Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000
Vizepräsident Rudolf Seiters
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1)Anlage 6 2) Anlage 7
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Adam, Ulrich CDU/CSU 29.06.00**
Altmaier, Peter CDU/CSU 29.06.00
Becker-Inglau, Ingrid SPD 29.06.00
Behrendt, Wolfgang SPD 29.06.00**
Bettin, Grietje BÜNDNIS 90/ 29.06.00
DIE GRÜNEN
Bindig, Rudolf SPD 29.06.00**
Dr. Blüm, Norbert CDU/CSU 29.06.00
Brudlewsky, Monika CDU/CSU 29.06.00
Bühler (Bruchsal), CDU/CSU 29.06.00**
Klaus
Buwitt, Dankward CDU/CSU 29.06.00**
Follak, Iris SPD 29.06.00
Friedrich (Altenburg), SPD 29.06.00
Peter
Gebhardt, Fred PDS 29.06.00
Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 29.06.00
Haack (Extertal), Karl SPD 29.06.00**
Hermann
Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 29.06.00
DIE GRÜNEN
Dr. Hornhues, CDU/CSU 29.06.00**
Karl-Heinz
Hornung, Siegfried CDU/CSU 29.06.00**
Hörster, Joachim CDU/CSU 29.06.00**
Jäger, Renate SPD 29.06.00**
Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 29.06.00
Lintner, Eduard CDU/CSU 29.06.00**
Lörcher, Christa SPD 29.06.00**
Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 29.06.00**
Erich
Prof. Dr. Meyer (Ulm), SPD 29.06.00
Jürgen
Müller (Berlin), PDS 29.06.00**
Manfred
Neumann (Gotha), SPD 29.06.00**
Gerhard
Polenz, Ruprecht CDU/CSU 29.06.00
Dr. Schäfer, Hansjörg SPD 29.06.00
Schily, Otto SPD 29.06.00
Schloten, Dieter SPD 29.06.00**
Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 29.06.00
Hans Peter
von Schmude, Michael CDU/CSU 29.06.00**
Sothmann, Bärbel CDU/CSU 29.06.00
Weiß (Emmendingen), CDU/CSU 29.06.00
Peter
Wiese (Hannover), SPD 29.06.00
Heino
Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 29.06.00**
Wolf (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 29.06.00
Margareta DIE GRÜNEN
Zierer, Benno CDU/CSU 29.06.00**
** für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm-lung des Europarates
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Antrags: Für einen verbesser-
ten Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz (Tages-
ordnungspunkt 10)
Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Wenn man
die heutige Rednerliste zum Thema Nichtraucherschutz
durchschaut, mag der Eindruck aufkommen, als sei sich
der deutsche Bundestag im Grunde darüber einig, dass
unser Initiative-Antrag richtig und notwendig ist. Da ich
jedoch weiß, dass viele Abgeordnete aus den unterschied-
lichsten Gründen anderer Meinung sind, danke ich aus-
drücklich meiner Kollegin Irmgard Schwaetzer dafür,
dass sie ihre Gegenposition hier vor der Öffentlichkeit
deutlich macht. Sie spricht erkennbar für viele Kollegin-
nen und Kollegen, die es vorgezogen haben, heute nichts
zu sagen. Sich zu bedanken heißt aber nicht, ihr auch zu-
zustimmen. Ganz im Gegenteil: Ich habe als Mitinitiator
eines verbesserten Nichtraucherschutzes in den vergange-
nen Monaten dazu beigetragen, dass aller ideologischer
entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlagen zum Stenographischen Bericht
Ballast beim Nichtraucherschutz gestrichen wurde. Wir
wollen nicht die Menschen erlösen. Wir wollen auch nicht
als quasi selbsternannte Pfleger unsere Einsicht an die
Stelle der Entscheidung willensschwacher Raucher set-
zen.
Kurz: Als Liberaler respektiere ich auch den Willen des
Einzelnen, der sich selbst umbringen will, als Raucher
schleichend und auf Raten. Ich halte aber auch nichts von
Klagen krebskranker Dauerraucher gegen die Produzen-
ten von Tabakwaren, die angeblich über die Gesundheits-
risiken nicht genug aufgeklärt haben.
Ich halte es für außerordentlich ärgerlich, wie in der
Öffentlichkeit und eben auch bei einem großen Teil der
Abgeordneten die Gefahren des Rauchens und des Mit-
rauchen-Müssens verharmlost werden. Wer seine Augen
noch zum Lesen und seinen Verstand noch zum Nachden-
ken hat, kommt um die Erkenntnis nicht herum, dass Ni-
kotin wohl der größte Killer in Deutschland ist. Ich will
aber heute die gesundheitlichen Gefahren des Rauchens
und des Mitrauchen-Müssens gar nicht in den Vorder-
grund stellen, da dies meine Mitinitiatoren bereits getan
haben.
Ich verweise in diesem Zusammenhang nur darauf,
dass in Deutschland Gefährdungen durch Asbest oder
Formaldehyd oder PCB am Arbeitsplatz sehr ernst ge-
nommen werden, dass ganze Gebäude abgerissen oder
mit horrendem Aufwand saniert werden, dass aber gleich-
zeitig das Problem der Zuführung des Umweltgiftes
Nummer eins, Nikotin, in unglaublicher Weise vernied-
licht wird.
Wir haben eine Arbeitsstättenverordnung, die von den
jeweiligen Regierungen rot-gelb oder schwarz-gelb im-
mer wieder verfeinert wurde. Sie regelt die Zahl der Beine
eines Stuhls im Büro, verpflichtet uns selbst in Kleinstbe-
trieben zur Errichtung von getrennten Toiletten für Da-
men und Herren und bemüht sich, alles Mögliche – Sinn-
volle, aber nicht zwingend Notwendige – im betrieblichen
Bereich sicherzustellen.
Wenn aber ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin un-
ter der Nikotinzufuhr am Arbeitsplatz leidet, dann hat sie
keinen Schutz durch unsere Gesetze oder Verordnungen.
Sie muss sich selbst gegenüber den Mitarbeitern, die am
Arbeitsplatz rauchen wollen, und gegenüber dem Arbeit-
geber, ja oft auch gegenüber dem Betriebsrat rechtferti-
gen, um ihren natürlichen Anspruch auf einen rauchfreien
Arbeitsplatz durchsetzen zu können.
Es ist abenteuerlich, wenn hier auf die Eigenverant-
wortung und Eigeninitiative des einzelnen Arbeitnehmers
abgestellt wird. Warum in Gottes Namen soll er Kollegin-
nen und Kollegen verärgern und seinen Anspruch auf gute
Luft verteidigen müssen? Warum muss er sich von törich-
ten Kollegen als scheinbar illoyal, jedenfalls als illiberal
bezeichnen lassen? Warum muss er die Ochsentour durch
drei Gerichtsinstanzen machen, um schließlich beim
Bundesarbeitsgericht Recht zu bekommen?
Auch derjenige, der beim Arbeitsgericht gewinnt, muss
in erster Instanz seine Kosten oder die Kosten des Anwal-
tes selbst zahlen. Warum diesen finanziellen, zeitlichen
und emotionalen Aufwand dem einzelnen Arbeitnehmer
aufbürden, obwohl es eine selbstverständliche Pflicht des
Arbeitgebers ist, dafür zu sorgen, dass seine Mitarbeiter in
guter Luft, das heißt in nicht gesundheitsgefährdender,
aber auch in angenehmer Umgebung arbeiten können?
Es ist Teil der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers, das
Mögliche für die Gesundheit und die Lebensqualität sei-
ner Mitarbeiter zu tun. Wir wissen aber, dass bei Milli-
onen von Arbeitsplätzen die Sicherstellung eines rauch-
freien Arbeitsplatzes nicht gewährleistet ist, obwohl dies
ohne Schwierigkeiten möglich wäre.
Kurz: Wir halten es für eine schlichte Notwendigkeit,
dass der Arbeitgeberseite durch die Arbeitsstättenverord-
nung deutlich gemacht wird, welche Pflichten ein Arbeit-
geber auch im Bereich der Gesundheitsvorsorge und im
Bereich des Schutzes vor schlechter Luft zukommt.
Gewiss gibt es auch andere üble Düfte. Da wir uns bei
unserem Thema schon an der Schnittstelle von Gesund-
heitspolitik und Sozialpolitik befinden, darf ich die Sache
hier auch beim Namen nennen: Viele Menschen leiden ge-
legentlich unter Blähungen. Es ist gesellschaftlicher Kon-
sens durch alle Gruppen der Bevölkerung, dass Probleme
mit Blähungen an Orten gelöst werden, wo andere Men-
schen nicht belästigt werden. Nun geht es bei der Abluft
in solchen Fällen nicht um gesundheitsgefährdende, son-
dern nur um die das Wohlbefinden beeinträchtigende Zu-
führung von übler Luft. Beim Mitrauchen-Müssen wird
die Lebensfreude in ähnlicher Weise beeinträchtigt; dazu
kommt noch die Gesundheitsgefährdung. Leider hat sich
durch die Dominanz der Raucher in der Gesellschaft bis-
her nicht in gleicher Weise wie bei dem Problem der
Blähungen ein gesellschaftlicher Konsens entwickelt,
dass man nikotingeschwängerte Abluft den Kollegen
nicht zumutet.
Natürlich können wir diese Botschaft im Einzelge-
spräch vielen Menschen sagen: Denk daran, dass andere
nicht in Deinem Abluftkamin sitzen wollen! Dennoch
sollten wir alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer erreichen
und diejenigen, die den Mut nicht aufbringen, gegen die
Mitarbeiter, Betriebsrat und Chefs anzugehen, stützen.
Daher unser Antrag, die Arbeitsstättenordnung zu ändern.
Bitte stimmen Sie diesem Anliegen zu!
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung: Bildung
für eine nachhaltige Entwicklung (Tagesord-
nungspunkt 12)
Adelheid Tröscher (SPD):Mit der Agenda 21 hat die
Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Ent-
wicklung, UNCED, ein Schlussdokument vorgelegt, das
die Unterzeichnerstaaten verpflichtet, ihre Gesamtpolitik
am Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung auszurichten.
Insbesondere in Kapitel 36 der Agenda 21 wird dazu
aufgerufen, auch bei uns die Bildungsinvestitionen zu-
gunsten eines nachhaltigen Entwicklungsweges substain-
able development – auf allen Ebenen – national, regional
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und kommunal –, in allen Bereichen – schulisch und
außerschulisch – sowie bei allen Akteuren – staatlichen
und nichtstaatlichen – zu steigern. Hierzu braucht man
Mittel und Konzepte.
Dabei werden vor allem an die Umweltbildung und die
entwicklungspolitische Bildung neue Anforderungen he-
rangetragen. Die Lösung der globalen Probleme verlangt
einen tief greifenden gesellschaftlichen und politischen
Wandel. Und gerade dabei kommt der schulischen wie
außerschulischen Bildungsarbeit eine Schlüsselrolle zu.
Die Förderung des Bildungswesens gehört zu den
Schwerpunkten der deutschen Entwicklungszusammen-
arbeit. Viele Länder, vor allem in Afrika südlich der Sa-
hara, sind kaum noch in der Lage, die hohen Kosten, die
ein halbwegs funktionierendes Bildungswesen verur-
sacht, aufzubringen. Erforderliche Reformen können oft
nicht durchgeführt werden. Es gilt jedoch, immer stärkere
Jahrgänge der jungen Generation mit Kenntnissen und
Fertigkeiten auszustatten, die für eine aktive Beteiligung
am wirtschaftlichen und sozialen Leben notwendig sind.
Im Mittelpunkt unserer Entwicklungszusammenarbeit
im Bildungsbereich steht insbesondere der Auf- und Aus-
bau von Bildungseinrichtungen in den Entwicklungslän-
dern selbst. Daneben hat die Aus- und Fortbildung von
Angehörigen aus den Partnerländern in der Bundesrepu-
blik eine ergänzende Funktion. Dies basiert vor allem auf
folgenden Erkenntnissen:
Investitionen in die Grundbildung haben hohe volks-
wirtschaftliche und persönliche Erträge; berufliche Bil-
dung und Hochschulbildung sind effektiver und nachhal-
tiger, wenn sie auf einer ausreichenden Grundbildung auf-
bauen. Wichtige Projektansätze, die unterstützt werden,
sind die Förderung des muttersprachlichen Anfangsunter-
richts, die Verbesserung des naturwissenschaftlichen Un-
terrichts, die Einführung praktischer Fächer, die Lehrmit-
telentwicklung und -herstellung sowie die Lehreraus- und
-fortbildung. Und ebenso werden Alphabetisierungspro-
gramme im Zusammenhang mit der Unterweisung in Fra-
gen der Gesundheit, der Hygiene, der Landwirtschaft und
des Umweltschutzes gefördert. Und hinzu kommen in den
nächsten Jahren auch eine verstärkte Bereitstellung und
Nutzung von modernen Informationstechnologien.
Insofern ist es unabdingbar, dass die entwicklungspo-
litische Bildung, neben der Umweltbildung, als tragende
Säule einer Bildung für nachhaltige Entwicklung verstan-
den wird.
Entwicklungspolitische Bildung, einschließlich aller
Kultur-, Aus- und Fortbildungsprogramme, ist durch For-
schungs-, Entwicklungs- und Modellvorhaben in ähnli-
chem Umfang wie die Umweltbildung zu fördern. Damit
sollen Kenntnisse über die sozialen, politischen, ökono-
mischen, ökologischen und kulturellen Lebensumstände
der Menschen in den Ländern des Südens verbessert, soll
das Verständnis für globale Zusammenhänge vertieft so-
wie zum Einsatz für die Menschenrechte und für nach-
haltige Entwicklung in der „Einen“ Welt motiviert wer-
den. Ein Beispiel hierfür ist auch, dass die Bundesregie-
rung die zweite Nord-Süd-Kampagne des Europarates
„Global Interdependence and Solidarity: Europe against
Poverty and Social Exclusion“ aktiv unterstützt.
Grundbildung allein macht die betroffenen Menschen
weder satt noch reich; sie ist auch nicht in der Lage, so-
ziale Gerechtigkeit herbeizuführen. Grundbildung kann
aber ihr Potenzial dann entfalten, wenn entsprechende
Rahmenbedingungen, insbesondere Beschäftigungsmög-
lichkeiten, gegeben sind.
Bildung hat aber generell eine große Bedeutung für den
Einzelnen und seine Familie. Sie trägt zur Erhöhung des
Selbstbewusstseins und der Eigenständigkeit bei; sie ver-
bessert damit auch die Chancen, Einkommen zu erzielen
bzw. zu erhöhen, die persönlichen und familiären Le-
bensbedingungen durch Selbsthilfe zu verbessern und
sich vor Ausbeutung zu schützen.
So zeigen etwa Weltbankstudien, dass schon eine vier-
jährige Schulbildung die Produktivität von kleinen land-
wirtschaftlichen Betrieben generell erhöht. Bildung kann
sich auch auf Kinderzahl, Ernährung und Gesundheit aus-
wirken. So haben zum Beispiel Frauen mit mehr als vier
Jahren Schulbildung etwa ein Drittel weniger Kinder als
analphabetische Frauen. Die Mortalitätsrate ihrer Kinder
ist halb so hoch wie die von analphabetischen Frauen.
Schließlich haben Kinder von Eltern mit Schulbildung
eine deutlich größere Chance, selbst eingeschult zu wer-
den und eine längere Schulbildung zu erhalten als Kinder
von analphabetischen Eltern.
Dies zeigt: Die durch Bildung vermittelten und erwor-
benen Fertigkeiten, Kenntnisse, Fähigkeiten und Wert-
vorstellungen nützen dem Einzelnen und seiner Familie.
Sie tragen zur Entwicklung von Wirtschaft und Gesell-
schaft bei und sind eine wichtige Voraussetzung für einen
verantwortungsvollen Umgang mit der Natur sowie für
das Zusammenleben und Überleben in einer sich wan-
delnden Welt.
In Bildung zu investieren heißt in diesem Sinne, in
Menschen zu investieren und ihnen eine bessere Zukunft
zu ermöglichen. Auch so werden wir dem Leitbild einer
nachhaltigen Entwicklung bei uns, aber auch in den Län-
dern des Südens gerecht.
Ursula Burchardt (SPD): Nachhaltige Entwicklung
lässt sich auf eine einfache Formel bringen: Weniger ist
mehr; mehr Wohlstand und mehr Lebensqualität durch
weniger Energie- und Ressourcenverbrauch, weniger
Schadstoffe, Emissionen und Abfälle. Hinter dieser einfa-
chen Formel steckt eine anspruchsvolle Aufgabe, ein ge-
waltiges Innovationsprogramm. Innovation aber setzt In-
novationsfähigkeit voraus. Kurz gesagt: Nachhaltige Ent-
wicklung braucht neue Qualifikationen. Darum geht es in
unserem Antrag und der vorliegenden Beschlussempfeh-
lung.
Innovationen für Nachhaltigkeit erfordern zunächst
einmal neues Sach- und Fachwissen über die komplexen
Zusammenhänge zwischen Mensch, Natur und Technik.
Doch Wissen alleine reicht nicht: Nachhaltige Entwick-
lung erfordert neue Fähigkeiten: vor allem vernetztes und
vorausschauendes Denken, die Fähigkeit zu Kommunika-
tion und Kooperation neuer Art und vor allem die Fähig-
keit zu lebenslangem Lernen.
Dies sind genau die Qualifikationen, die die Innovati-
onsfähigkeit einer Gesellschaft im Zeitalter der Globali-
sierung ausmachen. Sie sind die Voraussetzung dafür,
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dass struktureller Wandel nicht nur erlebt und erlitten
wird. Sie ermöglichen Teilhabe und die Fähigkeit zur ak-
tiven Mitgestaltung des Wandels.
Damit sind die wesentlichen Ziele umrissen. Diese
müssen Eingang finden in die klassischen Bildungsinsti-
tutionen von der Grundschule bis zur Universität und in
die berufliche Aus- und Weiterbildung. Eine zunehmend
wichtige Rolle spielen aber auch informelle Lernprozesse
etwa im Rahmen von lokalen Agenden in den Kommu-
nen. Auch hier muss angesetzt werden.
Zu all diesen Bereichen enthält unser Antrag, der vor
einem guten Jahr in den Bundestag eingebracht wurde,
konkrete Forderungen. Mit großer Zufriedenheit stelle ich
fest, dass die Bundesregierung schon einige zentrale
Punkte aufgegriffen hat: Ein wichtiger Impuls für die
schulische Bildung ist BINE, das Bund-Länder-Projekt
„Bildung für eine Nachhaltige Entwicklung“. Das Fünf-
jahresprogramm wird vom BMBF und den Ländern mit
25 Millionen DM gefördert.
Ziel ist die strukturelle Verankerung der neuen Lernin-
halte und neuer Lernformen und -methoden in die schuli-
sche Regelpraxis. Fächerübergreifendes Lernen soll zum
zentralen Unterrichts- und Organisationsprinzip an Schu-
len werden.
Was heißt das praktisch? Ich will nur zwei Beispiele
nennen.
Erstens. Schüler lernen, ökologisch zu wirtschaften:
Sie gründen Schülerfirmen, organisieren Herstellung und
Vertrieb von Produkten, bieten Dienstleistungen an und
achten dabei darauf, Ressourcen sparend und zugleich
ökonomisch zu arbeiten.
Zweitens. Schüler unterziehen ihre Schulen einem
Nachhaltigkeitstest. So erkunden sie in ihrem eigenen Le-
bens- und Arbeitsbereich, wie beispielsweise Wasser oder
Energie eingespart werden können, wie Abfall und Ähn-
liches zu vermeiden ist und kooperieren dabei mit Betrie-
ben und der Verwaltung ihrer Kommune.
So können junge Menschen wirklich für das Leben ler-
nen, Wissen und Erfahrung erwerben, was für sie als Ar-
beitnehmer, als Konsument und als Bürger nützlich ist.
Auch die berufliche Bildung braucht eine nachhaltige
Erneuerung. Das gilt für die Standardlernziele in den Aus-
bildungsordnungen, die Entwicklung neuer Berufsbil-
dung und die Rahmenpläne für den Berufsschulunterricht.
Besonders wichtig ist uns in diesem Zusammenhang, dass
auch die Ausbildung der Ausbilder auf den Prüfstand
kommt.
Was die Aus- und Fortbildung betrifft, fordern wir
zunächst einmal zuständigkeitshalber die Bundesregie-
rung auf, nachhaltige Entwicklung zum selbstverständli-
chen Bestandteil von Fortbildungskonzepten zu machen.
Wenn beispielsweise, wie von uns in einem Antrag vor
wenigen Wochen gefordert, in allen Ministerien und Bun-
desbehörden demnächst Umweltcontrolling und Um-
weltmanagement stattfinden sollen, liegt es in der Verant-
wortung des Arbeitgebers, die Mitarbeiter dafür fit zu ma-
chen.
Ich habe die informellen Lernprozesse angesprochen.
Sie vollziehen sich in den vielfältigsten Aktivitäten, zum
Beispiel in Umwelt- und Entwicklungsinitiativen oder in
lokalen Agendaprozessen. Sie verdienen mehr Unterstüt-
zung durch Beratung und Förderung von Netzwerken.
Diese ist angelegt in dem BMBF-Programm „Netzwerk
Lernende Regionen“ und dem BLK-Programm „Lebens-
langes Lernen“.
Das für eine nachhaltige Entwicklung erforderliche
Wissen muss auch produziert werden. Deshalb wollen wir
neue Schwerpunkte in der Forschungspolitik. Auch da ist
schon einiges auf den Weg gebracht worden. Ich erwähne
beispielhaft die Projekte zu nachhaltigem Konsum und
Lebensstilen und den Förderschwerpunkt „Nachhaltiges
Wirtschaften“, bei dem ausdrücklich vorgesehen ist, mit
den Akteuren aus Bildungseinrichtungen, Verbänden und
Vereinigungen auf regionaler Ebene zusammenzuarbei-
ten, um die praktische Relevanz der einzelnen Projekte si-
cherzustellen.
Ich begrüße es außerordentlich, dass aus unserem An-
trag eine gemeinsame Beschlussempfehlung aller Frak-
tionen des Hauses geworden ist. Das ist wichtig für die
Sache. Es mag Erklärung und Trost für die interessierten
und engagierten Menschen in der Republik sein, die seit
gut einem Jahr darauf warten, dass der Deutsche Bundes-
tag entscheidet.
Schon im Vorfeld der Einbringung, noch in der Phase
der Entstehung des Antrages haben uns viele gute Hin-
weise und Anregungen erreicht. Ich möchte die Gelegen-
heit nutzen, all denjenigen außerhalb des Bundestages zu
danken, die dazu beigetragen haben, dass aus unserem
Antrag eine runde und erfolgreiche Initiative geworden
ist.
Abschließend möchte ich die Gelegenheit nutzen, um
im parlamentarischen und außerparlamentarischen Raum
für die nationale Nachhaltigkeitsstrategie zu werben, die
die Bundesregierung mit einem Kabinettsbeschluss am
12. Juli 2000 starten wird. Denn dieses Unternehmen wird
nur ein Erfolg werden, wenn es als gemeinsame Anstren-
gung aller Kräfte innerhalb und außerhalb des Parlaments
betrieben wird.
Ulrike Mehl (SPD): Ich freue mich, dass wir heute ei-
nen gemeinsamen Antrag zur „Bildung für eine nachhal-
tige Entwicklung“ beraten können. Wir knüpfen damit an
die vergangenen Legislaturperioden an, in denen wir zu-
mindest in Fragen der Umweltbildung zwischen den
Fraktionen weit gehende Übereinstimmungen erzielen
konnten. Damit stellen wir die Bedeutung der Bildung für
die Verwirklichung einer „nachhaltigen Entwicklung“ he-
raus und wir geben den vielen ehrenamtlich oder in ihrer
Freizeit tätigen Akteuren ein wichtiges positives Signal.
An dieser Stelle all jenen, die sich in Verbänden und
Initiativen für die Umweltbildung zum Teil langjährig en-
gagieren, einen herzlichen Dank.
Aber es darf nicht das Missverständnis aufkommen,
dass die Aufgaben der klassischen Umweltbildung, die
die erste Säule der Bildung für eine nachhaltige Entwick-
lung bildet, damit bereits abgehakt wären, und es jetzt nur
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noch um die Erweiterung der Begriffsdefinition ginge.
Vielmehr müssen parallel zu dem inhaltlich vollzogenen
Paradigmenwechsel, unabhängig von bundes- oder lan-
despolitischer Zuständigkeit, auch bestehende Defizite
aufgearbeitet werden.
Zwar ist 1971 im Umweltprogramm der damaligen
Bundesregierung zum ersten Mal die Verknüpfung von
Bildungs- und Umweltpolitik verankert worden. Damals
hieß es: „Umweltbewusstes Verhalten muss als allgemei-
nes Bildungsziel in die Lehrpläne aller Bildungsstufen
aufgenommen werden.“ Heute wissen wir, dass umwelt-
gerechtes und soziales Verhalten nur zu einem geringen
Teil von Lernen und Wissen und schon gar nicht nur von
Lehrplänen abhängt. Es geht also um mehr als nur um
reine Wissensvermittlung, wenngleich das Wissen eine
wesentliche Vorraussetzung für künftiges Handeln ist.
Es kommt vielmehr darauf an, dass der gesamte Hand-
lungsrahmen stimmt. Es muss umweltfreundliche Alter-
nativen geben, die in das Leben des Einzelnen oder in be-
triebliche Entscheidungsprozesse mit allen wirtschaftli-
chen und sozialen Aspekten hineinpassen. Deshalb muss
„Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ in die Ge-
samtstrategie zur nachhaltigen Entwicklung eingebettet
werden. Deshalb halte ich die in unserem Antrag unter
Punkt 3 geforderten Forschungs- und Entwicklungspro-
gramme und die dazu passenden Modellversuchspro-
gramme, die sich mit nachhaltigen Konsum- und Lebens-
stilen sowie nachhaltigem Wirtschaften befassen sollen,
für außerordentlich wichtig.
Wir brauchen Erkenntnisse darüber, wie wir es schaf-
fen können, Wissen und Handeln besser miteinander in
Einklang zu bringen, und wir brauchen neue Ideen, um
das umzusetzen. Wir kennen doch alle die Schere im
Kopf. Selbst wenn wir die umweltpolitischen Notwendig-
keiten kennen, heißt das noch lange nicht, dass wir uns
auch dementsprechend verhalten, unter anderem deshalb,
weil es einfach nicht unserem Lebensstil entspricht. Das
hat auch jede Menge mit Bequemlichkeit zu tun, auf die
keiner gern verzichtet. Wer denkt denn heute noch darü-
ber nach, ob man in unseren Breiten überhaupt eine Kli-
maanlage im Auto braucht, die vielleicht einen halben Li-
ter Benzinverbrauch mehr bedeutet, wenn das schon fast
zur Standardausstattung eines Kleinwagens gehört?
Oder wie steht es mit der Stand-by-Schaltung unseres
Fernsehers oder des Videorecorders? Wir kommen nicht
darum herum, uns mit den neuen gesellschaftlichen Ent-
wicklungen auseinander zu setzen. Für unsere Jugendli-
chen muss umweltfreundliches Verhalten eben cool sein
und nicht megaout. Dafür brauchen wir neue Kampagnen
und die neuen Medien, ohne die wir die Kinder und Ju-
gendlichen kaum noch erreichen werden. Gerade deshalb
ist es wichtig, die Lebensstile zu erforschen, gegebenen-
falls zu ändern und dafür zu sorgen, dass vernünftige
Handlungsalternativen entwickelt und angeboten werden,
die zum jeweiligen sozialen Umfeld passen.
Für die Politik heißt das: Wir müssen sozialverträgli-
che Alternativen in der Verkehrspolitik erarbeiten, damit
der ÖPNV attraktiver wird und verbrauchsarme Autos
nicht nur entwickelt, sondern auch auf den Markt gebracht
werden. Wir müssen die Lebenszyklen von Produkten
vom Anfang bis zum Ende verfolgen, damit Energieinput,
Schadstoffe und das Abfallaufkommen in die Gesamtbi-
lanzen einfließen. Wir müssen beispielsweise biologisch
erzeugte Nahrungsmittel konkurrenzfähiger machen und
die Kosten für die Nutzung nicht erneuerbarer Ressourcen
erhöhen. Diese Themen sind auch Grundlage unserer Po-
litik. Für diejenigen, die sich mit diesem Thema seit lan-
gem beschäftigen, trage ich vielleicht Eulen nach Athen.
Aber eben diejenigen wissen auch, dass die hohe Bedeu-
tung dieses Themas nicht in der großen Mehrheit der
Köpfe verankert ist.
„Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ ist kein
Selbstzweck; vielmehr soll sie zur Lösung der genannten
Probleme beitragen. Sie ist auch deshalb von großer Be-
deutung, weil Politik und Verwaltung kreative Anregun-
gen zur Gestaltung ihrer umwelt- und entwicklungspoliti-
schen Ziele brauchen. Das in unserem Antrag geforderte
Aus- und Fortbildungskonzept für die Ministerien und die
Bundesverwaltung kommt deshalb auch nicht von unge-
fähr.
„Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ kann das
Umsteuern in der Umwelt-, Entwicklungs-, Wirtschafts-,
Sozial-, Verkehrs- und Landwirtschaftspolitik nicht erset-
zen. So steht es in unserem gemeinsamen Antrag. Ich
hoffe, wir werden auch bei der Konkretisierung und Um-
setzung der Ziele für die Umweltbildung nachhaltig die
Opposition auf unserer Seite haben.
Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU): Im
Juni 1998 hat die Bund-Länder-Kommission für Bil-
dungsplanung und Forschungsförderung ihren Orientie-
rungsrahmen „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“
vorgelegt. Mit dem Orientierungsrahmen sollte die Um-
weltbildung als integraler Bestandteil einer dem Leitbild
der Nachhaltigkeit verpflichteten Zukunftsgestaltung ge-
fördert werden. Gleichzeitig wirkt die Umweltbildung
als umweltpolitisches Instrument. Heute – zwei Jahre spä-
ter – beraten wir die Beschlussempfehlung und den Be-
richt des Ausschusses für Bildung, Forschung und Tech-
nikfolgenabschätzung zu einem Antrag der Regierungs-
koalition zu eben diesem Thema.
Die Bund-Länder-Kommission hat mit ihrem Orientie-
rungsrahmen den Weg aufgezeigt, wie Umweltbildung er-
folgreich in unser Bildungssystem Eingang finden kann.
Die Umweltbildung hat in kurzer Zeit Einzug in Kinder-
gärten, Schulen, Hochschulen und die berufliche Bildung
gehalten. Darüber hinaus belegen zahllose erfolgreiche
Initiativen, sei es zur Energieeinsparung oder zur Abfall-
vermeidung, wie die Kreativität der jungen Menschen
auch den Umweltgedanken und das dahinter stehende An-
liegen in hervorragender Weise transportieren und umset-
zen kann.
Auf allen Ebenen – von der internationalen Ebene bis
auf die kommunale Ebene – werden Projekte umgesetzt
und der Umweltschutzgedanke praktisch weiterentwi-
ckelt. Die Medien transportieren heute täglich eine un-
überschaubare Vielfalt von Informationen zu dem Thema.
Unternehmen, Verbände und weitere Nichtregierungsor-
ganisationen haben den Umweltschutz nicht nur auf ihre
Fahnen geschrieben, sondern praktizieren ihn für jeder-
mann erkennbar mit großem Erfolg.
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Umweltbildung ist nur ein Bestandteil der Bildung für
eine nachhaltige Entwicklung. Mit dem Titel „Bildung für
eine nachhaltige Entwicklung“ der hier vorliegenden Be-
schlussempfehlung liegt die Messlatte für das jetzt ange-
strebte Resultat sehr viel höher. Insofern ist es erfreulich,
dass heute auf diesen hervorragenden Stand aufgebaut
werden kann. Mit dem Antrag wird die Grundlage gelegt,
die drängenden gesellschaftlichen Probleme in Deutsch-
land in Angriff zu nehmen, die noch nicht so dynamisch
angegangen wurden wie die Umweltprobleme. Von der
erfolgreichen Verbreitung des Leitbildes der „Nachhaltig-
keit“ im Umweltbereich soll jetzt also im Bildungsbereich
der Weg frei gemacht werden für eine Übertragung auf an-
dere wichtige gesellschaftliche Felder und Systeme.
Der Gebrauch des Attributes „nachhaltig“ ist in den
letzten Monaten und Jahren schon hyperinflationär ge-
stiegen. Es wird deutlich, dass die Zeit überreif ist, die An-
forderungen der Nachhaltigkeit auf alle gesellschaftlichen
Teilbereiche zu übertragen. Wir in Deutschland kommen
damit der in der Agenda 21 enthaltenen Forderung nach,
die Menschen durch Bildung in die Lage zu versetzen,
ihre Anliegen in Bezug auf eine nachhaltige Entwicklung
aller Lebensbereiche abschätzen und angehen zu können.
Das heißt, den Bürgern soll Wissen über die sozialen,
wirtschaftlichen, kulturellen und ökologischen Entwick-
lungszusammenhänge der Gesellschaft und der Welt, in
der sie leben, vermittelt werden.
Dazu ist es notwendig, hier in Deutschland ein Ent-
wicklungsbewusstsein zu schaffen. Es muss verdeutlicht
werden, dass „alles fließt“ und kein gesellschaftlicher
Teilbereich, auch nicht die Gesellschaft als Ganzes, dau-
erhaft auf ihrem Status quo verharren kann. In Zeiten
schnellen und tief greifenden Wandels sind schnellere und
tief greifendere Anpassungen an die veränderte Umwelt
notwendig, als wir sie aus Zeiten großer Stabilität ge-
wohnt waren.
Eine wirksame umwelt- und entwicklungsorientierte
Bildung muss sich von daher sowohl mit der Dynamik der
natürlichen und der sozioökonomischen Umwelt als auch
mit der menschlichen Entwicklung befassen. Sie soll in
alle Fachdisziplinen eingebunden werden und alle geeig-
neten Methoden und Kommunikationsmittel anwenden.
Umwelt- und Entwicklungskonzepte einschließlich der
Demographie sind in alle Bildungsprogramme einzubin-
den. Ziel ist es, in der Bevölkerung ein Entwicklungsbe-
wusstsein zu schaffen, mit dessen Hilfe die Herausforde-
rungen im Zeitalter der Globalisierung bewältigt werden
können und neue Wege hin zu einer nachhaltigen Ent-
wicklung beschritten werden.
Der Bildungsbereich muss das dazu notwendige Wis-
sen schaffen, verdichten und verbreiten. Interdisziplina-
rität, das heißt die Zusammenarbeit verschiedener Wis-
senschaftsbereiche, darf sich nicht nur auf einzelne ge-
sellschaftliche Teilbereiche erstrecken, sondern muss mit
Blick auf das Verständnis gesellschaftlicher Zusammen-
hänge alle betroffenen wissenschaftlichen Teilbereiche
einbeziehen. Damit werden die Voraussetzungen dafür
geschaffen, dass die Politik sehr viel stärker querschnitts-
orientiert als bisher an die drängenden Probleme herange-
hen kann, deren Ursachen ergründen kann, anstatt dauer-
haft an Symptomen zu kurieren.
Benötigt werden dafür Schlüsselqualifikationen in der
Bevölkerung ebenso wie ein ökologisches, ökonomi-
sches, soziales, technisches und kulturelles Grund- und
Sachwissen. Die Vernetzung dieses Wissens bildet die Vo-
raussetzung für eine sinnvolle Erhöhung des Wissens-
standes aller Mitglieder der Gesellschaft. Es ersetzt je-
doch nicht das Fachwissen in den einzelnen Wissen-
schafts- und Forschungsbereichen, das die notwendige
Basis für eine dauerhaft zukunftsfähige Entwicklung un-
seres Gemeinwesens darstellt.
Was nun ist eine nachhaltige Entwicklung? Auch wenn
der Begriff der Nachhaltigkeit vielfach noch schillernd
vieldeutig verwendet wird, signalisiert er – ausgehend
von den Überlegungen der Brundtland-Kommission in
den 80er-Jahren – den Anspruch einer langfristig zu-
kunftsfähigen Ausrichtung unserer Gesellschaft und der
gesellschaftlichen Teilsysteme. Hinzu kommt die Forde-
rung nach inter- wie intragenerativer Gerechtigkeit. Das
heißt nichts anderes, als dass einmalige Mitnahmeeffekte
einer Generation zulasten nachfolgender Generationen
unterbleiben sollen oder gesellschaftliches Trittbrettfah-
rerverhalten zugunsten einer dauerhaft tragfähigen gesell-
schaftlichen Entwicklung abzustellen ist.
Es stellt sich doch in diesem Zusammenhang zum Bei-
spiel die Frage, ob es nachhaltig ist, wenn verstärkt fos-
sile Energieträger in Kohle-, Öl- oder Gaskraftwerken
verheizt werden, nur weil die rot-grüne Koalition die
Kernkraftwerke in Deutschland abschalten will, und
wenn der Bereich der Kernforschung, in dem in Deutsch-
land in Teilbereichen noch großes Know-how vorhanden
ist, ausgetrocknet werden soll.
Die Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und
der Umwelt“ hat in der vergangenen Legislaturperiode
den Versuch unternommen, das Leitbild der Nachhaltig-
keit auf alle gesellschaftlichen Teilbereiche zu übertragen.
Sie hat zum Beispiel Forderungen aufgestellt, den gesell-
schaftlichen Bestand an Kapital, sei es Natur-, Human-
oder Sachkapital, im Zeitablauf nicht zu verringern.
Trotzdem gibt es Schwierigkeiten, den Begriff der
nachhaltigen Entwicklung auf der Basis der Konferenz
von Rio 1992 hinreichend zu bestimmen. Ich möchte auf
die Schwierigkeiten mit dem Begriff „Entwicklung“ in
Deutschland hinweisen.
Bei uns meint Entwicklungspolitik die Entwicklung
der unterentwickelten Völker. Kaum jemand verbindet
mit diesem Begriff die Entwicklung des eigenen Landes.
In der angelsächsischen Welt gibt es hingegen mit dem
Wort „development“ einen ganzheitlichen Entwicklungs-
begriff. Entwicklung heißt dort nicht nur Entwicklung
weniger entwickelter Staaten, sondern auch Entwicklung
des eigenen Landes.
Ich frage Sie, ob es im Sinne der Ziele einer nachhalti-
gen Entwicklung ist, wenn wir in Deutschland den Begriff
derartig verengen. Ich frage Sie, ob wir den Begriff der
Entwicklungspolitik nicht in einem viel umfassenderen
Ansatz auch auf das eigene Land ausdehnen sollten. Wir
sollten uns nicht scheuen, zum Beispiel die Strukturpoli-
tik unterentwickelter Regionen im eigenen Land künftig
als Teil der Entwicklungspolitik zu sehen. Denn wenn wir
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10570
(C)
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das nicht tun, dann könnte man vermuten, wir hätten hier
in Deutschland die Überzeugung gewonnen, den Höhe-
punkt möglicher gesellschaftlicher Entwicklung bereits
erreicht zu haben. Ich glaube angesichts unserer Arbeits-
losenzahlen, der sozialen Probleme und der völlig über-
zogenen Ansprüche an zukünftig zu erbringende Leistun-
gen kann davon ernsthaft wohl keine Rede sein. Wir
müssen vielmehr ein integriertes Entwicklungsmodell
entwerfen, nicht nur für die weniger entwickelten Staaten,
sondern insbesondere auch für unsere Gesellschaft. Wir
müssen die künstliche Trennung zwischen der Entwick-
lungspolitik bundesdeutscher Natur und etwa der Struk-
turpolitik aufheben und ein umfassendes Entwicklungs-
modell entwerfen, das nicht nur ökonomische, sondern
auch ökologische, soziale, kulturelle, wirtschaftliche wie
bildungspolitische Zielsetzungen umfasst.
Die drängendsten Entwicklungsprobleme liegen der-
zeit in Deutschland selbst. Wer meint, für unsere zukünf-
tige Entwicklung stünde die Situation der Lesben und
Schwulen in Simbabwe oder die Situation der Frauen in
Togo im Vordergrund, der scheint die Realität in Deutsch-
land nicht hinreichend wahrzunehmen.
Nehmen wir als Beispiel die Auswirkungen der demo-
graphischen Entwicklung in Deutschland und die damit
einhergehenden sichtbaren und absehbaren gesellschaftli-
chen Probleme: Wenn jede weitere Generation nur noch
zwei Drittel der Größe der vorherigen Generation um-
fasst, dann sind wir rein rechnerisch nach 70 Jahren bei
knapp der Hälfte, nach gut 100 Jahren bei gut einem Vier-
tel der heutigen Bevölkerungsstärke angelangt. Diese
Entwicklung ist nicht nachhaltig. Wenn es sich um eine
Tierart handeln würde, wären heftige Debatten über einen
besonderen Artenschutz in vollem Gange. Statt dessen
wird derzeit über Einwanderung debattiert und um Pro-
zentzahlen bei der Rente gefeilscht. Angebracht wäre aber
eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den tiefer liegen-
den Ursachen für unsere gesellschaftlichen Fehlentwick-
lungen und den daraus resultierenden unausweichlichen
Veränderungen, die auf uns zukommen werden.
Wie nachhaltig kann eigentlich ein Alterssicherungs-
system angesichts dieser demographischen Fehlentwick-
lungen überhaupt sein? Ein Teil der Bevölkerung hat Kin-
der und trägt die Erziehungsmühen und -kosten für die
nachfolgende Generation. Der andere Teil – ohne eigene
Kinder und die daraus resultierenden Belastungen – er-
wartet, dass diese Kinder einmal ihre Rente sichern wer-
den. Andererseits werden die Integrationskosten für aus-
ländische Arbeitskräfte und deren Angehörige, die die
Bevölkerungslücke füllen, von allen Gesellschaftsmit-
gliedern getragen. Familien mit schulpflichtigen Kindern
tragen auch hierbei eine doppelte Belastung. Vielleicht
sollte man die gegenwärtigen Gespräche zu Einwande-
rung, Familienpolitik, Renten- und Gesundheitssystem
einmal um solche bislang tabuisierten Gesichtspunkte er-
weitern. Damit könnte man zu einem Entwurf für eine
dauerhaft tragfähige und infolgedessen auch zu einer
nachhaltigen Entwicklung in Deutschland kommen.
Was ergibt sich aus diesen Überlegungen an Anforde-
rungen für unser Bildungssystem? Zwei Gesichtspunkte
sind besonders zu berücksichtigen: Einerseits muss die
Tauglichkeit des Bildungssystems für seine dauerhaft
tragfähige Entwicklung geprüft werden. Zum anderen
müssen die Inhalte einer nachhaltigen Bildung über den
Umweltbereich hinaus auf weitere gesellschaftliche Ent-
wicklungsfragen hin ausgerichtet und verbreitet werden.
Dem Bildungsbereich kommt hierbei die Aufgabe zu, das
Wissen zu schaffen und zu den Menschen zu transportie-
ren. Gesellschaftliche Veränderungen und technischer
Fortschritt dürfen nicht aus Angst und Unkenntnis abge-
lehnt werden, sondern müssen als Chance aufgefasst wer-
den, sich in einer schnell wandelnden Welt im internatio-
nalen Wettbewerb der Gesellschaften und Völker zukünf-
tig zu behaupten.
Nachwuchsmangel in der naturwissenschaftlichen
Forschung und Defizite in der schulischen Ausbildung,
die als Vorbereitung für erfolgreiche Humankapitalbil-
dung an Universitäten notwendig ist, sind sichtbare
Symptome für die Krise unseres Bildungssystems. Die
Schwächen sind offenbar, und es gilt, die Ursachen zu
erkennen, sie offenzulegen und zu beheben, statt an
Symptomen herumzukurieren. In Deutschland müssen
vor allem Defizite im naturwissenschaftlich-technischen,
ökonomischen, politischen sowie im sozialen Bildungs-
bereich behoben werden.
Der aktuelle OECD-Bericht spricht eine deutliche
Sprache: Er vergleicht unter anderem den Bildungsstand
der älteren und der jüngeren Generation. Der Bildungs-
stand der 55- bis 64-Jährigen in Deutschland – also den-
jenigen, die mehrheitlich bereits im (Vor-)Ruhestand
sind – liegt weltweit hinter den USA auf Platz 2. Im Ge-
gensatz dazu liegt Deutschland bei den 25- bis 34-Jähri-
gen nur mehr auf Platz 7 hinter Japan, Norwegen und so-
gar Ländern wie Korea und Tschechien.
Dies ist ein untrüglicher Beleg dafür, dass wir im in-
ternationalen Wettbewerb bereits zurückgefallen sind.
Auf die leidige Green-Card-Blamage, die auch ein Zei-
chen für das Versagen unseres Bildungssystems ist, auf
den akuten Mangel an naturwissenschaftlichen Nach-
wuchskräften im Forschungs- wie im Unternehmensbe-
reich möchte ich hier gar nicht erst näher eingehen. Eines
sei aber gesagt: Wenn Bundeskanzler Schröder als ver-
antwortlicher Landespolitiker noch vor wenigen Jahren
Studienplätze im Informatikbereich massiv abgebaut hat,
dann belegt das eine denkbar kurzfristige Orientierung,
vergleichbar mit dem Zukunftshorizont von Spekulanten
an der Börse. Wenn dann als Rechtfertigung auch noch
darauf verwiesen wird, man würde im Land ohnehin mehr
Informatiker ausbilden, als der eigene Bedarf ausmacht,
das heißt die jungen Menschen würden anschließend
wahrscheinlich in einem anderen Bundesland arbeiten,
dann wird die Kirchtur msorientierung und Zukunftsver-
gessenheit dieser Politikerpersönlichkeit offenbar.
Nachhaltigkeit im Bildungswesen bedeutet, diese
sichtbaren Defizite zu erkennen und strukturelle Vorkeh-
rungen zu schaffen, um sie zu unser aller Wohle schleu-
nigst zu beseitigen. Deshalb brauchen wir mehr Wettbe-
werb im Hochschulbereich, und zwar nicht nur zwischen
den von engmaschigen Rahmensetzungen gebremsten re-
formfreudigen Hochschulen, sondern auch und gerade
zwischen den verschiedenen Bundesländern. Erst im
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Wettbewerb um das bessere Bildungssystem wird sich die
Qualität der Bildung in Deutschland nachhaltig verbes-
sern.
Bund und Länder dürfen sich nicht länger in ideologi-
schen Schützengräben verstecken, wenn es zum Beispiel
um die strukturelle Modernisierung des Hochschulwesens
oder um eine stärker an den individuellen Kenntnissen,
Fähigkeiten und Neigungen eines Schülers orientierte
schulische Förderung geht. Investitionen in die Ausbil-
dung heute sind Investitionen in unseren Wohlstand von
morgen. Dabei sollten wir uns alle – auch die Kultusmi-
nisterkonferenz – vor Augen führen, dass nicht unbedingt
die Großen die Kleinen übertrumpfen, in jedem Fall aber
die Schnellen die Langsamen abhängen.
Kurzfristige Überlegungen und bürokratisches Besitz-
standsdenken muss daher schnellstens zugunsten lang-
fristig erfolgreicher strategischer Ansätze zurückgestellt
werden. Die Bundesregierung muss alles in ihrer Macht
stehende tun, um gemeinsam mit den Ländern unser Bil-
dungssystem fit für den globalen Wettbewerb im 21. Jahr-
hundert zu machen.
Um über Fortschritte und den Stand der Entwicklungen
bei der Sanierung unseres Bildungssystems die Öffent-
lichkeit zu informieren, soll daher ein Bericht der Bun-
desregierung über die erreichten Fortschritte zum Abbau
der Defizite mindestens einmal pro Legislaturperiode
vorgelegt werden. Darin soll die Bundesregierung die
vorliegenden Konzepte und deren praktische Umsetzung
für ein nachhaltiges Bildungssystem ausführlich darstel-
len. Sie soll aktiv mitwirken, Konzepte und Elemente ei-
ner Bildung für eine nachhaltige Entwicklung in den
Strukturen des bestehenden Bildungssystems zu imple-
mentieren. Der strukturelle Reformbedarf, der durch eine
entsprechende Bildungsoffensive offenbart wird, soll be-
schrieben und seine Ursachen sollen erörtert werden. Ich
bin überzeugt, dass damit ein wichtiger Baustein für eine
nachhaltige Ausrichtung unserer Gesellschaft gelegt wird.
Eine qualifizierte Übersicht über die Entwicklung unseres
Bildungssystems ist eine wertvolle Grundlage für die an-
stehende Modernisierung unserer Gesellschaft und ihrer
Teilsysteme.
Lassen Sie mich abschließend darauf hinweisen, dass
die Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der
Umwelt“ in der vergangenen Legislaturperiode empfoh-
len hat, einen „Rat für Nachhaltigkeit“ einzurichten. In-
zwischen sind zwei Jahre vergangen, ohne dass dieser
Vorschlag umgesetzt worden wäre. Angesichts der herr-
schenden Problemlage bin ich der Überzeugung, dass ein
solcher Rat heute notwendiger wäre denn je, um die nach-
haltige Bildungsoffensive ins Leben zu rufen, zu unter-
stützen und auch in anderen Bereichen weitere Impulse
für die nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaft zu
geben.
Die Defizite unseres Bildungssystems liegen offen vor
uns; die Folgen für unsere Gesellschaft sind bereits heute
deutlich spürbar; es ist jetzt höchste Zeit zum Handeln;
geredet wurde genug. Mit der zügigen Umsetzung der in
dem Antrag zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung
enthaltenen Forderungen kann ein wichtiger Schritt für
eine dauerhaft prosperierende Entwicklung unseres Ge-
meinwesens getan werden.
Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die meisten Bürger erfuhren in ihrer Schulzeit keine Um-
weltbildung oder Bildung für eine nachhaltige Entwick-
lung, wie wir sie heute kennen. „Heimat- und Natur-
kunde“ hieß das Fach damals vor Jahrzehnten. Und wenn
die Lehrerinnen und Lehrer gut waren, haben sie bei ihren
Schülern Interesse und Freude an der Heimat und Natur
geweckt – oder gar Staunen hervorgerufen.
In den 60er- und 70er-Jahren wich dieses Staunen
über die Natur zunehmend einem Staunen über Technik
und Fortschritt, auch in den Bildungseinrichtungen. Doch
die ersten großen Umweltkatastrophen, das Heraufziehen
der globalen Klimaveränderung, haben die Pädagogik
stark verändert. Die negativen Kehrseiten des ungezügel-
ten Wirtschaftswachstums machten sich bemerkbar und
änderten auch das Lernen. Lernen wurde zunehmend zum
Lernen mit und an der Katastrophe, so wie Umweltpolitik
eine Reaktion auf Verschmutzung und Katastrophe war.
Inzwischen ist aus der einstmals beschränkten Um-
weltpolitik eine komplexe Politik für eine nachhaltige
Entwicklung geworden – und entsprechend müssen sich
auch Bildung, Erziehung und Lernen wieder ändern. Das
Ziel lautet heute: Förderung der Kompetenz für nachhal-
tige Entwicklung. Unser Antrag ist ein anspruchsvoller
Auftragskatalog, eine Selbstverpflichtung der Bundesre-
gierung, genau dies zu ändern und die Kluft zwischen dem
Umweltbewusstsein und dem noch fehlenden, nachhalti-
gen Handeln zu schließen.
Der Paradigmenwechsel weg von der „klassischen
Umweltbildung“ bedeutet nämlich nicht die Abkehr vom
Schutz der Umwelt, sondern deren Weiterentwicklung,
zum Beispiel in und durch Entwicklungspolitik. Um-
weltbildung ist nicht allein das Wissen um Ozonloch,
Treibhauseffekt, Artensterben oder Meeresverschmut-
zung. Umweltbildung in diesem erweiterten Sinne ist die
Grundlage für die dringend notwendige Trendwende zum
nachhaltigen, umweltverträglichen Wirtschaften in allen
Lebensbereichen und deshalb ist Umweltbildung ein
Schlüsselbegriff für die zukünftige Entwicklung. Sie för-
dert Kompetenz in Sachen Nachhaltigkeit.
Deshalb fordern wir eine Neuausrichtung der Ausbil-
dungs- und Prüfungsordnungen am Leitbild der nachhal-
tigen Entwicklung: Früh Gelerntes wird im Berufsleben
und im Alltag zur automatischen Praxis. Techniker und
Ingenieure, die sich in Ausbildung und Studium intensiv
mit Ökoeffizienz auseinander gesetzt haben, werden im
Beruf automatisch anders, nachhaltiger konstruieren, pla-
nen und bauen als heute.
Wir brauchen eine neue Bildung für nachhaltige Ent-
wicklung, die sich mit unseren Konsum- und Lebens-
stilen auseinander setzt. Dafür brauchen wir Forschungs-
und Entwicklungsvorhaben, Modellversuche und Pro-
jekte, die den Wechsel zur Nachhaltigkeit durch einen
Wandel von Konsum, Produktion und Lebensstil ermög-
lichen. Und wir brauchen eine Bildungsoffensive, die
nicht nur die formellen Strukturen umfasst, also die
Lehr-, Studien- und Ausbildungspläne, sondern genauso
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auch nicht formelle Strukturen. Sie muss vor Ort an-
setzen: dort, wo Menschen leben, lernen und arbei-
ten – eben ganzheitlich –, nehmen Sie nur die vielfältigen
Umweltprojekte in Kindergärten, Kirchengemeinden, Be-
trieben und Vereinen oder die lokalen Agenden in den
Kommunen.
Bis zur Rio-plus-Zehn-Konferenz für Umwelt und Ent-
wicklung der UN müssen wir eine nationale Nachhaltig-
keitsstrategie vorlegen. Und in dieser Strategie erwarte
ich, dass sie ein wichtiges Kapitel zur Bildung für eine
nachhaltige Entwicklung enthält.
Nachhaltige Entwicklung und eine dazu gehörende
Bildungspolitik wird zum Markenzeichen dieser Regie-
rung werden. Nur so bewerkstelligen wir den dringend
notwendigen Wechsel zu einer umwelt- und zukunftsver-
träglichen Entwicklung in Verantwortung vor der Dritten
Welt und in Verantwortung vor den künftigen Generatio-
nen.
Ulrike Flach (F.D.P.):Der vorliegende Antrag gibt der
Thematik „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ ei-
nen schönen Rahmen. Er geht auf viele internationale, eu-
ropäische und nationale Verträge, Absichtserklärungen,
Übereinkommen, Studien und Vereinbarungen ein, die
das Ziel deutlich machen, Bildung in eine Nachhaltig-
keitsstrategie mit internationaler Perspektive einzubetten.
Der Antrag fordert die Bundesregierung aber auch auf,
mit konkreten Maßnahmen diese Zielsetzung zu verwirk-
lichen und insbesondere die Umweltbildung und die ent-
wicklungspolitische Bildung als die beiden Hauptsäulen
für die Durchsetzung einer nachhaltigen Entwicklung zu
fördern. Er fordert die Bundesregierung auf, den Orien-
tierungsrahmen der Bund-Länder-Kommission für Bil-
dungsplanung und die Empfehlungen des Bundesinstituts
für Berufsbildung umzusetzen, aber auch durch die Erar-
beitung eines Aus- und Fortbildungskonzeptes für Minis-
terien und Bundesverwaltung selbst etwas zu tun. Der An-
trag ist gut und hat deshalb auch im Ausschuss einhellige
Zustimmung gefunden.
Gerade wegen unserer gemeinsamen Unterstützung
der Ziele des Antrages sollten wir einen Blick auf die Rea-
lität grün-roter Bildungspolitik werfen. Denn nicht einmal
die geschliffenste Formulierung des Antrages kann das
Ziel erreichen, wenn die harten Fakten im Lande nicht
stimmen.
Nachhaltige Entwicklung entsteht nicht durch gutes
Zureden. Sie brauchen gerade in den Entwicklungslän-
dern auch Naturwissenschaftler und Ingenieure, um zum
Beispiel Umwelttechnik zu entwickeln und anzuwenden.
Das sollen natürlich überwiegend einheimische Fachleute
sein, aber wir wissen, dass sie nicht überall ausreichend
zur Verfügung stehen. Wir brauchen also auch deutsche
Ingenieure und Naturwissenschaftler in Entwicklungslän-
dern. Und da stellen wir fest, dass wir ja nicht mal in der
Lage sind, unseren eigenen Bedarf zu decken. Ich will die
Green Card für IT-Fachkräfte nur am Rande erwähnen,
viel dramatischer wird uns in den nächsten Jahren der
eklatante Mangel an Ingenieuren treffen. Nach einer Stu-
die des Verbandes der Elektrotechnik, Elektronik und In-
formationstechnik haben wir in den genannten Bereichen
nur 55 Prozent der Studienanfänger, die wir noch 1990
hatten. Jährlich werden circa 13 000 Absolventen benö-
tigt, wir haben aber nur die Hälfte. Ähnlich sieht es bei
den Chemikern, Physikern und zum Beispiel auch bei den
Kerntechnikern aus. In Kürze werden wir hier Diskussio-
nen über Anwerbungen ausländischer Fachkräfte in die-
sen Bereichen führen. Deutschland droht – zumindest par-
tiell – dramatischer Akademikermangel.
Nachhaltige Entwicklung muss auch durch entwick-
lungspolitische Bildungsarbeit unterstützt werden. Und
da kann ich keinen Schwerpunkt bei Ihnen entdecken. Mi-
nisterin Wieczorek-Zeul hat in ihrer Presseerklärung zum
Haushalt 2001 angekündigt: Die Mittel für die Förderung
entwicklungspolitischen Engagements von Kirchen, Stif-
tungen und die entwicklungspolitische Bildungsarbeit
verbleiben auf dem Niveau des Jahres 2000 bei 600 Mil-
lionen DM. Im Haushalt 2000 war das BMZ aber über-
proportional gekürzt worden. Sie bleiben also auf dem
Schmalspurniveau; von Schwerpunktsetzung keine Spur.
Uns Liberalen ist es wichtig, dass der Gedanke der Bil-
dung für eine nachhaltige Entwicklung in die Überarbei-
tung von Rahmenplänen für den Unterricht an beruflichen
Schulen und die Ausgestaltung von Studienordnungen der
Berufsschullehrer Eingang findet. Dies muss fächer- und
ausbildungsübergreifend geschehen. Wir haben diese For-
derung aufgestellt und sie ist auch im Antrag enthalten.
Im Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, den
bereits bestehenden Bericht zur Umweltbildung zu einem
Bericht zur „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ zu er-
weitern. Dabei erwarte ich konkrete Ergebnisse in der
konzeptionellen Weiterentwicklung und der praktischen
Umsetzung der Ziele. Weiterhin soll – so steht es im An-
trag – auf die Probleme der „Dissemination“ der Ergeb-
nisse eingegangen werden. Und damit wir alle heute
noch etwas für unsere nachhaltige Bildung tun, habe ich
das Wort „Dissemination“ nachgeschlagen. Es bedeutet
„Aussaat oder Verbreitung“. In diesem Sinne wünsche ich
den Zielen des Antrages eine weite Dissemination, insbe-
sondere in das konkrete Handeln der Bundesregierung,
wo noch viel zu tun ist.
Dr. Heinrich Fink (PDS): Der vorliegende Antrag ist
eine nach Meinung der PDS folgerichtige Reaktion auf ei-
nen wesentlichen Aspekt der Agenda 21. Allerdings
kommt diese Reaktion acht Jahre nach der Rio-Konferenz
recht spät. Zwar hat der Bundestag schon 1994 beschlos-
sen, die Agenda 21 zur Leitlinie ihrer Politik zu machen,
praktische Ergebnisse muss man allerdings mit der Lupe
suchen und wird dann zu der traurigen Erkenntnis kom-
men, dass es sie in erwähnenswertem Maße einfach nicht
gibt. Es gibt sie deswegen nicht, weil der vorigen Bun-
desregierung der politische Wille zur Umsetzung fehlte.
Die PDS hat dem Antrag im Ausschuss zugestimmt,
weil er den richtigen Weg zeigt. Sie wird ihm auch heute
in toto zustimmen. Meine Zweifel sind allerdings nicht
ausgeräumt, denn es fehlt die Flankierung durch andere
gesetzgeberische Maßnahmen, die helfen, die Agenda 21
umzusetzen. Außerdem stimmen unpräzise Formulierun-
gen skeptisch. Meine Skepsis, dass alles so bleibt, wie es
bisher ist, ist nicht ausgeräumt.
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(C)
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(B)
Welche Folgen der Umsetzung hat der Satz in der Be-
schlussempfehlung: „Neue Anforderungen werden aktu-
ell insbesondere an die Umweltbildung und die entwick-
lungspolitische Bildung herangetragen“.
Das ist richtig – schon sehr lange sogar –, doch gerade
ein Blick auf die aktuelle Umwelt- und Verkehrspolitik
der Bundesregierung bietet wenig Anlass zu Optimismus.
Ich sehe nicht, dass die Anerkennung der Notwendigkeit
der Agenda 21 tatsächlich auch zu einem Umsteuern in
den genannten Ressorts geführt hat.
Wie aber soll Umweltbildung glaubhaft vermittelt
werden, wenn beispielsweise ökologisch sinnvolle Ver-
kehrsträger wirtschaftlich immer mehr das Nachsehen ha-
ben und die Politik es geschehen lässt? Es werden immer
mehr Bahnstrecken stillgelegt. Die Verlagerung von
Transporten von der Straße auf die Schiene oder auf das
Wasser ist Lippenbekenntnis geblieben.
Welche Folgen hat der Satz in der Beschlussempfeh-
lung, der lautet: „Die Industriestaaten tragen in besonde-
rer Weise Verantwortung für eine dauerhafte tragfähige
Entwicklung der Völkergemeinschaft.“ Welche Verant-
wortung erwächst für uns daraus? Wie wird diese richtige
Erkenntnis, die letztlich zur Allgemeinbildung gehört, po-
litisch umgesetzt? Ist Bildung nicht erst dann Bildung,
wenn sie praktische Konsequenzen hat? Nur dann kann
man eigentlich von Nachhaltigkeit sprechen.
Deutschland ist in puncto nachhaltiger Entwicklung
gegenwärtig alles andere als ein Vorbild. Dieses Einge-
ständnis wenigstens in einer Formulierung hätte den An-
trag glaubwürdiger gemacht. So erweckt er den Eindruck,
wir seien schon ziemlich gut, könnten und wollten jetzt le-
diglich noch besser und vorbildlicher werden.
Doch wir können nicht nur, wir müssen besser werden.
Deshalb wird die PDS diesem Antrag trotz seines Defizits
an Konsequenz zustimmen. Schon wenn er nur dazu bei-
tragen sollte, dass das Bewusstsein für die Notwendigkeit
nachhaltiger Entwicklung nicht nur auf den Schulbänken,
sondern auch auf den Regierungsbänken wächst, hätte er
seinen Zweck erfüllt.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Importverbot für
qualgezüchtete Tiere (Tagesordnungspunkt 14)
Marianne Klappert (SPD): Um es gleich zu Beginn
deutlich zu sagen: Wir sprechen hier und jetzt nicht über
ein Importverbot für Kampfhunde, auch wenn dieses ge-
genwärtig in aller Munde ist. Und das nicht zu Unrecht,
auch das will ich betonen. Selbst einer Tierschutzbeauf-
tragten bleibt nichts anderes übrig, als angesichts des er-
heblichen Gefährdungspotenzials, das diese Hunde dar-
stellen, ein solches Importverbot ausdrücklich zu be-
grüßen. Wir sprechen deshalb nicht über dieses
Importverbot, weil ein solches nach dem Tierschutzgesetz
nicht möglich ist. Denn das Tierschutzgesetz regelt den
Tierschutz, nicht den Menschenschutz. Ein Importverbot
für Kampfhunde wird aber nicht aus Tierschutzgründen
ausgesprochen, sondern aus Gründen der öffentlichen Si-
cherheit und Ordnung. Das fällt dann in die Länderkom-
petenz. Ich hätte aber nichts dagegen, wenn die Bun-
deskompetenz vor dem Hintergrund der tragischen Vor-
fälle in diesem Falle erweitert würde, um schnell und
konsequent reagieren zu können. Aber das steht auf einem
anderen Blatt, und wird morgen ausführlich in einer Ak-
tuellen Stunde debattiert werden.
Das Thema Qualzüchtungen ist ja auch viel umfang-
reicher, als es die aktuelle Verengung auf den Bereich
übersteigerter Aggressivität erkennen lässt. Ich bin mir si-
cher: Im Ziel sind wir uns hier im Hause alle einig. Und
dieses Ziel ist, Qualzüchtungen endgültig der Vergangen-
heit angehören zu lassen.
Aber wir streiten – nicht zum ersten Mal – über den
richtigen Weg zu diesem Ziel. Diesmal tun wir es gewis-
sermaßen mit umgekehrten Vorzeichen. Wir sind in der
Regierung, Sie in der Opposition. Dass sich aus der Op-
position heraus leicht Forderungen erheben lassen, um de-
ren Umsetzung man sich selbst nicht zu bemühen braucht,
ist eine alte Erfahrung. Dass man es sich aber als Regie-
rung bzw. als Regierungsfraktion nicht so leicht machen
kann, auf eine so populäre Forderung einzugehen, weil es
gewichtige Gründe gibt, die einer solchen Forderung ent-
weder entgegenstehen oder aber deren Erfüllung schwie-
rig machen, müssten Sie selbst noch wissen. Wenn Sie es
inzwischen vergessen haben sollten, erinnere ich Sie jetzt
daran.
Bei der 1998 abgeschlossenen Novellierung des Tier-
schutzgesetzes hat es eine Reihe von Vorschlägen auch
zur Problematik der so genannten Qualzüchtungen gege-
ben – einer von CDU und CSU war nicht darunter. Es war
nicht zuletzt die SPD – im Verbund mit dem Bundesrat –,
die eindeutige und eindeutig restriktive Regelungen für
diesen eminent tierschutzrelevanten Bereich gefordert
hat.
Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dass
Züchtungen, die für die Tiere mit Leiden, Schmerzen oder
Schäden verbunden sind, verboten werden müssen. Wir
haben immer wieder darauf hingewiesen, dass für die
Festlegung von Zuchtzielen nicht die Phantasie der Züch-
ter und der potenziellen Käufer ausschlaggebend sein
darf, sondern das Wohlbefinden der Tiere. Wir haben im-
mer wieder darauf hingewiesen, dass es nicht auf das De-
sign ankommen darf, nicht auf das, was gerade en vogue,
also Mode ist, sondern was dem Tier dient. Es ist dann in
das Tierschutzgesetz ein Verbot von Züchtungen aufge-
nommen worden, bei denen die Tiere bzw. ihre Nach-
kommen aufgrund anatomischer, physiologischer oder
ethologischer Merkmale an Gesundheit und Wohlbefin-
den beeinträchtigt sind. Das war und ist ein großer Fort-
schritt.
Allerdings blieb nach wie vor äußerst umstritten, was
denn nun als Qualzüchtung im Sinne dieses Paragraphen
zu definieren sei. Deshalb hat das BML eine Gutachter-
gruppe berufen, die Kriterien für die Auslegung des
§ 11 b Tierschutzgesetz erarbeiten sollte. Zwischenzeit-
lich – das geht ja auch aus Ihrem Antrag hervor – ist die-
ses umfangreiche Gutachten vorgelegt, und es finden sich
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10574
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(D)
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(B)
darin die Beschreibung zahlreicher Qualzüchtungen und
entsprechende Vorschläge, wie damit umzugehen sei.
Diese reichen bis zu einem Zuchtverbot.
Ich weise bewusst darauf hin, dass es Qualzüchtungen
nicht nur bei Hunden gibt – die gegenwärtige Diskussion
um die so genannten Kampfhunde suggeriert gelegent-
lich, dass es nur um krankhafte Aggression bei Hunden
ginge –, sondern dass in diesem Gutachten Katzen, Ka-
ninchen und Vögel abgehandelt werden, wobei der Be-
reich über die Vögel bei weitem der umfangreichste ist.
Ich weise deshalb besonders darauf hin, um deutlich zu
machen, dass wir es hier nicht mit einer tagesaktuellen
Problematik zu tun haben, sondern mit einem über Jahre
und Jahrzehnte vernachlässigten Tierschutzproblem, das
weite Bereiche der Heimtierzucht umfasst. Wenn Sie also
in der Pressemitteilung zu Ihrem Antrag die Kampfhunde
besonders herausheben, so ist das sicher angesichts der
gegenwärtigen Diskussion taktisch nicht ungeschickt,
aber es verengt den Blick, der doch sehr viel umfassender
sein muss.
Wie gesagt: Wir waren und sind uns jetzt in dem Ziel,
solche Qualzüchtungen – ob bei Hunden oder Katzen, ob
bei Kaninchen oder Vögeln, ja auch in der landwirt-
schaftlichen Nutztierzucht – unmöglich zu machen, einig.
Lebewesen dürfen nicht zum Gegenstand blinden Ehrgei-
zes von Züchtern werden. Wir sind uns jetzt plötzlich auch
einig in dem Ziel, ein Importverbot für solche Qualzüch-
tungen erreichen zu wollen. Das ist an sich eine erfreuli-
che Entwicklung. Aber ich kann Ihnen hier einen Rück-
griff auf das Novellierungsverfahren zum Tierschutzge-
setz nicht ersparen. Denn auch bei diesem speziellen Teil
der Qualzuchtproblematik waren es die SPD-Bundestags-
fraktion und der Bundesrat, die ein restriktives Verbot der
Einfuhr bzw. Verbringung von Qualzüchtungen nach
Deutschland gefordert haben. Ich zitiere aus unserem da-
maligen Gesetzentwurf:
Wirbeltiere, an denen Schäden feststellbar sind, von
denen anzunehmen ist, dass sie den Tieren durch tier-
schutzwidrige Handlungen zugefügt worden sind,
dürfen nicht gewerbsmäßig in den Geltungsbereich
dieses Gesetzes verbracht, gewerbsmäßig in den Ver-
kehr gebracht oder gewerbsmäßig gehalten werden.
Im Absatz 2 wird dieses Verbot auch auf die nicht ge-
werbsmäßig Handelnden ausgedehnt. Damit hätten wir
eine sehr ausschließliche Gesetzesformulierung gehabt,
die dem angestrebten Ziel – das jetzt auch Ihr Ziel ist, Kol-
lege Ronsöhr – sicher mehr gedient hätte, als die dann be-
schlossene Formulierung, die sich jetzt im Gesetz befin-
det.
Die daran beteiligt waren, werden sich erinnern, dass
wir im Vermittlungsverfahren eine lange und intensive
Diskussion gerade zu diesem Punkt hatten, und dass
letztendlich eine Formulierung dabei gefunden wurde, die
die Absicht deutlich machte, aber wenig hilft zur Ver-
wirklichung dieser Absicht. Wir haben uns aber – schwe-
ren Herzens, das dürfen Sie mir glauben – davon über-
zeugen lassen, dass wir mit einem so restriktiven Verbot,
wie wir es vorgesehen hatten, gegen EU-Bestimmungen
und WTO-Regelungen verstoßen hätten. Und deshalb
kam eine Gesetzesformulierung zustande, die niemanden
so recht glücklich macht. Zwar ist nach wie vor von einem
Verbringungsverbot die Rede oder von einer Genehmi-
gung der Einfuhr bzw. Verbringung, aber das alles wird
unter den Vorbehalt gestellt, der sich im Schlusssatz des
§ 12 Tierschutzgesetz findet. Dort heißt es – und ich muss
das wörtlich zitieren, weil es für die Beratung Ihres An-
trages von Bedeutung ist –:
Eine Rechtsverordnung nach Satz 1 Nr. 1, 2 oder 3
kann nicht erlassen werden, soweit diese nicht zur
Durchführung von Rechtsakten der Europäischen
Gemeinschaft auf diesem Gebiet erforderlich ist oder
völkerrechtliche Verpflichtungen entgegenstehen.
Eine Rechtsverordnung nach Satz 1 Nr. 4 oder 5 kann
nicht erlassen werden, soweit Gemeinschaftsrecht
oder völkerrechtliche Verpflichtungen entstehen.
Das heißt ja nichts anderes, als dass eine nationale
Regelung von internationalen Bestimmungen abhängig
ist. Wussten Sie das nicht, als Sie Ihren Antrag stellten?
Hat sich denn niemand die Mühe gemacht, in den Akten
des Vermittlungsverfahrens die Vorbehalte der CDU-ge-
führten damaligen Bundesregierung zu einem Importver-
bot nachzulesen? Oder sind Sie jetzt der Ansicht, dass das
CDU-geführte Landwirtschaftsministerium damals falsch
argumentiert hat? Wir hätten es gerne gesehen, wenn das
eine unzutreffende Argumentation gewesen wäre. Aber
nach einer – wie es so schön heißt – belastbaren rechtli-
chen Prüfung erwies sich diese Argumentation leider als
kaum angreifbar. Und da sich die internationalen rechtli-
chen Regelungen nicht geändert haben, hat diese Argu-
mentation weiterhin Gültigkeit. Diese lässt sich kurz wie
folgt zusammenfassen: Ein nationales Importverbot für
Tiere aus Qualzüchtungen ist EU-rechtlich problematisch
und WTO-rechtlich nicht zulässig. EU-rechtlich proble-
matisch, weil Einfuhrverbote oder -beschränkungen we-
der ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch
eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen
Mitgliedstaaten darstellen dürfen. WTO-rechtlich un-
zulässig wäre ein solches nationales Importverbot, weil
durch eine solche Regelung ein Drittstaat faktisch ge-
zwungen würde, seine Gesetzgebung den Tierschutzvor-
schriften der EU bzw. Deutschlands anzupassen. Eine sol-
che extraterritoriale Anwendung nationaler Gesetzgebung
ist nach der Rechtsprechung des WTO-Streitschlich-
tungsorgans unzulässig. Um es deutlich zu sagen: Das
WTO-Recht lässt keine Einschränkung des Handels aus
Gründen des Tierschutzes zu. Deshalb hat die damalige
Bundesregierung den einschränkenden Nachsatz in den
§ 12 eingefügt. Wo sie Recht hatte, hatte sie Recht. Ich
hätte mir nicht träumen lassen, dass ausgerechnet ich ein-
mal die CDU-geführte alte Bundesregierung gegen die
CDU verteidigen müsste. Die Pressemitteilung des Kolle-
gen Ronsöhr zur Einbringung dieses Antrages hat mich
vor diesem Hintergrund nicht wenig erheitert. Dort heißt
es: Da Tierschutz entweder konkret ist oder gar nicht,
bleibt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit diesem An-
trag ihrem Prinzip treu, den Tierschutz, wo notwendig und
möglich, durch Änderungen der entsprechenden Gesetze
und nicht durch populistische Phrasen zu verbessern.
Ja, was anderes als eine populistische Phrase ist denn
Ihr Antrag vor dem Hintergrund völkerrechtlicher Rege-
lungen? Was anderes als eine symbolische Forderung ist
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10575
(C)
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denn dieser Antrag, angesichts der Tatsache, dass ein sol-
ches nationales Importverbot – so bedauerlich das auch
ist – mit internationalen Regelungen nicht in Überein-
stimmung zu bringen ist? Was anderes, als der Versuch,
eine schnelle Öffentlichkeitswirkung zu erreichen, ist
denn die ausdrückliche Verknüpfung Ihres Antrages mit
der Kampfhundeproblematik? Vor diesem Hintergrund ist
ihr Antrag alles andere als konkret, weil er nicht umsetz-
bar ist. Vielleicht könnte man ihn noch als konkrete Poe-
sie bezeichnen, aber dazu fehlt ihm leider das Poetische.
Ich will das noch einmal deutlich machen, damit das al-
les nicht in den falschen Hals kommt: Es ist in der Tat ein
unerträglicher Tatbestand, dass das deutsche Verbot von
Qualzüchtungen durch Importe ausgehebelt werden kann.
Aber mit einem nationalen Importverbot ist diese Uner-
träglichkeit nicht zu beseitigen. Aber nicht nur völker-
rechtliche Regelungen machen einen solchen nationalen
Alleingang problematisch, dem sich die CDU/CSU im
Übrigen zum Beispiel bei der Käfigbatteriehaltung von
Legehennen immer verweigert hat; die qualgehaltenen
Tiere dürfen nicht raus, die qualgezüchteten nicht rein,
das ist eine etwas merkwürdige Tierschutzlogik.
Es muss ja immer auch bedacht werden, ob und wie
und vor allem wie wirkungsvoll sich ein solches Verbot
kontrollieren lässt. Da scheint mir die sachliche Schwie-
rigkeit zu liegen. Bis auf wenige Ausnahmen – wenn ein
Verbot bestimmter Hunderassen erlassen würde, gehörten
diese zu den wenigen Ausnahmen –, wären für ein Ein-
fuhr- bzw. Verbringungsverbot Einzelfallprüfungen erfor-
derlich. Es gibt nur wenige Rassen bzw. Zuchtlinien von
Heimtierarten, bei denen bei jedem Tier von einem Ver-
stoß gegen § 11 b des Tierschutzgesetzes ausgegangen
werden kann. Die Mehrheit der betroffenen Tiere ist dem-
gegenüber nicht durch offensichtliche Merkmale be-
stimmbar. Soweit also nicht in den Begleitdokumenten
Angaben über Erbdefekte enthalten sind, ist eine Einzel-
fallprüfung durch einen Amtstierarzt zwingend, der den
Nachweis führen müsste, dass eine Qualzucht vorliegt.
Das dürfte in vielen Fällen ein aufwendiges und schwie-
riges Verfahren sein. Die Durchsetzbarkeit eines solchen
Importverbotes ist also ziemlich fraglich, um es vorsich-
tig zu formulieren.
Über ein nationales Importverbot hinaus wird gefor-
dert, dass Europäische Übereinkommen zum Schutz von
Heimtieren um ein Import- und Handelsverbot qualge-
züchteter Wirbeltiere zu ergänzen. Ich gehe davon aus,
dass die Bundesregierung im Rahmen der in fünfjährigen
Abständen erfolgenden multilateralen Konsultation eine
solche Ergänzung vorschlagen wird. Es ist allerdings
fraglich, ob vor dem Hintergrund, dass nicht alle EU-Mit-
gliedstaaten beteiligt sind, handelsbeschränkende Maß-
nahmen und Beschränkung der Einfuhr Unterstützung
finden würden. Und selbst wenn, stellt sich auch hier die
Frage nach der praktischen Durchsetzbarkeit entspre-
chender Bestimmungen.
Sie werden mir sicher abnehmen, dass der SPD-Bun-
destagsfraktion diese Qualzuchtproblematik am Herzen
liegt. Schließlich haben wir uns für eine möglichst res-
triktive Regelung schon im Novellierungsverfahren zum
Tierschutzgesetz vehement eingesetzt. Es bleibt aber die
ärgerliche Tatsache, dass sein gangbarer Weg bislang
noch nicht in Sicht ist. Es wird aber – und dazu biete ich
unsere Mitarbeit ausdrücklich an – in den Ausschussbera-
tungen zu prüfen sein, wie man des Problems Herr wer-
den kann. Wir sind jedenfalls für jeden praktikablen Vor-
schlag dankbar.
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU/CSU): Seit der
Mensch Tiere gehalten hat, hat er auch versucht, die Tiere
durch Zucht für seine Zwecke hin zu verändern. Durch
diese Weise sind zum Beispiel die verschiedenen Hun-
derassen für die Jagd entstanden. Die größten züchteri-
schen Aktivitäten gab es aber bei der Tierhaltung in der
Landwirtschaft. Zumindest wir von der landwirtschaftli-
chen Seite kennen die Vielzahl von Rinder-, Pferde- und
Schafrassen, deren Namen von bestimmten Land-
schaftstypen abgeleitet sind. Man hat dabei gezielt die
Tiere herausselektiert, die mit den jeweiligen Umweltver-
hältnissen am besten zurechtkamen. Sie wissen, dass
heute besonders im Rinderbereich durch die Fortentwick-
lung in der Landwirtschaft wie etwa durch den modernen
Stallbau die Außenbedingungen weithin egalisiert worden
sind, was zur Folge hat, dass wir heute besondere Tierras-
sen in Sonderprogrammen erhalten müssen.
Sicher hat man in der Vergangenheit auch in der Zucht
unserer Nutztiere Fehler gemacht, indem man in be-
stimmten Fällen bei der Zucht zu viel Gewicht auf das
Merkmal Leistung gelegt hatte. Insgesamt kann man aber
feststellen: Hätten wir es nur mit der Züchtung unserer
landwirtschaftlichen Nutztiere zu tun, so bräuchten wir
uns über das heutige Thema der Qualzüchtungen nicht zu
unterhalten. Diese in dem Gutachten zur Auslegung von
§ 11 b des Tierschutzgesetzes ausführlich beschriebenen
Verirrungen bei den Zuchtzielen sind sämtlich auf die Be-
strebungen zurückzuführen, den Tieren eine selbstdefi-
nierte Art der Schönheit angedeihen zu lassen. Das Er-
gebnis dieser Bemühungen äußert sich dann in Minder-
leistung der Sinnesorgane, Deformation des Skelettes,
geminderte Fortpflanzungsfähigkeit oder auch Verhal-
tensstörungen, weil die Zucht auf Schönheitsmerkmale
oder auch auf bestimmte Größenvorstellungen mit Schä-
den des Tieres gekoppelt sind, die bei diesen Schäden
oder Leiden auslösen.
Dieses Problem ist schon seit längerem bekannt und
man hat bei der Tierschutzgesetzgebung darauf reagiert.
Nach § 11 b des Tierschutzgesetzes ist es verboten, Wir-
beltieren Schmerzen, Leiden oder Schäden durch Zucht
zuzufügen. Es liegt allerdings in der Natur der Sache, dass
man Auflagen und Verbote nur aussprechen kann, wenn
man sich dafür auf nachvollziehbare Kriterien stützen
kann. Das Gutachten zur Auslegung von § 11 b des Tier-
schutzgesetzes ist dafür eine wertvolle Hilfe. Es ist mir
klar, dass die Bewertung einer Qualzucht aus Sicht des
Tierschutzes und aus Sicht der betreffenden Züchter un-
terschiedlich vorgenommen wird. Sicher gibt es dabei
auch fließende Übergänge, welche die konkrete Entschei-
dung schwierig machen. Auf der anderen Seite gibt es
aber auch genügend eindeutige Fälle, wie das Gutachten
ausweist. Durch das Tierschutzgesetz ist nach § 11 das
Bundesministerium ermächtigt, die erblich bedingten
Veränderungen, Verhaltensstörungen und Aggressions-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10576
(C)
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steigerungen näher zu bestimmen und dabei insbesondere
bestimmte Zuchtformen und Rassemerkmale zu verbieten
oder zu beschränken. Ich fordere die Bundesregierung
auf, bei den eindeutig tierschutzwidrigen Züchtungen im
Sinne dieser Ermächtigung tätig zu werden. Ich möchte
dabei aber gleichzeitig dafür plädieren, dass man hier mit
Gespür für das Umfeld vorgeht. Hobbyzüchter, die sich in
Vereinen zusammengeschlossen haben, müssen von dem
Tierschutzanliegen überzeugt und so mit ins Boot ge-
nommen werden. Vielerorts wird auch noch Bewusst-
seinsbildung notwendig sein. Es ist auf jeden Fall positiv
zu werten, dass an dem Gutachten auch die Züchter und
Zuchtverbände gearbeitet haben. Vielleicht kann man in
Zusammenarbeit mit diesen Akteuren die ersten Schritte
tun.
Unser Antrag greift ein Problem auf, das bisher noch
nicht zur Sprache gekommen ist. Während wir hier in
Deutschland darüber beraten, wie man die Bestimmungen
des Tierschutzgesetzes in der Praxis umsetzen kann, ist es
nach der jetzigen Gesetzeslage jedermann jederzeit mög-
lich, qualgezüchtete Tiere nach Deutschland einzuführen.
So versuchen wir mühsam, national solche Züchtungen
einzudämmen, auf der anderen Seite existieren keinerlei
Schranken gegen die Einfuhr solcher Tiere. Auch zu die-
ser Problematik sieht das Tierschutzgesetz eine Ermäch-
tigung vor, durch eine Rechtsverordnung den Import qual-
gezüchteter Wirbeltiere zu verbieten. Die Bundesregie-
rung muss diese Ermächtigung nutzen, um die bestehende
Gesetzeslücke zu schließen.
Wir sind uns hier alle in dem Ziel einig, ein hohes Tier-
schutzniveau für die gesamte EU festzuschreiben. Das eu-
ropäische Übereinkommen zum Schutz von Heimtieren
ist der geeignete Rahmen, um für die gesamte EU ein Im-
port- und Handelsverbot für qualgezüchtete Wirbeltiere
zu erreichen. Ich fordere die Bundesregierung auf, sich
auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass das euro-
päische Übereinkommen zum Schutz von Heimtieren ent-
sprechend ergänzt wird.
Der Europarat hat sich bereits 1995 eingehend mit dem
Thema Qualzüchtung befasst, insofern sind die Vertrags-
parteien für das Thema Qualzüchtung bereits sensibili-
siert. Nutzen wir diese Chance!
Zuletzt möchte ich noch ein Thema ansprechen, das
wegen der schrecklichen Vorkommnisse in der jüngsten
Zeit Politik und Öffentlichkeit stark beschäftigt, nämlich
die Kampfhunde. Unser Antrag „Importverbot für qual-
gezüchtete Tiere“ umfasst auch diesen Problembereich,
da nach Aussagen des Gutachtens die Zucht auf ein über-
steigertes Angriffs- und Kampfverhalten ein artgemäßes
Sozialverhalten der Hunde verhindert, worin sich eine
Form des Leidens manifestiert. Würde unserem Antrag
gefolgt, wäre folglich auch die Einfuhr dieser Kampf-
hunde verboten und strafbar. Wie wichtig das wäre, zei-
gen uns Medienberichte. Danach werden vor allem in Ost-
europa in großer Zahl Kampfhunde von klein an auf Ag-
gressivität getrimmt und dann gleichsam als „lebende
Waffe“ nach Deutschland verkauft.
Ich bin nicht der Meinung, dass unser Antrag das Pro-
blem der Kampfhunde beseitigt. Klar ist aber, dass jetzt
Nägel mit Köpfen gemacht werden müssen. Zurzeit wird
vielerorts an gesetzlichen Maßnahmen gezimmert. Es
bleibt abzuwarten, ob es zu einer Lösung kommt, die das
Problem Kampfhunde bundesweit in den Griff bekommt.
Sollte das Verbot der Einfuhr von aggressiven Hunderas-
sen über andere Wege erreicht werden, soll mir das recht
sein. Dann bliebe aber noch immer die große Zahl der
übrigen Qualzuchten, die über die Grenzen wandern. Ich
fordere Sie deshalb auf, unserem Antrag zuzustimmen
und nicht in vorauseilendem Gehorsam auf eventuelle Be-
denken des Justizministeriums Rücksicht zu nehmen.
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Als
der Punkt „Import qualgezüchteter Tiere“ auf die Tages-
ordnung des heutigen Plenums gesetzt wurde, konnte nie-
mand die tragische Aktualität ahnen. Die Gefahren durch
gefährliche Hunde und insbesondere durch unverantwort-
liche Halter müssen unbedingt gebannt werden. Dafür be-
darf es eines abgestimmten Maßnahmebündels, wie es die
Länder seit langem diskutieren, die Innenminister auch
bereits verabschiedet und die Bundesregierung es jetzt
sehr schnell für den von ihr zu beeinflussenden Bereich
formuliert hat: ein Zuchtverbot für Kampfhunde, für die
Hunderassen American Pitbull-Terrier, American Staf-
fordshire-Terrier und Staffordshire-Terrier, aber auch für
potenziell gefährliche Rassen und Kreuzungen. Seine
Umsetzung wird vom BML geprüft. Das Halten gefährli-
cher Tiere soll nur noch mit Erlaubnisvorbehalt gestattet
sein. Verstöße gegen Zucht- und Haltungsverbote sollen
strafrechtlich geahndet werden, und zwar nicht nur durch
Geld, sondern auch durch Freiheitsstrafen. Städte und Ge-
meinden werden nachdrücklich darauf hingewiesen, be-
reits bestehende rechtliche Möglichkeiten zu nutzen, um
den Leinen- und Maulkorbzwang für gefährliche Hunde
konsequent durchzusetzen.
Mit dem jetzt geplanten Hundehalterführerschein und
einer Eignungsprüfung wird eine alte grüne Forderung
endlich aufgegriffen. Auch am Thema Importverbot für
qualgezüchtete Tiere, das auch in diesen Maßnahmenka-
non gehört, arbeiten wir schon lange. Bündnis 90/Die
Grünen haben sich bereits in ihrem Entwurf zur Novellie-
rung des Tierschutzgesetzes 1995 für ein Importverbot
qualgezüchteter Tiere ausgesprochen.
Wir konnten seinerzeit im Vermittlungsausschuss bei
der Novelle des Tierschutzgesetzes die Einführung einer
Ermächtigungsgrundlage im § 12 (2) Nr. 4 erreichen, die
das Importverbot für Qualzüchtungen ermöglicht. Ihre
rechtliche Umsetzung ist allerdings umstritten. Das BML
prüft derzeit, wie sie zu bewerkstelligen ist. Allerdings ist
dieser Passus in erster Linie eine Bestimmung des Tier-
schutzes. Ein Gutachten des BML nennt als notwendige
Zuchtziele Gesundheit und Vitalität, Vermeidung enger
Verwandtschaftszucht, Vermeidung exzessiver anatomi-
scher, physiologischer und ethologischer Übertreibungen,
also Übertypisierung, Vermeidung bzw. Begrenzung von
Erbkrankheiten und Defekten sowie den Ausschluss von
Rassen, deren spezifischer Typus nur durch Merkmale er-
zielt werden kann, die bei den Elterntieren und/oder ihren
Nachkommen bzw. ihrer Nachzucht zu Schmerzen, Lei-
den oder Schäden führen können. Die Gutachter empfeh-
len bei vielen Züchtungen ein Verbot, zum Beispiel für
das Araucauna-Huhn mit den so genannten Ohrbommeln.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10577
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(B)
Die Züchtung führt zur Deformationen der Gehörgänge
bis hin zur Taubheit.
Zum Thema Kampfhunde empfehlen die Gutachter, ei-
nen Wesenstest zu fordern, in dem die Fähigkeiten zu so-
zialem Verhalten gegenüber Artgenossen nachzuweisen
ist. Sie sprechen sich zudem für ein Zuchtverbot für Tiere
aus, die den Wesenstest nicht bestehen.
Gegen das Importverbot bestehen EU-rechtliche Be-
denken, weil Einfuhrverbote oder Beschränkungen weder
ein Mittel zur Diskriminierung noch eine verschleierte
Beschränkung des Handels zwischen Mitgliedstaaten dar-
stellen dürfen. Diese Bedenken sollten jetzt schnellst-
möglich ausgeräumt werden, wie wir insgesamt davon
überzeugt sind, dass nach dem Schock der letzten Tage die
Politik jetzt in großer Übereinstimmung zu den richtigen
Maßnahmen – wir diskutieren das gesamte Thema ja noch
ausführlich – finden muss und wird, damit es zu keiner
weiteren Gefährdung von Menschen durch gefährliche
Hunde kommt.
Ulrich Heinrich (F.D.P.):Die aktuellen – schlimmen –
Vorkommnisse mit Kampfhunden erfordern sofortiges
Handeln. Kritisch ist allerdings anzumerken, dass alles,
was der Bundesinnenminister und die Innenminister der
Länder jetzt in höchster Eile umsetzen, schon lange dis-
kutiert und seit Mai bereits von den Innenministern ver-
abredet war. Wieso haben Sie nicht schon im Mai gehan-
delt, Herr Schily? Mit Ihrem Zögern haben Sie den Men-
schen und uns, der Politik, einen schlechten Dienst
erwiesen. Zu Recht beklagen die Menschen und die Me-
dien unseren Aktionismus. Zu Recht wird der Vorwurf er-
hoben, die Politik handele immer erst dann, wenn es be-
reits zu spät sei. Leider auch in diesem Fall.
Dennoch gehen die jetzt beschlossenen Maßnahmen in
die richtige Richtung:
Erstens. Das Bundeskabinett beauftragte den Bundes-
landwirtschaftsminister, eine Initiative für ein Zucht- und
Importverbot von Kampfhunden vorzulegen. Das Kabi-
nett will in zwei Wochen eine Gesetzesänderung zum
Tierschutzgesetz beschließen.
Zweitens. Das Bundesjustizministerium hat den Auf-
trag, ein Konzept zu erarbeiten, wie Verstöße gegen die
Verbote bestraft werden sollen. Dabei geht es um Geld
und Freiheitsstrafen.
Drittens. Richtig sind zudem die strikten Maßnahmen,
die in den Ländern, zum Beispiel Hamburg, vollzogen
werden.
Notwendig ist allerdings auch, dass das ganze Paket an
Regelungen endlich vor Ort eingehalten und streng von
der Polizei und den zuständigen Behörden kontrolliert
wird. Es hilft nichts, wenn der Bund die Verantwortung
auf die Länder schiebt und diese wieder mit dem Zeige-
finger auf die Kommunen zeigen.
Im Vermittlungsausschuss haben wir über alle Frakti-
onsgrenzen hinweg 1998 das Verbot von Qualzüchtungen
im neuen Tierschutzgesetz beschlossen. Damit hat der
Grundsatz, dass niemand einem Tier ohne vernünftigen
Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen darf,
eine weitere beispielhafte Konkretisierung im Tierschutz-
gesetz erfahren. Die Durchsetzung dieses gesetzlichen
Grundsatzes bei der Zucht von Tieren ist im § 11 b Tier-
schutzgesetz geregelt. Das heißt, bei der Zucht von Tieren
soll möglichst jede Form des Schmerzes, Leidens oder der
Schädigung von Tieren verhindert werden.
Wo aber liegt die Grenze zwischen zulässiger Zucht
und verbotener Qualzucht? Das BML-Gutachten zur Aus-
legung von § 11 b des Tierschutzgesetzes konnte nicht alle
Streitpunkte zwischen Tierschützern und -züchtern besei-
tigen. Dennoch trägt das Gutachten dazu bei, wichtige
Definitionshilfen zu geben und so einen noch besseren
Tierschutz in Deutschland durchzusetzen. Tierschutzwi-
drige Rassestandards und Übertypisierungen bei der
Zuchtauswahl werden auch weiterhin kontrovers zwi-
schen den widerstreitenden Parteien diskutiert werden
müssen. Im Zusammenhang mit dem Thema „Kampf-
hunde“ herrscht aber hoffentlich Einigkeit darüber, dass
Aggressionszucht gleich Qualzucht ist.
Auf nationaler Ebene müssen wir selbstverständlich
unsere Hausaufgaben erledigen, um die Menschen vor
aggressiv gezüchteten Hunden zu schützen. Ein Import-
verbot für Qualzüchtungen bestimmter Hunderassen ins-
besondere aus Osteuropa ist aber schon lange überfällig.
In diesem Punkt sollten alle Fraktionen gemeinsam mit
der Bundesregierung und den Züchterverbänden schnells-
tens wirksame Lösungen finden. Leider hat der Tierschutz
in Europa und außerhalb Europas nicht den Stellenwert
wie in Deutschland. Der Antrag der CDU, den Import
qualgezüchteter Wirbeltiere nach Deutschland zu verbie-
ten und eine entsprechende europarechtliche Änderung
herbeizuführen, geht daher voll in die richtige Richtung.
Selbstverständlich wird die F.D.P. den vorliegenden An-
trag unterstützen.
Richtig ist aber auch, das eine zu tun, ohne das andere
zu unterlassen. In einer Presseverlautbarung von Anfang
Juni kritisiert der agrarpolitische Sprecher der CDU/CSU
„populistische Phrasen“ im Tierschutzbereich. Lieber
Herr Kollege Ronsöhr, Sie sollten nicht das, was Ihre
Parteifreunde in der CDU und CSU in den Ländern längst
in die Landesverfassungen aufgenommen haben, derartig
durch den Kakao ziehen. Ich sage Ihnen voraus, dass auch
die CDU/CSU-Bundestagsfraktion früher oder später für
eine Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz stim-
men wird.
Eva-Maria Bulling-Schröter (PDS): Paragraph 11 b
des Tierschutzgesetzes verbietet Wirbeltiere zu züchten,
wenn damit gerechnet werden muss, dass bei der Nach-
zucht erblich bedingt Körperteile oder Organe fehlen, un-
tauglich oder verunstaltet sind und den Tieren dadurch
Schäden, Leiden oder Schmerzen zugefügt werden. So
weit, so gut.
Nur logisch folgerichtig ist dann auch, dass es ein Im-
portverbot für derlei qualgezüchtete Tiere geben muss.
Deshalb ist es selbstverständlich, dass die PDS-Fraktion
den Antrag des Importverbots für qualgezüchtete Tiere
unterstützt.
Ein Importverbot ist die eine Seite der Medaille. Auch
in diesem Lande werden Tiere qualgezüchtet, ohne dass
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dagegen irgendwelche Sanktionen greifen. Auch in die-
sem Lande werden ganze Rassen kaputt gezüchtet; denn
das Interesse an der schnell verdienten Mark tritt bei vie-
len Züchtern in den Vordergrund und führt dazu, dass
zahlreiche Deformationen weitergegeben werden.
Auch ziehe ich Rassestandards, besonders wenn sie
überzogen sind, in Zweifel. Nicht der gesunde Pekinese,
Mops oder die Bulldogge werden in einer Rasseschau prä-
miert, sondern der Hund, der durch seine extreme Verkür-
zung des Gesichtsschädels dem gesteckten Ziel Kurz-
köpfigkeit nahe kommt. Viele Hunde leiden unter massi-
ven Atemproblemen und Gaumenspalten. Die Neigung zu
Schwergeburten ist oft die Regel.
Dackel wurden langgezüchtet und leiden oft furchtbar
unter der Dackellähme, einem Bandscheibenvorfall, der
häufig nur operativ behoben werden kann. Die Existenz
anderer Hunderassen wird durch Scheinargumente be-
gründet, wie zum Beispiel die Verträglichkeit von Nackt-
hunden für Allergiker.
Dass diese Tiere mit einem Letalfaktor behaftet sind,
der die reinerbigen Nachkommen bereits in der Gebär-
mutter absterben lässt, interessiert Züchter dieser Rasse
nicht. Auch die Tatsache, dass der Verlust des Haarkleides
genetisch mit einer anomalen Verdickung der Haut und
extremen Fehlstellung der Zähne einhergeht, ist von un-
tergeordneter Bedeutung. Bei einigen Hühnerrassen ist
die so genannte Schwanzlosigkeit ein Merkmal. Aufgrund
dieser Missbildung fehlen nicht nur Schwanzgefieder und
Bürzeldrüse, sondern auch hintere Abschnitte der Wirbel-
säule. Vor dem Schlupf und in den ersten Lebensmonaten
sterben fast doppelt so viele Tiere wie bei normalschwän-
zigen Hühnern. Außerdem haben schwanzlose Hühner-
küken häufiger Probleme beim Kotabsatz bis hin zum
Verschluss der Kloakenöffnung durch festklebenden Kot.
Das sind einige Beispiele zur Zwangszucht. Die Liste
ließe sich noch lange fortsetzen. Von daher meine ich, ein
Importverbot für qualgezüchtete Tiere ist sinnvoll und
notwendig. Aber ich meine auch, dass wir hier in diesem
Land etwas gegen die tierschutzwidrigen Qualzuchten tun
müssen. Es kann nicht sein, dass aus Profitgründen oder
abnormen Züchterehrgeiz Tiere von Geburt an leiden
müssen.
Ich fordere Sie hiermit auf, endlich dafür Sorge zu tra-
gen, dass auch der Paragraph 11 b des Tierschutzgesetzes
tatsächlich durchgesetzt wird und Rassemerkmale nach
derlei Kriterien untersucht werden. Wir haben auch eine
Verantwortung für diese bedauernswerten Kreaturen. Ich
meine, wir sollten sie ernst nehmen.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung: Be-
kämpfung der sinkenden Zahlungsmoral durch
Änderung des Umsatzsteuerrechtes (§ 20 UstG)
(Tagesordnungspunkt 16)
Simone Violka (SPD): Sinkende Zahlungsmoral ist
vorrangig ein Problem der seit vielen Jahren auch sinken-
den Moral in unserer Gesellschaft. Anders ist es nicht
nachzuvollziehen, wenn sich Firmen, aber auch Privat-
verbraucher daran gewöhnt haben, erst nach der drittten
Mahnung eine Rechnung zu bezahlen ohne ein schlechtes
Gewissen zu bekommen. Dadurch entstehen besonders
für Selbstständige, Handwerker, aber auch kleine und
mittlere Betriebe oft existenzgefährdende Situationen. Sie
müssen meist schon vorher mit Lohn- und Materialkosten
in Vorleistung gehen und sind darauf angewiesen, dass
ihre berechtigten Forderungen auch tatsächlich und
schnellstens erfüllt werden.
Vor allem in den neuen Bundesländern war und ist das
täglich ein Thema. Denn wo Arbeitnehmer den Mut ha-
ben, zu Unternehmern zu werden, wo kaum Eigenkapital-
mittel vorhanden sind und der Kredit gerade mal für einen
Unternehmerstart light reicht, muss mit jeder Mark dop-
pelt gerechnet werden. Aber ausbleibende Zahlungen von
berechtigten Forderungen treffen nicht nur Betriebe und
Handwerker in den neuen Ländern. Nur treten dort noch
heute oftmals die Auswirkungen schneller und härter auf.
Wir alle sehen die Handwerkerfrauen, die vor dem
Brandenburger Tor in den Hungerstreik getreten sind,
weil sie durch säumige Auftraggeber unverschuldet ihrer
Existenz beraubt wurden. Sie alle erhoffen sich Hilfe von
der Politik, aber vielleicht auch von der Gesellschaft, der
in diesen Tagen vor Augen geführt wird, was passiert,
wenn den Verpflichtungen nicht oder viel zu spät nachge-
kommen wird.
Ich denke, wir alle sind uns einig, dass die schon seit
Jahren sinkende Zahlungsmoral ein sehr großes Problem
ist, das man anpacken muss. Nun kommt es aber darauf
an, dieses Problem an der richtigen Stelle anzupacken. Ich
bin nicht wie die PDS der Meinung, das durch Änderung
des Umsatzsteuerrechts erreichen zu können, zumal im
Antrag der PDS das Modell zur Umsatzsteuerberechnung
auf vereinnahmten Entgelten als Option vorgeschlagen
wird und ich nicht bereit bin zu glauben, ein säumiger
Schuldner würde sich freiwillig für dieses System ent-
scheiden und sich damit selbst der Möglichkeit berauben,
seine Mehrwertsteuer sofort nach Rechnungserhalt vom
Finanzamt einzufordern. Also greift die Grundidee bereits
an dieser Stelle ihres Antrages ins Leere.
Nachdem in der letzten Legislaturperiode die abge-
wählte Bundesregierung ihre Möglichkeiten nicht genutzt
hat, sich dieses Problems auch in einem Gesetzentwurf
anzunehmen, haben wir nicht erst viele Jahre verstreichen
lassen, um auf diesem Gebiet Abhilfe zu schaffen. Wir
haben nicht lange geredet, sondern gehandelt. Natürlich
können Politik und Gesetze nicht alles für einen Unter-
nehmer regeln, aber sie müssen ihn in die Lage versetzen,
besser und reibungsloser sein Recht durchzusetzen.
Da es mittlerweile schon schick war, seine Rechnung
erst nach der dritten Mahnung zu bezahlen, haben wir mit
unserem Gesetz zur Beschleunigung fälliger Zahlungen
dafür gesorgt, dass der Verzug von Geldforderungen be-
reits automatisch nach 30 Tagen eintritt und nicht erst
nach der dritten Mahnung. Gleichzeitig werden die Ver-
zugszinsen auf 5 Prozent über dem Diskontsatz angeho-
ben, damit der Auftraggeber eine höhere Hemmschwelle
hat, die begründeten Zahlungen zu verweigern und den
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10579
(C)
(D)
(A)
(B)
Auftragnehmer als für ihn billigen Kreditgeber zu miss-
brauchen.
Wir haben auch dafür gesorgt, dass Abschlagszahlun-
gen zum gesetzlichen Leitbild des Werkvertragsrechts
gehören. Das hilft dem Unternehmer, seine geldliche Vor-
leistung für zum Beispiel Material in Grenzen zu halten.
Aber auch der Verbraucher bekommt Rechtssicherheit,
denn der Abschlag kann nur gefordert werden, wenn ent-
sprechende Leistungen auch erbracht wurden und bzw.
oder der Besteller Eigentum daran erhält. Damit wird
auch in gewissem Maße einer Forderung der Handwerker
entsprochen, die immer wieder beklagen, dass sie keinen
Anspruch mehr auf eingebaute Materialen haben, auch
wenn die Rechnung ungetilgt bleibt. Diese Abschlagszah-
lungen können die Höhe einer nicht erbrachten Zahlung
erheblich mindern und die verbauten Materialien können
schon während der Bauphase berechnet und zur Zah-
lungsanweisung gebracht werden.
Viele Vergütungsforderungen aus der Bauwirtschaft
werden durch den Streit um tatsächlich oder angeblich
vorhandene Mängel behindert. Dieses Problem kann
natürlich nicht einfach durch ein Gesetz aus der Welt ge-
schaft werden. Eine Teillösung konnte aber erreicht wer-
den, weil die Abnahme wegen unerheblicher Mängel
nicht mehr vollständig verweigert werden kann. Ein paar
gesprungene Fliesen im Bad werden also nicht mehr dazu
führen, dass die Bezahlung der Rechnung für das ganze
Haus ausbleibt. Wenn sich die beiden Vertragspartner
über Art und Umfang der Mängel nicht einig werden,
kann der Unternehmer einen unabhängigen Gutachter be-
stellen. Wenn keine Mängel vorliegen, kann der Gutach-
ter eine Fertigstellungsbescheinigung ausstellen und da-
mit kann dann der Beurkundungsprozess stattfinden.
In dem Gesetz wurde auch eine erhebliche Verbesse-
rung für Subunternehmer geschaffen, denn oft leisten
diese Subunternehmer ordentliche Arbeit und schauen
danach beim Geld in die Röhre. Das liegt in vielen Fällen
nicht daran, dass der Kunde ein säumiger Zahler ist, son-
dern daran, dass der Hauptauftragnehmer dieses Geld
nicht an die Subunternehmer weitergibt. In dem Gesetz,
welches nun schon seit 1. Mai 2000 in Kraft ist, wird in
dieser Beziehung endlich eine klare Regelung getroffen.
Der Zahlungsanspruch des Subunternehmers besteht, so-
bald der Besteller an den Hauptunternehmer zahlt.
Die PDS-Fraktion sieht also, dass wir uns darüber Ge-
danken gemacht haben, wie man den Unternehmern und
Unternehmen in diesem Land hinsichtlich berechtigter
Forderungen helfen kann. Die Zahlungsmoral aber kann
man per Gesetz nur schlecht verbessern, denn wie das
Wort Moral schon sagt, hat Zahlungsmoral etwas mit Ver-
antwortungsbewusstsein, Disziplin, Ethos und Fairness
zu tun, und diese Dinge kann man nicht per Gesetz errei-
chen, so schön das auch wäre. Das muss in den Köpfen
aller reifen. Jeder muss einsehen, dass er mit seinem Ver-
halten jemand anderem schadet. Es kann nicht angehen,
dass ein Bauunternehmer Schneider wegen seiner schein-
bar cleveren geschäftlichen Aktivitäten noch bewundert
wird, weil es ihm vielleicht gelungen ist, die Banken zu
linken. Er hat nicht nur die Banken gelinkt, er hat vor al-
lem mit der Existenz von vielen ehrlichen Handwerkern
und Unternehmern gespielt. So etwas darf nicht bewun-
dert und unterstützt werden. Diese Menschen sind nicht
anonym, sie haben Namen und Gesichter, wie die Frauen
vor dem Brandenburger Tor.
Ich will an dieser Stelle aber auch nicht unerwähnt las-
sen, dass das Gesetz schon immer für den Auftragnehmer
die Möglichkeit vorsah, sich von vornherein besser abzu-
sichern. Bei großem Auftragsvolumen kann der Auftrag-
nehmer vom Auftraggeber eine Bankbürgschaft verlan-
gen, auch noch nach Unterzeichnung des Auftrages. Al-
lerdings macht vor allem in der Baubranche kaum einer
von diesem Recht Gebrauch, weil in dieser Branche das
Bestehen auf einer Bankbürgschaft mit Misstrauen in die
Integrität des Auftraggebers gleichgesetzt wird und man
Angst hat, danach nie wieder einen Auftrag zu erhalten. In
der Industrie sind solche Bürgschaften zwischen Ver-
tragspartnern inzwischen gang und gäbe. Und auch im
Kreditwesen ist es völlig üblich und legitim, Sicherheiten
zu verlangen. Ich kann an dieser Stelle nur an die Unter-
nehmer appellieren, von diesem Recht Gebrauch zu ma-
chen, denn nur wenn es alle tun, wird es auch in allen
Wirtschaftsbereichen als Normalität anerkannt werden
können.
Das geltende Umsatzsteuergesetz bewährt sich schon
seit vielen Jahren, und da wir Ihren Antrag ablehnen wer-
den, wird es sich in dieser Form auch weiterhin bewähren.
Ich erkenne an, dass Sie etwas gegen die sinkende Zah-
lungsmoral tun wollen, aber Ihr Antrag ist nicht unbedingt
ein geeignetes Mittel dazu. Ich habe Ihnen aufgezeigt und
an Beispielen verdeutlicht, was in unserem Gesetz zur Be-
schleunigung fälliger Zahlungen alles verankert ist. Das
alles sind Maßnahmen, die den Betroffenen tatsächlich
helfen können. Aber leider haben Sie sich, als dieses Ge-
setz im Bundestag zur Abstimmung stand, der Stimme
enthalten. Für mich ist das nicht nachvollziehbar.
Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Das Thema
an sich ist nicht neu. Wir haben im Februar schon einmal
über diese Problematik beraten. Sie, meine Damen und
Herren von der Koalition, sind dabei auf halbem Wege
stehen geblieben. Sicherlich hat es Erleichterungen und
Verbesserungen gegeben, aber das von uns vorgeschla-
gene Bauvertragsgesetz hätte viel nachhaltiger gewirkt.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch einmal daran er-
innern, dass anstelle einer wirklichen Lösung nur ein „ma-
geres SPD-Spätzchen“ ins Werk gesetzt wurde, wie das
der Kollege Freiherr von Stetten damals ausgedrückt hat.
Der Antrag spricht ein wichtiges Problem an. Sie ha-
ben die Fragen in Ihrem ursprünglichen Antrag – Druck-
sache 14/99 – anschaulich verdeutlicht. Ich will die Ana-
lyse hier noch einmal vortragen:
Die Zahlungsmoral hat sich in den letzten Jahren in der
Bundesrepublik Deutschland zur „Zahlungsunmoral“ und
damit zu einer existenziellen Bedrohung des gesamten
Wirtschaftslebens entwickelt. Gewerbliche Rechnungen
wurden in Deutschland 1997 durchschnittlich nach 65 Ta-
gen bezahlt – 1985 waren es noch 55 Tage. Zwischen ers-
tem und drittem Quartal 1998 verschlechterte sich das
Zahlungsverhalten bei 25 Prozent der westdeutschen und
45 Prozent der ostdeutschen privaten Schuldner bzw.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10580
(C)
(D)
(A)
(B)
34 Prozent – West – und 51 Prozent – Ost – der gewerbli-
chen Schuldner. Kein gesellschaftlicher Bereich, auch
nicht die öffentliche Hand, ist von dieser Entwicklung
ausgenommen. Der Zahlungseingang für Schlussrech-
nungen an Behörden des Bundes und der Länder erfolgt
mittlerweile durchschnittlich erst nach rund 100 Tagen,
obwohl zum Beispiel nach Verdingungsordnung Bau,
VOB, solche Rechnungen innerhalb von zwei Monaten zu
begleichen sind. Hierzu ist mir ein ganz krasser Fall im
Zusammenhang mit dem Bau des Bundesamtes für Strah-
lenschutz bekannt geworden, wo 6-stellige Summen erst
nach erheblichen Interventionen ausgezahlt wurden und
ein Handwerksbetrieb in Existenznot geraten ist. Das ist
allerdings kein Einzelfall. Die Prüfungszeiten sind unan-
gemessen lang.
Nach Untersuchungen im sächsischen Bau- und Aus-
baugewerbe mussten 1997 und 1998 sachsenweit rund
2 bis 3 Prozent aller Forderungen für Bauleistungen ab-
geschrieben werden. 1995 und 1996 waren das nur etwa
1 bis 1,5 Prozent. Das sind 600 Millionen DM aus Bau-
leistungen, die jedes Jahr verloren gehen. 4 Milliarden
DM wurden erst nach Mahnungen und unter Zeitverzug
von 6 Monaten ausgeglichen. 20 Prozent aller Forderun-
gen wurden für strittig erklärt. Das ist nicht nur in Sach-
sen, sondern überall in den neuen Bundesländern so.
Zahlungssäumnisse beim Kunden führen zu einem ver-
späteten Geldeingang beim Gläubiger. Das verschlechtert
die Liquidität und nötigt oder motiviert ihn selbst zu
schlechterem Zahlungsverhalten, was wiederum dessen
eigene Gläubiger in Schwierigkeiten bringen kann. Ein-
schränkung der wirtschaftlichen Aktivität bis hin zur In-
solvenz und dadurch bedingte Arbeitslosigkeit sind die
Folge. Letztere wiederum ist eine maßgebliche Ursache
für immer schlechteres Zahlungsverhalten der privaten
Verbraucher. Dieses aber wirkt sich erheblich auf die Li-
quidität im gewerblichen Bereich, insbesondere von Ein-
zelhändlern, Baugewerbebetrieben und anderen Hand-
werkern aus. Dieser Teufelskreis führt nicht nur über die
sich so beschleunigende Pleiten-Spirale zu enormen
volkswirtschaftlichen Verlusten. Der Rekord von 27 828 Un-
ternehmensinsolvenzen 1998 zog Forderungsausfälle von
59 Milliarden DM und den Verlust von rund 500 000 Ar-
beitsplätzen nach sich. Hauptursachen der Pleiten wa-
ren laut Creditreform außer Managementproblemen vor
allem Finanzierungsschwierigkeiten, bedingt durch mise-
rable Zahlungsmoral.
Daneben wird dieser Teufelskreis aber auch durch kri-
minelles Handeln in Schwung gehalten, welches die ge-
sellschaftliche Moral immer weiter untergräbt. So ergab
eine Umfrage des Bundesverbandes Deutscher Inkasso-
unternehmen unter seinen Mitgliedern: „Vorsatz“ sei mit
45 Prozent inzwischen drittwichtigste Ursache für sin-
kende Zahlungsmoral bei privaten Schuldnern – nach
„Arbeitslosigkeit“ 87 Prozent, und „Überschuldung,
80 Prozent, aber deutlich vor „Liquiditätsengpass“,
28 Prozent, und „Vergesslichkeit“, 9 Prozent, Mehrfach-
nennung möglich. Die heutige Rechtsordnung und
-anwendung macht es finanziell potenten Auftraggebern
zu leicht, sich auf Kosten schwächerer Auftragnehmer zu
bereichern.
Die Sachlage ist klar. Ob die Änderungen vom Früh-
jahr dieses Jahres wirklich etwas bewirkt haben, wissen
wir noch nicht.
Wenn ich das richtig verstanden habe, wollen Sie mit
Ihrem Antrag aus der Drucksache 14/1878 langfristig eine
Umstellung bei der Mehrwertsteuer von der „Soll-Ver-
steuerung“ zur „Ist-Versteuerung“. Das klingt zunächst
ganz einfach und Sie machen es sich recht leicht, wenn
Sie in der Begründung schreiben: „Zusätzliche Kosten
entstehen nicht, da sich nur der Zeitpunkt der Einnahme
verschiebt.“ Schon dies ist falsch. Bei einem Aufkommen
von rund 230 Milliarden DM aus der Mehrwertsteuer und
5 Prozent Zinsen macht das einen Zinsverlust von fast
1 Milliarde DM aus. Das ist keine Kleinigkeit.
Eine derartige Veränderung würde aber auch handels-
rechtliche Probleme aufwerfen. Wenn ein Unternehmen
Waren in Rechnung gestellt hat und der Kaufpreis fällig
ist, muss dieser Vermögensposten in der Bilanz ausge-
wiesen werden. Damit verbunden ist aber auch die Steu-
erschuld gegenüber dem Finanzamt. Deshalb ist diese
ebenfalls in der Bilanz auszuweisen. Wenn nun bei der
Mehrwertsteuer zum Ist-System übergegangen würde,
fielen der Ausweis von Vermögenszufluss und Steuerver-
bindlichkeit unterschiedlich aus. Dies kann nicht hinge-
nommen werden, deshalb gibt es einen guten Grund für
die Soll-Versteuerung jenseits jeglicher fiskalischer Argu-
mente. Deshalb ist ein Systemwechsel abzulehnen.
Dem steht auch nicht entgegen, dass es gegenwärtig für
Kleinunternehmer bis zu 250 000 DM Umsatz bzw. 1Mil-
lion DM Umsatz in den neuen Bundesländern nach § 20
Umsatzsteuergesetz eine Optionsmöglichkeit gibt. Dies
betrifft in der Regel Unternehmen, die nicht zur doppel-
ten Buchführung verpflichtet sind, sondern bei denen eine
einfache Einnahme-Überschussrechnung ausreicht. Bei
diesen stellt sich das rechtliche Problem des Abweichens
in der Bilanz nicht.
Sie wollen durch eine Verlagerung der Fälligkeit die
Zahlungsbereitschaft von Unternehmen verbessern. Der
von Ihnen vorgeschlagene Weg ist dazu völlig ungeeignet.
Wenn man davon ausgeht, dass nach Ihrem Konzept Vor-
steuer-Abzug und Mehrwertsteuer gleichzeitig fällig wer-
den sollen, dann kann sich der Liquiditätsvorteil, der da-
raus erwächst, nur auf die steuerpflichtige Wertschöpfung
des Unternehmens beziehen. Bei einer Umsatzrendite von
10 Prozent und einem Umsatz von 1 Million DM wäre das
ein Betrag von 100 000 DM. Der Mehrwertsteueranteil
darauf beträgt 16 000 DM. Geht man nun von einer durch-
schnittlichen Zahlungszeit von 65 Tagen aus, wie Sie das
in Ihrem Antrag vom 20. April 1999 auf Drucksa-
che14/799 fordern, dann bedeutet das, dass 16 000 DM ma-
ximal 65 Tage später als nach geltendem Recht abgeführt
werden. Bei einer 10-prozentigen Verzinsung wäre das
ein Zinsvorteil von 1 600 DM. Ganz abgesehen davon,
dass sich der Vorteil noch dadurch reduziert, dass ja die
Mehrwertsteuer nicht täglich abzuführen ist, kann mir
niemand erklären, dass ein derartiger Vorteil nachhaltig in
der Lage ist, ein Unternehmen vor einem Konkurs zu
schützen.
Die Einführung des Optionsrechtes nach § 20, seine
Ausweitung, ist nicht in der Lage, Druck auf zahlungsun-
willige Unternehmer zu machen. Wer nicht zahlen will
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10581
(C)
(D)
(A)
(B)
oder nur verspätet zahlen will, der wird nicht optieren,
weil er dadurch die Vorsteuer erst später geltend machen
könnte.
Das Verfahren wäre auch sehr umständlich, denn man
müsste dann bei den gebuchten, zum Vorsteuerabzug be-
rechtigenden Vorgängen unterscheiden zwischen denen,
für die bereits Entgelte zugeflossen sind, und denen, für
die noch keine Entgelte zugeflossen sind. Das ist faktisch
nicht zu leisten.
Das „Ist-Verfahren“ wäre übrigens für viele Unterneh-
men auch von einem großen Nachteil. Es ist doch nicht
immer so, dass der zum Vorsteuerabzug berechtigende
Vorgang und der Eingang von Erlösen zeitnah erfolgen.
Viele Produkte gehen zunächst auf Lager oder verweilen
als Rohstoffe in der Produktion. Für alle diese Teile
könnte dann die Vorsteuer erst wesentlich später geltend
gemacht werden als nach geltendem Recht. Jetzt tritt die
Vorsteuer Abzugsberechtigung praktisch mit der Bezah-
lung oder Rechnungslegung der Ware ein. Nach Ihrem
Vorschlag könnte es bei Ladenhütern und Saisonware zu
erheblichen finanziellen Belastungen des Unternehmers
kommen.
Schon diese wenigen genauen Betrachtungen machen
deutlich, dass Ihr Antrag falsch ist.
Wenn man eine Verbesserung der Zahlungsmoral er-
reichen will, muss dies durch unmittelbaren Druck auf
den Schuldner entstehen. Der lässt sich mit dem von Ih-
nen vorgeschlagenen Weg gerade nicht erreichen.
Ich will aber dennoch anerkennen, dass Sie mit dem
Antrag ein richtiges und wichtiges Problem angesprochen
haben. Dabei stellt sich das Problem für unterschiedliche
Betriebe sehr unterschiedlich dar: Die Großbetriebe mit
einem hohen Eigenkapitalanteil werden von dieser Pro-
blematik wesentlich weniger betroffen als gerade klein-
und mittelständische Betriebe mit einem durchschnittli-
chen Eigenkapital von 18 Prozent. Für sie stellen sich alle
mit Liquidität verbundenen Fragen viel schärfer dar als
für andere.
Es handelt sich im Wesentlichen um ein Problem des
Mittelstandes. Das muss einen veranlassen, noch einmal
über die Auswirkung der Steuerpolitik dieser Regierung
nachzudenken. Gerade für diese besonders betroffene
Gruppe wird wenig getan.
Der von der Regierung beabsichtigte Systemwechsel
bei der Versteuerung von Erträgen von Aktiengesellschaf-
ten, GmbHs und Kapitaleinkünften vom Vollanrechungs-
verfahren, das 1975 unter der damaligen sozial-liberalen
Koalition mit unserer Zustimmung eingeführt worden ist,
zum Halbanrechnungsverfahren ist nicht nur eine Frage
der Steuerabschöpfungstechnik, sondern auch eine gesell-
schaftspolitische. Die von Ihnen beabsichtigte Trennung
von Unternehmer und Unternehmung machen wir nicht
mit.
Will Deutschland entsprechend dem Sozialstaatsprin-
zip eine Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit der
Bürger – also, wer viel hat, zahlt viel, wer wenig hat, zahlt
wenig oder nichts –, dann muss die Letztversteuerung auf
der Ebene der Personen erfolgen. Dies geht nur, wenn die
Erträge und Steuern der Aktiengesellschaften und GmbHs
voll auf das individuelle Einkommen angerechnet werden
und am Ende die Steuerlast für den Einzelnen bestimmt
wird. Versteuert man dagegen – wie von der Bundesre-
gierung geplant – Körperschaften endgültig und rechnet
nur die Hälfte der Erträge bei den Personen an, bedeutet
dies eine Trennung von Unternehmen und Unternehmern.
Gerade dieses gilt es zu vermeiden, denn der engagierte
Mittelstand hat Deutschland weit nach vorne gebracht.
Dieser und insbesondere auch die Kleinsparer werden
durch einen Systemwechsel benachteiligt. Jeder, der bis-
her weniger als 40 Prozent Steuern gezahlt hat, muss in
Zukunft mehr zahlen als bisher. Es tritt also genau das Ge-
genteil von dem ein, was gewollt ist.
Es ist verständlich, wenn die großen Industrieverbände
wegen dieses Streites die Steuerreform nicht scheitern se-
hen wollen, weil dieses Problem aus ihrer Sicht zu ver-
nachlässigen ist. Ihre Mitgliedschaft besteht praktisch nur
aus großen Aktiengesellschaften. Sie haben Vorteile von
einem Wechsel. Für den unter dem Gesichtspunkt der
Arbeitsplätze wichtigeren Teil des Mittelstandes und un-
ter sozialpolitischen Gesichtspunkten ist dies allerdings
ganz anders zu beurteilen und deshalb eine der Kernfra-
gen der Steuerreform.
Ganz nebenbei kann eine rechtsformneutrale Besteue-
rung nur durch die Vollanrechnung von Einkommen und
Steuern bei den Personen gewährleistet werden. Dies ist
die einzige Form, der einzige Weg, wie dieses zu errei-
chen ist. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist das wich-
tig. Deshalb kann man über dieses Problem nicht einfach
hinweggehen.
Nicht umsonst haben kürzlich praktisch alle Steuer-
wissenschaftler Deutschlands, über 78 Professoren, dazu
aufgerufen, keinen Systemwechsel vorzunehmen.
90 Prozent der Unternehmen liegen mit ihrem Ein-
kommen unter 150 000 DM, 80 Prozent unter 100 000 DM.
Das sind die Unternehmen, die nach ihrer Politik
zwar voll an der Verbreiterung der Bemessungsgrundlage
teilhaben, aber praktisch nicht entlastet werden. Wir wer-
den eine Steuerpolitik nicht mitmachen, die im Ergebnis
bedeutet, dass der Mittelstand die Entlastung für die
großen Kapitalgesellschaften finanziert.
Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit noch einmal
klarstellen, dass auch der Systemwechsel mehr als Steu-
ertechnik ist. Sie liefern Steuersenkung und ideologisch
bedingte Veränderungen im „Doppelpack“. Den Teil
Steuersenkung können und wollen wir mittragen, wenn er
denn auf alle Teile der Wirtschaft und die Facharbeiter
ausgedehnt wird. Den Teil der Ideologie – und damit gebe
ich die Antwort auf den Kollegen Poß von heute morgen –
tragen wir nicht mit. Trennen Sie das, dann kann es auch
eine Verständigung geben. Solange Sie den Doppelpack
nicht auflösen, tragen Sie die Verantwortung für ein mög-
liches Scheitern.
Die mittelständischen Betriebe haben durch Ihre Steu-
erpolitik des „Entzugs von Liquidität“ im Rahmen des
Steuerentlastungsgesetzes schon jetzt schweren Schaden
erlitten. Sie haben durch Ihre Steuerpolitik, insbesondere
durch das Steuerentlastungsgesetz, das in Wahrheit ein
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10582
(C)
(D)
(A)
(B)
Steuerbelastungsgesetz war, dafür gesorgt, dass staatliche
Einnahmen früher fließen als das nach dem Ablauf des
bisherigen Rechtes zu erwarten gewesen wäre. Teilwert-
berichtigung, Veränderung bei den Abschreibungen usw.
führen dazu, dass Steuereinnahmen, die erst in einigen
Jahren fällig gewesen wären, schon heute fließen. Das hat
zwei Folgen: Zum einen wird den Betrieben heute Liqui-
dität entzogen, die sie dringend für Investitionen und zur
Finanzierung von Produktionen benötigen, und zum an-
deren führt das zu einer Bugwelle von Steuern bei dem
Staat. Der jetzt vermehrte Mittelzufluss wird in Zukunft
„Steuerlöcher“ produzieren. Damit betreiben Sie heute
schon Politik zulasten der künftigen Jahre.
Das Thema Abschreibungstabellen ist auch noch nicht
ausgestanden. Wir sind gespannt, was da jetzt auf die
Wirtschaft zukommt. Dazu kommt die Belastung aus der
Ökosteuer. Gerade die schwachen Betriebe sind durch die
630-DM-Regelungen besonders betroffen gewesen.
Die wahren Früchte Ihrer Arbeitsmarktpolitik können
Sie auf der so genannten Schröder-Uhr der „Wirtschafts-
woche“ ablesen. Es kommt eben nicht auf die Zahl der Ar-
beitslosen an, denn die verändert sich auch ohne Zutun der
Politik und ohne wirtschaftliche Entwicklung allein durch
die demographischen Veränderungen. Maßgeblich ist die
Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.
Diese ist durch Ihre Politik nicht gestiegen – die
Schröder-Uhr weist gegenüber der Regierungsübernahme
ein Minus von 729 000 auf –, sondern gesunken. Das ist
das Ergebnis Ihrer Politik.
Gerade an diesen Punkten muss grundsätzlich ange-
setzt werden. Hier tun Änderungen Not. Das hilft Betrie-
ben mehr als die Umstellung im Mehrwertsteuersystem
von der „Soll-Versteuerung“ zur „Ist-Versteuerung“.
Werner Schulz (Leipzig) (Bündnis 90/Die Grünen):
Alle Fraktionen in diesem Hause stimmen darin überein,
dass die sinkende Zahlungsmoral in der Bundesrepublik
Deutschland zu einem ernsthaften Problem für die Wirt-
schaft geworden ist. Insbesondere bei kleineren Unter-
nehmen führt diese Entwicklung zu Liquiditätsengpässen
und zu einer Beeinträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit.
Gerade in den neuen Bundesländern ist dies ein besonde-
res Problem, weil die Kapitaldecke vieler Unternehmen
sehr dünn ist. Sie sind daher nicht in der Lage, über einen
längeren Zeitraum Außenstände vorzufinanzieren.
Auch die Zeiträume, bis fällige Forderungen durch die
Schuldner beglichen werden, werden immer größer. Das
vermehrte Zurückhalten von teilweise erheblichen Forde-
rungen kleiner und mittlerer Betriebe bringt diese immer
mehr in Bedrängnis, vor allem in der Bauwirtschaft.
Diese Verhältnisse – darüber waren wir uns alle einig –
sind nicht länger hinnehmbar. Alle Fraktionen haben des-
halb Vorschläge eingebracht, um hier Abhilfe zu schaffen.
Die heutige Debatte ist allerdings eher ein Nachkarten
denn eine zielführende Veranstaltung. Ende Februar ha-
ben wir hier eine Gesetzesänderung beschlossen, die nach
unserer Auffassung geeignet ist, den negativen Auswir-
kungen schnell und unverzüglich entgegenzuwirken.
Mein Kollege Wilhelm hat damals ausdrücklich darauf
hingewiesen, dass es sich dabei um eine erste Verbesse-
rung handelt, dass die Koalitionsfraktionen aber auch be-
reit sind, weiter gehende Regelungen zu erarbeiten.
Mit den beschlossenen Neuregelungen ist uns, so
glaube ich jedenfalls, ein ganz guter und ausgewogener
Wurf gelungen, wobei wir, wenn Sie sich erinnern, durch-
aus auch Anregungen der Opposition aufgenommen ha-
ben. Das von uns verabschiedete Gesetz hat sich am Be-
richt der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Verbesserung der
Zahlungsmoral“ und den Ergebnissen der Anhörung des
Rechtsausschusses orientiert. Wir werden damit die Zah-
lungsverschleppungen energisch bekämpfen und glei-
chermaßen den Verbraucherschutz verbessern.
Die wesentlichsten Veränderungen waren die Anhe-
bung der Verzugszinsen, um die Inanspruchnahme billi-
ger „Justizkredite“ zu beenden, die Einführung eines ge-
setzlichen Anspruchs auf Abschlagszahlungen sowie die
Verfahrensvereinfachung durch die Fertigstellungsbe-
scheinigung. Und ganz so schlecht können unsere Vor-
schläge ja nicht sein, weil sogar die F.D.P. zugestimmt
und weder die Union noch die PDS das Gesetz abgelehnt
haben.
Der heute zur Abstimmung stehende Vorschlag der PDS
ist bereits im Oktober des vergangenen Jahres eingebracht
worden. Die im Februar beschlossenen Gesetzesänderun-
gen waren der PDS bei Antragstellung also nicht bekannt.
Von daher habe ich durchaus Verständnis für diesen An-
trag. Leider ist es in der Sache wieder einmal ein Versuch,
mit ungeeigneten Mitteln scheinbare Verbesserungen zu er-
reichen. Die steuerrechtlichen Vorschläge der PDS werden
den entsprechenden Druck auf säumige Zahler nicht auf-
bauen können. Warum sollten ausgerechnet die „schwarzen
Schafe“ für das vorgeschlagene Modell optieren?
Wir wollen mit den im Februar beschlossenen Rege-
lungen Erfahrungen sammeln. Wir gehen davon aus, dass
wir damit unser gemeinsames Ziel besser erreichen. Den
Antrag der PDS können wir aus den genannten Gründen
daher nur ablehnen.
Jürgen Türk (F.D.P.): Das Zahlungsmoral-Problem
ist inzwischen leider zu einem Dauerbrennerthema im
Bundestag geworden. Wir haben, um der mangelnden
Zahlungsmoral zu begegnen, schon alle möglichen Ge-
setze auf den Weg gebracht: von der Zwangsvoll-
streckungsnovelle, einem Kapitalaufnahmeerleichte-
rungsgesetz, einer Neuregelung des Schiedsverfahrens-
rechts, einem Vergaberechtsänderungsgesetz bis hin zum
erst im Mai dieses Jahres in Kraft getretenen Gesetz zur
Beschleunigung fälliger Zahlungen.
Trotz aller Anstrengungen ist uns der große Wurf aber
offenbar noch nicht gelungen, wie man unschwer an den
seit Tagen hungerstreikenden Unternehmerinnen am
Brandenburger Tor erkennen kann, die mangelnde Zah-
lungsmoral an den Rand des Ruins getrieben hat. Wir kön-
nen und dürfen also in unseren Anstrengungen nicht nach-
lassen, dem Handwerk zu seinem Recht, sprich: zu sei-
nem ehrlich und sauer verdienten Geld zu verhelfen.
Deshalb ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass die PDS
sich dieses Problems angenommen und Vorschläge zur
Änderung des Umsatzsteuerrechts unterbreitet hat.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10583
(C)
(D)
(A)
(B)
Die F.D.P. hat schon früher einmal gefordert, die
Grenze für die bereits jetzt im Osten mögliche Ist-Be-
steuerung von 1 auf 5 Millionen DM anzuheben, um
Klein- und Mittelbetriebe finanziell zu entlasten und das
Entstehen von Liquiditätsengpässen zu vermeiden. In die-
sem Punkt gehen wir also sogar über das hinaus, was die
PDS will.
Gerechterweise sollte diese Regelung für Ost und West
gleichermaßen gelten, denn Zahlungsprobleme gibt es in
allen Teilen Deutschlands.
Das Umsatzsteuerrecht grundsätzlich dahin gehend zu
ändern, dass die Berechnung erst nach vereinnahmten
Entgelten vorgenommen wird, ist aus meiner Sicht nicht
notwendig, weil größere, leistungsstärkere Betriebe in der
Lage sind, Zahlungsverzögerungen oder -ausfälle zu ver-
kraften und daher eine solche Regelung nicht unbedingt
brauchen. Darüber hinaus widerspräche dies auch EG-
Recht und würde sich schon aus diesem Grund verbieten.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Si-
cherung der nationalen Buchpreisbindung
(Tagesordnungspunkt 23)
Monika Griefahn (SPD): Bücher sind nicht nur ein
Wirtschaftsgut. Vielmehr sind Bücher ein bedeutendes
Kulturgut, das eine Gesellschaft und ihren Zustand wi-
derspiegeln kann. Die Literatur eines Landes und seiner
Gesellschaft sind deshalb besonders schützenswerte Er-
zeugnisse des geistigen Lebens. Diese Erzeugnisse sollen
einer breiten Öffentlichkeit zugänglich sein und nicht nur
der Erbauung einer Elite dienen. Bücher sollen aber auch
nicht so vermarktet werden können, dass sie als Wirt-
schaftsfaktor nicht mehr interessant sind, also nicht mehr
produziert werden.
Um dieses zu gewährleisten, haben wir seit 113 Jahren
die Buchpreisbindung. Sie hat sich seitdem bewährt. Die
EU-Kommission hat nun entschieden, dass die Preisbin-
dung auf nationaler Ebene erhalten werden kann. Das ist
eine richtige Entscheidung. Und ich möchte an dieser
Stelle ganz herzlich Staatsminister Dr. Michael
Naumann danken. Er hat gezeigt, dass die Institution des
Kulturstaatsministers und er als engagierte Person wirk-
lich etwas bewegen können.
Im grenzüberschreitenden Buchhandel soll es die
Preisbindung nicht mehr geben; auch Österreich hat hier
eine nationale Lösung gefunden. Deshalb haben wir das
Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen ergänzt. Die
Ergänzungen sehen vor, dass so genannte Reimporte deut-
scher preisgebundener Bücher in berechtigten Fällen bei
der Wiedereinführung ebenfalls der deutschen Preisbin-
dung unterliegen.
Wie richtig und wichtig diese Ergänzung ist, wird ge-
rade im Fall der österreichischen Kette Libro mehr als
deutlich. Mithilfe des Internets versucht Libro, die deut-
sche Preisbindung zu unterlaufen. Und andere Inter-
nethändler stehen laut Presse „in den Startlöchern“, um
ebenfalls verbilligt deutsche Bücher auf den Markt zu
bringen. Welche wirtschaftliche Gefahr gerade für die
kleinen und mittleren Verlage und Buchhändler droht,
kann man sich leicht vorstellen. Mit unseren Ergänzungen
wird dies verhindert werden.
Wir haben mit diesem Gesetzentwurf ein Instrument
geliefert, das den Richtern, die in Fällen von einstweili-
gen Verfügungen gegen Reimporte zu entscheiden haben,
als wichtige Auslegungshilfe dient. Die erfolgten Klar-
stellungen im Gesetz sind eindeutig. Dieses Instrument ist
wichtig, weil bei Reimporten, die objektiv der Unterwan-
derung der Preisbindung in Deutschland dienen, schnell
entschieden werden muss. Dies ist im Fall des Vertriebes
per Internet wichtig. Und wir haben gerade heute im „Ta-
gesspiegel“ lesen dürfen, wie das laufen soll: Bestellung
per Internet im Libro-Laden in Berlin mit dem Verspre-
chen, Bücher 20 Prozent billiger zu bekommen. – Der
Schutz der nationalen Buchpreisbindung kann deshalb
mit unseren Gesetzesergänzungen wirkungsvoll gewähr-
leistet werden.
Im Interesse der Autoren, der Händler und der Verlage
wollen wir Reimporte verhindern. Geistige Nahrung in
Form von Literatur ist genauso wichtig wie jede andere
Nahrung. Die heutige Versorgung mit Buchhandlungen ist
derart, dass auch abgelegene Gebiete erreicht werden.
Dies ist im Sinne einer „Versorgung“ der Bevölkerung
notwendig und wünschenswert. Es geht also darum, diese
Erzeugnisse zu schützen und den Zugang zu ihnen zu er-
halten.
Ohne unsere Initiative würde eine Verflachung des An-
gebotes drohen, weil irgendwann nur noch die Bücher im
Angebot sein würden, die sich verkaufen. Autoren, die
kein breites Publikum haben, würde auf Dauer die Mög-
lichkeit zur Publikation entzogen werden. Die Verlage
würden nur noch das herstellen, was sich gut verkauft.
Diese „McDonaldisierung“ kann im Ernst niemand wol-
len. Deshalb ist die Ergänzungsklausel über die Re-
importe im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen
unabdingbar gewesen. Im Übrigen bin ich nach einem Ge-
spräch mit der europäischen Kulturkommissarin Reding
froh, dass sich eine engagierte Frau mit dem Wettbe-
werbskommissar Monti geeinigt hat, dass diese Lösung
der nationalen Preisbindung möglich ist.
Es ist allgemein anerkannt, dass das Buch einen Dop-
pelcharakter hat. Es ist Kulturgut und Handelsgut in
einem. Darüber hinaus dient es als Kommunikationsmit-
tel der Sprache und der Integration von homogenen
Sprachräumen. Die Preisbindung hat damit eine eminente
kulturpolitische Implikation, die durch unsere Gesetzes-
änderungen erhalten bleibt. Als kulturpolitisches Instru-
ment ist sie von Verlegern, Buchhändlern und Autoren oh-
nehin anerkannt.
Es gilt nun, Bestrebungen wie denen von Libro zu wi-
derstehen und die neue Gesetzesregelung konsequent um-
zusetzen. Wir haben auch in Zukunft als Kulturpolitike-
rinnen und -politiker dafür zu sorgen, dass die literarische
Produktion und der Vertrieb in Deutschland unter den
bestmöglichen Bedingungen vonstatten gehen können.
Deshalb ist diese Gesetzesänderung wichtig und richtig.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10584
(C)
(D)
(A)
(B)
Sie ist im Sinne unserer Autoren, Verlage und Buchhänd-
ler und damit in unser aller Sinn.
Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): Der vorliegende
Gesetzentwurf zur Änderung bzw. Ergänzung des Geset-
zes gegen Wettbewerbsbeschränkungen ist der in man-
cherlei Hinsicht bemerkenswerte Schlusspunkt langjähri-
ger Bemühungen von Bundesregierung und Parlament
um eine Sicherung der nationalen Buchpreisbindung. Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sich während der Zeit
ihrer Regierungsverantwortung wie nach dem Regie-
rungswechsel nachhaltig für dieses Anliegen eingesetzt
und dabei in der Auseinandersetzung innerhalb des Buch-
handels wie gegenüber der Europäischen Gemeinschaft
ausdrücklich die Notwendigkeit einer differenzierten
Regelung gegenüber den allgemeinen Regelungen des
Wettbewerbsrechts vertreten.
Nach den erfolgreichen Bemühungen um eine Zustim-
mung der Europäischen Kommission für die Aufrechter-
haltung der besonderen Regelungen für die Preisbindung
von Büchern sind schließlich auch Vereinbarungen mit
unserem Nachbarland Österreich gefunden worden, die
die beiderseits gewünschte nationale Buchpreisbindung
auch für Reimporte sicherstellen, sofern sie eine Umge-
hung der nationalen Preisbindung bewirken. Für die Ein-
beziehung auch des Internetbuchhandels in diese Rege-
lung hat sich ganz besonders unser Kollege Anton Pfeifer
eingesetzt, dessen persönliche Rücksprache mit den Ver-
antwortlichen im österreichischen Parlament schließlich
verhindert hat, dass künftig ein österreichischer Buch-
händler dasselbe Buch im Laden zu einem Festpreis und
im Internet zu einem niedrigeren Preis hätte anbieten kön-
nen. Damit können entsprechend der Vereinbarung mit
der Europäischen Kommission ab 1. Juli dieses Jahres
zwei nationale Regelungen in Österreich und Deutsch-
land an die Stelle der bisherigen grenzüberschreitenden
festen Ladenpreise treten.
Die heute im Bundestag zu verabschiedende Gesetzes-
änderung stellt auch insofern eine Besonderheit dar, als
über die bereits vorhandeneRegelung in § 15Abs. 1 Satz 1
des GWB hinaus nun eine zusätzliche „Klarstellung“ im
Gesetzestext erfolgt, die der bisherigen Spruchpraxis des
Bundeskartellamtes zur Frage der Lückenlosigkeit der
Buchpreisbindung entspricht und in gerichtlichen Ausei-
nandersetzungen die Geltung der Preisbindung bei Streit-
fällen unzweideutig und ihre Durchsetzung wirksamer
machen soll. Dies ist eine durchaus ungewöhnliche „Ser-
viceleistung“ des Gesetzgebers, die den besonderen
Stellenwert verdeutlicht, die der Deutsche Bundestag
Büchern als Kultur- und nicht nur Wirtschaftsgütern im
Unterschied zu anderen Produkten beimisst. Die Erwar-
tung der Verlage und Buchhandlungen an den Gesetzge-
ber, angemessene Rahmenbedingungen für Produktion
und Vertrieb von Büchern zu bewahren, wird damit in ei-
ner Weise erfüllt, von denen manche andere mehr oder
weniger vergleichbare Sektoren im Wirtschafts- wie im
Kulturbereich nur träumen können.
Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag ver-
bindet mit ihrer Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf
die Erwartung, dass die Verlage und Buchhandlungen ih-
rerseits in der künftigen Handhabung der Buchpreisbin-
dung alles unterlassen, was in der Vergangenheit Zweifel
an der Ernsthaftigkeit der für unverzichtbar erklärten Gel-
tung gebundener Ladenpreise erzeugt hat.
Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist
dem Einsatz der rot-grünen Bundesregierung zu verdan-
ken, dass die EU-Kommission nach zahlreichen Ge-
sprächen mit den Verfahrensbeteiligten die Aufrechter-
haltung der nationalen Buchpreisbindung akzeptiert hat.
Wir waren und wir sind davon überzeugt, dass in der der-
zeitigen Situation des deutschen Buchhandels die Auflö-
sung der nationalen Buchpreisbindung äußerst negative
Folgen gehabt hätte. Schon jetzt sind zahlreiche kleinere
Buchläden von Insolvenzverfahren bedroht, weil sie es
sich nicht leisten können, in die Haupteinkaufsmeilen zu
ziehen, um dort entsprechende Gewinne zu erwirtschaf-
ten. Mit geringer Personalstärke müssen sie trotzdem ein
vernünftiges Angebot zustande bringen. Es ist ganz deut-
lich, dass die nationale Buchpreisbindung eine Chancen-
gleichheit gewährt, die sowohl für die Verkaufsseite als
auch für die Verlagsseite sehr vorteilhaft ist.
Sie alle kennen die Szenarien, die sich für den Fall der
Aufhebung der nationalen Buchpreisbindung ergeben:
Kostbare Lyrikbände könnten kaum noch produziert wer-
den, weil Sie im Vergleich zur literarischen Massenware
relativ teuer werden und nicht so leicht zu vermarkten
sind.
Die Preisdifferenzen zwischen Massenprodukten und
literarischen Raritäten werden immer größer. Kleine und
mittelgroße Buchläden geraten in ökonomische Schwie-
rigkeiten, weil sie der Konkurrenz mit den großen Ver-
treibern nicht gewachsen sind. Das alles sind Erscheinun-
gen, die wir verhindern wollen. Die Landschaft des deut-
schen Buchhandels soll in ihrer Qualität erhalten bleiben.
Ich meine, dass wir den nötigen Schritt unternommen ha-
ben.
Ich möchte hier ausdrücklich Staatsminister Naumann
für seine Nachdrücklichkeit und seinen Einsatz in dieser
Frage danken. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieses Er-
gebnis ohne sein Verhandlungsgeschick nicht hätte er-
reicht werden können!
Das neu festgeschriebene Reimportverbot ist notwen-
dig, wie die Aktivitäten des österreichischen Buch-
konzerns „Libro“ zeigen. Ein Aushebeln der Buchpreis-
bindung ist in jedem Fall zu verhindern. Eine Preisbin-
dung, die leicht umgangen werden kann, verdient ihren
Namen nicht und macht keinen Sinn. Die Möglichkeiten
des Internetvertriebs, die von dem angesprochenen Un-
ternehmen wahrgenommen werden, verlangen ein schnel-
leres Eingreifen der Gerichte bei entsprechenden Ver-
stößen. Auch dafür schaffen wir jetzt die entsprechenden
Grundlagen. Die neuen Handelswege müssen sich ge-
nauso an die bestehenden Rechtsstrukturen anpassen.
Diese neuen Geschwindigkeiten verlangen von uns als
Gesetzgeber eine besondere Aufmerksamkeit.
Es gibt jetzt eine wichtige Auslegungshilfe für die Ge-
richte, die über Fälle von Reimporten zu entscheiden ha-
ben. Mit der Beantragung einer einstweiligen Verfügung
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10585
(C)
(D)
(A)
(B)
können Konkurrenten gegen den Verdacht auf Reimporte
vorgehen. Die Umsetzung wird nicht in allen Fällen leicht
sein; dennoch bin ich zuversichtlich, dass sowohl in
Deutschland als auch in Österreich das geltende Recht
eingehalten wird.
Wir brauchen einen regen Handel mit Büchern und wir
brauchen dazu auch das Internet; denn damit können ganz
neue Märkte erschlossen werden. Wenn ein neues Me-
dium einem alten, aber noch immer hervorragenden Me-
dium helfen kann, zu expandieren, dann finde ich das ge-
nau richtig; aber legal muss das Ganze selbstverständlich
sein.
Ich bitte Sie, dem Gesetzesentwurf zur Sicherung der
nationalen Buchpreisbindung zuzustimmen. Unter Be-
rücksichtigung der aktuellen Situation des deutschen
Buchhandels ist er die einzig vernünftige Regelung.
Ich danke Ihnen.
Gudrun Kopp (F.D.P.): Im Deutschen Bundestag be-
steht fraktionsübergreifend Konsens über die Beibehal-
tung der nationalen Buchpreisbindung. Dabei kann ich
nicht verschweigen, dass uns Liberalen als Anhänger und
Verfechter der freien Marktwirtschaft ein Abweichen von
diesem ordnungspolitischen Grundsatz wahrlich nicht
leicht gefallen ist. Dennoch überwiegt auch bei der. F.D.P.
sehr klar der Wille, einen entscheidenden Beitrag zur
Wahrung des Kulturgutes Buch, in seiner breiten Vielfalt
zu leisten.
Wir würdigen die Tatsache, dass das Buch in Deutsch-
land einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert genießt.
Es ist Kulturträger und repräsentiert damit ein Stück
deutsche kulturelle Identität. Zweifellos wird der Inter-
net-Handel auch und gerade in diesem Marktbereich neue
Strukturen bringen, die es sorgfältig zu begleiten gilt.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Regierungs-
koalitionen soll eine Klarstellung zur möglichen Rechts-
unsicherheit bei Reimporten erfolgen. Grundsätzlich sind
zwar schon heute Reimporte von Verlagswerken im Gel-
tungsbereich des § 15 Abs. l Satz 1 GWB erfasst. Auf
meine Nachfrage wurde jedoch seitens des Ministeriums
betont, dass einige Zusätze im bereits bestehenden Gesetz
zur Reimportproblematik nötig seien, um eine Umgehung
der Buchpreisbindung durch Reimporte in der Praxis auf
schnellstem Weg abwenden zu können. Offen bleibt dabei
für mich die Frage, ob die EU-Kommission diesen Zusatz
tatsächlich akzeptieren wird und ihn nicht als Behinde-
rung des Binnenhandels oder gar als Provokation bean-
standen könnte. Wir setzen voraus, dass die Bundesregie-
rung diesbezüglich vorab Kontakt mit der Kommission
aufgenommen und für Klarstellung gesorgt hat. Ein cha-
otisches Hin und Her wie beim WestLB-Verfahren würde
unserem gemeinsamen Anliegen schaden.
Fazit: Die F.D.P. befürwortet die nationale Buchpreis-
bindung aus kulturpolitischen Erwägungen und unter-
stützt folgerichtig die, wie es heißt, notwendige Klarstel-
lung, dass auch Reimporte der Preisbindung unterliegen,
sofern Sie allein der Umgehung der nationalen Preisbin-
dung dienen.
Dr. Heinrich Fink (PDS): Die wichtigsten Argumente
für die Erhaltung der Buchpreisbindung, die mit dem vor-
liegenden Gesetzentwurf eine zusätzliche Absicherung
erfahren soll, sind bereits vorgetragen worden. Ich möchte
sie aus meiner Sicht wie folgt bekräftigen.
Ausgangspunkt ist auch für mich: Im Buch ist in erster
Linie ein Kulturgut und erst mit beträchtlichem Abstand
ein Wirtschaftsgut zu sehen. Mit dem gedruckten Wort ist
natürlich auch unzulängliches, verwerfliches oder gar
verbrecherisches Gedankengut in die Welt gekommen.
Aber ohne Zweifel kann die Rolle des Buches für den
Grad an humanistischen, sozialen und demokratischen
Errungenschaften, den wir zumindest in bestimmten Tei-
len unserer Welt erreicht haben, kaum überschätzt wer-
den. Und wie sich erfreulicherweise herausgestellt hat,
wird das Buch diese Rolle auch durch die neuen Medien
wohl nicht verlieren.
Aus dieser Prämisse „Das Buch – ein Kulturgut“ müs-
sen sich dann auch die entscheidenden Bedingungen und
Kriterien seiner Produktion und Verteilung herleiten.
Seine Rolle als Kulturgut kann das Buch nur dann erfül-
len, wenn es die ganze Vielfalt der in der Gesellschaft vor-
handenen kulturellen Intentionen zur Geltung bringt und
wenn alle, die nach ihm verlangen, die Möglichkeit ha-
ben, es zu erwerben. Dies wenigstens annähernd sicher-
zustellen, verlangt einen ständigen Erneuerungsprozess in
der Autorenschaft, hinreichenden Spielraum für literari-
sche Experimente und eine vielgestaltige Verlagsland-
schaft mit Verlegerpersönlichkeiten, die ideell, aber auch
materiell in der Lage sind, diese ganze Vielfalt der Be-
dürfnisse aufzunehmen und neben Bestsellern in kleinen
Auflagen auch Neues, Ungewohntes, Unbequemes und
Provokatives und damit in der Regel nicht Gewinnträch-
tiges zu produzieren. Die auf diese Weise entstehende
Vielfalt an Titeln muss dann auch flächendeckend und zu
erschwinglichen Preisen von den Bürgern erworben wer-
den können.
Ich glaube zwar nicht, dass die Buchpreisbindung al-
lein die Garantie dafür bietet, in den Grenzen unseres Lan-
des das Buch als unersetzliches alltägliches Kulturgut für
alle zu erhalten bzw. erst überhaupt zugänglich zu ma-
chen. Dem stehen noch viele soziale und mit der Bil-
dungsmisere verbundene Hindernisse im Wege. Ich bin
aber mit wohl allen Mitgliedern dieses Hauses der Mei-
nung, dass die Buchpreisbindung unter den gegebenen
Verhältnissen ein wichtiges Instrument dafür ist, zumin-
dest den Status quo auf diesem Gebiet zu wahren. Und
deshalb kann ich nur hoffen, dass die mit dem Gesetzent-
wurf verfolgte Absicht sich auch gegenüber den techni-
schen Möglichkeiten behaupten wird, mit denen, wie be-
reits angekündigt, versucht werden wird, die Reimport-
klausel zu umgehen und einen Konkurrenzkampf
einzuleiten, der all das gefährden würde, was hier nur sehr
kurz angedeutet werden konnte.
Der Bundestag hat sich über viele Jahre aus guten
Gründen und in großer Einmütigkeit dafür eingesetzt, das
Kulturgut Buch aus der Logik von Marktradikalismus und
Profitmaximierung herauszuhalten. Sollte das nicht An-
lass sein, unbefangen gegenüber neoliberalen Dogmen
noch intensiver darüber nachzudenken, wie dieses Prinzip
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10586
(C)
(D)
(A)
(B)
generell für die Kernbereiche von Kultur und Bildung zur
Geltung gebracht werden kann? Meine Fraktion jeden-
falls wird weiterhin in diese Richtung wirken, weil sie der
Auffassung ist, dass Kultur und Bildung nur auf dieser
Grundlage die Rolle spielen können, die sie für die ge-
deihliche Entwicklung eines jeden Menschen und der ge-
samten Gesellschaft ohne Zweifel haben.
Siegmar Mosdorf, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister für Wirtschaft und Technologie: Es wäre ein her-
ber Schlag gewesen, wenn im Jahr des 500. Geburtstags
von Johannes Gutenberg die Buchpreisbindung in
Deutschland verboten worden wäre.
Kurz vor der abschließenden Entscheidung über ein
Verbot konnte der seit Jahren währende Streit mit der Eu-
ropäischen Kommission um die deutsch-österreichische
grenzüberschreitende Buchpreisbindung durch einen
Kompromiss beigelegt werden. Hierfür hat sich die Bun-
desregierung und insbesondere Herr Staatsminister
Naumann nachhaltig eingesetzt. Eine Untersagung der
Buchpreisbindung in Deutschland und Österreich konnte
abgewehrt werden.
Allerdings muss der grenzüberschreitende Sammelre-
vers in zwei unterschiedliche nationale Buchpreisbin-
dungssysteme aufgeteilt werden, und zwar ab dem 1. Juli
2000. Das ist der Tag, ab dem es keine grenzüberschrei-
tende Buchpreisbindung mehr geben darf.
Auf rein nationaler Ebene ist die Buchpreisbindung si-
chergestellt. Was aber ist mit Importen? Importe aus an-
deren EU-Ländern können nicht preisgebunden werden.
So besagt es wenigstens der Grundsatz in der gefundenen
Kompromissformel.
Allerdings darf die nationale deutsche Buchpreisbin-
dung auch nicht missbräuchlich umgangen werden. Eine
solche Umgehung würde zum Beispiel dann vorliegen,
wenn Bücher zwar faktisch über die Grenze gebracht
würden, im Ausland aber nie zum Verkauf angeboten wür-
den, sondern sofort wieder nach Deutschland zurückge-
bracht würden. Erst recht gilt das natürlich, wenn die
Bücher gar nicht transportiert werden, sondern nur die
Geschäfte über das Ausland laufen.
In solchen Fällen – so sagt es auch die Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofs – dürfen auch re-impor-
tierte Bücher in die Preisbindung mit einbezogen werden.
Wäre das nämlich nicht der Fall, dann könnte bei syste-
matisch betriebenen Reimporten die deutsche Buch-
preisbindung zunichte gemacht werden.
Um dies zu verhindern, haben wir eine Ergänzung des
Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen vorgeschla-
gen. In dessen § 15 wird nämlich die Preisbindung von
Verlagserzeugnissen als einzige Ausnahme von dem all-
gemeinen Verbot, Festpreise zu vereinbaren, ausdrücklich
erlaubt.
Hier soll jetzt klargestellt werden, dass sich diese Er-
laubnis auch auf missbräuchlich reimportierte Bücher
bezieht, die nur zum Zweck der Umgehung der deutschen
Preisbindung über die Grenze gebracht worden sind. Dies
ist notwendig, weil die betroffenen deutschen Verlage die
Umgehung der Preisbindung durch unzulässige Re-
importe nur dann wirkungsvoll verhindern können, wenn sie
binnen kürzester Frist einstweilige Verfügungen bei Ge-
richt veranlassen können. Nur so kann der unzulässige
Vertrieb von Büchern wirkungsvoll untersagt werden.
Denn der schönste Kompromiss aus Brüssel nützt nichts,
wenn er in der Praxis leer laufen würde.
Es ist deswegen dringend erforderlich, schnell eine Lö-
sung zur Sicherung der deutschen Buchpreisbindung zu
finden, bevor das System von zu vielen Seiten ausgehöhlt
werden kann.
Die Buchpreisbindung gibt es in Deutschland zwar
nicht schon seit den Zeiten von Herrn Johann
Gänsfleisch – wie Gutenberg mit Klarnamen hieß – aber
immerhin auch schon seit 1887. Und hat sich seither be-
währt. Denn es gibt bei uns eine beispiellose Titelvielfalt
und eine Vielzahl kleiner und mittelgroßer Verlage.
In Deutschland gibt es mehr als 3 300 Verlage, wo-
bei die kleinsten Unternehmen mit Umsätzen unter
32 500 DM gar nicht erfasst sind, mit rund 28 350 Be-
schäftigten und einem jährlichen Umsatz von über
17,7 Milliarden DM. Außerdem haben wir dank der Preis-
bindung immer noch ein enges Netz von kleinen, mittle-
ren und größeren Buch- und Fachzeitschrifteneinzelhänd-
lern mit rund 30 800 Mitarbeitern und kulturellem Ser-
vice.
Die Preisbindung nützt insbesondere auch den Auto-
ren: Sie brauchen Leser und einen Buchmarkt, auf dem
auch anspruchsvolle Bücher und Schriftsteller ohne große
Publicity eine Chance haben.
Die Preisbindung ist Garant dafür, dass von Verlagen
in Deutschland auch zukünftig weit mehr als 75 000 Neu-
erscheinungen im Jahr veröffentlicht werden. Sie ist inso-
weit also Garant der Meinungsvielfalt und Kunstfreiheit.
So soll es auch bleiben, und genau dafür soll die von
uns vorgeschlagene Ergänzung des Gesetzes gegen Wett-
bewerbsbeschränkungen sorgen.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Geset-
zes zur Änderung des Rindfleischetikettierungs-
gesetzes (Tagesordnungspunkt 25).
Jella Teuchner (SPD): Am 17. April hat der
EU-Agrarrat die Einzelheiten des europäischen Systems
der Kennzeichnung von Rindern und der Etikettierung
von Rindfleisch beschlossen. Ab 1. September 2000 müs-
sen die Orte der Schlachtung und der Zerlegung angege-
ben werden, ab 2002 die Orte von Geburt, Mast und
Schlachtung. Angegeben werden muss der Mitgliedstaat,
die Herkunftsangabe „EU“ reicht nicht aus. Deutschland
konnte sich hier mit seinem Standpunkt durchsetzten.
Wir wollen in Deutschland die zweite Stufe der Etiket-
tierung vorziehen. Schon ab dem 1. September 2000 soll
in Deutschland die komplette Herkunftskennzeichnung
vorgeschrieben sein.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10587
(C)
(D)
(A)
(B)
Mit der Änderung des Rindfleischetikettierungsgeset-
zes, über die wir heute abstimmen werden, schließen wir
die dazu in Deutschland notwendigen gesetzlichen Vorar-
beiten ab. Ich denke, wir haben mit dem jetzt vorliegen-
den Gesetzesvorschlag Regelungen gefunden, die nach-
vollziehbare Informationen für den Verbraucher und die
Rückverfolgbarkeit und Sicherheit von Rindfleisch si-
cherstellen und eine vernünftige Verteilung der Kosten
zwischen dem Bund und den Ländern vorsehen.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, das Regelwerk zur
Sicherheit von Rindfleisch zusammenfassend zu betrach-
ten. Ich möchte daran deutlich machen, nach welchen
Prinzipien wir die Rindfleischproduktion gestalten. Ich
denke, dass wir damit auch schon in die Diskussion um
die Pläne der Europäischen Union zur Lebensmittelsi-
cherheit einsteigen können, die uns in nächster Zeit noch
stark beschäftigen werden.
Upton Sinclair hat 1906 in seinem Roman „Der
Dschungel“ die Zustände in den Schlachthöfen von
Chicago beschrieben. Heute sind die in diesem Roman be-
schriebenen Zustände nicht mehr vorstellbar. Wir haben
viel erreicht auf dem Weg zu möglichst sicheren und ge-
sunden Lebensmitteln, auch wenn das Vertrauen der Ver-
braucherinnen und Verbraucher durch den BSE-Skandal
geschwächt wurde.
Unser Ziel muss es sein, sowohl die Unbedenklichkeit
sicherzustellen, als auch das Vertrauen in die Lebensmit-
tel zu stärken. Wenn die Verbraucher von der Qualität der
Lebensmittel nicht überzeugt sind, werden sie diese nicht
kaufen. Von schlechten Produkten werden sie nicht lange
überzeugt sein. Für unsere Landwirte bedeutet dies, dass
sie richtig damit liegen, auf Qualität zu setzen. Nur so
können sie im Wettbewerb bestehen.
Erreichen können wir dieses Ziel, indem wir uns an
klaren Prinzipien orientieren, die von Verbraucherverbän-
den stets eingefordert und auch im Weißbuch Lebensmit-
telsicherheit der Europäischen Kommission benannt wer-
den: Wir müssen die Lebensmittelsicherheit im gesamten
Herstellungsprozess betrachten. Die Unbedenklichkeit
des Rinderbratens ist erst dann gewährleistet, wenn auch
das Futter sicher ist, mit dem das Rind großgezogen wor-
den ist. Dies bedeutet, dass Futtermittelerzeuger, Land-
wirte und Lebensmittelunternehmen für die Qualität der
Lebensmittel verantwortlich sind. Wir müssen die Futter-
und Lebensmittel zurückverfolgen können. Nur so kön-
nen gefährliche Produkte sofort aus dem Handel genom-
men werden, wenn ein Risiko für die Gesundheit der Ver-
braucher besteht. Wir müssen uns beim Gesundheits-
schutz der Verbraucher am Vorsorgeprinzip orientieren.
Und nicht zuletzt müssen wir diese Prinzipien für den Ver-
braucher transparent machen. Dazu dient die Etikettie-
rungspflicht für Rindfleisch.
Ich habe es schon angesprochen: Eine Rindfleischeti-
kettierung bleibt eine leere Hülse, wenn die Qualität des
Produktes nicht stimmt. Die deutschen Landwirte produ-
zieren hochwertige und sichere Lebensmittel. Ein Netz-
werk von lebensmittelrechtlichen Vorschriften, die amtli-
che Lebens- und Futtermittelkontrolle der Länder und die
Strategie der Minimierung von Belastungen sorgen dafür,
dass die Verbraucherinnen und Verbraucher einwandfreie
Lebensmittel kaufen können. Wir haben also die Voraus-
setzungen, mit der Rindfleischetikettierung das Vertrauen
der Verbraucher zu stärken. „D“ steht in Zukunft für Qua-
litätsrindfleisch aus Deutschland.
Sofern es EU-rechtlich möglich ist und die Länder und
die betroffenen Verbände keine Einwände haben, werden
wir durch eine deutsche Flagge das Fleisch von in
Deutschland geborenen, aufgewachsenen und geschlach-
teten Rindern noch deutlicher kennzeichnen. Den Ver-
brauchern würde ein Höchstmaß an Erkennbarkeit beim
Einkauf geboten.
Mit der obligatorischen Rindfleischetikettierung
schaffen wir eine Herkunftskennzeichnung, die auf guter
Qualität aufbaut. Wir schaffen eine bessere Rückverfolg-
barkeit und Transparenz. Der Verbraucher bekommt die
Möglichkeit, seine Kaufentscheidung bewusst zu treffen.
Dies bedeutet ein gestiegenes Sicherheitsgefühl beim Ver-
braucher und Absatzchancen für unsere Landwirte.
Ich will dies an einem Beispiel deutlich machen: Zwi-
schen 1994 und 1997 sank der Pro-Kopf-Verbrauch pro
Jahr an Rindfleisch in Deutschland im Zusammenhang
mit der BSE-Krise um rund 13 Prozent. Der Grund war
eine starke Unsicherheit der Verbraucher. Die Verbrau-
cher können sich zwar darauf verlassen, dass Deutschland
BSE-frei ist. Erst mit der obligatorischen Rindfleischeti-
kettierung können sie sich aber auch sicher sein, dass sie
deutsches Rindfleisch essen, wenn sie dies wollen.
Ich denke, wir sind uns alle einig, dass die obligatori-
sche Rindfleischetikettierung ein mehr an Nahrungsmit-
telsicherheit und Transparenz für die Verbraucher bringt.
Die Verbraucherverbände unterstützen sie genauso wie
der Bauernverband, der Bund genauso wie die Länder.
Und auch der Lebensmittelhandel zeigt ein großes In-
teresse an einer Herkunftskennzeichnung. Eine Untersu-
chung der Verbraucherzentralen 1999 ergab, dass
82 Prozent der Verbrauchermärkte, 78 Prozent der Super-
märkte und 46 Prozent der Metzgereien freiwillig Anga-
ben zur Herkunft von Rindfleisch machen. Dies spricht
dafür, dass die Rindfleischetikettierung positiv aufge-
nommen wird. Auch der Erfolg von regionalen Qualitäts-
gütezeichen spricht dafür, dass die Verbraucher regionale
Vermarktungsstrukturen honorieren. Allerdings hat die
Studie der Verbraucherzentralen ergeben, dass die Qua-
lität der freiwilligen Angaben sehr unterschiedlich ist.
Eine obligatorische Kennzeichnung, die klar festgelegt ist
und auf rückverfolgbaren Daten beruht, ist daher notwen-
dig.
Ich möchte daher, dass dieses Gesetz baldmöglichst in
Kraft tritt. Ich hoffe, dass es nicht durch die Frage, wer die
Kontrollen durchzuführen hat, verzögert oder gar verhin-
dert wird.
Blicken wir noch einmal zurück ins letzte Jahr mit sei-
nen Dioxin- und Klärschlammskandalen. Die Lebensmit-
telsicherheit war im letzten Jahr trotz dieser Skandale zu
jeder Zeit gewährleistet. Die Ursachen dieser Skandale
liegen im Versagen Einzelner in der Produktionskette.
Einzelne haben das Vertrauen der Verbraucherinnen und
Verbraucher in die Sicherheit der Lebensmittel erschüt-
tert. Die Lebensmittelüberwachung funktionierte jedoch
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10588
(C)
(D)
(A)
(B)
und sorgte dafür, dass diese Skandale nicht zu Katastro-
phen wurden.
Auch wenn es nur Einzelne waren, so zeigt es doch:
Ohne Kontrollen können wir unseren Sicherheitsstandard
nicht halten. Kurzfristiges Gewinnstreben scheint für
manche doch wichtiger zu sein als langfristig zufriedene
Kunden und Verbraucher. Wir müssen deshalb auch die
Etikettierung kontrollieren. Wir müssen uns auch darüber
im Klaren sein, dass diese Kontrollen Geld kosten.
Ich denke, wir stimmen heute über einen Antrag ab, der
die Zuständigkeiten und damit die Kosten sinnvoll und
ausgewogen zwischen dem Bund und den Ländern ver-
teilt und auch die Selbstkontrolle der Lebensmittelprodu-
zenten ermöglicht und anerkennt.
Wenn wir heute diesen Antrag verabschieden, haben
wir einen wichtigen Schritt getan. Wir werden aber nicht
stehen bleiben. Mit dem Weißbuch für Lebensmittelsi-
cherheit hat die Europäische Kommission eine Diskus-
sion angestoßen, an der wir uns beteiligen werden.
Die Kommission hat einige Fragen aufgeworfen, mit
denen wir uns beschäftigen müssen: Wie wird in Zukunft
die wissenschaftliche Beratung für die Entscheidungen
zur Lebensmittelsicherheit aussehen? Können unsere
Schnellwarnsysteme verbessert werden? Brauchen wir
nicht doch eine offene Volldeklaration für Futtermittel?
Werden die Kontrollen überall im notwendigen Umfang
durchgeführt?
Wir werden uns diesen Fragen stellen. Wenn wir dann
Antworten finden, die die gleiche Sicherheit und Trans-
parenz wie die Regelungen zur Rindfleischproduktion
bieten, können wir ein Höchstmaß an Lebensmittelsicher-
heit gewährleisten. Die Strategie der Minimierung der Be-
lastungen werden wir weiter verfolgen. Einen großen
Schritt machen wir, wenn wir heute den vorliegenden Ent-
wurf verabschieden.
Peter Bleser (CDU/CSU): Für die meisten Menschen
ist nach der Medizin die Ernährung von entscheidendem
Einfluss auf unser höchstes Gut, die Gesundheit. Es ist
deshalb verständlich und logisch, dass Meldungen über
mögliche gesundheitliche Gefahren durch den Verzehr
bestimmter Lebensmittel zu einer sofortigen Veränderung
des Käuferverhaltens führen. Der Dioxinskandal in Bel-
gien, aber noch eklatanter die BSE-Rinderkrankheit in
Großbritannien, haben zu enormen, noch heute andauern-
den Veränderungen der Verzehrgewohnheiten geführt.
Die deutschen Verbraucher haben sich in diesem Zusam-
menhang als besonders sensibel erwiesen. Um das verlo-
ren gegangene Vertrauen in die Qualität, insbesondere un-
seres Rindfleisches, wieder herzustellen, ist eine klare
und lückenlose Rückverfolgbarkeit von Rindfleisch und
dessen Verarbeitungsprodukten überfällig.
Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt deshalb die Ab-
sicht der Bundesregierung, mit diesem Gesetz die obliga-
torische Etikettierung von Rindfleisch ab dem 1. Septem-
ber 2000 einzuführen. Die deutsche Landwirtschaft er-
bringt bereits seit vielen Jahren erhebliche Vorleistungen
zur Umsetzung dieses Gesetzes. Ab Januar 2000 müssen
alle Rinder eines Bestandes zwei Ohrmarken tragen, ei-
nen Rinderpass besitzen und in einer elektronischen Da-
tenbank gemeldet sein. In jedem Betrieb muss ein Be-
standsregister geführt werden. Zu- oder Abgänge müssen
in kürzester Frist gemeldet werden. Wir sind also in der
Lage, den Aufenthaltsort jedes deutschen Rindes zu er-
mitteln. Wir können den Lebensweg jedes Tieres von der
Geburt an bis in die Fleischtheke lückenlos verfolgen.
Wir können sogar sagen, mit welchen Artgenossen jedes
Tier in seinem Leben in Kontakt getreten sein kann. Das
alles bedeutet für die Landwirte, aber auch für Transpor-
teure, Schlachtbetriebe und Verarbeiter einen erhebli-
chen, auch finanziellen Aufwand. Die Bauern und das
Fleischgewerbe haben deshalb einen Anspruch darauf,
dass ihre Anstrengungen, ihre Sorgfalt bei der Haltung,
bei der Fütterung und bei der Verarbeitung von Rindern
dem zu Recht kritischen Verbraucher leicht und schnell
erkennbar vermittelt werden können. Ein nur mit einem
Zahlencode versehenes Etikett dient letztlich der Rück-
verfolgbarkeit einer ausgeschilderten Fleischpartie. Von
Bedeutung ist dies bei Beanstandungen oder einer Seu-
chenbekämpfung. DemVerbraucher erschließt sich damit
in der kurzen Zeit seiner Kaufentscheidung die Herkunft
des Tieres nicht. Wir wollen dem Verbraucher durch ein
leicht erkennbares Zeichen die Herkunft des Rindflei-
sches oder daraus hergestellterWaren vermitteln. Wir, die
CDU/CSU-Fraktion, fordern deshalb, neben dem Buch-
staben D die deutsche Flagge oder die Nationalfarben als
Hintergrund der Etikettennummer für aus Deutschland
stammende Rindfleisch- oder Verarbeitungsprodukte
zwingend vorzuschreiben. Damit kann jeder Verbraucher
schnell und sicher Rindfleisch deutscher Herkunft von
Fleisch aus anderen Ländern unterscheiden. Die Bundes-
regierung hat im Ausschuss für Ernährung, Landwirt-
schaft und Forsten zugesagt, dieser von mir kommenden
Forderung im Rahmen einer Verordnung zu entsprechen,
sofern die EU-Kommission zustimmt. Damit wird unser
Ziel einer leichten Erkennbarkeit von aus Deutschland
kommendem Rindfleisch oder dessen Verarbeitungspro-
dukten erreicht.
Da in Deutschland bisher kein hier geborenes Rind an
BSE erkrankt ist, kann man jede Gefährdung, die von die-
ser Krankheit ausgeht, durch den Kauf von deutschem
Rindfleisch sicher ausschließen. Das hat bisher auch Bun-
deslandwirtschaftsminister Funke so gesehen. Deshalb
haben wir kein Verständnis dafür, dass die EU-Kommis-
sion vorschreibt, auch in Deutschland, ab dem 1. Oktober
diesen Jahres so genanntes Risikomaterial, wie zum Bei-
spiel das Hirn von Schlachtkörpern, einer getrennten Ent-
sorgung zuzuführen. Der deutschen Landwirtschaft wer-
den damit Kosten in Höhe von circa 60 Millionen Mark
aufgebürdet. Dies ist der Dank dafür, dass in Deutschland
schon immer alle Vorkehrungen gegen eine Verbreitung
des BSE-Erregers getroffen wurden. Unsere Tierkörper-
beseitigungsanlagen haben, anders als in Großbritannien,
diese auch bei Schafen verbreitete Krankheit, sicher eli-
miniert. Dass Landwirtschaftsminister Funke noch nicht
einmal gegen diese EU-Pläne gestimmt hat, sondern sich
der Stimme enthielt, ist ein Verrat an unseren Bauern.
Ich fasse zusammen:
Erstens. Unserem Antrag, eine klare und leicht erkenn-
bare Etikettierung durch das Aufbringen der deutschen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2000 10589
(C)
(D)
(A)
(B)
Flagge oder der Nationalfarben für hier geborene, aufge-
wachsene und geschlachtete Tiere gesetzlich vorzuschrei-
ben, wird nach entsprechender Zusage im Ausschuss auf
dem Verordnungswege entsprochen.
Zweitens. Wir fordern Sie auf, weitere massive Belas-
tungen von den deutschen Rindfleischerzeugern durch
eine separate Entsorgung so genannter Risikomaterialien
fernzuhalten.
Drittens. Wir stimmen dem Gesetzentwurf zu und hof-
fen, bei den Menschen wieder mehr Vertrauen für die
hohe Qualität eines herzhaften Stück Rindfleischs zu
wecken.
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das
Verhältnis und das Vertrauen der Verbraucher zur Erzeu-
gung der Lebensmittel in Deutschland ist für Bündnis 90/
Die Grünen eine zentrale Frage. Alle Maßnahmen zur
Verbesserung im Bereich der Futtermittel, der Herkunfts-
etikettierung, der Kennzeichnung und der Vermarktung,
die die Lebensmittelsicherheit und Transparenz stärken,
stehen für uns unter der Zielsetzung Vertrauen herzustel-
len und Zustimmung zu qualitativ hochwertiger Produk-
tion zu erzielen.
Einen wichtigen Schritt auf diesem Weg tun wir heute.
Mit dem uns heute vorliegenden Zweiten Gesetz zur Än-
derung des Rindfleischetikettierungsgesetzes können die
Verbraucherinner und Verbraucher endlich – nachdem die
alte Bundesregierung schon vor Jahren versprochen hatte,
die Herkunftskennzeichnung einzuführen, und dies nicht
einmal in den Hochphasen der BSE-Krise umzusetzen in
der Lage war – erkennen, welches Fleisch aus Deutsch-
land kommt. Mit den obligatorischen Angaben „D/D/D“
plus einer Identifizierungsnummer auf dem Etikett kann
die Herkunft vom Geburtsort des Tieres bis zur La-
dentheke verfolgt werden. Zusätzliche Angaben zur Re-
gion, zur Produktionsweise etc. sind möglich, sodass die
regionale Vermarktung gestärkt wird. Zur Erleichterung
der Erkennung werden wir die Einführung farblicher
Kennzeichen – Landes- oder Bundesfarben – unterstützen
und auf die Genehmigung durch die EU hinwirken. Die
Sicherheit der Angaben wird durch hoheitliche Kontrol-
len gewährleistet und so auch die Gebührenbelastung be-
grenzt.
Durch die nationale Kennzeichnung, für die Gesund-
heitsministerin Andrea Fischer bei der Europäischen
Kommission hart gestritten hat, und die Kennzeichnung
britischen Rindfleisches können sich die Verbraucherin-
nen und Verbraucher bewusst für oder gegen den Kauf
von britischem Rindfleisch entscheiden. Wer auf Nummer
sicher gehen will, greift am besten auf Produkte aus deut-
scher und regionaler Produktion sowie aus artgerechter
und ökologischer Tierhaltung zurück.
Umstritten war bisher noch die Finanzierung der
Überwachung des Gesetzes. Der Änderungsantrag der
Fraktionen der SPD und des Bündisses 90/Die Grünen
berücksichtigt nun wesentliche Anliegen der Länder. Die
Lasten der Überwachung werden auf Bund und Länder
verteilt. Die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Er-
nährung überwacht die Einhaltung der Etikettierungs-
syteme und kontrolliert die anerkannten unabhängigen
Stellen. Die Länder werden zudem ermächtigt, die Über-
wachung auf private Stellen im Wege der Beleihung zu
übertragen. Die Wirtschaft hat weiterhin die Möglichkeit,
freiwillige Zusammenschlüsse zu Etikettierungs- und
Kontrollsystemen auch im Rahmen der obligatorischen
Etikettierung fortzuführen. Die Länder können dann den
Umfang ihrer Überwachungsmaßnahmen verringern. Ge-
rade in Deutschland sind die Voraussetzungen für die ob-
ligatorische Kennzeichnung gut, denn die Fleischwirt-
schaft macht bereits seit 1998 von der freiwilligen Etiket-
tierung Gebrauch. Allein mit dem Orgainvent-System
werden schätzungsweise 70 Prozent der in Deutschland
geschlachteten Rinder etikettiert.
Mit der schnellen Umsetzung des Rindfleischetikettie-
rungsgesetzes kommt Deutschland seiner europarechtli-
chen Verpflichtung nach und nimmt gleichzeitig eine Vor-
reiterrolle zum Wohle des Verbrauchers ein, weil die ob-
ligatorische Herkunftsangabe, die europaweit ab dem
1. Januar 2002 in Kraft tritt, national vorgezogen wird.
Die EU-Agrarminister und das Europäische Parlament
werden voraussichtlich in Kürze über das zukünftige
EG-Rindfleischetikettierungsrecht beschließen. Es ist zu
erwarten, dass Europäisches Parlament und Rat die be-
treffende EG-Verordnung im Juli 2000 verabschieden
werden, sodass die obligatorische Rindfleischetikettie-
rung wie vorgesehen am 1. September 2000 beginnen
kann. Der vorliegende Gesetzentwurf wurde im Agrar-
ausschuss einmütig begrüßt. Wir fordern die Bundeslän-
der auf, jetzt zügig im Bundesrat zuzustimmen, damit die
Regelung sofort greifen kann.
Das Gesetz ist ein Baustein im BSE-Schutzprogramm
der Bundesregierung. Ein weiterer von der Bundesregie-
rung eingeforderter Vorschlag der Kommission ist die
Einführung einer obligatorischen offenen Deklaration der
Futtermittel. Landwirte werden den Verbraucherwün-
schen künftig nur durch eine klare und transparente Kenn-
zeichnung beim Kauf von Futtermitteln entsprechen kön-
nen und müssen die Möglichkeit haben, sich selbst abzu-
sichern gegenüber den Lieferanten. Notwendig ist zudem
eine Kennzeichnung von gentechnisch veränderten Kom-
ponenten in Futtermitteln sowie ein Verbot der noch vier
zugelassenen Antibiotika als Leistungsförderer. Die An-
forderungen an die Futtermittel sollten europaweit in ei-
ner Novel Feed Verordnung verbindlich geregelt werden.
Angesichts der Sicherheitsbedürfnisse der Verbraucher
war auch der jüngste Beschluss der EU-Agrarminister,
dass ab dem 1. Oktober 2000 so genannte Risikomateria-
lien wie Hirn, Augen und Rückenmark von geschlachte-
ten Rindern, Ziegen und Schafen im Alter von mehr als
zwölf Monaten entfernt werden müssen und nicht mehr zu
Tierfutter verarbeitet werden dürfen, unumgänglich. In
Deutschland ist zwar noch nie ein originärer BSE-Fall
aufgetreten. Dennoch hat das Beispiel Dänemark gezeigt,
dass Möglichkeiten der Übertragung bestehen. Die an
sich sicheren Drucksterilisationsmethoden sind dann nach
Ansicht der Kommission nicht mehr ausreichend. Vor die-
sem Hintergrund wäre die Beibehaltung dieser Risikoma-
terialien in Fleisch und Wurst sicherlich kein Verkaufs-
schlager. Die Rückstände aus der Tierkörperbeseitigung
können nun einer energetischen Nutzung zugeleitet wer-
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den. Die entsprechende Förderung wird über die Biomas-
severordnung durch die Bundesregierung bereitgestellt
und muss jetzt ausgeschöpft werden. So können die Kos-
ten für Landwirte und Lebensmittelverarbeiter gering ge-
halten werden.
Um das Vertrauen der Verbraucher wiederzugewinnen
und zum Schutz des Images von Fleischprodukten sollten
aus Sicht von Bündnis 90/Die Grünen Tiermehle – wie in
Frankreich – generell aus der Futterkette genommen wer-
den. Eindeutige, verbraucherfreundliche Kennzeichnung
und klare Sicherheitsbestimmungen werden sich auf
Dauer als wichtiger Markt- und Standortvorteil für die
deutsche Landwirtschaft erweisen. Die Fleischwirtschaft
sollte dies als Chance offensiv nutzen und in ihre Ver-
marktungsstrategien einbeziehen.
Ulrich Heinrich (F.D.P.): BSE war und ist eine ge-
fährliche Seuche, die nach wie vor eine Gefahr für die Ge-
sundheit der Menschen in ganz Europa darstellt. Deshalb
muss dem Verbraucherschutz absoluter Vorrang vor wirt-
schaftlichen Interessen eingeräumt werden.
Jahr für Jahr treten alleine in Großbritannien mehr als
2000 BSE-Fälle auf. Bisher sind 53 Todesfälle zu bekla-
gen. Schon aus diesem Grunde hätte das Exportverbot für
britisches Rindfleisch niemals aufgehoben werden dür-
fen. Erst nach Einführung der europaweiten obligatori-
schen Etikettierung hätte man an diesen Schritt denken
können.
Die Bundesregierung und insbesondere die grüne Ge-
sundheitsministerin, Andrea Fischer, haben beim Schutz
der Verbraucher vor der Rinderseuche BSE Durchset-
zungskraft vermissen lassen. Frau Fischer hätte dafür sor-
gen müssen, dass unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft
eine obligatorische Etikettierung von Rindfleisch zum
1. Januar 2000 auch tatsächlich EU-weit eingeführt
wurde.
Mit der obligatorischen Kennzeichnung und Etikettie-
rung von Rindfleisch und deren Erzeugnissen bekommt
der Verbraucher die Gewissheit, dass er das hochwertige
Nahrungsmittel Rindfleisch aus Deutschland angeboten
bekommt.
Jüngste BSE-Ausbrüche in Frankreich, Dänemark und
Großbritannien signalisieren, dass die Seuche in diesen
Ländern noch nicht besiegt ist. Im Gegensatz zu Großbri-
tannien, dem Hauptverursacher der BSE-Krise, hat man
in Deutschland große Anstrengungen unternommen, um
rechtzeitig ein voll funktionsfähiges System zur Rind-
fleischetikettierung aufzubauen.
Die Einigung der EU-Agrarminister am 14. April die-
ses Jahres, die Einführung der Etikettierung von Rind-
fleisch nun doch zum Teil wie ursprünglich vereinbart von
2003 auf 2001 vorzuziehen, ist aus Verbrauchersicht zu
begrüßen. Demnach sollen ab dem 1. September dieses
Jahres die Verbraucher über den Schlachtort und die Her-
kunft des Tieres an der Ladentheke informiert werden. Ab
dem 1. Januar 2002 soll die Etikettierung auch Aufschluss
über Geburtsort und Mastbetrieb geben.
Die Vorstellungen von Agrarminister Karl-Heinz
Funke, in Deutschland die Zusatzinformationen über den
Ort der Geburt und Mast, der Schlachtung und der Zerle-
gung des Tieres bereits ebenfalls im September diesen
Jahres einzuführen, sind zwar aus verbraucherpolitischer
Sicht lobenswert, benachteiligen aber zugleich die deut-
schen Landwirte und alle beteiligten Wirtschaftszweige in
ihrer Wettbewerbsfähigkeit. Eine zusätzliche Kennzeich-
nung erfordert zusätzliche Kosten.
Fest steht: Deutschland war und ist BSE-frei. Das be-
stätigen auch aktuelle Untersuchungen des Internationa-
len Tierseuchenamtes, bei denen eindeutig festgestellt
worden ist, dass bei deutschen Tieren noch kein Fall von
Rinderwahn festgestellt worden ist. Mit Stolz verkündete
Bundeslandwirtschaftsminister Funke dieses Ergebnis
und erklärte beim Treffen der EU-Agrarminister, dass
Sonderregelungen wie das Beseitigen von Risikomateria-
lien in Deutschland nicht notwendig sind. Deshalb ist die
Enthaltung Deutschlands bei der jüngsten Sitzung der
EU-Agrarminister nicht nachvollziehbar. Hier hätte ein
klares Nein erfolgen müssen.
Zur Durchsetzung schärferer Schutzbestimmungen,
wonach die EU-Kommission beabsichtigt, künftig Risi-
komaterial geschlachteter Rinder, Ziegen und Schafen im
Alter von mehr als zwölf Monaten zu entfernen, gibt es
nach Auffassung der F.D.P. keine Veranlassung. Man
kann nicht Länder wie Deutschland und Großbritannien
über einen Kamm scheren. Hätte die EU die zwingende
Modernisierung der Tiermehlproduktion entsprechend
des deutschen Systems durchgesetzt, bräuchte man eine
Sonderregelung für Risikomaterialien nicht einzuführen.
Das deutsche System, diese Materialien mit einem ther-
mischen Verfahren bis zum Zerfall der Weichteile zu er-
hitzen und anschließend mindestens 20 Minuten lang bei
einer Temperatur von 133 °C und einem Druck von 3 bar
zu halten, ist absolut sicher.
Kersten Naumann (PDS):Mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf beschließen wir eine jener Regelungen, die
zwar ein dringendes gesellschaftliches Problem auf-
greift – die Sicherung der Gesundheit der Verbraucher –,
durch die das Problem aber nicht an der Wurzel gepackt
wird. Bei dem Rindfleischetikettierungsgesetz handelt es
sich um eine der üblichen „end-of-pipe“-Lösungen.
Nachdem ein Störfall eingetreten ist, kann rückverfolgt
werden, was die Ursache war. Und wie die Vergangenheit
lehrt, ist das für den Verursacher nicht so dramatisch, als
wenn er durch Einhaltung gesetzlicher Bestimmungen auf
Profite verzichtet hätte.
Mit dem Etikettierungsgesetz kann Etikettenschwindel
nicht verhindert werden. Wir beschließen also heute nach
dem Prinzip: Der Spatz in der Hand ist besser als die
Taube auf dem Dach. Wenn es um die Gesundheit der Ver-
braucher geht, sollte dieses Prinzip allerdings unzulässig
sein. Deshalb fordern wir weitere Anstrengungen bei der
Beseitigung von gesundheitlichen Gefahrenquellen, die
leider nur all zu bekannt sind – Stichworte: BSE, Dioxin,
Wachstumshormone, Antibiotika usw. Für verhängnisvoll
halten wir, wenn die Rindfleischetikettierung auf ein Mar-
ketinginstrument reduziert wird, wie das die Verarbei-
tungsindustrie tut.
Eine hochwirksame Gesundheitsvorsorge muss in der
Primärproduktion von Rindern ansetzen. Notwendig ist
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eine Produktionsorganisation, durch die auf allen Produk-
tionsstufen eine zuverlässige Kontrolle gesichert wird.
Agrarpolitisch ist eine Verbundlandwirtschaft zu fördern,
die durch stabile Kooperationsketten eine technologisch
bedingte und wechselseitige Kontrolle aller Produktions-
partner ermöglicht.
Wir stimmen Professor Windhorst von der Hochschule
Vechta zu: „Die Erzeugung tierischer Nahrungsmittel
steht an einer Wende.“ Nach seiner Auffassung gibt es „in
der tierischen Veredelung zum Aufbau kontrollierter Pro-
duktionssysteme keine Alternative ... Grundsätzlich kön-
nen Herkunfts- und Qualitätssicherungssysteme nur dann
funktionieren, wenn geschlossene Produktionssysteme
bestehen.“
Was wir brauchen ist eine konsequente Weiterführung
der Prüfsiegelpolitik der CMA. Erfahrungen aus den Nie-
derlanden besagen: „Die Sicherheit beginnt beim Roh-
stoff und damit beim Tier, was strikte Gesundheitspro-
gramme auf Erzeugerebene erfordert.“ In der Bundesre-
publik gibt es dafür aber sehr schlechte Voraussetzungen.
Bei einer Auslastung der Rinderschlachtkapazität von
30 Prozent wird der notwendige Konsolidierungsprozess zu
einer Verschärfung des Rindertourismus führen. Die für
den Herkunftsnachweis so wünschenswerte Regionalisie-
rung der Produktion und Verarbeitung wird durch die
Marktgesetze nicht realisiert werden.
Deshalb müssen die Verbraucher weiter außerparla-
mentarischen Druck ausüben, damit auch mit dem Etiket-
tierungsgesetz ihre berechtigten Interessen nicht auf der
Strecke bleiben. Die Etikettierung muss ein Einstieg
in eine grundlegende Veränderung der Agrarproduktion
sein. Und dem muss die Agrarpolitik Rechnung tragen.
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