Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000
        Vizepräsident Rudolf Seiters
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        1)Anlage 6 2) Anlage 7
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10565
        (C)
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        Adam, Ulrich CDU/CSU 29.06.00**
        Altmaier, Peter CDU/CSU 29.06.00
        Becker-Inglau, Ingrid SPD 29.06.00
        Behrendt, Wolfgang SPD 29.06.00**
        Bettin, Grietje BÜNDNIS 90/ 29.06.00
        DIE GRÜNEN
        Bindig, Rudolf SPD 29.06.00**
        Dr. Blüm, Norbert CDU/CSU 29.06.00
        Brudlewsky, Monika CDU/CSU 29.06.00
        Bühler (Bruchsal), CDU/CSU 29.06.00**
        Klaus
        Buwitt, Dankward CDU/CSU 29.06.00**
        Follak, Iris SPD 29.06.00
        Friedrich (Altenburg), SPD 29.06.00
        Peter
        Gebhardt, Fred PDS 29.06.00
        Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 29.06.00
        Haack (Extertal), Karl SPD 29.06.00**
        Hermann
        Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 29.06.00
        DIE GRÜNEN
        Dr. Hornhues, CDU/CSU 29.06.00**
        Karl-Heinz
        Hornung, Siegfried CDU/CSU 29.06.00**
        Hörster, Joachim CDU/CSU 29.06.00**
        Jäger, Renate SPD 29.06.00**
        Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 29.06.00
        Lintner, Eduard CDU/CSU 29.06.00**
        Lörcher, Christa SPD 29.06.00**
        Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 29.06.00**
        Erich
        Prof. Dr. Meyer (Ulm), SPD 29.06.00
        Jürgen
        Müller (Berlin), PDS 29.06.00**
        Manfred
        Neumann (Gotha), SPD 29.06.00**
        Gerhard
        Polenz, Ruprecht CDU/CSU 29.06.00
        Dr. Schäfer, Hansjörg SPD 29.06.00
        Schily, Otto SPD 29.06.00
        Schloten, Dieter SPD 29.06.00**
        Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 29.06.00
        Hans Peter
        von Schmude, Michael CDU/CSU 29.06.00**
        Sothmann, Bärbel CDU/CSU 29.06.00
        Weiß (Emmendingen), CDU/CSU 29.06.00
        Peter
        Wiese (Hannover), SPD 29.06.00
        Heino
        Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 29.06.00**
        Wolf (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 29.06.00
        Margareta DIE GRÜNEN
        Zierer, Benno CDU/CSU 29.06.00**
        ** für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm-lung des Europarates
        Anlage 2
        Zu Protokoll gegebene Rede
        zur Beratung des Antrags: Für einen verbesser-
        ten Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz (Tages-
        ordnungspunkt 10)
        Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Wenn man
        die heutige Rednerliste zum Thema Nichtraucherschutz
        durchschaut, mag der Eindruck aufkommen, als sei sich
        der deutsche Bundestag im Grunde darüber einig, dass
        unser Initiative-Antrag richtig und notwendig ist. Da ich
        jedoch weiß, dass viele Abgeordnete aus den unterschied-
        lichsten Gründen anderer Meinung sind, danke ich aus-
        drücklich meiner Kollegin Irmgard Schwaetzer dafür,
        dass sie ihre Gegenposition hier vor der Öffentlichkeit
        deutlich macht. Sie spricht erkennbar für viele Kollegin-
        nen und Kollegen, die es vorgezogen haben, heute nichts
        zu sagen. Sich zu bedanken heißt aber nicht, ihr auch zu-
        zustimmen. Ganz im Gegenteil: Ich habe als Mitinitiator
        eines verbesserten Nichtraucherschutzes in den vergange-
        nen Monaten dazu beigetragen, dass aller ideologischer
        entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        Anlagen zum Stenographischen Bericht
        Ballast beim Nichtraucherschutz gestrichen wurde. Wir
        wollen nicht die Menschen erlösen. Wir wollen auch nicht
        als quasi selbsternannte Pfleger unsere Einsicht an die
        Stelle der Entscheidung willensschwacher Raucher set-
        zen.
        Kurz: Als Liberaler respektiere ich auch den Willen des
        Einzelnen, der sich selbst umbringen will, als Raucher
        schleichend und auf Raten. Ich halte aber auch nichts von
        Klagen krebskranker Dauerraucher gegen die Produzen-
        ten von Tabakwaren, die angeblich über die Gesundheits-
        risiken nicht genug aufgeklärt haben.
        Ich halte es für außerordentlich ärgerlich, wie in der
        Öffentlichkeit und eben auch bei einem großen Teil der
        Abgeordneten die Gefahren des Rauchens und des Mit-
        rauchen-Müssens verharmlost werden. Wer seine Augen
        noch zum Lesen und seinen Verstand noch zum Nachden-
        ken hat, kommt um die Erkenntnis nicht herum, dass Ni-
        kotin wohl der größte Killer in Deutschland ist. Ich will
        aber heute die gesundheitlichen Gefahren des Rauchens
        und des Mitrauchen-Müssens gar nicht in den Vorder-
        grund stellen, da dies meine Mitinitiatoren bereits getan
        haben.
        Ich verweise in diesem Zusammenhang nur darauf,
        dass in Deutschland Gefährdungen durch Asbest oder
        Formaldehyd oder PCB am Arbeitsplatz sehr ernst ge-
        nommen werden, dass ganze Gebäude abgerissen oder
        mit horrendem Aufwand saniert werden, dass aber gleich-
        zeitig das Problem der Zuführung des Umweltgiftes
        Nummer eins, Nikotin, in unglaublicher Weise vernied-
        licht wird.
        Wir haben eine Arbeitsstättenverordnung, die von den
        jeweiligen Regierungen rot-gelb oder schwarz-gelb im-
        mer wieder verfeinert wurde. Sie regelt die Zahl der Beine
        eines Stuhls im Büro, verpflichtet uns selbst in Kleinstbe-
        trieben zur Errichtung von getrennten Toiletten für Da-
        men und Herren und bemüht sich, alles Mögliche – Sinn-
        volle, aber nicht zwingend Notwendige – im betrieblichen
        Bereich sicherzustellen.
        Wenn aber ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin un-
        ter der Nikotinzufuhr am Arbeitsplatz leidet, dann hat sie
        keinen Schutz durch unsere Gesetze oder Verordnungen.
        Sie muss sich selbst gegenüber den Mitarbeitern, die am
        Arbeitsplatz rauchen wollen, und gegenüber dem Arbeit-
        geber, ja oft auch gegenüber dem Betriebsrat rechtferti-
        gen, um ihren natürlichen Anspruch auf einen rauchfreien
        Arbeitsplatz durchsetzen zu können.
        Es ist abenteuerlich, wenn hier auf die Eigenverant-
        wortung und Eigeninitiative des einzelnen Arbeitnehmers
        abgestellt wird. Warum in Gottes Namen soll er Kollegin-
        nen und Kollegen verärgern und seinen Anspruch auf gute
        Luft verteidigen müssen? Warum muss er sich von törich-
        ten Kollegen als scheinbar illoyal, jedenfalls als illiberal
        bezeichnen lassen? Warum muss er die Ochsentour durch
        drei Gerichtsinstanzen machen, um schließlich beim
        Bundesarbeitsgericht Recht zu bekommen?
        Auch derjenige, der beim Arbeitsgericht gewinnt, muss
        in erster Instanz seine Kosten oder die Kosten des Anwal-
        tes selbst zahlen. Warum diesen finanziellen, zeitlichen
        und emotionalen Aufwand dem einzelnen Arbeitnehmer
        aufbürden, obwohl es eine selbstverständliche Pflicht des
        Arbeitgebers ist, dafür zu sorgen, dass seine Mitarbeiter in
        guter Luft, das heißt in nicht gesundheitsgefährdender,
        aber auch in angenehmer Umgebung arbeiten können?
        Es ist Teil der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers, das
        Mögliche für die Gesundheit und die Lebensqualität sei-
        ner Mitarbeiter zu tun. Wir wissen aber, dass bei Milli-
        onen von Arbeitsplätzen die Sicherstellung eines rauch-
        freien Arbeitsplatzes nicht gewährleistet ist, obwohl dies
        ohne Schwierigkeiten möglich wäre.
        Kurz: Wir halten es für eine schlichte Notwendigkeit,
        dass der Arbeitgeberseite durch die Arbeitsstättenverord-
        nung deutlich gemacht wird, welche Pflichten ein Arbeit-
        geber auch im Bereich der Gesundheitsvorsorge und im
        Bereich des Schutzes vor schlechter Luft zukommt.
        Gewiss gibt es auch andere üble Düfte. Da wir uns bei
        unserem Thema schon an der Schnittstelle von Gesund-
        heitspolitik und Sozialpolitik befinden, darf ich die Sache
        hier auch beim Namen nennen: Viele Menschen leiden ge-
        legentlich unter Blähungen. Es ist gesellschaftlicher Kon-
        sens durch alle Gruppen der Bevölkerung, dass Probleme
        mit Blähungen an Orten gelöst werden, wo andere Men-
        schen nicht belästigt werden. Nun geht es bei der Abluft
        in solchen Fällen nicht um gesundheitsgefährdende, son-
        dern nur um die das Wohlbefinden beeinträchtigende Zu-
        führung von übler Luft. Beim Mitrauchen-Müssen wird
        die Lebensfreude in ähnlicher Weise beeinträchtigt; dazu
        kommt noch die Gesundheitsgefährdung. Leider hat sich
        durch die Dominanz der Raucher in der Gesellschaft bis-
        her nicht in gleicher Weise wie bei dem Problem der
        Blähungen ein gesellschaftlicher Konsens entwickelt,
        dass man nikotingeschwängerte Abluft den Kollegen
        nicht zumutet.
        Natürlich können wir diese Botschaft im Einzelge-
        spräch vielen Menschen sagen: Denk daran, dass andere
        nicht in Deinem Abluftkamin sitzen wollen! Dennoch
        sollten wir alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer erreichen
        und diejenigen, die den Mut nicht aufbringen, gegen die
        Mitarbeiter, Betriebsrat und Chefs anzugehen, stützen.
        Daher unser Antrag, die Arbeitsstättenordnung zu ändern.
        Bitte stimmen Sie diesem Anliegen zu!
        Anlage 3
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung: Bildung
        für eine nachhaltige Entwicklung (Tagesord-
        nungspunkt 12)
        Adelheid Tröscher (SPD):Mit der Agenda 21 hat die
        Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Ent-
        wicklung, UNCED, ein Schlussdokument vorgelegt, das
        die Unterzeichnerstaaten verpflichtet, ihre Gesamtpolitik
        am Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung auszurichten.
        Insbesondere in Kapitel 36 der Agenda 21 wird dazu
        aufgerufen, auch bei uns die Bildungsinvestitionen zu-
        gunsten eines nachhaltigen Entwicklungsweges substain-
        able development – auf allen Ebenen – national, regional
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        und kommunal –, in allen Bereichen – schulisch und
        außerschulisch – sowie bei allen Akteuren – staatlichen
        und nichtstaatlichen – zu steigern. Hierzu braucht man
        Mittel und Konzepte.
        Dabei werden vor allem an die Umweltbildung und die
        entwicklungspolitische Bildung neue Anforderungen he-
        rangetragen. Die Lösung der globalen Probleme verlangt
        einen tief greifenden gesellschaftlichen und politischen
        Wandel. Und gerade dabei kommt der schulischen wie
        außerschulischen Bildungsarbeit eine Schlüsselrolle zu.
        Die Förderung des Bildungswesens gehört zu den
        Schwerpunkten der deutschen Entwicklungszusammen-
        arbeit. Viele Länder, vor allem in Afrika südlich der Sa-
        hara, sind kaum noch in der Lage, die hohen Kosten, die
        ein halbwegs funktionierendes Bildungswesen verur-
        sacht, aufzubringen. Erforderliche Reformen können oft
        nicht durchgeführt werden. Es gilt jedoch, immer stärkere
        Jahrgänge der jungen Generation mit Kenntnissen und
        Fertigkeiten auszustatten, die für eine aktive Beteiligung
        am wirtschaftlichen und sozialen Leben notwendig sind.
        Im Mittelpunkt unserer Entwicklungszusammenarbeit
        im Bildungsbereich steht insbesondere der Auf- und Aus-
        bau von Bildungseinrichtungen in den Entwicklungslän-
        dern selbst. Daneben hat die Aus- und Fortbildung von
        Angehörigen aus den Partnerländern in der Bundesrepu-
        blik eine ergänzende Funktion. Dies basiert vor allem auf
        folgenden Erkenntnissen:
        Investitionen in die Grundbildung haben hohe volks-
        wirtschaftliche und persönliche Erträge; berufliche Bil-
        dung und Hochschulbildung sind effektiver und nachhal-
        tiger, wenn sie auf einer ausreichenden Grundbildung auf-
        bauen. Wichtige Projektansätze, die unterstützt werden,
        sind die Förderung des muttersprachlichen Anfangsunter-
        richts, die Verbesserung des naturwissenschaftlichen Un-
        terrichts, die Einführung praktischer Fächer, die Lehrmit-
        telentwicklung und -herstellung sowie die Lehreraus- und
        -fortbildung. Und ebenso werden Alphabetisierungspro-
        gramme im Zusammenhang mit der Unterweisung in Fra-
        gen der Gesundheit, der Hygiene, der Landwirtschaft und
        des Umweltschutzes gefördert. Und hinzu kommen in den
        nächsten Jahren auch eine verstärkte Bereitstellung und
        Nutzung von modernen Informationstechnologien.
        Insofern ist es unabdingbar, dass die entwicklungspo-
        litische Bildung, neben der Umweltbildung, als tragende
        Säule einer Bildung für nachhaltige Entwicklung verstan-
        den wird.
        Entwicklungspolitische Bildung, einschließlich aller
        Kultur-, Aus- und Fortbildungsprogramme, ist durch For-
        schungs-, Entwicklungs- und Modellvorhaben in ähnli-
        chem Umfang wie die Umweltbildung zu fördern. Damit
        sollen Kenntnisse über die sozialen, politischen, ökono-
        mischen, ökologischen und kulturellen Lebensumstände
        der Menschen in den Ländern des Südens verbessert, soll
        das Verständnis für globale Zusammenhänge vertieft so-
        wie zum Einsatz für die Menschenrechte und für nach-
        haltige Entwicklung in der „Einen“ Welt motiviert wer-
        den. Ein Beispiel hierfür ist auch, dass die Bundesregie-
        rung die zweite Nord-Süd-Kampagne des Europarates
        „Global Interdependence and Solidarity: Europe against
        Poverty and Social Exclusion“ aktiv unterstützt.
        Grundbildung allein macht die betroffenen Menschen
        weder satt noch reich; sie ist auch nicht in der Lage, so-
        ziale Gerechtigkeit herbeizuführen. Grundbildung kann
        aber ihr Potenzial dann entfalten, wenn entsprechende
        Rahmenbedingungen, insbesondere Beschäftigungsmög-
        lichkeiten, gegeben sind.
        Bildung hat aber generell eine große Bedeutung für den
        Einzelnen und seine Familie. Sie trägt zur Erhöhung des
        Selbstbewusstseins und der Eigenständigkeit bei; sie ver-
        bessert damit auch die Chancen, Einkommen zu erzielen
        bzw. zu erhöhen, die persönlichen und familiären Le-
        bensbedingungen durch Selbsthilfe zu verbessern und
        sich vor Ausbeutung zu schützen.
        So zeigen etwa Weltbankstudien, dass schon eine vier-
        jährige Schulbildung die Produktivität von kleinen land-
        wirtschaftlichen Betrieben generell erhöht. Bildung kann
        sich auch auf Kinderzahl, Ernährung und Gesundheit aus-
        wirken. So haben zum Beispiel Frauen mit mehr als vier
        Jahren Schulbildung etwa ein Drittel weniger Kinder als
        analphabetische Frauen. Die Mortalitätsrate ihrer Kinder
        ist halb so hoch wie die von analphabetischen Frauen.
        Schließlich haben Kinder von Eltern mit Schulbildung
        eine deutlich größere Chance, selbst eingeschult zu wer-
        den und eine längere Schulbildung zu erhalten als Kinder
        von analphabetischen Eltern.
        Dies zeigt: Die durch Bildung vermittelten und erwor-
        benen Fertigkeiten, Kenntnisse, Fähigkeiten und Wert-
        vorstellungen nützen dem Einzelnen und seiner Familie.
        Sie tragen zur Entwicklung von Wirtschaft und Gesell-
        schaft bei und sind eine wichtige Voraussetzung für einen
        verantwortungsvollen Umgang mit der Natur sowie für
        das Zusammenleben und Überleben in einer sich wan-
        delnden Welt.
        In Bildung zu investieren heißt in diesem Sinne, in
        Menschen zu investieren und ihnen eine bessere Zukunft
        zu ermöglichen. Auch so werden wir dem Leitbild einer
        nachhaltigen Entwicklung bei uns, aber auch in den Län-
        dern des Südens gerecht.
        Ursula Burchardt (SPD): Nachhaltige Entwicklung
        lässt sich auf eine einfache Formel bringen: Weniger ist
        mehr; mehr Wohlstand und mehr Lebensqualität durch
        weniger Energie- und Ressourcenverbrauch, weniger
        Schadstoffe, Emissionen und Abfälle. Hinter dieser einfa-
        chen Formel steckt eine anspruchsvolle Aufgabe, ein ge-
        waltiges Innovationsprogramm. Innovation aber setzt In-
        novationsfähigkeit voraus. Kurz gesagt: Nachhaltige Ent-
        wicklung braucht neue Qualifikationen. Darum geht es in
        unserem Antrag und der vorliegenden Beschlussempfeh-
        lung.
        Innovationen für Nachhaltigkeit erfordern zunächst
        einmal neues Sach- und Fachwissen über die komplexen
        Zusammenhänge zwischen Mensch, Natur und Technik.
        Doch Wissen alleine reicht nicht: Nachhaltige Entwick-
        lung erfordert neue Fähigkeiten: vor allem vernetztes und
        vorausschauendes Denken, die Fähigkeit zu Kommunika-
        tion und Kooperation neuer Art und vor allem die Fähig-
        keit zu lebenslangem Lernen.
        Dies sind genau die Qualifikationen, die die Innovati-
        onsfähigkeit einer Gesellschaft im Zeitalter der Globali-
        sierung ausmachen. Sie sind die Voraussetzung dafür,
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        dass struktureller Wandel nicht nur erlebt und erlitten
        wird. Sie ermöglichen Teilhabe und die Fähigkeit zur ak-
        tiven Mitgestaltung des Wandels.
        Damit sind die wesentlichen Ziele umrissen. Diese
        müssen Eingang finden in die klassischen Bildungsinsti-
        tutionen von der Grundschule bis zur Universität und in
        die berufliche Aus- und Weiterbildung. Eine zunehmend
        wichtige Rolle spielen aber auch informelle Lernprozesse
        etwa im Rahmen von lokalen Agenden in den Kommu-
        nen. Auch hier muss angesetzt werden.
        Zu all diesen Bereichen enthält unser Antrag, der vor
        einem guten Jahr in den Bundestag eingebracht wurde,
        konkrete Forderungen. Mit großer Zufriedenheit stelle ich
        fest, dass die Bundesregierung schon einige zentrale
        Punkte aufgegriffen hat: Ein wichtiger Impuls für die
        schulische Bildung ist BINE, das Bund-Länder-Projekt
        „Bildung für eine Nachhaltige Entwicklung“. Das Fünf-
        jahresprogramm wird vom BMBF und den Ländern mit
        25 Millionen DM gefördert.
        Ziel ist die strukturelle Verankerung der neuen Lernin-
        halte und neuer Lernformen und -methoden in die schuli-
        sche Regelpraxis. Fächerübergreifendes Lernen soll zum
        zentralen Unterrichts- und Organisationsprinzip an Schu-
        len werden.
        Was heißt das praktisch? Ich will nur zwei Beispiele
        nennen.
        Erstens. Schüler lernen, ökologisch zu wirtschaften:
        Sie gründen Schülerfirmen, organisieren Herstellung und
        Vertrieb von Produkten, bieten Dienstleistungen an und
        achten dabei darauf, Ressourcen sparend und zugleich
        ökonomisch zu arbeiten.
        Zweitens. Schüler unterziehen ihre Schulen einem
        Nachhaltigkeitstest. So erkunden sie in ihrem eigenen Le-
        bens- und Arbeitsbereich, wie beispielsweise Wasser oder
        Energie eingespart werden können, wie Abfall und Ähn-
        liches zu vermeiden ist und kooperieren dabei mit Betrie-
        ben und der Verwaltung ihrer Kommune.
        So können junge Menschen wirklich für das Leben ler-
        nen, Wissen und Erfahrung erwerben, was für sie als Ar-
        beitnehmer, als Konsument und als Bürger nützlich ist.
        Auch die berufliche Bildung braucht eine nachhaltige
        Erneuerung. Das gilt für die Standardlernziele in den Aus-
        bildungsordnungen, die Entwicklung neuer Berufsbil-
        dung und die Rahmenpläne für den Berufsschulunterricht.
        Besonders wichtig ist uns in diesem Zusammenhang, dass
        auch die Ausbildung der Ausbilder auf den Prüfstand
        kommt.
        Was die Aus- und Fortbildung betrifft, fordern wir
        zunächst einmal zuständigkeitshalber die Bundesregie-
        rung auf, nachhaltige Entwicklung zum selbstverständli-
        chen Bestandteil von Fortbildungskonzepten zu machen.
        Wenn beispielsweise, wie von uns in einem Antrag vor
        wenigen Wochen gefordert, in allen Ministerien und Bun-
        desbehörden demnächst Umweltcontrolling und Um-
        weltmanagement stattfinden sollen, liegt es in der Verant-
        wortung des Arbeitgebers, die Mitarbeiter dafür fit zu ma-
        chen.
        Ich habe die informellen Lernprozesse angesprochen.
        Sie vollziehen sich in den vielfältigsten Aktivitäten, zum
        Beispiel in Umwelt- und Entwicklungsinitiativen oder in
        lokalen Agendaprozessen. Sie verdienen mehr Unterstüt-
        zung durch Beratung und Förderung von Netzwerken.
        Diese ist angelegt in dem BMBF-Programm „Netzwerk
        Lernende Regionen“ und dem BLK-Programm „Lebens-
        langes Lernen“.
        Das für eine nachhaltige Entwicklung erforderliche
        Wissen muss auch produziert werden. Deshalb wollen wir
        neue Schwerpunkte in der Forschungspolitik. Auch da ist
        schon einiges auf den Weg gebracht worden. Ich erwähne
        beispielhaft die Projekte zu nachhaltigem Konsum und
        Lebensstilen und den Förderschwerpunkt „Nachhaltiges
        Wirtschaften“, bei dem ausdrücklich vorgesehen ist, mit
        den Akteuren aus Bildungseinrichtungen, Verbänden und
        Vereinigungen auf regionaler Ebene zusammenzuarbei-
        ten, um die praktische Relevanz der einzelnen Projekte si-
        cherzustellen.
        Ich begrüße es außerordentlich, dass aus unserem An-
        trag eine gemeinsame Beschlussempfehlung aller Frak-
        tionen des Hauses geworden ist. Das ist wichtig für die
        Sache. Es mag Erklärung und Trost für die interessierten
        und engagierten Menschen in der Republik sein, die seit
        gut einem Jahr darauf warten, dass der Deutsche Bundes-
        tag entscheidet.
        Schon im Vorfeld der Einbringung, noch in der Phase
        der Entstehung des Antrages haben uns viele gute Hin-
        weise und Anregungen erreicht. Ich möchte die Gelegen-
        heit nutzen, all denjenigen außerhalb des Bundestages zu
        danken, die dazu beigetragen haben, dass aus unserem
        Antrag eine runde und erfolgreiche Initiative geworden
        ist.
        Abschließend möchte ich die Gelegenheit nutzen, um
        im parlamentarischen und außerparlamentarischen Raum
        für die nationale Nachhaltigkeitsstrategie zu werben, die
        die Bundesregierung mit einem Kabinettsbeschluss am
        12. Juli 2000 starten wird. Denn dieses Unternehmen wird
        nur ein Erfolg werden, wenn es als gemeinsame Anstren-
        gung aller Kräfte innerhalb und außerhalb des Parlaments
        betrieben wird.
        Ulrike Mehl (SPD): Ich freue mich, dass wir heute ei-
        nen gemeinsamen Antrag zur „Bildung für eine nachhal-
        tige Entwicklung“ beraten können. Wir knüpfen damit an
        die vergangenen Legislaturperioden an, in denen wir zu-
        mindest in Fragen der Umweltbildung zwischen den
        Fraktionen weit gehende Übereinstimmungen erzielen
        konnten. Damit stellen wir die Bedeutung der Bildung für
        die Verwirklichung einer „nachhaltigen Entwicklung“ he-
        raus und wir geben den vielen ehrenamtlich oder in ihrer
        Freizeit tätigen Akteuren ein wichtiges positives Signal.
        An dieser Stelle all jenen, die sich in Verbänden und
        Initiativen für die Umweltbildung zum Teil langjährig en-
        gagieren, einen herzlichen Dank.
        Aber es darf nicht das Missverständnis aufkommen,
        dass die Aufgaben der klassischen Umweltbildung, die
        die erste Säule der Bildung für eine nachhaltige Entwick-
        lung bildet, damit bereits abgehakt wären, und es jetzt nur
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10568
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        noch um die Erweiterung der Begriffsdefinition ginge.
        Vielmehr müssen parallel zu dem inhaltlich vollzogenen
        Paradigmenwechsel, unabhängig von bundes- oder lan-
        despolitischer Zuständigkeit, auch bestehende Defizite
        aufgearbeitet werden.
        Zwar ist 1971 im Umweltprogramm der damaligen
        Bundesregierung zum ersten Mal die Verknüpfung von
        Bildungs- und Umweltpolitik verankert worden. Damals
        hieß es: „Umweltbewusstes Verhalten muss als allgemei-
        nes Bildungsziel in die Lehrpläne aller Bildungsstufen
        aufgenommen werden.“ Heute wissen wir, dass umwelt-
        gerechtes und soziales Verhalten nur zu einem geringen
        Teil von Lernen und Wissen und schon gar nicht nur von
        Lehrplänen abhängt. Es geht also um mehr als nur um
        reine Wissensvermittlung, wenngleich das Wissen eine
        wesentliche Vorraussetzung für künftiges Handeln ist.
        Es kommt vielmehr darauf an, dass der gesamte Hand-
        lungsrahmen stimmt. Es muss umweltfreundliche Alter-
        nativen geben, die in das Leben des Einzelnen oder in be-
        triebliche Entscheidungsprozesse mit allen wirtschaftli-
        chen und sozialen Aspekten hineinpassen. Deshalb muss
        „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ in die Ge-
        samtstrategie zur nachhaltigen Entwicklung eingebettet
        werden. Deshalb halte ich die in unserem Antrag unter
        Punkt 3 geforderten Forschungs- und Entwicklungspro-
        gramme und die dazu passenden Modellversuchspro-
        gramme, die sich mit nachhaltigen Konsum- und Lebens-
        stilen sowie nachhaltigem Wirtschaften befassen sollen,
        für außerordentlich wichtig.
        Wir brauchen Erkenntnisse darüber, wie wir es schaf-
        fen können, Wissen und Handeln besser miteinander in
        Einklang zu bringen, und wir brauchen neue Ideen, um
        das umzusetzen. Wir kennen doch alle die Schere im
        Kopf. Selbst wenn wir die umweltpolitischen Notwendig-
        keiten kennen, heißt das noch lange nicht, dass wir uns
        auch dementsprechend verhalten, unter anderem deshalb,
        weil es einfach nicht unserem Lebensstil entspricht. Das
        hat auch jede Menge mit Bequemlichkeit zu tun, auf die
        keiner gern verzichtet. Wer denkt denn heute noch darü-
        ber nach, ob man in unseren Breiten überhaupt eine Kli-
        maanlage im Auto braucht, die vielleicht einen halben Li-
        ter Benzinverbrauch mehr bedeutet, wenn das schon fast
        zur Standardausstattung eines Kleinwagens gehört?
        Oder wie steht es mit der Stand-by-Schaltung unseres
        Fernsehers oder des Videorecorders? Wir kommen nicht
        darum herum, uns mit den neuen gesellschaftlichen Ent-
        wicklungen auseinander zu setzen. Für unsere Jugendli-
        chen muss umweltfreundliches Verhalten eben cool sein
        und nicht megaout. Dafür brauchen wir neue Kampagnen
        und die neuen Medien, ohne die wir die Kinder und Ju-
        gendlichen kaum noch erreichen werden. Gerade deshalb
        ist es wichtig, die Lebensstile zu erforschen, gegebenen-
        falls zu ändern und dafür zu sorgen, dass vernünftige
        Handlungsalternativen entwickelt und angeboten werden,
        die zum jeweiligen sozialen Umfeld passen.
        Für die Politik heißt das: Wir müssen sozialverträgli-
        che Alternativen in der Verkehrspolitik erarbeiten, damit
        der ÖPNV attraktiver wird und verbrauchsarme Autos
        nicht nur entwickelt, sondern auch auf den Markt gebracht
        werden. Wir müssen die Lebenszyklen von Produkten
        vom Anfang bis zum Ende verfolgen, damit Energieinput,
        Schadstoffe und das Abfallaufkommen in die Gesamtbi-
        lanzen einfließen. Wir müssen beispielsweise biologisch
        erzeugte Nahrungsmittel konkurrenzfähiger machen und
        die Kosten für die Nutzung nicht erneuerbarer Ressourcen
        erhöhen. Diese Themen sind auch Grundlage unserer Po-
        litik. Für diejenigen, die sich mit diesem Thema seit lan-
        gem beschäftigen, trage ich vielleicht Eulen nach Athen.
        Aber eben diejenigen wissen auch, dass die hohe Bedeu-
        tung dieses Themas nicht in der großen Mehrheit der
        Köpfe verankert ist.
        „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ ist kein
        Selbstzweck; vielmehr soll sie zur Lösung der genannten
        Probleme beitragen. Sie ist auch deshalb von großer Be-
        deutung, weil Politik und Verwaltung kreative Anregun-
        gen zur Gestaltung ihrer umwelt- und entwicklungspoliti-
        schen Ziele brauchen. Das in unserem Antrag geforderte
        Aus- und Fortbildungskonzept für die Ministerien und die
        Bundesverwaltung kommt deshalb auch nicht von unge-
        fähr.
        „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ kann das
        Umsteuern in der Umwelt-, Entwicklungs-, Wirtschafts-,
        Sozial-, Verkehrs- und Landwirtschaftspolitik nicht erset-
        zen. So steht es in unserem gemeinsamen Antrag. Ich
        hoffe, wir werden auch bei der Konkretisierung und Um-
        setzung der Ziele für die Umweltbildung nachhaltig die
        Opposition auf unserer Seite haben.
        Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU): Im
        Juni 1998 hat die Bund-Länder-Kommission für Bil-
        dungsplanung und Forschungsförderung ihren Orientie-
        rungsrahmen „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“
        vorgelegt. Mit dem Orientierungsrahmen sollte die Um-
        weltbildung als integraler Bestandteil einer dem Leitbild
        der Nachhaltigkeit verpflichteten Zukunftsgestaltung ge-
        fördert werden. Gleichzeitig wirkt die Umweltbildung
        als umweltpolitisches Instrument. Heute – zwei Jahre spä-
        ter – beraten wir die Beschlussempfehlung und den Be-
        richt des Ausschusses für Bildung, Forschung und Tech-
        nikfolgenabschätzung zu einem Antrag der Regierungs-
        koalition zu eben diesem Thema.
        Die Bund-Länder-Kommission hat mit ihrem Orientie-
        rungsrahmen den Weg aufgezeigt, wie Umweltbildung er-
        folgreich in unser Bildungssystem Eingang finden kann.
        Die Umweltbildung hat in kurzer Zeit Einzug in Kinder-
        gärten, Schulen, Hochschulen und die berufliche Bildung
        gehalten. Darüber hinaus belegen zahllose erfolgreiche
        Initiativen, sei es zur Energieeinsparung oder zur Abfall-
        vermeidung, wie die Kreativität der jungen Menschen
        auch den Umweltgedanken und das dahinter stehende An-
        liegen in hervorragender Weise transportieren und umset-
        zen kann.
        Auf allen Ebenen – von der internationalen Ebene bis
        auf die kommunale Ebene – werden Projekte umgesetzt
        und der Umweltschutzgedanke praktisch weiterentwi-
        ckelt. Die Medien transportieren heute täglich eine un-
        überschaubare Vielfalt von Informationen zu dem Thema.
        Unternehmen, Verbände und weitere Nichtregierungsor-
        ganisationen haben den Umweltschutz nicht nur auf ihre
        Fahnen geschrieben, sondern praktizieren ihn für jeder-
        mann erkennbar mit großem Erfolg.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10569
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        Umweltbildung ist nur ein Bestandteil der Bildung für
        eine nachhaltige Entwicklung. Mit dem Titel „Bildung für
        eine nachhaltige Entwicklung“ der hier vorliegenden Be-
        schlussempfehlung liegt die Messlatte für das jetzt ange-
        strebte Resultat sehr viel höher. Insofern ist es erfreulich,
        dass heute auf diesen hervorragenden Stand aufgebaut
        werden kann. Mit dem Antrag wird die Grundlage gelegt,
        die drängenden gesellschaftlichen Probleme in Deutsch-
        land in Angriff zu nehmen, die noch nicht so dynamisch
        angegangen wurden wie die Umweltprobleme. Von der
        erfolgreichen Verbreitung des Leitbildes der „Nachhaltig-
        keit“ im Umweltbereich soll jetzt also im Bildungsbereich
        der Weg frei gemacht werden für eine Übertragung auf an-
        dere wichtige gesellschaftliche Felder und Systeme.
        Der Gebrauch des Attributes „nachhaltig“ ist in den
        letzten Monaten und Jahren schon hyperinflationär ge-
        stiegen. Es wird deutlich, dass die Zeit überreif ist, die An-
        forderungen der Nachhaltigkeit auf alle gesellschaftlichen
        Teilbereiche zu übertragen. Wir in Deutschland kommen
        damit der in der Agenda 21 enthaltenen Forderung nach,
        die Menschen durch Bildung in die Lage zu versetzen,
        ihre Anliegen in Bezug auf eine nachhaltige Entwicklung
        aller Lebensbereiche abschätzen und angehen zu können.
        Das heißt, den Bürgern soll Wissen über die sozialen,
        wirtschaftlichen, kulturellen und ökologischen Entwick-
        lungszusammenhänge der Gesellschaft und der Welt, in
        der sie leben, vermittelt werden.
        Dazu ist es notwendig, hier in Deutschland ein Ent-
        wicklungsbewusstsein zu schaffen. Es muss verdeutlicht
        werden, dass „alles fließt“ und kein gesellschaftlicher
        Teilbereich, auch nicht die Gesellschaft als Ganzes, dau-
        erhaft auf ihrem Status quo verharren kann. In Zeiten
        schnellen und tief greifenden Wandels sind schnellere und
        tief greifendere Anpassungen an die veränderte Umwelt
        notwendig, als wir sie aus Zeiten großer Stabilität ge-
        wohnt waren.
        Eine wirksame umwelt- und entwicklungsorientierte
        Bildung muss sich von daher sowohl mit der Dynamik der
        natürlichen und der sozioökonomischen Umwelt als auch
        mit der menschlichen Entwicklung befassen. Sie soll in
        alle Fachdisziplinen eingebunden werden und alle geeig-
        neten Methoden und Kommunikationsmittel anwenden.
        Umwelt- und Entwicklungskonzepte einschließlich der
        Demographie sind in alle Bildungsprogramme einzubin-
        den. Ziel ist es, in der Bevölkerung ein Entwicklungsbe-
        wusstsein zu schaffen, mit dessen Hilfe die Herausforde-
        rungen im Zeitalter der Globalisierung bewältigt werden
        können und neue Wege hin zu einer nachhaltigen Ent-
        wicklung beschritten werden.
        Der Bildungsbereich muss das dazu notwendige Wis-
        sen schaffen, verdichten und verbreiten. Interdisziplina-
        rität, das heißt die Zusammenarbeit verschiedener Wis-
        senschaftsbereiche, darf sich nicht nur auf einzelne ge-
        sellschaftliche Teilbereiche erstrecken, sondern muss mit
        Blick auf das Verständnis gesellschaftlicher Zusammen-
        hänge alle betroffenen wissenschaftlichen Teilbereiche
        einbeziehen. Damit werden die Voraussetzungen dafür
        geschaffen, dass die Politik sehr viel stärker querschnitts-
        orientiert als bisher an die drängenden Probleme herange-
        hen kann, deren Ursachen ergründen kann, anstatt dauer-
        haft an Symptomen zu kurieren.
        Benötigt werden dafür Schlüsselqualifikationen in der
        Bevölkerung ebenso wie ein ökologisches, ökonomi-
        sches, soziales, technisches und kulturelles Grund- und
        Sachwissen. Die Vernetzung dieses Wissens bildet die Vo-
        raussetzung für eine sinnvolle Erhöhung des Wissens-
        standes aller Mitglieder der Gesellschaft. Es ersetzt je-
        doch nicht das Fachwissen in den einzelnen Wissen-
        schafts- und Forschungsbereichen, das die notwendige
        Basis für eine dauerhaft zukunftsfähige Entwicklung un-
        seres Gemeinwesens darstellt.
        Was nun ist eine nachhaltige Entwicklung? Auch wenn
        der Begriff der Nachhaltigkeit vielfach noch schillernd
        vieldeutig verwendet wird, signalisiert er – ausgehend
        von den Überlegungen der Brundtland-Kommission in
        den 80er-Jahren – den Anspruch einer langfristig zu-
        kunftsfähigen Ausrichtung unserer Gesellschaft und der
        gesellschaftlichen Teilsysteme. Hinzu kommt die Forde-
        rung nach inter- wie intragenerativer Gerechtigkeit. Das
        heißt nichts anderes, als dass einmalige Mitnahmeeffekte
        einer Generation zulasten nachfolgender Generationen
        unterbleiben sollen oder gesellschaftliches Trittbrettfah-
        rerverhalten zugunsten einer dauerhaft tragfähigen gesell-
        schaftlichen Entwicklung abzustellen ist.
        Es stellt sich doch in diesem Zusammenhang zum Bei-
        spiel die Frage, ob es nachhaltig ist, wenn verstärkt fos-
        sile Energieträger in Kohle-, Öl- oder Gaskraftwerken
        verheizt werden, nur weil die rot-grüne Koalition die
        Kernkraftwerke in Deutschland abschalten will, und
        wenn der Bereich der Kernforschung, in dem in Deutsch-
        land in Teilbereichen noch großes Know-how vorhanden
        ist, ausgetrocknet werden soll.
        Die Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und
        der Umwelt“ hat in der vergangenen Legislaturperiode
        den Versuch unternommen, das Leitbild der Nachhaltig-
        keit auf alle gesellschaftlichen Teilbereiche zu übertragen.
        Sie hat zum Beispiel Forderungen aufgestellt, den gesell-
        schaftlichen Bestand an Kapital, sei es Natur-, Human-
        oder Sachkapital, im Zeitablauf nicht zu verringern.
        Trotzdem gibt es Schwierigkeiten, den Begriff der
        nachhaltigen Entwicklung auf der Basis der Konferenz
        von Rio 1992 hinreichend zu bestimmen. Ich möchte auf
        die Schwierigkeiten mit dem Begriff „Entwicklung“ in
        Deutschland hinweisen.
        Bei uns meint Entwicklungspolitik die Entwicklung
        der unterentwickelten Völker. Kaum jemand verbindet
        mit diesem Begriff die Entwicklung des eigenen Landes.
        In der angelsächsischen Welt gibt es hingegen mit dem
        Wort „development“ einen ganzheitlichen Entwicklungs-
        begriff. Entwicklung heißt dort nicht nur Entwicklung
        weniger entwickelter Staaten, sondern auch Entwicklung
        des eigenen Landes.
        Ich frage Sie, ob es im Sinne der Ziele einer nachhalti-
        gen Entwicklung ist, wenn wir in Deutschland den Begriff
        derartig verengen. Ich frage Sie, ob wir den Begriff der
        Entwicklungspolitik nicht in einem viel umfassenderen
        Ansatz auch auf das eigene Land ausdehnen sollten. Wir
        sollten uns nicht scheuen, zum Beispiel die Strukturpoli-
        tik unterentwickelter Regionen im eigenen Land künftig
        als Teil der Entwicklungspolitik zu sehen. Denn wenn wir
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10570
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        das nicht tun, dann könnte man vermuten, wir hätten hier
        in Deutschland die Überzeugung gewonnen, den Höhe-
        punkt möglicher gesellschaftlicher Entwicklung bereits
        erreicht zu haben. Ich glaube angesichts unserer Arbeits-
        losenzahlen, der sozialen Probleme und der völlig über-
        zogenen Ansprüche an zukünftig zu erbringende Leistun-
        gen kann davon ernsthaft wohl keine Rede sein. Wir
        müssen vielmehr ein integriertes Entwicklungsmodell
        entwerfen, nicht nur für die weniger entwickelten Staaten,
        sondern insbesondere auch für unsere Gesellschaft. Wir
        müssen die künstliche Trennung zwischen der Entwick-
        lungspolitik bundesdeutscher Natur und etwa der Struk-
        turpolitik aufheben und ein umfassendes Entwicklungs-
        modell entwerfen, das nicht nur ökonomische, sondern
        auch ökologische, soziale, kulturelle, wirtschaftliche wie
        bildungspolitische Zielsetzungen umfasst.
        Die drängendsten Entwicklungsprobleme liegen der-
        zeit in Deutschland selbst. Wer meint, für unsere zukünf-
        tige Entwicklung stünde die Situation der Lesben und
        Schwulen in Simbabwe oder die Situation der Frauen in
        Togo im Vordergrund, der scheint die Realität in Deutsch-
        land nicht hinreichend wahrzunehmen.
        Nehmen wir als Beispiel die Auswirkungen der demo-
        graphischen Entwicklung in Deutschland und die damit
        einhergehenden sichtbaren und absehbaren gesellschaftli-
        chen Probleme: Wenn jede weitere Generation nur noch
        zwei Drittel der Größe der vorherigen Generation um-
        fasst, dann sind wir rein rechnerisch nach 70 Jahren bei
        knapp der Hälfte, nach gut 100 Jahren bei gut einem Vier-
        tel der heutigen Bevölkerungsstärke angelangt. Diese
        Entwicklung ist nicht nachhaltig. Wenn es sich um eine
        Tierart handeln würde, wären heftige Debatten über einen
        besonderen Artenschutz in vollem Gange. Statt dessen
        wird derzeit über Einwanderung debattiert und um Pro-
        zentzahlen bei der Rente gefeilscht. Angebracht wäre aber
        eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den tiefer liegen-
        den Ursachen für unsere gesellschaftlichen Fehlentwick-
        lungen und den daraus resultierenden unausweichlichen
        Veränderungen, die auf uns zukommen werden.
        Wie nachhaltig kann eigentlich ein Alterssicherungs-
        system angesichts dieser demographischen Fehlentwick-
        lungen überhaupt sein? Ein Teil der Bevölkerung hat Kin-
        der und trägt die Erziehungsmühen und -kosten für die
        nachfolgende Generation. Der andere Teil – ohne eigene
        Kinder und die daraus resultierenden Belastungen – er-
        wartet, dass diese Kinder einmal ihre Rente sichern wer-
        den. Andererseits werden die Integrationskosten für aus-
        ländische Arbeitskräfte und deren Angehörige, die die
        Bevölkerungslücke füllen, von allen Gesellschaftsmit-
        gliedern getragen. Familien mit schulpflichtigen Kindern
        tragen auch hierbei eine doppelte Belastung. Vielleicht
        sollte man die gegenwärtigen Gespräche zu Einwande-
        rung, Familienpolitik, Renten- und Gesundheitssystem
        einmal um solche bislang tabuisierten Gesichtspunkte er-
        weitern. Damit könnte man zu einem Entwurf für eine
        dauerhaft tragfähige und infolgedessen auch zu einer
        nachhaltigen Entwicklung in Deutschland kommen.
        Was ergibt sich aus diesen Überlegungen an Anforde-
        rungen für unser Bildungssystem? Zwei Gesichtspunkte
        sind besonders zu berücksichtigen: Einerseits muss die
        Tauglichkeit des Bildungssystems für seine dauerhaft
        tragfähige Entwicklung geprüft werden. Zum anderen
        müssen die Inhalte einer nachhaltigen Bildung über den
        Umweltbereich hinaus auf weitere gesellschaftliche Ent-
        wicklungsfragen hin ausgerichtet und verbreitet werden.
        Dem Bildungsbereich kommt hierbei die Aufgabe zu, das
        Wissen zu schaffen und zu den Menschen zu transportie-
        ren. Gesellschaftliche Veränderungen und technischer
        Fortschritt dürfen nicht aus Angst und Unkenntnis abge-
        lehnt werden, sondern müssen als Chance aufgefasst wer-
        den, sich in einer schnell wandelnden Welt im internatio-
        nalen Wettbewerb der Gesellschaften und Völker zukünf-
        tig zu behaupten.
        Nachwuchsmangel in der naturwissenschaftlichen
        Forschung und Defizite in der schulischen Ausbildung,
        die als Vorbereitung für erfolgreiche Humankapitalbil-
        dung an Universitäten notwendig ist, sind sichtbare
        Symptome für die Krise unseres Bildungssystems. Die
        Schwächen sind offenbar, und es gilt, die Ursachen zu
        erkennen, sie offenzulegen und zu beheben, statt an
        Symptomen herumzukurieren. In Deutschland müssen
        vor allem Defizite im naturwissenschaftlich-technischen,
        ökonomischen, politischen sowie im sozialen Bildungs-
        bereich behoben werden.
        Der aktuelle OECD-Bericht spricht eine deutliche
        Sprache: Er vergleicht unter anderem den Bildungsstand
        der älteren und der jüngeren Generation. Der Bildungs-
        stand der 55- bis 64-Jährigen in Deutschland – also den-
        jenigen, die mehrheitlich bereits im (Vor-)Ruhestand
        sind – liegt weltweit hinter den USA auf Platz 2. Im Ge-
        gensatz dazu liegt Deutschland bei den 25- bis 34-Jähri-
        gen nur mehr auf Platz 7 hinter Japan, Norwegen und so-
        gar Ländern wie Korea und Tschechien.
        Dies ist ein untrüglicher Beleg dafür, dass wir im in-
        ternationalen Wettbewerb bereits zurückgefallen sind.
        Auf die leidige Green-Card-Blamage, die auch ein Zei-
        chen für das Versagen unseres Bildungssystems ist, auf
        den akuten Mangel an naturwissenschaftlichen Nach-
        wuchskräften im Forschungs- wie im Unternehmensbe-
        reich möchte ich hier gar nicht erst näher eingehen. Eines
        sei aber gesagt: Wenn Bundeskanzler Schröder als ver-
        antwortlicher Landespolitiker noch vor wenigen Jahren
        Studienplätze im Informatikbereich massiv abgebaut hat,
        dann belegt das eine denkbar kurzfristige Orientierung,
        vergleichbar mit dem Zukunftshorizont von Spekulanten
        an der Börse. Wenn dann als Rechtfertigung auch noch
        darauf verwiesen wird, man würde im Land ohnehin mehr
        Informatiker ausbilden, als der eigene Bedarf ausmacht,
        das heißt die jungen Menschen würden anschließend
        wahrscheinlich in einem anderen Bundesland arbeiten,
        dann wird die Kirchtur msorientierung und Zukunftsver-
        gessenheit dieser Politikerpersönlichkeit offenbar.
        Nachhaltigkeit im Bildungswesen bedeutet, diese
        sichtbaren Defizite zu erkennen und strukturelle Vorkeh-
        rungen zu schaffen, um sie zu unser aller Wohle schleu-
        nigst zu beseitigen. Deshalb brauchen wir mehr Wettbe-
        werb im Hochschulbereich, und zwar nicht nur zwischen
        den von engmaschigen Rahmensetzungen gebremsten re-
        formfreudigen Hochschulen, sondern auch und gerade
        zwischen den verschiedenen Bundesländern. Erst im
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10571
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        Wettbewerb um das bessere Bildungssystem wird sich die
        Qualität der Bildung in Deutschland nachhaltig verbes-
        sern.
        Bund und Länder dürfen sich nicht länger in ideologi-
        schen Schützengräben verstecken, wenn es zum Beispiel
        um die strukturelle Modernisierung des Hochschulwesens
        oder um eine stärker an den individuellen Kenntnissen,
        Fähigkeiten und Neigungen eines Schülers orientierte
        schulische Förderung geht. Investitionen in die Ausbil-
        dung heute sind Investitionen in unseren Wohlstand von
        morgen. Dabei sollten wir uns alle – auch die Kultusmi-
        nisterkonferenz – vor Augen führen, dass nicht unbedingt
        die Großen die Kleinen übertrumpfen, in jedem Fall aber
        die Schnellen die Langsamen abhängen.
        Kurzfristige Überlegungen und bürokratisches Besitz-
        standsdenken muss daher schnellstens zugunsten lang-
        fristig erfolgreicher strategischer Ansätze zurückgestellt
        werden. Die Bundesregierung muss alles in ihrer Macht
        stehende tun, um gemeinsam mit den Ländern unser Bil-
        dungssystem fit für den globalen Wettbewerb im 21. Jahr-
        hundert zu machen.
        Um über Fortschritte und den Stand der Entwicklungen
        bei der Sanierung unseres Bildungssystems die Öffent-
        lichkeit zu informieren, soll daher ein Bericht der Bun-
        desregierung über die erreichten Fortschritte zum Abbau
        der Defizite mindestens einmal pro Legislaturperiode
        vorgelegt werden. Darin soll die Bundesregierung die
        vorliegenden Konzepte und deren praktische Umsetzung
        für ein nachhaltiges Bildungssystem ausführlich darstel-
        len. Sie soll aktiv mitwirken, Konzepte und Elemente ei-
        ner Bildung für eine nachhaltige Entwicklung in den
        Strukturen des bestehenden Bildungssystems zu imple-
        mentieren. Der strukturelle Reformbedarf, der durch eine
        entsprechende Bildungsoffensive offenbart wird, soll be-
        schrieben und seine Ursachen sollen erörtert werden. Ich
        bin überzeugt, dass damit ein wichtiger Baustein für eine
        nachhaltige Ausrichtung unserer Gesellschaft gelegt wird.
        Eine qualifizierte Übersicht über die Entwicklung unseres
        Bildungssystems ist eine wertvolle Grundlage für die an-
        stehende Modernisierung unserer Gesellschaft und ihrer
        Teilsysteme.
        Lassen Sie mich abschließend darauf hinweisen, dass
        die Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der
        Umwelt“ in der vergangenen Legislaturperiode empfoh-
        len hat, einen „Rat für Nachhaltigkeit“ einzurichten. In-
        zwischen sind zwei Jahre vergangen, ohne dass dieser
        Vorschlag umgesetzt worden wäre. Angesichts der herr-
        schenden Problemlage bin ich der Überzeugung, dass ein
        solcher Rat heute notwendiger wäre denn je, um die nach-
        haltige Bildungsoffensive ins Leben zu rufen, zu unter-
        stützen und auch in anderen Bereichen weitere Impulse
        für die nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaft zu
        geben.
        Die Defizite unseres Bildungssystems liegen offen vor
        uns; die Folgen für unsere Gesellschaft sind bereits heute
        deutlich spürbar; es ist jetzt höchste Zeit zum Handeln;
        geredet wurde genug. Mit der zügigen Umsetzung der in
        dem Antrag zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung
        enthaltenen Forderungen kann ein wichtiger Schritt für
        eine dauerhaft prosperierende Entwicklung unseres Ge-
        meinwesens getan werden.
        Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Die meisten Bürger erfuhren in ihrer Schulzeit keine Um-
        weltbildung oder Bildung für eine nachhaltige Entwick-
        lung, wie wir sie heute kennen. „Heimat- und Natur-
        kunde“ hieß das Fach damals vor Jahrzehnten. Und wenn
        die Lehrerinnen und Lehrer gut waren, haben sie bei ihren
        Schülern Interesse und Freude an der Heimat und Natur
        geweckt – oder gar Staunen hervorgerufen.
        In den 60er- und 70er-Jahren wich dieses Staunen
        über die Natur zunehmend einem Staunen über Technik
        und Fortschritt, auch in den Bildungseinrichtungen. Doch
        die ersten großen Umweltkatastrophen, das Heraufziehen
        der globalen Klimaveränderung, haben die Pädagogik
        stark verändert. Die negativen Kehrseiten des ungezügel-
        ten Wirtschaftswachstums machten sich bemerkbar und
        änderten auch das Lernen. Lernen wurde zunehmend zum
        Lernen mit und an der Katastrophe, so wie Umweltpolitik
        eine Reaktion auf Verschmutzung und Katastrophe war.
        Inzwischen ist aus der einstmals beschränkten Um-
        weltpolitik eine komplexe Politik für eine nachhaltige
        Entwicklung geworden – und entsprechend müssen sich
        auch Bildung, Erziehung und Lernen wieder ändern. Das
        Ziel lautet heute: Förderung der Kompetenz für nachhal-
        tige Entwicklung. Unser Antrag ist ein anspruchsvoller
        Auftragskatalog, eine Selbstverpflichtung der Bundesre-
        gierung, genau dies zu ändern und die Kluft zwischen dem
        Umweltbewusstsein und dem noch fehlenden, nachhalti-
        gen Handeln zu schließen.
        Der Paradigmenwechsel weg von der „klassischen
        Umweltbildung“ bedeutet nämlich nicht die Abkehr vom
        Schutz der Umwelt, sondern deren Weiterentwicklung,
        zum Beispiel in und durch Entwicklungspolitik. Um-
        weltbildung ist nicht allein das Wissen um Ozonloch,
        Treibhauseffekt, Artensterben oder Meeresverschmut-
        zung. Umweltbildung in diesem erweiterten Sinne ist die
        Grundlage für die dringend notwendige Trendwende zum
        nachhaltigen, umweltverträglichen Wirtschaften in allen
        Lebensbereichen und deshalb ist Umweltbildung ein
        Schlüsselbegriff für die zukünftige Entwicklung. Sie för-
        dert Kompetenz in Sachen Nachhaltigkeit.
        Deshalb fordern wir eine Neuausrichtung der Ausbil-
        dungs- und Prüfungsordnungen am Leitbild der nachhal-
        tigen Entwicklung: Früh Gelerntes wird im Berufsleben
        und im Alltag zur automatischen Praxis. Techniker und
        Ingenieure, die sich in Ausbildung und Studium intensiv
        mit Ökoeffizienz auseinander gesetzt haben, werden im
        Beruf automatisch anders, nachhaltiger konstruieren, pla-
        nen und bauen als heute.
        Wir brauchen eine neue Bildung für nachhaltige Ent-
        wicklung, die sich mit unseren Konsum- und Lebens-
        stilen auseinander setzt. Dafür brauchen wir Forschungs-
        und Entwicklungsvorhaben, Modellversuche und Pro-
        jekte, die den Wechsel zur Nachhaltigkeit durch einen
        Wandel von Konsum, Produktion und Lebensstil ermög-
        lichen. Und wir brauchen eine Bildungsoffensive, die
        nicht nur die formellen Strukturen umfasst, also die
        Lehr-, Studien- und Ausbildungspläne, sondern genauso
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10572
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        auch nicht formelle Strukturen. Sie muss vor Ort an-
        setzen: dort, wo Menschen leben, lernen und arbei-
        ten – eben ganzheitlich –, nehmen Sie nur die vielfältigen
        Umweltprojekte in Kindergärten, Kirchengemeinden, Be-
        trieben und Vereinen oder die lokalen Agenden in den
        Kommunen.
        Bis zur Rio-plus-Zehn-Konferenz für Umwelt und Ent-
        wicklung der UN müssen wir eine nationale Nachhaltig-
        keitsstrategie vorlegen. Und in dieser Strategie erwarte
        ich, dass sie ein wichtiges Kapitel zur Bildung für eine
        nachhaltige Entwicklung enthält.
        Nachhaltige Entwicklung und eine dazu gehörende
        Bildungspolitik wird zum Markenzeichen dieser Regie-
        rung werden. Nur so bewerkstelligen wir den dringend
        notwendigen Wechsel zu einer umwelt- und zukunftsver-
        träglichen Entwicklung in Verantwortung vor der Dritten
        Welt und in Verantwortung vor den künftigen Generatio-
        nen.
        Ulrike Flach (F.D.P.):Der vorliegende Antrag gibt der
        Thematik „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ ei-
        nen schönen Rahmen. Er geht auf viele internationale, eu-
        ropäische und nationale Verträge, Absichtserklärungen,
        Übereinkommen, Studien und Vereinbarungen ein, die
        das Ziel deutlich machen, Bildung in eine Nachhaltig-
        keitsstrategie mit internationaler Perspektive einzubetten.
        Der Antrag fordert die Bundesregierung aber auch auf,
        mit konkreten Maßnahmen diese Zielsetzung zu verwirk-
        lichen und insbesondere die Umweltbildung und die ent-
        wicklungspolitische Bildung als die beiden Hauptsäulen
        für die Durchsetzung einer nachhaltigen Entwicklung zu
        fördern. Er fordert die Bundesregierung auf, den Orien-
        tierungsrahmen der Bund-Länder-Kommission für Bil-
        dungsplanung und die Empfehlungen des Bundesinstituts
        für Berufsbildung umzusetzen, aber auch durch die Erar-
        beitung eines Aus- und Fortbildungskonzeptes für Minis-
        terien und Bundesverwaltung selbst etwas zu tun. Der An-
        trag ist gut und hat deshalb auch im Ausschuss einhellige
        Zustimmung gefunden.
        Gerade wegen unserer gemeinsamen Unterstützung
        der Ziele des Antrages sollten wir einen Blick auf die Rea-
        lität grün-roter Bildungspolitik werfen. Denn nicht einmal
        die geschliffenste Formulierung des Antrages kann das
        Ziel erreichen, wenn die harten Fakten im Lande nicht
        stimmen.
        Nachhaltige Entwicklung entsteht nicht durch gutes
        Zureden. Sie brauchen gerade in den Entwicklungslän-
        dern auch Naturwissenschaftler und Ingenieure, um zum
        Beispiel Umwelttechnik zu entwickeln und anzuwenden.
        Das sollen natürlich überwiegend einheimische Fachleute
        sein, aber wir wissen, dass sie nicht überall ausreichend
        zur Verfügung stehen. Wir brauchen also auch deutsche
        Ingenieure und Naturwissenschaftler in Entwicklungslän-
        dern. Und da stellen wir fest, dass wir ja nicht mal in der
        Lage sind, unseren eigenen Bedarf zu decken. Ich will die
        Green Card für IT-Fachkräfte nur am Rande erwähnen,
        viel dramatischer wird uns in den nächsten Jahren der
        eklatante Mangel an Ingenieuren treffen. Nach einer Stu-
        die des Verbandes der Elektrotechnik, Elektronik und In-
        formationstechnik haben wir in den genannten Bereichen
        nur 55 Prozent der Studienanfänger, die wir noch 1990
        hatten. Jährlich werden circa 13 000 Absolventen benö-
        tigt, wir haben aber nur die Hälfte. Ähnlich sieht es bei
        den Chemikern, Physikern und zum Beispiel auch bei den
        Kerntechnikern aus. In Kürze werden wir hier Diskussio-
        nen über Anwerbungen ausländischer Fachkräfte in die-
        sen Bereichen führen. Deutschland droht – zumindest par-
        tiell – dramatischer Akademikermangel.
        Nachhaltige Entwicklung muss auch durch entwick-
        lungspolitische Bildungsarbeit unterstützt werden. Und
        da kann ich keinen Schwerpunkt bei Ihnen entdecken. Mi-
        nisterin Wieczorek-Zeul hat in ihrer Presseerklärung zum
        Haushalt 2001 angekündigt: Die Mittel für die Förderung
        entwicklungspolitischen Engagements von Kirchen, Stif-
        tungen und die entwicklungspolitische Bildungsarbeit
        verbleiben auf dem Niveau des Jahres 2000 bei 600 Mil-
        lionen DM. Im Haushalt 2000 war das BMZ aber über-
        proportional gekürzt worden. Sie bleiben also auf dem
        Schmalspurniveau; von Schwerpunktsetzung keine Spur.
        Uns Liberalen ist es wichtig, dass der Gedanke der Bil-
        dung für eine nachhaltige Entwicklung in die Überarbei-
        tung von Rahmenplänen für den Unterricht an beruflichen
        Schulen und die Ausgestaltung von Studienordnungen der
        Berufsschullehrer Eingang findet. Dies muss fächer- und
        ausbildungsübergreifend geschehen. Wir haben diese For-
        derung aufgestellt und sie ist auch im Antrag enthalten.
        Im Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, den
        bereits bestehenden Bericht zur Umweltbildung zu einem
        Bericht zur „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ zu er-
        weitern. Dabei erwarte ich konkrete Ergebnisse in der
        konzeptionellen Weiterentwicklung und der praktischen
        Umsetzung der Ziele. Weiterhin soll – so steht es im An-
        trag – auf die Probleme der „Dissemination“ der Ergeb-
        nisse eingegangen werden. Und damit wir alle heute
        noch etwas für unsere nachhaltige Bildung tun, habe ich
        das Wort „Dissemination“ nachgeschlagen. Es bedeutet
        „Aussaat oder Verbreitung“. In diesem Sinne wünsche ich
        den Zielen des Antrages eine weite Dissemination, insbe-
        sondere in das konkrete Handeln der Bundesregierung,
        wo noch viel zu tun ist.
        Dr. Heinrich Fink (PDS): Der vorliegende Antrag ist
        eine nach Meinung der PDS folgerichtige Reaktion auf ei-
        nen wesentlichen Aspekt der Agenda 21. Allerdings
        kommt diese Reaktion acht Jahre nach der Rio-Konferenz
        recht spät. Zwar hat der Bundestag schon 1994 beschlos-
        sen, die Agenda 21 zur Leitlinie ihrer Politik zu machen,
        praktische Ergebnisse muss man allerdings mit der Lupe
        suchen und wird dann zu der traurigen Erkenntnis kom-
        men, dass es sie in erwähnenswertem Maße einfach nicht
        gibt. Es gibt sie deswegen nicht, weil der vorigen Bun-
        desregierung der politische Wille zur Umsetzung fehlte.
        Die PDS hat dem Antrag im Ausschuss zugestimmt,
        weil er den richtigen Weg zeigt. Sie wird ihm auch heute
        in toto zustimmen. Meine Zweifel sind allerdings nicht
        ausgeräumt, denn es fehlt die Flankierung durch andere
        gesetzgeberische Maßnahmen, die helfen, die Agenda 21
        umzusetzen. Außerdem stimmen unpräzise Formulierun-
        gen skeptisch. Meine Skepsis, dass alles so bleibt, wie es
        bisher ist, ist nicht ausgeräumt.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10573
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        Welche Folgen der Umsetzung hat der Satz in der Be-
        schlussempfehlung: „Neue Anforderungen werden aktu-
        ell insbesondere an die Umweltbildung und die entwick-
        lungspolitische Bildung herangetragen“.
        Das ist richtig – schon sehr lange sogar –, doch gerade
        ein Blick auf die aktuelle Umwelt- und Verkehrspolitik
        der Bundesregierung bietet wenig Anlass zu Optimismus.
        Ich sehe nicht, dass die Anerkennung der Notwendigkeit
        der Agenda 21 tatsächlich auch zu einem Umsteuern in
        den genannten Ressorts geführt hat.
        Wie aber soll Umweltbildung glaubhaft vermittelt
        werden, wenn beispielsweise ökologisch sinnvolle Ver-
        kehrsträger wirtschaftlich immer mehr das Nachsehen ha-
        ben und die Politik es geschehen lässt? Es werden immer
        mehr Bahnstrecken stillgelegt. Die Verlagerung von
        Transporten von der Straße auf die Schiene oder auf das
        Wasser ist Lippenbekenntnis geblieben.
        Welche Folgen hat der Satz in der Beschlussempfeh-
        lung, der lautet: „Die Industriestaaten tragen in besonde-
        rer Weise Verantwortung für eine dauerhafte tragfähige
        Entwicklung der Völkergemeinschaft.“ Welche Verant-
        wortung erwächst für uns daraus? Wie wird diese richtige
        Erkenntnis, die letztlich zur Allgemeinbildung gehört, po-
        litisch umgesetzt? Ist Bildung nicht erst dann Bildung,
        wenn sie praktische Konsequenzen hat? Nur dann kann
        man eigentlich von Nachhaltigkeit sprechen.
        Deutschland ist in puncto nachhaltiger Entwicklung
        gegenwärtig alles andere als ein Vorbild. Dieses Einge-
        ständnis wenigstens in einer Formulierung hätte den An-
        trag glaubwürdiger gemacht. So erweckt er den Eindruck,
        wir seien schon ziemlich gut, könnten und wollten jetzt le-
        diglich noch besser und vorbildlicher werden.
        Doch wir können nicht nur, wir müssen besser werden.
        Deshalb wird die PDS diesem Antrag trotz seines Defizits
        an Konsequenz zustimmen. Schon wenn er nur dazu bei-
        tragen sollte, dass das Bewusstsein für die Notwendigkeit
        nachhaltiger Entwicklung nicht nur auf den Schulbänken,
        sondern auch auf den Regierungsbänken wächst, hätte er
        seinen Zweck erfüllt.
        Anlage 4
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Importverbot für
        qualgezüchtete Tiere (Tagesordnungspunkt 14)
        Marianne Klappert (SPD): Um es gleich zu Beginn
        deutlich zu sagen: Wir sprechen hier und jetzt nicht über
        ein Importverbot für Kampfhunde, auch wenn dieses ge-
        genwärtig in aller Munde ist. Und das nicht zu Unrecht,
        auch das will ich betonen. Selbst einer Tierschutzbeauf-
        tragten bleibt nichts anderes übrig, als angesichts des er-
        heblichen Gefährdungspotenzials, das diese Hunde dar-
        stellen, ein solches Importverbot ausdrücklich zu be-
        grüßen. Wir sprechen deshalb nicht über dieses
        Importverbot, weil ein solches nach dem Tierschutzgesetz
        nicht möglich ist. Denn das Tierschutzgesetz regelt den
        Tierschutz, nicht den Menschenschutz. Ein Importverbot
        für Kampfhunde wird aber nicht aus Tierschutzgründen
        ausgesprochen, sondern aus Gründen der öffentlichen Si-
        cherheit und Ordnung. Das fällt dann in die Länderkom-
        petenz. Ich hätte aber nichts dagegen, wenn die Bun-
        deskompetenz vor dem Hintergrund der tragischen Vor-
        fälle in diesem Falle erweitert würde, um schnell und
        konsequent reagieren zu können. Aber das steht auf einem
        anderen Blatt, und wird morgen ausführlich in einer Ak-
        tuellen Stunde debattiert werden.
        Das Thema Qualzüchtungen ist ja auch viel umfang-
        reicher, als es die aktuelle Verengung auf den Bereich
        übersteigerter Aggressivität erkennen lässt. Ich bin mir si-
        cher: Im Ziel sind wir uns hier im Hause alle einig. Und
        dieses Ziel ist, Qualzüchtungen endgültig der Vergangen-
        heit angehören zu lassen.
        Aber wir streiten – nicht zum ersten Mal – über den
        richtigen Weg zu diesem Ziel. Diesmal tun wir es gewis-
        sermaßen mit umgekehrten Vorzeichen. Wir sind in der
        Regierung, Sie in der Opposition. Dass sich aus der Op-
        position heraus leicht Forderungen erheben lassen, um de-
        ren Umsetzung man sich selbst nicht zu bemühen braucht,
        ist eine alte Erfahrung. Dass man es sich aber als Regie-
        rung bzw. als Regierungsfraktion nicht so leicht machen
        kann, auf eine so populäre Forderung einzugehen, weil es
        gewichtige Gründe gibt, die einer solchen Forderung ent-
        weder entgegenstehen oder aber deren Erfüllung schwie-
        rig machen, müssten Sie selbst noch wissen. Wenn Sie es
        inzwischen vergessen haben sollten, erinnere ich Sie jetzt
        daran.
        Bei der 1998 abgeschlossenen Novellierung des Tier-
        schutzgesetzes hat es eine Reihe von Vorschlägen auch
        zur Problematik der so genannten Qualzüchtungen gege-
        ben – einer von CDU und CSU war nicht darunter. Es war
        nicht zuletzt die SPD – im Verbund mit dem Bundesrat –,
        die eindeutige und eindeutig restriktive Regelungen für
        diesen eminent tierschutzrelevanten Bereich gefordert
        hat.
        Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dass
        Züchtungen, die für die Tiere mit Leiden, Schmerzen oder
        Schäden verbunden sind, verboten werden müssen. Wir
        haben immer wieder darauf hingewiesen, dass für die
        Festlegung von Zuchtzielen nicht die Phantasie der Züch-
        ter und der potenziellen Käufer ausschlaggebend sein
        darf, sondern das Wohlbefinden der Tiere. Wir haben im-
        mer wieder darauf hingewiesen, dass es nicht auf das De-
        sign ankommen darf, nicht auf das, was gerade en vogue,
        also Mode ist, sondern was dem Tier dient. Es ist dann in
        das Tierschutzgesetz ein Verbot von Züchtungen aufge-
        nommen worden, bei denen die Tiere bzw. ihre Nach-
        kommen aufgrund anatomischer, physiologischer oder
        ethologischer Merkmale an Gesundheit und Wohlbefin-
        den beeinträchtigt sind. Das war und ist ein großer Fort-
        schritt.
        Allerdings blieb nach wie vor äußerst umstritten, was
        denn nun als Qualzüchtung im Sinne dieses Paragraphen
        zu definieren sei. Deshalb hat das BML eine Gutachter-
        gruppe berufen, die Kriterien für die Auslegung des
        § 11 b Tierschutzgesetz erarbeiten sollte. Zwischenzeit-
        lich – das geht ja auch aus Ihrem Antrag hervor – ist die-
        ses umfangreiche Gutachten vorgelegt, und es finden sich
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10574
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        darin die Beschreibung zahlreicher Qualzüchtungen und
        entsprechende Vorschläge, wie damit umzugehen sei.
        Diese reichen bis zu einem Zuchtverbot.
        Ich weise bewusst darauf hin, dass es Qualzüchtungen
        nicht nur bei Hunden gibt – die gegenwärtige Diskussion
        um die so genannten Kampfhunde suggeriert gelegent-
        lich, dass es nur um krankhafte Aggression bei Hunden
        ginge –, sondern dass in diesem Gutachten Katzen, Ka-
        ninchen und Vögel abgehandelt werden, wobei der Be-
        reich über die Vögel bei weitem der umfangreichste ist.
        Ich weise deshalb besonders darauf hin, um deutlich zu
        machen, dass wir es hier nicht mit einer tagesaktuellen
        Problematik zu tun haben, sondern mit einem über Jahre
        und Jahrzehnte vernachlässigten Tierschutzproblem, das
        weite Bereiche der Heimtierzucht umfasst. Wenn Sie also
        in der Pressemitteilung zu Ihrem Antrag die Kampfhunde
        besonders herausheben, so ist das sicher angesichts der
        gegenwärtigen Diskussion taktisch nicht ungeschickt,
        aber es verengt den Blick, der doch sehr viel umfassender
        sein muss.
        Wie gesagt: Wir waren und sind uns jetzt in dem Ziel,
        solche Qualzüchtungen – ob bei Hunden oder Katzen, ob
        bei Kaninchen oder Vögeln, ja auch in der landwirt-
        schaftlichen Nutztierzucht – unmöglich zu machen, einig.
        Lebewesen dürfen nicht zum Gegenstand blinden Ehrgei-
        zes von Züchtern werden. Wir sind uns jetzt plötzlich auch
        einig in dem Ziel, ein Importverbot für solche Qualzüch-
        tungen erreichen zu wollen. Das ist an sich eine erfreuli-
        che Entwicklung. Aber ich kann Ihnen hier einen Rück-
        griff auf das Novellierungsverfahren zum Tierschutzge-
        setz nicht ersparen. Denn auch bei diesem speziellen Teil
        der Qualzuchtproblematik waren es die SPD-Bundestags-
        fraktion und der Bundesrat, die ein restriktives Verbot der
        Einfuhr bzw. Verbringung von Qualzüchtungen nach
        Deutschland gefordert haben. Ich zitiere aus unserem da-
        maligen Gesetzentwurf:
        Wirbeltiere, an denen Schäden feststellbar sind, von
        denen anzunehmen ist, dass sie den Tieren durch tier-
        schutzwidrige Handlungen zugefügt worden sind,
        dürfen nicht gewerbsmäßig in den Geltungsbereich
        dieses Gesetzes verbracht, gewerbsmäßig in den Ver-
        kehr gebracht oder gewerbsmäßig gehalten werden.
        Im Absatz 2 wird dieses Verbot auch auf die nicht ge-
        werbsmäßig Handelnden ausgedehnt. Damit hätten wir
        eine sehr ausschließliche Gesetzesformulierung gehabt,
        die dem angestrebten Ziel – das jetzt auch Ihr Ziel ist, Kol-
        lege Ronsöhr – sicher mehr gedient hätte, als die dann be-
        schlossene Formulierung, die sich jetzt im Gesetz befin-
        det.
        Die daran beteiligt waren, werden sich erinnern, dass
        wir im Vermittlungsverfahren eine lange und intensive
        Diskussion gerade zu diesem Punkt hatten, und dass
        letztendlich eine Formulierung dabei gefunden wurde, die
        die Absicht deutlich machte, aber wenig hilft zur Ver-
        wirklichung dieser Absicht. Wir haben uns aber – schwe-
        ren Herzens, das dürfen Sie mir glauben – davon über-
        zeugen lassen, dass wir mit einem so restriktiven Verbot,
        wie wir es vorgesehen hatten, gegen EU-Bestimmungen
        und WTO-Regelungen verstoßen hätten. Und deshalb
        kam eine Gesetzesformulierung zustande, die niemanden
        so recht glücklich macht. Zwar ist nach wie vor von einem
        Verbringungsverbot die Rede oder von einer Genehmi-
        gung der Einfuhr bzw. Verbringung, aber das alles wird
        unter den Vorbehalt gestellt, der sich im Schlusssatz des
        § 12 Tierschutzgesetz findet. Dort heißt es – und ich muss
        das wörtlich zitieren, weil es für die Beratung Ihres An-
        trages von Bedeutung ist –:
        Eine Rechtsverordnung nach Satz 1 Nr. 1, 2 oder 3
        kann nicht erlassen werden, soweit diese nicht zur
        Durchführung von Rechtsakten der Europäischen
        Gemeinschaft auf diesem Gebiet erforderlich ist oder
        völkerrechtliche Verpflichtungen entgegenstehen.
        Eine Rechtsverordnung nach Satz 1 Nr. 4 oder 5 kann
        nicht erlassen werden, soweit Gemeinschaftsrecht
        oder völkerrechtliche Verpflichtungen entstehen.
        Das heißt ja nichts anderes, als dass eine nationale
        Regelung von internationalen Bestimmungen abhängig
        ist. Wussten Sie das nicht, als Sie Ihren Antrag stellten?
        Hat sich denn niemand die Mühe gemacht, in den Akten
        des Vermittlungsverfahrens die Vorbehalte der CDU-ge-
        führten damaligen Bundesregierung zu einem Importver-
        bot nachzulesen? Oder sind Sie jetzt der Ansicht, dass das
        CDU-geführte Landwirtschaftsministerium damals falsch
        argumentiert hat? Wir hätten es gerne gesehen, wenn das
        eine unzutreffende Argumentation gewesen wäre. Aber
        nach einer – wie es so schön heißt – belastbaren rechtli-
        chen Prüfung erwies sich diese Argumentation leider als
        kaum angreifbar. Und da sich die internationalen rechtli-
        chen Regelungen nicht geändert haben, hat diese Argu-
        mentation weiterhin Gültigkeit. Diese lässt sich kurz wie
        folgt zusammenfassen: Ein nationales Importverbot für
        Tiere aus Qualzüchtungen ist EU-rechtlich problematisch
        und WTO-rechtlich nicht zulässig. EU-rechtlich proble-
        matisch, weil Einfuhrverbote oder -beschränkungen we-
        der ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch
        eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen
        Mitgliedstaaten darstellen dürfen. WTO-rechtlich un-
        zulässig wäre ein solches nationales Importverbot, weil
        durch eine solche Regelung ein Drittstaat faktisch ge-
        zwungen würde, seine Gesetzgebung den Tierschutzvor-
        schriften der EU bzw. Deutschlands anzupassen. Eine sol-
        che extraterritoriale Anwendung nationaler Gesetzgebung
        ist nach der Rechtsprechung des WTO-Streitschlich-
        tungsorgans unzulässig. Um es deutlich zu sagen: Das
        WTO-Recht lässt keine Einschränkung des Handels aus
        Gründen des Tierschutzes zu. Deshalb hat die damalige
        Bundesregierung den einschränkenden Nachsatz in den
        § 12 eingefügt. Wo sie Recht hatte, hatte sie Recht. Ich
        hätte mir nicht träumen lassen, dass ausgerechnet ich ein-
        mal die CDU-geführte alte Bundesregierung gegen die
        CDU verteidigen müsste. Die Pressemitteilung des Kolle-
        gen Ronsöhr zur Einbringung dieses Antrages hat mich
        vor diesem Hintergrund nicht wenig erheitert. Dort heißt
        es: Da Tierschutz entweder konkret ist oder gar nicht,
        bleibt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit diesem An-
        trag ihrem Prinzip treu, den Tierschutz, wo notwendig und
        möglich, durch Änderungen der entsprechenden Gesetze
        und nicht durch populistische Phrasen zu verbessern.
        Ja, was anderes als eine populistische Phrase ist denn
        Ihr Antrag vor dem Hintergrund völkerrechtlicher Rege-
        lungen? Was anderes als eine symbolische Forderung ist
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10575
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        denn dieser Antrag, angesichts der Tatsache, dass ein sol-
        ches nationales Importverbot – so bedauerlich das auch
        ist – mit internationalen Regelungen nicht in Überein-
        stimmung zu bringen ist? Was anderes, als der Versuch,
        eine schnelle Öffentlichkeitswirkung zu erreichen, ist
        denn die ausdrückliche Verknüpfung Ihres Antrages mit
        der Kampfhundeproblematik? Vor diesem Hintergrund ist
        ihr Antrag alles andere als konkret, weil er nicht umsetz-
        bar ist. Vielleicht könnte man ihn noch als konkrete Poe-
        sie bezeichnen, aber dazu fehlt ihm leider das Poetische.
        Ich will das noch einmal deutlich machen, damit das al-
        les nicht in den falschen Hals kommt: Es ist in der Tat ein
        unerträglicher Tatbestand, dass das deutsche Verbot von
        Qualzüchtungen durch Importe ausgehebelt werden kann.
        Aber mit einem nationalen Importverbot ist diese Uner-
        träglichkeit nicht zu beseitigen. Aber nicht nur völker-
        rechtliche Regelungen machen einen solchen nationalen
        Alleingang problematisch, dem sich die CDU/CSU im
        Übrigen zum Beispiel bei der Käfigbatteriehaltung von
        Legehennen immer verweigert hat; die qualgehaltenen
        Tiere dürfen nicht raus, die qualgezüchteten nicht rein,
        das ist eine etwas merkwürdige Tierschutzlogik.
        Es muss ja immer auch bedacht werden, ob und wie
        und vor allem wie wirkungsvoll sich ein solches Verbot
        kontrollieren lässt. Da scheint mir die sachliche Schwie-
        rigkeit zu liegen. Bis auf wenige Ausnahmen – wenn ein
        Verbot bestimmter Hunderassen erlassen würde, gehörten
        diese zu den wenigen Ausnahmen –, wären für ein Ein-
        fuhr- bzw. Verbringungsverbot Einzelfallprüfungen erfor-
        derlich. Es gibt nur wenige Rassen bzw. Zuchtlinien von
        Heimtierarten, bei denen bei jedem Tier von einem Ver-
        stoß gegen § 11 b des Tierschutzgesetzes ausgegangen
        werden kann. Die Mehrheit der betroffenen Tiere ist dem-
        gegenüber nicht durch offensichtliche Merkmale be-
        stimmbar. Soweit also nicht in den Begleitdokumenten
        Angaben über Erbdefekte enthalten sind, ist eine Einzel-
        fallprüfung durch einen Amtstierarzt zwingend, der den
        Nachweis führen müsste, dass eine Qualzucht vorliegt.
        Das dürfte in vielen Fällen ein aufwendiges und schwie-
        riges Verfahren sein. Die Durchsetzbarkeit eines solchen
        Importverbotes ist also ziemlich fraglich, um es vorsich-
        tig zu formulieren.
        Über ein nationales Importverbot hinaus wird gefor-
        dert, dass Europäische Übereinkommen zum Schutz von
        Heimtieren um ein Import- und Handelsverbot qualge-
        züchteter Wirbeltiere zu ergänzen. Ich gehe davon aus,
        dass die Bundesregierung im Rahmen der in fünfjährigen
        Abständen erfolgenden multilateralen Konsultation eine
        solche Ergänzung vorschlagen wird. Es ist allerdings
        fraglich, ob vor dem Hintergrund, dass nicht alle EU-Mit-
        gliedstaaten beteiligt sind, handelsbeschränkende Maß-
        nahmen und Beschränkung der Einfuhr Unterstützung
        finden würden. Und selbst wenn, stellt sich auch hier die
        Frage nach der praktischen Durchsetzbarkeit entspre-
        chender Bestimmungen.
        Sie werden mir sicher abnehmen, dass der SPD-Bun-
        destagsfraktion diese Qualzuchtproblematik am Herzen
        liegt. Schließlich haben wir uns für eine möglichst res-
        triktive Regelung schon im Novellierungsverfahren zum
        Tierschutzgesetz vehement eingesetzt. Es bleibt aber die
        ärgerliche Tatsache, dass sein gangbarer Weg bislang
        noch nicht in Sicht ist. Es wird aber – und dazu biete ich
        unsere Mitarbeit ausdrücklich an – in den Ausschussbera-
        tungen zu prüfen sein, wie man des Problems Herr wer-
        den kann. Wir sind jedenfalls für jeden praktikablen Vor-
        schlag dankbar.
        Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU/CSU): Seit der
        Mensch Tiere gehalten hat, hat er auch versucht, die Tiere
        durch Zucht für seine Zwecke hin zu verändern. Durch
        diese Weise sind zum Beispiel die verschiedenen Hun-
        derassen für die Jagd entstanden. Die größten züchteri-
        schen Aktivitäten gab es aber bei der Tierhaltung in der
        Landwirtschaft. Zumindest wir von der landwirtschaftli-
        chen Seite kennen die Vielzahl von Rinder-, Pferde- und
        Schafrassen, deren Namen von bestimmten Land-
        schaftstypen abgeleitet sind. Man hat dabei gezielt die
        Tiere herausselektiert, die mit den jeweiligen Umweltver-
        hältnissen am besten zurechtkamen. Sie wissen, dass
        heute besonders im Rinderbereich durch die Fortentwick-
        lung in der Landwirtschaft wie etwa durch den modernen
        Stallbau die Außenbedingungen weithin egalisiert worden
        sind, was zur Folge hat, dass wir heute besondere Tierras-
        sen in Sonderprogrammen erhalten müssen.
        Sicher hat man in der Vergangenheit auch in der Zucht
        unserer Nutztiere Fehler gemacht, indem man in be-
        stimmten Fällen bei der Zucht zu viel Gewicht auf das
        Merkmal Leistung gelegt hatte. Insgesamt kann man aber
        feststellen: Hätten wir es nur mit der Züchtung unserer
        landwirtschaftlichen Nutztiere zu tun, so bräuchten wir
        uns über das heutige Thema der Qualzüchtungen nicht zu
        unterhalten. Diese in dem Gutachten zur Auslegung von
        § 11 b des Tierschutzgesetzes ausführlich beschriebenen
        Verirrungen bei den Zuchtzielen sind sämtlich auf die Be-
        strebungen zurückzuführen, den Tieren eine selbstdefi-
        nierte Art der Schönheit angedeihen zu lassen. Das Er-
        gebnis dieser Bemühungen äußert sich dann in Minder-
        leistung der Sinnesorgane, Deformation des Skelettes,
        geminderte Fortpflanzungsfähigkeit oder auch Verhal-
        tensstörungen, weil die Zucht auf Schönheitsmerkmale
        oder auch auf bestimmte Größenvorstellungen mit Schä-
        den des Tieres gekoppelt sind, die bei diesen Schäden
        oder Leiden auslösen.
        Dieses Problem ist schon seit längerem bekannt und
        man hat bei der Tierschutzgesetzgebung darauf reagiert.
        Nach § 11 b des Tierschutzgesetzes ist es verboten, Wir-
        beltieren Schmerzen, Leiden oder Schäden durch Zucht
        zuzufügen. Es liegt allerdings in der Natur der Sache, dass
        man Auflagen und Verbote nur aussprechen kann, wenn
        man sich dafür auf nachvollziehbare Kriterien stützen
        kann. Das Gutachten zur Auslegung von § 11 b des Tier-
        schutzgesetzes ist dafür eine wertvolle Hilfe. Es ist mir
        klar, dass die Bewertung einer Qualzucht aus Sicht des
        Tierschutzes und aus Sicht der betreffenden Züchter un-
        terschiedlich vorgenommen wird. Sicher gibt es dabei
        auch fließende Übergänge, welche die konkrete Entschei-
        dung schwierig machen. Auf der anderen Seite gibt es
        aber auch genügend eindeutige Fälle, wie das Gutachten
        ausweist. Durch das Tierschutzgesetz ist nach § 11 das
        Bundesministerium ermächtigt, die erblich bedingten
        Veränderungen, Verhaltensstörungen und Aggressions-
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10576
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        steigerungen näher zu bestimmen und dabei insbesondere
        bestimmte Zuchtformen und Rassemerkmale zu verbieten
        oder zu beschränken. Ich fordere die Bundesregierung
        auf, bei den eindeutig tierschutzwidrigen Züchtungen im
        Sinne dieser Ermächtigung tätig zu werden. Ich möchte
        dabei aber gleichzeitig dafür plädieren, dass man hier mit
        Gespür für das Umfeld vorgeht. Hobbyzüchter, die sich in
        Vereinen zusammengeschlossen haben, müssen von dem
        Tierschutzanliegen überzeugt und so mit ins Boot ge-
        nommen werden. Vielerorts wird auch noch Bewusst-
        seinsbildung notwendig sein. Es ist auf jeden Fall positiv
        zu werten, dass an dem Gutachten auch die Züchter und
        Zuchtverbände gearbeitet haben. Vielleicht kann man in
        Zusammenarbeit mit diesen Akteuren die ersten Schritte
        tun.
        Unser Antrag greift ein Problem auf, das bisher noch
        nicht zur Sprache gekommen ist. Während wir hier in
        Deutschland darüber beraten, wie man die Bestimmungen
        des Tierschutzgesetzes in der Praxis umsetzen kann, ist es
        nach der jetzigen Gesetzeslage jedermann jederzeit mög-
        lich, qualgezüchtete Tiere nach Deutschland einzuführen.
        So versuchen wir mühsam, national solche Züchtungen
        einzudämmen, auf der anderen Seite existieren keinerlei
        Schranken gegen die Einfuhr solcher Tiere. Auch zu die-
        ser Problematik sieht das Tierschutzgesetz eine Ermäch-
        tigung vor, durch eine Rechtsverordnung den Import qual-
        gezüchteter Wirbeltiere zu verbieten. Die Bundesregie-
        rung muss diese Ermächtigung nutzen, um die bestehende
        Gesetzeslücke zu schließen.
        Wir sind uns hier alle in dem Ziel einig, ein hohes Tier-
        schutzniveau für die gesamte EU festzuschreiben. Das eu-
        ropäische Übereinkommen zum Schutz von Heimtieren
        ist der geeignete Rahmen, um für die gesamte EU ein Im-
        port- und Handelsverbot für qualgezüchtete Wirbeltiere
        zu erreichen. Ich fordere die Bundesregierung auf, sich
        auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass das euro-
        päische Übereinkommen zum Schutz von Heimtieren ent-
        sprechend ergänzt wird.
        Der Europarat hat sich bereits 1995 eingehend mit dem
        Thema Qualzüchtung befasst, insofern sind die Vertrags-
        parteien für das Thema Qualzüchtung bereits sensibili-
        siert. Nutzen wir diese Chance!
        Zuletzt möchte ich noch ein Thema ansprechen, das
        wegen der schrecklichen Vorkommnisse in der jüngsten
        Zeit Politik und Öffentlichkeit stark beschäftigt, nämlich
        die Kampfhunde. Unser Antrag „Importverbot für qual-
        gezüchtete Tiere“ umfasst auch diesen Problembereich,
        da nach Aussagen des Gutachtens die Zucht auf ein über-
        steigertes Angriffs- und Kampfverhalten ein artgemäßes
        Sozialverhalten der Hunde verhindert, worin sich eine
        Form des Leidens manifestiert. Würde unserem Antrag
        gefolgt, wäre folglich auch die Einfuhr dieser Kampf-
        hunde verboten und strafbar. Wie wichtig das wäre, zei-
        gen uns Medienberichte. Danach werden vor allem in Ost-
        europa in großer Zahl Kampfhunde von klein an auf Ag-
        gressivität getrimmt und dann gleichsam als „lebende
        Waffe“ nach Deutschland verkauft.
        Ich bin nicht der Meinung, dass unser Antrag das Pro-
        blem der Kampfhunde beseitigt. Klar ist aber, dass jetzt
        Nägel mit Köpfen gemacht werden müssen. Zurzeit wird
        vielerorts an gesetzlichen Maßnahmen gezimmert. Es
        bleibt abzuwarten, ob es zu einer Lösung kommt, die das
        Problem Kampfhunde bundesweit in den Griff bekommt.
        Sollte das Verbot der Einfuhr von aggressiven Hunderas-
        sen über andere Wege erreicht werden, soll mir das recht
        sein. Dann bliebe aber noch immer die große Zahl der
        übrigen Qualzuchten, die über die Grenzen wandern. Ich
        fordere Sie deshalb auf, unserem Antrag zuzustimmen
        und nicht in vorauseilendem Gehorsam auf eventuelle Be-
        denken des Justizministeriums Rücksicht zu nehmen.
        Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Als
        der Punkt „Import qualgezüchteter Tiere“ auf die Tages-
        ordnung des heutigen Plenums gesetzt wurde, konnte nie-
        mand die tragische Aktualität ahnen. Die Gefahren durch
        gefährliche Hunde und insbesondere durch unverantwort-
        liche Halter müssen unbedingt gebannt werden. Dafür be-
        darf es eines abgestimmten Maßnahmebündels, wie es die
        Länder seit langem diskutieren, die Innenminister auch
        bereits verabschiedet und die Bundesregierung es jetzt
        sehr schnell für den von ihr zu beeinflussenden Bereich
        formuliert hat: ein Zuchtverbot für Kampfhunde, für die
        Hunderassen American Pitbull-Terrier, American Staf-
        fordshire-Terrier und Staffordshire-Terrier, aber auch für
        potenziell gefährliche Rassen und Kreuzungen. Seine
        Umsetzung wird vom BML geprüft. Das Halten gefährli-
        cher Tiere soll nur noch mit Erlaubnisvorbehalt gestattet
        sein. Verstöße gegen Zucht- und Haltungsverbote sollen
        strafrechtlich geahndet werden, und zwar nicht nur durch
        Geld, sondern auch durch Freiheitsstrafen. Städte und Ge-
        meinden werden nachdrücklich darauf hingewiesen, be-
        reits bestehende rechtliche Möglichkeiten zu nutzen, um
        den Leinen- und Maulkorbzwang für gefährliche Hunde
        konsequent durchzusetzen.
        Mit dem jetzt geplanten Hundehalterführerschein und
        einer Eignungsprüfung wird eine alte grüne Forderung
        endlich aufgegriffen. Auch am Thema Importverbot für
        qualgezüchtete Tiere, das auch in diesen Maßnahmenka-
        non gehört, arbeiten wir schon lange. Bündnis 90/Die
        Grünen haben sich bereits in ihrem Entwurf zur Novellie-
        rung des Tierschutzgesetzes 1995 für ein Importverbot
        qualgezüchteter Tiere ausgesprochen.
        Wir konnten seinerzeit im Vermittlungsausschuss bei
        der Novelle des Tierschutzgesetzes die Einführung einer
        Ermächtigungsgrundlage im § 12 (2) Nr. 4 erreichen, die
        das Importverbot für Qualzüchtungen ermöglicht. Ihre
        rechtliche Umsetzung ist allerdings umstritten. Das BML
        prüft derzeit, wie sie zu bewerkstelligen ist. Allerdings ist
        dieser Passus in erster Linie eine Bestimmung des Tier-
        schutzes. Ein Gutachten des BML nennt als notwendige
        Zuchtziele Gesundheit und Vitalität, Vermeidung enger
        Verwandtschaftszucht, Vermeidung exzessiver anatomi-
        scher, physiologischer und ethologischer Übertreibungen,
        also Übertypisierung, Vermeidung bzw. Begrenzung von
        Erbkrankheiten und Defekten sowie den Ausschluss von
        Rassen, deren spezifischer Typus nur durch Merkmale er-
        zielt werden kann, die bei den Elterntieren und/oder ihren
        Nachkommen bzw. ihrer Nachzucht zu Schmerzen, Lei-
        den oder Schäden führen können. Die Gutachter empfeh-
        len bei vielen Züchtungen ein Verbot, zum Beispiel für
        das Araucauna-Huhn mit den so genannten Ohrbommeln.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10577
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        Die Züchtung führt zur Deformationen der Gehörgänge
        bis hin zur Taubheit.
        Zum Thema Kampfhunde empfehlen die Gutachter, ei-
        nen Wesenstest zu fordern, in dem die Fähigkeiten zu so-
        zialem Verhalten gegenüber Artgenossen nachzuweisen
        ist. Sie sprechen sich zudem für ein Zuchtverbot für Tiere
        aus, die den Wesenstest nicht bestehen.
        Gegen das Importverbot bestehen EU-rechtliche Be-
        denken, weil Einfuhrverbote oder Beschränkungen weder
        ein Mittel zur Diskriminierung noch eine verschleierte
        Beschränkung des Handels zwischen Mitgliedstaaten dar-
        stellen dürfen. Diese Bedenken sollten jetzt schnellst-
        möglich ausgeräumt werden, wie wir insgesamt davon
        überzeugt sind, dass nach dem Schock der letzten Tage die
        Politik jetzt in großer Übereinstimmung zu den richtigen
        Maßnahmen – wir diskutieren das gesamte Thema ja noch
        ausführlich – finden muss und wird, damit es zu keiner
        weiteren Gefährdung von Menschen durch gefährliche
        Hunde kommt.
        Ulrich Heinrich (F.D.P.):Die aktuellen – schlimmen –
        Vorkommnisse mit Kampfhunden erfordern sofortiges
        Handeln. Kritisch ist allerdings anzumerken, dass alles,
        was der Bundesinnenminister und die Innenminister der
        Länder jetzt in höchster Eile umsetzen, schon lange dis-
        kutiert und seit Mai bereits von den Innenministern ver-
        abredet war. Wieso haben Sie nicht schon im Mai gehan-
        delt, Herr Schily? Mit Ihrem Zögern haben Sie den Men-
        schen und uns, der Politik, einen schlechten Dienst
        erwiesen. Zu Recht beklagen die Menschen und die Me-
        dien unseren Aktionismus. Zu Recht wird der Vorwurf er-
        hoben, die Politik handele immer erst dann, wenn es be-
        reits zu spät sei. Leider auch in diesem Fall.
        Dennoch gehen die jetzt beschlossenen Maßnahmen in
        die richtige Richtung:
        Erstens. Das Bundeskabinett beauftragte den Bundes-
        landwirtschaftsminister, eine Initiative für ein Zucht- und
        Importverbot von Kampfhunden vorzulegen. Das Kabi-
        nett will in zwei Wochen eine Gesetzesänderung zum
        Tierschutzgesetz beschließen.
        Zweitens. Das Bundesjustizministerium hat den Auf-
        trag, ein Konzept zu erarbeiten, wie Verstöße gegen die
        Verbote bestraft werden sollen. Dabei geht es um Geld
        und Freiheitsstrafen.
        Drittens. Richtig sind zudem die strikten Maßnahmen,
        die in den Ländern, zum Beispiel Hamburg, vollzogen
        werden.
        Notwendig ist allerdings auch, dass das ganze Paket an
        Regelungen endlich vor Ort eingehalten und streng von
        der Polizei und den zuständigen Behörden kontrolliert
        wird. Es hilft nichts, wenn der Bund die Verantwortung
        auf die Länder schiebt und diese wieder mit dem Zeige-
        finger auf die Kommunen zeigen.
        Im Vermittlungsausschuss haben wir über alle Frakti-
        onsgrenzen hinweg 1998 das Verbot von Qualzüchtungen
        im neuen Tierschutzgesetz beschlossen. Damit hat der
        Grundsatz, dass niemand einem Tier ohne vernünftigen
        Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen darf,
        eine weitere beispielhafte Konkretisierung im Tierschutz-
        gesetz erfahren. Die Durchsetzung dieses gesetzlichen
        Grundsatzes bei der Zucht von Tieren ist im § 11 b Tier-
        schutzgesetz geregelt. Das heißt, bei der Zucht von Tieren
        soll möglichst jede Form des Schmerzes, Leidens oder der
        Schädigung von Tieren verhindert werden.
        Wo aber liegt die Grenze zwischen zulässiger Zucht
        und verbotener Qualzucht? Das BML-Gutachten zur Aus-
        legung von § 11 b des Tierschutzgesetzes konnte nicht alle
        Streitpunkte zwischen Tierschützern und -züchtern besei-
        tigen. Dennoch trägt das Gutachten dazu bei, wichtige
        Definitionshilfen zu geben und so einen noch besseren
        Tierschutz in Deutschland durchzusetzen. Tierschutzwi-
        drige Rassestandards und Übertypisierungen bei der
        Zuchtauswahl werden auch weiterhin kontrovers zwi-
        schen den widerstreitenden Parteien diskutiert werden
        müssen. Im Zusammenhang mit dem Thema „Kampf-
        hunde“ herrscht aber hoffentlich Einigkeit darüber, dass
        Aggressionszucht gleich Qualzucht ist.
        Auf nationaler Ebene müssen wir selbstverständlich
        unsere Hausaufgaben erledigen, um die Menschen vor
        aggressiv gezüchteten Hunden zu schützen. Ein Import-
        verbot für Qualzüchtungen bestimmter Hunderassen ins-
        besondere aus Osteuropa ist aber schon lange überfällig.
        In diesem Punkt sollten alle Fraktionen gemeinsam mit
        der Bundesregierung und den Züchterverbänden schnells-
        tens wirksame Lösungen finden. Leider hat der Tierschutz
        in Europa und außerhalb Europas nicht den Stellenwert
        wie in Deutschland. Der Antrag der CDU, den Import
        qualgezüchteter Wirbeltiere nach Deutschland zu verbie-
        ten und eine entsprechende europarechtliche Änderung
        herbeizuführen, geht daher voll in die richtige Richtung.
        Selbstverständlich wird die F.D.P. den vorliegenden An-
        trag unterstützen.
        Richtig ist aber auch, das eine zu tun, ohne das andere
        zu unterlassen. In einer Presseverlautbarung von Anfang
        Juni kritisiert der agrarpolitische Sprecher der CDU/CSU
        „populistische Phrasen“ im Tierschutzbereich. Lieber
        Herr Kollege Ronsöhr, Sie sollten nicht das, was Ihre
        Parteifreunde in der CDU und CSU in den Ländern längst
        in die Landesverfassungen aufgenommen haben, derartig
        durch den Kakao ziehen. Ich sage Ihnen voraus, dass auch
        die CDU/CSU-Bundestagsfraktion früher oder später für
        eine Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz stim-
        men wird.
        Eva-Maria Bulling-Schröter (PDS): Paragraph 11 b
        des Tierschutzgesetzes verbietet Wirbeltiere zu züchten,
        wenn damit gerechnet werden muss, dass bei der Nach-
        zucht erblich bedingt Körperteile oder Organe fehlen, un-
        tauglich oder verunstaltet sind und den Tieren dadurch
        Schäden, Leiden oder Schmerzen zugefügt werden. So
        weit, so gut.
        Nur logisch folgerichtig ist dann auch, dass es ein Im-
        portverbot für derlei qualgezüchtete Tiere geben muss.
        Deshalb ist es selbstverständlich, dass die PDS-Fraktion
        den Antrag des Importverbots für qualgezüchtete Tiere
        unterstützt.
        Ein Importverbot ist die eine Seite der Medaille. Auch
        in diesem Lande werden Tiere qualgezüchtet, ohne dass
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10578
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        dagegen irgendwelche Sanktionen greifen. Auch in die-
        sem Lande werden ganze Rassen kaputt gezüchtet; denn
        das Interesse an der schnell verdienten Mark tritt bei vie-
        len Züchtern in den Vordergrund und führt dazu, dass
        zahlreiche Deformationen weitergegeben werden.
        Auch ziehe ich Rassestandards, besonders wenn sie
        überzogen sind, in Zweifel. Nicht der gesunde Pekinese,
        Mops oder die Bulldogge werden in einer Rasseschau prä-
        miert, sondern der Hund, der durch seine extreme Verkür-
        zung des Gesichtsschädels dem gesteckten Ziel Kurz-
        köpfigkeit nahe kommt. Viele Hunde leiden unter massi-
        ven Atemproblemen und Gaumenspalten. Die Neigung zu
        Schwergeburten ist oft die Regel.
        Dackel wurden langgezüchtet und leiden oft furchtbar
        unter der Dackellähme, einem Bandscheibenvorfall, der
        häufig nur operativ behoben werden kann. Die Existenz
        anderer Hunderassen wird durch Scheinargumente be-
        gründet, wie zum Beispiel die Verträglichkeit von Nackt-
        hunden für Allergiker.
        Dass diese Tiere mit einem Letalfaktor behaftet sind,
        der die reinerbigen Nachkommen bereits in der Gebär-
        mutter absterben lässt, interessiert Züchter dieser Rasse
        nicht. Auch die Tatsache, dass der Verlust des Haarkleides
        genetisch mit einer anomalen Verdickung der Haut und
        extremen Fehlstellung der Zähne einhergeht, ist von un-
        tergeordneter Bedeutung. Bei einigen Hühnerrassen ist
        die so genannte Schwanzlosigkeit ein Merkmal. Aufgrund
        dieser Missbildung fehlen nicht nur Schwanzgefieder und
        Bürzeldrüse, sondern auch hintere Abschnitte der Wirbel-
        säule. Vor dem Schlupf und in den ersten Lebensmonaten
        sterben fast doppelt so viele Tiere wie bei normalschwän-
        zigen Hühnern. Außerdem haben schwanzlose Hühner-
        küken häufiger Probleme beim Kotabsatz bis hin zum
        Verschluss der Kloakenöffnung durch festklebenden Kot.
        Das sind einige Beispiele zur Zwangszucht. Die Liste
        ließe sich noch lange fortsetzen. Von daher meine ich, ein
        Importverbot für qualgezüchtete Tiere ist sinnvoll und
        notwendig. Aber ich meine auch, dass wir hier in diesem
        Land etwas gegen die tierschutzwidrigen Qualzuchten tun
        müssen. Es kann nicht sein, dass aus Profitgründen oder
        abnormen Züchterehrgeiz Tiere von Geburt an leiden
        müssen.
        Ich fordere Sie hiermit auf, endlich dafür Sorge zu tra-
        gen, dass auch der Paragraph 11 b des Tierschutzgesetzes
        tatsächlich durchgesetzt wird und Rassemerkmale nach
        derlei Kriterien untersucht werden. Wir haben auch eine
        Verantwortung für diese bedauernswerten Kreaturen. Ich
        meine, wir sollten sie ernst nehmen.
        Anlage 5
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung: Be-
        kämpfung der sinkenden Zahlungsmoral durch
        Änderung des Umsatzsteuerrechtes (§ 20 UstG)
        (Tagesordnungspunkt 16)
        Simone Violka (SPD): Sinkende Zahlungsmoral ist
        vorrangig ein Problem der seit vielen Jahren auch sinken-
        den Moral in unserer Gesellschaft. Anders ist es nicht
        nachzuvollziehen, wenn sich Firmen, aber auch Privat-
        verbraucher daran gewöhnt haben, erst nach der drittten
        Mahnung eine Rechnung zu bezahlen ohne ein schlechtes
        Gewissen zu bekommen. Dadurch entstehen besonders
        für Selbstständige, Handwerker, aber auch kleine und
        mittlere Betriebe oft existenzgefährdende Situationen. Sie
        müssen meist schon vorher mit Lohn- und Materialkosten
        in Vorleistung gehen und sind darauf angewiesen, dass
        ihre berechtigten Forderungen auch tatsächlich und
        schnellstens erfüllt werden.
        Vor allem in den neuen Bundesländern war und ist das
        täglich ein Thema. Denn wo Arbeitnehmer den Mut ha-
        ben, zu Unternehmern zu werden, wo kaum Eigenkapital-
        mittel vorhanden sind und der Kredit gerade mal für einen
        Unternehmerstart light reicht, muss mit jeder Mark dop-
        pelt gerechnet werden. Aber ausbleibende Zahlungen von
        berechtigten Forderungen treffen nicht nur Betriebe und
        Handwerker in den neuen Ländern. Nur treten dort noch
        heute oftmals die Auswirkungen schneller und härter auf.
        Wir alle sehen die Handwerkerfrauen, die vor dem
        Brandenburger Tor in den Hungerstreik getreten sind,
        weil sie durch säumige Auftraggeber unverschuldet ihrer
        Existenz beraubt wurden. Sie alle erhoffen sich Hilfe von
        der Politik, aber vielleicht auch von der Gesellschaft, der
        in diesen Tagen vor Augen geführt wird, was passiert,
        wenn den Verpflichtungen nicht oder viel zu spät nachge-
        kommen wird.
        Ich denke, wir alle sind uns einig, dass die schon seit
        Jahren sinkende Zahlungsmoral ein sehr großes Problem
        ist, das man anpacken muss. Nun kommt es aber darauf
        an, dieses Problem an der richtigen Stelle anzupacken. Ich
        bin nicht wie die PDS der Meinung, das durch Änderung
        des Umsatzsteuerrechts erreichen zu können, zumal im
        Antrag der PDS das Modell zur Umsatzsteuerberechnung
        auf vereinnahmten Entgelten als Option vorgeschlagen
        wird und ich nicht bereit bin zu glauben, ein säumiger
        Schuldner würde sich freiwillig für dieses System ent-
        scheiden und sich damit selbst der Möglichkeit berauben,
        seine Mehrwertsteuer sofort nach Rechnungserhalt vom
        Finanzamt einzufordern. Also greift die Grundidee bereits
        an dieser Stelle ihres Antrages ins Leere.
        Nachdem in der letzten Legislaturperiode die abge-
        wählte Bundesregierung ihre Möglichkeiten nicht genutzt
        hat, sich dieses Problems auch in einem Gesetzentwurf
        anzunehmen, haben wir nicht erst viele Jahre verstreichen
        lassen, um auf diesem Gebiet Abhilfe zu schaffen. Wir
        haben nicht lange geredet, sondern gehandelt. Natürlich
        können Politik und Gesetze nicht alles für einen Unter-
        nehmer regeln, aber sie müssen ihn in die Lage versetzen,
        besser und reibungsloser sein Recht durchzusetzen.
        Da es mittlerweile schon schick war, seine Rechnung
        erst nach der dritten Mahnung zu bezahlen, haben wir mit
        unserem Gesetz zur Beschleunigung fälliger Zahlungen
        dafür gesorgt, dass der Verzug von Geldforderungen be-
        reits automatisch nach 30 Tagen eintritt und nicht erst
        nach der dritten Mahnung. Gleichzeitig werden die Ver-
        zugszinsen auf 5 Prozent über dem Diskontsatz angeho-
        ben, damit der Auftraggeber eine höhere Hemmschwelle
        hat, die begründeten Zahlungen zu verweigern und den
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10579
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        Auftragnehmer als für ihn billigen Kreditgeber zu miss-
        brauchen.
        Wir haben auch dafür gesorgt, dass Abschlagszahlun-
        gen zum gesetzlichen Leitbild des Werkvertragsrechts
        gehören. Das hilft dem Unternehmer, seine geldliche Vor-
        leistung für zum Beispiel Material in Grenzen zu halten.
        Aber auch der Verbraucher bekommt Rechtssicherheit,
        denn der Abschlag kann nur gefordert werden, wenn ent-
        sprechende Leistungen auch erbracht wurden und bzw.
        oder der Besteller Eigentum daran erhält. Damit wird
        auch in gewissem Maße einer Forderung der Handwerker
        entsprochen, die immer wieder beklagen, dass sie keinen
        Anspruch mehr auf eingebaute Materialen haben, auch
        wenn die Rechnung ungetilgt bleibt. Diese Abschlagszah-
        lungen können die Höhe einer nicht erbrachten Zahlung
        erheblich mindern und die verbauten Materialien können
        schon während der Bauphase berechnet und zur Zah-
        lungsanweisung gebracht werden.
        Viele Vergütungsforderungen aus der Bauwirtschaft
        werden durch den Streit um tatsächlich oder angeblich
        vorhandene Mängel behindert. Dieses Problem kann
        natürlich nicht einfach durch ein Gesetz aus der Welt ge-
        schaft werden. Eine Teillösung konnte aber erreicht wer-
        den, weil die Abnahme wegen unerheblicher Mängel
        nicht mehr vollständig verweigert werden kann. Ein paar
        gesprungene Fliesen im Bad werden also nicht mehr dazu
        führen, dass die Bezahlung der Rechnung für das ganze
        Haus ausbleibt. Wenn sich die beiden Vertragspartner
        über Art und Umfang der Mängel nicht einig werden,
        kann der Unternehmer einen unabhängigen Gutachter be-
        stellen. Wenn keine Mängel vorliegen, kann der Gutach-
        ter eine Fertigstellungsbescheinigung ausstellen und da-
        mit kann dann der Beurkundungsprozess stattfinden.
        In dem Gesetz wurde auch eine erhebliche Verbesse-
        rung für Subunternehmer geschaffen, denn oft leisten
        diese Subunternehmer ordentliche Arbeit und schauen
        danach beim Geld in die Röhre. Das liegt in vielen Fällen
        nicht daran, dass der Kunde ein säumiger Zahler ist, son-
        dern daran, dass der Hauptauftragnehmer dieses Geld
        nicht an die Subunternehmer weitergibt. In dem Gesetz,
        welches nun schon seit 1. Mai 2000 in Kraft ist, wird in
        dieser Beziehung endlich eine klare Regelung getroffen.
        Der Zahlungsanspruch des Subunternehmers besteht, so-
        bald der Besteller an den Hauptunternehmer zahlt.
        Die PDS-Fraktion sieht also, dass wir uns darüber Ge-
        danken gemacht haben, wie man den Unternehmern und
        Unternehmen in diesem Land hinsichtlich berechtigter
        Forderungen helfen kann. Die Zahlungsmoral aber kann
        man per Gesetz nur schlecht verbessern, denn wie das
        Wort Moral schon sagt, hat Zahlungsmoral etwas mit Ver-
        antwortungsbewusstsein, Disziplin, Ethos und Fairness
        zu tun, und diese Dinge kann man nicht per Gesetz errei-
        chen, so schön das auch wäre. Das muss in den Köpfen
        aller reifen. Jeder muss einsehen, dass er mit seinem Ver-
        halten jemand anderem schadet. Es kann nicht angehen,
        dass ein Bauunternehmer Schneider wegen seiner schein-
        bar cleveren geschäftlichen Aktivitäten noch bewundert
        wird, weil es ihm vielleicht gelungen ist, die Banken zu
        linken. Er hat nicht nur die Banken gelinkt, er hat vor al-
        lem mit der Existenz von vielen ehrlichen Handwerkern
        und Unternehmern gespielt. So etwas darf nicht bewun-
        dert und unterstützt werden. Diese Menschen sind nicht
        anonym, sie haben Namen und Gesichter, wie die Frauen
        vor dem Brandenburger Tor.
        Ich will an dieser Stelle aber auch nicht unerwähnt las-
        sen, dass das Gesetz schon immer für den Auftragnehmer
        die Möglichkeit vorsah, sich von vornherein besser abzu-
        sichern. Bei großem Auftragsvolumen kann der Auftrag-
        nehmer vom Auftraggeber eine Bankbürgschaft verlan-
        gen, auch noch nach Unterzeichnung des Auftrages. Al-
        lerdings macht vor allem in der Baubranche kaum einer
        von diesem Recht Gebrauch, weil in dieser Branche das
        Bestehen auf einer Bankbürgschaft mit Misstrauen in die
        Integrität des Auftraggebers gleichgesetzt wird und man
        Angst hat, danach nie wieder einen Auftrag zu erhalten. In
        der Industrie sind solche Bürgschaften zwischen Ver-
        tragspartnern inzwischen gang und gäbe. Und auch im
        Kreditwesen ist es völlig üblich und legitim, Sicherheiten
        zu verlangen. Ich kann an dieser Stelle nur an die Unter-
        nehmer appellieren, von diesem Recht Gebrauch zu ma-
        chen, denn nur wenn es alle tun, wird es auch in allen
        Wirtschaftsbereichen als Normalität anerkannt werden
        können.
        Das geltende Umsatzsteuergesetz bewährt sich schon
        seit vielen Jahren, und da wir Ihren Antrag ablehnen wer-
        den, wird es sich in dieser Form auch weiterhin bewähren.
        Ich erkenne an, dass Sie etwas gegen die sinkende Zah-
        lungsmoral tun wollen, aber Ihr Antrag ist nicht unbedingt
        ein geeignetes Mittel dazu. Ich habe Ihnen aufgezeigt und
        an Beispielen verdeutlicht, was in unserem Gesetz zur Be-
        schleunigung fälliger Zahlungen alles verankert ist. Das
        alles sind Maßnahmen, die den Betroffenen tatsächlich
        helfen können. Aber leider haben Sie sich, als dieses Ge-
        setz im Bundestag zur Abstimmung stand, der Stimme
        enthalten. Für mich ist das nicht nachvollziehbar.
        Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Das Thema
        an sich ist nicht neu. Wir haben im Februar schon einmal
        über diese Problematik beraten. Sie, meine Damen und
        Herren von der Koalition, sind dabei auf halbem Wege
        stehen geblieben. Sicherlich hat es Erleichterungen und
        Verbesserungen gegeben, aber das von uns vorgeschla-
        gene Bauvertragsgesetz hätte viel nachhaltiger gewirkt.
        Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch einmal daran er-
        innern, dass anstelle einer wirklichen Lösung nur ein „ma-
        geres SPD-Spätzchen“ ins Werk gesetzt wurde, wie das
        der Kollege Freiherr von Stetten damals ausgedrückt hat.
        Der Antrag spricht ein wichtiges Problem an. Sie ha-
        ben die Fragen in Ihrem ursprünglichen Antrag – Druck-
        sache 14/99 – anschaulich verdeutlicht. Ich will die Ana-
        lyse hier noch einmal vortragen:
        Die Zahlungsmoral hat sich in den letzten Jahren in der
        Bundesrepublik Deutschland zur „Zahlungsunmoral“ und
        damit zu einer existenziellen Bedrohung des gesamten
        Wirtschaftslebens entwickelt. Gewerbliche Rechnungen
        wurden in Deutschland 1997 durchschnittlich nach 65 Ta-
        gen bezahlt – 1985 waren es noch 55 Tage. Zwischen ers-
        tem und drittem Quartal 1998 verschlechterte sich das
        Zahlungsverhalten bei 25 Prozent der westdeutschen und
        45 Prozent der ostdeutschen privaten Schuldner bzw.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10580
        (C)
        (D)
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        34 Prozent – West – und 51 Prozent – Ost – der gewerbli-
        chen Schuldner. Kein gesellschaftlicher Bereich, auch
        nicht die öffentliche Hand, ist von dieser Entwicklung
        ausgenommen. Der Zahlungseingang für Schlussrech-
        nungen an Behörden des Bundes und der Länder erfolgt
        mittlerweile durchschnittlich erst nach rund 100 Tagen,
        obwohl zum Beispiel nach Verdingungsordnung Bau,
        VOB, solche Rechnungen innerhalb von zwei Monaten zu
        begleichen sind. Hierzu ist mir ein ganz krasser Fall im
        Zusammenhang mit dem Bau des Bundesamtes für Strah-
        lenschutz bekannt geworden, wo 6-stellige Summen erst
        nach erheblichen Interventionen ausgezahlt wurden und
        ein Handwerksbetrieb in Existenznot geraten ist. Das ist
        allerdings kein Einzelfall. Die Prüfungszeiten sind unan-
        gemessen lang.
        Nach Untersuchungen im sächsischen Bau- und Aus-
        baugewerbe mussten 1997 und 1998 sachsenweit rund
        2 bis 3 Prozent aller Forderungen für Bauleistungen ab-
        geschrieben werden. 1995 und 1996 waren das nur etwa
        1 bis 1,5 Prozent. Das sind 600 Millionen DM aus Bau-
        leistungen, die jedes Jahr verloren gehen. 4 Milliarden
        DM wurden erst nach Mahnungen und unter Zeitverzug
        von 6 Monaten ausgeglichen. 20 Prozent aller Forderun-
        gen wurden für strittig erklärt. Das ist nicht nur in Sach-
        sen, sondern überall in den neuen Bundesländern so.
        Zahlungssäumnisse beim Kunden führen zu einem ver-
        späteten Geldeingang beim Gläubiger. Das verschlechtert
        die Liquidität und nötigt oder motiviert ihn selbst zu
        schlechterem Zahlungsverhalten, was wiederum dessen
        eigene Gläubiger in Schwierigkeiten bringen kann. Ein-
        schränkung der wirtschaftlichen Aktivität bis hin zur In-
        solvenz und dadurch bedingte Arbeitslosigkeit sind die
        Folge. Letztere wiederum ist eine maßgebliche Ursache
        für immer schlechteres Zahlungsverhalten der privaten
        Verbraucher. Dieses aber wirkt sich erheblich auf die Li-
        quidität im gewerblichen Bereich, insbesondere von Ein-
        zelhändlern, Baugewerbebetrieben und anderen Hand-
        werkern aus. Dieser Teufelskreis führt nicht nur über die
        sich so beschleunigende Pleiten-Spirale zu enormen
        volkswirtschaftlichen Verlusten. Der Rekord von 27 828 Un-
        ternehmensinsolvenzen 1998 zog Forderungsausfälle von
        59 Milliarden DM und den Verlust von rund 500 000 Ar-
        beitsplätzen nach sich. Hauptursachen der Pleiten wa-
        ren laut Creditreform außer Managementproblemen vor
        allem Finanzierungsschwierigkeiten, bedingt durch mise-
        rable Zahlungsmoral.
        Daneben wird dieser Teufelskreis aber auch durch kri-
        minelles Handeln in Schwung gehalten, welches die ge-
        sellschaftliche Moral immer weiter untergräbt. So ergab
        eine Umfrage des Bundesverbandes Deutscher Inkasso-
        unternehmen unter seinen Mitgliedern: „Vorsatz“ sei mit
        45 Prozent inzwischen drittwichtigste Ursache für sin-
        kende Zahlungsmoral bei privaten Schuldnern – nach
        „Arbeitslosigkeit“ 87 Prozent, und „Überschuldung,
        80 Prozent, aber deutlich vor „Liquiditätsengpass“,
        28 Prozent, und „Vergesslichkeit“, 9 Prozent, Mehrfach-
        nennung möglich. Die heutige Rechtsordnung und
        -anwendung macht es finanziell potenten Auftraggebern
        zu leicht, sich auf Kosten schwächerer Auftragnehmer zu
        bereichern.
        Die Sachlage ist klar. Ob die Änderungen vom Früh-
        jahr dieses Jahres wirklich etwas bewirkt haben, wissen
        wir noch nicht.
        Wenn ich das richtig verstanden habe, wollen Sie mit
        Ihrem Antrag aus der Drucksache 14/1878 langfristig eine
        Umstellung bei der Mehrwertsteuer von der „Soll-Ver-
        steuerung“ zur „Ist-Versteuerung“. Das klingt zunächst
        ganz einfach und Sie machen es sich recht leicht, wenn
        Sie in der Begründung schreiben: „Zusätzliche Kosten
        entstehen nicht, da sich nur der Zeitpunkt der Einnahme
        verschiebt.“ Schon dies ist falsch. Bei einem Aufkommen
        von rund 230 Milliarden DM aus der Mehrwertsteuer und
        5 Prozent Zinsen macht das einen Zinsverlust von fast
        1 Milliarde DM aus. Das ist keine Kleinigkeit.
        Eine derartige Veränderung würde aber auch handels-
        rechtliche Probleme aufwerfen. Wenn ein Unternehmen
        Waren in Rechnung gestellt hat und der Kaufpreis fällig
        ist, muss dieser Vermögensposten in der Bilanz ausge-
        wiesen werden. Damit verbunden ist aber auch die Steu-
        erschuld gegenüber dem Finanzamt. Deshalb ist diese
        ebenfalls in der Bilanz auszuweisen. Wenn nun bei der
        Mehrwertsteuer zum Ist-System übergegangen würde,
        fielen der Ausweis von Vermögenszufluss und Steuerver-
        bindlichkeit unterschiedlich aus. Dies kann nicht hinge-
        nommen werden, deshalb gibt es einen guten Grund für
        die Soll-Versteuerung jenseits jeglicher fiskalischer Argu-
        mente. Deshalb ist ein Systemwechsel abzulehnen.
        Dem steht auch nicht entgegen, dass es gegenwärtig für
        Kleinunternehmer bis zu 250 000 DM Umsatz bzw. 1Mil-
        lion DM Umsatz in den neuen Bundesländern nach § 20
        Umsatzsteuergesetz eine Optionsmöglichkeit gibt. Dies
        betrifft in der Regel Unternehmen, die nicht zur doppel-
        ten Buchführung verpflichtet sind, sondern bei denen eine
        einfache Einnahme-Überschussrechnung ausreicht. Bei
        diesen stellt sich das rechtliche Problem des Abweichens
        in der Bilanz nicht.
        Sie wollen durch eine Verlagerung der Fälligkeit die
        Zahlungsbereitschaft von Unternehmen verbessern. Der
        von Ihnen vorgeschlagene Weg ist dazu völlig ungeeignet.
        Wenn man davon ausgeht, dass nach Ihrem Konzept Vor-
        steuer-Abzug und Mehrwertsteuer gleichzeitig fällig wer-
        den sollen, dann kann sich der Liquiditätsvorteil, der da-
        raus erwächst, nur auf die steuerpflichtige Wertschöpfung
        des Unternehmens beziehen. Bei einer Umsatzrendite von
        10 Prozent und einem Umsatz von 1 Million DM wäre das
        ein Betrag von 100 000 DM. Der Mehrwertsteueranteil
        darauf beträgt 16 000 DM. Geht man nun von einer durch-
        schnittlichen Zahlungszeit von 65 Tagen aus, wie Sie das
        in Ihrem Antrag vom 20. April 1999 auf Drucksa-
        che14/799 fordern, dann bedeutet das, dass 16 000 DM ma-
        ximal 65 Tage später als nach geltendem Recht abgeführt
        werden. Bei einer 10-prozentigen Verzinsung wäre das
        ein Zinsvorteil von 1 600 DM. Ganz abgesehen davon,
        dass sich der Vorteil noch dadurch reduziert, dass ja die
        Mehrwertsteuer nicht täglich abzuführen ist, kann mir
        niemand erklären, dass ein derartiger Vorteil nachhaltig in
        der Lage ist, ein Unternehmen vor einem Konkurs zu
        schützen.
        Die Einführung des Optionsrechtes nach § 20, seine
        Ausweitung, ist nicht in der Lage, Druck auf zahlungsun-
        willige Unternehmer zu machen. Wer nicht zahlen will
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10581
        (C)
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        oder nur verspätet zahlen will, der wird nicht optieren,
        weil er dadurch die Vorsteuer erst später geltend machen
        könnte.
        Das Verfahren wäre auch sehr umständlich, denn man
        müsste dann bei den gebuchten, zum Vorsteuerabzug be-
        rechtigenden Vorgängen unterscheiden zwischen denen,
        für die bereits Entgelte zugeflossen sind, und denen, für
        die noch keine Entgelte zugeflossen sind. Das ist faktisch
        nicht zu leisten.
        Das „Ist-Verfahren“ wäre übrigens für viele Unterneh-
        men auch von einem großen Nachteil. Es ist doch nicht
        immer so, dass der zum Vorsteuerabzug berechtigende
        Vorgang und der Eingang von Erlösen zeitnah erfolgen.
        Viele Produkte gehen zunächst auf Lager oder verweilen
        als Rohstoffe in der Produktion. Für alle diese Teile
        könnte dann die Vorsteuer erst wesentlich später geltend
        gemacht werden als nach geltendem Recht. Jetzt tritt die
        Vorsteuer Abzugsberechtigung praktisch mit der Bezah-
        lung oder Rechnungslegung der Ware ein. Nach Ihrem
        Vorschlag könnte es bei Ladenhütern und Saisonware zu
        erheblichen finanziellen Belastungen des Unternehmers
        kommen.
        Schon diese wenigen genauen Betrachtungen machen
        deutlich, dass Ihr Antrag falsch ist.
        Wenn man eine Verbesserung der Zahlungsmoral er-
        reichen will, muss dies durch unmittelbaren Druck auf
        den Schuldner entstehen. Der lässt sich mit dem von Ih-
        nen vorgeschlagenen Weg gerade nicht erreichen.
        Ich will aber dennoch anerkennen, dass Sie mit dem
        Antrag ein richtiges und wichtiges Problem angesprochen
        haben. Dabei stellt sich das Problem für unterschiedliche
        Betriebe sehr unterschiedlich dar: Die Großbetriebe mit
        einem hohen Eigenkapitalanteil werden von dieser Pro-
        blematik wesentlich weniger betroffen als gerade klein-
        und mittelständische Betriebe mit einem durchschnittli-
        chen Eigenkapital von 18 Prozent. Für sie stellen sich alle
        mit Liquidität verbundenen Fragen viel schärfer dar als
        für andere.
        Es handelt sich im Wesentlichen um ein Problem des
        Mittelstandes. Das muss einen veranlassen, noch einmal
        über die Auswirkung der Steuerpolitik dieser Regierung
        nachzudenken. Gerade für diese besonders betroffene
        Gruppe wird wenig getan.
        Der von der Regierung beabsichtigte Systemwechsel
        bei der Versteuerung von Erträgen von Aktiengesellschaf-
        ten, GmbHs und Kapitaleinkünften vom Vollanrechungs-
        verfahren, das 1975 unter der damaligen sozial-liberalen
        Koalition mit unserer Zustimmung eingeführt worden ist,
        zum Halbanrechnungsverfahren ist nicht nur eine Frage
        der Steuerabschöpfungstechnik, sondern auch eine gesell-
        schaftspolitische. Die von Ihnen beabsichtigte Trennung
        von Unternehmer und Unternehmung machen wir nicht
        mit.
        Will Deutschland entsprechend dem Sozialstaatsprin-
        zip eine Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit der
        Bürger – also, wer viel hat, zahlt viel, wer wenig hat, zahlt
        wenig oder nichts –, dann muss die Letztversteuerung auf
        der Ebene der Personen erfolgen. Dies geht nur, wenn die
        Erträge und Steuern der Aktiengesellschaften und GmbHs
        voll auf das individuelle Einkommen angerechnet werden
        und am Ende die Steuerlast für den Einzelnen bestimmt
        wird. Versteuert man dagegen – wie von der Bundesre-
        gierung geplant – Körperschaften endgültig und rechnet
        nur die Hälfte der Erträge bei den Personen an, bedeutet
        dies eine Trennung von Unternehmen und Unternehmern.
        Gerade dieses gilt es zu vermeiden, denn der engagierte
        Mittelstand hat Deutschland weit nach vorne gebracht.
        Dieser und insbesondere auch die Kleinsparer werden
        durch einen Systemwechsel benachteiligt. Jeder, der bis-
        her weniger als 40 Prozent Steuern gezahlt hat, muss in
        Zukunft mehr zahlen als bisher. Es tritt also genau das Ge-
        genteil von dem ein, was gewollt ist.
        Es ist verständlich, wenn die großen Industrieverbände
        wegen dieses Streites die Steuerreform nicht scheitern se-
        hen wollen, weil dieses Problem aus ihrer Sicht zu ver-
        nachlässigen ist. Ihre Mitgliedschaft besteht praktisch nur
        aus großen Aktiengesellschaften. Sie haben Vorteile von
        einem Wechsel. Für den unter dem Gesichtspunkt der
        Arbeitsplätze wichtigeren Teil des Mittelstandes und un-
        ter sozialpolitischen Gesichtspunkten ist dies allerdings
        ganz anders zu beurteilen und deshalb eine der Kernfra-
        gen der Steuerreform.
        Ganz nebenbei kann eine rechtsformneutrale Besteue-
        rung nur durch die Vollanrechnung von Einkommen und
        Steuern bei den Personen gewährleistet werden. Dies ist
        die einzige Form, der einzige Weg, wie dieses zu errei-
        chen ist. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist das wich-
        tig. Deshalb kann man über dieses Problem nicht einfach
        hinweggehen.
        Nicht umsonst haben kürzlich praktisch alle Steuer-
        wissenschaftler Deutschlands, über 78 Professoren, dazu
        aufgerufen, keinen Systemwechsel vorzunehmen.
        90 Prozent der Unternehmen liegen mit ihrem Ein-
        kommen unter 150 000 DM, 80 Prozent unter 100 000 DM.
        Das sind die Unternehmen, die nach ihrer Politik
        zwar voll an der Verbreiterung der Bemessungsgrundlage
        teilhaben, aber praktisch nicht entlastet werden. Wir wer-
        den eine Steuerpolitik nicht mitmachen, die im Ergebnis
        bedeutet, dass der Mittelstand die Entlastung für die
        großen Kapitalgesellschaften finanziert.
        Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit noch einmal
        klarstellen, dass auch der Systemwechsel mehr als Steu-
        ertechnik ist. Sie liefern Steuersenkung und ideologisch
        bedingte Veränderungen im „Doppelpack“. Den Teil
        Steuersenkung können und wollen wir mittragen, wenn er
        denn auf alle Teile der Wirtschaft und die Facharbeiter
        ausgedehnt wird. Den Teil der Ideologie – und damit gebe
        ich die Antwort auf den Kollegen Poß von heute morgen –
        tragen wir nicht mit. Trennen Sie das, dann kann es auch
        eine Verständigung geben. Solange Sie den Doppelpack
        nicht auflösen, tragen Sie die Verantwortung für ein mög-
        liches Scheitern.
        Die mittelständischen Betriebe haben durch Ihre Steu-
        erpolitik des „Entzugs von Liquidität“ im Rahmen des
        Steuerentlastungsgesetzes schon jetzt schweren Schaden
        erlitten. Sie haben durch Ihre Steuerpolitik, insbesondere
        durch das Steuerentlastungsgesetz, das in Wahrheit ein
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10582
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        Steuerbelastungsgesetz war, dafür gesorgt, dass staatliche
        Einnahmen früher fließen als das nach dem Ablauf des
        bisherigen Rechtes zu erwarten gewesen wäre. Teilwert-
        berichtigung, Veränderung bei den Abschreibungen usw.
        führen dazu, dass Steuereinnahmen, die erst in einigen
        Jahren fällig gewesen wären, schon heute fließen. Das hat
        zwei Folgen: Zum einen wird den Betrieben heute Liqui-
        dität entzogen, die sie dringend für Investitionen und zur
        Finanzierung von Produktionen benötigen, und zum an-
        deren führt das zu einer Bugwelle von Steuern bei dem
        Staat. Der jetzt vermehrte Mittelzufluss wird in Zukunft
        „Steuerlöcher“ produzieren. Damit betreiben Sie heute
        schon Politik zulasten der künftigen Jahre.
        Das Thema Abschreibungstabellen ist auch noch nicht
        ausgestanden. Wir sind gespannt, was da jetzt auf die
        Wirtschaft zukommt. Dazu kommt die Belastung aus der
        Ökosteuer. Gerade die schwachen Betriebe sind durch die
        630-DM-Regelungen besonders betroffen gewesen.
        Die wahren Früchte Ihrer Arbeitsmarktpolitik können
        Sie auf der so genannten Schröder-Uhr der „Wirtschafts-
        woche“ ablesen. Es kommt eben nicht auf die Zahl der Ar-
        beitslosen an, denn die verändert sich auch ohne Zutun der
        Politik und ohne wirtschaftliche Entwicklung allein durch
        die demographischen Veränderungen. Maßgeblich ist die
        Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.
        Diese ist durch Ihre Politik nicht gestiegen – die
        Schröder-Uhr weist gegenüber der Regierungsübernahme
        ein Minus von 729 000 auf –, sondern gesunken. Das ist
        das Ergebnis Ihrer Politik.
        Gerade an diesen Punkten muss grundsätzlich ange-
        setzt werden. Hier tun Änderungen Not. Das hilft Betrie-
        ben mehr als die Umstellung im Mehrwertsteuersystem
        von der „Soll-Versteuerung“ zur „Ist-Versteuerung“.
        Werner Schulz (Leipzig) (Bündnis 90/Die Grünen):
        Alle Fraktionen in diesem Hause stimmen darin überein,
        dass die sinkende Zahlungsmoral in der Bundesrepublik
        Deutschland zu einem ernsthaften Problem für die Wirt-
        schaft geworden ist. Insbesondere bei kleineren Unter-
        nehmen führt diese Entwicklung zu Liquiditätsengpässen
        und zu einer Beeinträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit.
        Gerade in den neuen Bundesländern ist dies ein besonde-
        res Problem, weil die Kapitaldecke vieler Unternehmen
        sehr dünn ist. Sie sind daher nicht in der Lage, über einen
        längeren Zeitraum Außenstände vorzufinanzieren.
        Auch die Zeiträume, bis fällige Forderungen durch die
        Schuldner beglichen werden, werden immer größer. Das
        vermehrte Zurückhalten von teilweise erheblichen Forde-
        rungen kleiner und mittlerer Betriebe bringt diese immer
        mehr in Bedrängnis, vor allem in der Bauwirtschaft.
        Diese Verhältnisse – darüber waren wir uns alle einig –
        sind nicht länger hinnehmbar. Alle Fraktionen haben des-
        halb Vorschläge eingebracht, um hier Abhilfe zu schaffen.
        Die heutige Debatte ist allerdings eher ein Nachkarten
        denn eine zielführende Veranstaltung. Ende Februar ha-
        ben wir hier eine Gesetzesänderung beschlossen, die nach
        unserer Auffassung geeignet ist, den negativen Auswir-
        kungen schnell und unverzüglich entgegenzuwirken.
        Mein Kollege Wilhelm hat damals ausdrücklich darauf
        hingewiesen, dass es sich dabei um eine erste Verbesse-
        rung handelt, dass die Koalitionsfraktionen aber auch be-
        reit sind, weiter gehende Regelungen zu erarbeiten.
        Mit den beschlossenen Neuregelungen ist uns, so
        glaube ich jedenfalls, ein ganz guter und ausgewogener
        Wurf gelungen, wobei wir, wenn Sie sich erinnern, durch-
        aus auch Anregungen der Opposition aufgenommen ha-
        ben. Das von uns verabschiedete Gesetz hat sich am Be-
        richt der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Verbesserung der
        Zahlungsmoral“ und den Ergebnissen der Anhörung des
        Rechtsausschusses orientiert. Wir werden damit die Zah-
        lungsverschleppungen energisch bekämpfen und glei-
        chermaßen den Verbraucherschutz verbessern.
        Die wesentlichsten Veränderungen waren die Anhe-
        bung der Verzugszinsen, um die Inanspruchnahme billi-
        ger „Justizkredite“ zu beenden, die Einführung eines ge-
        setzlichen Anspruchs auf Abschlagszahlungen sowie die
        Verfahrensvereinfachung durch die Fertigstellungsbe-
        scheinigung. Und ganz so schlecht können unsere Vor-
        schläge ja nicht sein, weil sogar die F.D.P. zugestimmt
        und weder die Union noch die PDS das Gesetz abgelehnt
        haben.
        Der heute zur Abstimmung stehende Vorschlag der PDS
        ist bereits im Oktober des vergangenen Jahres eingebracht
        worden. Die im Februar beschlossenen Gesetzesänderun-
        gen waren der PDS bei Antragstellung also nicht bekannt.
        Von daher habe ich durchaus Verständnis für diesen An-
        trag. Leider ist es in der Sache wieder einmal ein Versuch,
        mit ungeeigneten Mitteln scheinbare Verbesserungen zu er-
        reichen. Die steuerrechtlichen Vorschläge der PDS werden
        den entsprechenden Druck auf säumige Zahler nicht auf-
        bauen können. Warum sollten ausgerechnet die „schwarzen
        Schafe“ für das vorgeschlagene Modell optieren?
        Wir wollen mit den im Februar beschlossenen Rege-
        lungen Erfahrungen sammeln. Wir gehen davon aus, dass
        wir damit unser gemeinsames Ziel besser erreichen. Den
        Antrag der PDS können wir aus den genannten Gründen
        daher nur ablehnen.
        Jürgen Türk (F.D.P.): Das Zahlungsmoral-Problem
        ist inzwischen leider zu einem Dauerbrennerthema im
        Bundestag geworden. Wir haben, um der mangelnden
        Zahlungsmoral zu begegnen, schon alle möglichen Ge-
        setze auf den Weg gebracht: von der Zwangsvoll-
        streckungsnovelle, einem Kapitalaufnahmeerleichte-
        rungsgesetz, einer Neuregelung des Schiedsverfahrens-
        rechts, einem Vergaberechtsänderungsgesetz bis hin zum
        erst im Mai dieses Jahres in Kraft getretenen Gesetz zur
        Beschleunigung fälliger Zahlungen.
        Trotz aller Anstrengungen ist uns der große Wurf aber
        offenbar noch nicht gelungen, wie man unschwer an den
        seit Tagen hungerstreikenden Unternehmerinnen am
        Brandenburger Tor erkennen kann, die mangelnde Zah-
        lungsmoral an den Rand des Ruins getrieben hat. Wir kön-
        nen und dürfen also in unseren Anstrengungen nicht nach-
        lassen, dem Handwerk zu seinem Recht, sprich: zu sei-
        nem ehrlich und sauer verdienten Geld zu verhelfen.
        Deshalb ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass die PDS
        sich dieses Problems angenommen und Vorschläge zur
        Änderung des Umsatzsteuerrechts unterbreitet hat.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10583
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        (A)
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        Die F.D.P. hat schon früher einmal gefordert, die
        Grenze für die bereits jetzt im Osten mögliche Ist-Be-
        steuerung von 1 auf 5 Millionen DM anzuheben, um
        Klein- und Mittelbetriebe finanziell zu entlasten und das
        Entstehen von Liquiditätsengpässen zu vermeiden. In die-
        sem Punkt gehen wir also sogar über das hinaus, was die
        PDS will.
        Gerechterweise sollte diese Regelung für Ost und West
        gleichermaßen gelten, denn Zahlungsprobleme gibt es in
        allen Teilen Deutschlands.
        Das Umsatzsteuerrecht grundsätzlich dahin gehend zu
        ändern, dass die Berechnung erst nach vereinnahmten
        Entgelten vorgenommen wird, ist aus meiner Sicht nicht
        notwendig, weil größere, leistungsstärkere Betriebe in der
        Lage sind, Zahlungsverzögerungen oder -ausfälle zu ver-
        kraften und daher eine solche Regelung nicht unbedingt
        brauchen. Darüber hinaus widerspräche dies auch EG-
        Recht und würde sich schon aus diesem Grund verbieten.
        Anlage 6
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Si-
        cherung der nationalen Buchpreisbindung
        (Tagesordnungspunkt 23)
        Monika Griefahn (SPD): Bücher sind nicht nur ein
        Wirtschaftsgut. Vielmehr sind Bücher ein bedeutendes
        Kulturgut, das eine Gesellschaft und ihren Zustand wi-
        derspiegeln kann. Die Literatur eines Landes und seiner
        Gesellschaft sind deshalb besonders schützenswerte Er-
        zeugnisse des geistigen Lebens. Diese Erzeugnisse sollen
        einer breiten Öffentlichkeit zugänglich sein und nicht nur
        der Erbauung einer Elite dienen. Bücher sollen aber auch
        nicht so vermarktet werden können, dass sie als Wirt-
        schaftsfaktor nicht mehr interessant sind, also nicht mehr
        produziert werden.
        Um dieses zu gewährleisten, haben wir seit 113 Jahren
        die Buchpreisbindung. Sie hat sich seitdem bewährt. Die
        EU-Kommission hat nun entschieden, dass die Preisbin-
        dung auf nationaler Ebene erhalten werden kann. Das ist
        eine richtige Entscheidung. Und ich möchte an dieser
        Stelle ganz herzlich Staatsminister Dr. Michael
        Naumann danken. Er hat gezeigt, dass die Institution des
        Kulturstaatsministers und er als engagierte Person wirk-
        lich etwas bewegen können.
        Im grenzüberschreitenden Buchhandel soll es die
        Preisbindung nicht mehr geben; auch Österreich hat hier
        eine nationale Lösung gefunden. Deshalb haben wir das
        Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen ergänzt. Die
        Ergänzungen sehen vor, dass so genannte Reimporte deut-
        scher preisgebundener Bücher in berechtigten Fällen bei
        der Wiedereinführung ebenfalls der deutschen Preisbin-
        dung unterliegen.
        Wie richtig und wichtig diese Ergänzung ist, wird ge-
        rade im Fall der österreichischen Kette Libro mehr als
        deutlich. Mithilfe des Internets versucht Libro, die deut-
        sche Preisbindung zu unterlaufen. Und andere Inter-
        nethändler stehen laut Presse „in den Startlöchern“, um
        ebenfalls verbilligt deutsche Bücher auf den Markt zu
        bringen. Welche wirtschaftliche Gefahr gerade für die
        kleinen und mittleren Verlage und Buchhändler droht,
        kann man sich leicht vorstellen. Mit unseren Ergänzungen
        wird dies verhindert werden.
        Wir haben mit diesem Gesetzentwurf ein Instrument
        geliefert, das den Richtern, die in Fällen von einstweili-
        gen Verfügungen gegen Reimporte zu entscheiden haben,
        als wichtige Auslegungshilfe dient. Die erfolgten Klar-
        stellungen im Gesetz sind eindeutig. Dieses Instrument ist
        wichtig, weil bei Reimporten, die objektiv der Unterwan-
        derung der Preisbindung in Deutschland dienen, schnell
        entschieden werden muss. Dies ist im Fall des Vertriebes
        per Internet wichtig. Und wir haben gerade heute im „Ta-
        gesspiegel“ lesen dürfen, wie das laufen soll: Bestellung
        per Internet im Libro-Laden in Berlin mit dem Verspre-
        chen, Bücher 20 Prozent billiger zu bekommen. – Der
        Schutz der nationalen Buchpreisbindung kann deshalb
        mit unseren Gesetzesergänzungen wirkungsvoll gewähr-
        leistet werden.
        Im Interesse der Autoren, der Händler und der Verlage
        wollen wir Reimporte verhindern. Geistige Nahrung in
        Form von Literatur ist genauso wichtig wie jede andere
        Nahrung. Die heutige Versorgung mit Buchhandlungen ist
        derart, dass auch abgelegene Gebiete erreicht werden.
        Dies ist im Sinne einer „Versorgung“ der Bevölkerung
        notwendig und wünschenswert. Es geht also darum, diese
        Erzeugnisse zu schützen und den Zugang zu ihnen zu er-
        halten.
        Ohne unsere Initiative würde eine Verflachung des An-
        gebotes drohen, weil irgendwann nur noch die Bücher im
        Angebot sein würden, die sich verkaufen. Autoren, die
        kein breites Publikum haben, würde auf Dauer die Mög-
        lichkeit zur Publikation entzogen werden. Die Verlage
        würden nur noch das herstellen, was sich gut verkauft.
        Diese „McDonaldisierung“ kann im Ernst niemand wol-
        len. Deshalb ist die Ergänzungsklausel über die Re-
        importe im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen
        unabdingbar gewesen. Im Übrigen bin ich nach einem Ge-
        spräch mit der europäischen Kulturkommissarin Reding
        froh, dass sich eine engagierte Frau mit dem Wettbe-
        werbskommissar Monti geeinigt hat, dass diese Lösung
        der nationalen Preisbindung möglich ist.
        Es ist allgemein anerkannt, dass das Buch einen Dop-
        pelcharakter hat. Es ist Kulturgut und Handelsgut in
        einem. Darüber hinaus dient es als Kommunikationsmit-
        tel der Sprache und der Integration von homogenen
        Sprachräumen. Die Preisbindung hat damit eine eminente
        kulturpolitische Implikation, die durch unsere Gesetzes-
        änderungen erhalten bleibt. Als kulturpolitisches Instru-
        ment ist sie von Verlegern, Buchhändlern und Autoren oh-
        nehin anerkannt.
        Es gilt nun, Bestrebungen wie denen von Libro zu wi-
        derstehen und die neue Gesetzesregelung konsequent um-
        zusetzen. Wir haben auch in Zukunft als Kulturpolitike-
        rinnen und -politiker dafür zu sorgen, dass die literarische
        Produktion und der Vertrieb in Deutschland unter den
        bestmöglichen Bedingungen vonstatten gehen können.
        Deshalb ist diese Gesetzesänderung wichtig und richtig.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10584
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        Sie ist im Sinne unserer Autoren, Verlage und Buchhänd-
        ler und damit in unser aller Sinn.
        Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): Der vorliegende
        Gesetzentwurf zur Änderung bzw. Ergänzung des Geset-
        zes gegen Wettbewerbsbeschränkungen ist der in man-
        cherlei Hinsicht bemerkenswerte Schlusspunkt langjähri-
        ger Bemühungen von Bundesregierung und Parlament
        um eine Sicherung der nationalen Buchpreisbindung. Die
        CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sich während der Zeit
        ihrer Regierungsverantwortung wie nach dem Regie-
        rungswechsel nachhaltig für dieses Anliegen eingesetzt
        und dabei in der Auseinandersetzung innerhalb des Buch-
        handels wie gegenüber der Europäischen Gemeinschaft
        ausdrücklich die Notwendigkeit einer differenzierten
        Regelung gegenüber den allgemeinen Regelungen des
        Wettbewerbsrechts vertreten.
        Nach den erfolgreichen Bemühungen um eine Zustim-
        mung der Europäischen Kommission für die Aufrechter-
        haltung der besonderen Regelungen für die Preisbindung
        von Büchern sind schließlich auch Vereinbarungen mit
        unserem Nachbarland Österreich gefunden worden, die
        die beiderseits gewünschte nationale Buchpreisbindung
        auch für Reimporte sicherstellen, sofern sie eine Umge-
        hung der nationalen Preisbindung bewirken. Für die Ein-
        beziehung auch des Internetbuchhandels in diese Rege-
        lung hat sich ganz besonders unser Kollege Anton Pfeifer
        eingesetzt, dessen persönliche Rücksprache mit den Ver-
        antwortlichen im österreichischen Parlament schließlich
        verhindert hat, dass künftig ein österreichischer Buch-
        händler dasselbe Buch im Laden zu einem Festpreis und
        im Internet zu einem niedrigeren Preis hätte anbieten kön-
        nen. Damit können entsprechend der Vereinbarung mit
        der Europäischen Kommission ab 1. Juli dieses Jahres
        zwei nationale Regelungen in Österreich und Deutsch-
        land an die Stelle der bisherigen grenzüberschreitenden
        festen Ladenpreise treten.
        Die heute im Bundestag zu verabschiedende Gesetzes-
        änderung stellt auch insofern eine Besonderheit dar, als
        über die bereits vorhandeneRegelung in § 15Abs. 1 Satz 1
        des GWB hinaus nun eine zusätzliche „Klarstellung“ im
        Gesetzestext erfolgt, die der bisherigen Spruchpraxis des
        Bundeskartellamtes zur Frage der Lückenlosigkeit der
        Buchpreisbindung entspricht und in gerichtlichen Ausei-
        nandersetzungen die Geltung der Preisbindung bei Streit-
        fällen unzweideutig und ihre Durchsetzung wirksamer
        machen soll. Dies ist eine durchaus ungewöhnliche „Ser-
        viceleistung“ des Gesetzgebers, die den besonderen
        Stellenwert verdeutlicht, die der Deutsche Bundestag
        Büchern als Kultur- und nicht nur Wirtschaftsgütern im
        Unterschied zu anderen Produkten beimisst. Die Erwar-
        tung der Verlage und Buchhandlungen an den Gesetzge-
        ber, angemessene Rahmenbedingungen für Produktion
        und Vertrieb von Büchern zu bewahren, wird damit in ei-
        ner Weise erfüllt, von denen manche andere mehr oder
        weniger vergleichbare Sektoren im Wirtschafts- wie im
        Kulturbereich nur träumen können.
        Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag ver-
        bindet mit ihrer Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf
        die Erwartung, dass die Verlage und Buchhandlungen ih-
        rerseits in der künftigen Handhabung der Buchpreisbin-
        dung alles unterlassen, was in der Vergangenheit Zweifel
        an der Ernsthaftigkeit der für unverzichtbar erklärten Gel-
        tung gebundener Ladenpreise erzeugt hat.
        Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist
        dem Einsatz der rot-grünen Bundesregierung zu verdan-
        ken, dass die EU-Kommission nach zahlreichen Ge-
        sprächen mit den Verfahrensbeteiligten die Aufrechter-
        haltung der nationalen Buchpreisbindung akzeptiert hat.
        Wir waren und wir sind davon überzeugt, dass in der der-
        zeitigen Situation des deutschen Buchhandels die Auflö-
        sung der nationalen Buchpreisbindung äußerst negative
        Folgen gehabt hätte. Schon jetzt sind zahlreiche kleinere
        Buchläden von Insolvenzverfahren bedroht, weil sie es
        sich nicht leisten können, in die Haupteinkaufsmeilen zu
        ziehen, um dort entsprechende Gewinne zu erwirtschaf-
        ten. Mit geringer Personalstärke müssen sie trotzdem ein
        vernünftiges Angebot zustande bringen. Es ist ganz deut-
        lich, dass die nationale Buchpreisbindung eine Chancen-
        gleichheit gewährt, die sowohl für die Verkaufsseite als
        auch für die Verlagsseite sehr vorteilhaft ist.
        Sie alle kennen die Szenarien, die sich für den Fall der
        Aufhebung der nationalen Buchpreisbindung ergeben:
        Kostbare Lyrikbände könnten kaum noch produziert wer-
        den, weil Sie im Vergleich zur literarischen Massenware
        relativ teuer werden und nicht so leicht zu vermarkten
        sind.
        Die Preisdifferenzen zwischen Massenprodukten und
        literarischen Raritäten werden immer größer. Kleine und
        mittelgroße Buchläden geraten in ökonomische Schwie-
        rigkeiten, weil sie der Konkurrenz mit den großen Ver-
        treibern nicht gewachsen sind. Das alles sind Erscheinun-
        gen, die wir verhindern wollen. Die Landschaft des deut-
        schen Buchhandels soll in ihrer Qualität erhalten bleiben.
        Ich meine, dass wir den nötigen Schritt unternommen ha-
        ben.
        Ich möchte hier ausdrücklich Staatsminister Naumann
        für seine Nachdrücklichkeit und seinen Einsatz in dieser
        Frage danken. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieses Er-
        gebnis ohne sein Verhandlungsgeschick nicht hätte er-
        reicht werden können!
        Das neu festgeschriebene Reimportverbot ist notwen-
        dig, wie die Aktivitäten des österreichischen Buch-
        konzerns „Libro“ zeigen. Ein Aushebeln der Buchpreis-
        bindung ist in jedem Fall zu verhindern. Eine Preisbin-
        dung, die leicht umgangen werden kann, verdient ihren
        Namen nicht und macht keinen Sinn. Die Möglichkeiten
        des Internetvertriebs, die von dem angesprochenen Un-
        ternehmen wahrgenommen werden, verlangen ein schnel-
        leres Eingreifen der Gerichte bei entsprechenden Ver-
        stößen. Auch dafür schaffen wir jetzt die entsprechenden
        Grundlagen. Die neuen Handelswege müssen sich ge-
        nauso an die bestehenden Rechtsstrukturen anpassen.
        Diese neuen Geschwindigkeiten verlangen von uns als
        Gesetzgeber eine besondere Aufmerksamkeit.
        Es gibt jetzt eine wichtige Auslegungshilfe für die Ge-
        richte, die über Fälle von Reimporten zu entscheiden ha-
        ben. Mit der Beantragung einer einstweiligen Verfügung
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        können Konkurrenten gegen den Verdacht auf Reimporte
        vorgehen. Die Umsetzung wird nicht in allen Fällen leicht
        sein; dennoch bin ich zuversichtlich, dass sowohl in
        Deutschland als auch in Österreich das geltende Recht
        eingehalten wird.
        Wir brauchen einen regen Handel mit Büchern und wir
        brauchen dazu auch das Internet; denn damit können ganz
        neue Märkte erschlossen werden. Wenn ein neues Me-
        dium einem alten, aber noch immer hervorragenden Me-
        dium helfen kann, zu expandieren, dann finde ich das ge-
        nau richtig; aber legal muss das Ganze selbstverständlich
        sein.
        Ich bitte Sie, dem Gesetzesentwurf zur Sicherung der
        nationalen Buchpreisbindung zuzustimmen. Unter Be-
        rücksichtigung der aktuellen Situation des deutschen
        Buchhandels ist er die einzig vernünftige Regelung.
        Ich danke Ihnen.
        Gudrun Kopp (F.D.P.): Im Deutschen Bundestag be-
        steht fraktionsübergreifend Konsens über die Beibehal-
        tung der nationalen Buchpreisbindung. Dabei kann ich
        nicht verschweigen, dass uns Liberalen als Anhänger und
        Verfechter der freien Marktwirtschaft ein Abweichen von
        diesem ordnungspolitischen Grundsatz wahrlich nicht
        leicht gefallen ist. Dennoch überwiegt auch bei der. F.D.P.
        sehr klar der Wille, einen entscheidenden Beitrag zur
        Wahrung des Kulturgutes Buch, in seiner breiten Vielfalt
        zu leisten.
        Wir würdigen die Tatsache, dass das Buch in Deutsch-
        land einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert genießt.
        Es ist Kulturträger und repräsentiert damit ein Stück
        deutsche kulturelle Identität. Zweifellos wird der Inter-
        net-Handel auch und gerade in diesem Marktbereich neue
        Strukturen bringen, die es sorgfältig zu begleiten gilt.
        Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Regierungs-
        koalitionen soll eine Klarstellung zur möglichen Rechts-
        unsicherheit bei Reimporten erfolgen. Grundsätzlich sind
        zwar schon heute Reimporte von Verlagswerken im Gel-
        tungsbereich des § 15 Abs. l Satz 1 GWB erfasst. Auf
        meine Nachfrage wurde jedoch seitens des Ministeriums
        betont, dass einige Zusätze im bereits bestehenden Gesetz
        zur Reimportproblematik nötig seien, um eine Umgehung
        der Buchpreisbindung durch Reimporte in der Praxis auf
        schnellstem Weg abwenden zu können. Offen bleibt dabei
        für mich die Frage, ob die EU-Kommission diesen Zusatz
        tatsächlich akzeptieren wird und ihn nicht als Behinde-
        rung des Binnenhandels oder gar als Provokation bean-
        standen könnte. Wir setzen voraus, dass die Bundesregie-
        rung diesbezüglich vorab Kontakt mit der Kommission
        aufgenommen und für Klarstellung gesorgt hat. Ein cha-
        otisches Hin und Her wie beim WestLB-Verfahren würde
        unserem gemeinsamen Anliegen schaden.
        Fazit: Die F.D.P. befürwortet die nationale Buchpreis-
        bindung aus kulturpolitischen Erwägungen und unter-
        stützt folgerichtig die, wie es heißt, notwendige Klarstel-
        lung, dass auch Reimporte der Preisbindung unterliegen,
        sofern Sie allein der Umgehung der nationalen Preisbin-
        dung dienen.
        Dr. Heinrich Fink (PDS): Die wichtigsten Argumente
        für die Erhaltung der Buchpreisbindung, die mit dem vor-
        liegenden Gesetzentwurf eine zusätzliche Absicherung
        erfahren soll, sind bereits vorgetragen worden. Ich möchte
        sie aus meiner Sicht wie folgt bekräftigen.
        Ausgangspunkt ist auch für mich: Im Buch ist in erster
        Linie ein Kulturgut und erst mit beträchtlichem Abstand
        ein Wirtschaftsgut zu sehen. Mit dem gedruckten Wort ist
        natürlich auch unzulängliches, verwerfliches oder gar
        verbrecherisches Gedankengut in die Welt gekommen.
        Aber ohne Zweifel kann die Rolle des Buches für den
        Grad an humanistischen, sozialen und demokratischen
        Errungenschaften, den wir zumindest in bestimmten Tei-
        len unserer Welt erreicht haben, kaum überschätzt wer-
        den. Und wie sich erfreulicherweise herausgestellt hat,
        wird das Buch diese Rolle auch durch die neuen Medien
        wohl nicht verlieren.
        Aus dieser Prämisse „Das Buch – ein Kulturgut“ müs-
        sen sich dann auch die entscheidenden Bedingungen und
        Kriterien seiner Produktion und Verteilung herleiten.
        Seine Rolle als Kulturgut kann das Buch nur dann erfül-
        len, wenn es die ganze Vielfalt der in der Gesellschaft vor-
        handenen kulturellen Intentionen zur Geltung bringt und
        wenn alle, die nach ihm verlangen, die Möglichkeit ha-
        ben, es zu erwerben. Dies wenigstens annähernd sicher-
        zustellen, verlangt einen ständigen Erneuerungsprozess in
        der Autorenschaft, hinreichenden Spielraum für literari-
        sche Experimente und eine vielgestaltige Verlagsland-
        schaft mit Verlegerpersönlichkeiten, die ideell, aber auch
        materiell in der Lage sind, diese ganze Vielfalt der Be-
        dürfnisse aufzunehmen und neben Bestsellern in kleinen
        Auflagen auch Neues, Ungewohntes, Unbequemes und
        Provokatives und damit in der Regel nicht Gewinnträch-
        tiges zu produzieren. Die auf diese Weise entstehende
        Vielfalt an Titeln muss dann auch flächendeckend und zu
        erschwinglichen Preisen von den Bürgern erworben wer-
        den können.
        Ich glaube zwar nicht, dass die Buchpreisbindung al-
        lein die Garantie dafür bietet, in den Grenzen unseres Lan-
        des das Buch als unersetzliches alltägliches Kulturgut für
        alle zu erhalten bzw. erst überhaupt zugänglich zu ma-
        chen. Dem stehen noch viele soziale und mit der Bil-
        dungsmisere verbundene Hindernisse im Wege. Ich bin
        aber mit wohl allen Mitgliedern dieses Hauses der Mei-
        nung, dass die Buchpreisbindung unter den gegebenen
        Verhältnissen ein wichtiges Instrument dafür ist, zumin-
        dest den Status quo auf diesem Gebiet zu wahren. Und
        deshalb kann ich nur hoffen, dass die mit dem Gesetzent-
        wurf verfolgte Absicht sich auch gegenüber den techni-
        schen Möglichkeiten behaupten wird, mit denen, wie be-
        reits angekündigt, versucht werden wird, die Reimport-
        klausel zu umgehen und einen Konkurrenzkampf
        einzuleiten, der all das gefährden würde, was hier nur sehr
        kurz angedeutet werden konnte.
        Der Bundestag hat sich über viele Jahre aus guten
        Gründen und in großer Einmütigkeit dafür eingesetzt, das
        Kulturgut Buch aus der Logik von Marktradikalismus und
        Profitmaximierung herauszuhalten. Sollte das nicht An-
        lass sein, unbefangen gegenüber neoliberalen Dogmen
        noch intensiver darüber nachzudenken, wie dieses Prinzip
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        generell für die Kernbereiche von Kultur und Bildung zur
        Geltung gebracht werden kann? Meine Fraktion jeden-
        falls wird weiterhin in diese Richtung wirken, weil sie der
        Auffassung ist, dass Kultur und Bildung nur auf dieser
        Grundlage die Rolle spielen können, die sie für die ge-
        deihliche Entwicklung eines jeden Menschen und der ge-
        samten Gesellschaft ohne Zweifel haben.
        Siegmar Mosdorf, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
        minister für Wirtschaft und Technologie: Es wäre ein her-
        ber Schlag gewesen, wenn im Jahr des 500. Geburtstags
        von Johannes Gutenberg die Buchpreisbindung in
        Deutschland verboten worden wäre.
        Kurz vor der abschließenden Entscheidung über ein
        Verbot konnte der seit Jahren währende Streit mit der Eu-
        ropäischen Kommission um die deutsch-österreichische
        grenzüberschreitende Buchpreisbindung durch einen
        Kompromiss beigelegt werden. Hierfür hat sich die Bun-
        desregierung und insbesondere Herr Staatsminister
        Naumann nachhaltig eingesetzt. Eine Untersagung der
        Buchpreisbindung in Deutschland und Österreich konnte
        abgewehrt werden.
        Allerdings muss der grenzüberschreitende Sammelre-
        vers in zwei unterschiedliche nationale Buchpreisbin-
        dungssysteme aufgeteilt werden, und zwar ab dem 1. Juli
        2000. Das ist der Tag, ab dem es keine grenzüberschrei-
        tende Buchpreisbindung mehr geben darf.
        Auf rein nationaler Ebene ist die Buchpreisbindung si-
        chergestellt. Was aber ist mit Importen? Importe aus an-
        deren EU-Ländern können nicht preisgebunden werden.
        So besagt es wenigstens der Grundsatz in der gefundenen
        Kompromissformel.
        Allerdings darf die nationale deutsche Buchpreisbin-
        dung auch nicht missbräuchlich umgangen werden. Eine
        solche Umgehung würde zum Beispiel dann vorliegen,
        wenn Bücher zwar faktisch über die Grenze gebracht
        würden, im Ausland aber nie zum Verkauf angeboten wür-
        den, sondern sofort wieder nach Deutschland zurückge-
        bracht würden. Erst recht gilt das natürlich, wenn die
        Bücher gar nicht transportiert werden, sondern nur die
        Geschäfte über das Ausland laufen.
        In solchen Fällen – so sagt es auch die Rechtsprechung
        des Europäischen Gerichtshofs – dürfen auch re-impor-
        tierte Bücher in die Preisbindung mit einbezogen werden.
        Wäre das nämlich nicht der Fall, dann könnte bei syste-
        matisch betriebenen Reimporten die deutsche Buch-
        preisbindung zunichte gemacht werden.
        Um dies zu verhindern, haben wir eine Ergänzung des
        Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen vorgeschla-
        gen. In dessen § 15 wird nämlich die Preisbindung von
        Verlagserzeugnissen als einzige Ausnahme von dem all-
        gemeinen Verbot, Festpreise zu vereinbaren, ausdrücklich
        erlaubt.
        Hier soll jetzt klargestellt werden, dass sich diese Er-
        laubnis auch auf missbräuchlich reimportierte Bücher
        bezieht, die nur zum Zweck der Umgehung der deutschen
        Preisbindung über die Grenze gebracht worden sind. Dies
        ist notwendig, weil die betroffenen deutschen Verlage die
        Umgehung der Preisbindung durch unzulässige Re-
        importe nur dann wirkungsvoll verhindern können, wenn sie
        binnen kürzester Frist einstweilige Verfügungen bei Ge-
        richt veranlassen können. Nur so kann der unzulässige
        Vertrieb von Büchern wirkungsvoll untersagt werden.
        Denn der schönste Kompromiss aus Brüssel nützt nichts,
        wenn er in der Praxis leer laufen würde.
        Es ist deswegen dringend erforderlich, schnell eine Lö-
        sung zur Sicherung der deutschen Buchpreisbindung zu
        finden, bevor das System von zu vielen Seiten ausgehöhlt
        werden kann.
        Die Buchpreisbindung gibt es in Deutschland zwar
        nicht schon seit den Zeiten von Herrn Johann
        Gänsfleisch – wie Gutenberg mit Klarnamen hieß – aber
        immerhin auch schon seit 1887. Und hat sich seither be-
        währt. Denn es gibt bei uns eine beispiellose Titelvielfalt
        und eine Vielzahl kleiner und mittelgroßer Verlage.
        In Deutschland gibt es mehr als 3 300 Verlage, wo-
        bei die kleinsten Unternehmen mit Umsätzen unter
        32 500 DM gar nicht erfasst sind, mit rund 28 350 Be-
        schäftigten und einem jährlichen Umsatz von über
        17,7 Milliarden DM. Außerdem haben wir dank der Preis-
        bindung immer noch ein enges Netz von kleinen, mittle-
        ren und größeren Buch- und Fachzeitschrifteneinzelhänd-
        lern mit rund 30 800 Mitarbeitern und kulturellem Ser-
        vice.
        Die Preisbindung nützt insbesondere auch den Auto-
        ren: Sie brauchen Leser und einen Buchmarkt, auf dem
        auch anspruchsvolle Bücher und Schriftsteller ohne große
        Publicity eine Chance haben.
        Die Preisbindung ist Garant dafür, dass von Verlagen
        in Deutschland auch zukünftig weit mehr als 75 000 Neu-
        erscheinungen im Jahr veröffentlicht werden. Sie ist inso-
        weit also Garant der Meinungsvielfalt und Kunstfreiheit.
        So soll es auch bleiben, und genau dafür soll die von
        uns vorgeschlagene Ergänzung des Gesetzes gegen Wett-
        bewerbsbeschränkungen sorgen.
        Anlage 7
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Geset-
        zes zur Änderung des Rindfleischetikettierungs-
        gesetzes (Tagesordnungspunkt 25).
        Jella Teuchner (SPD): Am 17. April hat der
        EU-Agrarrat die Einzelheiten des europäischen Systems
        der Kennzeichnung von Rindern und der Etikettierung
        von Rindfleisch beschlossen. Ab 1. September 2000 müs-
        sen die Orte der Schlachtung und der Zerlegung angege-
        ben werden, ab 2002 die Orte von Geburt, Mast und
        Schlachtung. Angegeben werden muss der Mitgliedstaat,
        die Herkunftsangabe „EU“ reicht nicht aus. Deutschland
        konnte sich hier mit seinem Standpunkt durchsetzten.
        Wir wollen in Deutschland die zweite Stufe der Etiket-
        tierung vorziehen. Schon ab dem 1. September 2000 soll
        in Deutschland die komplette Herkunftskennzeichnung
        vorgeschrieben sein.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10587
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        Mit der Änderung des Rindfleischetikettierungsgeset-
        zes, über die wir heute abstimmen werden, schließen wir
        die dazu in Deutschland notwendigen gesetzlichen Vorar-
        beiten ab. Ich denke, wir haben mit dem jetzt vorliegen-
        den Gesetzesvorschlag Regelungen gefunden, die nach-
        vollziehbare Informationen für den Verbraucher und die
        Rückverfolgbarkeit und Sicherheit von Rindfleisch si-
        cherstellen und eine vernünftige Verteilung der Kosten
        zwischen dem Bund und den Ländern vorsehen.
        Ich möchte die Gelegenheit nutzen, das Regelwerk zur
        Sicherheit von Rindfleisch zusammenfassend zu betrach-
        ten. Ich möchte daran deutlich machen, nach welchen
        Prinzipien wir die Rindfleischproduktion gestalten. Ich
        denke, dass wir damit auch schon in die Diskussion um
        die Pläne der Europäischen Union zur Lebensmittelsi-
        cherheit einsteigen können, die uns in nächster Zeit noch
        stark beschäftigen werden.
        Upton Sinclair hat 1906 in seinem Roman „Der
        Dschungel“ die Zustände in den Schlachthöfen von
        Chicago beschrieben. Heute sind die in diesem Roman be-
        schriebenen Zustände nicht mehr vorstellbar. Wir haben
        viel erreicht auf dem Weg zu möglichst sicheren und ge-
        sunden Lebensmitteln, auch wenn das Vertrauen der Ver-
        braucherinnen und Verbraucher durch den BSE-Skandal
        geschwächt wurde.
        Unser Ziel muss es sein, sowohl die Unbedenklichkeit
        sicherzustellen, als auch das Vertrauen in die Lebensmit-
        tel zu stärken. Wenn die Verbraucher von der Qualität der
        Lebensmittel nicht überzeugt sind, werden sie diese nicht
        kaufen. Von schlechten Produkten werden sie nicht lange
        überzeugt sein. Für unsere Landwirte bedeutet dies, dass
        sie richtig damit liegen, auf Qualität zu setzen. Nur so
        können sie im Wettbewerb bestehen.
        Erreichen können wir dieses Ziel, indem wir uns an
        klaren Prinzipien orientieren, die von Verbraucherverbän-
        den stets eingefordert und auch im Weißbuch Lebensmit-
        telsicherheit der Europäischen Kommission benannt wer-
        den: Wir müssen die Lebensmittelsicherheit im gesamten
        Herstellungsprozess betrachten. Die Unbedenklichkeit
        des Rinderbratens ist erst dann gewährleistet, wenn auch
        das Futter sicher ist, mit dem das Rind großgezogen wor-
        den ist. Dies bedeutet, dass Futtermittelerzeuger, Land-
        wirte und Lebensmittelunternehmen für die Qualität der
        Lebensmittel verantwortlich sind. Wir müssen die Futter-
        und Lebensmittel zurückverfolgen können. Nur so kön-
        nen gefährliche Produkte sofort aus dem Handel genom-
        men werden, wenn ein Risiko für die Gesundheit der Ver-
        braucher besteht. Wir müssen uns beim Gesundheits-
        schutz der Verbraucher am Vorsorgeprinzip orientieren.
        Und nicht zuletzt müssen wir diese Prinzipien für den Ver-
        braucher transparent machen. Dazu dient die Etikettie-
        rungspflicht für Rindfleisch.
        Ich habe es schon angesprochen: Eine Rindfleischeti-
        kettierung bleibt eine leere Hülse, wenn die Qualität des
        Produktes nicht stimmt. Die deutschen Landwirte produ-
        zieren hochwertige und sichere Lebensmittel. Ein Netz-
        werk von lebensmittelrechtlichen Vorschriften, die amtli-
        che Lebens- und Futtermittelkontrolle der Länder und die
        Strategie der Minimierung von Belastungen sorgen dafür,
        dass die Verbraucherinnen und Verbraucher einwandfreie
        Lebensmittel kaufen können. Wir haben also die Voraus-
        setzungen, mit der Rindfleischetikettierung das Vertrauen
        der Verbraucher zu stärken. „D“ steht in Zukunft für Qua-
        litätsrindfleisch aus Deutschland.
        Sofern es EU-rechtlich möglich ist und die Länder und
        die betroffenen Verbände keine Einwände haben, werden
        wir durch eine deutsche Flagge das Fleisch von in
        Deutschland geborenen, aufgewachsenen und geschlach-
        teten Rindern noch deutlicher kennzeichnen. Den Ver-
        brauchern würde ein Höchstmaß an Erkennbarkeit beim
        Einkauf geboten.
        Mit der obligatorischen Rindfleischetikettierung
        schaffen wir eine Herkunftskennzeichnung, die auf guter
        Qualität aufbaut. Wir schaffen eine bessere Rückverfolg-
        barkeit und Transparenz. Der Verbraucher bekommt die
        Möglichkeit, seine Kaufentscheidung bewusst zu treffen.
        Dies bedeutet ein gestiegenes Sicherheitsgefühl beim Ver-
        braucher und Absatzchancen für unsere Landwirte.
        Ich will dies an einem Beispiel deutlich machen: Zwi-
        schen 1994 und 1997 sank der Pro-Kopf-Verbrauch pro
        Jahr an Rindfleisch in Deutschland im Zusammenhang
        mit der BSE-Krise um rund 13 Prozent. Der Grund war
        eine starke Unsicherheit der Verbraucher. Die Verbrau-
        cher können sich zwar darauf verlassen, dass Deutschland
        BSE-frei ist. Erst mit der obligatorischen Rindfleischeti-
        kettierung können sie sich aber auch sicher sein, dass sie
        deutsches Rindfleisch essen, wenn sie dies wollen.
        Ich denke, wir sind uns alle einig, dass die obligatori-
        sche Rindfleischetikettierung ein mehr an Nahrungsmit-
        telsicherheit und Transparenz für die Verbraucher bringt.
        Die Verbraucherverbände unterstützen sie genauso wie
        der Bauernverband, der Bund genauso wie die Länder.
        Und auch der Lebensmittelhandel zeigt ein großes In-
        teresse an einer Herkunftskennzeichnung. Eine Untersu-
        chung der Verbraucherzentralen 1999 ergab, dass
        82 Prozent der Verbrauchermärkte, 78 Prozent der Super-
        märkte und 46 Prozent der Metzgereien freiwillig Anga-
        ben zur Herkunft von Rindfleisch machen. Dies spricht
        dafür, dass die Rindfleischetikettierung positiv aufge-
        nommen wird. Auch der Erfolg von regionalen Qualitäts-
        gütezeichen spricht dafür, dass die Verbraucher regionale
        Vermarktungsstrukturen honorieren. Allerdings hat die
        Studie der Verbraucherzentralen ergeben, dass die Qua-
        lität der freiwilligen Angaben sehr unterschiedlich ist.
        Eine obligatorische Kennzeichnung, die klar festgelegt ist
        und auf rückverfolgbaren Daten beruht, ist daher notwen-
        dig.
        Ich möchte daher, dass dieses Gesetz baldmöglichst in
        Kraft tritt. Ich hoffe, dass es nicht durch die Frage, wer die
        Kontrollen durchzuführen hat, verzögert oder gar verhin-
        dert wird.
        Blicken wir noch einmal zurück ins letzte Jahr mit sei-
        nen Dioxin- und Klärschlammskandalen. Die Lebensmit-
        telsicherheit war im letzten Jahr trotz dieser Skandale zu
        jeder Zeit gewährleistet. Die Ursachen dieser Skandale
        liegen im Versagen Einzelner in der Produktionskette.
        Einzelne haben das Vertrauen der Verbraucherinnen und
        Verbraucher in die Sicherheit der Lebensmittel erschüt-
        tert. Die Lebensmittelüberwachung funktionierte jedoch
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10588
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        und sorgte dafür, dass diese Skandale nicht zu Katastro-
        phen wurden.
        Auch wenn es nur Einzelne waren, so zeigt es doch:
        Ohne Kontrollen können wir unseren Sicherheitsstandard
        nicht halten. Kurzfristiges Gewinnstreben scheint für
        manche doch wichtiger zu sein als langfristig zufriedene
        Kunden und Verbraucher. Wir müssen deshalb auch die
        Etikettierung kontrollieren. Wir müssen uns auch darüber
        im Klaren sein, dass diese Kontrollen Geld kosten.
        Ich denke, wir stimmen heute über einen Antrag ab, der
        die Zuständigkeiten und damit die Kosten sinnvoll und
        ausgewogen zwischen dem Bund und den Ländern ver-
        teilt und auch die Selbstkontrolle der Lebensmittelprodu-
        zenten ermöglicht und anerkennt.
        Wenn wir heute diesen Antrag verabschieden, haben
        wir einen wichtigen Schritt getan. Wir werden aber nicht
        stehen bleiben. Mit dem Weißbuch für Lebensmittelsi-
        cherheit hat die Europäische Kommission eine Diskus-
        sion angestoßen, an der wir uns beteiligen werden.
        Die Kommission hat einige Fragen aufgeworfen, mit
        denen wir uns beschäftigen müssen: Wie wird in Zukunft
        die wissenschaftliche Beratung für die Entscheidungen
        zur Lebensmittelsicherheit aussehen? Können unsere
        Schnellwarnsysteme verbessert werden? Brauchen wir
        nicht doch eine offene Volldeklaration für Futtermittel?
        Werden die Kontrollen überall im notwendigen Umfang
        durchgeführt?
        Wir werden uns diesen Fragen stellen. Wenn wir dann
        Antworten finden, die die gleiche Sicherheit und Trans-
        parenz wie die Regelungen zur Rindfleischproduktion
        bieten, können wir ein Höchstmaß an Lebensmittelsicher-
        heit gewährleisten. Die Strategie der Minimierung der Be-
        lastungen werden wir weiter verfolgen. Einen großen
        Schritt machen wir, wenn wir heute den vorliegenden Ent-
        wurf verabschieden.
        Peter Bleser (CDU/CSU): Für die meisten Menschen
        ist nach der Medizin die Ernährung von entscheidendem
        Einfluss auf unser höchstes Gut, die Gesundheit. Es ist
        deshalb verständlich und logisch, dass Meldungen über
        mögliche gesundheitliche Gefahren durch den Verzehr
        bestimmter Lebensmittel zu einer sofortigen Veränderung
        des Käuferverhaltens führen. Der Dioxinskandal in Bel-
        gien, aber noch eklatanter die BSE-Rinderkrankheit in
        Großbritannien, haben zu enormen, noch heute andauern-
        den Veränderungen der Verzehrgewohnheiten geführt.
        Die deutschen Verbraucher haben sich in diesem Zusam-
        menhang als besonders sensibel erwiesen. Um das verlo-
        ren gegangene Vertrauen in die Qualität, insbesondere un-
        seres Rindfleisches, wieder herzustellen, ist eine klare
        und lückenlose Rückverfolgbarkeit von Rindfleisch und
        dessen Verarbeitungsprodukten überfällig.
        Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt deshalb die Ab-
        sicht der Bundesregierung, mit diesem Gesetz die obliga-
        torische Etikettierung von Rindfleisch ab dem 1. Septem-
        ber 2000 einzuführen. Die deutsche Landwirtschaft er-
        bringt bereits seit vielen Jahren erhebliche Vorleistungen
        zur Umsetzung dieses Gesetzes. Ab Januar 2000 müssen
        alle Rinder eines Bestandes zwei Ohrmarken tragen, ei-
        nen Rinderpass besitzen und in einer elektronischen Da-
        tenbank gemeldet sein. In jedem Betrieb muss ein Be-
        standsregister geführt werden. Zu- oder Abgänge müssen
        in kürzester Frist gemeldet werden. Wir sind also in der
        Lage, den Aufenthaltsort jedes deutschen Rindes zu er-
        mitteln. Wir können den Lebensweg jedes Tieres von der
        Geburt an bis in die Fleischtheke lückenlos verfolgen.
        Wir können sogar sagen, mit welchen Artgenossen jedes
        Tier in seinem Leben in Kontakt getreten sein kann. Das
        alles bedeutet für die Landwirte, aber auch für Transpor-
        teure, Schlachtbetriebe und Verarbeiter einen erhebli-
        chen, auch finanziellen Aufwand. Die Bauern und das
        Fleischgewerbe haben deshalb einen Anspruch darauf,
        dass ihre Anstrengungen, ihre Sorgfalt bei der Haltung,
        bei der Fütterung und bei der Verarbeitung von Rindern
        dem zu Recht kritischen Verbraucher leicht und schnell
        erkennbar vermittelt werden können. Ein nur mit einem
        Zahlencode versehenes Etikett dient letztlich der Rück-
        verfolgbarkeit einer ausgeschilderten Fleischpartie. Von
        Bedeutung ist dies bei Beanstandungen oder einer Seu-
        chenbekämpfung. DemVerbraucher erschließt sich damit
        in der kurzen Zeit seiner Kaufentscheidung die Herkunft
        des Tieres nicht. Wir wollen dem Verbraucher durch ein
        leicht erkennbares Zeichen die Herkunft des Rindflei-
        sches oder daraus hergestellterWaren vermitteln. Wir, die
        CDU/CSU-Fraktion, fordern deshalb, neben dem Buch-
        staben D die deutsche Flagge oder die Nationalfarben als
        Hintergrund der Etikettennummer für aus Deutschland
        stammende Rindfleisch- oder Verarbeitungsprodukte
        zwingend vorzuschreiben. Damit kann jeder Verbraucher
        schnell und sicher Rindfleisch deutscher Herkunft von
        Fleisch aus anderen Ländern unterscheiden. Die Bundes-
        regierung hat im Ausschuss für Ernährung, Landwirt-
        schaft und Forsten zugesagt, dieser von mir kommenden
        Forderung im Rahmen einer Verordnung zu entsprechen,
        sofern die EU-Kommission zustimmt. Damit wird unser
        Ziel einer leichten Erkennbarkeit von aus Deutschland
        kommendem Rindfleisch oder dessen Verarbeitungspro-
        dukten erreicht.
        Da in Deutschland bisher kein hier geborenes Rind an
        BSE erkrankt ist, kann man jede Gefährdung, die von die-
        ser Krankheit ausgeht, durch den Kauf von deutschem
        Rindfleisch sicher ausschließen. Das hat bisher auch Bun-
        deslandwirtschaftsminister Funke so gesehen. Deshalb
        haben wir kein Verständnis dafür, dass die EU-Kommis-
        sion vorschreibt, auch in Deutschland, ab dem 1. Oktober
        diesen Jahres so genanntes Risikomaterial, wie zum Bei-
        spiel das Hirn von Schlachtkörpern, einer getrennten Ent-
        sorgung zuzuführen. Der deutschen Landwirtschaft wer-
        den damit Kosten in Höhe von circa 60 Millionen Mark
        aufgebürdet. Dies ist der Dank dafür, dass in Deutschland
        schon immer alle Vorkehrungen gegen eine Verbreitung
        des BSE-Erregers getroffen wurden. Unsere Tierkörper-
        beseitigungsanlagen haben, anders als in Großbritannien,
        diese auch bei Schafen verbreitete Krankheit, sicher eli-
        miniert. Dass Landwirtschaftsminister Funke noch nicht
        einmal gegen diese EU-Pläne gestimmt hat, sondern sich
        der Stimme enthielt, ist ein Verrat an unseren Bauern.
        Ich fasse zusammen:
        Erstens. Unserem Antrag, eine klare und leicht erkenn-
        bare Etikettierung durch das Aufbringen der deutschen
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10589
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        Flagge oder der Nationalfarben für hier geborene, aufge-
        wachsene und geschlachtete Tiere gesetzlich vorzuschrei-
        ben, wird nach entsprechender Zusage im Ausschuss auf
        dem Verordnungswege entsprochen.
        Zweitens. Wir fordern Sie auf, weitere massive Belas-
        tungen von den deutschen Rindfleischerzeugern durch
        eine separate Entsorgung so genannter Risikomaterialien
        fernzuhalten.
        Drittens. Wir stimmen dem Gesetzentwurf zu und hof-
        fen, bei den Menschen wieder mehr Vertrauen für die
        hohe Qualität eines herzhaften Stück Rindfleischs zu
        wecken.
        Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das
        Verhältnis und das Vertrauen der Verbraucher zur Erzeu-
        gung der Lebensmittel in Deutschland ist für Bündnis 90/
        Die Grünen eine zentrale Frage. Alle Maßnahmen zur
        Verbesserung im Bereich der Futtermittel, der Herkunfts-
        etikettierung, der Kennzeichnung und der Vermarktung,
        die die Lebensmittelsicherheit und Transparenz stärken,
        stehen für uns unter der Zielsetzung Vertrauen herzustel-
        len und Zustimmung zu qualitativ hochwertiger Produk-
        tion zu erzielen.
        Einen wichtigen Schritt auf diesem Weg tun wir heute.
        Mit dem uns heute vorliegenden Zweiten Gesetz zur Än-
        derung des Rindfleischetikettierungsgesetzes können die
        Verbraucherinner und Verbraucher endlich – nachdem die
        alte Bundesregierung schon vor Jahren versprochen hatte,
        die Herkunftskennzeichnung einzuführen, und dies nicht
        einmal in den Hochphasen der BSE-Krise umzusetzen in
        der Lage war – erkennen, welches Fleisch aus Deutsch-
        land kommt. Mit den obligatorischen Angaben „D/D/D“
        plus einer Identifizierungsnummer auf dem Etikett kann
        die Herkunft vom Geburtsort des Tieres bis zur La-
        dentheke verfolgt werden. Zusätzliche Angaben zur Re-
        gion, zur Produktionsweise etc. sind möglich, sodass die
        regionale Vermarktung gestärkt wird. Zur Erleichterung
        der Erkennung werden wir die Einführung farblicher
        Kennzeichen – Landes- oder Bundesfarben – unterstützen
        und auf die Genehmigung durch die EU hinwirken. Die
        Sicherheit der Angaben wird durch hoheitliche Kontrol-
        len gewährleistet und so auch die Gebührenbelastung be-
        grenzt.
        Durch die nationale Kennzeichnung, für die Gesund-
        heitsministerin Andrea Fischer bei der Europäischen
        Kommission hart gestritten hat, und die Kennzeichnung
        britischen Rindfleisches können sich die Verbraucherin-
        nen und Verbraucher bewusst für oder gegen den Kauf
        von britischem Rindfleisch entscheiden. Wer auf Nummer
        sicher gehen will, greift am besten auf Produkte aus deut-
        scher und regionaler Produktion sowie aus artgerechter
        und ökologischer Tierhaltung zurück.
        Umstritten war bisher noch die Finanzierung der
        Überwachung des Gesetzes. Der Änderungsantrag der
        Fraktionen der SPD und des Bündisses 90/Die Grünen
        berücksichtigt nun wesentliche Anliegen der Länder. Die
        Lasten der Überwachung werden auf Bund und Länder
        verteilt. Die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Er-
        nährung überwacht die Einhaltung der Etikettierungs-
        syteme und kontrolliert die anerkannten unabhängigen
        Stellen. Die Länder werden zudem ermächtigt, die Über-
        wachung auf private Stellen im Wege der Beleihung zu
        übertragen. Die Wirtschaft hat weiterhin die Möglichkeit,
        freiwillige Zusammenschlüsse zu Etikettierungs- und
        Kontrollsystemen auch im Rahmen der obligatorischen
        Etikettierung fortzuführen. Die Länder können dann den
        Umfang ihrer Überwachungsmaßnahmen verringern. Ge-
        rade in Deutschland sind die Voraussetzungen für die ob-
        ligatorische Kennzeichnung gut, denn die Fleischwirt-
        schaft macht bereits seit 1998 von der freiwilligen Etiket-
        tierung Gebrauch. Allein mit dem Orgainvent-System
        werden schätzungsweise 70 Prozent der in Deutschland
        geschlachteten Rinder etikettiert.
        Mit der schnellen Umsetzung des Rindfleischetikettie-
        rungsgesetzes kommt Deutschland seiner europarechtli-
        chen Verpflichtung nach und nimmt gleichzeitig eine Vor-
        reiterrolle zum Wohle des Verbrauchers ein, weil die ob-
        ligatorische Herkunftsangabe, die europaweit ab dem
        1. Januar 2002 in Kraft tritt, national vorgezogen wird.
        Die EU-Agrarminister und das Europäische Parlament
        werden voraussichtlich in Kürze über das zukünftige
        EG-Rindfleischetikettierungsrecht beschließen. Es ist zu
        erwarten, dass Europäisches Parlament und Rat die be-
        treffende EG-Verordnung im Juli 2000 verabschieden
        werden, sodass die obligatorische Rindfleischetikettie-
        rung wie vorgesehen am 1. September 2000 beginnen
        kann. Der vorliegende Gesetzentwurf wurde im Agrar-
        ausschuss einmütig begrüßt. Wir fordern die Bundeslän-
        der auf, jetzt zügig im Bundesrat zuzustimmen, damit die
        Regelung sofort greifen kann.
        Das Gesetz ist ein Baustein im BSE-Schutzprogramm
        der Bundesregierung. Ein weiterer von der Bundesregie-
        rung eingeforderter Vorschlag der Kommission ist die
        Einführung einer obligatorischen offenen Deklaration der
        Futtermittel. Landwirte werden den Verbraucherwün-
        schen künftig nur durch eine klare und transparente Kenn-
        zeichnung beim Kauf von Futtermitteln entsprechen kön-
        nen und müssen die Möglichkeit haben, sich selbst abzu-
        sichern gegenüber den Lieferanten. Notwendig ist zudem
        eine Kennzeichnung von gentechnisch veränderten Kom-
        ponenten in Futtermitteln sowie ein Verbot der noch vier
        zugelassenen Antibiotika als Leistungsförderer. Die An-
        forderungen an die Futtermittel sollten europaweit in ei-
        ner Novel Feed Verordnung verbindlich geregelt werden.
        Angesichts der Sicherheitsbedürfnisse der Verbraucher
        war auch der jüngste Beschluss der EU-Agrarminister,
        dass ab dem 1. Oktober 2000 so genannte Risikomateria-
        lien wie Hirn, Augen und Rückenmark von geschlachte-
        ten Rindern, Ziegen und Schafen im Alter von mehr als
        zwölf Monaten entfernt werden müssen und nicht mehr zu
        Tierfutter verarbeitet werden dürfen, unumgänglich. In
        Deutschland ist zwar noch nie ein originärer BSE-Fall
        aufgetreten. Dennoch hat das Beispiel Dänemark gezeigt,
        dass Möglichkeiten der Übertragung bestehen. Die an
        sich sicheren Drucksterilisationsmethoden sind dann nach
        Ansicht der Kommission nicht mehr ausreichend. Vor die-
        sem Hintergrund wäre die Beibehaltung dieser Risikoma-
        terialien in Fleisch und Wurst sicherlich kein Verkaufs-
        schlager. Die Rückstände aus der Tierkörperbeseitigung
        können nun einer energetischen Nutzung zugeleitet wer-
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10590
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        den. Die entsprechende Förderung wird über die Biomas-
        severordnung durch die Bundesregierung bereitgestellt
        und muss jetzt ausgeschöpft werden. So können die Kos-
        ten für Landwirte und Lebensmittelverarbeiter gering ge-
        halten werden.
        Um das Vertrauen der Verbraucher wiederzugewinnen
        und zum Schutz des Images von Fleischprodukten sollten
        aus Sicht von Bündnis 90/Die Grünen Tiermehle – wie in
        Frankreich – generell aus der Futterkette genommen wer-
        den. Eindeutige, verbraucherfreundliche Kennzeichnung
        und klare Sicherheitsbestimmungen werden sich auf
        Dauer als wichtiger Markt- und Standortvorteil für die
        deutsche Landwirtschaft erweisen. Die Fleischwirtschaft
        sollte dies als Chance offensiv nutzen und in ihre Ver-
        marktungsstrategien einbeziehen.
        Ulrich Heinrich (F.D.P.): BSE war und ist eine ge-
        fährliche Seuche, die nach wie vor eine Gefahr für die Ge-
        sundheit der Menschen in ganz Europa darstellt. Deshalb
        muss dem Verbraucherschutz absoluter Vorrang vor wirt-
        schaftlichen Interessen eingeräumt werden.
        Jahr für Jahr treten alleine in Großbritannien mehr als
        2000 BSE-Fälle auf. Bisher sind 53 Todesfälle zu bekla-
        gen. Schon aus diesem Grunde hätte das Exportverbot für
        britisches Rindfleisch niemals aufgehoben werden dür-
        fen. Erst nach Einführung der europaweiten obligatori-
        schen Etikettierung hätte man an diesen Schritt denken
        können.
        Die Bundesregierung und insbesondere die grüne Ge-
        sundheitsministerin, Andrea Fischer, haben beim Schutz
        der Verbraucher vor der Rinderseuche BSE Durchset-
        zungskraft vermissen lassen. Frau Fischer hätte dafür sor-
        gen müssen, dass unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft
        eine obligatorische Etikettierung von Rindfleisch zum
        1. Januar 2000 auch tatsächlich EU-weit eingeführt
        wurde.
        Mit der obligatorischen Kennzeichnung und Etikettie-
        rung von Rindfleisch und deren Erzeugnissen bekommt
        der Verbraucher die Gewissheit, dass er das hochwertige
        Nahrungsmittel Rindfleisch aus Deutschland angeboten
        bekommt.
        Jüngste BSE-Ausbrüche in Frankreich, Dänemark und
        Großbritannien signalisieren, dass die Seuche in diesen
        Ländern noch nicht besiegt ist. Im Gegensatz zu Großbri-
        tannien, dem Hauptverursacher der BSE-Krise, hat man
        in Deutschland große Anstrengungen unternommen, um
        rechtzeitig ein voll funktionsfähiges System zur Rind-
        fleischetikettierung aufzubauen.
        Die Einigung der EU-Agrarminister am 14. April die-
        ses Jahres, die Einführung der Etikettierung von Rind-
        fleisch nun doch zum Teil wie ursprünglich vereinbart von
        2003 auf 2001 vorzuziehen, ist aus Verbrauchersicht zu
        begrüßen. Demnach sollen ab dem 1. September dieses
        Jahres die Verbraucher über den Schlachtort und die Her-
        kunft des Tieres an der Ladentheke informiert werden. Ab
        dem 1. Januar 2002 soll die Etikettierung auch Aufschluss
        über Geburtsort und Mastbetrieb geben.
        Die Vorstellungen von Agrarminister Karl-Heinz
        Funke, in Deutschland die Zusatzinformationen über den
        Ort der Geburt und Mast, der Schlachtung und der Zerle-
        gung des Tieres bereits ebenfalls im September diesen
        Jahres einzuführen, sind zwar aus verbraucherpolitischer
        Sicht lobenswert, benachteiligen aber zugleich die deut-
        schen Landwirte und alle beteiligten Wirtschaftszweige in
        ihrer Wettbewerbsfähigkeit. Eine zusätzliche Kennzeich-
        nung erfordert zusätzliche Kosten.
        Fest steht: Deutschland war und ist BSE-frei. Das be-
        stätigen auch aktuelle Untersuchungen des Internationa-
        len Tierseuchenamtes, bei denen eindeutig festgestellt
        worden ist, dass bei deutschen Tieren noch kein Fall von
        Rinderwahn festgestellt worden ist. Mit Stolz verkündete
        Bundeslandwirtschaftsminister Funke dieses Ergebnis
        und erklärte beim Treffen der EU-Agrarminister, dass
        Sonderregelungen wie das Beseitigen von Risikomateria-
        lien in Deutschland nicht notwendig sind. Deshalb ist die
        Enthaltung Deutschlands bei der jüngsten Sitzung der
        EU-Agrarminister nicht nachvollziehbar. Hier hätte ein
        klares Nein erfolgen müssen.
        Zur Durchsetzung schärferer Schutzbestimmungen,
        wonach die EU-Kommission beabsichtigt, künftig Risi-
        komaterial geschlachteter Rinder, Ziegen und Schafen im
        Alter von mehr als zwölf Monaten zu entfernen, gibt es
        nach Auffassung der F.D.P. keine Veranlassung. Man
        kann nicht Länder wie Deutschland und Großbritannien
        über einen Kamm scheren. Hätte die EU die zwingende
        Modernisierung der Tiermehlproduktion entsprechend
        des deutschen Systems durchgesetzt, bräuchte man eine
        Sonderregelung für Risikomaterialien nicht einzuführen.
        Das deutsche System, diese Materialien mit einem ther-
        mischen Verfahren bis zum Zerfall der Weichteile zu er-
        hitzen und anschließend mindestens 20 Minuten lang bei
        einer Temperatur von 133 °C und einem Druck von 3 bar
        zu halten, ist absolut sicher.
        Kersten Naumann (PDS):Mit dem vorliegenden Ge-
        setzentwurf beschließen wir eine jener Regelungen, die
        zwar ein dringendes gesellschaftliches Problem auf-
        greift – die Sicherung der Gesundheit der Verbraucher –,
        durch die das Problem aber nicht an der Wurzel gepackt
        wird. Bei dem Rindfleischetikettierungsgesetz handelt es
        sich um eine der üblichen „end-of-pipe“-Lösungen.
        Nachdem ein Störfall eingetreten ist, kann rückverfolgt
        werden, was die Ursache war. Und wie die Vergangenheit
        lehrt, ist das für den Verursacher nicht so dramatisch, als
        wenn er durch Einhaltung gesetzlicher Bestimmungen auf
        Profite verzichtet hätte.
        Mit dem Etikettierungsgesetz kann Etikettenschwindel
        nicht verhindert werden. Wir beschließen also heute nach
        dem Prinzip: Der Spatz in der Hand ist besser als die
        Taube auf dem Dach. Wenn es um die Gesundheit der Ver-
        braucher geht, sollte dieses Prinzip allerdings unzulässig
        sein. Deshalb fordern wir weitere Anstrengungen bei der
        Beseitigung von gesundheitlichen Gefahrenquellen, die
        leider nur all zu bekannt sind – Stichworte: BSE, Dioxin,
        Wachstumshormone, Antibiotika usw. Für verhängnisvoll
        halten wir, wenn die Rindfleischetikettierung auf ein Mar-
        ketinginstrument reduziert wird, wie das die Verarbei-
        tungsindustrie tut.
        Eine hochwirksame Gesundheitsvorsorge muss in der
        Primärproduktion von Rindern ansetzen. Notwendig ist
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10591
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        eine Produktionsorganisation, durch die auf allen Produk-
        tionsstufen eine zuverlässige Kontrolle gesichert wird.
        Agrarpolitisch ist eine Verbundlandwirtschaft zu fördern,
        die durch stabile Kooperationsketten eine technologisch
        bedingte und wechselseitige Kontrolle aller Produktions-
        partner ermöglicht.
        Wir stimmen Professor Windhorst von der Hochschule
        Vechta zu: „Die Erzeugung tierischer Nahrungsmittel
        steht an einer Wende.“ Nach seiner Auffassung gibt es „in
        der tierischen Veredelung zum Aufbau kontrollierter Pro-
        duktionssysteme keine Alternative ... Grundsätzlich kön-
        nen Herkunfts- und Qualitätssicherungssysteme nur dann
        funktionieren, wenn geschlossene Produktionssysteme
        bestehen.“
        Was wir brauchen ist eine konsequente Weiterführung
        der Prüfsiegelpolitik der CMA. Erfahrungen aus den Nie-
        derlanden besagen: „Die Sicherheit beginnt beim Roh-
        stoff und damit beim Tier, was strikte Gesundheitspro-
        gramme auf Erzeugerebene erfordert.“ In der Bundesre-
        publik gibt es dafür aber sehr schlechte Voraussetzungen.
        Bei einer Auslastung der Rinderschlachtkapazität von
        30 Prozent wird der notwendige Konsolidierungsprozess zu
        einer Verschärfung des Rindertourismus führen. Die für
        den Herkunftsnachweis so wünschenswerte Regionalisie-
        rung der Produktion und Verarbeitung wird durch die
        Marktgesetze nicht realisiert werden.
        Deshalb müssen die Verbraucher weiter außerparla-
        mentarischen Druck ausüben, damit auch mit dem Etiket-
        tierungsgesetz ihre berechtigten Interessen nicht auf der
        Strecke bleiben. Die Etikettierung muss ein Einstieg
        in eine grundlegende Veränderung der Agrarproduktion
        sein. Und dem muss die Agrarpolitik Rechnung tragen.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10592
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        Druck: MuK. Medien-und Kommunikations GmbH, Berlin