind kooperative Ansätze zwischen den balti-
schen Staaten und Russland mit aller Kraft nach vorn zu
bringen und die Ostsee so als Meer des Friedens zu stabi-
lisieren.

Dafür treten wir auf Bundes- und auf Landesebene ein.
Ihren Anträgen werden wir wegen der Kürze der Formu-
lierung nicht zustimmen können. Wir werden für unseren
Antrag stimmen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411115600
Als
nächster Redner hat der Kollege Jürgen Koppelin von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.


Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1411115700
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Wenn in einigen Jahren auch die
baltischen Staaten Mitglieder der EU werden, gehören
95 Prozent der Küstenlinie der Ostsee zur Europäischen
Union. Die Ostsee ist zu einem EU-Binnenmeer gewor-
den.

In der Ostseeregion leben über 50 Millionen Men-
schen. Sie erwirtschaften mehr als ein Viertel der Wirt-
schaftskraft Europas und etwa ein Drittel aller europä-
ischen Exporte. Deutschland ist wie kaum ein anderer
Staat auf die Entwicklung im Ostseeraum unmittelbar an-
gewiesen und von ihr stark betroffen.

Mit der Gründung des Ostseerates im Jahr 1992 wurde
ein Gremium geschaffen, mit dem eine ökonomische, po-
litische und kulturelle Stärkung der Region erreicht wer-
den soll. Ich darf an dieser Stelle daran erinnern, dass es
zwei große Liberale waren, auf die die Initiative zur Grün-
dung des Ostseerates zurückgeht. Es waren der damalige
deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher und sein
dänischer Kollege Uffe Ellemann-Jensen, langjähriger
Vorsitzender der europäischen Liberalen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich will gern die Gelegenheit nutzen, auch dem früheren
Außenminister Klaus Kinkel, der heute an dieser Debatte
teilnimmt, recht herzlich für sein Engagement in diesem
Bereich zu danken.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Er ist heute hier,


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Er hat Format!)


während wir den Bundesaußenminister vermissen.
Die Gründung des Ostseerates, dessen Vorsitz Deutsch-

land jetzt übernimmt, war eine Konsequenz der Beendi-
gung des Ost-West-Konfliktes. Skandinavien und auch
Osteuropa richten sich nun stärker auf Deutschland aus.
Ich finde, das verpflichtet. Wir müssen und wollen Motor
der Ostseepolitik sein. Insofern, Herr Staatsminister, wäre




Angelika Beer
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es begrüßenswert gewesen – der Kollege Börnsen hat es
bereits für die CDU/CSU gesagt, ich will dies für die F.D.P.
tun –, wenn die Bundesregierung in der Lage gewesen
wäre, die Großen Anfragen, die zu diesem Bereich vorlie-
gen, bis zu dieser Debatte zu beantworten.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Unglaublicher Vorgang!)


So schwierig wird es wohl nicht sein, nach so vielen Mo-
naten endlich eine Antwort zu finden. Aber die Sprachlo-
sigkeit der Bundesregierung gerade zu dieser Thematik ist
ja bekannt.


(Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Sie wissen doch nicht, was Sie schreiben sollen!)


Die Chancen des deutschen Vorsitzes im Ostseerat, um
Impulse für die Ostseeregion zu geben, sind vielfältig.
Wir benötigen gute Verkehrsverbindungen zwischen
Norddeutschland und den skandinavischen Ländern so-
wie Osteuropa. Der Güter- und Individualverkehr steigt;
darauf müssen wir reagieren. Gerade in der Verkehrspoli-
tik hinsichtlich Skandinavien ist über viele Jahre durch
rot-grüne Politik – das muss man leider sagen, Frau
Ministerpräsidentin – ein Stillstand eingetreten. Der Kol-
lege Börnsen hat es schon angesprochen: Sie haben ges-
tern im „Flensburger Tageblatt“ gesagt: „Ostseepolitik ist
heute selbstverständlich.“ An der Politik der Landesregie-
rung, zum Beispiel in der Verkehrspolitik, kann ich das
nicht erkennen, in der Kulturpolitik dagegen, angescho-
ben von Björn Engholm, schon. Ich werde nachher noch
auf andere Bereiche eingehen.

Während Länder wie Schweden oder Dänemark ihre
Hausaufgaben gemacht haben, hat Deutschland nur blo-
ckiert.


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU])


Ich darf bei dieser Gelegenheit daran erinnern, dass meine
Partei in Schleswig-Holstein schon vor über zehn Jahren
die Beltquerung gefordert hat. Erzählen Sie uns doch ein-
mal – Sie haben ja gleich das Wort –, was Ihre Partei noch
bis vor kurzem, nämlich bis zur Landtagswahl, gefordert
hat! Teile der Grünen sind übrigens noch heute vehement
gegen die Beltquerung. Sie wissen ja noch nicht einmal in
der Koalition in Schleswig-Holstein, was sie eigentlich
genau wollen. Heute habe ich in einer Agenturmeldung
gelesen, dass Sie sogar glauben, Schleswig-Holstein sei
die treibende Kraft für eine Beltquerung gewesen. Der
Mitarbeiter in der Staatskanzlei, der Ihnen das aufge-
schrieben hat, muss ganz neu sein; denn das stimmt nun
wirklich nicht.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Die rot-grüne Koalition schreibt in einem Antrag zur

heutigen Debatte, dass der Schiene und dem Schiffsver-
kehr Vorrang einzuräumen sei. Sprechen Sie darüber ein-
mal mit den Vertretern der Ostseeanrainerstaaten; die wer-
den nur den Kopf schütteln, wenn Sie mit dieser Forde-
rung kommen. Frau Ministerpräsidentin, angesichts der
Politik für diese Region, die Sie betreiben, muss ich ganz
offen sagen: Wenn Sie vor etwas über 100 Jahren regiert

hätten, dann gäbe es in Schleswig-Holstein, so vermute
ich, nicht einmal den Nord-Ostsee-Kanal.

Um neue Arbeitsplätze in der Ostseeregion zu schaf-
fen, muss es zu einer Zusammenarbeit aller Staaten
kommen – auch um die EU-Förderprogramme gemein-
sam zu nutzen. Der Ostseeraum stellt für die Zukunft eine
wirtschaftspolitisch sehr interessante Region dar. Die
Chancen wirtschaftlichen Wachstums sind groß; wir müs-
sen sie nutzen. Aber dazu – das will ich noch einmal be-
tonen – reichen Schiene und Schiff alleine nicht aus.

Wir sollten den Vorsitz im Ostseerat nutzen, um ent-
schlossener als bisher der grenzüberschreitenden Krimi-
nalität zu begegnen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auch hier gilt: Wenn alle Staaten gemeinsam arbeiten,
sind die Erfolgsaussichten wesentlich größer.

Die Kollegin Beer hat – das ist als Angehörige der Grü-
nen-Fraktion ja fast ihre Pflicht – das Engagement des
Bundesaußenministers in dieser Sache betont. Kollegin
Beer, Sie haben zu Recht die Minderheitenpolitik ange-
sprochen. Aber dann bleiben wir auch einmal bei diesem
Thema: Ich stelle fest, dass die deutsche Bundesregierung
die nationalen Minderheiten nicht fördert. Diese Bundes-
regierung hat zum Beispiel die Mittel für die deutsche
Minderheit in Dänemark erheblich gekürzt und der Bun-
desaußenminister hat das Generalkonsulat in Apenrade
geschlossen. Das ist Ihre Minderheitenpolitik. Ich kann
nicht erkennen, dass Sie eine gute Minderheitenpolitik
machen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben sich doch damit einverstanden erklärt, dass wir die Mittel in der Region anders einsetzen!)


Wie wollen Sie das den anderen Minderheiten klarma-
chen, wenn Sie hier die Mittel kürzen und das General-
konsulat schließen? Das müssten Sie uns einmal erläu-
tern.

Die F.D.P. tritt dafür ein, dass die Zusammenarbeit der
Hochschulen im Ostseeraum gestärkt wird. Wir würden
es begrüßen, wenn es zu einer Zusammenarbeit aller dor-
tigen Bildungseinrichtungen kommt.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU)


Aber dazu müssen wir unsere Schularbeiten machen.
Dazu gehört, dass wir attraktive Universitäten haben, da-
mit junge Menschen aus Skandinavien zu uns kommen.
Frau Ministerpräsidentin, ich weiß nicht, wie Sie diese At-
traktivität für Studenten aus Skandinavien sicherstellen
wollen, wenn an der Uni in Kiel, wie ich heute in der Zei-
tung gelesen habe, dank der Politik der rot-grünen Koali-
tion in Schleswig-Holstein 220 Stellen gestrichen werden.

Mit dem Vorsitz im Ostseerat hat Deutschland eine
große Chance, den Staaten in der Region Ostsee deutlich
zu machen, dass die Befürchtungen, die der finnische




Jürgen Koppelin

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Ministerpräsident im letzten Jahr ausgesprochen hat, un-
begründet sind. Er sagte:

Europa ist nicht nur für die großen Länder da. Wir
entscheiden am gemeinsamen Tisch, nicht draußen,
wo die großen Länder diese Neigung haben, ein Di-
rektorat zu schaffen.

Wen hat er wohl gemeint – Dänemark, Luxemburg? Nein,
er hat die großen Staaten angesprochen und damit natür-
lich auch Deutschland gemeint.

Werfen wir in diesen Tagen einen Blick nach Däne-
mark: Dänemark wird im September über die Einführung
des Euro abstimmen. Noch vor kurzem war die Stimmung
in Dänemark ausgesprochen positiv; für den Euro spra-
chen sich nach den Umfragen etwa 60 Prozent aus. Jetzt
geht die Stimmung in den Keller, nicht weil der Euro so
stark gefallen ist, nein, wegen der Haltung der großen
Staaten, vor allem der Bundesrepublik Deutschland, in
Sachen Österreich.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Man befürchtet in Dänemark, dass es als Kleinstaat eines
Tages genauso behandelt wird wie jetzt Österreich.

Kollege Thönnes, das, was Sie zu den kleinen Staaten
zitiert haben – Sie können es sich ja noch einmal vorneh-
men –, trifft auch auf Österreich zu. Das Verhalten der
Bundesrepublik gegenüber Österreich war jedenfalls
nicht dazu geeignet, in den Staaten der Ostseeregion Sym-
pathie für Europa zu wecken.


(Franz Thönnes [SPD]: Komm mal wieder in den Norden, Jürgen, da verrennst du dich nicht so!)


Die Zusammenarbeit im Ostseeraum kann auch für die
Menschen in der Region um das ehemalige Königsberg
Hoffnung bedeuten. Diese Region muss schon heute
Grenzen überwinden, um den Kontakt nach Moskau zu
halten. Wie viel schwerer wird dies erst sein, wenn die Re-
gion eines Tages von EU-Staaten umgeben ist! Auch des-
halb müssen wir alle Möglichkeiten der Zusammenarbeit
der Ostseestaaten mit Russland nutzen. Es geht darum,
dass Russland über die Ostseezusammenarbeit hinaus in
ein Beziehungsgeflecht eingebunden wird.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Eine gute Zusammenarbeit mit Russland ist nicht nur
wichtig für die Staaten in der Ostseeregion, sondern für
ganz Europa.

Geben wir Deutschen mit dem Vorsitz im Ostseerat
neue, starke Impulse zum Wohle aller Menschen für eine
bessere Zukunft!

Vielen Dank für Ihre Geduld.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411115800
Das Wort
hat jetzt die Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-
Holstein, Frau Heide Simonis.


(Schleswig-Holstein)


Herren Abgeordneten! Der Bundestag diskutiert heute
über die Chancen der Ostseekooperation. Das ist gut so,
gibt es uns doch die Möglichkeit, auf die Potenziale in
Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Kultur
in diesem Raum hinzuweisen, vor allem auch diejenigen,
die von ihrer Wohnung aus nicht gerade ihren großen Zeh
in die Ostsee halten können.

Es gibt viele Symbole, unter anderem die neue Öre-
sundbrücke zwischen Malmö und Kopenhagen, die in
zwei Tagen für den Verkehr freigegeben wird. Die inoffi-
zielle Freigabe wurde zu einem viertägigen Volksfest, an
dem nach Expertenaussagen 100 000 Menschen teilge-
nommen haben, unter anderem der Außenminister, der
über die Brücke gejoggt ist und mit anderen eine halbe
Marathonstrecke zurückgelegt hat,


(Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Er wäre besser heute hier!)


sowie Radfahrer und Inlineskater, die die Brücke in Be-
sitz genommen und sich über das Zusammenwachsen der
Staaten gefreut haben. Am 1. Juli erfolgt die offizielle In-
betriebnahme dieser Brücke mit 3 000 Ehrengästen aus
ganz Europa, die auch alle kommen werden, weil sie die
symbolische Bedeutung dieser Brücke begreifen.

Dies ist vor allem auf die positive Haltung der Dänen
und Schweden zu Europa zurückzuführen. Die Schwe-
den, die sich lange als eine Insel und Europa als Kontinent
betrachtet haben, haben sich entschlossen, näher heran-
zurücken. Die Öresundquere ist Teil eines gigantischen
Projektes, das Skandinavien fest mit dem europäischen
Kontinent verbinden soll. Man möchte dabei sein und da-
zugehören.

1998 wurde die Brücke über den Großen Belt zwischen
den dänischen Inseln Seeland und Fünen eröffnet. Nun
fehlt als letztes großes Teilstück die Fehmarn-Belt-Que-
rung. Wenn das alles so einfach wäre, wie Sie glauben, lie-
ber Herr Koppelin, hätten Sie in den letzten zehn Jahren
Ihrer Regierungszeit den ersten Spatenstich machen kön-
nen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


So einfach können Brücken und Tunnel zwischen unter-
schiedlichen Ländern nun wirklich nicht gebaut werden,
vor allem nachdem zunächst die Dänen und auch die Bun-
desregierung dagegen waren und Schleswig-Holstein das
einzige Land war, das tapfer zu dieser Brücke gestanden
hat, obgleich es sich empfahl, in Fehmarn nur noch mit
Leibarzt anzureisen, weil der Fährverkehr davon unter
Umständen negativ beeinflusst würde.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Fragen Sie doch mal die SPD in Ostholstein, was die davon gedacht hat!)


– Natürlich, weil sie an die Arbeitsplätze gedacht haben.
Fragen Sie einmal die Leute, was sie davon halten. Man
muss auf solche Gefühle auch Rücksicht nehmen, wenn
man Großprojekte in die Welt setzt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Jürgen Koppelin
10510


(C)



(D)



(A)



(B)


In der Zwischenzeit gibt es jedenfalls im Norden Eu-
ropas eine Aufbruchstimmung, die nicht zuletzt auch da-
durch genährt wird, dass die Wirtschaftskraft in dieser
Region steigt und europaweit wirklich herausragt. Der
Abbau der Arbeitslosigkeit, vor allem bei unseren däni-
schen und schwedischen Nachbarn, ist kaum zu beschrei-
ben. In wenigen Jahren ist es der dänischen Regierung ge-
lungen, den Haushalt aus den roten Zahlen zu führen, die
Arbeitslosigkeit von 13 auf 4,5 Prozent zu senken; dies
übrigens mit der so genannten und von Ihnen verteufelten
Ökosteuer.

Insgesamt investieren Dänemark und Schweden
20 Milliarden Euro in eine gemeinsame Verkehrsinfra-
strukturpolitik in dieser Region. Aus anfänglicher Skepsis
wurde Zustimmung. Es wuchs die Einstellung, das Beste
aus den sich bietenden Chancen zu machen. Das ist die
pragmatische Haltung der Skandinavier, die nicht lange
fragen: Was habe ich gestern gesagt?, sondern die neu
überlegen und bewerten sowie neue Ziele formulieren.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das machen Sie auch jeden Tag!)


Die Ostseeregion ist ein gutes Beispiel für eine ge-
wachsene Großregion, wie sie in Zukunft immer stärker
das Gesicht Europas prägen wird. Die Bürgerinnen und
Bürger füllen sie in vielen Initiativen und Organisationen
mit Leben und kümmern sich darum, dass sich die Men-
schen in einer solchen Großregion nicht verloren vor-
kommen.

In den letzten 10 Jahren haben die neuen Demokratien
in Polen, in den baltischen Staaten und in Russland den
Weg zurück nach Europa dadurch erleichtert bekommen,
dass auch die Skandinavier mit dabei waren und dass ih-
nen von allen der Weg ohne Gesichtsverlust erleichtert
wurde. Es wird nicht mehr lange dauern, dann ist die Ost-
see das größte europäische Binnenmeer. In einer erwei-
terten Europäischen Union muss die Ostseekooperation
deshalb eine neue Basis finden. Sie muss über das hinaus,
was zum Beispiel Mecklenburg, Hamburg und Schles-
wig-Holstein, zum Teil auch mit Bordmitteln, gemacht
haben. Dabei werden auch die regionalen und nichtstaat-
lichen Zusammenschlüsse in der Region großes Gewicht
haben, obgleich ich manchmal glaube, dass die 70 und
mehr Organisationen schon fast einen eigenen Führer
brauchen, um sich durchzufinden. Aber immerhin sind sie
da und zeigen das große Interesse, das man dort in der Re-
gion hat.

Mehr als 10 Jahre lang bestand das Engagement des
großen EU-Mitglieds Deutschland in der Ostseekoopera-
tion eigentlich nur in einer interessierten Beobachtung.
Der jetzige Bundeskanzler hat sich innerhalb eines Jahres
mit mehr skandinavischen und baltischen Staatspräsiden-
ten getroffen, hat mehr Reisen in die Region unternom-
men als der ehemalige Bundeskanzler Kohl, der innerhalb
von 10 Jahren einmal in Visby und einmal als Privatbür-
ger in Riga war. Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass
dies dort oben aufgefallen ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Jedenfalls ist das Signal verstanden worden: Deutsch-
land wird sich in der Ostseeregion engagieren und steht

den Staaten dort zur Seite. Die Regierung unter Gerhard
Schröder hat die Bedeutung der Ostsee für Deutschland
verstanden. Wir sind dankbar, dass wir jetzt Hilfe bekom-
men. Das Echo in den drei baltischen Staaten – das war
fast ein bisschen beschämend – war geradezu überwälti-
gend positiv und von großen Erwartungen gekennzeich-
net.

Wir erwarten jetzt von dem Ostseerat, dass er in Zu-
kunft entschiedener die politischen Ziele für die Entwick-
lung der Region formuliert und festlegt, welche Projekte
dafür vorrangig sind und welche von wem vorangetrieben
werden müssen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411115900
Frau Mi-
nisterpräsidentin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Börnsen?


(Schleswig-Holstein)



Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1411116000
Frau
Ministerpräsidentin, Sie haben gerade Ihren gemeinsa-
men Besuch mit dem Bundeskanzler in den drei balti-
schen Staaten angesprochen. Der „Spiegel“ hat darüber
sehr ausführlich berichtet und mitgeteilt, dass Sie sich zu
der Äußerung haben hinreißen lassen, der estnische Prä-
sident sei ein Erpresser. Vielleicht nehmen Sie die Gele-
genheit wahr, vor dem Hohen Haus zu klären, ob Ihre
Aussage zutrifft. Ich finde, schon die Art und Weise, wie
wir mit unseren Nachbarn umgehen, ist Voraussetzung für
ein freundschaftliches Verhältnis im Ostseeraum. Wenn
der „Spiegel“ schreibt: „,Der Meri ist ein Erpresser‘,
schäumte die Dame aus dem meerumschlungenen Länd-
chen“ Schleswig-Holstein, dann finde ich, wäre es richtig,
die Sache hier einmal klarzustellen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.])



(Schleswig-Holstein)

stapfen des Altbundeskanzlers treten und sagen, dass ich
keine Dame bin.

Im Übrigen: Nicht alles, was der „Spiegel“ schreibt,
kann man bestätigen, meine sehr verehrten Damen und
Herren.

Die drei zentralen Aufgaben, die jetzt auf der politi-
schen Tagesordnung stehen, sind folgende: Im Interesse
des wachsenden Europas dürfen erstens in der Ostseere-
gion keine neuen sozialen und ökonomischen Trennli-
nien – auch keine in Kunst und Kultur, in Wirtschaft und
Wissenschaft – entstehen. Deswegen appellieren wir an
die Europäische Union und an die Regierungen der Mit-
gliedstaaten, bei dem Erweiterungsprozess eine soziale
Dimension mit einzuführen. Dieses würde auch die Ge-
werkschaften stärker mit einbinden und ihnen die Zusam-
menarbeit erleichtern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Ministerpräsidentin Heide Simonis (Schleswig-Holstein)


10511


(C)



(D)



(A)



(B)


Die Tradition eines europäischen Sozialstaats ist etwas,
was für diese Staaten zum Teil neu ist und wo wir ihnen
helfen müssen.

Zweitens. Wir wollen vor allem in dem Europa von
morgen einen Wettbewerb länderübergreifender Ent-
wicklungsräume haben. In diesem Wettbewerb soll die
Ostseeregion ganz weit vorne mitspielen und er soll es
den Menschen ermöglichen, ihr Können und ihr Wissen
mit einzubringen. Man muss beobachten, was dort oben
die Stärken sind. Der Handel in den IT- und Multime-
diabranchen ist in der Ostseeregion die Nummer eins und
in Europa führend. Der Ausbildungsstandard rund um das
Mare Balticum ist exzellent. Die Zusammenarbeit zwi-
schen den Universitäten – es wurde darauf hingewiesen –,
zwischen 300 wissenschaftlichen Einrichtungen ist so
gut, wie man es sich besser gar nicht vorstellen kann. Eine
Initiative „Wissensgesellschaft Ostsee“ wäre mehr als ein
reiner Jugendaustausch – so wichtig er auch ist –, etwas,
wo junge Menschen zusammentreffen können und ge-
meinsam ihr Können und Wissen austauschen können.

Drittens. Durch die Ostseezusammenarbeit muss ein
entscheidender Beitrag geleistet werden, die Beziehungen
der EU zu Russland zu stabilisieren. Das Prinzip „Stabi-
lität durch Kooperation“ ist hier greifbar. Das Prinzip der
„Northern Dimension“, so wie es die Finnen formuliert
haben, ist von uns aufgegriffen worden. Die Finnen hat-
ten genau das im Blick, was hier vorhin kritisiert worden
ist, nämlich den Menschen von Region zu Region in ganz
konkreten kleinen Beispielen zu zeigen, was es bedeutet,
wenn man zusammenarbeitet, anstatt nur Sonntagsreden
zu halten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben uns zusammen mit Mecklenburg und Ham-
burg bereit erklärt, solche Aufgaben zu übernehmen. Ich
kann Ihnen wirklich sagen, Kaliningrad ist ein harter
Brocken, wenn man die Armut, das Elend, die Hilflosig-
keit dort sieht und natürlich die daraus resultierende Ver-
zweiflung der Menschen, ob überhaupt etwas verbessert
wird, nur weil man zur Ostseeregion gehört.

In einem Jahr werden wir es nicht schaffen, die Aufga-
ben zu Ende zu führen, weil sie viel zu lange liegen ge-
blieben sind. Aber die richtigen Weichen müssen jetzt ge-
stellt werden. Ich habe das Gefühl, als ob sowohl der
Außenminister als auch die Regierung von Gerhard
Schröder insgesamt langsam, aber sicher den Blick auch
einmal nach Norden wenden und den Menschen dort das
Gefühl geben, dass sie nicht in einer Randlage leben, son-
dern sich mitten im wichtigsten Geschehen befinden, was
das Zusammenwachsen Europas angeht.

Die schleswig-holsteinische Landesregierung wird je-
denfalls ab dem 1. Juli 2000 die Koordination der nord-
deutschen Länder in der Ostseezusammenarbeit überneh-
men und als fairer Partner zwischen den Ländern und der
Bundesregierung auftreten. Sie wird nicht nur für uns sel-
ber reden, sondern für die gesamte Region.

Für die Zukunft der Ostseeregion ist es jedenfalls ent-
scheidend, ob es uns gelingt, sie als eine dynamische und
wettbewerbsfähige Großregion in Konkurrenz zu anderen

Großregionen der Europäischen Union zu etablieren und
ihr das Selbstbewusstsein zu geben, dass alle gefordert
sind und wir ohne sie keinen Schritt weiterkommen. Ju-
gendbegegnungen gehören genauso dazu wie wissen-
schaftlicher Austausch, wie Ars Baltica, wie Jazz Baltica,
wie die Teilnahme am schleswig-holsteinischen oder am
mecklenburgischen Musikfestival. Ich will dabei nicht
nur uns loben: andere machen genauso viel.

Die Glaubwürdigkeit resultiert jedenfalls daraus, dass
die Menschen das Gefühl haben, dabei zu sein. Die Hilfe
bei den wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die es zu über-
winden gilt – die Hilfe wird zum Beispiel durch die Lan-
desbanken geleistet, durch die Norddeutsche Landesbank
genauso wie durch die Schleswig-Holsteinische Landes-
bank –, ist manchmal mehr wert als manche Aufforde-
rung, wir müssten etwas tun. Wenn vor Ort jemand ist, der
bereit ist, Geld zu investieren, stärkt das das Selbstver-
trauen der Menschen mehr als manches andere.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dies kann die Bundesregierung während ihres ein-
jährigen Vorsitzes im Ostseerat aufbauen. Ich wünsche ihr
dabei viel Erfolg und wünsche der gesamten Region die
Aufmerksamkeit, die sie verdient hat und die ihr so lange
vorenthalten worden ist.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411116100
Das Wort
hat nun der stellvertretende Ministerpräsident und Minis-
ter für Arbeit und Bau des Landes Mecklenburg-Vorpom-
mern, Herr Helmut Holter.


(Mecklenburg-Vorpommern)

deutschen Vereinigung vor zehn Jahren und den Refor-
men in Mittel- und Osteuropa hat die Ostsee als Wirt-
schafts- und Kulturraum gewonnen. Wir „Südschweden“
in Mecklenburg-Vorpommern sind mittendrin. Das ist
nicht zuletzt ein Grund dafür, dass wir sehr gern im Auf-
trag des Bundes den Vorsitz im Ausschuss für Raument-
wicklung im Ostseerat übernommen haben.

Für die Mitwirkung Mecklenburg-Vorpommerns am
Zusammenwachsen bilden traditionelle Verbindungen
mit den skandinavischen und baltischen Staaten sowie mit
Polen gute Voraussetzungen. Als Bindeglied zwischen
West und Ost sowie als Tor zum Norden kann und will das
Land die Herausforderungen annehmen und zur partner-
schaftlichen Entwicklung beitragen. Gerade für Ost-
deutsche lassen sich hier Arbeitsfelder erschließen, zumal
wir uns mit unseren Kenntnissen der russischen Sprache
und Mentalität – „mnogie mojich zemljakow goworjat
porusski; das heißt auf Deutsch: viele meiner Landsleute
sprechen russisch – und unseren Erfahrungen ganz kon-
kret einbringen können.

In Ergänzung zu dem, was bisher schon gesagt wurde:
Es ist schon viel passiert und wir bemühen uns intensiv




Ministerpräsidentin Heide Simonis (Schleswig-Holstein)

10512


(C)



(D)



(A)



(B)


um eine engere Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn,
so zum Beispiel bei den Biotechnologien. Mit dem schwe-
dischen Medicon Valley sind Vereinbarungen getroffen
worden. Es gibt bei uns einen Initiativkreis, der die Grün-
dung eines Biocon Valley in Mecklenburg-Vorpommern
vorbereitet.

In der Tourismusbranche boomt es. 1999 besuchten ein
Drittel mehr Schweden, nämlich fast 32 Prozent, und ein
Fünftel mehr Dänen, nämlich 18,2 Prozent, als im Vorjahr
Mecklenburg-Vorpommern. Falls jemand von Ihnen Seg-
ler ist, habe ich auch hier eine gute Kunde. Wir weben im
Rahmen von EU-Programmen an einem Netz von Sport-
boothäfen, das von Westen bis Osten rund um die Ost-
see – und übrigens auch bis nach Berlin – reicht. Seien Sie
herzlich willkommen an Bord, meinetwegen auch online.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Es stehen ganz neue Projekte ins Haus. Geplant ist eine
Gaspipeline von Nordwestrussland über Südwestfinnland
durch die Ostsee nach Greifswald/Lubmin in Vorpom-
mern. Von diesem Projekt erhoffen wir uns Jobs und Im-
pulse für wirtschaftliche Entwicklung zusammen mit
Russland, das für uns der wichtigste Handelspartner im
Ostseeraum ist.

Wie Sie vielleicht wissen, planen wir auch die Ansied-
lung von Gaskraftwerken an einem ehemaligen Energie-
standort in Lubmin. Hierfür brauchen wir in der Tat die
Unterstützung der Bundesregierung, und zwar in stärke-
rem Maße als bei der missglückten Ansiedlung der Mon-
tagestätte des A3XX in Rostock-Laage.


(Beifall bei der PDS)

Hier ist eine Entscheidung auch hinsichtlich einer Befrei-
ung Mecklenburg-Vorpommerns von der Gassteuer not-
wendig. Wir brauchen gerade im vorpommerschen Raum
wirtschaftliche Entwicklung. Wer es ernst meint mit der
Chefsache Ost, muss dies auch praktizieren.


(Beifall bei der PDS)

Das Baltikum war in der Vergangenheit wiederholt ein

Krisengebiet. Es gibt Probleme und die europäische Di-
mension wird im 21. Jahrhundert diese Probleme beant-
worten müssen. Dazu brauchen wir nicht nur die Einbe-
ziehung Polens und der drei baltischen Staaten, sondern
auch Russland muss mit den Lösungen einverstanden
sein, die von uns gemeinsam gefunden werden müssen.
Auf der einen Seite funktioniert die Zusammenarbeit mit
den EU-Mitgliedstaaten sehr gut, auf der anderen Seite
gibt es ein paar Probleme, nämlich mit den Nichtmitglie-
dern und den potenziellen Beitrittskandidaten zur Euro-
päischen Union. Gemeinsam mit der Bundesregierung ar-
beitet unsere Landesregierung daran, diese Abstim-
mungsprobleme zu beseitigen. Trotzdem gibt es eine
Reihe von Aufgaben, die zu lösen sind. Ich möchte hier
drei nennen.

Erstens. Mit Blick auf die EU-Osterweiterung sollte
ein institutioneller Rahmen geschaffen werden. Ich
möchte Ihnen hier eine EU-Ostseekonferenz unter Ein-
beziehung aller Staaten der Region – Mitglieder der EU,

Nichtmitglieder und darunter auch die potenziellen Bei-
trittskandidaten – vorschlagen.


(Beifall bei der PDS)

Diese Zusammenarbeit vollzieht sich, wie Sie wissen, auf
verschiedenen Ebenen, aber wir müssen die parallel lau-
fenden Prozesse zusammenführen.

Zweitens – es klang schon an – ist es notwendig, das
von Finnland vorgelegte Konzept der nördlichen Dimen-
sion nun endlich umzusetzen. Dazu wird es Anfang Sep-
tember in Schwerin eine Konferenz geben.

Drittens müssen wir vor dem Beitritt Polens jetzt Vo-
raussetzungen schaffen. Das betrifft den Ausbau der In-
frastruktur im grenznahen Raum. Wir brauchen auch ein
Geflecht von Kooperationen. Deswegen ist es notwendig,
die Grenzförderung in den Mittelpunkt zu stellen und
den Vorschlag von Günter Verheugen tatsächlich in die
Tat umzusetzen.


(Beifall bei der PDS)

Wir legen als Partei Wert darauf, nicht nur die Vorzüge

der Wirtschaftsunion zu nutzen, sondern uns auch um die
Zukunft der Sozialunion Europas zu kümmern. Aus die-
sem Grunde ist es nach meiner Meinung notwendig, Wirt-
schafts- und Sozialunion rund um die Ostsee gleichbe-
rechtigt zusammen zu entwickeln.


(Beifall bei der PDS)

Hier kommt es darauf an, Ängste und Vorbehalte abzu-
bauen.

Die Menschen in der Region müssen darauf vertrauen
können, dass europäische Politik für sie gemacht wird.
Erst wenn sie davon überzeugt sind, dass die Ostsee ein
Meer des Friedens und der gleichberechtigten Zusam-
menarbeit ist, haben wir die Herausforderungen bestan-
den. Dann haben die Ostseekooperation und die Integra-
tion im Ostseeraum eine tatsächliche Chance.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411116200
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Johannes Pflug,
SPD-Fraktion.


Johannes Pflug (SPD):
Rede ID: ID1411116300
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Der 1992 gegründete Ost-
seerat war ja eine Antwort auf die neue politische Situa-
tion, die seit Ende der 80er-Jahre in Polen zu einer
demokratischen Regierung, in Deutschland zur Vereini-
gung, in den baltischen Staaten zur Unabhängigkeit und
auch zur Auflösung der Sowjetunion geführt hatte. Durch
diese Ereignisse hatte sich die politische Geographie des
Ostseeraumes grundlegend gewandelt mit völlig neuen
Chancen für eine verbesserte Zusammenarbeit der Ost-
seeanrainer.

Der Ostseerat ist eine politische Organisation, die sich
zum Ziel gesetzt hat, die Folgen der Teilung Europas zu
überwinden und Russland in die europäische Entwick-
lung einzubeziehen. In ihm arbeiten sehr unterschiedliche





Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411116400


10513


(C)



(D)



(A)



(B)


Anrainerstaaten zusammen: EU-Mitglieder, EU-Kandi-
daten wie Polen und die baltischen Staaten, westliche
Nicht-EU-Mitglieder wie Norwegen und Island sowie
Russland, als ein Land, das stärker einbezogen werden
sollte in die Kooperation als Ostseeland, vor allen Dingen
auch wegen seiner Gebiete St. Petersburg und Kalinin-
grad.

Wir begrüßen den nüchternen, unspektakulären Prag-
matismus, der die Arbeit des Ostseerates kennzeichnet. Er
gibt Empfehlungen zur Verbesserung der wirtschaftlichen
Zusammenarbeit in der Ostseeregion, zum Abbau von
Handelshemmnissen, zur Beschleunigung der Zollabfer-
tigung, zur Unterstützung demokratischer Institutionen,
zur Erleichterung des Übergangs von der Plan- zur
Marktwirtschaft, zur Förderung des Umweltschutzes und
der nuklearen Sicherheit und zu vielen anderen prakti-
schen Kooperationsbereichen.

Der Ostseerat versteht sich nicht als ein direktes
Durchsetzungsinstrument für operatives Handeln und ist
insofern auch nicht vergleichbar mit der Europäischen
Union oder der OSZE. Die Umsetzung seiner Empfeh-
lungen und seiner Aktionspläne liegt in der Hand der Mit-
gliedstaaten. Aber er ist ein Rat- und Impulsgeber, ein Fo-
rum für den Austausch von Gedanken und ein Förderer
von Kooperation, wo Integration noch nicht möglich ist.

An dieser Stelle unterscheidet sich auch der Antrag der
CDU/CSU-Fraktion von dem der Regierungskoalitionen.
Die CDU/CSU-Fraktion fordert von der Bundesregierung
in ihrem Katalog, noch in diesem Jahr ein ostseespezifi-
sches Leitbild und einen Zielkatalog vorzulegen. Sie for-
dert sogar einen Zeitplan zum Aktionsprogramm der
Agenda 21.

Herr Kollege Koppelin, wenn Sie vorhin bemängelt
haben, dass die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion
noch nicht beantwortet wurde,


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Auch unsere nicht!)

liegt das möglicherweise daran, dass Abstimmungspro-
bleme zwischen der neuen und der alten Bundesregierung
vorhanden sind. Ich habe mit großem Interesse die Frage
61 in der Großen Anfrage der CDU/CSU-Fraktion vom
1. Dezember letzten Jahres gelesen. Da heißt es: „Was hat
die Bundesregierung im Zeitraum von 1989 bis 1999 un-
ternommen, um einer Zunahme der Migration präventiv
entgegenzuwirken?“ Nach meiner Erinnerung war die
neue Bundesregierung 1999 gerade ein Jahr im Amt. Es
scheint wohl so zu sein, dass die alte Bundesregierung be-
urteilt werden soll durch die neue.


(Heiterkeit bei der SPD)

Ich möchte zum Antrag der CDU/CSU zurückkom-

men. Ich glaube, dass alles, was Sie dort fordern, eine
Nummer zu groß ist. Es missachtet die Tatsache, dass wir
es beim Ostseerat mit einem multinationalen Gremium zu
tun haben, dessen Aktivitäten nicht von einem Mitglieds-
land allein definiert werden können. Aufgabe des Vorsit-
zes im Ostseerat ist es, zu koordinieren und die Konsens-
findung zu erleichtern und nicht die Entscheidungen an
sich zu reißen. Die CDU/CSU sollte deshalb nicht so tun,
als hätte die neue Bundesregierung durch den Koalitions-
vertrag oder durch Regierungserklärungen, so wie es ge-

fordert wird, die Entwicklung der Ostseeregierung domi-
nieren können.

Der Ostseerat, dem auch die EU-Kommission als Mit-
glied angehört, hat in den vergangenen Jahren dazu bei-
getragen, die drei baltischen Staaten und Polen an die EU
heranzuführen. Heute ist die Einbindung Russlands in
die Ostseezusammenarbeit ein besonderer Schwerpunkt.
Seit dem Beitritt Finnlands im Jahre 1995 hat die EU eine
über 1 300 Kilometer lange Grenze mit Russland, die mit
der Aufnahme der Beitrittskandidaten natürlich noch län-
ger wird. Sie betrifft unmittelbar den Ostseeraum. Umso
wichtiger wird es sein, zu verhindern, dass Russland hier-
durch von der europäischen Entwicklung abgeschnitten
wird.

Der Ostseerat, der Russland einbezieht, ist ein relevan-
ter werdendes Gremium, um Russland die Zusammenar-
beit mit der EU zu erleichtern. Die Europäische Union hat
mit ihrer Initiative für eine so genannte nördliche Dimen-
sion damit begonnen, ihre Politik gegenüber Russland
weiterzuentwickeln. Wir benötigen darüber hinaus auch
Strukturen, in denen Russland unmittelbar mitarbeitet.
Hier kann der Ostseerat eine wichtige Rolle spielen.

Ein potenziell krisenträchtiger Aspekt im Zusammen-
leben der Ostseeanrainer ist das große Wohlstandsge-
fälle, insbesondere zwischen Russland und den heutigen
EU-Ländern. Armut und Reichtum liegen in der Ostsee-
region näher beisammen als in den meisten anderen Re-
gionen der Welt. Das Pro-Kopf-Einkommen der Finnen
ist beispielsweise zehnmal höher als das auf der russi-
schen Seite der Grenze und die wirtschaftliche Entwick-
lung in Kaliningrad verlief noch schlechter als im 400 Ki-
lometer entfernten Hauptland. Das muss nicht, aber das
kann durchaus zum Ausgangspunkt von zwischenstaatli-
chen Konflikten werden. Hier kann Krisenvorbeugung
genau an die Kultur kooperativen Handelns im Ostsee-
raum anknüpfen.

Der Antrag der Koalitionsfraktionen verfolgt das Ziel,
den Ostseerat und die Ostseekooperation zu stärken.
Deutschland wird ab dem 1. Juli 2000 den Vorsitz im
Ostseerat übernehmen. Meine Fraktion möchte die Bun-
desregierung ermutigen, ihren Vorsitz im Ostseerat aktiv,
insbesondere für die Zusammenarbeit mit Russland, zu
nutzen. Es gehört zur Politik einer bewussten Krisenprä-
vention, Gelder nicht nur in die Regionen zu lenken, die
nicht selbst für Stabilität sorgen können. Vielmehr sind
Gelder zur Krisenpräventionen gerade auch dort gut in-
vestiert, wo die Bereitschaft zur regionalen Stabilisierung
bereits besteht. Der Ostseeraum ist eine solche Region
und hat deswegen eine breite Unterstützung verdient.

Ich bitte den Deutschen Bundestag, dem Antrag der
Koalitionsfraktionen zur Ostseezusammenarbeit zuzu-
stimmen.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411116500
Herr Kol-
lege Pflug, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede in
diesem Hause. Vielen Dank.


(Beifall)

Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Paul Krüger

von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.




Johannes Pflug
10514


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Paul Krüger (CDU):
Rede ID: ID1411116600
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die An-
träge, über die wir heute diskutieren, weisen eine große
Übereinstimmung auf. Deswegen ist die Debatte auch
nicht sehr kontrovers. Die Anträge beinhalten im Wesent-
lichen deutliche Aufforderungen an die Bundesregierung
zur Stärkung der Ostseeregion im Zusammenhang mit der
europäischen Integration der Oststaaten. Interessant ist al-
lerdings, dass auch in dem Koalitionsantrag, also im An-
trag des Bündnisses 90/Die Grünen und der SPD, die
Bundesregierung aufgefordert wird, hier aktiv zu werden.
Das ist in der Tat ein interessanter Vorgang.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Man fragt sich: Warum ist das so? Es ist so, weil die Bun-
desregierung – das wurde hier schon gesagt – offensicht-
lich zu inaktiv ist. Man könnte auch sagen: Sie schläft an
dieser Stelle.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wenn man sich die Anträge, die Gott sei Dank im We-

sentlichen übereinstimmen, genau anschaut, dann stellt
man fest, dass zuerst die CDU/CSU eine Große Anfrage
gestellt hat. Dann kam der Antrag der CDU/CSU. Erst we-
sentlich später folgten alle weiteren Anträge, die heute
vorliegen.
Man könnte annehmen, dass sie bei der CDU abgeschrie-
ben worden sind. Das ist gar nicht so wichtig. In meinen
Augen ist es wichtig, dass wir alle in dieser Frage die glei-
che Intention haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Mit der angestrebten Integration weiterer osteuropä-

ischer Staaten wird Europa nicht nur östlicher, sondern
vor allem nördlicher, man könnte auch sagen: baltischer.
Die EU-Mitglieder Nordosteuropas sind dann ausschließ-
lich Ostseeanrainerstaaten. Berlin – 200 Kilometer von
der Ostsee entfernt – rückt vom Rand in die Mitte Euro-
pas; damit ergibt sich auch für die Ostsee eine neue Di-
mension der Betrachtung. In der Tat besteht damit Hoff-
nung auf mehr Zuwendung für diese Region durch die
Bundesregierung. Bisher war diese Hoffnung leider ver-
geblich.

Die Differenzen in der Entwicklung zwischen den
westlichen EU-Mitgliedern und den designierten neuen
Staaten sind enorm. Wolfgang Börnsen hat darauf ein-
drücklich hingewiesen. Man könnte von einer faktisch
noch vorhandenen Ost-West-Trennung sprechen. Deshalb
bleiben Anstrengungen zur Angleichung langfristig not-
wendig. Insbesondere wenn man auf die Entwicklung der
Angleichung der Verhältnisse in den alten und in den
neuen Bundesländern schaut, dann weiß man, dass der
Weg ein sehr langer sein wird. Die Ostsee könnte als Bin-
deglied zwischen den Mitglied- und den Nichtmitglied-
staaten fungieren, um diesen Prozess zu beschleunigen.

Darüber hinaus besteht – auch das ist heute schon ge-
sagt worden – die Möglichkeit, Russlandmit der Enklave
Königsberg und mit Sankt Petersburg einzubinden. Gege-
bene Voraussetzungen für diesen möglichen Prozess sind
dabei die zum Teil schon seit langer Zeit bestehenden Bin-

dungen und auch die gemeinsamen Interessen aller Ost-
seeanrainerstaaten. Ich denke an die gemeinsame Historie
und an die gemeinsame Kultur. Die Hanse ist heute er-
wähnt worden. Zeichen für diese Zusammengehörigkeit
sind auch die nordeuropäische Backsteingotik und viele
andere Bereiche.

Die Ostsee ist ein gemeinsamer Lebensraum und
eine gemeinsame Lebensgrundlage. Ich denke an Schiff-
bau, Schifffahrt, Fischerei, Tourismus und viele andere
Gebiete. Es gibt gemeinsame ökologische Interessen; es
geht um eine nachhaltige Bewirtschaftung der Ostsee, um
Meeresverschmutzung, um ein gemeinsames Handeln im
Falle von Ölkatastrophen und bei Fällen von Seenot, um
eine gemeinsame Katastrophen-, Bergungs- und Rettungs-
technik und um viele andere Felder der Zusammenarbeit.
Nicht zuletzt – auch das ist hier angesprochen worden –
geht es um gemeinsame Sicherheitsinteressen bei der
Bekämpfung der organisierten Kriminalität, bei der ille-
galen Einwanderung und auch bei der Bekämpfung von
Zoll- und Wettbewerbsverstößen.

Der Ostseerat mit seinen elf Mitgliedsländern hat in
den letzten Jahren erste wichtige Schritte der notwendi-
gen Zusammenarbeit eingeleitet. Deutschland wird in we-
nigen Tagen die Präsidentschaft übernehmen. Wenn man
von Deutschland in der Vergangenheit eine Schrittma-
cherrolle im europäischen Einigungsprozess gewohnt
war, dann teilt man sicherlich die Auffassung, dass von
der deutschen Präsidentschaft wichtige Impulse für die
Entwicklung der Ostseeregion ausgehen sollten. Der Um-
stand, dass heute von fast allen Fraktionen Anträge als
Handlungsaufforderung gegenüber der Bundesregierung
gestellt worden sind, beweist eigentlich, dass die Bundes-
regierung auf diesem Gebiet nicht aktiv geworden ist.

Dabei geht es vordergründig nicht um die Schaffung
einer Ostseeidentität, wie sie im Koalitionsantrag gefor-
dert wird. Bei der auch für die Zukunft gewollten kultu-
rellen Vielfalt der europäischen Regionen geht es viel-
mehr darum, die enormen Entwicklungspotenziale der
Ostseeregion zur Entfaltung zu bringen. Das betrifft zual-
lererst die wirtschaftliche Entwicklung und sollte, ausge-
hend von den Erfahrungen der neuen Bundesländer, nicht
ausschließlich als eine Frage der finanziellen Unterstüt-
zung gesehen werden. Es geht um Fragen der politischen
Stabilisierung, des Abbaus von Handelsschranken, der
Organisation von Bildungsprozessen, des Jugendaustau-
sches und nicht zuletzt des Innovationstransfers bzw. des
Innovationsmanagements.

Bei der Aus- und Weiterbildung gilt es dabei vor allem,
im Rahmen einer stärkeren Vernetzung wesentlich mehr
Flexibilität, mehr Praxisbezug und auch mehr privatwirt-
schaftliches Engagement zu nutzen. Darüber hinaus bleibt
der weitere Ausbau der Infrastruktur, insbesondere im Be-
reich der Kommunikation und der Verkehrswege, die
Kernfrage der wirtschaftlichen Entwicklung. Darüber
sollten wir uns Klarheit verschaffen.

Dass hierbei intelligente Lösungen im Rahmen der
transeuropäischen Netze zu finden sein werden, ist selbst-
verständlich. Zentrale Bedeutung kommt dabei aus mei-
ner Sicht der schnellen Realisierung der so genannten






(C)



(D)



(A)



(B)


Baltikautobahn zu, die die industriellen Ballungszentren
Mitteleuropas mit der Nordostregion des Ostseeraumes
verbinden soll. Damit kann die Voraussetzung für eine ge-
deihliche wirtschaftliche Entwicklung geschaffen wer-
den.

Viele intelligente Schritte bis hin zu einer gemeinsa-
men touristischen Vermarktung werden notwendig sein,
um wirtschaftlich deutlich voranzukommen. Leider sind
diese Schritte bis heute nicht erkennbar. Die Bundesre-
gierung arbeitet hier ohne erkennbares Konzept und ohne
erkennbare Initiative. Sie verpasst damit nicht nur wich-
tige Chancen im europäischen Einigungsprozess bezüg-
lich der Osterweiterung, sondern vor allem auch Mög-
lichkeiten der Entwicklung in den Ostseeregionen
Deutschlands, so etwa in meinem Heimatland Mecklen-
burg-Vorpommern, und damit ganz Deutschlands.

Deshalb brauchen wir eine gemeinsame Ostsee-Offen-
sive, wie wir sie mit unserem Antrag vorschlagen, und de-
ren aktive Umsetzung durch die Bundesregierung. Herr
Schröder und Herr Fischer, folgen Sie unseren Anträgen,
und warten Sie nicht weiter zu! Werden Sie endlich aktiv!

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411116700
Als letz-
ter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt
Staatsminister Dr. Christoph Zöpel das Wort.

D
Dr. Christoph Zöpel (SPD):
Rede ID: ID1411116800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu den
Anmerkungen der Opposition in Kürze Folgendes:

Erstens. Ein guter Außenminister hat gute Staatsminis-
ter. Einer von beiden ist hier. Das entspricht der Lage.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Was ist mit einem schlechten Außenminister? – Zuruf von der CDU/CSU: Eigenlob stinkt!)


– Auch ein schlechter Außenminister kann gute Staatsmi-
nister haben, aber der hier ist gut.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Zweitens. Auch lange Anfragen werden von uns sorg-
fältig beantwortet. Es gilt das Prinzip „Genauigkeit vor
Schnelligkeit“.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Aber nicht sieben Monate!)


Drittens. Jede Anregung aus dem Parlament, die der
Politik der Bundesregierung hilft, wird von uns begrüßt,
in diesem Fall etwas stärker der Antrag der Koalitions-
fraktionen als Ihr Antrag, der aber auch in vielen Punkten
sehr in Ordnung ist.

Viertens. Zu unserer konkreten Politik:

Erstens die Ostseepolitik: Die bilateralen Beziehungen
zu vier Staatengruppen, zu drei EU-Mitgliedstaaten, vor
allem zu Schweden, sind exzellent. Es gibt gemeinsame
Initiativen in der nichtmilitärischen Sicherheitspolitik.

Zweitens die Beziehungen zu vier Beitrittsstaaten: Wir
tun alles, damit diese so schnell wie möglich beitreten
können. Wir ersparen ihnen aber Beitrittsdaten, die nicht
eingehalten werden. Das war das Prinzip Kohl.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Drittens die Beziehungen zu Ländern, die nicht beitre-
ten wollen: Zu Norwegen und Island bestehen exzellente
Beziehungen, vor allem zu Norwegen im Rahmen der in-
ternationalen Friedenspolitik.

Viertens die Beziehungen zu Russland: Der Putin-Be-
such hat gezeigt, dass sich die Kooperation mit Russland
auf einem neuen, hervorragenden Niveau befindet.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU)


Bilaterale Beziehungen können am besten durch die EU
gebündelt werden. Auf Initiative Finnlands ist die nördli-
che Dimension auf den Weg gebracht worden. In der letz-
ten Sitzung des Ministerrats in Luxemburg hat die EU die
gemeinsame Dimension, die nördliche Dimension, verab-
schiedet.

Folgerungen daraus:
Aufgabe des Ostseerats: die nördliche Dimension im-

plementieren. Das ist die Hauptaufgabe des deutschen
Vorsitzes. Am Ende des deutschen Vorsitzes, der ja noch
gar nicht angefangen hat, sondern erst übermorgen be-
ginnt, wird die nördliche Dimension implementiert sein.
Dazu gehören drei große Aktionspläne,


(Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Einer würde uns schon reichen!)


die nicht das größte Land allein entwirft, wie es Ihren For-
derungen entspräche, weil die Großen die anderen nicht
bevormunden sollen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir werden diese Pläne also gemeinsam mit den kleinen
Ländern der Union entwerfen. Die Pläne gelten drei Di-
mensionen: erstens der Wirtschaft, zweitens der Ökolo-
gie, drittens der Wissenschaft. In zwölf Monaten sind wir
weiter.

Noch eines gilt: Es hat gar keinen Zweck, darüber zu
diskutieren, was wichtiger ist, staatliche Politik oder zi-
vile Gesellschaft. Wir wollen, dass staatliche Politik und
zivile Gesellschaft auch im Ostseeraum vernetzt werden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)

In zwölf Monaten wird das alles noch besser aussehen als
heute.

Danke für alle Anregungen.

(Heiterkeit und Beifall und bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)





Dr.-Ing. Paul Krüger
10516


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411116900
Ich
schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung des Antrags der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/3293 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem
Titel „Die Chancen der Ostseekooperation nutzen“ auf
Drucksache 14/3587. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die
Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P. angenommen.

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „Für eine kohärente Ost-
seepolitik“ auf Drucksache 14/3675. Wer stimmt dafür? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS abgelehnt.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Forsten (10. Ausschuss) zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur
Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1251/1999
zur Einführung einer Stützungsregelung für
Erzeuger bestimmter landwirtschaftlicherKul-
turpflanzen zur Einbeziehung von Faserflachs
und -hanf
Vorschlag für eine Verordnung des Rates über
die gemeinsame Marktorganisation für Faser-
flachs und -hanf
– Drucksachen 14/2747 Nr. 2.54, 14/3415 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Klaus Rose

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Waltraud Wolff von der SPD-Fraktion das Wort.


Waltraud Wolff (SPD):
Rede ID: ID1411117000
Sehr geehrter Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Hanf und Flachs
sind zurzeit nicht nur in Fachkreisen Gesprächsthema,
sondern in aller Munde. Bis vor den Zweiten Weltkrieg
hatten diese Kulturpflanzen eine große Bedeutung, unter
anderem auch als Lieferanten wertvoller Spinnfasern.
Nun haben sie aufgrund ihrer Wiederentdeckung und der
vielfältigen Einsatzmöglichkeiten ihrer Fasern ein tolles
Comeback gefeiert, in Deutschland leider erst nach 1996.
Das soll uns jetzt auf die Füße fallen? Ich selber habe in
der letzten Woche das Hanfhaus hier in Berlin-Kreuzberg
besucht und habe auch interessante Gespräche zu diesem
Thema geführt.

Die EU versprach sich von diesen Kulturpflanzen auch
die Erschließung neuer Märkte und räumte ihren Mit-
gliedstaaten zum Aufbau Fördermöglichkeiten ein, die
dann in einer Verordnung festgehalten wurden. Entschei-
dende Rahmenbedingungen dieser Verordnung sollen
nun verändert werden. Das geschieht an Stellen, meine
Damen und Herren, die uns in Deutschland vor fast un-
lösbare Probleme stellen.

Vorausschicken will ich, dass Deutschland an einer Re-
form der gemeinsamen Marktordnung für Hanf und
Flachs, die längst überfällig war, interessiert ist, denn
Haushaltsbegrenzungen sind dringend erforderlich – das
sehen wir ein.

Die bisherige Regelung hatte den entscheidenden Ha-
ken, dass sich in Windeseile herumgesprochen hat, wie
gut man eigentlich beim Hanfanbau verdienen kann, und
der Prämienabfang florierte prächtig. Ich sage das nicht
aus der hohlen Hand; vielmehr kann man das sehr genau
beobachten: Man schaue sich nur einmal an, in welcher
Größenordnung der Hanfanbau in einigen wenigen Län-
dern zunahm und wie sich daneben deren industrielle
Verarbeitungsmöglichkeiten entwickelt haben. Grob ein-
geschätzt kann ich sagen, dass viele Tausend Tonnen in
Europa einfach für die Halde produziert wurden. Diese
Praxis kann natürlich nicht weitergeführt werden, denn
diese Art von Subventionierung war nicht geplant.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Marita Sehn [F.D.P.])


Der EU-Haushalt für Hanf und Flachs ist innerhalb der
letzten fünf Jahre von 74 Millionen auf 123,6 Millionen
Euro in die Höhe geschnellt. Die Ausbreitung des Anbaus
in der EU allein zum Zwecke des Prämienabfangs ist
unredlich. Das ist auch erkannt worden. Der Produktion
stand, wie ich vorher schon sagte, in einigen Ländern
nicht die entsprechende industrielle Verarbeitungska-
pazität gegenüber. Deshalb sind wir der Meinung, dass
man an dieser Stelle auch vonseiten der EU handeln muss.
Der Anbau von Kulturen, das Abkassieren der Prämien
und die Vernichtung der Erntemengen sind Zeichen dafür,
dass die Regelungen schlecht sind und in die falsche Rich-
tung gehen.

Wie ist nun aber die Situation in Deutschland? Hier
bei uns ist der Hanfanbau erst 1996 wieder genehmigt
worden. Seitdem hat sich vorsichtig ein Markt entwickelt.
Im letzten Jahr stieg die Anbaufläche für Hanf auf über
3 900 Hektar an. Die Gesamtanbaufläche von Kurz- und
Langfaserflachs sowie Hanf betrug in Deutschland im
letzten Jahr insgesamt schon 4 500 Hektar. Auf die Pro-
duktionsmenge umgerechnet ergibt das circa 6 600 Ton-
nen Fasern. Diese Produktion – darauf möchte ich auf-
merksam machen, das finde ich wirklich toll – wurde von
der heimischen Industrie auch verarbeitet.

Mit Ideenreichtum und Kreativität wurde der industri-
elle Einsatz begonnen, zum Beispiel in der Autoindustrie,
bei der Herstellung von Dämmstoffen, in der Beklei-
dungs-, Lebensmittel- und Kosmetikindustrie. Das ist po-
sitiv. Aber zurzeit ist es so, dass die Verarbeiter zum Bei-
spiel auch im Bereich Bekleidung noch immer Hanf aus
China oder aus anderen Ländern einführen müssen, weil






(C)



(D)



(A)



(B)


die Maschinen für die Feinstzerfaserung hier noch fehlen.
Wer möchte in Deutschland schon in Maschinen investie-
ren, von denen er morgen nicht mehr weiß, ob er sie wirk-
lich verwenden kann?

Die Anbauerwartungen der heimischen Verarbeitungs-
industrie wären eigentlich stark steigend – eigentlich;
denn die Kommission hat ungeachtet aller Marktentwick-
lungen vorgeschlagen, die diesjährige deutsche Anbau-
menge in Höhe von 6 600 Tonnen als Ausgangsbasis für
die garantierte einzelstaatliche Höchstmenge in Deutsch-
land zugrunde zu legen.

Als EU-Kommissar Fischler bei seinem Berlin-Besuch
kurz in unserem Ausschuss war, befragte ich ihn nach
Sonderregelungen für Deutschland, erhielt aber keine
Antwort, sondern bekam abschweifend die Besonderhei-
ten des Anbaus erläutert. Ich glaube, er wusste schon ganz
genau, warum. Unsere Aufgabe muss es sein, den EU-Ab-
geordneten und der Kommission nochmals deutlich zu
machen, dass dem Anbau von Hanf und Flachs in
Deutschland der Aufbau der weiterverarbeitenden Indu-
strie folgte, anders als in manch anderen europäischen
Staaten.

Gerade in strukturschwachen Gebieten siedelte sich
die Nachfolgeindustrie an. Ganz besonders in den neuen
Bundesländern hat man eine große Chance hierin gese-
hen. Weil sich dieser Zweig in Deutschland so gut ent-
wickelt hat und auch politisch gewollt war, war klar, dass
er gefördert werden muss. Mittel in Höhe von circa 66,6
Millionen DM wurden bereits investiert, davon zum
Teil – man höre und staune – circa 75 Prozent Fördermit-
tel aus der EU, vom Bund und von den Ländern. Wir wol-
len immer noch, dass diese Förderung auf die Erweiterung
des Marktes abzielt. Das sehen Bund und Länder einver-
nehmlich.

Man kann sich nur wundern, dass die EU bereitwillig
Fördermittel vergibt, um einen neuen Markt aufzubauen,
und dass nun genau dieser Markt und damit die getätigten
Investitionen wieder bedroht sind, weil andere Länder
Missbrauch betreiben. Warum hat Herr Fischler dazu
nicht Stellung bezogen? Mir hat seine Antwort nicht aus-
gereicht und ich habe mich noch einmal schriftlich an ihn
gewandt. Aber die Antwort, die vorgestern bei mir eintraf,
war mehr als dürftig. Entweder weiß er über die besonde-
ren deutschen Verhältnisse nicht Bescheid oder er will sie
gar nicht kennen.

Der Markt muss aus seinem Nischendasein heraus-
wachsen; denn nur so kann die Produktion auf Dauer ren-
tabel werden,


(Beifall des Abg. Matthias Weisheit [SPD])

denn nur so können die Betriebe lernen, auf eigenen Bei-
nen zu stehen. Die 14 Betriebe, die es im Moment in
Deutschland schon gibt, haben für die Zukunft geplant,
weil sie nämlich auf den Rohstoff Hanf gesetzt haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie haben Kapazitäten von insgesamt 18 000 Tonnen
Hanf- und Flachsfasern. Vier weitere Unternehmen wer-
den derzeit errichtet. Der Aufbau dieser Betriebe ist nicht
mehr zu stoppen.

Auch hier ist der finanzielle Einsatz beachtlich. Circa
23,6 Millionen DM wurden investiert; weitere 80,5 Milli-
onen DM sind geplant. Die neuen Unternehmen werden
9 000 Tonnen Fasern verarbeiten können. Es ergibt sich
also in der Zukunft eine Verarbeitungskapazität von
27 000 Tonnen Hanf- und Flachsfasern: 6 600 Tonnen, die
genehmigt werden sollen, und 27 000Tonnen, die geplant
sind. Wie soll das aufgefangen werden? Ich glaube, hier
brauchen wir einen Kompromiss.


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Wir wollen keinen faulen Kompromiss!)


Aber nicht nur die verarbeitende Industrie ist betroffen.
Auch Erzeuger haben unter diesen Plänen zu leiden.
Als sehr schwer wiegend empfinde ich den Umstand,
dass keine Planungssicherheit gegeben werden kann.
Während die Verhandlungen in Brüssel laufen, warten die
Bauern und Landwirte auf ein Signal. Es fragt sich nur,
auf welches.

Wie werden die Flächenbegrenzungen für die folgen-
den Wirtschaftsjahre aussehen? Wie hoch wird im nächs-
ten Jahr die tatsächliche Flächenbeihilfe ausfallen? Es
kann doch nicht sein, dass die Landwirte erst nach der
Aussaat erfahren, unter welchen Bedingungen sie produ-
zieren müssen.

Am 3. Juli wird in Brüssel eine Sondersitzung des
Agrarausschusses stattfinden. Sollte man dort zu einer Ei-
nigung kommen, was ich hoffe, so kann trotzdem nicht
mit einer abschließenden Entscheidung vor der nächsten
Sitzung des Agrarrates gerechnet werden. Diese findet im
Übrigen erst Mitte Juli statt.

Meine Damen und Herren, aus internen Brüsseler
Kreisen verlautet, dass die Kommission für den 3. Juli ei-
nen neuen Vorschlag einbringt. Es ist geplant, die Höchst-
menge von 6 600 Tonnen für Deutschland auf vier Jahre
festzuschreiben


(Albert Deß [CDU/CSU]: Unseriös!)

und dann erneut zu beurteilen. Wenn das Wirklichkeit
wird, kann ich nur sagen: Gute Nacht, Marie. Erst sterben
lassen und dann vier Jahre später Gräber beweinen kom-
men. Das kann nicht sein. Deshalb mein Appell an
die EU-Abgeordneten – sie haben jetzt schon Flagge
gezeigt, indem sie keine Stellungnahme abgegeben ha-
ben –: Bleiben Sie dabei, auch für einen solchen mögli-
chen Vorschlag keine Stellungnahme abzugeben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dies ist nämlich kein Vorschlag, sondern es wäre ein
Todesurteil.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie hier im
Haus um ein einmütiges Votum zu unserem Antrag, so-
dass die EU-Abgeordneten von uns Rückenstärkung be-
kommen und gemeinsam mit uns für einen sehr jungen
Landwirtschafts- und Wirtschaftszweig in Deutschland
kämpfen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Waltraud Wolff (Zielitz)

10518


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411117100
Als
nächster Redner hat der Kollege Albert Deß von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Albert Deß (CSU):
Rede ID: ID1411117200
Herr Präsident! Meine lie-
ben Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich in das Thema
einsteige, möchte ich für die CDU/CSU-Fraktion dem
Bundeslandwirtschaftsminister die besten Genesungs-
wünsche übermitteln.


(Beifall)

Wir haben erfahren, dass er im Krankenhaus ist. Ebenso
möchte ich Staatssekretär Thalheim zum heutigen Ge-
burtstag gratulieren.


(Beifall)

Da wir schon bei Freundlichkeiten sind, möchte ich auch
den Staatsminister in der Bayerischen Staatsregierung,
Erwin Huber, recht herzlich begrüßen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Seine Anwesenheit zeigt, welchen Stellenwert die Bayeri-
sche Staatsregierung dem Thema nachwachsende Roh-
stoffe zumisst.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Vor-

schlag für eine Verordnung des Rates über die gemein-
same Marktorganisation für Faserflachs und -hanf ist mei-
ner Ansicht nach, wie dies von der Vorrednerin schon
angesprochen wurde, nicht hinnehmbar. Diese EU-Ver-
ordnung würde, wenn sie so umgesetzt würde, das zarte
Pflänzchen nachwachsende Rohstoffe in diesem Bereich
zerstören.


(Matthias Weisheit [SPD]: So ist es!)

Die Rahmenbedingungen, die für Deutschland mit

6 600 Tonnen vorgesehen sind, reichen in keiner Weise
aus, um die geplanten bzw. bereits gebauten Verarbei-
tungskapazitäten in Zukunft auszunutzen. Hier muss auch
ein gewisser Vertrauensschutz gegeben sein, wenn im
Hinblick auf die bisherige Rechtslage investiert wurde.
Deutschland darf nicht dafür bestraft werden, dass andere
EU-Länder diese Beihilfe missbrauchen. Ich bin mit dem
Deutschen Bauernverband einig, dass eine verursacher-
bezogene Sanktionierung zu erfolgen hat.

Der Aufbau einer ökologisch hochinteressanten Tech-
nologie wird hier im Keim erstickt. Ich habe in der vori-
gen Woche in meinem Heimatlandkreis Neumarkt einen
mittelständischen Jungunternehmer besucht, der intensiv
dabei ist, das Thema „Fahrzeugteile aus nachwachsenden
Rohstoffen“ voranzubringen. Für große Autofirmen in
Deutschland entwickelt er entsprechende Technologien.
Er hat mir gesagt, dass hier eine enorme Kapazität vor-
handen ist, um umweltfreundliche Materialien zu ver-
wenden, die später, wenn das Auto entsorgt werden muss,
umweltfreundlich entsorgt werden können.

Brüssel muss meiner Ansicht nach diesen Verord-
nungsentwurf zurücknehmen. Minister Funke hat die
Aufgabe, die deutschen Interessen in Brüssel umzusetzen,

um hier eine nachhaltige Entwicklung im Sinne der
Agenda 21 zu unterstützen. Deshalb hat die CDU/CSU-
Fraktion am 10. Mai in der Ausschusssitzung dem Antrag
der Regierungsfraktionen zugestimmt. Meine Sorge ist
nur, dass Minister Funke, wenn er aus Brüssel zurück-
kommt, ein für Deutschland unbefriedigendes Ergebnis
mit nach Hause bringt.

Der Anbau von Faserpflanzen ist zwar nur ein kleiner
Mosaikstein hinsichtlich der Wirkung nachwachsender
Rohstoffe, aber trotzdem hochinteressant mit Blick auf
den Abbau von Agrarüberschüssen durch nachwachsende
Rohstoffe. Gerade durch die Faserpflanzen ist ein absolut
umweltfreundlicher Rohstoffeinsatz möglich. Ich darf da-
ran erinnern, dass heute zum Beispiel Bremsbeläge mit
Inhaltsstoffen von Faserpflanzen hergestellt werden und
dadurch der Asbestzusatz überflüssig geworden ist. Hier
zeigt sich, wie umweltfreundlich nachwachsende Roh-
stoffe eingesetzt werden können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Deshalb ist es meiner Ansicht nach auch verantwortbar,
dass in diesem Bereich EU-Gelder eingesetzt werden.

Der Fehler der EU-Agrarförderung liegt jedoch
darin, dass es in der Agrarförderung 100 Prozent Mittel
aus Brüssel gibt und dadurch dem Missbrauch Tür und
Tor geöffnet ist. Es wäre notwendig gewesen, bei der
Agenda 2000 eine Kofinanzierung der Agrarpolitik zu er-
reichen, wie es die CSU, die CDU/CSU-Fraktion und ins-
besondere die Bayerische Staatsregierung mit Edmund
Stoiber an der Spitze gefordert haben. Kofinanzierung in
der Agrarpolitik bedeutet nämlich nationale Mitverant-
wortung. Damit wird auch der Missbrauch solcher Mittel
eingeschränkt.

Ich finde es deshalb unverantwortlich, dass die
Agenda 2000 ohne Kofinanzierung abgeschlossen wor-
den ist. Ich bin überzeugt, dass die Kofinanzierung der eu-
ropäischen Agrarpolitik eine Voraussetzung dafür ist, dass
die Osterweiterung überhaupt finanziert werden kann.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Diese Kofinanzierung wäre aber auch die Voraussetzung
dafür gewesen, in Europa eine bessere Agrarpolitik durch-
zusetzen, die mehr auf Mengenbegrenzung statt auf Welt-
marktagrarpreise setzt. Auf den Flächen, die dann für die
Agrarproduktion nicht benötigt werden, könnten nach-
wachsende Rohstoffe angebaut werden.

Wir würden insgesamt eine bessere Agrarpolitik errei-
chen, wenn man dem Thema nachwachsende Rohstoffe
auf europäischer Ebene mehr Beachtung schenken würde.
Wie Mengenbegrenzung am Markt funktioniert, machen
uns momentan die Ölscheichs eindrucksvoll vor. Genauso
würde Mengenbegrenzung in der Agrarpolitik funktionie-
ren. Wenn wir darauf setzen würden, wären wesentlich
weniger Gelder der Steuerzahler notwendig, und unsere
Landwirte könnten auf den Märkten wieder bessere Preise
für ihre Produkte erzielen.

Längerfristig sind in Europa 30 Millionen Hektar
Agrarfläche nicht für die Nahrungsmittelproduktion er-
forderlich. Es ist interessant, welche Energiemenge dort
erzeugt werden könnte. Wir können pro Hektar etwa 5 000




Albert Deß

10519


(C)



(D)



(A)



(B)


Kilogramm Heizöläquivalent ernten. Das kann man hoch-
rechnen: 5 Tonnen Heizöläquivalent pro Hektar mal
30 Millionen Hektar Agrarüberschussfläche ergeben im-
merhin 150 Millionen Tonnen Heizöläquivalent, die jähr-
lich als nachwachsende Rohstoffe auf diesen Agrarüber-
schussflächen angebaut werden könnten. Damit könnten
jährlich 300 Millionen Tonnen CO2 in Europa eingespartwerden. Dieser Weg muss in der Agrarpolitik beschritten
werden.

Man kann die Rechnung auch anders machen, um die-
ses Potenzial zu erkennen. Mir hat ein Energiewirtschaft-
ler gesagt, dass man pro Einwohner etwa 750 Kilogramm
Heizölenergie benötigt. Das bedeutet, wenn wir auf den
Agrarüberschussflächen 150 Millionen Tonnen Heizölä-
quivalent ernten könnten, könnten wir jährlich für
200 Millionen Einwohner in Europa Heizenergie erzeu-
gen. Das ist ein gewaltiges Potenzial. Insoweit wären wir
von den Ölscheichs dann nicht mehr erpressbar.

Der Einsatz nachwachsender Rohstoffe hätte eine po-
sitive Mehrfachwirkung: Einsparung fossiler Vorräte, Ab-
bau der Agrarüberschüsse, Entlastung der Agrarmärkte,
CO2-Einsparung, Arbeit für den ländlichen Raum. Diesalles ergäbe wieder Perspektiven für den bäuerlichen
Berufsstand, vor allem für unsere jungen Landwirte.

Hier kommt dann immer das Gegenargument, das
Ganze sei nicht finanzierbar. Schauen wir uns den Fi-
nanzrahmen dahin gehend an, ob dies nicht doch möglich
ist. Berechnungen ergeben, dass wir momentan für einen
wirtschaftlichen Einsatz von nachwachsenden Rohstoffen
bzw. Energien pro Hektar Anbaufläche im Durchschnitt
umgerechnet etwa 1 200DM benötigen würden. Wenn die
Ölpreise weiter steigen, brauchen wir in Zukunft pro Hek-
tar weniger.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Und die Ökosteuer!)


– Eine europaweite Ökosteuer in Form einer CO2-Abgabehätte Sinn. Ihr aber verwendet die Ökosteuer an ganz an-
derer Stelle und nicht für den besseren Einsatz von nach-
wachsenden Rohstoffen.

Ich will die Rechnung weiterführen: Multipliziert man
die in Europa bestehende Agrarüberschussfläche von
30 Millionen Hektar mit 1 200 DM, ergäbe dies einen
Subventionsbedarf in Höhe von 36 Milliarden DM. Der
Agrarhaushalt in Europa beträgt derzeit 81,5 Milliar-
den DM. Das heißt, weniger als 45 Prozent dieser Mittel
würden ausreichen, um die Agrarüberschüsse in Europa
zu beseitigen und es den Bauern zu ermöglichen, auf dem
Markt wieder bessere Preise zu erzielen. Das wäre meiner
Ansicht nach der wesentlich bessere Weg. Dies wäre eine
Agrarpolitik, die, wie gesagt, den Steuerzahler weniger
kostet, den Bauern mehr bringt, die Umwelt entlastet und
Arbeitsplätze schafft bzw. sichert.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Warum erkennen viele diese positiven Ansätze nicht?

Müssen erst Tankerkatastrophen wie vor einigen Jahren in
Alaska oder voriges Jahr an der französischen Küste ge-
schehen, damit man bestimmten Leuten die Augen öffnen
kann? Wären diese Tanker mit Pflanzenöl beladen gewe-
sen, dann wären keine Langzeitschäden an den betroffe-
nen Küsten erfolgt.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja eine richtig grüne Rede, die du da hältst!)


Im Gegenteil, lieber Albert Schmidt: Pflanzenöl kann als
Fischfutter verwendet werden. Es wäre somit zu keinerlei
ökologischen Schäden an den betroffenen Küsten gekom-
men.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In Bayern ist eine Tankerkatastrophe sowieso undenkbar!)


Die Idee, nachwachsende Rohstoffe anzupflanzen, ist
ja nichts Neues. Henry Ford hat bereits 1935 gesagt – ich
darf ihn zitieren –:

Die Zeit kommt heran, in welcher der Bauer nicht
mehr nur Ernährer seines Volkes, sondern auch Lie-
ferer der Rohstoffe für die Industrie sein wird.

Ein weiser Satz, den Henry Ford vor vielen Jahren ausge-
sprochen hat. Er würde sich sicherlich freuen, wenn er
feststellen könnte, dass einerseits Autos mit Pflanzenöl
fahren, dass anderseits Pflanzen aber auch eingesetzt wer-
den können, um damit Autos zu bauen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Als CSU-Abgeordneter freue ich mich, dass die CSU-
geführte Bayerische Staatsregierung in ganz Deutschland
im Bereich der nachwachsenden Rohstoffe eine Vorrei-
terrolle einnimmt. Lieber Erwin Huber, vielen Dank, dass
die Bayerische Staatsregierung für nachwachsende Roh-
stoffe mehr Finanzmittel zur Verfügung stellt als alle rot-
grün regierten Bundesländer in Deutschland zusammen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

In Bayern wird gehandelt und nicht nur geredet. Das soll
auch so bleiben. Die dafür erforderlichen Mehrheiten sind
in Bayern vorhanden.

Wir sind es unseren Kindern und Enkeln schuldig, die
verantwortungslose Plünderung fossiler Rohstoffe einzu-
dämmen. Nachwachsende Rohstoffe und nachwachsende
Energien können dazu einen Beitrag leisten.

Der von der Kommission im Hinblick auf die Faser-
pflanzen Flachs und Hanf vorgelegte Vorschlag geht in
die falsche Richtung. Jetzt liegt es an der Bundesregie-
rung, mit einer Verhinderung der Brüsseler Vorschläge
eine kleine, aber interessante Marktnische voranzubrin-
gen.

Die CDU/CSU-Fraktion erwartet von der Bundesre-
gierung für die Interessen der deutschen Flachs- und
Hanfanbauer erfolgreiche Verhandlungen. Die CDU/
CSU-Fraktion wird der Beschlussempfehlung der Regie-
rungsfraktionen zustimmen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine gute Rede! 90 Prozent war richtig!)





Albert Deß
10520


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411117300
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Steffi Lemke
vom Bündnis 90/Die Grünen.


Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411117400
Sehr
geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kolle-
gen! Kollege Deß hat soeben bewiesen, dass es auch in
der CSU Abgeordnete gibt, die sehr ökologisch und nach-
haltig denken und hier im Bundestag eine entsprechende
Rede halten können.


(Beifall des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich finde das sehr gut. Herr Kollege Deß, machen Sie wei-
ter so. Da haben wir viele Gemeinsamkeiten.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Wir sind doch den Grünen voraus! – Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Die Konservativen sind immer die Spitze des Fortschritts!)


Die gemeinsame Marktorganisation für Flachs und
Hanf besteht seit nunmehr 30 Jahren. Die ursprüngliche
Intention war hauptsächlich im Schutz der traditionellen
Erzeugerregionen der damaligen Gemeinschaft – das wa-
ren vor allem Belgien, Frankreich und die Niederlande –
zu sehen. Hiermit wurde in der damaligen Zeit einer Ni-
schenproduktion das Überleben gesichert.

Inzwischen haben sich aber die politischen und wirt-
schaftlichen Rahmenbedingungen grundlegend geändert.
Nachwachsende Rohstoffe haben wieder einen festen
Platz in der Landwirtschaft. Sie sind die erneuerbaren
Ressourcen einer innovativen und weit gefächerten
jungen Industrie, die sich in den vergangenen Jahren
in Deutschland entwickelt hat. Im Wirtschaftsjahr
1999/2000 erreicht der Anbau nachwachsender Rohstoffe
in Deutschland einen neuen Höchststand. Inzwischen
werden in Deutschland auf 5,6 Prozent der Ackerfläche
nachwachsende Rohstoffe angebaut.

Ich freue mich über diese Entwicklung und halte sie für
zukunftsweisend. Wurden nachwachsende Rohstoffe An-
fang der 90er-Jahre eher als willkommenes Ventil zum
Abbau einer Überschussproduktion betrachtet, so treten
heute die eigentlichen Vorteile nachwachsender Rohstoffe
viel stärker in den Vordergrund.


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Nachdem Sie sie massiv bekämpft haben!)


Zum einen sind nachwachsende Rohstoffe die Grundlage
einer Ressourcen schonenden nachhaltigen Technologie
und Energieversorgung, zum anderen schaffen sie neue
Arbeitsplätze in mittelständischen Verarbeitungsunter-
nehmen im ländlichen Raum und bilden damit eine neue
Einkommensquelle für Landwirte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Albert Deß [CDU/CSU])


Inzwischen haben Hanf und Flachs völlig neue Ein-
satzbereiche als Verbundwerkstoffe in ganz verschiede-
nen Industrien erschlossen. Herr Deß hat die Automobil-
industrie als ein Beispiel angesprochen. Der Einsatzbe-
reich Verbundwerkstoffe geht darüber aber weit hinaus

und auch in Dämmstoffen für die Bauindustrie oder als
Geotextilien in der Landschaftsgestaltung liegen neue
Möglichkeiten für nachwachsende Rohstoffe. Auch die
EU-Kommission bescheinigt diesen Bereichen erhebliche
Wachstumspotenziale.

Umso unverständlicher ist der Vorschlag, den die EU-
Kommission im November vergangenen Jahres zur Re-
form der gemeinsamen Markorganisation vorgelegt hat.
Als Hauptbegründung wird dort angeführt, dass es in den
vergangenen Jahren in verschiedenen Mitgliedstaaten
verstärkt zur Prämienjägerei gekommen sei, weil die An-
bauer versuchten, die pauschale Hektarbeihilfe in Höhe
von 815 Euro für Flachs bzw. 660 Euro für Hanf abzu-
greifen. Allerdings geht der Vorschlag der Kommission
am Problem vorbei, denn wenn man sozusagen das Kind
mit dem Bade ausschüttet, wird dies der Flachs- und
Hanfindustrie weder in Deutschland noch in den anderen
Mitgliedstaaten im Nachhinein etwas nützen.

Die Ausgaben für die Marktorganisation bei Hanf und
Flachs sind stark angestiegen. Deshalb hat auch meine
Fraktion nicht bestritten, dass eine Reform notwendig ist.
Wir erkennen den Reformbedarf an und haben auch den
Anbauern immer wieder gesagt, dass sie nicht auf Dauer
von einer Prämie auf dem ursprünglichen Niveau von
1 500 DM ausgehen könnten, sondern dass diese Förde-
rung absinken werde. Ich kenne sehr viele Anbauer, aber
auch Verarbeiter in der Flachs- und Hanfindustrie, die sich
auf diese Entwicklung eingestellt haben, weil sie wussten,
dass es zwar eine Anschubfinanzierung in beträchtlicher
Höhe geben, dem aber irgendwann ein Absinken der För-
derung folgen werde.

Allerdings darf diese Absenkung nicht so erfolgen, wie
es die EU-Kommission jetzt vorgeschlagen hat. Letztend-
lich soll für Deutschland ein Deckel eingezogen werden,
der der Flachs- und Hanfindustrie in Deutschland den
Hahn zudrehen würde. Dadurch würden einem aufstre-
benden Industriezweig Steine in den Weg gelegt werden,
was auch durch den Reformbedarf nicht mehr zu begrün-
den ist. Lediglich 6 600 Tonnen Flachs- und Hanfstroh
sollen in Deutschland künftig noch prämienberechtigt
sein, obwohl bereits jetzt eine Verarbeitungskapazität von
27 000 Tonnen vorhanden ist. Eine derart restriktive
Obergrenze für die prämienberechtigte Verarbeitungs-
menge wird von uns entschieden abgelehnt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Bündnis 90/Die Grünen haben sich seit 1993 für die

Wiederzulassung des Anbaus von Hanf in Deutschland
eingesetzt. Damals gab es in diesem Hause sehr ideolo-
gisch geprägte Debatten. Wir konnten letztendlich in
langwieriger Überzeugungsarbeit und in vielen Ge-
sprächen mit den anderen Fraktionen erreichen, dass der
Hanfanbau in Deutschland wieder zugelassen wurde.
Seitdem wird er auch von allen Fraktionen begrüßt und
unterstützt. Hier sollten wir gemeinsam fortfahren.

Wir haben die EU-Kommission gebeten, ihre Ent-
scheidung zu überdenken. Das Europäische Parlament hat
entsprechend gehandelt. Die Verhandlungen zwischen
dem Europäischen Parlament und der Kommission
können, wie ich hoffe, in der nächste Woche zu einem






(C)



(D)



(A)



(B)


Vorschlag führen, der auch der deutschen Flachs- und
Hanfindustrie gerecht wird.

Ich freue mich, dass zumindest Teile der Opposition
unserem Antrag zustimmen. Wir wollen die Verhand-
lungsposition auf europäischer Ebene im Sinne Deutsch-
lands stärken und hoffen, dass wir dort einen Erfolg für
die deutschen Flachs- und Hanfanbauer erzielen werden.
Wir fordern Kommissar Fischler auf, in der nächsten Wo-
che in diesem Sinne eine Entscheidung zu treffen.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411117500
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Marita Sehn von der F.D.P.-Frak-
tion.


Marita Sehn (FDP):
Rede ID: ID1411117600
Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Auch wir möchten uns den guten Wün-
schen anschließen, an Herrn Thalheim zum Geburtstag
und auch an den Minister, damit er bald wieder unter uns
sein kann.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Faserflachs und -hanf sind keine Eier legenden Woll-
milchschweine. Obwohl die potenziellen Einsatzmög-
lichkeiten von der Textilbranche bis zu den neuen Märk-
ten im Kurzfaserbereich der Automobil- und Dämm-
stoffindustrie reichen – wir konnten uns am Wochenende
auf der EXPO davon überzeugen; wir alle begrüßen diese
auch –, greift immer mehr Nüchternheit Platz. Die beste-
hende gemeinsame Marktorganisation für Flachs und
Hanf ist bürokratisch, teuer und wird missbraucht.


(Beifall bei der F.D.P.)

Es ist richtig und überfällig, die untragbaren Missstände
insbesondere in den südlichen Mitgliedstaaten endlich zu
beenden.


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Heinz Seiffert [CDU/CSU])


Aus marktwirtschaftlicher Sicht sind allerdings Zwei-
fel angebracht, ob die neue Marktorganisation die richti-
gen Antworten aufzeigt. Für die F.D.P. hätte ich mir in die-
sem Zusammenhang einen marktwirtschaftlichen Schnitt
gewünscht.


(Beifall bei der F.D.P. – Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Richtig! Das wäre gut gewesen! Das hätte man machen müssen!)


Eine Anschubfinanzierung ist richtig – ich denke, da
sind wir uns alle einig –, um die vielfältigen Chancen ins-
besondere auf den neuen Märkten zu nutzen. Aber es kann
doch nicht sein, dass wir die Fehler in anderen Berei-
chen – ich nenne als Stichwort die Milch – auf Kosten der
Steuerzahler und der Landwirte wiederholen. Natürlich
muss alles unternommen werden, damit die politisch ge-
wollten und mit erheblichen Mitteln der EU, des Bundes

und der Länder geförderten Investitionen nicht sinnlos
waren.


(Beifall bei der F.D.P.)

Leider könnte genau das zumindest für die heimischen
Landwirte bittere Realität werden.

Unsere Hauptkritikpunkte an der Verordnung sind:
Erstens. Es wird eine verfehlte Agrarpolitik in Form einer
teuren und bürokratischen Marktorganisation zementiert.


(Beifall bei der F.D.P.)

Zweitens. Die zahlreichen Regelungen und Vorschrif-

ten werden zu einer aufwendigen und komplizierten Um-
setzung führen, die deren Akzeptanz weiter verringert.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Ja!)

Drittens. Die für Deutschland im Rahmen der Verar-

beitungshilfe vorgeschlagenen Mengen in Höhe von
6 600 Tonnen bleiben weit hinter den Kapazitäten von
etwa 27 000 Tonnen zurück.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Skandalös! – Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Ungerecht!)


Spätestens an diesem Punkt beißt sich die Katze in den
Schwanz. Werden diese nationalen Quoten weiter aufge-
stockt, bedeutet das zwangsläufig ein Aufweichen der
Haushaltskonsolidierung auf EU-Ebene.

Die genannten Argumente sprechen ganz klar für eine
marktwirtschaftliche Lösung. Deshalb sollte im Interesse
der Landwirte und der betroffenen Wirtschaft die Chance
ergriffen werden, um die ausgetretenen Wege der Markt-
organisationen zu verlassen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wir werden der Beschlussempfehlung nicht zustimmen.

Danke.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411117700
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Kersten Naumann von der PDS-
Fraktion.


Kersten Naumann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1411117800
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Der Anbau von Flachs und Hanf stieg
seit der Lockerung des Anbauverbots 1996 rapide an und
wurde, da politisch gewollt, durch EU, Bund und Länder
gefördert. In den strukturschwachen Regionen, gerade im
Osten, sind die Ausgaben für getätigte und geplante Inves-
titionen zur Verarbeitung immens; sie liegen im dreistel-
ligen Millionenbereich. In Gardelegen in Sachsen-Anhalt
entstand eine Verarbeitungsanlage mit einer Investitions-
summe von 8 Millionen DM, eine der modernsten Anla-
gen Europas.

Doch die für Deutschland vorgesehene beihilfebe-
rechtigte Höchstmenge für Hanf- und Flachsfasern in
Höhe von 6 600 Tonnen pro Jahr entspricht etwa einem




Steffi Lemke
10522


(C)



(D)



(A)



(B)


Drittel der zurzeit zugelassenen Verarbeitungskapazitä-
ten. Bezieht man die im Aufbau befindlichen Unter-
nehmen ein, so würde Deutschland eine Quote von
27 000 Tonnen Fasern benötigen. Die Verarbeitungskapa-
zität beträgt allein in Sachsen-Anhalt 3 500 Tonnen pro
Jahr und der Anbau zog nach. Waren es 1996 noch
100 Hektar Anbaufläche in Sachsen-Anhalt, so wurde
1998 schon auf 816 Hektar angebaut.

Flachs und Hanf stellen für die heimische Landwirt-
schaft nicht nur eine echte Produktions- und Einkom-
mensalternative dar. Sie tragen dazu bei, im ländlichen
Raum Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen.

Aber auch als Fruchtfolgeglied ist der Rohstoff in der
ohnehin engen Getreidefruchtfolge weitestgehend ohne
Einsatz von Pflanzenschutzmitteln und Düngemitteln
sehr umweltfreundlich. Hier treffen sich also Interessen
der Agrar-, Umwelt- und Arbeitsmarktpolitik.


(Beifall bei der PDS)

Hanf zeigt aufgrund des hohen Kohlenstoffgehaltes

praktikable Alternativen für neue keramische Werkstoffe,
für Naturfaserstoffe und Polymerverbindungen bis hin
zum Ersatz von Glasfaserstoffen auf. Für einige Anwen-
dungen zeigt sich bereits Interesse bei den Industriezwei-
gen der Telekommunikation, der Möbel- und Automobil-
industrie bis hin zur Raumfahrt. Die damit verbundenen
Chancen zu ihrer effektiven Nutzung in sehr effizienten
Material-, Struktur- und Technologiekonzepten bieten
auch die Chance zu einer hohen Wertschöpfung.

Die Annahme der EU-Kommission, dass zahlreiche
Enderzeugnisse aus Hanffasern sehr hohe Faserpreise be-
wirken werden, ist jedoch äußerst verfrüht; sie läuft an
den derzeitigen Realitäten vorbei. Eine Absenkung der
Produktionsquote – zumindest bei einer Absenkung der
Flächenbeihilfe auf das Niveau von Getreide – halten wir
für falsch und hinsichtlich der Entwicklung des Marktes
für innovative Produkte aus nachwachsenden Rohstoffen
sogar für kontraproduktiv. Der EU-Kommission ist aller-
dings das Nachwachsen der Ressourcen und deren Verar-
beitung zu teuer.

Im Gegensatz dazu erfolgt zurzeit bundesweit der Ruf
nach geförderter Energieerzeugung aus Biomasse.
Flachs und Hanf werden in dieser Frage stiefmütterlich
behandelt, obwohl damit dieselben Effekte erreicht wer-
den können. Sie benötigen jedoch – wenn durch die EU
nicht hinreichend gefördert wird – ein nationales Pro-
gramm der Förderung. Ansonsten stellt man Entwicklun-
gen, die bereits vorangeschritten sind, von den Füßen auf
den Kopf.

Die PDS unterstützt das EU-Parlament nachdrücklich
in seiner ablehnenden Haltung.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411117900
Ich
schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft

und Forsten zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung zu Vorschlägen für zwei Verordnungen des Rates
betreffend Faserflachs und -hanf.

Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 14/3415, die Vor-
schläge zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Dann ist die Beschlussempfehlung einstim-
mig angenommen.

Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 14/3415 die Annahme einer
Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann
ist die Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der
F.D.P.-Fraktion angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Ernst Burgbacher, Gisela Frick, Hildebrecht
Braun (Augsburg), weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zur Änderung des Einkommen-

(Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung)

– Drucksache 14/1731 (neu)

(Erste Beratung 76. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)

– Drucksache 14/3272 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Schild
Hans Michelbach
Ernst Burgbacher

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort für den Antragsteller der Kollege Ernst Burgbacher.


Ernst Burgbacher (FDP):
Rede ID: ID1411118000
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Als wir diesen Ge-
setzentwurf im Oktober 1999 eingebracht haben, war ich
eigentlich optimistisch, dass wir für ein vernünftiges An-
liegen, dem viele in diesem Hause, wie ich weiß, zustim-
men, am Ende auch eine fraktionsübergreifende Mehrheit
finden würden.


(Beifall bei der F.D.P.)

Die Voraussetzungen waren eigentlich sehr gut. Die

SPD hat die Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung in
ihrem Wahlprogramm. Der damalige Ministerpräsident
von Niedersachsen hat es dem Hotel- und Gaststättenver-
band persönlich versprochen.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Versprochen und gebrochen!)


Leider ist nichts geschehen.

(Zuruf von der F.D.P.: Skandalös!)





Kersten Naumann

10523


(C)



(D)



(A)



(B)


Von der CDU/CSU hatten wir Zeichen, dass auch dort Zu-
stimmung durchaus möglich ist. Unser Außenminister
Fischer wird mit dem Satz zitiert: man könne sich ja wohl
vorstellen, was passiert wäre, wenn man ihm als Taxifah-
rer ans Trinkgeld gegangen wäre.


(Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. – Marita Sehn [F.D.P.]: So ist es!)


Leider sieht die Lage heute ein ganzes Stück anders
aus. In den Ausschüssen war das Abstimmungsverhalten
sehr unterschiedlich. Die SPD hat sich im Tourismusaus-
schuss enthalten, sonst zugestimmt. Die CDU/CSU hat im
Wirtschaftsausschuss zugestimmt, sonst dagegen ge-
stimmt. Ich glaube, das zeigt die Unsicherheit. Es ist ei-
gentlich schade und schlecht für alle Betroffenen, die auf
dieses Gesetz gewartet haben, dass wir heute wohl keine
Mehrheit dafür finden werden.


(Beifall bei der F.D.P.)

Zur Sache: Richtig ist, dass der Bundesfinanzhof

Trinkgeld als steuerpflichtigen Arbeitslohn betrachtet.
Wir wollen mit diesem Gesetzentwurf diese Rechtspre-
chung gesetzgeberisch aufheben.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich zitiere wörtlich aus unserem Gesetzentwurf:

Freiwillig gezahlte Trinkgelder gehören nicht zu den
Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit.

Dies würde das Problem auch wirklich lösen. Wir müs-
sen – völlig richtig – zwischen freiwillig gezahlten und
solchen Trinkgeldern unterscheiden, die auf der Rech-
nung auftauchen. Diese müssen natürlich versteuert wer-
den.

Wie sieht denn die Praxis aus? Das Finanzamt kontrol-
liert und kontrolliert mehr denn je. Das Finanzamt schätzt
die Höhe des Trinkgeldes auf 1,7 bis 3,3 Prozent des Um-
satzes. Dann muss die Steuer nachbezahlt werden. Doch
damit nicht genug. Diese Daten werden an die BfAund an
die AOK weitergegeben und dann müssen Sozialbeiträge
nachgezahlt werden, und zwar vom Arbeitgeber, der aber
den Arbeitnehmeranteil in Höhe von 50 Prozent von die-
sem überhaupt nicht mehr zurückholen kann.

Ich sage Ihnen ein konkretes Beispiel und kann Ihnen
auch den Namen des Gasthofes nennen: Es wurden Nach-
zahlungen in Höhe von über 28 000 DM an Sozialbeiträ-
gen plus über 10 000 DM an Säumnisgebühr erhoben.
Wenn er dies bezahlen muss, macht er den Laden zu. Das
kann doch keine Politik für mehr Arbeitsplätze sein.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. – Marita Das kann nicht unser Ernst sein! – Dirk Niebel Dankeschön für gute Leistungen! Das ist eine Frechheit!)

Marita Sehn (FDP):
Rede ID: ID1411118100

Noch ein Punkt: Ich habe die Regierung nach der Pra-
xis und dem Aufkommen in anderen Ländern gefragt. Die
Regierung kennt das Aufkommen und den Verwaltungs-
aufwand nicht. Nach Untersuchungen, die mir sehr seriös
erscheinen, beläuft sich das Nettoaufkommen bei der
Trinkgeldbesteuerung auf 3 bis 4 Millionen DM jährlich.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Millionen?)


– Millionen. Wir schätzen das Aufkommen auf 10 Milli-
onen DM bei Verwaltungskosten in Höhe von 6 bis 7 Mil-
lionen DM. Um diese Zahlen diskutieren wir, die einen
ganzen Berufsstand in seiner Tätigkeit hemmen, die Mo-
tivation töten statt wecken.


(Beifall bei der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, Trinkgeld wird für die Qua-

lität der Bedienung gegeben. Wenn ich nicht gut bedient
werde, gebe ich auch kein Trinkgeld. Dies ist eine Leis-
tung, auf die der Dienstleistende keinerlei Anspruch hat.
Deshalb kann es nicht Bestandteil des Einkommens sein.


(Marita Sehn [F.D.P.]: Richtig!)

Es kann maximal eine Schenkung sein. Für diese haben
wir Steuersätze, mit denen wir allemal leben könnten.


(Beifall bei der F.D.P.)

Das Ganze verstößt auch gegen den Grundsatz der

Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Wir wissen, dass in ei-
nigen Bereichen, in der Gastronomie und zunehmend
auch im Taxigewerbe, Prüfungen gemacht werden, in den
meisten anderen Bereichen aber nicht und auch gar nicht
gemacht werden können. Auch deshalb muss mit der
Trinkgeldbesteuerung Schluss sein.


(Beifall bei der F.D.P.)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir befinden

uns in einer Dienstleistungsgesellschaft. Wir alle hoffen,
dass wir im Dienstleistungsgewerbe einen großen Teil der
Arbeitsplätze schaffen können, die im produzierenden
Sektor weggefallen sind. Aber wir werden diese Arbeits-
plätze nur dann schaffen können, wenn wir auch die Ser-
vicementalität in unserem Land verbessern.


(Beifall bei der F.D.P.)

Meine Erfahrungen, die ich im vergangenen halben

Jahr in unendlich vielen Gesprächen gewonnen habe, sind
folgende: Die Leute sind es leid, und bevor eine Steuerer-
klärung gemacht wird, werden Dinge eben schwarz ge-
macht. Dann kommen die Kontrollen. Es kann doch nicht
Ihr Ernst sein, so etwas beibehalten zu wollen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Insbesondere der Tourismusbereich ist erheblich da-

rauf angewiesen. Wir reden vom Jobmotor Tourismus.
Aber dieser Motor wird nur dann laufen, wenn wir hoch-
wertiges Öl einfüllen. Hochwertiges Öl in diesem Bereich
heißt: Eigeninitiative, Selbstverantwortung, Leistungsbe-
reitschaft.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wenn wir aber das abgestandene Gemisch alter Ideolo-
gien einfüllen, wird dieser Motor ins Stottern kommen
oder schließlich mit einem Kolbenfresser ganz aufhören
zu laufen. Deshalb, meine Damen und Herren, gilt es jetzt
durchzustarten.

Ich appelliere an Sie: Niemand draußen versteht, wenn
dieser Gesetzentwurf heute abgelehnt wird. Die Men-
schen, die abends und am Wochenende im Service tätig
sind, erwarten, dass die Politik tätig wird, dass sie auf




Ernst Burgbacher
10524


(C)



(D)



(A)



(B)


neue Entwicklungen in der Gesellschaft reagiert. Deshalb
wäre es unverständlich, wenn Sie diesem Gesetzentwurf
der F.D.P. heute nicht zustimmten. Ich sage Ihnen, wenn
der Gesetzentwurf heute abgelehnt wird, werden wir wei-
ter kämpfen. Es ist eine richtige Sache. Wir werden dran-
bleiben. Ich prophezeie, wir werden dass auch noch
durchsetzen. Herzlichen Dank.


(Beifall bei der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411118200
Als
nächster Redner hat der Kollege Horst Schild von der
SPD-Fraktion das Wort.


Horst Schild (SPD):
Rede ID: ID1411118300
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Verehrter Kollege Burgbacher, die Argu-
mente sind gedreht, gewendet und ausgetauscht. Ich
werde auch gerne das wiederholen, was ich schon einmal
gesagt habe. Das Argument ist populistisch, und viele hier
im Saal und auf der Tribüne werden sagen: Das ist toll, das
muss so sein.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Wo ist dann das Problem?)


– Das Problem besteht darin – auch das habe ich hier
schon einmal gesagt; ich wiederhole es gerne –, dass
Sie von der Auffassung ausgehen, die gegenwärtige Form
der Trinkgeldbesteuerung, das heißt die gegenwärtig
im Einkommensteuergesetz festgesetzten steuerfreien
2 400 DM wären nicht mehr zeitgemäß. Sie sind damit
allein.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Nein! Sie haben es doch im Wahlprogramm!)


Sie haben selbst gesagt, dass der Bundesfinanzhof wei-
ter an der Rechtsauffassung festhält, dass das Trinkgeld
Bestandteil des Arbeitslohnes ist – auch die Kollegen
von der CDU/CSU, die ja den Antrag eingebracht haben.
Man könnte gegebenenfalls noch darüber reden, die
Grenze in § 3 Nr. 51 des Einkommensteuergesetzes anzu-
heben. Auch das steht in der Begründung. Damit bleibt
aber die Rechtsauffassung, dass Trinkgelder Bestandteil
des Einkommens sind, erhalten. Machen wir uns nichts
vor. Im Gastgewerbe und in vielen anderen Bereichen ist
mit der Aufnahme einer Tätigkeit in diesem Bereich auch
die Erwartung verbunden, Trinkgelder zu erhalten. Auch
das ist hier gesagt worden. Das spielt auch bei Tarifver-
einbarungen und bei der Entlohnung eine Rolle. Trinkgeld
wird bei der Bemessung der Einkünfte mit einbezogen.
Das ist unstrittig.

Aber das ist nur ein Aspekt. Wenn Sie meinen, Sie kön-
nen einfach so einen Baustein herausbrechen und sagen,
diese Grenze streichen wir einmal in § 3 Nr. 51, dann müs-
sen Sie auch bedenken, dass das Präjudizwirkung hat.
Was ist denn mit anderen Freigrenzen? Was ist beispiels-
weise mit dem Arbeitnehmerrabatt, der gegenwärtig auf
2 400 DM festgelegt ist?


(Zuruf von der F.D.P.: Das ist etwas anderes!)

– Das ist nicht etwas anderes. Sie müssen davon ausge-
hen, dass der Gesetzgeber auch bei solchen Anträgen zu

beachten hat, ob es sich insgesamt und nicht nur in die
Rechtsprechung, sondern auch in die einzelnen Bausteine
des Einkommensteuergesetz einfügt.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Das ist ein großer Unterschied!)


– Ich weiß, wir wären ja alle viel froher, wenn wir einmal
losgelöst von Sachkenntnis und von den Maßstäben des
Einkommensteuergesetzes sagen könnten, darüber setzen
wir uns einfach einmal hinweg. Aber so einfach, meine
Damen und Herren, ist es nicht.

Ein zweites Argument. Sie gehen davon aus, dass mit
der Trinkgeldbesteuerung der Gleichheitsgrundsatz der
Besteuerung verletzt wird. Allein die Tatsache, dass es
Schwierigkeiten bei der Erhebung der Steuer gibt, kann
aber kein hinreichender Anlass dafür sein zu sagen: Dann
verzichten wir darauf. Wenn das zum Maßstab der Fi-
nanz- und Steuerpolitik in diesem Lande würde, dann
müsste der Staat auf manche Einnahme verzichten, nicht
nur auf diese.

Ich will ein drittes Argument ansprechen. Sie haben –
das war ja auch bei Ihrer Einbringungsrede ganz deut-
lich – diesen Antrag nicht als den großen Baustein einer
liberalen Steuerreform gepriesen, sondern als einen Ein-
stieg in einen Schub, der sozusagen den Arbeitsmarkt im
Hotel und Gaststättengewerbe neu aufrollen würde. Wir
haben – diese Zahlen können Sie über-all nachlesen –
erstmalig seit Antritt dieser Regierung einen deutlichen
Rückgang der Arbeitslosigkeit. Nach den Zahlen des Prä-
sidenten der Bundesanstalt für Arbeit beläuft er sich für
das Jahr 2000 auf ungefähr eine Viertelmillion.


(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Aber ohne Ihr Zutun!)


– Herr Fromme, Sie können ja gerne eine Zwischenfrage
stellen.

Wir haben im Jahre 2001 nach Einschätzung der Bun-
desanstalt für Arbeit wahrscheinlich einen weiteren Rück-
gang um 350 000 Arbeitslose. Diese Entwicklung ist auch
am Hotel- und Gaststättengewerbe nicht spurlos vorüber-
gegangen. Wir haben, nachdem wir jahrelang einen deut-
lichen Rückgang der Beschäftigungszahlen sowohl im
Beherbergungs- als auch im Gaststättengewerbe ver-
zeichnen mussten, erstmals seit vielen Jahren wieder ei-
nen spürbaren Zuwachs der Arbeitsplätze. Sie wissen,
dass wir im Jahre 2000 auch eine deutliche Zunahme bei
den Übernachtungen und bei den Touristen in diesem
Lande haben. Sie können niemandem weismachen, dass
dies über eine Aufhebung der Besteuerung von Trinkgel-
dern zu steuern ist. Das ist das Ergebnis der konsequenten
Arbeitsmarkt- und Finanzpolitik dieser Regierung. An
diesem Punkt werden wir weitermachen.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Das steht aber auch in Ihrem Wahlprogramm!)


Wenn Sie für die Beschäftigten und die Betriebe in die-
sem Bereich etwas tun wollen, dann gehen Sie mit uns die
vorgezeichneten Schritte weiter. Wir haben im Bundestag
ein Steuersenkungsgesetz verabschiedet. Das wird auch
– soweit es von Ihnen nicht blockiert wird – zu spürbaren
Entlastungen im Portemonnaie sowohl der Beschäftigten
im Gaststättengewerbe als auch bei den Betrieben führen.




Ernst Burgbacher

10525


(C)



(D)



(A)



(B)


Das sind andere Dimensionen. Auf diese Art und Weise
werden wir die Beschäftigung auf diesem Feld sichern
und auch mehr Arbeitsplätze schaffen.

Mein Appell lautet: Blockieren Sie das Steuersen-
kungsgesetz nicht im Bundesrat, sondern tragen Sie dazu
bei, dass auf diesem Wege die Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer sowie die Arbeitgeber spürbare Entlastungen
erfahren. Damit ist uns und den Betroffenen mehr gehol-
fen als mit der Diskussion über die Frage der Trinkgeld-
besteuerung, die Sie zum Gegenstand Ihres Gesetzantra-
ges gemacht haben.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Reden Sie einmal mit den Leuten!)


Danke schön.

(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411118400
Als
nächster Redner hat der Kollege Klaus-Peter Willsch von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Klaus-Peter Willsch (CDU):
Rede ID: ID1411118500
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie wissen, lie-
ber Herr Burgbacher, dass ich genauso wenig wie Sie
möchte, dass sich Herr Eichel von dem Trinkgeld, das ich
für einen guten Service hingebe, einen Teil in den Sack
steckt.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Dann stimmen Sie zu?)

Sie wissen aber auch – wir haben über dieses Thema

schon gelegentlich gesprochen –, dass es nicht ganz so
einfach ist, wie Sie es gelegentlich darstellen. Wir haben
die Themenbereiche Gleichheit in der Steuerbelastung
und Gleichheit im Belastungserfolg zu beachten und müs-
sen natürlich Präzedenzwirkungen berücksichtigen. Wir
haben deshalb als CDU/CSU-Fraktion einen gangbaren
Weg vorgeschlagen, wie wir zu dem kommen, was wir ei-
gentlich wollen, nämlich dass das, was gemeinhin als
Trinkgeld gegeben wird, bei den Servicekräften steuerfrei
bleibt. Wir haben unseren Vorschlag im Finanzausschuss
eingebracht, und da wäre, Herr Schild, Gelegenheit ge-
wesen, darüber zu diskutieren. Wir haben darüber disku-
tiert, aber Sie haben sich weder gesprächs- noch ergeb-
nisbereit gezeigt.

Die Anhebung des Freibetrages von gegenwärtig
2 400 DM, der seit 1990 auf dieser Höhe ist, auf 3 600 DM
würde dazu führen, dass der weit überwiegende Teil der
Trinkgelder besteuerungsfrei bleibt,


(Beifall bei der CDU/CSU)

ohne dass wir gleichzeitig in eine gefährliche Situation in
Richtung auf einen Gestaltungsmissbrauch gelangen. Das
muss man bei der Steuergesetzgebung doch bedenken und
muss auch in der Opposition bereit sein, das anzuerken-
nen und dazu zu stehen. Einen Gestaltungsmissbrauch
verhindert man durch angemessene Freibeträge in Berei-
chen, in denen der Erhebungsaufwand unverhältnismäßig
hoch ist. Genau das ist der Weg, den wir vorgeschlagen
haben und den wir auch auf anderen Feldern, zum Bei-

spiel bei den Übungsleitern, gegangen sind. Wir sollten
das auch bei diesem Thema machen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir als CDU halten nämlich damit auch fest an unserem
bewährten synthetischen Einkommensteuerbegriff, der
unserer Einkommensbesteuerung zugrunde liegt.

Wenn ich hier bei meinen an die F.D.P. gerichteten Be-
merkungen Kopfnicken bei der SPD bemerkt habe, dann
muss ich leider feststellen, dass bei Ihnen die Grundsatz-
treue in der Frage des synthetischen Einkommensteuer-
begriffs leider nicht besonders ausgeprägt ist. Da kann ich
mich insgesamt an das Regierungslager wenden. Sie ha-
ben nämlich diesen bewährten Einkommensbegriff ver-
lassen, indem Sie die Mindestbesteuerung eingeführt ha-
ben, indem Sie Veräußerungsgewinne von Großbanken,
von Versicherungsunternehmen, von Kapitalgesellschaf-
ten von der Besteuerung freistellen wollen, indem Sie das
bewährte Anrechnungsverfahren aufgeben und durch das
Halbeinkünfteverfahren ablösen wollen, worüber wir ja
nun im Vermittlungsausschuss streiten. Sie sind an diesem
Punkt der Einkommensbesteuerung in Deutschland nicht
grundsatztreu. Sie legen es sich zurecht, wie Sie wollen.

Ich glaube, der von uns vorgeschlagene Weg ist genau
richtig, und wenn man bei der Einkommensbesteuerung
nominale Freibetragsgrenzen einführt, muss man ihn
natürlich auch gehen. Nominale Werte müssen von Zeit
zu Zeit angepasst werden. Der Freibetrag von 2 400 DM
besteht seit 1990. Da ist es Zeit, und wir können durch die-
sen von uns vorgeschlagenen Schritt zu dem Ergebnis
kommen, das wir uns wünschen.

Auch wir wollen, dass im Dienstleistungssektor in
Deutschland Leistung belohnt wird, dass wir die Service-
kräfte motivieren, also diejenigen, die Dienste für uns er-
bringen, die ihren Dienst häufig zu ungünstigen Zeiten
verrichten, die wichtig sind für den Tourismusstandort
Deutschland, die dafür sorgen, dass Menschen gerne zu
uns kommen und wieder kommen. Deshalb meinen wir,
die Mehrheitsfraktionen müssten noch einmal darüber
nachdenken und sollten uns nachgeben.

Denken Sie bitte auch daran, was Sie gerade dem Be-
reich Hotellerie und Gaststätten, um den einmal he-
rauszunehmen, schon alles zugemutet haben, seit Sie an
der Regierung sind. Ein Gesetzesvorhaben nach dem an-
deren hat die deutsche Tourismuswirtschaft und die deut-
sche Gastronomie gebeutelt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Das ist richtig!)


Welche Bedeutung diesem Bereich seitens der Bundesre-
gierung beigemessen wird, kann man auch daran sehen,
dass sich niemand aus dem Finanz- oder dem Wirt-
schaftsministerium auf der Regierungsbank verloren hat.

Ich erinnere Sie an die Ökosteuer:Mehrbelastung von
15 000 bis 20 000 DM pro Betrieb allein dadurch. Ich er-
innere an die Neuregelung der 630-Mark-Jobs, wo un-
sere Dienstleister nach wie vor händeringend versuchen,
die Lücken, die dieses Gesetz geschlagen hat, irgendwie
wieder auszufüllen, wo inzwischen sehr viel Schwarz-




Horst Schild
10526


(C)



(D)



(A)



(B)


arbeit stattfindet, für die weder Sozialversiche-
rungsbeiträge noch Steuern gezahlt werden.

Ich erinnere an das so genannte Steuerentlastungsge-
setz, wo ja der Mittelstand zunächst vorfinanziert hat und
in keiner Weise entlastet worden ist. Ich erinnere an das
so genannte Steuerbereinigungsgesetz, wo noch einer
drauf gesetzt wurde, und an die Verschiebung der Un-
ternehmensteuerreform auf das Jahr 2001. Alles unter
der Überschrift: Versprochen, gebrochen, nicht gehalten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Diskussionen im Vermittlungsausschuss zeigen,

dass das, was Sie gesetzgeberisch vorlegen, eine Null-
nummer für den Mittelstand ist und dass wir mit der
Mehrheit im Bundesrat jetzt erst ertrotzen müssen, dass
hier ein vernünftiges Ergebnis für unsere mittelständi-
schen Betriebe in Deutschland zustande kommt, gerade
auch in den Bereichen, über die wir heute hier reden.


(Beifall der Abg. Gerda Hasselfeldt [CDU/ CSU] – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch absoluter Unsinn! – Zuruf des Abg. Horst Schild [SPD])


– Ach, Herr Schild, wenn Sie vom Trinkgeld für Ihre Zwi-
schenrufe leben müssten, dann würden Sie kümmerlich
verhungern, nehme ich an.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Er müsste nichts versteuern!)


Wir haben an verschiedenen Punkten immer wieder
das Gleiche erleben müssen, wenn wir über Tourismus bei
uns in der Bundesrepublik Deutschland sprechen. Es wird
irgendetwas versprochen, es wird mal forsch bei einer
interessierten Gruppe eine Zusage gemacht, aber hinter-
her wird nichts eingehalten.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: So ist es!)

Ich erinnere an das leidige Thema reduzierter Mehr-
wertsteuersatz im Beherbergungsgewerbe. Ich will
einmal die Zahlen in Erinnerung rufen. Wir muten unse-
ren Hoteliers 16 Prozent Mehrwertsteuer zu und werden
darin, wenn man sich die Nachbarländer anschaut, nur ge-
schlagen von Großbritannien, Dänemark und der Tsche-
chischen Republik. Alle anderen ernsthaften Konkurren-
ten haben Mehrwertsteuersätze in dem Bereich von null
über drei oder fünf bis acht Prozent. Das ist ein Wettbe-
werbsnachteil.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch nichts Neues! – Horst Schild [SPD]: Das hatten die auch vorher schon!)


Ich möchte so etwas nicht ansprechen, ohne an den
Schriftverkehr zu erinnern, den ich mit Bundesminister
Müller geführt habe. Er war ja unverhofft in der Lage, zu-
sätzlich auch noch Finanzminister zu sein. Just in dieser
Zeit habe ich ihn an sein Versprechen erinnert, das er bei
der Eröffnung der ITB gegeben hatte, nämlich dass er sich
für die Einführung eines reduzierten Mehrwertsteuersat-
zes nachhaltig einsetzen werde und dass er sich diesbe-
züglich mit dem Finanzminister ins Benehmen setzen
werde. Nun war er selber Finanzminister. Er hat es leider

versäumt, sich mit sich selber ins Benehmen zu setzen,
und Eichel hat das Ganze wieder blockiert. Nur leere Ver-
sprechungen, nichts hinterher!

Ich wundere mich, dass Frau Kastner heute nicht hier
ist. Nein, eigentlich wundere ich mich nicht; denn ich
möchte aus den von ihr verantworteten tourismuspoliti-
schen Leitlinien der SPD zitieren, die im Mai 1998, vor
der Bundestagswahl, herausgegeben worden sind:

Eine Form der Anerkennung für die Beschäftigten im
Gastgewerbe stellt das Trinkgeld dar, mit dem Gäste
ihre Zufriedenheit ausdrücken. Die Besteuerung des
Trinkgelds als Arbeitslohn verkennt den persönli-
chen Charakter dieser Anerkennung und ist daher ab-
zuschaffen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das wurde vor der Bundestagswahl versprochen. Frau
Kastner ist heute deshalb nicht da, weil sie sich diese Kon-
frontation sicherlich ersparen möchte.

Es gibt aber neben den gebrochenen Versprechen der
SPD, die sie im Allgemeinen begeht, noch eine Steige-
rungsform. Höchste Gefahr für die Bürger droht immer
dann, wenn der Kanzler erklärt: Das mache ich jetzt zur
Chefsache.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Im Gespräch mit Vertretern der deutschen Tourismuswirt-
schaft hat sich Bundeskanzler Schröder die ganze Ange-
legenheit erklären lassen, um dann deutlich zu verkünden,
darum werde er sich persönlich kümmern – man muss sa-
gen: mit kümmerlichem Ergebnis. Aber das ist kein Ein-
zelfall. Wann immer etwas zur Chefsache erklärt wird,
dann geht das so aus. Ich erinnere an das Gesetz über die
630-Mark-Jobs, das anders ausfiel, als es der Chef ver-
kündet hatte. Ich erinnere an das Versprechen: Die netto-
lohnbezogene Rente bleibt! Anschließend musste man
sich im Fernsehen entschuldigen. Ich erinnere an das Ver-
sprechen: 6 Pfennig Ökosteuer; dann ist Schluss! Das sind
die Worte des Chefs, die man hören konnte. Ich sage nur:
Am besten verlässt man sich nicht auf seine Worte. Wenn
man es tut, dann ist man verlassen.

Ich möchte nachdrücklich an Sie von der SPD und von
den Grünen appellieren: Geben Sie sich einen Ruck, da-
mit wir für den wichtigen Bereich der Dienstleistungs-
wirtschaft in unserem Land etwas vorwärts bringen und
damit wir Leistungsbereite motivieren und unterstützen.
Geben Sie sich vor allen Dingen im Vermittlungsaus-
schuss einen Ruck; denn dort droht der nächste Tort für
den Mittelstand, wenn Sie sich das betrachten, was Sie
dort vorgelegt haben: Die Kurve des Einkommensteuerta-
rifs verläuft so steil, dass bereits bei einem Einkommen
von etwa 90 000 DM bis 98 000 DM der Spitzensteuer-
satz erreicht wird, der insgesamt viel zu hoch ist, weil er
bei 45 Prozent liegt. Seine Senkung ist auf den Sankt-
Nimmerleins-Tag verschoben. Wenn Sie endlich den Mut
zu einer durchgreifenden, vorwärts weisenden sowie
Wachstum und Innovation anstoßenden Steuerpolitik in
diesem Lande haben, dann können wir uns solche Fach-
diskussionen sparen.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)





Klaus-PeterWillsch

10527


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411118600
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Christine Scheel vom Bünd-
nis 90/Die Grünen.


Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411118700

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Herr Willsch,
ich gehe davon aus, dass sich nach den heutigen Ankün-
digungen bzw. Aussagen, die im Vermittlungsausschuss,
dessen Sitzung gerade jetzt zu Ende gegangen ist, getrof-
fen worden sind, einige der Punkte, die Sie hier genannt
haben, aufgrund des Vorschlages der Regierungsfraktio-
nen und der A-Länder in Wohlgefallen auflösen werden,
und zwar im positiven Sinne.


(Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Die Worte hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube!)


Doch zurück zu dem Antrag der F.D.P. Die Begrün-
dung ist irgendwie eigenartig. Dort heißt es, dass Trink-
gelder nicht mehr zu besteuern seien, weil sie keine Ein-
künfte aus unselbstständiger Tätigkeit darstellten; denn
sie würden freiwillig gegeben.


(Zuruf von der F.D.P.: So ist es!)

Ich muss schon sagen: Sie sind schon sehr spitzfindig;
denn unabhängig davon, ob Gelder freiwillig, zwangs-
weise oder aufgrund von Arbeitsverträgen gezahlt wer-
den, handelt es sich immer um Einkünfte. Einkünfte,
gleich welcher Art – das werden Sie selber nicht ernsthaft
bestreiten wollen –, unterliegen nun einmal einer gleich-
mäßigen Besteuerung, die man gerecht ausführen und lei-
stungsgerecht gestalten muss.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Nichts begriffen!)

In dem anderen von Ihnen eingebrachten Antrag – ich

meine den zur Unternehmensteuerreform – haben Sie eine
weitere Variante aufgezeigt. Dort heißt es – darin besteht
ein gewisser Widerspruch –, alle Einkunftsarten seien
gleich zu behandeln. Darin sind wir uns einig. Wir alle sa-
gen: Gerecht ist eine breite Steuerbasis, also wenige
Ausnahmen, bei gleichzeitig niedrigen Steuersätzen.
Damit wird gewährleistet, dass jeder nach seiner tatsäch-
lichen Leistungsfähigkeit besteuert und über Steuersatz-
senkungen entlastet wird.

Auch an diesem Punkt möchte ich sagen: Hören Sie,
was das Steuersenkungsgesetz betrifft, mit der Blockade
im Vermittlungsverfahren auf!


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Wir blockieren doch nicht!)


Mit diesem Gesetz werden alle entlastet. Für einen ver-
heirateten Durchschnittsverdiener bleiben nach In-Kraft-
Treten des Gesetzes im nächsten Jahr 1 800 DM mehr als
im Jahr 1998 in der Tasche; 2005 werden es etwa
3 000 DM sein.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Wären Sie uns gefolgt, wäre es mehr!)


Ich nenne dieses Beispiel nur, damit Sie sehen, dass es
sich um eine gleichmäßige, adäquate Entlastung vor allen

Dingen der kleinen und mittleren, aber auch der höheren
Einkommen handelt. Wenn Sie mit Ihrer Blockade nicht
endlich aufhören, dann wird es leider so sein, dass die
Steuerbelastung so hoch wie bisher bleiben wird. Das
dient weder der Wirtschaft noch den Steuerzahlern noch
dem Kreis derjenigen, für den Sie versuchen, hier eine
neue Klientelpolitik zu präsentieren.


(Beifall der Abg. Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Jetzt wird es aber billig!)


Sicherlich ist die jetzige Regelung der Trinkgeldbe-
steuerung nicht unproblematisch. Das gilt aber nicht, weil
die Trinkgelder überhaupt besteuert werden, sondern we-
gen des Freibetrags von 2 400 DM. Den haben nämlich
andere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen nicht. Das
ist an sich ungerecht, denkt man zum Beispiel an Ange-
stellte im Büro, die kein Trinkgeld bekommen und ihre
Einkünfte voll versteuern müssen.


(Zuruf des Abg. Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU])


Auf der anderen Seite, lieber Herr Willsch, ist es so,
dass der Freibetrag eingeführt worden ist, damit der büro-
kratische Aufwand bei der Erfassung der Trinkgelder für
die Steuerzahler und auch für die Finanzverwaltung in
Grenzen gehalten wird. Wir meinen, dass das an dieser
Stelle – aber eben nur aus diesen Gründen – absolut ge-
rechtfertigt ist.

Ich komme zur Inkonsequenz des Vorschlags der
F.D.P. und zur Frage der Systematik. Ihre Vorschläge sind
inkonsequent. Das gilt nicht nur für diesen, sondern auch
für viele andere.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Das müssen wir uns von den Grünen nicht erklären lassen!)


Auf der einen Seite fordern Sie immer wieder den Abbau
von Ausnahmetatbeständen, während Sie auf der anderen
Seite alle Möglichkeiten irgendwelcher Steuersonderab-
schreibungen wieder zum Leben erwecken wollen. Wie
passt das zusammen? Sie machen Klientelpolitik pur, die
mit einem Populismus verbunden ist, der weder der Sache
dient noch irgendetwas mit Systematik oder mit Gerech-
tigkeit zu tun hat. Sie setzen einfach darauf, mit billigen
Parolen ein paar neue Wähler und Wählerinnen zu ge-
winnen; sonst wollen Sie nichts.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Was billig ist, sollen andere entscheiden!)


Es ist daher vollkommen richtig, dass wir diesen unsinni-
gen Antrag ablehnen.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Die Rede war aber billig! – Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Das war aber schwach!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411118800
Als letzte
Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin
Heidemarie Ehlert von der PDS-Fraktion das Wort.






(C)



(D)



(A)



(B)



Heidemarie Ehlert (PDS):
Rede ID: ID1411118900
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! In einigen Bereichen der Gastronomie,
besonders in den Biergärten und in den Eiscafés, ist in den
vergangenen heißen Tagen sicherlich reichlich Trinkgeld
geflossen. Das wird vermutlich bei den Friseusen weniger
der Fall gewesen sein. Nur ganz Mutige werden es gewagt
haben, sich bei 35 Grad im Schatten der Heißluft eines
Föhns auszusetzen. Das beweist, Trinkgelder sind nach
wie vor zwar eine wünschenswerte Einnahmequelle im
Dienstleistungsbereich, aber eben nicht planbar. Kollege
Schild, Sie haben bereits in der ersten Lesung im Namen
der SPD-Fraktion nachdrücklich betont, dass Trinkgelder,
realistisch gesehen, durchaus als Arbeitslohn zu bezeich-
nen sind. Die Arbeitgeber betrachten sie als festen Be-
standteil des Lohnes – das wissen wir –, und insofern ist
eine Besteuerung korrekt.

Damit bleibe ich zwar im Rahmen des Steuerrechts;
aber den Betroffenen bleibt – auch das ist eine Tatsache –
durch die Besteuerung noch weniger zum Leben übrig,
sofern sie den Freibetrag von 2 400 DM überschreiten.

Dazu kommt aber noch, dass allein im Gastronomie-
bereich die Hälfte der Beschäftigten auf Teilzeitbasis ar-
beitet. Die Gewerkschaft NGG verweist außerdem darauf,
dass gerade im Gastronomiebereich Vollarbeitsplätze
durch Auszubildende ersetzt werden, was zwar an und für
sich nicht schlecht ist, weil die Branche damit für Nach-
wuchskräfte sorgt; aber zwischen 60 Prozent und 80 Pro-
zent der jungen Fachleute verlassen das Gewerbe meist
schon unmittelbar nach der Ausbildung und suchen ihr
Glück woanders, weil die Löhne in diesem Bereich so
niedrig und die Arbeitsbedingungen so schlecht sind.
Selbst Nobelherbergen – ich sage nur: Adlon – sind hier-
von nicht ausgenommen.

Nicht durch Streichung der Freibeträge oder durch Be-
steuerung der Trinkgelder, sondern durch Umsetzung der
gewerkschaftlichen Forderungen nach besser geregel-
ten Bedingungen, besserer Bezahlung und planbaren Frei-
zeiten würde die Attraktivität der Arbeit im Gaststätten-
gewerbe in Deutschland erheblich angehoben werden.

Der Erhöhung der Freibeträge auf 3 600 DM, die von
der CDU/CSU ursprünglich gefordert worden ist, würden
wir ja zustimmen, aber dieser Antrag steht heute nicht zur
Abstimmung. Herr Willsch, wo ist der Antrag? Wenn,
dann müssen Sie Nägel mit Köpfen machen. Sie dürfen es
nicht nur fordern, sondern Sie müssen es dann auch ein-
reichen und zur Abstimmung stellen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das müssen Sie mal den anderen sagen!)


Wenn von Seiten der F.D.P. hier gesagt wird, dass von
der Besteuerung des Trinkgeldes das Tourismusgeschäft
abhänge, dann habe ich Zweifel, ob der Redner weiß, wo-
von er da spricht. Das Tourismusgeschäft hängt nämlich
nicht von der Besteuerung der Trinkgelder ab, sondern da-
von, was die Leute draußen zur Verfügung haben, das
heißt davon, ob die Leute es sich leisten können, in Urlaub
zu fahren, Gaststätten zu besuchen oder zum Friseur zu
gehen.


(Beifall bei der PDS – Zuruf von der F.D.P.: Aber eine Ergänzung ist es schon!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1411119000
Ich
schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der F.D.P. zur Abschaffung der Trinkgeldbe-
steuerung auf Drucksache 14/1731 (neu). Der Finanzaus-
schuss empfiehlt auf Drucksache 14/3272, den Gesetz-
entwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der
Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/1731 (neu) ab-
stimmen und bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-
tung abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion bei Enthaltung der
Fraktionen der CDU/CSU und der PDS. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.

Ich rufe Punkt 10 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags des Abgeordneten Werner
Lensing und weiteren Abgeordneten der Fraktion
der CDU/CSU, der Abgeordneten Uta Titze-
Stecher und weiteren Abgeordneten der Fraktion
der SPD, der Abgeordneten Ekin Deligöz und wei-
teren Abgeordneten der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abgeordneten
Hildebrecht Braun (Augsburg) und weiteren Ab-
geordneten der Fraktion der F.D.P.
Für einen verbesserten Nichtraucherschutz am
Arbeitsplatz
– Drucksache 14/3231 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Werner Lensing von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.


Werner Lensing (CDU):
Rede ID: ID1411119100
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Um es von
vornherein in der gebotenen Klarheit und Offenheit zu sa-
gen: Der interfraktionellen Nichtraucherschutzinitiative
geht es letztlich nicht darum, all unseren Raucherinnen
und Rauchern auf dem Gesetzeswege den vermeintlichen
Kampf anzusagen – dafür fehlt ihr im Übrigen auch jegli-
che Rechtsgrundlage –; vielmehr treibt sie die Fürsorge
für die unfreiwilligen Passivraucherinnen und Passivrau-
cher in der konkreten Situation ihres Arbeitsplatzes.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der PDS)


Ausgangslage unserer Überlegungen bleibt ein in
Art. 2 des Grundgesetzes angelegter, schier unüber-
brückbarer Entscheidungskonflikt, weil einerseits Ab-
satz 1 den Anspruch eines jeden Einzelnen auf die freie
Entfaltung seiner Persönlichkeit und damit zugleich die
freie Entscheidung, beispielsweise zu rauchen, beinhaltet,






(C)



(D)



(A)



(B)


andererseits in Absatz 2 des gleichen Artikels das Recht
des Einzelnen auf Leben und körperliche Unversehrtheit
garantiert wird. Dieses grundsätzlich geschützte Recht
auf körperliche Unversehrtheit wird allerdings massiv
verletzt, solange beispielsweise Bürgerinnen und Bürger
nicht ausreichend vor den Folgen des Passivrauchens am
Arbeitsplatz geschützt sind.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Daher wird der berechtigte Ruf nach einer gesetzlichen
Regelung immer lauter.

Doch wollen wir, meine Damen und Herren, um das an
dieser Stelle gleich deutlich zu artikulieren, in dieser
Frage nicht mehr Staat als eben notwendig und lehnen da-
her ein spezielles Nichtraucherschutzgesetz entschieden
ab, befürworten allerdings Präzisierungen innerhalb be-
reits bestehender Regelungen, beispielsweise in der gülti-
gen Arbeitsstättenverordnung.


(Vo r s i t z : Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)


Nun wird gesagt, die Frage eines geeigneten Nichtrau-
cherschutzes – wer kennt diese Diskussion nicht? – solle
gefälligst konkret vor Ort auf der Basis freiwilliger Ver-
einbarungen einvernehmlich geklärt werden. Schließlich
verfüge Deutschland ausschließlich über mündige Bürge-
rinnen und Bürger. Ja, meine Damen und Herren, glauben
Sie etwa, ich würde dieses nicht gerne ebenso bewerten
wollen? Ich wäre doch geradezu froh und dankbar, wenn
es tatsächlich so wäre, wenn unsere Initiative nicht nötig
gewesen wäre und wir die Vorlage nicht hätten erarbeiten
müssen. Doch leider ist diese idealisierte Wunschvor-
stellung in der Tat nur ein Traum. Sie entspricht nicht der
realen Arbeitswelt. Dies beweisen zahllose gerichtliche
Verfahren. Das ist aus meiner Sicht sehr traurig.

Im Übrigen kann der immer wieder beschworene Ap-
pell an die Vernunft gar nicht fruchten – weder der Appell
an die Raucher, doch gefälligst Rücksicht zu nehmen,
noch die Aufforderung an die Nichtraucher, sich doch to-
leranter zu zeigen. Schon aus psychologischen Gründen,
meine Damen und Herren, kann eine freiwillige Rück-
sichtnahme insbesondere von den starken Raucherinnen
und Rauchern, die ihr Rauchverhalten aufgrund ihrer Ta-
bakabhängigkeit vielfach nicht mehr im Griff haben, erst
gar nicht erwartet werden. Umgekehrt – das wollen wir
auch deutlich sagen – kann man von Nichtrauchern wohl
kaum so viel vermeintliche Toleranz erhoffen, dass diese
die Gefahren der Gesundheitsbeeinträchtigung durch Pas-
sivrauchen widerspruchslos hinnehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Im Übrigen sind all die Arbeitsstätten, wo es zu einer güt-
lichen Einigung gekommen ist, ohnehin von unserer Ini-
tiative nicht betroffen.

Wo liegt das eigentliche Problem? Nach dem heutigen
wissenschaftlichen Erkenntnisstand kann niemand mehr
ernsthaft bezweifeln, dass Passivrauchen grundsätzlich
die gleichen akuten und chronischen Gesundheitsschäden
hervorruft wie das Rauchen selbst. Diese unbezweifelba-
ren Fakten werden durch zahlreiche medizinische Nach-

weise, durch statistische Befunde und nicht zuletzt durch
Bestandsaufnahmen des Deutschen Krebsforschungszen-
trums in Heidelberg und des Robert-Koch-Instituts in
Berlin belegt. Nach diesen Untersuchungen sind allein in
Deutschland pro Jahr etwa 300 bis 400 Krebstote auf-
grund von Passivrauchen zu beklagen. Obwohl die deut-
sche Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädli-
cher Arbeitsstoffe bereits im Jahre 1985 erklärt hat, dass
das Passivrauchen endlich als grundsätzlich Krebs erzeu-
gend anerkannt werden müsse und zu den bedrohlichsten
Gefährdungskategorien wie beispielsweise auch das Ein-
atmen von Asbestfasern oder Benzoldämpfen gehöre, ist
nach wie vor Handlungsbedarf angezeigt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)


Es ist eine weit verbreitete Fehlhaltung zu sagen:
„Natürlich müssen wir an den Arbeitsplätzen Asbest be-
seitigen,


(Uta Titze-Stecher [SPD]: Palast der Republik!)


egal was es kostet!“, aber zugleich die Frage, wie man den
Passivraucher schützt, als Bagatelle zu vernachlässigen.
Ich sage deshalb noch einmal mit aller gebotenen Deut-
lichkeit: Diese weit verbreitete Fehlbewertung muss end-
lich aufgrund objektiver wissenschaftlicher Erkenntnisse
ausgeräumt werden.

Nun gibt es aber in Deutschland – man höre und
staune – keine einzige explizite gesetzliche Regelung zum
Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz. Dieses bedeutet in
der Praxis, dass derzeit unsere Gerichte bei den vielen ar-
beitsrechtlichen Streitigkeiten zum Nicht-raucherschutz
immer noch gezwungen sind, auf wenige allgemeine Pa-
ragraphen zum Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz
zurückzugreifen.

Ich will Ihnen diese Paragraphen nicht vorenthalten.
Da gibt es den § 5 der Arbeitsstättenverordnung, wonach
am Arbeitsplatz ausreichend „gesundheitlich zuträgliche
Atemluft“ vorhanden sein muss. Doch keiner weiß, was
das heißt. Es gibt ferner den § 32 der Arbeitsstättenver-
ordnung, wonach Nichtraucher in Pausen-, Bereitschafts-
und Liegeräumen, aber nicht am konkreten Arbeitsplatz
vor Belästigung durch Tabakrauch zu schützen sind.
Schließlich gibt es den relativ unpräzisen § 618 BGB, wo-
nach die Fürsorgepflicht des Arbeitsgebers für seine Mit-
arbeiter auch deren Schutz für Leben und Gesundheit um-
fasst.

Wenn man aber nachfragt, wo die jeweilige Fürsorge-
pflicht beginnt und wo sie endet, dann ist das schwer aus-
zumachen. Das hat zur Folge, dass wir eine Fülle indivi-
dueller Gerichtsurteile haben und dass es in diesem Be-
reich keine Rechtsgrundsätze gibt, die konkret angewandt
werden können. Das Schlimmste ist, dass jeder Einzelne,
der meint, er müsse jetzt klagen, gegenüber dem Gericht
nachweisen muss, inwieweit er konkret als Individuum
durch die Einflüsse des Rauchens gesundheitlich geschä-
digt wurde.




Werner Lensing
10530


(C)



(D)



(A)



(B)


Aus diesem Grunde hat sich die interfraktionelle
Gruppe gebildet. Wir haben etwas gemacht, das sich sehr
von dem unterscheidet, was bisher unternommen wurde.
Wir haben nämlich gesagt – ich habe es bereits angedeu-
tet –, dass wir folgende Leitsätze beachten wollen: Wir
wollen kein eigenständiges Nichtraucherschutzgesetz,
sondern – wie bereits erläutert – nur bereichsspezifische
Änderungen bestehender Gesetze und Verordnungen.
Wir wollen keine ausdrückliche Bußgeldbewehrung, son-
dern lieber Hilfe für all die Raucherinnen und Raucher,
die sich von ihrer Rauchgewohnheit lösen wollen.

Deswegen hat unsere gesetzliche Initiative mindestens
die folgenden vier Vorteile: Erstens. Sie ist eindeutig und
schafft dadurch die überfällige Rechtsklarheit im Nicht-
raucherschutz am Arbeitsplatz. Zweitens. Sie ist allge-
mein und lässt dadurch hinsichtlich der Wahl der konkre-
ten betrieblichen Maßnahmen den Arbeitgebern und Be-
triebsräten den angesichts der Vielgestaltigkeit der
betrieblichen Verhältnisse erforderlichen Regelungs-
spielraum. Drittens. Sie ist moderat, da sie das Rauchen
am Arbeitsplatz entgegen früheren Versuchen nicht gene-
rell verbietet, sondern lediglich im Rahmen individueller
betrieblicher Vereinbarungen Nichtraucher schützen will.
Viertens. Sie ist zumutbar, da nach § 3 a Abs. 2 der Ar-
beitsstättenverordnung in Arbeitstätten mit Publikums-
verkehr nur insoweit Schutzmaßnahmen zu treffen sind,
„als die Natur des Betriebes und die Art der Beschäftigung
es zulassen“.

Dies ermöglicht schließlich dem Arbeitgeber – etwa in
Gaststätten, wo Raucher und Nichtraucher gemeinsam
Entspannung und Vergnügen suchen – aus Gründen der
Zumutbarkeit an die besondere Situation angepasste und
weniger kostenaufwendige Schutzmaßnahmen. Dies be-
deutet allerdings letztendlich keinen Freibrief für den
Gastwirt, in solchen Betrieben alles beim Alten belassen
zu können. Vielmehr besteht auch dort eine Pflicht zur
Minimierung der Gesundheitsgefahren durch Passivrau-
chen.

Neben der Klarstellung der bestehenden Rechtslage
zum Schutze der Nichtraucher gilt unsere Zielsetzung
gleichermaßen neben dem Jugendschutz auch der Tabak-
prävention. Entwöhnungsbereite Raucherinnen und
Raucher, die ihre Tabakabhängigkeit erkennen, sich je-
doch bisher vergeblich um eine Einschränkung ihres Kon-
sums bemühen, sollen endlich wirksam in ihrem Be-
mühen unterstützt werden. Daher fordern wir mit dem
vorliegenden Antrag zugleich das Bundesministerium für
Gesundheit und das Bundesministerium für Arbeit und
Sozialordnung auf, Konzepte für eine innerbetriebliche
Nikotinentwöhnung zu entwickeln.

Der vorliegende Antrag will somit zweierlei bewirken:
Erstens. Er schafft eine überfällige eindeutige Rechtslage
zugunsten der Passivraucher und er unterstützt zweitens
entwöhnungsbereite Raucherinnen und Raucher, ohne sie
in irgendeiner Weise zu diskreditieren.

Nach meiner Auffassung gibt es daher zu dem heute
hier vorgelegten Antrag keine Alternative. Ich bitte, sich
daran zu erinnern, dass die EU bereits 1985 ihre Mit-
gliedstaaten aufgefordert hat, endlich die Voraussetzun-
gen für einen gesetzlichen Nichtraucherschutz zu schaf-

fen. Diese wurden inzwischen – gottlob – in 14 EU-Staa-
ten umgesetzt. Nur Deutschland hinkt immer noch dem
erforderlichen Schutzstandard hinterher. Doch durch un-
seren Antrag würde in Deutschland endlich ein Schutzan-
spruch der Bürgerinnen und Bürger vor den Gesundheits-
gefahren des Passivrauchens gesetzlich verankert, wie er
bereits in über 90 Staaten der Erde besteht.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411119200
Herr Kollege
Lensing, denken Sie bitte daran, dass Ihre Redezeit abge-
laufen ist.


Werner Lensing (CDU):
Rede ID: ID1411119300
Ich denke daran: Ich
möchte aber gern die Chance nutzen, noch einen Satz zu
sagen, der da lautet: Ich bitte Sie sehr darum, mit uns ge-
meinsam für dieses Ziel zu werben und bei Bedarf auch
zu streiten.

Ich danke Ihnen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411119400
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Uta Titze-Stecher.


Uta Titze-Stecher (SPD):
Rede ID: ID1411119500
Frau Präsidentin! Liebe
verbliebene Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß, dass der
Fußball seinen Tribut fordert. Deshalb freue ich mich,
dass zumindest einige Sitzfleisch beweisen. Lassen Sie
mich, nachdem der Kollege Lensing dankenswerterweise
ausführlich, detailliert und sachgerecht den Inhalt des vor-
liegenden Antrages dargestellt hat, einen kurzen Rück-
blick auf die bisherigen parlamentarischen Bemühun-
gen auf diesem Gebiet machen. Denn Unkundige denken
vielleicht, das sei der erste Versuch, einen gesetzlichen
Nichtraucherschutz zu verankern. Dem ist nicht so. Dies
ist vielmehr bereits der dritte Versuch.

Immer war das Vorgehen interfraktionell angelegt, weil
wir wissen, dass dieses Thema emotional befrachtet ist,
weil wir wissen, dass Interessen des Gesundheitsschutzes
versus Interessen der Wirtschaft stehen, weil wir wissen,
dass aufseiten der Raucher individuelle Freiheit und auf-
seiten der Nichtraucher Gesundheitsschutz eingeklagt
werden. Der erste Versuch von 1994 ist mit Beendigung
der Wahlperiode durch die Ritze gefallen. Unterstützt ha-
ben ihn damals 41 Kolleginnen und Kollegen. Wir haben
uns damals fast an diesem gesetzlichen Regelwerk verho-
ben.

Aus dieser Erfahrung und aufgrund der Gespräche mit
der betroffenen Tabakindustrie, dem DEHOGA, also dem
Deutschen Hotel- und Gaststättenverband, und anderen
entstand dann der zweite interfraktionelle Anlauf, der im-
merhin zu einer zweiten und dritten Lesung im Jahre 1998
führte. Wenn er Erfolg gehabt hätte, stünden wir heute
nicht hier und müssten nicht den Kraftakt eines dritten
Versuches unternehmen.

Der Kollege Lensing hat schon dargestellt, dass wir in-
zwischen weise und auch ein bisschen bescheidener ge-
worden sind. Wir haben uns in einem ersten Schritt vor-
genommen, den Bereich zu regeln, der in unseren Augen




Werner Lensing

10531


(C)



(D)



(A)



(B)


als Erstes regelungsbedürftig ist, nämlich den Arbeits-
platz. Immerhin sind 63 Prozent der Erwerbstätigen Nicht-
raucher und Nichtraucherinnen. Deshalb besteht die Not-
wendigkeit, hier als Erstes zu regeln.

Wir haben davon abgesehen, ein Artikelgesetz vorzu-
legen, das in öffentlichen Anhörungen zerpflückt worden
wäre und großen Widerstand auch bei Kollegen und Kol-
leginnen hervorgerufen hätte. Wir haben, wie gesagt, eine
andere Strategie gewählt: Wir regeln nur noch bestehende
Lücken. Deshalb können Sie diesem Antrag getrost zu-
stimmen. Er trägt immerhin auch die Unterschrift der Ge-
sundheitsministerin sowie die Unterschriften von drei
Staatssekretären, allerdings nicht die Unterschrift des
Kanzlers. Das ist wohl auf Unkenntnis des Inhaltes
zurückzuführen. Wir wollen Kanzler Schröder keinesfalls
seine Cohiba verbieten. Er kann sie rauchen, so oft er will,
nur nicht in jeglicher Situation. Da ich Kabinettsitzungen
für Arbeitssitzungen halte, wird, wenn unser Vorschlag
Gesetz wird, die Cohiba in Kabinettsitzungen wohl
schwerlich zum Genuss kommen.

Wir haben die Hoffnung, dass dieser dritte Versuch von
Erfolg gekrönt sein wird, weil die jahrelange Debatte – ein
Verdienst hieran rechnen wir auch uns an – das Bewusst-
sein auf allen Seiten geändert hat, und zwar sowohl auf
der Seite der Raucher als auch auf der Seite der Nichtrau-
cher, aber, was besonders wichtig ist, vor allem auch in
den Reihen der Politik. Denn nirgends wird so viel gepafft
wie im politischen Raum und im Bereich der Medien –
deswegen auch immer die freundliche Unterstützung un-
serer Bemühungen aufseiten der Medien.

Die aktuelle Entwicklung kommt uns sehr entgegen.
Heute haben die Gesundheitsminister der EU entschie-
den, dass ab 2004 eine verschärfte EU-Tabakrichtlinie
gelten soll. Ich erspare Ihnen die Einzelheiten. Nur so
viel: Erstmals sind Höchstgrenzen für alle Tabakprodukte
vorgesehen. Die entsprechenden Warnhinweise, die Sie
alle kennen – Rauchen gefährdet ungeborenes Leben,
Rauchen gefährdet Ihre Gesundheit –, werden sprachlich
verschärft und optisch vergrößert, sodass niemand mehr
sagen kann: Ich habe gar nicht gewusst, was ich da tue.

Positives Fazit: Jahrelange Bemühungen, auch Kämpfe
und unsachliche Auseinandersetzungen, haben immerhin
dazu geführt, dass jetzt die Hoffnung auf einen gesetzlich
verankerten Nichtraucherschutz sehr konkret gewor-
den ist. Auch Meldungen wie die gestern Morgen im
Frühstücksfernsehen, ab Juli gebe es eine Antiraucher-
pille namens Zyban, die, mit 30-prozentiger Erfolgsquote
versehen, dann zu kaufen sei, können uns nicht daran hin-
dern, den Nichtraucherschutz im Betrieb zu verankern.
Denn der beste Schutz ist natürlich, die Zigarette gar nicht
erst anzufassen.

Zum Antrag. Der Titel ist Programm: „Für einen ver-
besserten Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz“. Es geht
uns, wie der Kollege Lensing betont hat und wie es sicher
auch die folgenden Redner betonen werden – das ist ein
wichtiges Thema –, nicht um Diskriminierung, Stigmati-
sierung oder Ausgrenzung der Raucher. Jeder Bürger soll
selbst entscheiden, zu welchem Genussmittel er greift und
durch welches er sich schädigt. Nur, wenn ich ein Schnäps-
chen trinke oder eine Flasche Wein leere, dann schädige

ich die eigene Leber. Esse ich zu viel, habe ich eigene Ge-
wichtsprobleme. Beim Rauchen liegt die Sache entschie-
den anders. Derjenige, der neben einem Raucher sitzt,
steht oder arbeitet, ist als Nichtraucher immer mit betrof-
fen, wenn sein Nachbar raucht. Und da hört es auf! Wenn
ich mich entscheide, mich persönlich durch Rauchen zu
schädigen, ist das mein Recht, mein Bürgerrecht. Aber ich
habe nicht das Recht, den Nachbarn mit zu schädigen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)


Deswegen ist die gesetzliche Regelung absolut überfällig.
Herr Kollege Lensing hat ebenfalls darauf hingewie-

sen, wie schwierig es ist, mit Süchtigen eine Vereinba-
rung zu treffen. Es wird immer gesagt: Wir haben alle
Verstand, wir verfügen über Sprache, wir sprechen
Deutsch; unter zivilisierten Menschen müsste man das ei-
gentlich zivil regeln können. – Pustekuchen! Wenn zwei
Drittel der Raucher nikotinabhängig sind, das heißt von
einem Stoff abhängen, dessen Suchtpotenzial vergleich-
bar dem von Heroin und Kokain ist, dann können Sie
nicht mit einem Appell an die Ratio erfolgreich arbeiten.
Sie müssen Hilfe bieten, da es sich um eine Krankheit
handelt, wie auch Alkoholsucht inzwischen als Krankheit
angesehen wird.


(Zuruf der Abg. Dr. Ruth Fuchs [PDS])

– Ich weiß, dass Sie rauchen, Frau Kollegin; ich meine es
nicht persönlich.


(Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Sie werden sich wundern! Ich unterstütze Ihren Antrag!)


– Gut.
Gestatten Sie mir an dieser Stelle eine kleine Ab-

schweifung: Wir haben den Anspruch, hier interfraktio-
nell vorzugehen. Ich habe das auch begründet. Es tut mir
Leid, dass die Unterschrift der PDS unter diesem Antrag
fehlt. Ein Unvereinbarkeitsgebot der CDU/CSU-Fraktion
hat die Unterschrift verhindert, obwohl gestern im Haus-
haltsausschuss beschlossen wurde, ein gemeinsames Ge-
setz zur Errichtung einer Stiftung mit dem Namen „Erin-
nerung, Verantwortung und Zukunft“ zu schaffen. Da hat
man dieses Prinzip um der Sache willen verlassen können.
Ich will die Themen zwar nicht vergleichen, aber bei der
vergleichsweise einfachen und klaren Sache Nichtrau-
cherschutz hätte man über diese Hürde springen können.

Jedenfalls appelliere ich an die Kollegen und Kolle-
ginnen der PDS, von denen ich weiß, dass sie in der Sa-
che hinter uns stehen, in der zweiten und dritten Lesung
mit uns zu stimmen. Wie sagte Ihr Kollege Gysi zu mir:
Ich muss schon dafür sein, weil man die Menschheit vor
mir als Raucher schützen muss.

Unsere Perspektive ist natürlich nicht, bei diesem
Schritt stehen zu bleiben. Auch das hat Kollege Lensing
in einem Nebensatz erwähnt. Wir bereiten im Augenblick
eine Verbesserung des Jugendschutzes, das heißt des
Schutzes der Jugendlichen unter 16 Jahren vor aktivem
und passivem Rauchen, vor, indem wir – analog zum Ab-




Uta Titze-Stecher
10532


(C)



(D)



(A)



(B)


gabeverbot für Alkohol – ein Abgabeverbot für Tabak-
waren erwägen. Das ist überfällig.

Wir führen kontinuierlich einen konstruktiven Dialog
mit der Automatenindustrie, um zu erreichen, dass sie
eine Lösung entwickelt, die den Zugang zu Zigarettenau-
tomaten für Jugendliche unter 16 Jahren verhindert. Wir
wollen zudem unter Federführung der Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung die Maßnahmen für Präven-
tion und Aufklärung massiv verstärken und – ich nehme
an, Vertreter der Zigarettenindustrie hören uns zu – hoffen
natürlich auf eine angemessene finanzielle Unterstützung
durch die Tabakindustrie in diesem Bereich.

Die Gegner eines gesetzlichen Nichtraucherschutzes
argumentieren oft mit einem Appell an den zivilen Um-
gang, an die gegenseitige Rücksichtnahme. Nicht nur die
Tatsache der Sucht steht diesem Appell entgegen. Selbst
in Familien, ja sogar hier im Parlament, in bestimmten
Ausschüssen, in bestimmten Landesgruppen und in be-
stimmten Arbeitsgruppen erleben Sie es, dass Sie auf Gra-
nit beißen, wenn Sie die Hand heben und sagen: Mich
belästigt das Rauchen nicht nur, sondern es macht mich
sogar krank. Wenn ich in diesem Zusammenhang auf
meine Allergie verweise, höre ich oft: Ich werde aller-
gisch, wenn ich nicht rauchen darf.

Gegen solche unsachlichen Entgegnungen kann man
nichts machen. In anonymen Gruppen, in Gruppen, in de-
nen sich die Einzelnen nicht kennen, ist die Situation noch
schwieriger. Möchten Sie mir zumuten, in einem Charter-
flieger von der ersten bis zur letzten Reihe jedem persön-
lich zu „verklickern“, warum mich das Rauchen stört,
belästigt oder schädigt? Sie sind längst am Urlaubsziel
vorbeigeflogen, wenn Sie dem Letzten die Sache erklärt
haben.

Schlimmer – weil komplizierter – wird es in Betrie-
ben.Deswegen suchen wir uns diesen Ort im Hinblick auf
eine gesetzliche Regelung aus. Da verweisen die Kolle-
gen, insbesondere der Kollege Dreßler, ein Obergesund-
heitsapostel, auf bestehende Betriebsvereinbarungen.
Wenn Sie die Ergebnisse der in diesem Zusammenhang
gemachten Untersuchungen betrachten, sieht das so aus:
Je nach Zusammensetzung der Betriebspartner, sprich:
der Geschäftsführung und des Betriebsrates, sieht das Er-
gebnis aus. Bestehen diese beiden Seiten in Mehrheit aus
Rauchern, können Sie Gift darauf nehmen, dass das Er-
gebnis raucherfreundlich ist – und umgekehrt. Nach dem
Motto „Wir sind die Schwereren, wir sind die „Mehreren“
darf ein solcher Konfliktfall nicht entschieden werden.


(Beifall bei der PDS)

Die Regelung, die wir hier anbieten – ich will mich

nicht wiederholen; Herr Kollege Lensing hat das vorzüg-
lich dargestellt –, ist durch Rechtssicherheit gekenn-
zeichnet, wird seit 1984 durch die Rechtsprechung mehr
und mehr bestätigt und entzieht den zwischen Rauchern
und Nichtrauchern bestehenden Konflikt der Ebene der
elenden persönlichen Auseinandersetzung, bei der immer
Sieger und Besiegte zurückbleiben. Beide Seiten können
sich auf diese Regelung verlassen. Raucher sind nicht we-
niger gesetzestreu als Nichtraucher. Beide wissen, was
Sache ist.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, dass wir,
nachdem die zuständigen Ausschüsse den vorliegenden
Antrag beraten haben, beim dritten Versuch, dieses Vor-
haben durchzusetzen, eine Mehrheit gewinnen. Das wird
dann wohl das letzte Mal sein. Denn ich weiß nicht, ob an-
gesichts dessen, dass ich ab 2002 nicht mehr im Bundes-
tag vertreten sein werde, die Energie vorhanden sein wird,
dieses Vorhaben ein viertes Mal zu stemmen.

Ich möchte den Kolleginnen und Kollegen der inter-
fraktionellen Arbeitsgruppe meinen persönlichen Dank
aussprechen. Ein spezieller Dank gilt Herrn Lensing, der
diesen Antrag federführend vorbereitet hat.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ich möchte erwähnen, dass uns unsere Mitarbeiter –
meine Mitarbeiter zum Beispiel rauchen gern und häufig,
nur nicht in meinem Raum; aber in ihren Räumen verbiete
ich das Rauchen natürlich nicht – tatkräftigst unterstützen.
Ich möchte schließen mit dem Dank an die Vertreter der
zuständigen Ministerien, die uns bei der Formulierung
und Abfassung des vorliegenden Antrags behilflich wa-
ren.


(Beifall im ganzen Hause)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411119600
Das Wort hat
jetzt der Kollege Hildebrecht Braun, F.D.P.-Fraktion.


Hildebrecht Braun (FDP):
Rede ID: ID1411119700
Frau Präsi-
dentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute
über eine Initiative aus der Mitte des Hauses, über ein Vor-
haben von vier Initiatoren. Einer davon bin ich.

Gott sei Dank hat sich eine Abgeordnete gefunden,
nämlich Frau Schwaetzer, die eine andere Position ein-
nehmen wird. Das ist für eine Diskussion im Bundestag
außerordentlich wichtig. Dafür braucht sie Redezeit.
Dies geht aber auf Kosten der Redezeit, die man mir –
dankenswerterweise – entsprechend der Größe der Frak-
tionen zugemessen hat.

Liebe Kolleginnen und lieber Kollege aus der Arbeits-
gruppe, ich halte so etwas nicht für akzeptabel. Wenn vier
Initiatoren aus der Mitte des Hauses gemeinsam einen
Entwurf erarbeiten, dann kann es wohl kaum so sein, dass
die ersten beiden Redner nach der Größe ihrer Fraktion
Redezeit bekommen,


(Werner Lensing [CDU/CSU]: Das regelt die Geschäftsordnung!)


der Vierte im Bunde, der genauso zu diesem Entwurf bei-
getragen hat, aber von seiner Redezeit auch noch das ab-
gezogen bekommt, was das einzige Mitglied des Hauses,
das dagegen sprechen wird, zu Recht im Interesse der Dis-
kussion an Redezeit beansprucht. So können wir das nicht
machen.

Ich will daher meine Rede zu Protokoll geben. Jeder
kann sie dann nachlesen. Außerdem haben die beiden
Vorredner schon viel Richtiges gesagt. Wir werden uns
in Ruhe darüber unterhalten, wie wir bei der nächsten




Uta Titze-Stecher

10533


(C)



(D)



(A)



(B)


Beratung nach den Sommerferien die Dinge handhaben
werden, wenn wir den zweiten Teil unserer Initiative hier
im Bundestag einbringen werden.

Vielen Dank.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411119800
Dies ist nun ein
schwieriger Geschäftsordnungsvorgang, weil Sie bereits
geredet haben und trotzdem noch Ihre Rede zu Protokoll
geben wollen. In dieser Frage ist aber Toleranz die beste
Richtschnur. Daher empfehle ich, dass wir der Bitte des
Kollegen Braun nachkommen. Sind Sie damit einverstan-
den? – Dann wird die Rede zu Protokoll gegeben.1)

Nun hat die Abgeordnete Ekin Deligöz das Wort.


Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411119900
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber
Herr Kollege Braun, leider gibt es in einer Demokratie
nun einmal bestimmte Spielregeln. Manchmal sind sie
nicht so angenehm; aber wir müssen mit ihnen leben. Das
verlangt unsere Geschäftsordnung. Aber wir haben jetzt
ein gutes Verfahren gefunden. Ich danken Ihnen, Frau Prä-
sidentin, ausdrücklich dafür, dass Sie Toleranz gezeigt ha-
ben. Für diese Toleranz im Zusammenleben treten wir
hier ja gemeinsam ein; es geht darum, wie wir letztendlich
unsere Gesellschaft und unsere Demokratie gestalten
wollen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, selten haben wir im
Bundestag die Gelegenheit, eine fraktionsübergreifende
Initiative vorzustellen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Gerade diese Überparteilichkeit zeigt, dass es uns an die-
sem Punkt wirklich und ausschließlich um die Sache geht.
Was wollen wir erreichen? Wir treten dafür ein, dass end-
lich ein Anliegen vieler Menschen durchgesetzt wird: Sie
wollen einen Anspruch darauf haben, ihre tägliche Arbeit
unbelästigt zu verrichten.

Jetzt höre ich natürlich immer wieder das Gegenargu-
ment – das werden wir heute vielleicht noch einmal zu
hören bekommen –, dass die Menschen dies untereinan-
der regeln könnten und wir dazu keine Gesetze bräuchten.
Ich selbst weiß ziemlich genau, wie es in Deutschland mit
den zahlreichen Gesetzen steht, weil ich das studiert habe;
ich bin Diplomverwaltungswissenschaftlerin. Aber ich
habe auch zu unterscheiden gelernt.

Wir wollen hier nicht in irgendeiner Weise die Rege-
lungswut in Deutschland weiter vorantreiben. Aber wir
müssen die Prozesswut, die es in diesem Lande gibt, ein-
dämmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Gerichte und Justizverwaltungen stöhnen – häufig zu
Recht – über die vielen kleinen Nachbarschaftsstreitig-

keiten. Die Bundesregierung arbeitet an diesem Problem
in mehrfacher Weise und wird dafür sorgen, dass eine Re-
form des Justizrechtes kommt, die die Gerichte massiv
entlasten wird.

Beim Nichtraucherschutz handelt es sich nach meiner
Auffassung aber um eine andere Dimension. Es geht um
die Sicherung der verfassungsmäßigen Rechte der Men-
schen: um ihr Recht auf Leben und um ihr Recht auf kör-
perliche Unversehrtheit.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)


Da dürfen wir als Gesetzgeber – wir alle, die wir hier sit-
zen – nicht wegsehen. Das gilt ebenso für die Behörden
und auch für uns alle in unserem privaten Verhalten. An
diesem Punkt ist tatsächlich die Verantwortung gefragt:
Wir dürfen uns nicht aus der Verantwortung für den Ge-
sundheitsschutz wegstehlen. Ganz im Gegenteil: Weil
wir in diesem Bereich bisher auf Regelungen verzichtet
haben, hat sich in Betrieben leider oft das Recht des Stär-
keren und Rücksichtslosen durchgesetzt. Darunter wollen
wir einen Schlussstrich ziehen. Wir wollen für die Nicht-
raucherinnen und Nichtraucher mehr Freiheiten an ihren
Arbeitsplätzen, an denen sie sein müssen, um ihr täglich
Brot zu verdienen.

Die Regelungen, die wir heute fraktionsübergreifend
vorschlagen, schaffen endlich Klarheit und entlasten die
Gerichte. Die Gegner einer gesetzlichen Regelung müs-
sen sich schon fragen lassen, warum sie es zulassen wol-
len, dass die Gerichte – bis hin zum Bundesarbeitsgericht –
weiterhin den Gesetzgeber ersetzen, der hier doch ein-
deutig gefragt ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Petra Bläss [PDS])


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen, dass die
unsägliche Beweislast nicht bei den Nichtraucherinnen
und Nichtrauchern liegt. Wir stellen klar fest: Das Recht
der Raucher, ihr Umfeld zu verqualmen, zu rauchen, wo
sie wollen, hat dort seine Grenze, wo das Recht der Nicht-
raucher beginnt. Aus verschiedenen Gründen haben wir
uns im ersten Schritt auf den Arbeitsplatz konzentriert;
Weiteres wird folgen.

Das Passivrauchen am Arbeitsplatz wurde 1998 von
der Deutschen Forschungsgemeinschaft als eines der ge-
fährlichsten Krebsrisiken benannt. Tabakrauch wird als
einer der gesundheitsschädlichsten Arbeitsstoffe einge-
ordnet. Dies bedarf keiner weiteren Kommentierung.

Da auch mir die Zeit wegrennt und ich eigentlich noch
viel zu sagen habe, möchte ich mich kurz fassen und mit
einem letzten Punkt schließen. Ich bin überzeugt, dass die
Durchsetzung des rauchfreien Arbeitsplatzes ein erster,
aber sehr wichtiger Baustein für ein umfassendes Nicht-
raucherschutzgesetz ist. Das ist nichts Revolutionäres,
das hat nichts mit Stigmatisierung zu tun. Wir wollen die
Raucher nicht in die Ecke drängen und auch nicht so
etwas wie eine Positivdiskriminierung; das ist nicht unser
Ziel. Wir wollen nur das Recht der Nichtraucher fest-
schreiben und den Anschluss an die europäische




Hildebrecht Braun (Augsburg)

10534


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 2

Entwicklung erreichen. Dafür wollen wir mit einer großen
Mehrheit des Parlaments ein Zeichen setzen; und dies
sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Ich be-
danke mich schon im Voraus bei allen, die uns dabei un-
terstützen.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411120000
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Petra Bläss.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411120100
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Besser auf den Punkt bringen kann
man die Bewertung des vorliegenden interfraktionellen
Antrags für einen verbesserten Nichtraucherschutz am
Arbeitsplatz wohl nicht, als es die „Koalition gegen das
Rauchen“ getan hat, deren Brief uns Abgeordnete heute
erreicht hat. Der Antrag berücksichtigt die erforderlichen
Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit vor Passivrau-
chen. Zugleich wird bei den zu ergreifenden Maßnahmen
Augenmaß gewahrt, indem die Selbstbestimmungsrechte
der Sozialpartner unberührt bleiben und diese selbst über
die Verhältnismäßigkeit der Schutzmaßnahmen entschei-
den können. Nicht mehr, aber auch nicht weniger steht
also zur Debatte.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Regelung der
Pflichten der Arbeitgeber gegenüber den individual-
rechtlichen Ansprüchen der Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer auf einen rauchfreien Arbeitsplatz ist überfäl-
lig. Bisher ist dies oft eine Ermessensfrage in Verhand-
lungen zwischen Betriebsräten und Arbeitgebern oder ein
Fall für Gerichte. Diese notwendige Regelung aber bleibt
nur ein Schritt auf dem Weg zu einem umfassenden
Schutzgesetz für Nichtraucherinnen und Nichtraucher.

Die halbherzige Aufforderung an die Bundesregierung,
„Konzepte für innerbetriebliche Maßnahmen der Präven-
tion und der freiwilligen Raucherentwöhnung“ zu ent-
wickeln, darf nicht das letzte Wort des Gesetzgebers blei-
ben. Was muss denn noch an Argumenten angeführt wer-
den, um in diesem Hause endlich eine Mehrheit dazu zu
bringen, etwas zum Schutz vor den enormen gesundheit-
lichen Gefahren des Rauchens und vor allem des passiven
Mitrauchens zu tun?

Auf dem 24. Deutschen Krebskongress wurde nachge-
wiesen, dass jeder zweite Jugendliche, der heute zur Zi-
garette greift, an den Folgen der Nikotinabhängigkeit ster-
ben muss. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass
in Deutschland der Tabakkonsum jährlich bereits für
100 000 Bürgerinnen und Bürger tödliche Folgen hat.
Noch alarmierender sind die Studien, die belegen, welche
gesundheitsschädigenden Wirkungen das Passivrauchen
auf Nichtraucherinnen und Nichtraucher, insbesondere
auf Kinder hat.

Angesichts des unübersehbaren politischen Hand-
lungsbedarfs müsste unsere Verantwortung als Politike-
rinnen und Politiker Anlass genug sein, so schnell wie
möglich ein alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens

umfassendes Nichtraucherschutzgesetz zu verabschie-
den. Es kann nicht oft genug gesagt werden: Es geht nicht
um eine Diskriminierung der Raucherinnen und Raucher.
Es geht um ein Gesetz, das den Anspruch der Nichtrau-
chenden auf eine nikotinfreie Umwelt in öffentlichen
Gebäuden und Verkehrsmitteln, am Arbeitsplatz und in al-
len Räumen, in denen sich kleinere Kinder aufhalten, re-
gelt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wie kaum ein anderes Thema ist der Nichtraucher-
schutz nicht für die parteipolitische Auseinandersetzung
geeignet. Gerade weil es seit Jahren ein fraktionsüber-
greifendes Bemühen um eine Nichtraucherschutzrege-
lung gibt – die Kollegin Uta Titze-Stecher hat noch ein-
mal die Geschichte aufgezeigt –, ist es unverständlich und
in meinen Augen auch nach außen hin nicht vermittelbar,
dass kleinkarierte Unvereinbarkeitsbeschlüsse vorge-
schoben werden, um zu verhindern, dass Abgeordnete aus
wirklich allen Fraktionen die vorliegende Initiative unter-
zeichnen. Da, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die
außerparlamentarische „Koalition gegen das Rauchen“
schon wesentlich weiter. Zu dieser Koalition haben sich
inzwischen über 80 Organisationen des Gesundheitswe-
sens zusammengeschlossen. Wir sind hier im Parlament
dagegen nur fünf Fraktionen.

Nichtsdestotrotz: Die Abgeordneten der PDS werden
dem vorliegenden Antrag zustimmen, denn wir halten
seine Umsetzung für einen notwendigen ersten Schritt
zu einem umfassenden Nichtraucherinnen- und Nicht-
raucherschutz.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411120200
Jetzt erteile ich
der Frau Kollegin Schwaetzer das Wort.


Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (FDP):
Rede ID: ID1411120300
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, zum Ab-
schluss dieser Debatte ist es richtig, dass auch jemand das
Wort ergreift, der diesem Antrag nicht zustimmen wird.
Ich weiß heute noch nicht, ob ich für eine Mehrheit im
Hause spreche. Das letzte Mal hat eine Mehrheit den Ent-
wurf eines Nichtraucherschutzgesetzes abgelehnt, somit
ist er nicht Gesetz geworden.

Wie es bei dieser Initiative steht, kann ich heute nicht
sagen. Aber ich kann natürlich darüber nachdenken: Was
hat sich seit der Initiative in der letzten Legislaturperiode
geändert? Da allerdings möchte ich noch einmal darauf
hinweisen, dass von denen, die hier geschützt werden sol-
len, nur eine wirkliche Minderheit meint, dass sie diesen
Schutz brauche. Es sind nämlich nur 25 Prozent der Nicht-
raucher der Meinung, dass der Staat das Nichtrauchen ge-
setzlich regeln solle.


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das behauptet die Zigarettenindustrie!)





Ekin Deligöz

10535


(C)



(D)



(A)



(B)


– Sie können das jederzeit mittels anderer Umfragen
nachweisen lassen. Diese Zahlen sind über die Jahre in
etwa gleich geblieben.


(Werner Lensing [CDU/CSU]: Kein Jugendlicher wird befragt, kein Kind wird befragt, keine Schwangere wird befragt!)


– Herr Lensing, damit möchte ich auch Ihrer Aussage wi-
dersprechen, dass der Ruf nach einer solchen Regelung
immer lauter würde. Wenn Sie sagen, kein Kind werde be-
fragt: Ihre Vorlage bezieht sich auf Arbeitsstätten; inso-
fern würde dieses Argument sicherlich nicht treffen.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Bei Arbeitsstätten – daran sollten wir überhaupt keinen

Zweifel lassen – ist es ganz selbstverständlich die not-
wendige Pflicht des Arbeitgebers, dass Arbeitnehmer vor
Gesundheitsgefahren auch durch das so genannte Passiv-
rauchen geschützt werden müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Dies gilt vor allem für Schwangere und andere gesund-
heitlich besonders gefährdete Arbeitnehmer. Dazu brau-
chen wir aber keine Änderung der Arbeitsstättenverord-
nung; denn dies ist bereits in Arbeitsgerichtsprozessen –
bis zum Bundesarbeitsgericht – mehrfach und ausrei-
chend entschieden worden und damit geklärt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie der Abg. Margot von Renesse [SPD])


Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich bin mir
ganz sicher, dass Kleinkonflikte in der Gesellschaft – in
vielen Fällen handelt es sich um solche, auch wenn sie
nicht mehr im Wege einer Betriebsvereinbarung geregelt
werden können – auch durch Verordnungen, Richtlinien
und Behördenauflagen nicht endgültig ausgeräumt wer-
den können.


(Werner Lensing [CDU/CSU]: Das sehen Richter anders!)


Vielmehr ist das eine Frage, die wirklich in die Gesell-
schaft hineingeht. Es ist ein Appell an Rücksichtnahme
auf der einen Seite und an Toleranz auf der anderen Seite.

Immerhin sind ja auch die Sozialpartner,Herr Lensing,
nach wie vor der Meinung, dass es zu keiner zusätzlichen
gesetzlichen Regelung kommen sollte und dass es einer
solchen gesetzlichen Regelung auch nicht bedarf.


(Werner Lensing [CDU/CSU]: Nein, das stimmt so nicht mehr! Das ist falsch!)


Deswegen werden wir in den Ausschüssen erörtern,
was wir den Sozialpartnern zusätzlich an die Hand geben
können, um innerhalb des Betriebes durch Vereinbarun-
gen oder Modellversuche auf solche Kleinkonflikte mäßi-
gend und problemlösend einzuwirken. Aber einer gesetz-
lichen Regelung bedarf es nach meiner festen Überzeu-
gung nicht.

Danke schön.

(Beifall bei der F.D.P. sowie der Abg. Margot von Renesse [SPD])



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411120400
Ich schließe die
Aussprache zu diesem Punkt. Interfraktionell wird Über-
weisung der Vorlage auf Drucksache 14/3231 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulf Fink,
Eva-Maria Kors, Aribert Wolf, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der CDU/CSU
Zukunft der sozialen Pflegeversicherung
– Drucksache 14/3506 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann verfahren wir so.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Ulf Fink.


Ulf Fink (CDU):
Rede ID: ID1411120500
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion hat einen Antrag zur Zukunft der sozialen
Pflegeversicherung mit einer ganzen Reihe von Aufforde-
rungen und Vorschlägen eingebracht. Ich glaube, dass die
Unionsfraktionen das mit vollem Recht tun. Denn wir wa-
ren es, die die Pflegeversicherung in einer nicht einfachen
Situation durchgesetzt haben.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Alleine?)

In den 90er-Jahren waren wir es, die die Initiative er-

griffen haben und trotz vieler Widerstände dafür gesorgt
haben, dass die mittlerweile 1,9 Millionen Pflegebedürf-
tigen eine Leistung bekommen. Dies ist eine gewaltige
Leistung. Sie müssen bedenken, dass wir in demselben
Zeitraum immerhin die große Aufgabe der Finanzierung
der deutschen Einheit zu bewältigen hatten. Dennoch ha-
ben wir es geschafft, dass für die Pflegebedürftigen rund
30 Milliarden DM jährlich zusätzlich bereitgestellt wer-
den konnten. Diese Leistung ist in ihrer Bedeutung gar
nicht hoch genug zu schätzen. Denn vorher musste das
Problem der Pflegebedürftigkeit als ungelöst gelten.

Sie, die Sozialdemokraten, hatten von 1970 bis 1981
elf Jahre lang Zeit, sich um die Pflegebedürftigen zu küm-
mern. Tatsache ist: Sie haben in diesen elf Jahren nichts,
aber auch gar nichts geschafft, um den Pflegebedürftigen
zu helfen. Wir haben es während unserer Regierungszeit
trotz der großen Herausforderung der Finanzierung der
deutschen Einheit geschafft, die Pflegeversicherung
durchzusetzen. Ich glaube, dies sollte man an den Anfang
stellen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben Ihnen ein gutes Erbe hinterlassen. Wir ha-

ben Ihnen nicht nur ein geregeltes System der Pflegever-
sicherung übergeben, sondern Ihnen zusätzlich auch
10 Milliarden DM im Vermögen der Pflegeversicherung
zur Obhut anvertraut. Was haben Sie damit gemacht? Als
es erste Überlegungen dazu gab, wie man den Bundes-




Dr. Irmgard Schwaetzer
10536


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(D)



(A)



(B)


haushalt sanieren könnte, ist Ihnen nichts anderes einge-
fallen, als zu sagen: Greifen wir doch in die Kasse der
Pflegeversicherung! 500 Millionen DM gehen der Pfle-
geversicherung jetzt jährlich verloren, weil auf Vorschlag
von Herrn Eichel die Bezieher von Arbeitslosenhilfe ge-
ringere Pflegeversicherungsbeiträge zahlen müssen, als
das eigentlich notwendig wäre.

Ich fordere Sie von den Sozialdemokraten und insbe-
sondere Sie, Frau Schmidt-Zadel – wir haben vor kurzem
darüber geredet –, dringend auf: Sorgen Sie dafür, dass
dieser unziemliche Griff in die Kasse der Pflegeversiche-
rung endlich rückgängig gemacht wird!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich möchte noch ein Weiteres hinzufügen: Wir sind alle

der Auffassung, dass die Pflegequalität verbessert wer-
den muss. Das ist richtig. Wir müssen dafür sorgen, dass
die Kontrollen besser sind. Und wir wollen – mein Kol-
lege Wolfgang Zöller wird dazu nachher sprechen – etwas
tun, um den Demenzkranken, den Altersverwirrten, bes-
ser als bisher zu helfen. Aber dafür braucht man natürlich
Geld. Dann kann man nicht sagen: Wir sanieren den ei-
chelschen Haushalt und bedienen uns am Geld der Pfle-
geversicherung. Wenn man den Pflegebedürftigen zusätz-
liche Leistungen verspricht, muss man als Erstes dafür
sorgen, dass dieses Geld wieder in die Kasse der Pflege-
versicherung zurückkommt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es ist immer das große Ziel der Pflegeversicherung ge-

wesen, dass Menschen, wenn Sie pflegebedürftig werden,
nicht länger auf die Sozialhilfe angewiesen sind. Es war
ja vor 1995 so, dass 80 Prozent der Menschen in Pflege-
heimen auf Sozialhilfe angewiesen waren. Unser Ziel war
es immer, dieses Verhältnis umzukehren. Wir haben es
weitgehend geschafft. 1997 waren 70 Prozent der Men-
schen in den Pflegeheimen nicht auf Sozialhilfe angewie-
sen. Was erreicht werden konnte, ist sehr, sehr viel.

Nur, seit 1995 sind die Leistungen der Pflegeversiche-
rungen nicht mehr angepasst worden, obwohl die Berech-
nungen auf dem Status von 1992 beruhen. Mittlerweile
sind fast zehn Jahre vergangen. Die Leistungen sind nicht
angepasst worden. In Ihren Berechnungen und allem, was
Sie darlegen, sind Sie darauf nicht eingegangen. Ich for-
dere Sie dringend auf: Sorgen Sie durch eine klare Politik
und eine Korrektur der falschen Sparbeschlüsse dafür,
dass die Pflegeversicherung nicht selbst zum Pflegefall
wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411120600
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Regina Schmidt-Zadel.


Regina Schmidt-Zadel (SPD):
Rede ID: ID1411120700
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Herr Fink, was Sie eben hier
gesagt haben, hat mir ja fast die Sprache verschlagen. Wir
sanieren den Haushalt. Wir korrigieren das Chaos, das Sie
uns bei den Finanzen hinterlassen haben. Das ist unsere

Aufgabe – nicht nur bei der Pflegeversicherung, sondern
in allen Bereichen.


(Beifall bei der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: In der Pflegeversicherung? 10 Milliarden DM Überschüsse!)


– Ich gehe noch darauf ein. Sie brauchen sich nicht zu
beunruhigen.


(Zuruf von der F.D.P.: Sie greifen schamlos in fremde Taschen!)


Ich will Ihnen heute einmal einige Dinge aus der Ver-
gangenheit um die Ohren hauen. Am 10. Dezember 1997
fand vor dem Deutschen Bundestag – seinerzeit waren wir
noch in Bonn – eine Debatte zur Pflegeversicherung statt.
Es ging damals um die Antwort der Bundesregierung –
welcher wohl? –auf eine Große Anfrage der SPD-Frak-
tion zur Situation der Demenzkranken in der Bundesre-
publik Deutschland. Jetzt hören Sie gut zu. Die SPD hatte
damals zu dieser Debatte einen Entschließungsantrag ein-
gebracht, der unter anderem Verbesserungen für Demenz-
kranke und eine Weiterentwicklung der Pflegeversiche-
rung zur besseren Versorgung dieser Patientengruppe zum
Inhalt hatte.

Meine Damen und Herren von der Union, ich kann
mich – wie sicher auch Sie – an die Debatte und die nach-
folgenden Diskussionen noch lebhaft erinnern und zitiere
zunächst einmal aus der Beschlussempfehlung der dama-
ligen Berichterstatterin der CDU/CSU-Fraktion:

Man dürfe ... nicht verkennen, dass bereits eine
Menge geschehen sei. Auch seitens der Bundesregie-
rung sei einiges unternommen worden. Die Lösung
liege nicht in der Forderung nach mehr Angeboten ...
In der Pflegeversicherung sei den Demenzerkran-
kungen verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt wor-
den. Insgesamt lehnten die Mitglieder der Fraktion
der CDU/CSU die vorliegenden Entschließungsan-
träge ab. Eine Fortführung des eingeschlagenen
Weges ... halte man für zweckmäßiger.

Weil wir beim Thema Vergangenheitsbewältigung
sind, will ich Sie auch noch an folgende Tatsache erin-
nern: Der für die Pflegeversicherung damals zuständige
Minister war Norbert Blüm; der gleiche Norbert Blüm,
der im ersten Bericht der Bundesregierung über die Ent-
wicklung der Pflegeversicherung vom 19. Dezember
1997 ausführte, dass eine Änderung des Begriffs der Pfle-
gebedürftigkeit nicht infrage komme, weil das den fest-
gelegten Beitragssatz von 1,7 Prozent sprengen würde.

Blüm führte damals – hören Sie bitte zu – in seinem
Bericht weiter aus, dass der Forderung nach der Berück-
sichtigung des Zeitaufwandes für die allgemeine Betreu-
ung und Beaufsichtigung bei Demenzpatienten und al-
tersverwirrten Patienten nicht entsprochen werden
könnte.

Bereits ein Jahr zuvor, am 16.August 1996, schrieb der
eben von mir zitierte Minister Blüm in einem Antwort-
brief an den Deutschen Städtetag:

Ihren Forderungen, dass auch verwirrte, demente
und psychisch kranke Menschen Leistungen aus der




Ulf Fink

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(C)



(D)



(A)



(B)


Pflegeversicherung erhalten, stimme ich gerne zu.
Dieses Ziel verwirklicht die Pflegeversicherung be-
reits.

Die Behauptung, die Berücksichtigung psychisch Kran-
ker in der Pflegeversicherung sei unzulänglich, so
Norbert Blüm damals weiter, ist unzutreffend.

Meine Damen und Herren von der Union; wenn ich mir
heute Ihren Antrag ansehe, den Sie hier im Plenum ein-
bringen, und den Inhalt mit Ihren Aussagen von damals
vergleiche, komme ich aus dem Staunen über Ihre 180-
Grad-Drehung nicht mehr heraus.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Fink, Sie verkennen die Tatsache – das tun Sie sehr
bewusst –, dass es nicht nur die CDU/CSU war, die die
Pflegeversicherung damals verabschiedet hat. Es war ein
gemeinsamer Entwurf und eine gemeinsame Verabschie-
dung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Darauf will ich noch einmal deutlich hinweisen.


(Ulf Fink [CDU/CSU]: Waren Sie damals in der Opposition?)


Ich weiß nicht, ob Sie davon ausgegangen sind, dass Ihre
Einlassungen von damals von irgendwelchen Festplatten
gelöscht wurden. Anders ist mir diese Wandlung vom
Saulus zum Paulus jedenfalls nicht zu erklären.

Herr Fink, wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen
werfen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie fordern heute das – das ist das Verwerfliche –, was Sie
in Ihrer Regierungsverantwortung stets blockiert und ab-
gelehnt haben.


(Ulf Fink [CDU/CSU]: Sie haben gar nichts gemacht!)


– Wir haben eine Menge gemacht.
Wenn Ihnen an einer Weiterentwicklung der Pflege-

versicherung wirklich gelegen wäre, wenn Sie wirklich
der Meinung wären, dass vorhandene Defizite in der Pfle-
geversicherung beseitigt werden sollten, dann frage ich
mich, warum Sie diesen Sinneswandel nicht eher vollzo-
gen haben.

Die SPD-Fraktion hat Sie in der letzten Legislaturperi-
ode wiederholt aufgefordert, in der Pflegeversicherung et-
was zu unternehmen. Aber es ist nichts geschehen. Selbst
die längst vereinbarten Novellierungen zur Pflegeversi-
cherung haben Sie in der letzten Wahlperiode blockiert.
Wir dagegen haben sie mittlerweile durchgesetzt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Machen Sie es doch jetzt!)


Wir wären heute in allen Punkten, die Sie in Ihrem An-
trag aufführen, viel weiter oder sogar schon am Ziel, wenn
Sie mitgemacht hätten und während Ihrer Regierungszeit
die Angebote der SPD zur notwendigen Weiterentwick-
lung der Pflegeversicherung aufgegriffen hätten. Sie von

der Union sind für die verlorenen Jahre bei der Pflegever-
sicherung verantwortlich. Sie sind maßgeblich für den
Stillstand bei der Lösung der Problematik der nicht an-
gemessenen Versorgung dementer und altersverwirrter
Menschen verantwortlich. Davon können Sie nicht ablen-
ken – weder mit Ihren zahlreich beantragten Aktuellen
Stunden zur Pflegeversicherung noch mit Ihrer überdi-
mensionierten Kleinen Anfrage zu diesem Thema, die
90 Einzelfragen beinhaltet, und schon gar nicht mit An-
trägen wie dem heutigen.

Wir müssen uns in der Pflegeversicherung und vor al-
lem bei der Lösung der Problematik im Zusammenhang
mit den Demenzkranken von Ihnen keine Versäumnisse
vorwerfen lassen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Im Gegenteil: Bereits in der vergangenen Legislaturperi-
ode haben wir mit einer ganzen Reihe von Initiativen – ich
habe die Große Anfrage und den Entschließungsantrag
bereits angesprochen – auf die Problematik des demogra-
phisch bedingten Anstiegs der Zahl von Demenzkranken
und deren unzureichender Berücksichtigung in der Pfle-
geversicherung hingewiesen. Ich habe die Große Anfrage
und den Entschließungsantrag bereits angesprochen.

Wir haben in der Koalitionsvereinbarung festgelegt,
dass wir die Situation der Demenzkranken in dieser Le-
gislaturperiode prüfen werden. Die Koalitionsvereinba-
rung enthält außerdem einen Auftrag zur Überprüfung
der Schnittstellenprobleme zwischen Pflegeversicherung,
GKV und Sozialhilferecht sowie die Absichtserklärung,
die medizinische Behandlungspflege im stationären Be-
reich von der Pflegeversicherung auf die GKV zu über-
tragen. Wer für diese Probleme verantwortlich war, brau-
che ich Ihnen heute nicht mehr zu sagen.

Wir haben unmittelbar nach der Regierungsübernahme
damit begonnen, mit dem 4. SGB-XI-Änderungsgesetz
die zuletzt von der Union blockierten Verbesserungen im
Bereich der Urlaubs- und Verhinderungspflege umzuset-
zen. Das Gesetz ist in Kraft und für viele Pflegebedürftige
und ihre Angehörigen hat es zahlreiche Verbesserungen
gebracht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Detlef Parr [F.D.P.]: Mit unseren Stimmen!)


Das Bundesministerium für Gesundheit hat im
Februar ein Eckpunktepapier zur Förderung der Ta-
gespflege als ersten Schritt für eine Versorgung demenz-
kranker Mitbürgerinnen und Mitbürger vorgelegt. Es ent-
hält gezielte Verbesserungen des Leistungsangebotes im
Bereich der Tages- und Nachtpflege und ist ein erster
Schritt zur praktischen Umsetzung unserer Forderungen
nach Verbesserungen für Demenzkranke.


(Ulf Fink [CDU/CSU]: Was ist mit den 500 Millionen?)


Mit den vorgelegten Referentenentwürfen für ein
Heimgesetz und ein Qualitätssicherungsgesetz, auch in
Verbindung mit dem Gesetz zur Reform der Altenpflege-
ausbildung, hat die Koalition wichtige Vorhaben zur Si-
cherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität und




Regina Schmidt-Zadel
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(C)



(D)



(A)



(B)


zur Stärkung der Verbraucherrechte in der Pflege auf den
Weg gebracht.


(Beifall bei der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, in den

nach der Sommerpause anstehenden Beratungen dieser
Gesetzentwürfe werden Sie ausreichend Gelegenheit ha-
ben, den größten Teil der in Ihrem Antrag enthaltenen For-
derungen mit zu beraten. Es hätte Ihres Antrages also ei-
gentlich gar nicht bedurft,


(Ulf Fink [CDU/CSU]: Aber was ist mit den 500 Millionen?)


denn die Zukunft der sozialen Pflegeversicherung ist bei
uns, bei der Koalition, in guten Händen.


(Beifall bei der SPD)

Alle wichtigen Weichenstellungen sind bereits vorge-
nommen worden.


(Ulf Fink [CDU/CSU]: Wo ist das Geld? – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie haben die Hand in der Pflegeversicherung!)


– Seien Sie nicht so aufgeregt, lassen Sie mich doch auch
einmal etwas Positives sagen.

Es freut mich, dass Sie nach zehn Jahren der Blockade
offenbar auf den Weg der Vernunft zurückgekehrt sind.
Lassen Sie uns in den kommenden Beratungen deutlich
machen, dass uns die Situation der Pflegebedürftigen und
ihrer Angehörigen über alle Fraktionsgrenzen hinweg am
Herzen liegt. Helfen Sie mit, die von Ihnen in der vergan-
genen Legislaturperiode verpassten Fortentwicklungen in
der Pflegeversicherung aufzuholen. Dazu werden wir
nach der Sommerpause Gelegenheit haben, wenn Ihr An-
trag und die von der Bundesregierung vorgelegten Ge-
setzentwürfe in den Ausschüssen und hier im Plenum dis-
kutiert und beraten werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD – Ulf Fink [CDU/CSU]: Aber nur, wenn wir die 500 Millionen wieder kriegen! Dazu haben Sie gar nichts gesagt! Wo sind die 500 Millionen?)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411120800
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Detlef Parr.


Detlef Parr (FDP):
Rede ID: ID1411120900
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Die „Pharmazeutische Zeitung“ vom 8. Juni
titelte: „Demenz ängstigt die Politik“. Ich habe nach
Ihrem Beitrag, Frau Schmidt-Zadel, den Eindruck: De-
menz ängstigt die SPD. Da trifft der Antrag der CDU/CSU
offensichtlich ins Schwarze.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich will noch einmal einen Blick zurückwerfen: Als wir

am 22. April 1994 das Pflegeversicherungsgesetz be-
schlossen haben, haben wir meiner Meinung nach damit
begonnen, die Zukunft der so genannten fünften Säule zu
verspielen. Es bestand seinerzeit ein breiter sozialpoliti-
scher Konsens darüber, dass das Risiko der Pflegebedürf-

tigkeit einer neuen Form der sozialen Absicherung be-
durfte. Das war unstrittig über die Fraktionsgrenzen hin-
weg. Hauptgründe waren die finanzielle Überforderung
der Pflegenden und die finanzielle Überforderung der
Kommunen. Die Sozialhilfe wurde zum Regelleistungs-
system für Pflegebedürftige.

Ich erinnere mich aber auch noch allzu gut an die hef-
tigen Auseinandersetzungen darüber, ob das Risiko der
Pflegebedürftigkeit sozialversicherungsrechtlich oder
durch Einführung einer privaten Pflegepflichtversi-
cherung abgesichert werden sollte. Die F.D.P. kämpfte
damals einen einsamen ordnungspolitischen Kampf. We-
der die Versicherungsbranche noch die Arbeitgeberseite
erkannten, dass nur eine sich auf dem Kapitaldeckungs-
prinzip gründende privatversicherungsrechtliche Lösung
langfristig Bestand haben.


(Beifall bei der F.D.P.)

Heute wissen wir alle – wir brauchen nur auf den Umgang
der privaten Krankenversicherungen mit den dort Pflege-
versicherten zu schauen –: Es war eine gut gemeinte, aber
nicht gut gelungene Entscheidung.

Deshalb hat die Überschrift des CDU/CSU-Antrags
„Zukunft der sozialen Pflegeversicherung“ ihre absolute
Berechtigung. Die Zukunft der Pflegeversicherung macht
eine Strukturreformdiskussion auch in diesem Bereich
dringend erforderlich.


(Beifall der Abgeordneten Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.])


Frau Schmidt-Zadel, ich bin gespannt, was dazu von
Ihrer Seite kommt. Die bereits zitierte „Pharmazeutische
Zeitung“ stellt weiter die Frage: Wird die Pflegever-
sicherung als eigenständiger Sozialversicherungszweig
bald aufgegeben? – Das ist eine spannende Frage. Die ent-
scheidende Frage ist aus unserer Sicht: Können wir die
auf uns zurollenden Probleme – demographische Ent-
wicklung, stetig steigende Zahl altersverwirrter Men-
schen und Ähnliches – auf der Grundlage des bestehen-
den Versicherungsprinzips und unter Beibehaltung der
jetzigen Ausgestaltung der Pflegestufen überhaupt noch
lösen? Bei gleich bleibender Pflegefallwahrscheinlichkeit
und Zunahme der Lebenserwartung wird nach seriösen
Prognosen die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2020 auf
2,2 Millionen steigen und 2050 annähernd die
4-Millionen-Grenze erreicht haben. Bei allem Respekt
vor dem Antrag der Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU: Auf diese Frage finden wir in Ihrem Antrag
natürlich keine Antwort.

Wir dürfen aber nicht auf der Basis einer Weiter-so-
Mentalität diskutieren, nicht ein Stellschräubchen hier
und ein Stellschräubchen da neu justieren. Nein, wir müs-
sen uns einer Diskussion stellen, mit der die Zukunfts-
fragen der Pflegeversicherung von Grund auf neu ange-
gangen werden und die weit über die uns zurzeit beson-
ders bewegenden Fragen hinausgehen muss, die zum
Beispiel lauten: Wie können wir dafür sorgen, dass Men-
schen auch im Pflegeheim ihre Autonomie behalten und
dass sie ein menschenwürdiges Leben ohne Angst vor Ge-
walt führen können? Wie stellen wir sicher, dass der
Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege“ auch wirklich zum




Regina Schmidt-Zadel

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(C)



(D)



(A)



(B)


Tragen kommt? Die Diskussion muss auch die Frage nach
der Situation der Demenzkranken einschließen.

Egal, wie wir diese Diskussion auch angehen werden,
eines steht fest: Für viele der Vorhaben braucht man Geld.
Frau Schmidt-Zadel, der Antrag, den Ihre Fraktion damals
in der Opposition gestellt hat, hat – wahrscheinlich –
keine Antwort auf die Frage gegeben, wie Sie das, was Sie
beantragt haben, finanzieren wollen. Ich kenne zwar den
Antrag nicht – ich war damals noch nicht Mitglied des
Deutschen Bundestages –, aber ich kann mir gut vorstel-
len, dass der Antrag keine Antwort auf die Frage nach der
Finanzierung beinhaltet hat.

Das Szenario – Frau Ministerin Fischer hat im letzten
Jahr zugelassen, dass Geld von der Pflegeversicherung in
den Haushalt des Arbeitsministers umgeschichtet wurde;
immerhin 400 Millionen DM sind pro Jahr geflossen –
soll sich in diesem Jahr bei der gesetzlichen Krankenver-
sicherung in noch stärkerem Maße wiederholen. Frau
Schmidt-Zadel – da beißt die Maus keinen Faden ab –, das
ist ein unanständiger Griff in die Taschen Fremder und der
Versicherten.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wir werden alles daransetzen, dies zu verhindern und die
Entscheidung vom letzten Jahr zuungunsten der Pflege-
versicherung wieder rückgängig zu machen.

Vom Grundsatz her stimmen wir dem Antrag der
CDU/CSU natürlich zu. Aber wir müssen im Gesund-
heitsausschuss über die Details reden. Das gilt insbeson-
dere für die Frage, wie die Mehrausgaben an anderer
Stelle kompensiert werden können. Sie haben dazu auch
Vorschläge gemacht. Wir freuen uns auf die Auseinander-
setzung und Diskussion im Gesundheitsausschuss. Sie ist
notwendig, aber erst der Anfang einer weit tiefer greifen-
den Diskussion, die wir über diesen Problemkreis führen
müssen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411121000
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Katrin Göring-Eckardt.


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

und Kollegen! Herr Fink, wenn Sie fragen, wo die Milli-
onen geblieben sind, dann kann ich Ihnen zwei Dinge ver-
sichern: Erstens. Sie sind nicht in einem schwarzen Kof-
fer verschwunden. Zweitens. Sie sind auch nicht aus dem
Kanzleramt verschwunden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ulf Fink [CDU/CSU]: Gerade von den Pflegebedürftigen das Geld zu nehmen ist gemein! – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das zu unterstellen ist ein starkes Stück! – Detlef Parr [F.D.P.]: Das ist billig!)


– Nein, das ist nicht billig. Ich werde Ihnen das gerne be-
gründen. Sie müssen sich den Vorwurf gefallen lassen,
dass Sie es sich an dieser Stelle super einfach machen. Sie

tun so, als ob Sie mit dem finanzpolitischen Scherben-
haufen, den Sie uns hinterlassen haben und der nun in al-
len Bereichen zu schmerzhaften Einschnitten führen
muss, nichts zu tun hätten.


(Ulf Fink [CDU/CSU]: 10 Milliarden Mark Überschüsse! – Gegenruf der Abg. Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Die sind ja noch da!)


Natürlich finden auch wir die Einschnitte schmerzhaft.
Wir hätten gerne auf sie verzichtet. Aber klar ist: Wir
konnten nicht daran vorbei, einen Beitrag zur Konsolidie-
rung des Gesamthaushalts zu leisten; denn ein Kabinett,
das sich eine solche Konsolidierung vornimmt, kann das
nur gemeinsam schaffen.

Bezüglich der Pflegeversicherung – das ist auch
klar – toppen Sie Ihr Vorgehen nach dem Motto „Uns geht
das alles nichts an“ noch mit Ihrem Antrag: Sie tun so, als
hätten Sie mit dem Handlungs- und Reformbedarf, der
in der Pflegeversicherung besteht, nichts zu tun. Tatsäch-
lich haben Ihre Versäumnisse zu den Defiziten und
Schwächen der Pflegeversicherung geführt.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Schlaft ihr im Gesundheitsausschuss?)


Eines kann ich Ihnen versichern: Diese Strategie wird
nicht funktionieren, weil das Gedächtnis der Bürgerinnen
und Bürger nicht so kurz ist. Die Menschen sehen in der
Pflegeversicherung einen wichtigen Baustein zur Absi-
cherung des Pflegerisikos. Sie sind mit den Leistungen in
vielen Bereichen auch zufrieden. Ich denke, das sehen Sie
nicht anders.

Es ist auch kein Geheimnis, dass es nach wie vor
Schwächen, Lücken und Ungereimtheiten gibt. Zum Teil
handelt es sich dabei um Konstruktionsfehler, die bei der
Einführung der Pflegeversicherung schon abzusehen wa-
ren und deren Beseitigung wir damals auch schon ange-
mahnt haben. Ich nenne als Beispiel die Frage der De-
menzkranken.

Auch das Problem der Gewalt in der Pflege – das
sollte man an dieser Stelle ebenfalls sagen – ist nicht zu
verleugnen. Wir müssen dafür sorgen, dass das Auftreten
weiterer Einzelfälle – wir sollten uns darin einig sein, dass
es Einzelfälle sind –


(Detlef Parr [F.D.P.]: Sind wir auch!)

in Zukunft verhindert wird. Wir müssen aber auch schauen,
ob es Fehler im System gibt.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411121100
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Reinhardt?


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

tragen. – Weil das Problem schon sehr lange bekannt ist,
hat sich diese Bundesregierung im Koalitionsvertrag vor-
genommen, sich den Problemen zu stellen. Sie hat Verab-
redungen getroffen, die sie jetzt Stück für Stück umsetzt.

Wir unterscheiden uns von Ihnen vor allen Dingen in
einem: Wir stellen uns den finanziellen Rahmenbedin-
gungen und fragen, was unter diesen Bedingungen an




Detlef Parr
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(A)



(B)


Verbesserungen möglich ist. Wir fragen nicht, was wir al-
les versprechen können.


(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Marx voll verinnerlicht: Das Sein bestimmt das Bewusstsein!)


– Ja, so ist Ihr Antrag.
Auf dieser Basis haben wir übrigens im letzten Jahr ei-

nige Leistungsverbesserungen beschlossen, die unter der
alten Regierung nicht durchzusetzen waren – Herr Parr,
da waren Sie noch nicht da –, weil sie von der F.D.P.
verhindert worden sind. Die F.D.P. hat vor 14 Tagen ihr
soziales Herz entdeckt; auch das haben wir erfahren. So
schnell wird man von der „Partei der Besserverdie-
nenden“ zur Partei derer, die besser Spaß haben.

Wir haben außerdem – Frau Schmidt-Zadel hat darauf
hingewiesen – einen Referentenentwurf für ein Qualitäts-
sicherungsgesetz vorgelegt, mit dem die Qualitätssiche-
rung in einem bisher nicht gekannten Maß in den Alltag
der Pflegeheime integriert wird. Darum geht es doch wohl
in allererster Linie. Gleichzeitig stärken wir die zu Pfle-
genden und ihre Angehörigen, indem wir ihre Rechte als
Verbraucherinnen und Verbraucher deutlich machen. Auf
diesem Gebiet werden wir zu einem Mehr an Selbstbe-
stimmung kommen. Ich persönlich glaube, dass Selbstbe-
stimmung in der Pflege erst noch Standard werden muss.

Mit unserem Entwurf zur Qualitätssicherung knüpfen
wir an die Diskussion der Fachleute auf dem Gebiet der
Pflege an. Sie alle sind der Meinung, dass Qualität nur
dann entstehen kann, wenn sie in den Heimen von allen
Beteiligten getragen wird. Selbstverständlich braucht es
dazu Kontrollen. Diese sollen auch in Zukunft mit aller
Konsequenz durchgeführt werden. Qualität muss ein stän-
diger Verbesserungsprozess sein. Sie lässt sich nicht von
oben aufstülpen. Ansonsten werden wir keine tatsächliche
Verbesserung erreichen.

Außerdem wollen wir endlich Verbesserungen für die
Demenzkranken realisieren. Unser Vorschlag, den wir in
die Diskussion eingebracht haben, lautet: ein Tag Entla-
stung durch Tagespflege. Dieser Ansatz nutzt sowohl den
Pflegebedürftigen als auch den Angehörigen; denn die
Pflegebedürftigen können in Einrichtungen der Ta-
gespflege ganz anders und viel stärker aktivierend betreut
werden als das zu Hause möglich ist. Wir wissen, dass die-
ser Vorschlag auch in der Fachwelt umstritten ist. Deshalb
führen wir zurzeit eine intensive Diskussion über die kon-
krete Ausgestaltung. Ich möchte auch die Union aus-
drücklich auffordern, sich an dieser Diskussion zu betei-
ligen.

Verbesserung der Qualität und Leistungsverbesserung
für Demenzkranke – in diesen Zielen sind wir uns einig.
Deshalb fordere ich Sie auf, hier in einen ehrlichen Dia-
log mit konstruktiven Vorschlägen einzutreten. Vorausset-
zung dafür sind allerdings mehr Ehrlichkeit und keine
Versprechungen, die unter den gegebenen finanziellen
Rahmenbedingungen nicht zu halten sind.


(Detlef Parr [F.D.P.]: Das gilt für alle! Das gilt auch für Sie!)


Ich hoffe nach wie vor auf diesen Dialog. Ich gehe davon
aus, dass Ihr Antrag ein Diskussionsbeitrag in diese Rich-
tung sein wird.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411121200
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Ilja Seifert.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1411121300
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Be-
sucher! Meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU,
ich kann Ihnen nur empfehlen: Nehmen Sie mich als Gut-
achter! Ich würde Sie aufgrund Ihres Antrags ohne weite-
res in Stufe II der Pflegeversicherung einstufen. Ich weiß
noch nicht genau, ob es sich um einen Fall kollektiver
Amnesie oder von Demenz im jugendlichen Alter handelt.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der PDS, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube, Sie haben vergessen, dass Sie die Pflege-
versicherung eingeführt haben. Alles, was Sie jetzt vor-
schlagen, kann ich nur unterstützen. Vielleicht haben Sie
vergessen, dass Sie diejenigen sind, die daran schuld sind,
dass es überhaupt so weit gekommen ist.


(Erika Reinhardt [CDU/CSU]: Dass es eine Pflegeversicherung gibt?)


– Lassen Sie mich doch einmal ausreden. – Dass es so
weit gekommen ist, liegt daran, dass Sie einen völlig an-
tiquierten Pflegebegriff zugrunde gelegt haben. Dass es so
weit gekommen ist, liegt daran, dass Sie die Bedürfnisse
vieler Bevölkerungskreise überhaupt nicht im Auge hat-
ten und diese erst ganz zuletzt in die Pflegeversicherung
einbezogen haben, wo sie eigentlich nicht hingehören.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411121400
Herr Kollege
Seifert, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Reinhardt?


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1411121500
Aber sehr gern. Wenn dann die
Uhr angehalten würde, wäre es noch besser.


Erika Reinhardt (CDU):
Rede ID: ID1411121600
Lieber Kollege Seifert,
Ihnen ist doch sicherlich klar, dass der Pflegeversicherung
durch die Sparmaßnahmen des Herrn Eichel 648 Milli-
onen DM entzogen wurden.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Die Zahl stimmt nicht!)


– Doch, sie stimmt. Einmal 400, einmal 248, das ergibt
648. Das ist nun einmal so. – Stimmen Sie mir zu, dass
genau diese Summe dazu beitrüge, im Bereich Demenz
etwas zu verbessern?


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1411121700
Natürlich stimme ich Ihnen zu,
liebe Kollegin, und natürlich bin ich auch dagegen, dass




Katrin Dagmar Göring-Eckardt

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(C)



(D)



(A)



(B)


dieses Geld der Pflegeversicherung entzogen wird, wie
ich bereits mehrfach hier schon gesagt habe. Heute disku-
tieren wir aber über einen Antrag, den Sie vorgelegt ha-
ben. Deshalb erlaube ich mir, mich einmal mit Ihrer Poli-
tik in diesem Bereich auseinander zu setzen. Die Bundes-
regierung kritisiere ich wegen ihrer Politik in diesem
Bereich oft genug und ich meine, das ist auch deutlich
zum Ausdruck gekommen.


(Beifall bei der PDS)

Ich danke Ihnen also für die Frage, aber heute muss ich

mich einmal mit Ihrer Politik auseinander setzen.
Sie haben strukturell angelegt, dass Menschen aus Ein-

richtungen der Behindertenhilfe in Einrichtungen der
Pflegeversicherung abgeschoben werden, noch schlim-
mer: dass sogar Einrichtungen der Behindertenhilfe in
Einrichtungen der Pflegeversicherung umgewandelt wor-
den sind. Dort fand alles das, was wir über lange Zeit er-
kämpft haben – pädagogische, soziale, kulturelle und an-
dere Betreuung – nicht mehr statt. „Gewalt in der Pflege“
ist doch erst in den letzten Jahren wirklich zum Begriff,
zum Problem geworden, weil Menschen in den Heimen,
die aus Ihrer Pflegeversicherung finanziert werden, struk-
tureller Gewalt ausgesetzt sind. Ich will das einfach ein-
mal sagen, weil das nicht unter den Teppich gekehrt wer-
den darf. Was die Bundesregierung jetzt mit der Pfle-
geversicherung macht, kritisiere ich ebenfalls. Auch da
wären viele andere Maßnahmen erforderlich.

Wenn Sie jetzt so tun, als seien Sie diejenigen, die dafür
sorgten, dass die Demenzkranken und ihre Angehörigen
wenigstens ein bisschen einbezogen würden, dann ist das
pharisäerhaft. Sie sollten zumindest sagen, dass dieser
Personenkreis bisher nicht einbezogen worden ist, liegt an
Ihrer Anlage der Pflegeversicherung.


(Beifall bei der PDS – Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Ich habe doch Blüm zitiert!)


Es ist auch keine Kunst – auch das muss ich einmal sa-
gen, Herr Fink –, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mern dieses Landes mehr als 30 Milliarden DM aus der
Tasche zu ziehen, diese zusätzlich in das System zu brin-
gen und dann zu sagen: Ein bisschen was Gutes haben
wir damit auch machen können. – Na klar, mit 30 Milli-
arden DM könnte auch ich sozusagen allerhand Schaden
anrichten, aber so arbeitet die PDS nicht.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411121800
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Zöller.


Wolfgang Zöller (CSU):
Rede ID: ID1411121900
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich
Folgendes feststellen: Die vor fünf Jahren von uns einge-
führte Pflegeversicherung hat beachtliche Entlastungen
und Verbesserungen für die Pflegebedürftigen und für de-
ren Angehörige mit sich gebracht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Eine kürzlich in Auftrag gegebene Umfrage hat ergeben,
dass mehr als 90 Prozent der Befragten mit den Leistun-
gen der Pflegedienste zufrieden waren. Das Pflegeperso-
nal wurde weit überwiegend als qualifiziert und verständ-
nisvoll bezeichnet.

Man muss sich also sehr davor hüten, die in Einzelfäl-
len bekannt gewordenen Missstände zu verallgemeinern.
Offenbar ist die Arbeit der Pflegedienste im Großen und
Ganzen in Ordnung und man sollte das Engagement die-
ser Menschen, die einen schwierigen Beruf ausüben, hier
auch einmal anerkennend erwähnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Trotzdem sind zur Stabilisierung der Ziele und des
Schutzzwecks der Pflegeversicherung Verbesserungen er-
forderlich, angefangen von der Qualitätssicherung bis hin
zu Finanzierungsmaßnahmen.

Besonderen Handlungsbedarf sehen wir in diesem Zu-
sammenhang bei den Demenzkranken. Da die allge-
meine Betreuung der Demenzkranken noch immer nicht
als Verrichtung im Begriffskatalog der Pflegeversiche-
rung enthalten ist, erhalten eine große Anzahl erkrankter
Personen keine Leistungen aus der sozialen Pflegeversi-
cherung. Eine weitere Benachteiligung für Demenz-
kranke sehe ich im Übrigen durch das Arzneimittelbudget
verursacht, da hier die Gefahr besteht, dass innovative
Arzneimittel gerade für Demenzkranke nur noch zöger-
lich verordnet werden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, über alle Par-
teigrenzen hinweg ist man sich einig, dass für Demenz-
kranke etwas unternommen werden muss. Bei Rot-Grün
liegen aber zwischen Reden und Handeln tatsächlich Wel-
ten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Vielleicht liegt es auch am Thema. Ich werde Ihnen das
beweisen, indem ich einmal aufzeige, was allein in den
letzten zwei Jahren im Ausschuss geschehen ist. Wir, die
CDU/CSU, unternehmen heute nämlich den dritten An-
lauf, um Verbesserungen für Demenzkranke zu erreichen.
Bereits im Januar 1999 hatten Bayern und die übrigen
B-Länder einen Antrag, der Verbesserungen für De-
menzkranke vorsah, eingebracht. Sie haben ihn abge-
lehnt. Unser Vorschlag, im Rahmen des 4. SGB-XI-Än-
derungsgesetzes Verbesserungen für Demenzkranke zu
erzielen, wurde von Ihnen abgelehnt.


(Ulf Fink [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Vor diesem Hintergrund ist es schon ein starkes Stück von
Ihnen, sich hier hinzustellen und zu sagen, wir würden
nichts für Demenzkranke tun. Sie hatten schon zweimal
die Möglichkeit, dafür zu stimmen; Sie haben zweimal
dagegen gestimmt.


(Ulf Fink [CDU/CSU]: Sehr richtig! – Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Weil es unsinnig war, was Sie wollten!)


Die Begründung, die Sie vorgebracht haben, ist mehr als
ärgerlich. Als wir unseren Antrag zu Verbesserungen für
Demenzkranke eingebracht haben, sagten Sie, man könne
das nicht umsetzen, weil 500 Millionen DM nicht finan-




Dr. Ilja Seifert
10542


(C)



(D)



(A)



(B)


zierbar seien. Die gleiche Regierung hat dann einen Mo-
nat später 500 Millionen DM aus der Pflegekasse heraus-
genommen.


(Ulf Fink [CDU/CSU]: Genauso war es!)

Dann haben Sie hier vorhin ein zweites unredliches Ar-

gument vorgebracht, indem Sie sagten, wir hätten schon
viel früher etwas für Demenzkranke tun müssen. Darf ich
Sie an Ihre eigenen Worte im Ausschuss erinnern, als wir
den Vorschlag gemacht haben, etwas für Demenzkranke
zu tun? Sie sagten, es seien erst Gutachten erforderlich,
diese müssten ausgewertet werden, damit man weiß, was
es kostet, wenn im nächsten Jahr etwas getan werden
sollte. Vor diesem Hintergrund ist es doch unredlich, uns
vorzuhalten, wir hätten vorher etwas tun müssen.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Als Sie an der Regierung waren! Sie vergessen das!)


Sie hatten dreimal die Möglichkeit, etwas für Demenz-
kranke zu tun.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Wir tun ja etwas!)


– Ja, tun Sie etwas? – Das zeigt, wie unredlich die Regie-
rung ist. Ich darf aus dem Antwortschreiben zitieren, das
wir letzte Woche von der Regierung auf unsere Große An-
frage erhalten haben.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Eine Kleine war das!)


– Eine Kleine, danke. Aber auch Sie haben vorhin gesagt,
es sei eine Große gewesen.

Hier heißt es:
Die neue Bundesregierung setzt sich zum Ziel,
die ... Finanzspielräume weiter zu verbessern.

Das steht dort.

(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Ein gutes Ziel!)

– Ein gutes Ziel, aber Sie tun das Gegenteil. Das ist ja im-
mer Ihr Problem. Sie geben hehre Ziele vor und machen
gerade das Gegenteil, indem Sie die Finanzspielräume ein-
fach verschlechtern. Reden und Handeln liegen hier in die-
sem Fall bei Ihnen weit auseinander.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sollten
gemeinsam versuchen, eine allgemeine Beaufsichtigung
und Betreuung in zeitlich begrenztem Umfang für
Demenzkranke irgendwie in Anrechnung zu bringen, zu-
mindest jedoch eine individuell am Bedarf ausgerichtete
Inanspruchnahme von ehrenamtlichen Helfern und häus-
lichen Diensten zur allgemeinen Betreuung und Beauf-
sichtigung von Demenzkranken zu ermöglichen. Hier
möchte ich auf die vorbildliche Politik Baden-Württem-
bergs verweisen. Es lohnt sich nachzulesen, wie Baden-
Württemberg mit Demenzkranken und auch mit Selbst-
hilfegruppen in diesem Bereich umgeht. Auf diese Weise
könnte nämlich eine Entlastung der physisch und psy-
chisch oftmals sehr stark belasteten Angehörigen von De-
menzkranken erreicht werden.

Bei etwas gutem Willen kann man über Parteigrenzen
hinweg sehr schnell sinnvolle und finanzierbare Verbes-

serungen für Demenzkranke erreichen. Wir bieten hierzu
unsere Mitarbeit an.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411122000
Danke schön.
Ich schließe damit die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3506 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (19. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ursula Burchardt,
Ulrike Mehl, Adelheid Tröscher, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD so-
wie der Abgeordneten Matthias Berninger,
Dr. Uschi Eid, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Bildung für eine nachhaltige Entwicklung
– Drucksachen 14/1353, 14/3319 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ulla Burchardt
Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)

Matthias Berninger
Cornelia Pieper
Angela Marquardt

Ich frage Sie, ob Sie damit einverstanden sind, dass wir
die Reden der Kollegen Burchardt, Mehl, Tröscher,
Fischer, Hermann, Flach und Fink zu Protokoll neh-
men.1) – Ich höre keinen Widerspruch. Dann wird so ver-
fahren.

Wir kommen damit gleich zur Abstimmung über die
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, For-
schung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der
Fraktion der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit
dem Titel „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
14/1353 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen worden.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Klaus Riegert, Friedrich Bohl, Georg Brunn-
huber, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Verbesserung der Vereinsförderung
und derVereinfachung der Besteuerung der eh-
renamtlich Tätigen
– Drucksache 14/1145 –




Wolfgang Zöller

10543


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 3


(Erste Beratung 58. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)

– Drucksache 14/3412 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ludwig Eich
Norbert Barthle

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Widerspruch
gibt es nicht. Dann verfahren wir so.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Klaus Riegert.


Klaus Riegert (CDU):
Rede ID: ID1411122100
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Geset-
zentwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur Verbes-
serung der Vereinsförderung und Vereinfachung der
Besteuerung ehrenamtlich Tätiger soll das Vereinsteuer-
recht der zeitlichen Entwicklung angepasst und verein-
facht werden. Vereine müssen mehr Handlungs- und
Gestaltungsräume erhalten, um den gestiegenen An-
forderungen der Mitglieder kreativ und innovativ begeg-
nen zu können.

Ehrenamtlich, neben- und hauptberuflich Tätige müs-
sen von bürokratischen Arbeiten entlastet werden. Sie
wollen sich nicht ständig mit neuen Rechtsvorschriften
und Verwaltungsvorschriften herumschlagen. Ihnen be-
reitet es kein Vergnügen, für den Staat Eintragungen auf
Lohnsteuerkarten zu prüfen. Sie sehen ihre Lebenserfül-
lung nicht darin, für die Bundesversicherungsanstalt für
Angestellte über 60 Fragen wegen jeder beruflichen Ne-
bentätigkeit zu beantworten oder zu prüfen, ob im Haupt-
beruf die Bemessungsgrenze für die Sozialversicherung
erreicht ist. Dies haben sie nicht gemeint, als sie sich für
das Engagement im Verein entschieden haben. Deshalb
müssen wir sie von bürokratischem Ballast befreien.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Dies wäre eine weitaus größere Anerkennung ihres Enga-
gements als viele öffentliche Bekundungen.

Vereine sind ein wichtiger Pfeiler unserer Gesellschaft.
Sie zu fördern muss dringliches Anliegen der Politik sein,
und zwar der Politik aller Parteien. Weil dies in der Tat so
ist, ist es unverständlich, dass den Koalitionsfraktionen
nichts anderes eingefallen ist als ein Nein zu unserem Ge-
setzesantrag.


(Rainer Brinkmann [Detmold] [SPD]: Besser ist er nicht!)


Sie haben sich in den Ausschüssen jeglicher Diskussion
entzogen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das kann gar nicht sein!)


Dafür haben unsere Vereine kein Verständnis.
Der Finanzminister Eichel hatte als Ministerpräsident

des Landes Hessen mehr Verständnis für Vereine, zumin-
dest auf dem Papier und während des Landtagswahl-

kampfs. Er hat am 1. Dezember 1998 einen Gesetzesan-
trag im Bundesrat mit der Drucksachennummer 950/98
eingebracht. Der Titel lautete: Gesetz zur Vereinfachung
und Verbesserung der Vereinsbesteuerung und der Be-
steuerung der ehrenamtlich Tätigen.

Wir unterstützen seine damals vorgeschlagenen Maß-
nahmen: Erstens: Erhöhung der Besteuerungs- und
Zweckbetriebsgrenzen. Dies fordern wir in unserem Ge-
setzentwurf auch. Zweitens: Erhöhung der Grenze für die
Pauschalierung der Vorsteuer. Auch dies fordern wir in
unserem Gesetzentwurf. Drittens: Bildung einer Rück-
lage zur Erhöhung der Finanz- und Leistungskraft, be-
sonders der kleinen und mittleren Vereine. Auch dies for-
dern wir.

Die Gesetzentwürfe unterscheiden sich im Wesentli-
chen nur durch die Höhe der Forderungen. Darüber hätte
man in den Ausschüssen wenigstens reden können. Sie
haben sich jedoch geweigert, über Maßnahmen zu reden,
die Ihr Finanzminister als damaliger Ministerpräsident für
ein sehr dringliches Anliegen unserer Vereine gehalten
hat.
Der Gesetzentwurf Ihres Finanzministers geht weit über
unseren Gesetzentwurf hinaus. Er fordert die Ausdehnung
des steuerfreien Übungsleiterpauschbetrages – damals
noch 2 400 DM pro Jahr – auf alle ehrenamtlichen
Vorstandsmitglieder und Funktionsträger – man höre ge-
nau hin: auf alle ehrenamtlichen Vorstandsmitglieder und
Funktionsträger – aller 350 000 Vereine: Vorsitzende,
Schriftführer, Schatzmeister, Beisitzer etc. Herr
Eichel oder sein Vertreter – es ist niemand aus dem Fi-
nanzministerium da –, reichen Sie einen solchen Gesetz-
entwurf hier ein! Unsere Zustimmung haben Sie. Wir sind
auf Ihrer Seite.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Kosten für die öffentlichen Haushalte bezeichnete

der Finanzminister damals als gering. Ich wiederhole: ge-
ring! Wir glauben ihm das. Deshalb verstehen wir den
Parlamentarischen Geschäftsführer der SPD-Fraktion
Herrn Wilhelm Schmidt nicht, der die in unserem Ge-
setzentwurf als gering veranschlagten Kosten als unseriös
bezeichnet.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Dass Sie mich nicht verstehen, wundert mich nicht!)


Lieber Herr Kollege Schmidt, dies müssten Sie zunächst
Ihrem Finanzminister Eichel vorhalten. Erklären Sie
zunächst Ihrem Finanzminister seine unseriöse Finanzie-
rung. Seine Forderungen wären wegen der immensen Er-
weiterung des Bezugskreises der steuerfreien Übungslei-
terpauschale weitaus höher als das von uns geforderte Fi-
nanzierungsvolumen. Der Herr Finanzminister soll zu
seinem Gesetzentwurf stehen. Wir können uns über die
Höhe der Maßnahmen auseinander setzen und dann zum
Wohle der Vereine und der dort Tätigen dieses Gesetz so-
fort in Kraft setzen. Das täte unseren Vereinen gut.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Auch die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die

Grünen bekunden offen Sympathie zumindest für einen




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
10544


(C)



(D)



(A)



(B)


wesentlichen Teil unseres Gesetzentwurfs. Der Fraktions-
vorsitzende Dr. Struck verkündet mit Sperrfrist vom
20. Mai 1999 vor der Presse in Bonn: Die steuerfreie Pau-
schale für Übungsleiter von Sportvereinen und für alle an-
deren ehrenamtlichen Tätigkeiten – man höre auch hier
genau hin: für alle anderen ehrenamtlichen Tätigkeiten –
will die Bonner Koalition von 200 DM auf 400 DM ver-
doppeln. Herr Dr. Struck, wir sind sofort dabei! Frau
Schmidt behauptet laut Bericht der „FAZ“ vom 6. Mai
1999, dies koste den Staat nichts, er verzichte lediglich
auf zu erwartende Steuereinnahmen. Und Herr Wilhelm
Schmidt ist natürlich auch dabei, wenn es um die Verkün-
dung von Wohltaten geht.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sicher! Klar!)


Warum verdoppeln Sie nicht die Übungsleiterpauschale?
Wir könnten es machen! Heute! Mit unserem Gesetz!


(Rainer Brinkmann [Detmold] [SPD]: Das ist langweilig!)


Sie haben in der Koalition einen eigenen Entwurf er-
stellt und die Forderung nach Verdoppelung der
Übungsleiterpauschale erhoben. Diesen Entwurf haben
Sie öffentlichkeitswirksam verkauft und ihn nach diesem
Betrug stillschweigend kassiert. Sie wollen die Verdoppe-
lung der Übungsleiterpauschale auf 4 800 DM. Sie sagen:
Das kostet nichts. Sie beschließen 300 DM, schmieren da-
mit weiße Salbe auf Ihr vordergründiges Handeln. Das
hilft weder den Vereinen noch den dort Tätigen.

Sie wollten mit der Erhöhung auf 3 600 DM den Un-
fug des 630-DM-Gesetzes kaschieren. Die SPD-Arbeits-
gruppe hat Ihnen gesagt, dass Sie den Murks des
630-DM-Gesetzes mit der Erhöhung der Übungsleiter-
pauschale nicht kompensieren. Der Finanzminister hat Ih-
nen gesagt, dass die Erhöhung der Übungsleiterpauschale
die gemeinnützigen Vereine nicht von den beklagten Las-
ten des 630-DM-Gesetzes befreit – so Eichel schriftlich
am 23. Juni 1999. Recht hat er in diesem Punkt.

Ziehen Sie den Murks für gemeinnützige Vereine
zurück und lassen Sie uns das machen, was auch Sie
schriftlich in Entwürfen niedergelegt haben.

Sport bringt Gewinn für alle. Wenn Sie und Herr
Eichel Ihre Gesetzesinitiativen ernst meinen und nicht als
plumpe Täuschung ansehen lassen wollen, dann stimmen
Sie unserem Gesetzentwurf einfach zu!


(Beifall bei der CDU/CSU)

Und schon haben wir den Vereinen und den dort ehren-
amtlich, neben- und hauptberuflich Tätigen geholfen. Die
Belastungen für den Staat sind gering. Sie sagen es selbst.
Der Gewinn für unsere Vereine ist enorm. Das wissen Sie.
Sollte es Ihnen schwer fallen, unserem Entwurf zuzu-
stimmen, dann legen Sie doch einen Entwurf gleichen In-
halts vor. Wir stimmen dann zu.


(Lachen bei der SPD – Rainer Brinkmann [Detmold] [SPD]: Wir haben noch nie abgeschrieben!)


Uns geht es um die Sache, um die Vereine, um die dort für
das Gemeinwohl tätigen Menschen, nicht um parteipoliti-
sche Profilierung.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Nein, Sie verweigern sich der Diskussion, weil Sie dem
Diktat des Finanzministers unterliegen. Sie machen ge-
meinsame Sache mit dem Finanzminister und pressen seit
Ihrem Regierungsantritt Milliarden aus den Vereinen und
den dort ehrenamtlich und nebenberuflich Tätigen heraus:
über die Ökosteuer, die 630-DM-Jobs und die Schein-
selbstständigkeit. Sie greifen selbst bei den Aufwandsent-
schädigungen der freiwilligen Feuerwehr ungeniert zu.
Sie benutzen das ehrenamtliche Engagement der Bürge-
rinnen und Bürger, um Ihre Kasse zu füllen. Das sagen
nicht nur die Vereine; Sie wissen das auch selbst. Geben
Sie wenigstens etwas von dem zurück, was Sie den Verei-
nen genommen haben!

Wir wissen, dass wir uns mit diesem Anliegen in bes-
tem Einvernehmen mit den Vereinen, Organisationen,
Verbänden, aber vor allem mit den dort Tätigen befinden.
Diese leisten die Arbeit in den Vereinen. Sie gilt es zu ent-
lasten und damit ihre Arbeit anzuerkennen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Um es nochmals deutlich zu machen: Die Ziele unse-

res Gesetzes sind erstens die Erhöhung der Besteuerungs-
und Zweckbetriebsgrenzen auf 120 000 DM, zweitens die
Bildung einer zusätzlichen Rücklage zur Erhöhung der
Finanz- und Leistungskraft, drittens die Erhöhung der
Grenze der Pauschalierung der Vorsteuer auf 120 000 DM
und viertens die Heraufsetzung der Übungsleiterpau-
schale auf 4 800 DM. Das sind die Eckpunkte unseres
Gesetzentwurfes.

Vereine brauchen weitere steuerliche Entlastungen
und Erleichterungen. Sonst finden sich immer weni-
ger Personen bereit, ehrenamtliche Funktionen wahr-
zunehmen.

Diese Worte stammen nicht von mir, sondern sind ein Zi-
tat von Ihrem eigenen Finanzminister, Herrn Eichel, zu-
mindest aus der Zeit, in der er noch Ministerpräsident von
Hessen war. Er hat völlig Recht. Deshalb sollten Sie un-
serem Gesetz die Zustimmung nicht verweigern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411122200
Da wir gerade
beim Thema Vereinsleben sind, hoffe ich, dass einer der
Kollegen uns sagen kann, wie das Spiel ausgegangen ist.


(Heiterkeit)

Vielleicht kann uns das der Kollege Schmidt sagen,

dem ich jetzt das Wort gebe.


Wilhelm Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1411122300
Frau Präsi-
dentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich weiß nicht, ob der Kollege Riegert nach
mir vom Fernsehapparat weggegangen ist, aber als ich
weggegangen bin, stand es 0 : 0 in der Verlängerung. Die
Holländer haben während des laufenden Spiels zwei
Elfmeter verschossen. Es ist also hochinteressant. Wie
man sieht, kümmern wir uns um das, was die Menschen
interessiert.

Das ist auch der Anlass dieser Debatte. Ich will, Herr
Riegert, unabhängig vom Inhalt Ihrer Rede ausdrücklich
würdigen, dass wir durch Ihren Antrag die Gelegenheit




Klaus Riegert

10545


(C)



(D)



(A)



(B)


haben, erneut über die Förderung des Ehrenamtes in
Deutschland zu sprechen. Manchmal hat man in diesen
Tagen das Gefühl, es beginne so etwas wie ein Wettlauf,
sich an die Verbände, die Vereine, die Ehrenamtlichen,
diejenigen, die in Deutschland das bürgerschaftliche
Engagement praktizieren, die Bürgerinnen und Bürger,
die diesen Einsatz zeigen, zu wenden und sich an sie – die-
ses Gefühl hatte ich bei Ihnen, Herr Riegert – heranzu-
machen.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Zuwendung!)

– Nein, das hat schon anderen Charakter. Was an der Stelle
von der CDU/CSU betrieben wird, ist blanke Anbiederei,
Populismus reinsten Wassers und Profilierungssucht. Bei
dem, was Sie hier veranstalten – ich wiederhole jetzt, was
ich beim ersten Durchgang dieses Gesetzentwurfes gesagt
habe –, fehlt jede Seriosität.

Ich kann nur sagen: Es ist auf der einen Seite gut, dass
wir, auch in diesem Hohen Hause, erkennen, dass es in
Deutschland Millionen von Menschen gibt, die ehrenamt-
lich tätig sind, und dass sich viele, auch in Ihren Reihen –
das verbindet uns –, in einem Maße einsetzen, ohne das
die Gesellschaft in Deutschland nicht dieses hohe Le-
bensniveau hätte, wie wir es haben. Aber auf der anderen
Seite muss unser Einsatz doch realistisch sein. Unabhän-
gig davon, dass Sie einen im Wahlkampf entstandenen
Antrag aus Hessen aus dem Jahre 1998 zitieren, ist es so,
dass auch der damalige hessische Ministerpräsident noch
nicht gewusst hat, was er heute als Finanzminister des
Bundes weiß, dass er nämlich von Ihnen Billionen von
Schulden hinterlassen bekommen hat.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Das haben wir doch jedes Jahr diskutiert! Das war doch kein Geheimnis! Das haben wir doch gewusst!)


Deshalb muss Ihnen immer wieder klargemacht wer-
den, dass man nun nicht aus dem Vollen schöpfen kann.
Wir wollen eine seriöse Finanzpolitik mit der Aufgabe
verbinden, das Ehrenamt, das gesellschaftliche Engage-
ment zu fördern. Dabei lassen wir uns, ob das nun von Ih-
nen akzeptiert wird oder nicht, nicht übertreffen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es stellt sich die Frage, wie wir in diesem Zusammen-
hang zu mehr Gemeinsamkeit kommen. Lassen Sie doch
diese Art und Weise der Auseinandersetzung, Herr
Riegert! Wir arbeiten in der Enquete-Kommission zur
Förderung des bürgerschaftlichen Engagements, die die
SPD durchgesetzt hat – das füge ich als Halbsatz hinzu –,
im Prinzip so gut zusammen, dass es sich für die Mitglie-
der dieses Hauses wirklich nicht schickt, sich außerhalb
dieses Hauses, nur um billig irgendeine Art von Öffent-
lichkeit zu erzielen, in der Tour zu bewegen, wie Sie, Herr
Riegert, das auch heute wieder im Rahmen Ihrer Rede ge-
tan haben.

Die in Ihrem Gesetzentwurf gemachten Vorschläge
sind bei näherer Betrachtung nicht zu finanzieren. Ich will
aus Ihrem Gesetzentwurf zitieren. Da steht, dass Sie durch
die Schaffung einer zusätzlichen Rücklagemöglichkeit
nach § 58 Nr. 7 der Abgabenordnung eine Förderung des

Ehrenamtes erreichen wollen. Sie wollen eine Erhöhung
der Besteuerungs- und Zweckbetriebsgrenzen, der Be-
steuerungsgrenzen für die wirtschaftliche Betätigung von
Vereinen, um das Doppelte einführen. Sie fordern die Ver-
doppelung der Übungsleiterpauschale und nehmen über-
haupt nicht zur Kenntnis, dass wir inzwischen in diesem
Bereich Aufstockungen in Höhe von 50 Prozent vorge-
nommen haben. Was soll das also? Dann wollen Sie natür-
lich auch noch eine Erhöhung der Grenze für die Pau-
schalierung der Vorsteuer um das Doppelte einführen.

Wenn man dies alles zusammenrechnet – ich begebe
mich dabei noch nicht einmal auf das Schätzgleis des
Finanzministeriums, das auch uns manchmal nicht ganz
geheuer ist –, dann produzieren Sie auf diesem Wege 3 bis
4 Milliarden DM Steuerausfälle. Das kann doch nicht
seriös sein.

Ich bitte Sie also, sich mit uns gemeinsam in der En-
quete-Kommission und bei den übrigen Aktivitäten im
Sport- und im Jugendausschuss sowie im Ausschuss für
Arbeit und Sozialordnung und an vielen anderen Stellen
dafür einzusetzen, dass die quer durch alle gesellschaftli-
chen Gruppen organisierten Ehrenamtlichen sowie deren
Verbände und Organisationen besser gefördert werden als
das in den 16 Jahren Ihrer Regierung der Fall war.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


An dieser Stelle will ich einen kleinen Hinweis hinzu-
fügen – auf dieses Niveau will ich mich eigentlich nicht
herunter begeben; aber es muss gestattet sein, einmal die-
sen Punkt anzusprechen –: Sie haben 16 Jahre lang regiert,
alle unsere damaligen Anträge, die sehr fundiert und se-
riös gewesen sind, zum Beispiel den hinsichtlich einer 50-
prozentigen Anhebung der Übungsleiterpauschale, abge-
lehnt und fordern nun eine Verdoppelung. Im Übrigen
haben Sie überhaupt nicht darauf reagiert, dass wir inzwi-
schen die Gültigkeit der von uns durchgesetzten 50-pro-
zentigen Anhebung der Übungsleiterpauschale auf die
Gruppe der Betreuerinnen und Betreuer erweitert ha-
ben. Wir haben damit eine wichtige Lücke im Bereich der
Förderung geschlossen. Dies betrifft Hunderttausende
von Menschen in diesem Lande, die sich mit jungen und
alten Menschen auseinander setzen, sie betreuen und tag-
täglich umsorgen, damit diese besser durchs Leben kom-
men.

Wir müssen uns darum bemühen, nicht nur vorder-
gründig mit Gesetzesanträgen oder Ähnlichem zu arbei-
ten, sondern dafür zu sorgen, dass wir diesen bei vielen
Millionen Menschen in unserem Lande bestehenden
Geist transportieren und anerkennen. Deshalb richte ich
an dieser Stelle – ich bedanke mich, dass Sie uns durch das
Einbringen Ihres Gesetzentwurfes dazu die Gelegenheit
geben – ausdrücklich ein kräftiges Dankeschön an die vie-
len Millionen Ehrenamtlichen in Deutschland.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)


Sie sind der Kitt der Gesellschaft, wie das einmal genannt
wurde. Sie sollen das auch weiter sein.




Wilhelm Schmidt (Salzgitter)

10546


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich bin wie Sie der Meinung, dass wir nach dem, was
die Koalition in den ersten anderthalb Jahren der Regie-
rung erreicht hat, nicht am Ende unserer Bemühungen ste-
hen. Ich habe bereits die Enquete-Kommission genannt.
Es ist gut, dass wir sie haben, und sie arbeitet sehr inten-
siv, damit wir in diesem Zusammenhang noch mehr errei-
chen.

Ich will ein weiteres Projekt nennen, das wir nach jah-
relangem Hin und Her durchgesetzt haben und das uns
ebenso helfen wird, das bürgerschaftliche Engagement
mehr als bisher zu unterstützen und zu untermauern. Das
ist die Änderung des Stiftungssteuerrechts.


(Beifall bei der SPD)

Es hat jahrelang gedauert, bis auf Ihrer Seite die dafür er-
forderliche Erkenntnis gewachsen ist. Frau Präsidentin
Vollmer, da Sie gerade amtieren, möchte ich Ihnen ein
Lob aussprechen. Denn Sie sind im Wesentlichen die
Initiatorin dieses Vorhabens gewesen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ludwig Stiegler hat ganz maßgeblich zur Koordinierung
des gesamten Projektes beigetragen. Um Einzelne nicht
hintanzusetzen: Es waren viele andere daran beteiligt,
aber ihr besonders.

Dieses Projekt ist in diesem Zusammenhang deswegen
zu nennen, weil wir damit der Gesellschaft einen neuen
Schub im Hinblick auf Stiftungsinitiativen geben wollen.
Wir verschaffen den Menschen die Gelegenheit, mit
ihrem privaten Geld noch mehr Gutes zu tun, als das bis-
her schon der Fall war. Nach dem neuen Recht können
40 000 DM pro Jahr zusätzlich steuerlich berücksichtigt
werden, wenn man sie in eine Stiftung gibt. 600 000 DM
können über zehn Jahre hinweg ohne Vermögensstock ei-
ner neu gegründeten gemeinnützigen Stiftung steuerfrei
gespendet werden.


(Klaus Riegert [CDU/CSU]: Das hat der Bundesrat gemacht!)


– Ich war ja so froh darüber, dass Ihre Länder und auch ei-
nige der A-Länder, die das nicht oder anders wollten, den
Vermittlungsausschuss angerufen haben. An dieser Stelle
komme ich ins Spiel – das sage ich einmal ganz unbe-
scheiden –, weil ich der Verhandlungsführer der Koalition
im Vermittlungsausschuss bin. Wir haben am Ende näm-
lich mehr erreicht und manchen von denen, die den Ver-
mittlungsausschuss angerufen haben, war das gar nicht so
recht. Insofern kann ich nur sagen: Wir wollten dies so ha-
ben und haben es sogar noch besser gemacht, als es ur-
sprünglich aussah oder als Sie es am Ende haben mittra-
gen wollen. Insoweit ist also schon eine Menge gesche-
hen.

Als Nächstes wollen wir mehr Entbürokratisierung
erreichen. In den zuständigen Ministerien wird hinter den
Kulissen daran bereits gearbeitet. Der Bundeskanzler ist
doch in der vorigen Woche selbst zum Feuerwehrtag nach
Augsburg gegangen und hat auch dort noch einmal vor
den versammelten Feuerwehrleuten, die nur alle zehn
Jahre in Deutschland zusammenkommen, vor einer
großen Menge engagierter Menschen persönlich zum

Ausdruck gebracht, dass hier weiter gearbeitet wird und
Entlastungen für Ehrenamtliche auch beim Bezug von
Aufwandsentschädigungen kommen werden.

Aber es kann doch hier bitte schön nicht nur an das
Steuerrecht, nicht nur an das Stiftungsrecht gedacht wer-
den und es kann nicht nur eine Enquete-Kommission sein,
in der wir uns mit wissenschaftlicher und manchmal auch
öffentlicher Begleitung über das Fortkommen auf diesem
Gebiet unterhalten. Das Entscheidende ist doch, dass wir
die Menschen erreichen. Wir erreichen sie aber nicht da-
durch, dass wir uns hier gegenseitig beschimpfen, wie Sie
das auf diesem Felde jetzt schon zum zweiten Mal ma-
chen, sondern nur dadurch, dass wir uns alle gemeinsam
bemühen, daran zu arbeiten, die Bedingungen für den eh-
renamtlichen Einsatz in Deutschland zu verbessern.


(Beifall des Abg. Ludwig Stiegler [SPD])

Wenn wir uns vor diesem Hintergrund in den nächsten

Wochen und Monaten in der Enquete-Kommission und
an anderer Stelle miteinander bewegen, werden wir
eine Menge erreicht haben. Ich bin auch sicher, Herr
Riegert, – um Ihre Kritik am Finanzminister mit einem
Satz aufzunehmen –, dass sich auch der Finanzminister zu
weiteren Schritten bereit erklären wird. Aber das ist wirk-
lich nicht einfach, jedenfalls nicht so einfach, wie Sie
glauben es sich machen zu können.

Auf der anderen Seite haben wir auch noch viele ande-
ren Aufgaben. Die Reformprojekte schreiten fort. Ein
wichtiges Reformprojekt, das diese Regierung und diese
Koalition im Auge haben, ist die Unterstützung des bür-
gerschaftlichen Engagements in Deutschland. Das haben
die Menschen verdient, die sich engagieren, und das ha-
ben auch deren Vereine, Verbände und Organisationen
verdient. Auf diesem Wege werden wir uns nicht beirren
oder behindern lassen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411122400
Frau Kollegin
Aigner meint, ich solle Ihnen sagen, dass es im Moment
2:0 für Italien stehe, weil Holland zwei Elfmeter ver-
schossen hat. Das ist aber noch nicht der Endstand.

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gerhard Schüßler.


Gerhard Schüßler (FDP):
Rede ID: ID1411122500
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die Sportvereine in Deutschland leisten ei-
nen großen Beitrag für das Gemeinwohl und ihre Leis-
tungen entlasten kommunale und private Träger in ganz
erheblichem Maße. Die Sportvereine erbringen eine nicht
zu unterschätzende gesellschaftspolitische Leistung, die
unsere allerhöchste Anerkennung verdient. Sie leisten ei-
nen ganz wesentlichen Teil von Kinder- und Jugendarbeit,
von Gesundheitsvorsorge und der Entwicklung von Ge-
meinsinn. Ihre von ihnen geleistete Aufgaben sind so
vielfältig, dass sie allein aus Zeitgründen an dieser Stelle
nicht alle genannt werden können. Diese großen Leistun-
gen werden von Tausenden von ehrenamtlich tätigen




Wilhelm Schmidt (Salzgitter)


10547


(C)



(D)



(A)



(B)


Helferinnen und Helfern erbracht, die ebenfalls unsere
höchste Anerkennung verdienen.


(Beifall bei der F.D.P. und der PDS)

Der Stellenwert ehrenamtlicher Tätigkeit kann in der

Gesellschaft nicht hoch genug bewertet werden. Wir erle-
ben ja, dass allein die Einrichtung der Enquete-Kommis-
sion ein unheimlich großes Echo hervorgerufen hat.

Die Zielsetzung des uns heute vorliegenden Antrags ist
in vollem Umfang zu unterstützen. Die F.D.P.-Bundes-
tagsfraktion wird ihm zustimmen. Etwa 12 Millionen
Bürgerinnen und Bürger üben an irgendeiner Stelle eine
ehrenamtliche Tätigkeit aus. Oftmals fehlt die Anerken-
nung. Zum Beispiel ist es selbstverständlich, dass es eine
freiwillige Feuerwehr gibt. Die Aufgaben der Sportver-
eine sind in den vergangenen Jahren immer vielfältiger
und größer geworden. Aber jedermann weiß auch, dass
sich die finanziellen Rahmenbedingungen parallel zur
Aufgabenmehrung wesentlich verschlechtert haben.

Die von der rot-grünen Koalition beschlossenen Ge-
setze zur Ökosteuer, zu den geringfügigen Beschäfti-
gungsverhältnissen und zur Scheinselbstständigkeit ha-
ben bei den Vereinen zu großen und enormen Schwierig-
keiten und finanziellen Belastungen geführt. Diese
können die gemeinnützigen Sportvereine nicht tragen.
Darum fordern wir die Bundesregierung und die rot-grüne
Koalition auch an dieser Stelle auf, die genannten unsin-
nigen Gesetze aufzuheben. Sie haben großen Schaden an-
gerichtet und Sie, meine Damen und Herren, die Sie dies
beschlossen haben, haben es auch zu verantworten. Set-
zen Sie endlich ein positives Signal und nehmen Sie diese
unmöglichen Gesetze zurück! Dann hätten wir die heutige
Debatte an dieser Stelle wahrscheinlich nicht.


(Beifall bei der F.D.P.)

Der uns vorliegende Gesetzentwurf der CDU/CSU-

Fraktion zielt sehr konkret auf die Vereinfachung der Be-
steuerung der ehrenamtlich Tätigen. Eine Verbesserung
der steuerlichen Rahmenbedingungen kann die katastro-
phalen Auswirkungen der Neuregelungen, zum Beispiel
der 630-Mark-Jobs, zumindest zum Teil auffangen. Ich
halte die Ablehnung, wie Herr Schmidt sie geäußert hat,
schlicht und einfach für widersinnig.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Der Bundeskanzler – Sie haben es ja gesagt – fährt zum

Deutschen Feuerwehrtag und hält dort eine wohlfeile
Rede.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Eine sehr ernst gemeinte, wohlgemerkt!)


– Ja, eine wohlfeile Rede, das kann er sehr gut, das räume
ich ein. – Dann beschäftigt er sich mit den entstandenen
Problemen der Sozialversicherungspflicht für Aufwands-
entschädigungen für ehrenamtlich Tätige


(Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist euer Gesetz!)

und verspricht Abhilfe, allerdings nicht ohne den sanften
Hinweis, dass die Bäume natürlich nicht in den Himmel
wachsen können.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist ja wohl richtig!)


Ich habe erwartet, dass der Bundeskanzler in dieser
Diskussion, die wir ja – auch in der Enquete-Kommis-
sion – streitig miteinander geführt haben, so handeln
würde. Das ist das bekannte Spiel: Es werden Entlastun-
gen angekündigt. An anderer Stelle wird den Bürgern das
Geld wieder aus der Tasche gezogen. Meine Damen und
Herren, das ist die Wahrheit.

Die F.D.P.-Bundestagsfraktion stimmt dem Gesetzent-
wurf der CDU/CSU-Fraktion zu. Ich hoffe, dass wir im
Rahmen der Enquete-Kommission, die aus ihrer Arbeit ja
auch Schlussfolgerungen ziehen muss, zu anderen Ergeb-
nissen kommen, als sie dem jetzigen Istzustand entspre-
chen.

Danke schön.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411122600
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Winfried Hermann. Der weiß viel-
leicht auch das endgültige Ergebnis. Hier ging es zu wie
bei der stillen Post: zwischen 3:1 und 4:2.


Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411122700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen, die Sie von den Bildschirmen
zurückgekommen sind, ich muss sagen, es ist eine der här-
testen parlamentarischen Disziplinen, wenn man das
Elfmeterschießen im Halbfinale verpassen muss, weil
man hier über Vereinsbesteuerung reden muss. Insofern
bedaure ich, dass ich zum Ergebnis nichts sagen kann.


(Heiterkeit)

Nun komme ich zum Gesetzentwurf der CDU/CSU-

Fraktion zur Vereinsbesteuerung. Es wäre ehrenwert,
wenn man einen Vorschlag hinsichtlich des Ehrenamtes
machen würde. Es wäre ehrenwert, wenn man einen Ge-
setzentwurf einbringen würde, in dem zum Ausdruck
kommt, dass man sich insgesamt Gedanken gemacht hat,
wie man Vereine und Vereinsbildung fördern, aber auch
die Besteuerung erleichtern könnte.

Was Sie hier aber eingebracht haben – Kollege Riegert,
das muss ich Ihnen ganz persönlich sagen –, sind nicht
mehr und nicht weniger als vier Lobbyforderungen einer
bestimmten Gruppe, die Sie jahrzehntelang, als Sie in der
Regierung waren, hartnäckig abgelehnt haben. Deswegen
ist es ziemlich unglaubwürdig oder jedenfalls nicht sehr
überzeugend, wenn Sie jetzt, da Sie in der Opposition
sind, so tun, als käme das Geld aus der Steckdose.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie Manna vom Himmel!)


Sie stellen als Opposition einfach Forderungen auf, ohne
sie abzuwägen und ohne zu prüfen, was deren Verwirkli-
chung kosten würde.

Ein zweiter Punkt. Ich finde, Sie verwischen ständig
und leider Gottes zu oft das Ehrenamt und nebenberufli-
che Beschäftigungen. Sie übersehen, dass es auch in Ver-
einen viele Geschäfte gibt. Das Ehrenamt kann man nicht
besteuern und man wird es auch nicht besteuern. Dann
braucht man insofern auch keine Steuererleichterungen.




Gerhard Schüßler
10548


(C)



(D)



(A)



(B)


Sie aber suggerieren, dass es um das Ehrenamt geht. Ob-
jektiv geht es aber darum, dass Menschen nebenberuflich
zusätzlich Geld verdienen, dafür entlohnt werden und
auch Steuern zahlen müssen. Die Frage ist: Was macht
man da und wie geht man damit um?

Ich will aber auf Ihre Forderungen durchaus im Ein-
zelnen eingehen und sagen, aus welchen Gründen wir sie
ablehnen.

Erstens: Ihre Rücklageforderung. Heute haben Vereine
schon die Möglichkeit, Rücklagen zu bilden – wie ich
finde, in ausreichendem Maße. Vereine sind nicht gemein-
nützig und haben nicht die Funktion, vor allen Dingen
Kapital und Vermögen anzusammeln. Es ist nicht das
oberste Ziel des Vereins, ein Vereinsheim zu bauen. Viel-
mehr sind die menschlichen Aktivitäten, auch sportive
Aktivitäten, zu fördern. Das Vereinsheim kann gebaut
werden oder auch nicht. Das ist aber nicht das primäre
Ziel des Vereins.

Zweiter Punkt. Sie wollen die Besteuerungsgrenze
und die Pauschalierungsgrenze von 60 000 auf
120 000 DM erhöhen. Das ist aus der Sichtweise des Ver-
eins, wenn er unversteuert Geld machen will, durchaus
vernünftig. Aber wenn Sie das einmal im Marktgeschehen
betrachten – dem kann man sich nicht vollständig ver-
schließen –, dann sehen Sie, dass die Kneipen, die die Ver-
eine betreiben, natürlich in Konkurrenz zur Gastronomie
stehen. Ich sage Ihnen: Sobald Sie in der Situation wären,
in der Regierung zu sein, würde Ihr Vorschlag sofort ein-
kassiert, weil natürlich auch die anderen ihre Interessen
vertreten hätten. Dann hätten Sie ein schwieriges Abwä-
gungsproblem gehabt. Wir haben uns in dieser Abwä-
gungsfrage klar dafür entschieden zu sagen: Es gibt eine
gewisse Freistellung, aber auch nicht mehr und nicht we-
niger; das reicht und man kann da nicht überziehen. Sie
würden mit Ihrer Forderung meines Erachtens den Wett-
bewerb in diesem Bereich völlig durcheinander bringen.
Das lässt sich meines Erachtens gegenüber der Gastrono-
mie nicht rechtfertigen.

Dritter Punkt: Übungsleiterpauschale. Sie schlagen
die Verdoppelung der Pauschale vor. Wir haben ja das
System geändert. Wir haben das steuerfreie Einkommen
für Tätigkeiten in diesem Bereich geschaffen. 3 600 DM
sind eine ordentliche Erhöhung. Eine solche Erhöhung
haben Sie jahrelang nicht hinbekommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Herr Riegert, da Sie wie ich auch viel an Diskussionen in
Vereinen teilnehmen, haben Sie wahrscheinlich gemerkt,
dass es in den Vereinen inzwischen still geworden ist.


(Klaus Riegert [CDU/CSU]: Da entsteht ein völlig falscher Eindruck!)


Mit dieser Erhöhung haben wir wirklich in erheblicher
Weise die Bedingungen für die nebenberuflich Beschäf-
tigten verbessert. Wir haben den Kreis erweitert. Auch
Kollege Schmidt hat darauf hingewiesen. Ich will Ihnen
nur sagen: Sie von der CDU/CSU haben nichts Besseres
zu tun gehabt, als in Ihren Kreisen Briefe zu verbreiten,

dass der Abgeordnete Hermann Unsinn erzähle, weil er
gesagt habe, das gelte nicht nur für Übungsleiter.


(Klaus Riegert [CDU/CSU]: Das hat die Regierung sogar bestätigt!)


Es gilt tatsächlich nicht nur für Übungsleiter, sondern
auch für das Betreuungspersonal. Das hätten Sie berück-
sichtigen sollen, anstatt herumzugehen und etwas Gegen-
teiliges zu behaupten. Es ist möglich, dass Frauen und
Männer, die Jugendmannschaften betreuen und keinen
Übungsleiterschein haben, auch von dieser Regelung pro-
fitieren. Das haben Sie ignoriert bzw. haben auch noch so
getan, als wäre das nicht wahr.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Jetzt möchte ich Ihnen gerne sagen, was wir noch vor-
haben und was man, wie ich finde, noch in Angriff neh-
men muss – da können Sie auch durchaus mitarbeiten.
Natürlich muss man sich Gedanken machen, wie etwa im
Bereich der Feuerwehr eine Regelung zu finden ist; denn
die Feuerwehr wird in der bisherigen Regelung nicht
berücksichtigt. Gar keine Frage, das ist unbefriedigend,
da muss man etwas machen. Gott sei Dank hat auch Kanz-
ler Schröder deutlich gemacht, dass er da schnell etwas
machen will.

Nächster Punkt: Steuer- und Stiftungsrecht. Nicht
einmal die Vereinsfunktionäre kennen es bisher richtig.
Wir sollten ihnen behilflich sein, die Möglichkeiten die-
ses Rechts zu nutzen; sie sind überhaupt noch nicht aus-
geschöpft.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Schließlich nenne ich noch die Enquete-Kommission.
Wir haben die Enquete-Kommission eingerichtet, um
auch grundsätzlich darüber nachzudenken, wie man in ei-
ner Gesellschaft, in der vieles professionalisiert ist, in der
vieles käuflich ist und in der vieles verkauft wird, in der
es aber auch viel soziales, ehrenamtliches und bürger-
schaftliches Engagement gibt, die Bedingungen so gestal-
ten kann, dass das Engagement weiterentwickelt wird und
nicht unter bestimmten Bedingungen kaputt geht. Darü-
ber gilt es weiter nachzudenken und nicht nur über Ein-
zelforderungen. Da muss man sich Gedanken über sozial-
politische und arbeitsrechtliche Gesichtspunkte machen
und ein vernünftiges Gesamtkonzept entwickeln. Das ver-
spreche ich mir von der Enquete-Kommission.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411122800
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Grehn.


Dr. Klaus Grehn (PDS):
Rede ID: ID1411122900
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Ich möchte mit einigen Zitaten
beginnen, von denen hier auch schon die Rede war. Aber
lassen Sie mich noch einmal den Originalton vortragen.
Vor fünf Tagen sagte der Bundeskanzler in Augsburg:




Winfried Hermann

10549


(C)



(D)



(A)



(B)


Wer aber vorbildliche ehrenamtliche Arbeit leistet,
der hat auch verdient, dass die Gesellschaft das wür-
digt und anerkennt.

Recht hat der Mann.
Zweites Zitat:
Ich räume gerne ein, dass insbesondere bei geringen
Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliche Tätig-
keiten das geltende Steuer- und Sozialrecht und die
Auslegungspraxis der Sozialversicherungsträger zu
Ungereimtheiten führen.

Recht hat der Mann.

(Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])


Ein drittes Zitat:
Aber für die große Masse der ehrenamtlich Tätigen,
die Aufwandsentschädigungen erhalten, will ich eine
Verbesserung der augenblicklichen Situation. Für sie
werden wir eindeutig klarstellen, dass Aufwandsent-
schädigungen bis zu einer bestimmten Höhe künftig
steuer- und versicherungsfrei sein werden.

Nun haben wir hier einen Vorschlag auf dem Tisch lie-
gen. Herr Kollege Schmidt, Sie tun so, als wenn es um das
goldene Zeitalter in den Vereinen, als wenn es um Ver-
besserungen ginge. Es geht um einen Ausgleich für Ent-
wicklungen, die zu einer erheblichen Verschlechterung
der Situation in den Vereinen geführt haben. Es geht nicht
um Lobbyforderungen.


(Beifall bei der PDS)

Man muss – das muss man einfach sagen – diesen Vor-

schlag aus der Sicht der betroffenen Verbände und nicht
aus der Sicht der Parteienpolitik sehen.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aus Sicht der Verbände ist dieser Vorschlag – so gering er
sein mag – ein Fortschritt. Herr Henkel würde sagen: Das
sind Peanuts. Aber Vereine sind im Gegensatz zu anderen
auch mit Peanuts zufrieden. Insofern verstehe ich über-
haupt nicht, dass Sie die Verbesserungen wiederum auf
den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben wollen und
ihrem Kanzler nicht zur Seite springen wollen. Es gibt
keinen Grund, Ihrem Kanzler und Parteivorsitzenden
nicht zu folgen. Helfen Sie ihm und unterstützen Sie ihn!
Lassen Sie ihn in diesem Fall nicht allein im Regen und
auch nicht gegenüber der Opposition stehen! Sie haben in
diesem Fall die Möglichkeit dazu.

Angesichts der realen Lage und angesichts der Ver-
schlechterungen, die die Vereine durch vielfältige Ent-
wicklungen – diese will ich nicht alle aufzählen; das lässt
die Zeit auch nicht zu – zu erdulden haben, halten wir Ver-
besserungen für dringend geboten, wenn das Vereinsleben
und die ehrenamtliche Tätigkeit in Quantität und Qualität
nicht noch weiter als bisher absinken sollen.

Eine letzte Bemerkung: Die Kollegen der CDU/CSU-
Fraktion waren bescheiden – zu bescheiden: Sie haben
sich mit ihren Vorschlägen zur Rückstellung und zu den
Steuerfreibeträgen auf die Sportvereine konzentriert.

Dazu sehe ich überhaupt keinen Anlass. Es gibt im sozia-
len, im kulturellen und im Jugendbereich Vereine, die es
in mindestens genauso starkem Maße verdient haben,
dass sie wie die anderen an diesen Entwicklungen partizi-
pieren. Deswegen sollten wir den Gesetzentwurf erwei-
tern.


(Beifall bei der PDS – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das stimmt vom Grundsatz her!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411123000
Damit schließe
ich die Aussprache zu diesem Punkt.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frak-
tion der CDU/CSU eingebrachten Gesetzentwurf zur Ver-
besserung der Vereinsförderung und der Vereinfachung
der Besteuerung der ehrenamtlich Tätigen, Drucksa-
che 14/1145. Der Finanzausschuss empfiehlt auf Druck-
sache 14/3412, den Gesetzentwurf abzulehnen.


(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Das ist ja unglaublich, Frau Präsidentin!)


Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen! – Enthal-
tungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-
men der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS abgelehnt
worden.

Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei-
tere Beratung.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b sowie
die Zusatzpunkte 10 und 11 auf:
15. a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Den sozialen Wohnungsbau erhalten und re-
formieren
– Drucksache 14/3664 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuss

b) Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Dirk Fischer

(Hamburg), Eduard Oswald, weiteren Abgeord-

neten und der Fraktion der CDU/CSU einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Wohnungsbindungsgesetzes und des Alt-
schuldenhilfe-Gesetzes
– Drucksache 14/2763 –

(Erste Beratung 95. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

(15. Ausschuss)

– Drucksache 14/3578 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig




Dr. Klaus Grehn
10550


(C)



(D)



(A)



(B)


ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.-Ing.
Dietmar Kansy, Dirk Fischer (Hamburg), Eduard
Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Soziale Wohnraumförderung – Reform im
Einklang mit einer kohärenten Wohnungs-
und Städtebaupolitik
– Drucksache 14/3668 –

ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich (Bayreuth), Hans-Michael Goldmann,
Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der F.D.P.
Wohngeld erhöhen, Bürokratie abbauen,
Länderkompetenzen stärken: Reformchan-
cen beim sozialen Wohnungsbau konsequent
nutzen
– Drucksache 14/3676 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann verfahren wir auch so.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Wolfgang Spanier.


Wolfgang Spanier (SPD):
Rede ID: ID1411123100
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Zu später Stunde diskutieren wir über
soziale Wohnungspolitik. Es gibt viele Stimmen in unse-
rem Land, die sagen: Der Wohnungsmarkt ist gesättigt.
Wir haben eine Mietenentwicklung, die nur sehr maßvolle
Steigerungen erkennen lässt.


(V o r s i t z: Vizepräsident Rudolf Seiters)

Der Wohnungsmarkt ist in Ordnung. – Bei genauerem
Hinsehen ergibt sich ein sehr viel differenzierteres Bild.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Wir werden in den kommenden Jahren einen zusätzli-
chen Bedarf haben; nicht weil die Bevölkerung wächst,
sondern weil die Zahl der Haushalte wachsen wird. Wir
werden auch einen zunehmenden Bedarf im unteren
Preissegment haben. Hier zeichnet sich bereits seit länge-
rem – nicht nur in den Ballungszentren – ab, dass die Zahl
der preiswerten Wohnungen nicht ausreicht und dass zu-
nehmend Gruppen in der Bevölkerung Schwierigkeiten
haben, eine angemessene und bezahlbare Wohnung zu
finden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir haben auch andere Probleme auf dem Woh-

nungsmarkt. Ich will nur die Situation der leer stehenden
Wohnungen in den neuen Bundesländern nennen. Sie
wird uns in den kommenden Jahren vor gewaltige He-
rausforderungen stellen. Ich nenne auch die Situation, die
der GdW in zwei Untersuchungen herausgearbeitet hat
und die er die „überforderten Nachbarschaften“ nennt. Ar-
mutsforscher haben einen sehr viel drastischeren Begriff
geprägt. Sie sprechen von „Armutsgettos“. Es gibt nicht
nur in den großen Städten, sondern auch zunehmend in
mittelgroßen Städten Wohnquartiere, die absacken. Dort

ballen sich geradezu die sozialen Probleme und Konflikte
unserer Gesellschaft. Auch dies ist eine Herausforderung
für die soziale Wohnungspolitik der kommenden Jahre.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Wichtig ist dabei – das möchte ich ganz am Anfang
herausstellen –: Der soziale Wohnungsbau ist und bleibt
eine Gemeinschaftsaufgabe von Kommunen, Ländern
und Bund.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Das unterstreichen wir in dem ersten Ziel unseres Antra-
ges, wo noch einmal ausdrücklich auf die Mitfinanzierung
des sozialen Wohnungsbaus durch den Bund verwiesen
wird. Daran wollen wir festhalten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Das unterscheidet uns natürlich von den Freien Demo-
kraten, die im Unterschied zu ihrer Haltung noch in der
letzten Legislaturperiode jetzt – so wie Kai aus der
Kiste – mit dem Vorschlag kommen: Ausstieg des Bundes
aus dem sozialen Wohnungsbau und Verwendung der
Mittel zur Aufstockung des Wohngelds.


(Jörg Tauss [SPD]: Unmöglich! Verantwortungslos!)


Meine Damen und Herren von den Freien Demokraten,
vielleicht haben Sie noch nicht ganz mitbekommen, dass
Ihr Generalsekretär Herr Westerwelle neuerdings die so-
ziale Fahne schwingt.


(Jörg Tauss [SPD]: Aber nur die Fahne!)

Bei einem ganz wichtigen wohnungspolitischen Instru-
ment bedeutet das den Ausstieg aus einer sozialpolitisch
verantwortbaren Wohnungspolitik.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Ein wenig anders – ich muss ehrlich sagen, gehörig an-
ders – sieht es beim Antrag der CDU/CSU aus.


(Jörg Tauss [SPD]: Ganz schlimm!)

Zum Thema Wohnungsbindungsgesetz möchte ich nur
eine Anmerkung machen. Wir sind ja noch einmal durch
die entsprechende Abstimmung im zuständigen Bundes-
ratsausschuss darin bestätigt worden, dass es klug ist, die
Einzelmaßnahme der mittelbaren Belegung, die wir
durchaus akzeptieren und für richtig halten, zurückzustel-
len und dann im Rahmen einer Gesamtreform des sozia-
len Wohnungsbaus zu berücksichtigen.

Auf die Vorwürfe, die Sie um Ihren eigenen Antrag
herum garnieren, will ich nicht näher eingehen. Wissen
Sie, mich erinnert das Ganze ein wenig an Folgendes:
Wenn man in einem Gasthaus ein Schnitzel bestellt, gibt
es dazu die berühmt-berüchtigte Salatbeilage, oft etwas
angegammelt und ein bisschen verwelkt. Ähnlich wie




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

10551


(C)



(D)



(A)



(B)


beim Schnitzel sollte man sie zur Seite schieben. Es lohnt
sich nicht, ihr allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken.

Sie wissen genau, woran Ihre Wohnbaureform ge-
scheitert ist. Sie haben es eben nicht fertig gebracht – so
wie Sie es in Ihrem Gesetzentwurf damals vorhatten –,
gleichzeitig das Wohngeld deutlich zu verbessern. Nun
haben wir diese Voraussetzung geschaffen, selbstver-
ständlich auch mit Unterstützung der CDU im Bundesrat.

Nun lassen Sie uns gemeinsam ans Werk gehen! Des-
wegen will ich mich jetzt nicht auf die Salatbeilage, son-
dern aufs Schnitzel konzentrieren.


(Beifall bei der SPD dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS – Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Sie versprechen Schnitzel und bringen Döner!)


Siehe da, meine Damen und Herren von der Union und
besonders Herr Dr. Kansy, wir stimmen in den Zielen wei-
testgehend überein. Das war übrigens beim Wohngeld
ähnlich.

Deswegen sage ich Ihnen in aller Ruhe und Gelassen-
heit: Am Ende wird ebenso wie beim Wohngeld das he-
rauskommen, was wir gemeinsam wollen. Es gehört ein
bisschen oppositionelles Tamtam dazu. Aber ich bin zu-
versichtlich, dass wir im nächsten Jahr tatsächlich die Re-
form des sozialen Wohnungsbaus schaffen werden, und
zwar mit folgenden wesentlichen Zielen – das ist ent-
scheidend –: Die Zielgruppe wird verändert, das heißt, wir
wollen denjenigen Menschen, die auf dem Wohnungs-
markt Zugangsschwierigkeiten haben, die Schwierigkei-
ten haben, eine preiswerte Wohnung zu bekommen, hel-
fen. Wir wollen uns nicht mehr auf den Neubau konzen-
trieren. Vielmehr soll gleichberechtigt neben der
Neubauförderung die Förderung im Bestand stehen. Das
ist ein wesentlicher Fortschritt. Wir wollen die starren Re-
gelungen hinsichtlich der Förderwege und der Einkom-
mensgrenzen sowie der Belegungsregelungen lockern
und flexibilisieren – ein Wort, das Ihnen gefallen müsste.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Weiterhin sollen die Entscheidungsspielräume vor allem
der Kommunen und Länder gestärkt werden. Das bedeu-
tet ein Stück Dezentralisierung. Wir wissen alle – viele
von uns kommen aus der Kommunalpolitik –, dass man
vor Ort am ehesten weiß, was Not tut.


(Beifall bei der PDS)

Damit ist ein wesentlicher Punkt erreicht. Zum ersten

Mal werden – in dieser Hinsicht stimmen wir überein –
tatsächlich Wohnraumförderung und Städtebauförderung
verzahnt. Wenn man sich die Sache genauer anschaut,
dann zieht sich wie ein roter Faden – Entschuldigung, wie
ein rot-grüner Faden – sowohl bei den europäischen För-
derprogrammen als auch bei dem Programm „Die soziale
Stadt“, der Städtebauförderung und der sozialen Wohn-
raumförderung ein Grundgedanke hindurch: Wir müssen
wegkommen vom Kästchen- und Ressortdenken und
brauchen integrative Ansätze.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Es ist ein entscheidender Fortschritt, wenn man genau in
den Wohnquartieren, die ich eben angesprochen habe, die
Möglichkeit schafft, ein Stück weit sozialen Frieden zu si-
chern und wieder herzustellen.

Wohnen hat in unserer Gesellschaft nach wie vor einen
hohen Stellenwert. Wir haben in den vergangenen Jahren
sicherlich sehr viel für die Eigenheimförderung getan.
Dazu stehen wir selbstverständlich. Wir haben aber auch
eine soziale Verpflichtung, an die Wohnraumversorgung
der Menschen zu denken und denjenigen zu helfen, die
sich im unteren Drittel der Einkommensskala bewegen.
Das ist nach wie vor eine wichtige und notwendige Auf-
gabe, gerade weil sich, lieber Herr Dr. Kansy, in diesen
Wohnquartieren die sozialen Konflikte unserer Gesell-
schaft konzentrieren.

Deshalb ist es wichtig, dass wir alle Instrumente, die
wohnungspolitisch notwendig sind, in dieser Legislatur-
periode reformieren. Geschafft haben wir das beim Wohn-
geld und das war sicherlich ein deutlicher Fortschritt.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die F.D.P. hat es noch nicht gemerkt!)


Geschafft haben wir es auch beim Programm „Die soziale
Stadt“. Man kann verstehen, dass bei Ihnen ein bisschen
Mäkelei kommt. Wir haben uns auch, allerdings allzu
lange, in der Oppositionsrolle befunden. In dieser Situa-
tion sucht man manchmal etwas krampfhaft, was man kri-
tisieren könnte, weil sozusagen zum Rollenverständnis
gehört, dass die Opposition immer etwas zu kritisieren
hat. Herr Goldmann, auch wir haben da ein Stück Erfah-
rung und Sie sammeln sie jetzt. Da wünsche ich Ihnen
weiterhin viel Vergnügen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wir machen jetzt den nächsten Schritt bei der Reform

des sozialen Wohnungsbaus und der Weiterentwicklung
zur sozialen Wohnraumförderung. Ich denke, Herr
Kansy und meine Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, wir werden diesen Weg gemeinsam gehen.
Wir werden noch in dieser Legislaturperiode das soziale
Mietrecht – ein weiterer wichtiger Baustein – reformie-
ren. Dann sind wir insgesamt, was die sozial verpflichtete
Wohnungspolitik in diesem Lande betrifft, einen deutli-
chen Schritt vorangekommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das kann sich nach meiner Meinung sehen lassen.
Ich kann verstehen, dass Ihnen das alles nicht schnell

genug geht und Sie immer wieder drängeln und drängen.
Sie wissen: Wir machen gute Dinge und da haben Sie auch
ein gutes Recht, uns zu drängeln und die möglichst
schnelle Verwirklichung unserer Vorhaben einzufordern.
Es ist aber wichtig und richtig, dass wir nicht nur im Fach-
ausschuss und nicht nur in diesem Parlament über diese
gesellschaftspolitische Aufgabe diskutieren.
Ich glaube, wir brauchen eine breite gesellschaftspoliti-
sche Debatte über die Zukunft unserer Städte. Das ist




Wolfgang Spanier
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(C)



(D)



(A)



(B)


nicht eine Diskussion unter Architekten, sondern eine
Diskussion mit dem integrativen Ansatz, dass es eben
nicht nur um Bauten geht, sondern dass es gleichzeitig
auch um Arbeitsplätze, um die soziale Ausstattung der
Menschen und letztlich um den sozialen Frieden in unse-
ren Städten geht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diese gesellschaftspolitische Debatte sollten wir führen,
hoffentlich dann mit etwas größerer Beteiligung als heute
Abend. Das, denke ich, ist notwendig.


(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Die wichtigsten Leute sind da!)


– Ich sehe Sie zum Beispiel. Ich bin ja schon mal beruhigt,
dass Sie und auch Herr Dr. Meister anwesend sind. So
schlecht ist die Besetzung heute Abend nicht.


(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Sie haben Frau Eichstädt-Bohlig vergessen!)


– Nein, ich wollte Ihnen eine Freude machen, weil Sie es
angesprochen haben, Herr Dr. Kansy.

Ich halte das für sehr wichtig, weil wir – damit will ich
schließen – den Grundsatz der Nachhaltigkeit, den wir
sonst immer wieder in eher akademischer Diskussion be-
schwören, wirklich ein Stück voran bringen können, so-
wohl was die ökologische Dimension – Stichwort zum
Beispiel Konzentration auf den Bestand – als auch was die
soziale Dimension und natürlich auch die ökonomische
Dimension betrifft. Deswegen hoffe ich übrigens auch,
dass sich unsere Wirtschaftspolitiker an dieser gesell-
schaftspolitischen Diskussion über die Zukunft unserer
Städte beteiligen werden.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411123200
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Dr. Michael Meister.


Dr. Michael Meister (CDU):
Rede ID: ID1411123300
Sehr geehrter Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
heute noch gültigen gesetzlichen Regelungen im sozialen
Wohnungsbau sind im Prinzip kurz nach Gründung der
Republik in Kraft gesetzt worden und im Wesentlichen
auch durch die Zeit nach dem Krieg geprägt. Das heißt, es
gab damals akute Wohnungsnot, es gab dringenden Be-
darf nach preisgünstigem Wohnraum.

Heute, gut 50 Jahre später, steht natürlich die Frage ei-
ner Reform des sozialen Wohnungsbaus an. Alle in Bund,
Ländern und Kommunen, sind sich natürlich darüber ei-
nig, Herr Spanier, dass sie dringend notwendig ist und
dass das derzeit gültige Recht, das noch von den Ideen der
Zeit von vor 50 Jahren geprägt war, den heutigen An-
sprüchen nicht mehr genügt.

Wir wissen – Sie haben es zu Recht angesprochen –
von Versorgungsengpässen einkommensschwacher Haus-
halte, leider nicht nur in den Ballungsräumen, sondern

insgesamt in der Republik. Wir denken an kinderreiche
Familien und Alleinerziehende, die nach wie vor Zu-
gangsprobleme im Wohnungsmarkt haben. Auf der ande-
ren Seite haben wir eine Förderung des sozialen Woh-
nungsbaus, die sich nach wie vor vom Mietmarkt ab-
schottet. Ich nenne als Stichwort das Kostenmietprinzip,
das eine Hürde zwischen dem frei finanzierten und dem
sozialen Wohnungsbau errichtet. Wir haben Fehlbelegun-
gen, wir haben Fehlsubventionierungen. Alles das zeigt,
dass hier eine Fehlsteuerung stattfindet. Die gesetzlichen
Regelungen folgen nicht der Lebensentwicklung und der
Lebenssituation der Menschen.

Wir diskutieren als Fehlentwicklung auch Gettobil-
dung, weil sich einige Strukturen bilden, die von einseiti-
gen sozialen Zusammenfügungen geprägt sind und damit
weit über den Wohnungssektor hinaus zu sozialem
Sprengstoff führen.

Das haben wir bereits vor über vier Jahren erkannt und
haben dazu einen Gesetzentwurf vorgelegt, der im Prinzip
vier Punkte umfasste: Zum einen wollten wir eine Kon-
zentration der Fördermaßnahmen auf die Haushalte, die
tatsächlich bedürftig sind. Ich habe vorhin speziell Haus-
halte mit Kindern und Haushalte mit wenig Einkommen
genannt. Wir haben überlegt, als zweiten Punkt die Frage
der Kostensenkung mit einzuführen und als dritten Punkt
die eben schon angesprochene Marktspaltung zwischen
frei finanziertem und sozialem Wohnungsbau zu über-
winden. Als Viertes wollten wir insbesondere einkom-
mensorientierte Förderinstrumente.


(Angelika Mertens [SPD]: Das Wohngeld haben Sie vergessen!)


Außerdem wollten wir innovatives Bauen. – Frau
Mertens, regen Sie sich doch nicht auf, das kommt alles
noch zur rechten Zeit.

Ich wollte nur einmal darauf hinweisen, dass uns dies
vor vier Jahren schon bewusst war und wir damals die Re-
formnotwendigkeiten erkannt hatten. Was ist dann pas-
siert? Die SPD-regierten Länder haben im Bundesrat
diese Reform abgelehnt. Sie haben sie blockiert.


(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: So war es!)


Jetzt, Frau Mertens, ist das Stichwort Wohngeld ange-
bracht. Sie haben das Wohngeld – auch wir waren der
Meinung, dass hierzu eine Novelle notwendig war – im
Prinzip als Vorwand genutzt, um die Reform des sozialen
Wohnungsbaus zu blockieren.


(Beifall bei der CDU/CSU – Angelika Mertens [SPD]: Weil das eine Mickymaus-Reform war!)


– Frau Mertens, die Lösung der Strukturprobleme, die
dringend anstand, haben Sie blockiert. Wenn wir beim
Wohngeld wenigstens eine kleine Reform durchgeführt
hätten, dann hätten wir zumindest eine Strukturreform er-
reicht und dann hätten wir auch in den zurückliegenden
drei bis vier Jahren beim Wohngeld etwas tun können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Angelika Mertens [SPD]: Das glauben Sie doch selber nicht!)





Wolfgang Spanier

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(B)


Jetzt hatten Sie selber zwei Jahre Zeit, eine Struktur-
reform durchzuführen. Herr Spanier hat zu Recht die Pro-
bleme skizziert. Ich warte allerdings auf die Antworten.
Es reicht nicht, die Probleme darzulegen, wenn man in der
Regierungsverantwortung ist. Man muss auch Antworten
formulieren. Davon war in Ihrer Rede herzlich wenig zu
hören, Herr Spanier. Sie führen offenbar in Ihrer Fraktion
ein Nischendasein; denn Sie können sich gegen diejeni-
gen, die bei Ihnen für die Haushalts- und Fiskalpolitik
verantwortlich sind, nicht durchsetzen. Es wird viel an-
gekündigt, aber im Prinzip passiert nichts.

Wenn Sie jetzt zu unserem Antrag zum Wohnungsbin-
dungsgesetz sagen, das wäre Tamtam der Opposition,
aber gleichzeitig zugeben, dass seine Inhalte eigentlich
zutreffend seien, dann antworte ich darauf: Diejenigen,
die einen Antrag, der inhaltlich und sachlich zutreffend
ist, ablehnen, machen Tamtam, nicht diejenigen, die einen
solchen Antrag vorgelegt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Das wissen die auch!)


Herr Spanier, Sie haben eben von dem Faden der rot-
grünen Wohnungspolitik gesprochen. Wenn ich einen Fa-
den erkennen kann, dann ist es der, dass Sie alle Etattitel,
die angeblich wichtig für Ihre Wohnungspolitik sind – Sie
haben das Städtebauförderungsprogramm „Die soziale
Stadt“ und den sozialen Wohnungsbau angesprochen –,
kürzen und die Mittel für die entsprechenden Vorhaben re-
duzieren. So setzen Sie das um, was Sie für wichtig hal-
ten.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was haben wir bei dem Wohngeld gekürzt?)


– Sie haben mit unserer Hilfe eine Verbesserung durchge-
führt. Aber dies können Sie sich wirklich nicht zugute hal-
ten.

Sie haben des Weiteren den Bestand erwähnt, von dem
Sie immer behaupten, dass er wichtig sei. Wir sind uns
natürlich einig: Hier müssen wir mehr tun. Aber was tun
Sie mit Ihrer Politik? Ich nenne das Eigenheimzulagenge-
setz. Sie haben die Vorkostenpauschale gekürzt und damit
Politik gegen den Bestand gemacht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich nenne die steuerlichen Rahmenbedingungen für

den frei finanzierten Mietwohnungsbau. Wenn ich mir an-
schaue, was Sie hier verändert haben, dann stelle ich fest:
Sie haben Politik gegen den Bestand gemacht.

Herr Spanier, Sie haben zu Recht das Mietrecht ange-
sprochen. Auch wir sind der Meinung, dass es durchaus
reformbedürftig ist, aber nicht in der Weise, wie Sie es
vorhaben. Sie wollen nämlich durch Änderung des Miet-
rechts aus einer symmetrischen Gestaltung eine asymme-
trische machen


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

und eine Unwucht hineinbringen, die dafür sorgen wird,
dass gerade die Haushalte, die einkommensschwach sind
und viele Kinder haben, benachteiligt sein werden, weil

die Vermieter genau an dieser Stelle den Finger in die
Wunde legen werden. Das heißt, Sie erweisen genau der
Gruppe, für die Sie angeblich was tun wollen, einen
Bärendienst.

Sie haben die Probleme dargestellt und darauf hinge-
wiesen, wie wichtig die Gemeinschaftsaufgabe, etwas für
den sozialen Wohnungsbau zu tun, für Bund, Länder und
Kommunen sei. Wenn wir in der Regierung wären und
einen Haushaltsentwurf für das Jahr 2001, wie Sie es
jetzt getan haben, vorgelegt hätten, in dem nur 450 Milli-
onen DM für den sozialen Wohnungsbau vorgesehen
wären, dann hätte ich nicht hören wollen, was Sie dazu ge-
sagt hätten. Sie haben uns schon bei viel höheren Summen
gegeißelt. Nun sagen Sie auf einmal, wie wichtig dieses
Thema sei, und fahren zugleich die Ausgaben für den so-
zialen Wohnungsbau auf einen absoluten Tiefpunkt
zurück. Wenn Sie ehrlich rechnen, dann verdienen Sie in
diesem Bereich sogar noch Geld; denn mittlerweile sind
die Rückflüsse aus den Vorjahren höher als das, was Sie
für den sozialen Wohnungsbau ausgeben. Das nennen Sie
Politik für den sozialen Wohnungsbau?


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Herr Spanier, was hat Ihr Reden mit Ihrem Handeln zu

tun? Wo decken sich die Taten mit dem, was Sie hier als
richtige Politik verkünden? Setzen Sie doch bitte das um,
was Sie hier vortragen! Wenn Sie das täten, dann wären
wir schon zufrieden.


(Angelika Mertens [SPD]: Jetzt haben wir Sie doch nicht enttäuscht?)


Herr Spanier hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es
momentan einen ausgeglichenen Wohnungsmarkt gibt,
der nur in wenigen Bereichen Probleme aufweist. Ich
glaube, Sie ruhen sich auf Erfolgen aus, die in der Zeit vor
1998 durch die Rahmenbedingungen eingeleitet worden
sind, die damals gesetzt worden sind. Sie glauben jetzt,
eine Wohnungspolitik machen zu können, mit der an allen
Stellen – egal, ob im Bereich des Steuerrechts, des Miet-
rechts oder der Fiskalpolitik – die Stellschrauben auf ne-
gative Weise angezogen werden.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: In positiver Weise!)


Das hat dazu geführt, dass bei den Bauinvestitionen und
bei den Fertigstellungszahlen absolute Negativrekorde er-
reicht werden.

Wenn Sie damit fortfahren, dann werden Sie das, was
Sie gerade hinsichtlich der problematischen Klientel an-
gesprochen haben, gewaltig verschlimmern. Wir würden
uns dann plötzlich in einer Situation befinden, in der wir
Gesetzgebung nicht vor dem Hintergrund eines entspann-
ten Markts betreiben könnten; vielmehr müssten wir in ei-
ner Notsituation handeln. Davor warne ich. Noch ist Zeit
umzukehren.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie haben sich für das Jahr 1999 gelobt. Sie haben ge-

sagt, die Talsohle bei den Bauinvestitionen sei durch-
schritten. Wenn man sich die ersten vier, fünf Monate die-
ses Jahres anschaut, dann sieht man, dass es keine Trend-




Dr. Michael Meister
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(D)



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(B)


wende, sondern ein kleines Zwischenhoch war. Es geht
weiter bergab. Sie sollten das langsam erkennen und ge-
gensteuern.

Unsere Fraktion bietet Ihnen an, im Interesse einer
sinnvollen Wohnungspolitik konstruktiv und geschlossen
zum Zwecke der Lösung der Probleme, die wir gemein-
sam erkennen, miteinander zu arbeiten und zu versuchen,
Lösungen zu finden. Ich fordere von Ihnen nur, dass Sie
das, was Sie in Erklärungen und in Papieren immer wie-
der betonen, endlich umsetzen. Tun Sie nicht so, als wäre
das nur Papier, während Ihr wahres Handeln das genaue
Gegenteil davon ist! Wenn wir an dieser Stelle zusam-
menkommen könnten, dann hätten wir viel erreicht, Herr
Spanier.

Danke sehr.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411123400
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin Franziska
Eichstädt-Bohlig.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

legen! Lieber Herr Kollege Meister, Ihre Rede hat mich
ein bisschen irritiert. Nachdem Sie im ersten Teil darüber
geklagt haben, dass der frühere soziale Wohnungsbau so
ineffizient war und allzu hohe Kosten verursacht hat,
müssten Sie eigentlich die Politik einer Koalition, die da-
rauf ausgerichtet ist, mit gegebenen Mitteln konstruktiv
und kreativ den sozialen Wohnungsbau zu reformieren,
loben, indem Sie sagen: Endlich, jetzt geht’s ran.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie sollten es der PDS überlassen, immer nur mehr Geld
zu fordern. Die kann das letztlich doch besser als Sie.
Diese Angleichung zwischen PDS und CDU/CSU – letzt-
lich gilt das auch für die F.D.P. – macht mir langsam
Sorge. Es mangelt Ihnen einfach an Ideen.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Unglaublich!)


Eine weitere Bemerkung zu Ihrem Beitrag. Sie haben
gesagt: Es wird viel angekündigt; aber es passiert nichts.
Tatsache ist, dass die Reform des sozialen Wohnungsbaus
in Eckwerten von der Bundesregierung mit den Ländern –
meines Wissens gibt es auch Länder, die von der CDU
bzw. der CSU geführt werden – praktisch abgestimmt
worden ist. Ein Eckwertepapier ist vorgelegt worden,
dessen Inhalt in einen Gesetzentwurf einfließen wird. Wir,
die Koalitionsfraktionen, wollen ein Stück weit Druck
machen, damit die Ausarbeitung vorangeht. Wir sind si-
cher, dass das Vorhaben bis zum Herbst in trockenen
Tüchern ist und dass uns die Regierung den Gesetzent-
wurf konkret, Paragraph für Paragraph, vorlegen wird.
Man sollte anerkennen, dass das kein ganz einfaches Ge-
setzeswerk ist.

In Richtung der F.D.P.: Es fällt schon auf, dass Sie den
sozialen Wohnungsbau so einfach abschaffen wollen. Sie
meinen, man könnte die frei werdenden Mittel dem

Wohngeld zukommen lassen. Irgendwie habe ich den Ein-
druck, Sie haben gar nicht gemerkt, dass wir gerade eine
Wohngeldreform durchgeführt haben, die sich weiß Gott
sehen lassen kann. In Westdeutschland liegt die Wohn-
gelderhöhung pro Haushalt bei durchschnittlich 80 DM
pro Monat. Für Ostdeutschland haben wir das jetzige
Niveau sichergestellt. Das ist eine großartige Leistung in
Zeiten, in denen die Politik sparen muss.

Ich interpretiere Ihren Antrag so, dass Sie sagen: Das
reicht uns nicht! Schafft den sozialen Wohnungsbau ab!
Leitet die frei werdenden Mittel dem Wohngeld zu und
bedenkt damit gleichzeitig wieder die Eigenheimförde-
rung von Haushalten mit Jahreseinkommen von
240 000 DM! Ich weiß überhaupt nicht, was eigentlich
Ihre Zielgruppe ist und wem Sie das Geld geben wollen.
Mir ist nicht klar, ob Sie es nicht vielleicht zweimal aus-
geben wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das Argument, wir brauchten keinen sozialen Woh-
nungsbau, wird von mehreren Seiten immer wieder vor-
gebracht. Daher müssen wir ernsthaft noch einmal sagen,
warum wir den sozialen Wohnungsbau brauchen. Der
Kollege Spanier hat es deutlich gesagt: Es geht nicht mehr
wie früher darum, dass wir ständig mehr Wohnungen
bauen. Das ist nur in einigen Regionen nötig, wo echter
Wohnungsmangel herrscht. Ich denke an Regionen wie
München, Stuttgart und Frankfurt. In anderen Regionen
müssen wir den Schwerpunkt darauf setzen, in denjenigen
Stadtteilen, in denen sich die sozialen Probleme durch
die Entmischung zunehmend konzentrieren, stabilisie-
rend einzuwirken. Wenn sich die Bundespolitik dieses In-
struments begibt und von der Bundesebene aus nicht mehr
in der Form handlungsfähig sein will, dass sie den Aus-
gleich in den verschiedenen Regionen schafft, dann hat
sie sich aus der wohnungspolitischen Verantwortung ver-
abschiedet. Wir wollen das nicht. Das haben wir mit un-
serem Antrag deutlich zum Ausdruck gebracht. Ich finde
es sehr bedauerlich, dass die F.D.P. – Herr Westerwelle hat
mit seiner Ankündigung von sozialer Wärme gerade et-
was anderes versprochen – das auf einmal vergisst.

Lassen Sie mich jetzt noch sagen, warum uns die Re-
form des sozialen Wohnungsbaus im Sinne einer sozialen
Wohnraumversorgung, einer sozialen Wohnraumförde-
rung so wichtig ist. Um von der bisherigen einseitigen
Neubauorientierung zu einer Bestandsorientierung, zu
einer Förderung von mehr Modernisierung, von mehr Be-
legrechtsankäufen bis hin zu Gebäudeankäufen zur mit-
telbaren Belegung zu kommen, brauchen wir ein neues
und flexibles Förderrecht.

Das Zweite ist: Wir wollen das bisherige schwerfällige
Kostenmietrecht durch die vereinbarte Förderung ablö-
sen.

Das Dritte ist – das ist mir schon wichtig –: Wir haben
in diesen Eckwerten die Möglichkeit zur vorrangigen För-
derung von Unternehmen verankert, die auch ihren unge-
bundenen Bestand sozial bewirtschaften, das heißt von
Unternehmen wie städtischen Gesellschaften, Genossen-
schaften, kirchlichen Wohnungsgesellschaften. Es gibt
eine Reihe entsprechender Institutionen, die Sie seinerzeit




Dr. Michael Meister

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in vollem Umfang rechtlich nach dem Motto „Alle sollen
gleich sein, alle sollen so sein wie der freie Wohnungs-
markt“ behandelt haben, die aber sehr wohl soziale Lasten
und soziale Verantwortung tragen. Wir wollen, dass das
Rechtsinstrument auch Möglichkeiten hergibt, die Förde-
rung ein Stück weit dort zu konzentrieren, wo soziales En-
gagement und effizientes betriebswirtschaftliches Han-
deln miteinander vereinbart werden.

Von daher bitte ich alle Beteiligten, nicht in dem Sinne
zu argumentieren, dass wir das überhaupt nicht brauchten,
weil wir genug Wohnungen hätten, und der Wohnungs-
markt gesättigt sei, sondern zu erkennen, dass die Ver-
knüpfung von stadtpolitischen Zielen mit dieser sozialen
Wohnraumbewirtschaftung in Zukunft immer wichtiger
wird. Wie wir schon an dem Programm „Die soziale
Stadt“ gesehen haben, ist es eben nicht so, dass das nur
für ein paar extreme Notfälle gebraucht wird, sondern
dass der Reihe nach immer mehr Städte kommen und sa-
gen, genau das sei das Programm, das sie brauchten. Die
Verknüpfung von sozialer Wohnraumversorgung mit
städtebaulichen Aspekten, mit Wohnumfeldverbesserun-
gen, mit dem Programm „Die soziale Stadt“ wird also ge-
nau die Aufgabe der Zukunft sein, und in diesem Sinne
werden wir das Programm anpacken. Vielleicht lernt auch
die F.D.P. noch, dass für soziale Verantwortung ganz kon-
krete Instrumente gebraucht werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei der SPD und der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411123500
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht der Kollege Michael Goldmann.


Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1411123600
Sehr geehrter
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
meine, es ist sehr wichtig, dass wir zunächst einmal eine
gewisse Gemeinsamkeit herstellen, gerade wenn wir von
einem parlamentarischen Abend kommen, auf dem der In-
teressenverbund Bau deutlich gemacht hat, wie schwierig
die Situation im Baugewerbe ist.


(Zuruf von der SPD: Der will nur Kohle haben!)


Herr Spanier, ich habe festgestellt, dass Sie bei Ihrer
Rede eben viele gute Dinge im Sinn gehabt haben, muss
aber sagen, dass Ihre Taten dem nicht ganz entsprechen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Nach zwei Jahren rot-grüner Baupolitik haben Sie eine
ziemlich traurige, eine trübe Bilanz aufzuweisen.


(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie sich zum Beispiel Ihr Altschuldenhilfe-Gesetz,
das Sie hier gefeiert haben, vor Augen führen, dann müs-
sen Sie mittlerweile feststellen, dass dieses Gesetz bei
weitem nicht das abdeckt, was sich an Notwendigkeiten
darstellt.

Wenn Sie Ihre Überlegungen zum Mietrecht als sozia-
les Mietrecht definieren – das führe ich gerade vor dem
Hintergrund dessen an, was der Kollege Dr. Meister hier

auch gesagt hat –, dann haben Sie aus meiner Sicht das,
was Ihnen sozusagen als Gegenwind aus dem Justizminis-
terium entgegenschlägt, im Grunde genommen substanzi-
ell nicht verstanden.


(Widerspruch bei der SPD)

Sie sind nicht in der Lage, eine kluge Baupolitik zu be-

treiben, weil Ihnen der Finanzminister für die Investitio-
nen, die dafür notwendig wären, noch nicht einmal antei-
lig etwas gibt.

Vor diesem Hintergrund finde ich es wirklich schon
dreist, wenn Sie die F.D.P. kritisieren, die meiner Mei-
nung nach einen sehr vernünftigen Antrag in die Diskus-
sion einbringt.


(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Liebe Kollegin Gleicke, wenn ich Ihr Knurren richtig
deute,


(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Das war ein Kampfhund!)


dann fällt es wohl auch Ihnen sehr schwer, die 450 Milli-
onen DM, die eingeplant sind, noch als Erfolg zu verkau-
fen. Es war ja wohl Ihre Fraktion, die Beträge, die insge-
samt weit über 1 Milliarde DM lagen, als nicht sachge-
recht dargestellt hat.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wenn Herr Spanier dann sagt, Sie machten einen

Schritt in die richtige Richtung, dann kann ich nur ent-
gegnen, dass Sie sozusagen einen radikalen Schnitt in die
völlig falsche Richtung machen. Nicht wir steigen aus
dem sozialen Wohnungsbau aus, sondern Sie sind, wenn
man die Mittelansätze im Haushalt als Maßstab nimmt,
schon lange ausgestiegen.

Wir machen etwas ganz anderes; das ist richtig. Wir
sorgen nämlich dafür – das wurde hier ja bereits ange-
sprochen –, dass die Mittel, die bereitgestellt werden, ge-
bündelt eingesetzt werden. Wir wollen nicht weniger Mit-
tel für soziale Aufgabenstellungen ausgeben, um gefähr-
dete Nachbarschaften in den Städten zu unterstützen, wir
wollen nicht weniger Mittel dafür einsetzen, um die Inte-
gration in dieser Gesellschaft voranzutreiben, aber wir
wollen, dass diese Mittel den Ländern zur Verfügung ste-
hen, die ja schon jetzt viel mehr Geld als der Bund in die-
sem Bereich ausgeben.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wenn Sie sich einmal die Bilanz von NRW anschauen,

werden Sie feststellen, dass dieses Land weit über 2 Mil-
liarden DM hierfür ausgibt. Wenn Sie die Bilanz von
Hamburg betrachten, werden Sie feststellen, dass man
dort große Beträge einsetzt, um die entsprechenden Auf-
gaben zu erfüllen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Alles SPD-geführte Landesregierungen!)


– Ja gut, das will ich nicht bestreiten. Das gilt aber auch
für andere Länder, Sie können auch Baden-Württemberg
oder Hessen nehmen. Auch dort liegen die Beträge, die für




Franziska Eichstädt-Bohlig
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(D)



(A)



(B)


diese Aufgaben bereitgestellt werden, sehr hoch. Oder
schauen Sie sich an, wie intensiv sich Bayern an dem Pro-
gramm „Die soziale Stadt“ beteiligt. Das ist genau der
richtige Weg.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411123700
Herr Kollege
Goldmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Eichstädt-Bohlig?


Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1411123800
Ja, aber erst
möchte ich noch den Satz beenden: Geben Sie das Geld
dahin, von wo aus es sachgerecht eingesetzt werden kann!


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

haben mich jetzt noch mehr verwirrt, als mich schon Ihr
Antrag verwirrt hat. Sie geben das Geld jetzt offenbar
dreimal aus, wenn ich Ihren Antrag richtig verstehe. Im
ersten Absatz fordern Sie:

Die bisherigen Fördermittel des Bundes für den so-
zialen Wohnungsbau und die Komplementärmittel
der Länder werden zur dauerhaften Leistungsverbes-
serung beim Wohngeld verwendet.

Das ist der O-Ton Ihres Antrages.
Die zweite Forderung lautet:
Die Zuständigkeit und die Kompetenzen für die För-
derung des sozialen Wohnungsbaus werden – über
das bisherige Maß hinaus – vollständig den Ländern
überlassen.

Hier ergibt sich schon als erste Frage, ob nicht ein Wi-
derspruch zwischen dem ersten Satz, gemäß dem auch die
Länder ihr Geld in das Wohngeld einbringen sollen, und
dem zweiten Satz, wonach es den Ländern überlassen
werden soll, besteht. Jetzt eben haben Sie noch gesagt,
dass die Gelder vom Bund auf die Länder übertragen wer-
den sollen.

Schließlich fordern Sie im dritten Absatz, die Grenzen
für die Eigenheimförderung nach dem Eigenheimzula-
gengesetz für Verheiratete wieder auf 240 000 DM anzu-
heben.

Können Sie mir erklären, woher Sie das Geld nehmen,
das Sie mindestens drei- bis viermal in Ihrem Antrag ver-
teilen?


Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1411123900
Ich bin anschei-
nend länger als Sie zur Schule gegangen, was zwar nicht
immer von Erfolg gekrönt war,


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das merkt man! – Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


aber, Frau Kollegin, Rechnen habe ich dabei gelernt.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn Sie den Antrag genau analysieren, dann werden Sie
sehr schnell feststellen, dass das, was wir bei der Eigen-
heimförderung vorhaben, überhaupt nichts mit den Mit-
teln für den sozialen Wohnungsbau zu tun hat.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ach so! Das schenkt Ihnen der liebe Gott!)


– Sie müssen mir schon die Möglichkeit geben zu ant-
worten, und sollten nicht ständig dazwischenreden.

Wir wollen die Mittel – das haben Sie auch richtig vor-
getragen – beim Wohngeld zusammenführen, weil wir
der Meinung sind, dass das Wohngeld die direkteste Form
und die sozialste Art an Zuwendung ist, die man sich über-
haupt vorstellen kann.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich denke, dass dieser Weg richtig und konsequent ist,
denn auf diese Weise kommt das Geld wirklich bei denen
an, die bedürftig sind.

Sie tun uns – das war schon eben so bei den Aus-
führungen zu Herrn Westerwelle – Unrecht. Ich sehe das
als völlig im Einklang mit dem an, was die F.D.P. auf
ihrem Bundesparteitag in Nürnberg beschlossen hat. Wir
wollen nämlich keine soziale Fahne schwingen, sondern
wir wollen ganz konkrete, die Menschen erreichende So-
zialpolitik betreiben.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Wir wollen dort helfen, wo es nötig ist!)


Genau das verfolgen wir auch mit diesem Antrag.

(Wolfgang Spanier [SPD]: Ist das eine Drohung?)

– Das ist keine Drohung, Kollege Spanier, sondern das ist
eine Konkretisierung dessen, was die Vertreter der F.D.P.
unter Sozialpolitik verstehen, nämlich dem helfen, der
sich selbst nicht helfen kann. Ich glaube, in diesem Punkt
könnten wir sogar eine ganze Menge an Gemeinsamkei-
ten feststellen.


(Beifall bei der F.D.P. – Wolfgang Spanier [SPD]: Das müssen Sie uns noch einmal im Ausschuss vorrechnen!)


Mit diesem Antrag – das sollten Sie auch mit bedenken,
Frau Eichstädt-Bohlig – sind sehr interessante Nebenef-
fekte verbunden. Es besteht die Möglichkeit, einen erheb-
lichen Abbau von Bürokratie zu betreiben, weil man für
die Erledigung dieser Aufgabenstellung im Ministerium
kein Personal mehr abstellen muss und so Personalmittel
eingespart werden können. Ein weiterer Vorteil, der damit
verbunden ist, ist die Abschaffung einer zusätzlichen
Transferstelle. Damit orientieren wir uns hin zu einer Bür-
gergeldlösung, wie wir sie für richtig halten.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das ist der soziale Liberalismus!)


Der von uns gestellte Antrag macht insofern genau das,
Herr Spanier und Frau Eichstädt-Bohlig, was Sie ange-
sprochen haben. Er gibt den Ländern, die in diesem Be-
reich in Verbindung mit den Kommunen die eigentlich




Hans-Michael Goldmann

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(D)



(A)



(B)


Aktiven sind – das haben wir ja beispielsweise beim Pro-
jekt „Die soziale Stadt“ belegt bekommen –, zusätzliche
Möglichkeiten zur Ausgestaltung einer echten sozialen
Wohnungsbaupolitik. Diesem Gedanken tragen wir mit
unserem Antrag Rechnung.

Ich glaube, dass es sich um einen klugen Antrag han-
delt, bei dem Sie sich schwer tun werden, ihn in der Sub-
stanz abzulehnen. Wenn Sie das machen, hat es etwas
damit zu tun, dass Sie sich klugen Lösungen im Grunde
genommen verweigern, wie es schon beim Altschulden-
hilfe-Gesetz der Fall war. Wenn Sie unseren Vorstellun-
gen gefolgt wären, hätten Sie den jetzigen Ärger mit den
Wohnungsbauunternehmen gerade in den neuen Ländern
nicht. Frau Gleicke, Sie haben dies leider heute Morgen
schmerzlich in Dresden erfahren müssen.


(Iris Gleicke [SPD]: Nein ich habe nicht gelitten!)


Weil es wichtig ist, dass alle, die sich mit Wohnungs-
baupolitik beschäftigen, ein besonderes Maß an Gemein-
samkeit zeigen müssen, bieten wir Ihnen die Zusammen-
arbeit an. Wir sagen aber auch ganz klar: Wir wollen eine
Verlagerung der Aufgaben dorthin, wo sie erfüllt werden.
Das sind die Länder und die Kommunen.


(Dietmar Schütz [Oldenburg] [SPD]: Und die zahlen dann auch?)


Wir sind ganz konkret dafür, dass der Bund Mittel be-
reitstellt, wie er das auch in anderen Bereichen der Wirt-
schaft tut. Die Umsetzung muss im Sinne der Subsidiarität
dort erfolgen, wo die Menschen am direktesten erreicht
werden.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411124000
Für die PDS-Frak-
tion spricht die Kollegin Christine Ostrowski.


Christine Ostrowski (PDS):
Rede ID: ID1411124100
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Herr Goldmann, da Sie sich jetzt um
Sozialpolitik kümmern,


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Heute Morgen schon, Frau Ostrowski!)


könnte ich fast – ich habe sie natürlich nicht – Angst vor
Ihrer Konkurrenz bekommen.

Das Spannende ist ja nicht unbedingt der Inhalt der
Anträge, die heute vorliegen, sondern zunächst einmal
der Vorgang. Herr Spanier, Sie haben ja Recht: Die
CDU/CSU-Fraktion macht im Vorgriff auf eine Woh-
nungsreform Tamtam mit ihrem Antrag. Das Traurige ist
aber, dass Sie sich als Koalitionsfraktionen unter Druck
gesetzt fühlen und schnell, holterdiepolter einen Antrag
vorlegen, der etwas oberflächlich wirkt, den ich Ihnen –
ehrlich gesagt – in dreißig Minuten herunterschreiben
könnte und der Sätze enthält, die mittlerweile – außer viel-
leicht auf der rechten Seite – Allgemeingut sind.

Ich denke, Sie haben es nicht nötig, sich von der
CDU/CSU unter Druck setzen zu lassen. Warum denn

auch? Sie hat sich nicht sonderlich durch wohnungspoli-
tische Aktivitäten in dieser Wahlperiode ausgezeichnet.
Hätten Sie also gelassen reagiert und gewartet, bis die Re-
form insgesamt vorgelegt wird, dann wäre es Ihnen bes-
ser bekommen; denn Ihre Rede selber war sehr viel nach-
denklicher als dieser Wisch, der uns auf eineinhalb Seiten
vorgelegt wurde.

Die findigen Bürschchen von der F.D.P. satteln natür-
lich sofort drauf. Das könnt ihr wirklich gut. Ihr nutzt die
Gelegenheit und kommt mit einem Antrag, der wirklich
unter Niveau ist.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Frau Ostrowski, Sie wissen alles besser! Ich weiß gar nicht, was Sie gemacht haben, bevor Sie hier hinkamen!)


Wir hätten auch noch schnell zwei Seiten schreiben
können, um sie hier vorzulegen. Aber wir wollen dieses
Spiel nicht mitmachen, weil wir uns nicht in einem Wett-
rennen befinden. Es kommt ja nicht darauf an, wer am
schnellsten rennt. Es geht vielmehr um die Reform des so-
zialen Wohnungsbaus.


(Beifall bei der PDS)

Dabei kommt es auf das beste Konzept an. Wir arbeiten
daran und werden im September diesbezüglich einen
komplexen Antrag einbringen.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das ist eine Neuigkeit!)


Noch einmal zum Konzept: In dem Antrag der
CDU/CSU ist keines zu erkennen. Das kann ja auch nicht
sein, weil es sich nur um eine Einzelmaßnahme handelt,
die für sich genommen in Ordnung ist und die wir mittra-
gen. Es macht aber wenig Sinn, diese Maßnahme schnell
einzuführen und im Nachhinein eine komplexe Reform zu
machen.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Genau das haben Sie doch heute Morgen gefordert!)


Zum Konzept der F.D.P. bezüglich des Wohngeldes.
Vielleicht wissen Sie, dass damit Biedenkopf schon vor
20 Jahren in der CDU – ich denke: zu Recht – gescheitert
ist. Die Übertragung auf die Länder geht mitnichten.

Wenn es um die Reform des sozialen Wohnungsbaus
geht, muss man sich überlegen, worin das Ziel liegt. Da
ich nur wenig Redezeit habe, will ich mich auf einige
Punkte beschränken.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Warum denn nicht?)


Nehmen wir einmal die Anzahl der Hilfsbedürftigen.
Dazu zählt – darüber gibt es Einigkeit – beispielsweise die
allein stehende Frau mit zwei Kindern. Mich bewegt die
Frage – dazu höre ich von Ihnen nichts –: Wie schätzen
Sie die Größe dieser Bevölkerungsgruppe ein? Wird diese
Zahl sinken oder steigen? Ich vermute, sie wird steigen.
Meine Vermutung kann falsch sein. Aber ein Indiz ist für
mich beispielsweise die steigende Zahl der Sozialhilfe-
empfänger. Ich muss in diesem Zusammenhang auch an
die Osterweiterung der EU denken und an die Ausweitung




Hans-Michael Goldmann
10558


(C)



(D)



(A)



(B)


des Niedriglohnsektors. Wenn man nicht weiß, in welcher
Größenordnung man höchstwahrscheinlich fördern muss,
dann geht man von einem falschen Ansatzpunkt aus. Das
hat letzten Endes natürlich auch etwas mit Geld, mit Fi-
nanzen zu tun, aber nicht nur.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Dann ist es klug, das Wohngeld zu erhöhen!)


Außerdem stellt sich die Frage, welche grundlegende
Förderphilosophie wir in Zukunft zugrunde legen. Hof-
fentlich nicht – das kam jedenfalls in Ihrer Rede zum Aus-
druck – nur den Erwerb oder das Hinstellen von nackten
vier Wänden. Diese Zeit ist vorbei. Die Gesellschaft hat
sich sehr gewandelt. Die Bedürfnisse der Menschen ha-
ben sich gewandelt; auch beispielsweise die demographi-
sche Entwicklung. Wir müssen also überlegen, welche
Förderphilosophie zugrunde liegt. Ich denke, da kann
man nur den Grundgedanken des Programms „Die soziale
Stadt“ nehmen,


(Beifall bei der PDS)

dass man nicht nur an die nackten vier Wände denkt – ich
spitze das jetzt zu –, sondern an einen Komplex, der von
Arbeitsmarktpolitik über Kultur und so weiter bis hin zur
Wohnung reicht.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Also Verlagerung auf die Länder! Genau richtig!)


Man muss auch überlegen, was und wie man denn för-
dern will. Was ist der Fördergegenstand, und welches ist
das Förderinstrumentarium? Bleibt es im Grundsatz bei
der bisherigen, strikten Trennung von Fördertöpfen mit
einigen Verbesserungen? Sie sprechen von Flexibilisie-
rung, aber wenn ich in das Papier der Bauminister gucke,
wird mir ein bisschen schlecht, denn ich habe das Gefühl,
dass sie schon Vorbehalte haben. Gelingt es uns, einen
Fördertopf zu schaffen und ihn so differenziert zu ver-
wenden, wie es das konkrete Leben braucht? Das weiß ich
nicht. Herr Großmann hat mehrmals auf öffentlichen Ver-
anstaltungen gesagt: Das wird so sein. Ich hoffe auch,
dass das so sein wird. Aber, wie gesagt, das Papier der
Bauminister ist etwas anders formuliert.

Kriegen wir es, was die Förderinstrumente anbelangt,
auch hin, dass die Kommunen mehr Eigenverantwor-
tung übernehmen können, dass sie in stärkerem Maße das
Sagen haben, wie das Geld verwendet wird? Auch da weiß
ich, dass die Bauminister das mitnichten so sehen. Wer
das Geld hat, bestimmt über Sinn und Zweck.

Stichwort Geld – das ist meine letzte Bemerkung –: Sie
führen den vorsichtigen Satz ein, dass wir die begrenzten
Mittel effizient einsetzen müssen. Das bringt mich zu der
Befürchtung, dass Sie bei dem Mindestmaß von 450 Mil-
lionen DM bleiben wollen oder bleiben müssen. Dazu
sage ich Ihnen: Erstens darf sich der Bund aus der Förde-
rung nicht herausziehen. Das haben Sie jetzt bestätigt.
Das finde ich in Ordnung. Zweitens müssen wir zunächst
einmal überlegen – ich bitte Sie, zu versuchen, seriös zu
prognostizieren –, wie groß die Gruppe der Bedürftigen
sein wird, die zu fördern sind. Danach muss sich das Geld
richten. Welche Förderphilosophie legen wir zugrunde?
Wenn wir von vornherein die Elle bei 450 Millionen DM

anlegen, dann, so denke ich, wird daraus keine richtige
Reform.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411124200
Frau Kollegin, es
gibt zwar eine gewisse Technik, das Signal des amtieren-
den Präsidenten mit dem eigenen Redemanuskript zu ver-
decken, aber ich kann Ihnen deswegen die Redezeit nicht
verlängern.


(Heiterkeit)

Ich bitte Sie, jetzt doch zum Schluss zu kommen.


Christine Ostrowski (PDS):
Rede ID: ID1411124300
Ich bin auch am Ende. –
Ich verzeihe Ihnen die Flüchtigkeit Ihres Papiers. Immer-
hin haben wir heute das erste Mal darüber debattiert. Das
ist gut. Ich hoffe auf eine gesunde und gute Debatte im
Herbst.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411124400
Nun spricht für die
SPD-Fraktion der Kollege Dieter Maaß.


Dieter Maaß (SPD):
Rede ID: ID1411124500
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Der Antrag, über den wir unter die-
sem Tagesordnungspunkt debattieren, trägt die Über-
schrift „Den sozialen Wohnungsbau erhalten und refor-
mieren“. Damit erfüllen wir Sozialdemokraten ein
Wahlversprechen und eine Aussage in unserem Koaliti-
onsvertrag mit Bündnis 90/Die Grünen.

Über die Notwendigkeit, den sozialen Wohnungsbau
zu reformieren, besteht sicherlich keine Meinungsver-
schiedenheit. Schon die abgewählte Bundesregierung
hatte mit ihrer Gesetzesvorlage zur Reform des Woh-
nungsbaurechtes auch eine Reform der sozialen Wohn-
raumförderung geplant. Allerdings hatte sie nicht die
Kraft, die notwendige Wohngeldreform durchzusetzen.
Es scheiterte letztlich daran, dass der Schwerpunkt staat-
licher Förderung zu sehr auf die Subjektförderung ausge-
richtet war.

Mit unserem Antrag, den sozialen Wohnungsbau zu re-
formieren, bleiben wir in erster Linie bei der Objektför-
derung. Damit stärken wir zunächst einmal den investi-
ven Teil des Bundeshaushaltes. Wir wollen nicht mehr in
erster Linie den Neubau fördern, sondern stärker den Er-
halt und die Modernisierung des Bestandes. Dies bringt
übrigens mehr Aufträge für die mittelständische Bauin-
dustrie.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bei der Förderung im Bestand geht es uns um den
Erhalt gewachsener Wohnquartiere. Wenn es uns gelingt,
zu verhindern, dass schwierige Wohnquartiere zu
Glasscherbenvierteln herunterkommen, ist dies ein Ge-
winn für die Lebensqualität in unseren Städten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)





Christine Ostrowski

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(C)



(D)



(A)



(B)


Niemand wird ernstlich bestreiten können, dass es sich
lohnt, hierfür Geld in die Hand zu nehmen und so weitaus
höhere Folgekosten der gesamten Gesellschaft zu verhin-
dern. Gleichwohl gibt es Stimmen im politischen Raum,
die uns empfehlen, ganz aus der Förderung des sozialen
Wohnungsbaus auszusteigen.

Die Gründe für einen solchen Ausstieg sind auf den
ersten Blick einleuchtend. Es gibt Wohnungsleerstände,
und zwar auch im Niedrigpreissektor, vor allem in den
neuen Bundesländern. Hier muss man allerdings genau
hinsehen und fragen: Warum gibt es diese Leerstände?
Wenn es nicht genügend bezahlte Arbeit in der Stadt oder
Region gibt, werden die Menschen ihre Heimat und ihre
Wohnungen verlassen.

Wir können in dieser kurzen Debatte nicht klären, wie
man dieser Entwicklung entgegenwirkt. Doch es gibt
auch Leerstände, die ihre Ursache in unterlassener oder
mangelnder Renovierung und Modernisierung haben.
Solche Entwicklungen können wir mit einer zeitgemäßen
Förderung des sozialen Wohnungsbaus stoppen und um-
kehren. Eine Unterstützung durch Städtebaufördermittel
und Maßnahmen, die wir unter dem Begriff „Die soziale
Stadt“ kennen, gehören dazu.

Nun hören wir aus einigen Landesregierungen, der
Bund solle sich ganz aus der Förderung zurückziehen.
Den Einfluss des Bundes durch Dotationsauflagen wollen
diese Landesregierungen natürlich nicht. Ich gebe jedoch
zu bedenken: Wenn wir als Bundespolitiker aus dem so-
zialen Wohnungsbau aussteigen, binden wir uns selbst die
Hände. Wir können nicht mehr steuern, wie im sozialen
Wohnungsbau gebaut wird und wo diese Wohnungen ge-
baut werden.

In meinem Wahlkreis im Ruhrgebiet sind in den ver-
gangenen Jahren auf einer alten Industriebrache 125 neue
Sozialwohnungen entstanden. Diese Wohnungen konnten
auf einem Bauplatz nahe einem alten Ortskern gebaut
werden, der sonst für den Bau hochwertiger Eigentums-
wohnungen vermarktet worden wäre. Aber wo wären die
Familien mit geringem Einkommen geblieben? Sie hätten
in sozial problematische Quartiere ausweichen müssen.
Jetzt leben junge Familien mit Kindern nahe am Stadtteil-
zentrum und verjüngen darüber hinaus die Bevölkerung
dieses Stadtteils.

Sollten wir auf diesen politischen Einfluss auf einen
wichtigen Teil des Wohnungsmarktes verzichten? Besten-
falls über das Wohngeld könnten wir dann noch darauf
Einfluss nehmen, wie einkommensschwache Haushalte
sich auf dem Wohnungsmarkt behaupten können. Dies ist
uns zu wenig. Deshalb hat sich in der Vergangenheit jeder
Deutsche Bundestag, gleich welcher politischen Zusam-
mensetzung, dieser Forderung widersetzt.

Das ist auch der Grund, warum wir den Antrag der
F.D.P. ablehnen. Sie, meine Damen und Herren, wollen
ganz aus dem sozialen Wohnungsbau aussteigen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie wollen die Fördermittel aus der Objektförderung auf
die Subjetförderung umlenken, sich also auf die Zahlung
von Wohngeld beschränken. Es ist schon merkwürdig,
wenn uns jetzt ausgerechnet die Liberalen auffordern, in-

vestive Haushaltsmittel in konsumtive umzuwandeln.
Gestern habe ich das hier noch ganz anders gehört.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Lachen des Abg. Hans-Michael Goldmann [F.D.P.])


Die von der F.D.P. geforderte Anhebung der Einkom-
mensgrenzen im Eigenheimzulagegesetz halten wir
ebenso für falsch. Wir Sozialdemokraten werden die
knappen Haushaltsmittel auf die Förderung von Familien
mit geringen Einkommen konzentrieren.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Ach!)

Wir sind der Meinung, bei hohen Einkommen muss der
Staat den Kauf von Wohneigentum nicht fördern.

Lassen Sie mich am Schluss meiner Ausführungen zu-
sammenfassen: Eine Reform des sozialen Wohnungsbaus
ist wichtig. Wir wollen auf Neubauförderung nicht ver-
zichten, aber den Schwerpunkt auf die stärkere Förderung
im Bestand legen.

Ich bin sicher, dass die Bundesregierung dem Deut-
schen Bundestag einen guten Gesetzentwurf vorlegen
wird. Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU,
fordere ich auf, diesen Antrag zu unterstützen. Er geht
schließlich in die gleiche Richtung, in die auch Sie zielen.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411124600
Der Kollege
Dr. Dietmar Kansy spricht nun für die CDU/CSU-Frak-
tion.


Dr.-Ing. Dietmar Kansy (CDU):
Rede ID: ID1411124700
Herr Kollege
Maaß, ich habe leider nicht Ihren Antrag mitgebracht,
sondern die Wahlversprechen der Grünen im Bereich des
sozialen Wohnungsbaus. Leider ist die Zeit zu kurz, sie
vorzulesen.

Lieber Kollege Spanier, ob wir im Hinblick auf den so-
zialen Wohnungsbau einen Konsens finden, wird sich zei-
gen. Aber einen Konsens in Bezug auf Ihre derzeitige
Wohnungspolitik hier in Berlin wird es mit uns nicht ge-
ben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

„Der soziale Wohnungsbau“, so schreiben Sie so wunder-
schön gehoben und geschwollen in Ihrem Antrag, „ist, ne-
ben den Rahmenbedingungen des frei finanzierten Woh-
nungsbaus, ein zentrales Element der Wohnungspolitik.“
Wohl wahr! Also hätte man angesichts ihrer vor der letz-
ten Wahl großartig angekündigten Versprechen annehmen
können, dass die Bundesregierung diese Rahmenbedin-
gungen spürbar verbessert, und dies vor allen Dingen
schnell, Herr Staatssekretär Großmann.

Genau das Gegenteil ist der Fall: Eine Reform des so-
zialen Wohnungsbaus hätte bereits Anfang 1999 – Kol-
lege Meister hat darauf hingewiesen – in Kraft treten kön-




Dieter Maaß (Herne)

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(C)



(D)



(A)



(B)


nen, wenn die Vorlage des ehemaligen Bauministers
Töpfer nicht im Bundesrat auf eine politisch und wahl-
taktisch motivierte, von Lafontaine angestiftete Blocka-
depolitik gestoßen wäre.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Die alte Leier!)


Statt nun aber, nachdem Sie die Wahl gewonnen haben,
schnell an diese Reform heranzugehen, hat sich in den
letzten zwei Jahren nichts Positives ereignet. Ganz im
Gegenteil: Sie haben sich bei der Mitfinanzierung des so-
zialen Wohnungsbaus auf das gesetzliche Mindestniveau
zurückgezogen.


(Angelika Mertens [SPD]: Wir haben das Wohngeld gemacht!)


– Ich weiß ja, dass dies schmerzt. Mit Ausnahme derjeni-
gen, die diese Debatte für den Deutschen Bundestag auf-
zeichnen, hört uns ja auch keiner zu. – Innerhalb von zwei
Haushaltsjahren haben Sie die für den sozialen Woh-
nungsbau vorgesehenen Bundesmittel um 55 Prozent
gekürzt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Frau Eichstädt-Bohlig, was hatten Sie denn verspro-

chen? Sie hatten für den sozialen Wohnungsbau nicht nur
einen gesetzlichen Mindestrahmen von 1 Milliarde DM
gefordert, sondern auch noch zusätzlich – ich wiederhole:
zusätzlich!– die Rückflüsse aus Zinsen und Tilgung. Was
jetzt hier passiert, ist genau das Gegenteil. Die dank der
hohen Verpflichtungsrahmen unserer gemeinsamen Re-
gierungszeit, Herr Kollege Goldmann, bestehenden
Rückflüsse übersteigen im nächsten Jahr sogar die Aus-
gaben für den sozialen Wohnungsbau, sodass der Woh-
nungsbau im Grunde zu einer Einnahmeposition der Bun-
desregierung wird, wenn die Haushaltsansätze so durch-
gesetzt werden, wie Sie sie vorgesehen haben. Wir werden
uns massiv dagegen wehren.

Damit Sie sich noch einmal an die Zahlen erinnern: Im
letzten Regierungsjahr von Helmut Kohl lag der entspre-
chende Haushaltsansatz bei 1,347 Milliarden DM, 1999
noch bei 1,1 Milliarden DM und dieses Jahr nur noch bei
600 Millionen DM. Für das nächste Jahr haben Sie ganze
450 Millionen DM vorgesehen.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Das ist doch ein Witz!)


Herr Staatssekretär Großmann, der Sie damals woh-
nungspolitischer Sprecher waren, wie hieß es in Ihrem
Regierungsprogramm 1998? Wir werden den Neubau der
Sozialwohnungen verstärken. Sie haben inzwischen die
Mittel auf ein Viertel der im letzten Regierungsjahr von
Helmut Kohl angesetzten Mittel zurückgeführt. Das ist
die Wahrheit.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Schande!)

Die liebenswerte Kollegin und Vizepräsidentin Anke

Fuchs ist ja auch Präsidentin des Mieterbundes. Diese
fordert sogar 2 Milliarden DM für den sozialen Woh-

nungsbau. So liegen Anspruch und Wirklichkeit ausei-
nander.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Hier wird ja ständig das Thema Wohngeld angespro-

chen. Dasselbe wäre fast beim Wohngeld passiert. Die
Bundesregierung hatte vor, sich aus der hälftigen Mitfi-
nanzierung des Wohngeldes zu verabschieden.


(Wolfgang Spanier [SPD]: Des pauschalierten Wohngeldes!)


Erst im Vermittlungsausschuss konnte auf Druck der
CDU/CSU verhindert werden, dass Kosten in Höhe von
2,6 Milliarden DM vom Bund auf die Länder verschoben
wurden. Sonst hätte die Bundesregierung auch dort Kasse
gemacht. Sie aber verkaufen das als große Wohngeldre-
form. Auch das ist die Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir tragen Ihre Schulden ab! Das sollten Sie einmal begreifen!)


Nachdem Sie nun den sozialen Wohnungsbau so schön
zerrupft haben, haben Sie auch noch den frei finanzier-
ten Mietwohnungsbau entdeckt und die steuerlichen
Förderbedingungen an allen Ecken und Enden ver-
schlechtert. Es steht eine Mietrechtsreform an, ange-
sichts der auch der letzte Investor vergrault wird, in den
frei finanzierten Mietwohnungsbau zu investieren. Schon
heute kommt es bei den Genehmigungen im frei finan-
zierten Wohnungsbau zu einem radikalen Einbruch. Der
Stellenwert des selbst genutzten Wohnungsbaus wird
nicht nur durch Abbau der Eigenheimzulage, die wir, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, gemeinsam ver-
abschiedet haben, gefährdet, sondern auch durch die Kür-
zung der für den sozialen Wohnungsbau vorgesehenen
Bundesmittel. Denn die Förderung des sozialen Woh-
nungsbaus hat auch im Eigentumsbereich eine hohe Prio-
rität.


(Iris Gleicke [SPD]: Dafür haben wir die Kinderkomponente verdoppelt!)


Dazu kommen Ihre verheerende Politik bei der Be-
standsförderung – das war eigentlich eine zwischen uns
unumstrittene Zielsetzung einer Reform des sozialen
Wohnungsbaus –, der Wegfall der Geltendmachung der
Vorkosten und der Verteilung des Erhaltungsaufwandes,
die Ablehnung unserer Initiative zur Förderung der mit-
telbaren Belegung und jetzt noch die Wahnsinnsidee, im
Mietrecht die Modernisierungskostenumlage in einer Zeit
zu senken, in der Hunderttausende von Altbauwohnungen
insbesondere in Ostdeutschland danach rufen, moderni-
siert zu werden.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Die sind eben die Niederländer des Deutschen Bundestages!)


Kurzum, meine Damen und Herren, Ihr Start in die
Wohnungsbaupolitik dieser Legislaturperiode war mehr
als mäßig. Selbst das viel beschworene Programm „So-
ziale Stadt“, das zu unserer Regierungszeit in der Arge
Bau mit entwickelt wurde, geht in Wirklichkeit zulasten




Dr.-Ing. Dietmar Kansy

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(C)



(D)



(A)



(B)


der Förderung des sozialen Wohnungsbaus. Die Gelder,
die Sie dort groß angepriesen ausgeben, haben Sie vorher
im sozialen Wohnungsbau doppelt und dreifach einkas-
siert.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Schande, Schande, Schande!)


Da nutzen auch PR-Kampagnen nichts, das war ein Fehl-
start.

Ich resümiere: Es gibt nicht nur den Bruch von Wahl-
versprechungen von Rot und Grün in fast allen Bereichen
der Wohnungspolitik, sondern auch die Umwandlung des
ehemals erfolgreichen Ministeriums für Raumordnung,
Städtebau und Wohnungswesen in eine ineffiziente Groß-
maschinerie, die einen Teil dieser desolaten Wohnungs-
politik mitverschuldet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, Herr Minister Klimmt ist

jetzt auf seinen Haushaltsentwurf für das Jahr 2001 sehr
stolz. Für den Wohnungs- und Städtebau verkündet die
Propagandaabteilung des Ministeriums einen Ausgaben-
zuwachs von 1,6 Milliarden DM. Das ist wieder schönge-
rechnet. In Wirklichkeit muss er ein Zusammenstreichen
um rund 0,5 Milliarden DM im Investitionsbereich hin-
nehmen. Was ist der Trick? Für das Vergleichsjahr 2000
legt er den um 2 Milliarden DM unterdotierten Ansatz für
Wohngeldausgaben zugrunde und kann alles kaschieren,
was er im investiven Bereich losgeworden ist.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das schlägt dem Fass den Boden aus!)


Meine Damen und Herren, es gibt ein Zitat unserer
schon erwähnten Kollegin Anke Fuchs, Vizepräsidentin
dieses Hauses und Präsidentin des Mieterbundes, über das
es sich nachzudenken lohnt: „Die notwendige Reform des
sozialen Wohnungsbaus ist jetzt schlichtweg überfällig.“
Das sagte sie im letzten Jahr, als Sie noch einen Etatansatz
von 600 Millionen DM hatten. Davon sind jetzt noch
450Millionen DM übrig geblieben und Sie wollen das als
riesige Reform des sozialen Wohnungsbaus aufblasen. So
nicht, meine Damen und Herren von der Regierungsko-
alition!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411124800
Herr Kollege Kansy,
die Bemerkungen zur Vizepräsidentin Fuchs waren schon
außerhalb Ihrer Redezeit.


(Heiterkeit)

Ich werde ihr Ihre herzlichen Grüße übermitteln.

Ich schließe die Aussprache.
Tagesordnungspunkt 15 a: Interfraktionell wird Über-

weisung der Vorlage auf Drucksache 14/3664 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 15 b: Abstimmung über den von
der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Gesetzentwurf
zur Änderung des Wohnungsbindungsgesetzes und des
Altschuldenhilfe-Gesetzes, Drucksache 14/2763. Der
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen emp-
fiehlt auf Drucksache 14/3578, den Gesetzentwurf abzu-
lehnen.

Ich lasse über den Gesetzentwurf der CDU/CSU auf
Drucksache 14/2763 abstimmen und bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS abgelehnt.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere
Beratung.

Zusatzpunkte 10 und 11: Interfraktionell wird Über-
weisung der Vorlage auf Drucksache 14/3676 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 14/3668 soll ebenfalls an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwie-
sen werden. Ist das Haus damit einverstanden? – Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Importverbot für qualgezüchtete Tiere
– Drucksache 14/3505 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung

Die Kolleginnen und Kollegen Marianne Klappert,
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr, Ulrike Höfken, Ulrich
Heinrich und Eva Bulling-Schröter geben ihre Reden zu
Protokoll.1)

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3505 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Heidemarie Ehlert,
Dr. Barbara Höll, Dr. Christa Luft, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der PDS
Bekämpfung der sinkenden Zahlungsmoral
durch Änderung des Umsatzsteuerrechtes

(§ 20 UStG)

– Drucksachen 14/1878, 14/2843 –




Dr.-Ing. Dietmar Kansy
10562


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 5

Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Heidemarie Ehlert

Die Kolleginnen und Kollegen Simone Violka, Jochen-
Konrad Fromme, Werner Schulz und Jürgen Türk geben
ihre Reden zu Protokoll.1) Zu Wort gemeldet hat sich die
Kollegin Heidi Ehlert für die PDS. – Bitte.


(Unruhe)



Heidemarie Ehlert (PDS):
Rede ID: ID1411124900
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass
Sie so stöhnen. Ich habe die Tagesordnung nicht gemacht.

Am Brandenburger Tor sitzen oder liegen seit bereits
25 Tagen verzweifelte Handwerkerinnen, die versuchen,
durch ihren Hungerstreik Politikerinnen und Politiker auf
ihre Situation aufmerksam zu machen. Leider erhalten sie
von dieser Seite wenig Resonanz. Ausstehende Zahlun-
gen hatten ihre Familienbetriebe in den Konkurs getrie-
ben. Sie selbst haben einige hunderttausend Mark Schul-
den und leben inzwischen von Sozialhilfe. Ihre Ange-
stellten sind arbeitslos. Ja, ein paar hunderttausend Mark
an ausstehenden Rechnungen sind keine Million und
Monika Schönemann ist nicht Philipp Holzmann.


(Beifall bei der PDS)

Ein Sofortprogramm der Regierung zur Lösung ihrer Pro-
bleme gibt es nicht.

Meine Damen und Herren, der Aufschrei der Hunger-
streikenden umreißt nachdrücklich ein ernsthaftes wirt-
schaftliches Problem, das zunehmend kleine und mittlere
Unternehmen bewegt: die immer schlechter werdende
Zahlungsmoral von Privaten, aber auch der öffentlichen
Hand. Durch Zahlungsverzug nehmen die Liquiditäts-
probleme zu. Viele Betriebe können die durch den Zah-
lungsverzug auftretenden finanziellen Engpässe nur kurz-
zeitig abfangen bzw. müssen diese durch kurzfristige Kre-
dite oder Überziehungskredite decken. Immer häufiger
kommt es aus diesem Grunde zum Konkurs und damit
zum Verlust von Arbeitsplätzen.

Die Wirtschaftsauskunftei Creditreform verzeichnete
in den ersten sechs Monaten dieses Jahres mit bundesweit
5 800 Fällen eine Verdoppelung gegenüber dem Vorjah-
reszeitraum. Mit dem Gesetz zur Beschleunigung fälliger
Zahlungen wurde ein erster Schritt zur Bekämpfung der
schlechten Zahlungsmoral getan. Aber es sind weitere
Maßnahmen notwendig. Auch durch das Umsatzsteuer-
recht wird der mangelnden Zahlungsmoral Vorschub ge-
leistet. Es begünstigt gegenwärtig diejenigen Unter-
nehmen, die sich die ihnen von anderen Unternehmen in
Rechnung gestellte Umsatzsteuer vom Finanzamt – unab-
hängig von der Bezahlung der Rechnung – als Vorsteuer
erstatten lassen.


(Beifall bei der PDS)


Die Berechnung der Umsatzsteuer nach den verein-
nahmten und nicht nach den vereinbarten Entgelten er-
leichtert Unternehmen, deren Gläubiger in den Zahlungen
säumig sind, zunächst das Überleben. Andererseits kön-
nen diejenigen, die bisher die Vorsteuer in Anspruch nah-
men, ohne jedoch für die Leistungen entsprechend den
Fristen zu bezahlen, diese erst nach Zahlung der Rech-
nung in Anspruch nehmen. Damit wird meines Erachtens
die Zahlungsmoral positiv beeinflusst. Der Unternehmer
wird durch das Entstehen der Steuerschuld erst nach der
Bezahlung seiner Ausgangsrechnung liquiditätsmäßig
entlastet. Er ist also daran interessiert zu zahlen.

Auch der Fiskus würde von der Geltendmachung des
Vorsteuerabzugs nach der Bezahlung der Rechnung
profitieren, denn er wäre nicht mehr – wie bisher sehr oft –
Kreditinstitut für Unternehmer, die die Vorsteuer in An-
spruch nehmen, obwohl sie selbst überhaupt nicht daran
denken zu zahlen.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in der Bundesre-
publik ist die Besteuerung nach vereinbarten Entgelten
leider bereits seit 1968 die Regel. Lediglich für Kleinun-
ternehmen und für Unternehmer in den neuen Bundeslän-
dern mit einem Gesamtumsatz bis zu 1 Million DM gibt
es bis zum Jahr 2004 eine Ausnahmeregelung. Allerdings
ist das Vorsteuerabzugsrecht nicht von dieser Regelung
betroffen. Insofern ist diese Lösung halbherzig.

Unsere Forderung ist, im Interesse einer Verbesserung
der Zahlungsmoral die Ist-Besteuerung für kleinere und
mittlere Unternehmen auf das gesamte Bundesgebiet aus-
zudehnen


(Beifall bei der PDS)

und den Vorsteuerabzug erst zum Zeitpunkt der Entgelt-
zahlung zuzulassen.


(Beifall bei der PDS)

Eine ähnliche Regelung gibt es bereits in Großbritannien.
Sie widerspricht also nicht den vereinbarten EU-Richtli-
nien, wie bisher immer wieder behauptet wurde.

Mit der Annahme unseres Antrages wäre zwar den hun-
gerstreikenden Handwerkerinnen, die bereits in Konkurs
sind, nicht geholfen, wohl aber vielen anderen, denen
durch ausstehende Bezahlungen das Geld für die Zahlung
der Umsatzsteuer einfach fehlt. Deshalb bitte ich Sie,
meine Damen und Herren: Stimmen Sie diesem Antrag
zu.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411125000
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Frak-
tion der PDS zur Bekämpfung der sinkenden Zahlungs-
moral durch Änderung des Umsatzsteuerrechtes,
Drucksache 14/2843. Der Ausschuss empfiehlt, den An-
trag auf Drucksache 14/1878 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den




Vizepräsident Rudolf Seiters

10563


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 4

Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS ange-
nommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Dr. Uwe Jens, Dr. Ditmar Staffelt, Hermann
Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion der SPD sowie den Abgeordneten Dr. Antje
Vollmer, Margareta Wolf (Frankfurt), Volker Beck

(Köln), weiteren Abgeordneten und der Fraktion

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Sicherung der nationa-
len Buchpreisbindung
– Drucksache 14/3509 –

(Erste Beratung 108. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss)

– Drucksache 14/3699 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Uwe Jens

Die Kollegen Siegmar Mosdorf, Dr. Norbert Lammert,
Antje Vollmer, Gudrun Kopp und Dr. Heinrich Fink haben
ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)

Deshalb kommen wir zur Abstimmung über den von
den Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen ein-
gebrachten Gesetzentwurf zur Sicherung der nationalen
Buchpreisbindung, Drucksache 14/3509. Der Ausschuss
für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache
14/3699, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist auch in dritter Lesung einstimmig angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:
Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zurÄnderung des Rindfleisch-
etikettierungsgesetzes

– Drucksachen 14/3369, 14/3648 –

(Erste Beratung 105. und 110. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten

(10. Ausschuss)

– Drucksache 14/3700 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Helmut Heiderich

Die Redebeiträge der Kollegen Jella Teuchner, Peter
Bleser, Ulrike Höfken, Ulrich Heinrich und Kersten
Naumann werden zu Protokoll gegeben.2)

Wir kommen damit gleich zur Abstimmung über den
soeben genannten Gesetzentwurf, Drucksachen 14/3369,
14/3648 und 14/3700. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen,
um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung ein-
stimmig angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Kol-
lege von Klaeden fühlt sich etwas vereinsamt.


(Heiterkeit)

– Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist
unter Anwesenheit aller Fraktionen einstimmig angenom-
men.


(Heiterkeit)

Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und

Forsten empfiehlt unter Ziffer II seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 14/3700 die Annahme einer Ent-
schließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist einstimmig angenommen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung. Ich danke Ihnen. Ich berufe die nächste Sitzung
des Deutschen Bundestages ein auf morgen, Freitag, den
30. Juni 2000, 9 Uhr.

Die Sitzung ist geschlossen.