Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröff-
net.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige
Tagesordnung um eine vereinbarte Debatte zur Zukunft
der Bundeswehr zu erweitern. Dafür ist eine Debattenzeit
von zwei Stunden vorgesehen. Sind Sie damit einverstan-
den? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlos-
sen.
Die Fragestunde beginnt somit erst gegen 16 Uhr. Da-
ran schließt sich die Aktuelle Stunde auf Verlangen der
F.D.P.-Fraktion zum Thema Haltung der Bundesregierung
zu den steigenden Mineralölpreisen und der Forderung
nach Verzicht auf die bzw. Aussetzung der Ökosteuer an.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-
binettssitzung den Entwurf eines Gesetzes zur Ände-
rung des Soldatengesetzes und anderer Vorschriften
mitgeteilt. Das Wort für den einleitenden Bericht hat die
Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister
der Verteidigung, Frau Brigitte Schulte. Frau Staatssekre-
tärin, bitte sehr.
B
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Das Bundeskabinett hat heute den
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Soldatengeset-
zes und anderer Vorschriften verabschiedet. Diese Tatsa-
che würde Sie unter diesem Titel vielleicht nicht sonder-
lich interessieren, aber es geht dabei in der Tat um zwei
entscheidende Punkte: Es geht zum einen um die Ver-
wendung von Frauen in den Streitkräften, die bisher nur
Zugang zum Sanitäts- und Militärmusikdienst hatten, und
zum anderen darum, aufgrund unseres verstärkten Enga-
gements in internationalen Einsätzen die Vorschriften
über die Dienstverhältnisse von Berufssoldaten und Sol-
daten auf Zeit zu verändern.
Ich möchte Ihnen zunächst erläutern, dass wir nach ei-
ner langen Zeit
der Findung – so muss man das ausdrücken –, die nicht
nur die Fraktionen, sondern auch die Gesellschaft insge-
samt betraf, heute beschlossen haben – wir werden dies
dem Parlament vorlegen –, dass auf freiwilliger Basis
Frauen als Berufssoldatinnen oder Soldatinnen auf Zeit
der Zugang zu allen Laufbahnen und allen Laufbahn-
gruppen der Streitkräfte offen gehalten wird.
– Das werden wir gleich diskutieren.
Wir haben des Weiteren festgestellt, in diesem Bereich
keine Ausschließlichkeit festschreiben zu wollen. Das be-
deutet allerdings auch, dass die Frauen in diesem Falle da-
mit rechnen müssen, zu internationalen Einsätzen heran-
gezogen zu werden. Wir gehen davon aus, dass die Eig-
nung eines Menschen, seine Interessen sowie der Bedarf
für unsere Entscheidungen relevant sind.
Damit lösen wir gleichzeitig eine wichtige Aufgabe:
Wir müssen bei dem Entwurf eines Gleichstellungsdurch-
setzungsgesetzes auch berücksichtigen, dass frauenspezi-
fische Fragen bei der Ausübung des Berufes und der
Dienstgestaltung im Wege der Frauenförderung in Abwä-
gung mit den Erfordernissen der militärischen Einsatzbe-
reitschaft in Einklang gebracht werden. Dies hat – das will
ich gar nicht leugnen – zunächst den einen oder anderen
daran gehindert, Frauen zuzulassen. Ich glaube, wir haben
hier bereits einen gesellschaftlichen Prozess angestoßen.
Ich möchte Sie aber auch darüber unterrichten, dass
mit dieser Gesetzesänderung ein paar Dinge entschieden
werden, die Sie als Parlamentarier betreffen. Das einem
Soldaten zustehende Recht, dass er zur Ausübung eines
Mandats in der Kommunalpolitik den erforderlichen Ur-
laub erhält, wird im Zusammenhang mit internationalen
Einsätzen in jedem Einzelfall geprüft. Er hat nicht mehr
automatisch einen Anspruch darauf, dass er seine Kreis-
tagssitzung im Landkreis Hameln-Pyrmont oder an ande-
rer Stelle wahrnehmen kann, wenn er aus zwingenden
Gründen als Zeit- oder Berufssoldat für einen internatio-
nalen Einsatz vorgesehen ist. Hier hat es in der letzten Le-
gislaturperiode einige Probleme gegeben.
10013
107. Sitzung
Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Beginn: 13.01 Uhr
Das Zweite ist die Zurruhesetzung von Berufssoldaten.
Diese sollen künftig in dem Monat nach Erreichen des
Rentenalters in den Ruhestand versetzt werden können.
Ein weiterer Punkt, der uns ebenfalls beschwert: In-
zwischen haben wir eine ganze Reihe von qualifizierten
Berufssoldaten, die nach ihrer militärischen Ausbildung,
nach ihrem Studium oder einer Fachausbildung den
Wunsch haben, aus dem Dienst auszuscheiden. Ein Be-
rufssoldat kann dies jederzeit. Aber hier wollen wir die
Bestimmung über die Kostenerstattungspflicht der Be-
rufssoldaten oder auch über die Zeit, bis sie entlassen wer-
den können, etwas verschärfen. Es hat sich herumgespro-
chen, dass einige früher ausscheiden möchten, weil sie
zum Beispiel in der Wirtschaft bzw. in zivilen Dienstleis-
tungsbereichen sehr gern gesehen werden. Wir haben ein
Interesse daran, dies zu begrenzen. Ich denke, dass das
auch Ihre Zustimmung finden wird.
Das sind die wichtigsten Punkte: die Frauen, die Ver-
änderung bei der Beurlaubung hinsichtlich der Ausübung
eines kommunalen Mandats und die Frage des Übergangs
aus dem Beruf des Soldaten in eine zivile Tätigkeit.
Vielen Dank, Frau
Staatssekretärin.
Der Kollege Nolting hat sich zu einer Frage gemeldet.
Bitte sehr.
Frau Staatsse-
kretärin, haben Sie in Ihren Gesetzesentwürfen daran ge-
dacht, den Bereich der Bundeswehr für Teilzeitarbeit zu
öffnen? Das gilt natürlich nicht für Soldaten im Einsatz.
B
Das habe ich mit meinen Aus-
führungen gemeint, Herr Kollege Nolting. Wir wollen die
berechtigten Interessen von Frauen berücksichtigen. Auf
der internationalen Frauenkonferenz unterhalten wir uns
darüber, was die Ausübung der Berufstätigkeit von Frauen
bedingt. Ich gehe davon aus, dass das in dem einen oder
anderen Fall möglich ist. Ich gehe auch davon aus, dass
das zum Beispiel bei militärischen Aufgaben in den Stä-
ben möglich sein sollte.
Eine Zusatzfrage des
Kollegen Nolting.
Frau Staatsse-
kretärin, Sie wissen, dass die F.D.P. es begrüßt, dass die
Regierung so weit ist, zumal das eine Forderung der
F.D.P. seit 1987 ist. Manche Dinge brauchen etwas länger.
Fortschritt, vor allem liberalen Fortschritt, kann man nicht
verhindern, allenfalls aufhalten. Würden Sie die Äuße-
rungen der verteidigungspolitischen Sprecherin der Grü-
nen auch so verstehen, die von einer Militarisierung der
Gesellschaft gesprochen hat, wenn sich die Bundeswehr
für Frauen öffnet?
B
Herr Kollege Nolting, erlauben
Sie mir bitte, festzustellen, dass zwischen den Jahren
1987 und 1998 die Koalition aus Christdemokraten und
Liberalen bestand und sich bei diesem schwierigen
Thema nicht einigen konnte. Erlauben Sie mir, ausdrück-
lich festzustellen, dass das Ganze ein erstaunlicher Fort-
schritt ist. Vorhin habe ich mit der Kollegin Frau Probst
darüber gesprochen, wie sich das Bewusstsein der Bevöl-
kerung verändert. Vor einigen Jahren hätte ich noch mit
tiefer Überzeugung gesagt: Wir brauchen keine Frauen in
den Streitkräften und keine Frauen als Zeit- oder Berufs-
soldatinnen. Jeder frei gewählte Abgeordnete hat das
Recht, zu sagen, wie er diese Sache einschätzt. Sie müs-
sen mit Frau Kollegin Beer, die Sie gemeint haben, selbst
diskutieren. Das können Sie als Obmann. Ich finde, dass
die Öffnung der Bundeswehr für Frauen keine Militari-
sierung der Gesellschaft bedeutet. Ich bin zu dem Urteil
gekommen, dass es sehr positiv ist, wenn Frauen mitar-
beiten. Sie werden mir von unseren gemeinsamen Besu-
chen in Bosnien und Herzegowina bestätigen, dass die
dort eingesetzten Sanitäterinnen und Ärztinnen hervorra-
gende Arbeit leisten, dass sie das Klima verbessern. Dort,
wo der Liberalismus fortschrittlich ist, werden wir ihm
ausdrücklich folgen.
Jetzt hat Herr Niebel
eine Frage. Bitte sehr.
B
Wir werden dem liberalen
Fortschritt nur dort folgen, wo er auch fortschrittlich ist.
Ich könnte noch etwas dazu sa-gen. Aber das wäre dann eine Anmerkung und keineFrage. Nur so viel: Der Liberalismus ist überall fort-schrittlich. Wir nehmen Ihr Angebot jedenfalls dankendan.Frau Staatssekretärin, ich möchte gern zu einem ande-ren von ihnen angesprochenen Themenbereich eine Fragestellen. Sie haben die Einschränkung bei der Ausübungkommunaler Mandate angesprochen. Auch Sie habenwahrscheinlich den Bericht, der vor einigen Wochen im„Focus“ veröffentlicht worden ist, über den Spitzen-kandidaten der Freien Demokratischen Partei für dieHamburgische Bürgerschaft gelesen. Nach diesem Be-richt erschien dieser Spitzenkandidat, der aktiver Soldatin der Bundeswehr ist, zumindest nicht ganz so frei in derAusübung seiner politischen Aktivität, wie man es sichvon einem Staatsbürger in Uniform wünschen würde.Mich interessiert, ob die Änderung des Soldatengeset-zes auch Konsequenzen für die Soldaten hat, die für einöffentliches Amt, für ein Mandat oder für ähnliche öffent-liche Tätigkeiten kandidieren und ob die Rechte desStaatsbürgers in Uniform durch die heute im Kabinett be-schlossene Änderung eingeschränkt werden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Parl. Staatssekretärin Brigitte Schulte10014
B
Diese Frage haben wir uns
natürlich auch gestellt, weil die Ausübung des kommuna-
len Mandats ein wichtiger Punkt ist. Ich muss zugeben,
dass ich den Artikel im „Focus“ nicht gelesen habe. Ich
glaube auch nicht alles, was in Zeitungen oder Zeitschrif-
ten steht. Ich spare meine Zeit für wichtigere Aufgaben.
Aber da es sich – ich denke, das kann ich verraten – um
den Kommandeur der Führungsakademie der Bundes-
wehr handelt, der in Hamburg für die F.D.P. kandidiert,
und da die Hamburgische Bürgerschaft, Herr Niebel,
nicht nur ein Kommunalparlament, sondern auch ein Lan-
desparlament ist, kann ich mir überhaupt nicht vorstellen,
dass die politischen Rechte des kandidierenden Admirals
beschnitten werden können. Außerdem kennt er die recht-
liche Lage gut genug. Eine Begrenzung bei der Ausübung
der politischen Rechte ist mir in diesem Fall völlig unbe-
kannt.
Es muss aber in der Tat von Fall zu Fall abgewogen
werden, ob jemand – deswegen habe ich das vorhin er-
wähnt – sein Mandat im Kreistag von Hameln-Pyrmont
wahrnimmt oder ob er ein Mandat als ehrenamtlicher
stellvertretender Landrat wahrnimmt. In letzterer Funk-
tion wird er relativ viel gefragt sein. Schon bei der Pla-
nung seines Einsatzes muss man auf die Ausübung seines
Mandats Rücksicht nehmen. Aber es sollte so sein, dass
qualifizierte Fachleute – das wird Berufssoldaten betref-
fen – auch für den Einsatz vorgesehen sind. Ich gehe da-
von aus, dass wir dies gut lösen können, und zwar ge-
meinsam mit den jeweiligen Abgeordneten, die sich für
die Soldaten einsetzen werden.
Herr Niebel, eine
Frage.
Frau Staatssekretärin, aber Sie
gestehen mir zu, dass meine Frage insofern nicht ganz un-
berechtigt war, weil die Stellung eines Kommunalpoliti-
kers, der bereits ein Mandat hat, eigentlich deutlich stär-
ker ist als die eines Kandidaten für ein Parlament, auf wel-
cher Ebene auch immer, und dass zumindest die
Befürchtung nicht unberechtigt ist, dass der Dienstherr
Einfluss auf die Ausübung der Kandidatur nehmen
könnte.
B
Das kann ich mir überhaupt
nicht vorstellen. Es gibt von den in den Parlamenten ver-
tretenen Parteien nur eine Partei, von der ich mir nicht
wünsche, dass für sie Berufssoldaten und Zeitsoldaten
kandidieren. Ich sage das sehr offen: Die Kandidatur ei-
nes Offiziers für die Republikaner ist zwar rechtmäßig,
aber nicht so sehr eine Zierde. Ich kann mir nicht vorstel-
len, dass es bei den Kandidaturen für die anderen Parteien
Einschränkungen geben könnte.
Gibt es weitere Fra-
gen zu diesem Teil der Regierungsbefragung? – Das ist
nicht der Fall. Es bleibt aber noch Zeit für die Regie-
rungsbefragung.
Wir kommen dann zu den freien Fragen. Herr Koschyk
hat Fragen. Bitte sehr, Herr Kollege.
Frau Präsidentin, ich
habe eine Frage, die sich auf den Geschäftsbereich des
Auswärtigen Amtes bezieht. Es hat eine öffentliche Dis-
kussion über den Antrag der Sudetendeutschen
Landsmannschaft gegeben, auch vertriebenen Sudeten-
deutschen Leistungen aus dem deutsch-tschechischen
Zukunftsfonds – zumindest symbolisch – zu gewähren,
die von den Vertreibungsmaßnahmen nach 1945 beson-
ders betroffen gewesen waren und die noch keine Leis-
tungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz bekom-
men haben. Im Vorfeld der Befassung mit dieser Frage
durch die Gremien des Fonds hat der Herr Bundesaußen-
minister diesen Antrag als kontraproduktiv und schädlich
für die deutschen Interessen bezeichnet.
Ich selber habe in der Fragestunde vom 10. Mai 2000
eine Frage an das Auswärtige Amt gerichtet, wie es den
Vorschlag des früheren Beraters des tschechischen Minis-
terpräsidenten, Herrn Doležal, bewertet, der in die gleiche
Richtung wie der Antrag der Landsmannschaften abzielt.
Darauf hat mir Herr Staatsminister Volmer geantwortet,
dass dies einen bemerkenswerten Beitrag zur andauern-
den tschechischen Debatte über die Vertreibung darstelle.
Warum deklariert das Auswärtige Amt einen derartigen
Vorschlag von tschechischer Seite als „bemerkenswerten
Beitrag“, während derselbe Vorschlag, wenn er von einer
deutschen Organisation gemacht wird – es geht um einen
Fonds, der auch mit deutschen Steuermitteln angefüllt
wird –, als „kontraproduktiv“ und „schädlich für die deut-
schen Interessen“ bezeichnet wird?
Herr Staatsminister
Dr. Volmer beantwortet diese Frage. Bitte sehr.
D
Herr Koschyk, ich habe den Vorschlag in der Tat als
„bemerkenswert“ bezeichnet. Ich habe aber auch darauf
hingewiesen, dass er ein Diskussionsbeitrag eines ehe-
maligen Regierungsberaters und kein offizieller Vor-
schlag einer tschechischen Instanz war.
Nach meinem Studium der Aktenlage für den heutigen
Tag haben Sie exakt die von Ihnen soeben gestellte Frage
auch für die Fragestunde schriftlich formuliert. Ich würde
Ihnen gerne die vorbereitete Antwort in der Fragestunde
mündlich geben. Falls Sie dann nicht da sein können,
möchte ich sie entsprechend schriftlich beantworten.
Bitte sehr, Herr Kol-
lege.
Frau Präsidentin, da-mit bin ich selbstverständlich einverstanden. Ich hattevom Parlamentssekretariat des Bundestages die Auskunfterhalten, dass man mit dem Hinweis auf eine am Freitag
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000 10015
stattfindende Bundestagsdebatte diese Frage nicht zulas-sen wolle. Ich bin dann auf die Möglichkeit der Befragungder Bundesregierung hingewiesen worden. Wenn der HerrStaatsminister bereit ist, meine nach der Geschäftsord-nung in die Fragestunde ordnungsgemäß eingebrachtenFragen zu beantworten, dann habe ich selbstverständlichbis zur Fragestunde Geduld.D
Die Fragen werden beantwortet werden.
Die Fragen sind für
zulässig erklärt und werden damit beantwortet werden.
Besteht der Wunsch nach weiteren Fragen an die Bun-
desregierung? – Bitte sehr.
Vielen Dank, Frau Präsiden-
tin. – Auch meine Frage richtet sich an das Auswärtige
Amt. Auf dem Gipfel des Europäischen Rates, der in die-
sem Monat stattfindet, soll unter anderem, wie mir erst am
vergangenen Wochenende vom Europäischen Behinder-
tenforum mitgeteilt wurde, ein Beschluss darüber gefasst
werden, wie Selbsthilfeorganisationen in der EU dem-
nächst gefördert werden sollen bzw. wie hoch der jewei-
lige Eigenanteil an entsprechenden Fördermitteln sein
soll. Die Befürchtung war sehr deutlich vorhanden, dass
der Eigenanteil so weit steigen könnte, dass Selbsthilfe-
organisationen häufig gar nicht mehr in der Lage sein
werden, entsprechende Fördermittel in Anspruch zu neh-
men. Welche Haltung wird die Bundesregierung dort ein-
nehmen? Auf welches Ziel werden Sie hinarbeiten? Was
kann dahin gehend geschehen, dass sich Selbsthilfe als
Faktor der Möglichkeit demokratischer Mitwirkung in
Europa weiterentwickeln wird?
Herr Staatsminister,
bitte.
D
Herr Kollege, ich bitte um Verständnis dafür, dass
ich Ihnen nicht zu allen Tagesordnungspunkten, die auf
künftigen Konferenzen behandelt werden, aus dem Hand-
gelenk den Sachstand darstellen kann. Die generelle Linie
der Bundesregierung besteht darin, Selbsthilfeorganisa-
tionen und Einrichtungen von Behinderten zu fördern, auf
welcher Ebene auch immer. Ich erlaube mir, Ihre Frage,
dem Protokoll entnommen, schriftlich zu beantworten.
Wenn das geschehen ist, verfügen Sie über den konkreten
Sachstand.
Damit sind Sie ein-
verstanden? – Ja.
Wir haben noch weitere Zeit für die Regierungsbefra-
gung. Aber es will niemand mehr Fragen stellen. Dann
können wir das Ganze abschließen. Ich beende die Befra-
gung der Bundesregierung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an einer
internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo
zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes
für die Flüchtlingsrückkehr und zur militäri-
schen Absicherung der Friedensregelung für
das Kosovo auf der Grundlage der Resolution
1244 des Sicherheitsrats der Vereinten
Nationen vom 10. Juni 1999
– Drucksache 14/3454 –
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Interfraktionell
wird Überweisung des Antrages der Bundesregierung auf
Drucksache 14/3454 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einver-
standen? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Nun käme Zusatzpunkt 1, die vereinbarte Debatte zur
Zukunft der Bundeswehr. Wenn ich mich umsehe, dann ist
es, glaube ich, besser, wenn wir noch einen Augenblick
warten.
Ich unterbreche die Sitzung für zehn Minuten.
Ich eröffne die unter-
brochene Sitzung des Deutschen Bundestages wieder.
Ich rufe Zusatzpunkt 1 der Tagesordnung auf:
Vereinbarte Debatte
zur Zukunft der Bundeswehr
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
F.D.P. vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung
sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Das ist dann so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Gernot Erler, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen vor ei-ner Reform der Bundeswehr, die keinen Aufschub dul-det. Wir stehen hierbei in einem vorgegebenen, objektivenZeitrahmen, weil – das ist eine unbestreitbare Tatsache –in den letzten zehn Jahren notwendige Veränderungenaufgeschoben wurden und weil die internationalen Ver-pflichtungen, die die Bundesrepublik Deutschland mit derBundeswehr erfüllen muss, ohne eine solche Strukturre-form nicht erfüllbar sind.
Die Bundesrepublik hat wichtige Verpflichtungen in-nerhalb der Europäischen Union übernommen, zum Bei-spiel sich im Rahmen der so genannten „European head-line goals“, der Verpflichtungen von Helsinki, in ange-messener Form in der kurzen Zeitspanne bis zum Jahre2003 an schnellen Einsatzkräften im Umfang von60 000 Mann zu beteiligen. Sie hat im Rahmen der sogenannten Stand-by-Arrangements Verpflichtungen ge-genüber den Vereinten Nationen übernommen. Sie hat imAugenblick einen verantwortungsvollen Einsatz in Bos-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Hartmut Koschyk10016
nien und im Kosovo zu erfüllen und sie hat natürlich stän-dig auf die Erfüllung der vielfältigen Bündnisverpflich-tungen vorbereitet zu sein.Das alles ist mit der Bundeswehr, wie wir sie vor16 Monaten vorgefunden haben, nicht zu erfüllen. Des-wegen besteht die objektive Notwendigkeit, eine Reformdurchzuführen.
In 16 Jahren Regierungsverantwortung – das muss ichden Kollegen auf der rechten Seite des Hauses sa-gen – ist es versäumt worden, die Bundeswehr zukunfts-sicher zu machen.
In 16 Monaten hat Verteidigungsminister Scharping dieentscheidenden Schritte zu einer zukunftsfähigen Bun-deswehr vorbereitet, ja zu einem erheblichen Teil bereitseingeleitet. Das ist der Unterschied.Zu diesen Vorbereitungen gehört, dass seriöse Be-standsaufnahmen über die Lage der Bundeswehr nichtnur gemacht, sondern in den letzten 16 Monaten auch fort-geschrieben worden sind. Dazu gehört, dass der Verteidi-gungsminister in zahlreichen Begegnungen mit den Sol-daten und Zivilbeschäftigten der Bundeswehr – 25 an derZahl – über die Notwendigkeit der Veränderungen ge-sprochen hat. Dazu gehört, dass er schon im Juli letztenJahres Vereinbarungen mit deutschen Unternehmen zurFörderung der Zusammenarbeit und der beruflichen Qua-lifizierung und Beschäftigung abgeschlossen hat. Dazugehören der Rahmenvertrag „Innovation, Investition undWirtschaftlichkeit in der Bundeswehr“ vom Dezemberletzten Jahres und die kürzlich erfolgte Gründung derAgentur „Gesellschaft für Entwicklung, Beschaffung undBetrieb“.Natürlich gehören dazu die Berichte, die jetzt dem Re-formprojekt unmittelbar zugrunde liegen. Als Erstesnenne ich den Bericht der Kommission „GemeinsameSicherheit und Zukunft der Bundeswehr“, die von Prä-sident a. D. Richard von Weizsäcker geleitet wurde unddie uns nach 13 Monaten intensiver Arbeit unter Einho-lung von zahlreichen, perspektivischen Stellungnahmenam 23. Mai 2000 einen sehr wertvollen Bericht mit Ana-lysen und Empfehlungen zugeleitet hat. Ich möchte imNamen meiner Fraktion noch einmal sagen: Wir sind fürdiese wichtige Arbeit außerordentlich dankbar, die uns inunserer Arbeit im Bereich der Sicherheitspolitik und derVerteidigung noch weit über die jetzt zu treffenden Ent-scheidungen hinaus beschäftigen wird. Wir haben diesbe-züglich einen großen Dank abzustatten.
Zu diesen Grundlagen gehört auch das, was der schei-dende Generalinspekteur mit seinem Papier zu den Eck-werten für die konzeptionelle und planerische Weiter-entwicklung der Streitkräfte am gleichen Tag wie dieWeizsäcker-Kommission vorgelegt hat, und dazu gehörtdas Eckpfeilerpapier des Bundesministers der Verteidi-gung unter dem Titel „Die Bundeswehr sicher ins21. Jahrhundert“ vom 1. Juni dieses Jahres. Das sind dieGrundlagen der Arbeit, die wir jetzt zu leisten haben.Ich finde, dass wir in diesem Hause allen Grund haben,dem Bundesminister der Verteidigung Rudolf Scharpingfür seine engagierte und professionelle Vorbereitung derüberfälligen Reform der Bundeswehr Anerkennung undDank zu sagen.
In 16 Monaten ist mehr Bewusstsein über die Verände-rungsnotwendigkeiten in der Bundeswehr, mehr Bereit-schaft zur Reform und mehr Argumentationssicherheit inBezug auf die Grundlagen geschaffen worden als in denvielen Jahren davor, in denen sich diese Notwendigkeitenschon längst abgezeichnet haben.Ich möchte Ihnen jetzt acht wesentliche Punkte vortra-gen, mit denen unsere Fraktion, die SPD-Bundestagsfrak-tion, an dieses Werk der Strukturveränderung und der Re-form der Bundeswehr herangehen will.Zunächst einmal glauben wir, dass die Vorlage, die derBundesminister hier geliefert hat, das Eckpfeilerpapier,eine fachlich überzeugende und tragfähige Grundlage ist.Ich begrüße ganz besonders, dass auch die Fachverbändedas inzwischen so sehen und dies geäußert haben.
Das ist ein sehr guter Start für das, was vor uns steht.
Wir sind der Meinung, dass die allgemeine Wehr-pflicht im Augenblick nicht zur Disposition gestellt wer-den kann, und zwar vor allen Dingen aus zwei Gründen –wir wissen, dass nicht alle in diesem Haus das genauso se-hen –: Der eine Grund ist die langjährige sicherheitspoli-tische Vorsorge, zu der wir verpflichtet sind und bei derwir nicht ausschließlich von der aktuellen sicher-heitspolitischen Lage ausgehen können.Hinsichtlich des anderen Grundes möchte ich eine Ar-gumentation aufgreifen, die uns die Weizsäcker-Kommis-sion geliefert hat und die gerade in den Reihen meinerFraktion große Beachtung findet, nämlich eine friedens-politische Argumentation für die vorläufige Beibehaltungder Wehrpflicht in dem Sinne, dass, wer das Ziel der Kri-sen-Deeskalation, der Deeskalationsdominanz, also dieMöglichkeit, in einer sicherheitspolitisch herausfordern-den Situation nicht krisenverschärfend, sondern krisenbe-herrschend zu reagieren, ernst nimmt, die Flexibilitätbraucht, die nur die Wehrpflicht gewährleistet. Das ist einwichtiger Grund, der uns mit bewogen hat, zu diesem Be-schluss zu kommen.Wir sind der Meinung, dass die Rahmendaten, die vonder Weizsäcker-Kommission und in dem Eckpfeilerpapierdes Bundesministers genannt worden sind, richtig sind.Wir haben deswegen einen Vorschlag mit Bandbreitengemacht, der die Daten von beiden Empfehlungenberücksichtigt. Wir haben deshalb Bandbreiten gewählt,weil wir als Leute, die lange in diesem Geschäft sind,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Gernot Erler10017
wissen, dass es schon immer einen ziemlichen Unter-schied zwischen dem Soll und dem Ist hinsichtlich desUmfangs der Bundeswehr gegeben hat und dass das un-vermeidlich ist.Ausdrücklich unterstützen wir die Bemühungen desBundesministers der Verteidigung, die Attraktivität desDienstes in der Bundeswehr zu stärken und hier vor al-len Dingen durch Reformmaßnahmen beim Laufbahn-recht, besonders bei der Unteroffizierslaufbahn, endlichgegenüber anderen Bereichen nachzuziehen und diesenDienst attraktiver zu machen.Ich habe schon die Partnerschaft mit Industrie undWirtschaft, den Rahmenvertrag und die Agentur erwähnt.Wir unterstützen diesen Prozess. Er mobilisiert auch not-wendige Mittel für die erforderliche Erweiterung desInvestitionsanteils im Bundeswehrhaushalt. Wir sindder Meinung, dass das BMVg das Recht haben muss,diese erwirtschafteten Rationalisierungserlöse in einemangemessenen Umfang zu nutzen, um den investiven Teilder Bundeswehrplanung zu verstärken.Wir sind allerdings der Meinung – wir wissen uns darinim Konsens mit der Bundeswehrführung und mit demVerteidigungsminister –, dass auch der Einzelplan 14 andem beschlossenen Konsolidierungsprogramm teilhabenmuss und dass man hier nicht ausscheren kann, waseinschließt, dass für die internationalen Einsätze die not-wendigen Mittel zur Verfügung gestellt werden müssen.Diese Festlegung schließt nicht aus – das will ich hierbetonen –, dass Sonderverabredungen in der Art einesProgrammgesetzes, zum Beispiel um die laufbahnrechtli-chen Ungleichheiten in der Bundeswehr auszugleichen,möglich sind.Wir haben in dem Beschluss unserer Fraktion auch dieErwartung geäußert – wir sind uns da ebenfalls mit demVerteidigungsminister einig –, dass wir sehr sorgfältigund nachvollziehbar mit der Frage der künftigenStandortplanung umgehen müssen. Das Wichtigste sindhier die Partizipation, die Beteiligung der Betroffenen, so-wie die Transparenz und die Verlässlichkeit der Ent-scheidungen. Wir haben überhaupt kein Verständnisdafür, wenn einige Kolleginnen und Kollegen und Par-teien schon heute Unsicherheit hinsichtlich der Standort-planung schüren,
wider besseres Wissen, denn sie wissen ganz genau, dasshier ein verlässlicher Weg eingeschlagen wird. Wir haltendas für unverantwortlich und fordern Sie auf, mit diesenKampagnen aufzuhören.
Unsere Anerkennung der Arbeit der Kommission unterder Führung von Richard von Weizsäcker – damit kommeich zum Schluss – drückt sich nicht nur in einem Dankaus, sondern auch darin, dass wir unserer zuständigenArbeitsgruppe und dem Verteidigungsministerium denAuftrag erteilt haben, die sicherheitspolitischen Vorstel-lungen und Empfehlungen der Weizsäcker-Kommission,die in verschiedenen Bereichen hochinteressant und pro-duktiv sind, zu beraten und uns über die Möglichkeit derUmsetzung dieser Empfehlungen Bericht zu erstatten.Meine Damen und Herren, die Bundeswehrreform isteine so wichtige Aufgabe – die Verlässlichkeit der Bun-desrepublik Deutschland in der gesamten internationalenPolitik ist davon berührt und hängt von einem vernünfti-gen Ergebnis ab –, dass wir es für angemessen halten, zueinem gesellschaftlichen und parteiübergreifenden – auchin diesem Hause – Konsens zu kommen. Wir sind im Rah-men dieser wichtigen Reform zu einem Dialog mit Ihnenbereit. Wir setzen auf Ihre Bereitschaft, zu diesem Kon-sens beizutragen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Bevor ich dem Kolle-
gen Paul Breuer das Wort gebe, möchte ich, dass wir ei-
nen Augenblick innehalten: Unsere Kollegin Angelika
Beer, die nach dem Kollegen Breuer sprechen wird, ist
heute Nacht in ihrem Hausflur hinterhältig angegriffen
worden und hat sich schwere Verletzungen zugezogen.
Sie ist trotzdem – tapfer, wie wir Frauen sind – heute im
Bundestag anwesend.
Wir waren unsicher, wie wir heute mit diesem Vorfall
umgehen sollen. Es ist ein erschreckendes Ereignis. Wir
sind entsetzt, dass ein Mitglied der deutschen Volksver-
tretung hinterhältig angegriffen wurde. Das hat viel zu tun
mit Stimmungen, Gewaltbereitschaft, mit dem Verständ-
nis von Demokratie und vielleicht auch mit dem Umgang
untereinander. Ich wollte das hier zur Kenntnis geben. Wir
freuen uns, dass Sie, Frau Beer, heute hier anwesend sind.
Frau Kollegin, Sie haben unsere Solidarität.
Das Wort hat nun der Kollege Paul Breuer.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Normalerweise sollteheute eine Regierungserklärung abgegeben werden; daswar so angekündigt.
Angekündigt war, dass Verteidigungsminister Scharpingeine Erklärung für die Regierung zu seinem Konzept zurStrukturreform der Bundeswehr abgibt.Wir stellen fest: Diese Regierungserklärung findetnicht statt. Stattdessen führen wir heute eine Debatte, diedavon geprägt sein wird, dass die Koalition insgesamtohne ein gemeinsames Konzept in diese Debatte hinein-geht. Das erschwert diese Debatte ungemein. Sie habenkein Konzept für die Bundeswehr!
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Gernot Erler10018
– Herr Kollege Schlauch, es wird in dieser Debatte ja dieGelegenheit geben, Erklärungen dafür zu hören, warumsich die Bundestagsfraktion der Grünen zu einem Zeit-punkt, zu dem Herr Scharping sein Konzept vorgelegt hat,in einer völlig anderen Art und Weise im Hinblick auf dieBundeswehr und die deutsche Außen- und Sicherheitspo-litik positioniert. Diese Antworten müssen Sie heute indieser Debatte geben.
Ich will Ihnen das an zwei Punkten deutlich machen:Wenn Herr Erler soeben Wert darauf gelegt hat – in dieserFrage haben wir eine Gemeinsamkeit –, dass die Beibe-haltung der allgemeinen Wehrpflicht im WesentlichenVorsorgecharakter für Eventualitäten in der sicherheitspo-litischen Entwicklung, die wir heute nicht überblickenkönnen, besitzt, Sie von den Grünen aber genau ge-genteilig votieren, die allgemeine Wehrpflicht abschaffenund die Bundeswehr ohne sicherheitspolitische Begrün-dung in Hinsicht auf die Risiken auf ein Minimum redu-zieren wollen – dies sind ja die Vorstellungen der Grü-nen –, dann stelle ich fest: Die Vorstellungen der SPD sindmit denen der Grünen eigentlich gar nicht vereinbar. DieUnterstützung der Koalition für das Konzept des Vertei-digungsminister Scharping ist infrage gestellt.Als nächsten Punkt möchte ich die Frage der Zeitge-staltung ansprechen. Was veranlasst diese Regierung, wasveranlasst diesen Minister eigentlich, ein Konzept in die-sem Schweinsgalopp, in dieser Hektik durchpeitschen zuwollen?
Der Minister hat der deutschen Öffentlichkeit ein ganzesJahr lang erzählt, sein Handeln finde vorbehaltlich derEmpfehlungen der Wehrstrukturkommission statt. Erhat Bescheide über das Aufrechterhalten von Bundes-wehrstrukturen, über einzelne Standorte unterschrieben,in denen stand: vorbehaltlich der Empfehlungen derWehrstrukturkommission. Ich stelle fest, Herr MinisterScharping, dass Sie zu keinem Zeitpunkt Interesse an demhatten, was die Wehrstrukturkommission sagt; denn sonstwäre diese Zeitgestaltung gar nicht möglich gewesen.
Ich stelle ein Zweites fest: Sie haben die deutsche Öf-fentlichkeit weiter verunsichert, indem Sie parallel dazueine Planung in Ihrem Ministerium in Auftrag gegebenhaben,
eine Planung des Generalinspekteurs.
Man konnte gar nicht darauf warten, was in der Wehr-strukturkommission gesagt oder nicht gesagt wird. Ichstelle fest: Sie haben einen Tag, nachdem der Generalin-spekteur der Bundeswehr dieses Papier vorgelegt hat, inder Öffentlichkeit in einer Nebenbemerkung deutlich ge-macht, was Sie davon halten – nämlich nichts –, indem Sieden Generalinspekteur in einer unsäglichen Art und Weiseentlassen haben.
Sie haben damit deutlich gemacht, was Sie vom militäri-schen Sachverstand halten. Sie sind dem deutschen Parla-ment und der Öffentlichkeit für Ihr Handeln eine Begrün-dung, auch eine sicherheitspolitische Begründung schul-dig.
Nun höre ich aus der SPD-Fraktion, MinisterScharping lege Wert darauf, Kompromisse zwischen denEmpfehlungen der Kommission und den Vorstellungendes Generalinspekteurs zu finden.
Wenn er darauf Wert gelegt hätte, dann hätte er in einerfundierten Diskussion mit einer klaren Analyse der deut-schen Sicherheitsinteressen und einer klaren Analysedes deutschen bzw. europäischen bzw. euro-atlantischensicherheitspolitischen Umfeldes begründet, warum ernicht der einen oder anderen Empfehlung der Kommis-sion oder der einen oder anderen Empfehlung des Gene-ralinspekteurs folgt. Er hat es ohne Begründung getan.Diese Sicherheitsanalyse ist nicht erfolgt. Das schlägt sichin der Diskussion in der grünen Fraktion nieder. Das, wasjetzt stattfindet, trägt zu einer unglaublichen Verunsiche-rung der deutschen Öffentlichkeit, der Bundeswehr, ihrerSoldaten und deren Familien bei.
Man hat den Eindruck, man sei auf einem Basar. SagenSie hier doch: Was hat die SPD-Fraktion veranlasst, inihrem Beschluss von gestern nicht klar die Struktureck-werte von Herrn Scharping zu unterstützen, sondern sichSpielräume zu verschaffen? Ich bin nicht davon über-zeugt, dass ein so schwerwiegender Einschnitt in die Per-sonalsubstanz und den Umfang der Bundeswehr in derGrößenordnung – militärisch und zivil – von 100 000 ge-rechtfertigt ist. Wenn Sie Margen einräumen, wenn SieSpielräume schaffen, wie Sie es gestern getan haben – sohabe ich Ihren Beschluss verstanden –, sind Sie dazu be-reit, die Größe der Bundeswehr noch stärker zu beschnei-den. Eine sicherheitspolitische Begründung, Herr KollegeErler, haben Sie dafür in Ihrer Rede aber nicht gegeben.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Paul Breuer10019
Die Frage, wo die Sicherheitsrisiken für Deutschlandliegen, muss einer vertieften Betrachtung unterzogen wer-den.
Wo liegen die deutschen Sicherheitsrisiken beispiels-weise im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit eines Rück-falls in Europa? Ich finde in diesem Konzept keine Aus-sage dazu. Dass innerhalb der Koalition eine solche De-batte über die Wehrpflicht ohne eine solche Begründunggeführt wird, ist dann geradezu natürlich. Wir müssen un-seren Mitbürgern, insbesondere den jungen Männern inDeutschland, klar sagen, dass wir als Rückversicherungfür das Risiko eines Rückfalls in Europa die allgemeineWehrpflicht auf Dauer benötigen, dass sie die Bundes-wehr in der Gesellschaft verankert. Diese Diskussion, dieinnerhalb dieser Koalition nicht stattfindet, muss ausge-tragen werden.Meine Damen und Herren, ich bin davon überzeugt,dass die Seriosität des Programms von Herrn Scharpingnicht nur aus diesen Gründen infrage zu stellen ist. Sie istinsbesondere auch deshalb infrage zu stellen – dies spieltja auch innerhalb der Koalition eine Rolle –, weil niemandweiß, ob die Finanzierung gesichert ist. Wenn ich mir dasscharpingsche Konzept im Hinblick auf die Finanzierunganschaue, stelle ich fest: Es ist keine einzige konkreteHaushaltszahl zu finden. Dieses Konzept ist nicht bis zumEnde durchdacht; seine Finanzierung ist nicht abgesi-chert.Über diese Frage findet ja auch innerhalb der Koalitioneine Debatte statt. Wenn Herr Kollege Schlauch zum Aus-druck bringt, dass der Verteidigungsetat entsprechenddem Rückgang beim Personalbestand der Bundeswehrsinken müsse, dann konterkariert er genau das, wasMinister Scharping will, der sagt: Ich muss das Personalherunterfahren, damit ich Mittel für Investitionen ge-winne, um die Bundeswehr zu modernisieren. Wenn Siesich innerhalb der Koalition – Sie wollen zusammen denHaushalt vorlegen – zum heutigen Zeitpunkt nicht einigdarüber sind, dass das eine geht oder das andere geht, abernicht beides zusammen, dann sage ich Ihnen: Diese Kon-zept ist nicht tragfähig, es ist nicht seriös.
Es ist nicht möglich, ständig den nationalen und inter-nationalen Stimmen zu widersprechen.
Ich habe im Vorfeld dieser Debatte einen Hinweis vonmeinem Kollegen Austermann, unserem Sprecher imHaushaltsausschuss, bekommen.
Er hat in der Berichterstattersitzung, die heute zum Ver-teidigungsetat abgehalten wurde, eine interessante Fest-stellung seitens des Ministeriums vernommen: AufSeite 24 Ihres Konzeptes, Herr Minister Scharping, habenSie in einer Übersicht, die mit „Eckpfeiler“ überschriebenist, aufgeführt, dass die Zahl der Panzer um 25 Prozent zureduzieren ist, die Zahl der Schützenpanzer um 25 Prozentusw.; dort steht, wo Aufwüchse zu erwarten sind und woneue Systeme eingeführt werden. Als der KollegeAustermann dazu eine spezielle Frage an das Ministeriumgestellt hat – warum denn dort eine bestimmte Zahlstehe –, hat, so ist mir berichtet worden, Frau KolleginSchulte, Ihre Parlamentarische Staatssekretärin, geant-wortet, dass diese Seite 24 des Konzeptes zwischen Pla-nungsstab und Führung des Ministeriums nicht abge-stimmt gewesen ist.
Wenn dies, Herr Kollege Scharping, ein Eckpfeiler IhresGebäudes ist, dann, so sage ich Ihnen, muss dieses Ge-bäude schon jetzt zu Bruch gehen. Denn das ist nicht zu-verlässig.
Ich will neben den beschriebenen Risiken auf ein Ri-siko hinweisen, das immer verklausuliert dargestellt wird.Herr Scharping schreibt im Rahmen dessen, was er Fi-nanzierungskonzept nennt, dass er prüfen werde, ob demDeutschen Bundestag ein Programmgesetz vorgelegtwerde. Ich sage Ihnen: Wir fordern ein Programmgesetz,das alle Maßnahmen beschreibt, das den Zeitpunkt be-schreibt und das die Finanzierung beschreibt – damit dasKonzept überhaupt „tragfähig“ genannt werden kann.Wenn Sie schreiben, Sie prüften, ob in Abstimmung mitdem Finanzminister ein Programmgesetz vorgelegt wer-den solle, dann will ich Ihnen sagen: Prüfen Sie, ob Siedem Deutschen Bundestag, im Übrigen auch der Bundes-wehr, unseren Verbündeten und der nationalen und inter-nationalen Öffentlichkeit versichern können, dass diesesKonzept überhaupt tragfähig ist. Legen Sie das Pro-grammgesetz vor! Machen Sie damit das, was Sie tun,transparent. Die Verunsicherung, die überall im Landeexistiert – Kollege Erler sprach die Standortfrage an –, istdoch auf der Basis dieser Betrachtung völlig natürlich.
Kollege Breuer, den-
ken Sie bitte an die Redezeit.
Ich komme zum Ende,Frau Präsidentin.
Ich behaupte, dass es nicht möglich ist, das Konzept ei-ner massiven Reduzierung unter dem Diktat des Rotstifts –es basiert nicht auf einer sicherheitspolitischen Analyse –
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Paul Breuer10020
ohne massive Schließungen von Standorten in Deutsch-land umzusetzen, und gebe daher das Risiko derSchließung von durchaus respektablen Standorten in derGrößenordnung von 100 bis 150 an. Das ergibt sich ausdem Zahlenwerk, das uns vorliegt. Eine andere Betrach-tung ist aus dem Erkenntnisstand und den Erfahrungender Vergangenheit nicht seriös.
Bis jetzt waren Sie nicht in der Lage, dieses Konzept inall seinen Schritten transparent zu machen – in der Finan-zierung ist es nicht tragfähig und es ist auch nicht kon-sensfähig –, und deshalb fordere ich Sie auf, das endlichzu tun.Ich bedanke mich.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Angelika Beer, Bündnis 90/Die Grünen.
FrauPräsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte zunächst begrüßen, dass diese Debatte heute statt-findet; denn es ist eines unserer wesentlichen Anliegen,über die Zukunft der Bundeswehr und die dazu bestehen-den Modelle zu diskutieren. Wir glauben, dass die Ge-sellschaft und die Bundeswehr ein Anrecht darauf haben,dass diese Debatte nach 16 Jahren sicherheitspolitischerVerkrustung unter Ex-Bundeskanzler Kohl hier jetzttatsächlich geführt wird.
Herr Breuer, Sie sind lange genug Mitglied des Deut-schen Bundestags, und deshalb muss ich Ihnen sagen: Esist vollkommen abwegig, eine Regierungserklärung vonVerteidigungsminister Scharping zu erwarten, wenn wiruns noch in diesem Diskussionsprozess befinden,
der der Vorbereitung einer Kabinettsentscheidung in dennächsten Wochen dienen soll.Das Ende des Ost-West-Konflikts liegt ein gutesJahrzehnt zurück, und wir stehen heute vor einer meinesErachtens grundlegenden Entscheidung für die Bundes-wehr und die Gesellschaft. Der Versuch der ehemaligenRegierung unter Helmut Kohl – Sie, Herr Breuer, könnenmit dem Kopf schütteln, solange Sie wollen, Sie habendas sozusagen als Pfeiler, wenn auch immer als morscher,mitgetragen –,
die Debatte über die Reform der Bundeswehr zublockieren, hatte zweierlei Gründe. Der erste Grund war:Man hätte über die Auswirkungen – da sind natürlich diewirtschaftliche Entwicklung und die Standortfrage ent-scheidend – diskutieren müssen. Der zweite Grund war:Man hätte sich trauen müssen, eine gesellschaftliche De-batte zu führen, die eine außen- und sicherheitspoliti-sche Analyse voraussetzt.Es ist eine Tatsache, dass es Ihre Regierung nie ge-schafft hat, eine solche Analyse vorzunehmen. Sie hattenie den Mut, Reformschritte in diese Richtung zu gehen.Diese Politik, die Sie mitverantwortet haben, hat uns da-hin geführt, wo wir heute sind, nämlich zu einer Bundes-wehr, die in der Sackgasse gelandet, in ihren Strukturenveraltet ist, nicht mehr entsprechend ihren Aufgaben ein-gesetzt werden kann und deren Material und Ausstattungmangelhaft sind.
– Zur Landesverteidigung reicht es. Darauf komme ichaber gleich noch, wenn ich über die Frage der Risikoana-lyse und der Notwendigkeiten sprechen werde.Ich appelliere wirklich an die Opposition: Nehmen Siesich einmal eine halbe Stunde Zeit, zumindest die Kurz-fassung des Berichts von Richard von Weizsäcker zu le-sen. Lesen Sie wenigstens die Kurzfassung, mehr will ichgar nicht erwarten.
– Herr Breuer offensichtlich nicht. Ich bin ja fair, ich be-ziehe mich auf meinen Vorredner.Wir kommen in unserer sicherheitspolitischen Analysezu dem gleichen Ergebnis wie Richard von Weizsäcker.Wir sagen: Die Bundeswehr ist überdimensioniert und un-terfinanziert, und sie kann die von der Bundesregierungeingegangenen Verpflichtungen im Rahmen der NATOund der Europäischen Union langfristig nicht erfüllen.Ich möchte feststellen: Das, was Richard von Weizsäckervorgeschlagen hat, hat nichts mit einer Interventionsar-mee zu tun. Die Kommission hat dezidiert alle Aufgaben,die wir bereits politisch übernommen haben, aufgelistetund hat herunterdekliniert, was das für die Bundeswehrbedeutet.Ich will gar nicht nur positiv über die Weizsäcker-Kommission reden. Wir haben auch Kritik geäußert, undzwar nicht nur bezüglich der Beibehaltung der Wehr-pflicht. Dazu sage ich später noch etwas. Wir glauben,dass auch etwas anderes ganz wesentlich ist – das ist dasAnliegen meiner Fraktion, über das wir offen diskutierenund zu dem wir uns auch positioniert haben – : Wir wei-gern uns, die Debatte über die Bundeswehrreform nurhinsichtlich der Personalstärke oder der Frage „Wehr-pflicht ja oder nein?“ zu führen. Wir fordern – das ist dieKonsequenz aus der Beteiligung am Krieg gegen Ex-Jugoslawien –, dass wir, nicht nur Deutschland, sondernalle europäischen Staaten, aus den Fehlern der Vergan-genheit lernen. Einer dieser Fehler – und er ist gravie-rend –, dass man bei der zivilen Konfliktprävention und-moderation trotz des vorhandenen breiten Spektrums an
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Paul Breuer10021
Instrumenten mehr als nachlässig war, dass man dieKräfte, die zu nutzen möglich gewesen wäre, nicht aus-gebildet hat
und dass man zum Beispiel die Implementierung von in-ternationalen Polizeieinheiten mehr als vernachlässigthat. All dies liegt so klar auf dem Tisch – und war auchKonsens hier im Haus –, dass wir dann, wenn auch schonunter Federführung von Ex-Kanzler Kohl eine aktivePräventionspolitik stattgefunden hätte, möglicherweise inder Lage gewesen wären, unter Verzicht auf national-staatliche Interessen in ganz Europa den Krieg im Kosovozu verhindern.Deswegen sage ich noch einmal: Die Reform der Bun-deswehr muss in eine Reform der Außen- und Sicher-heitspolitik – und dort gerade im präventiven Bereich –eingebettet werden. Wir leben in einer Industriegesell-schaft, die nicht in erster Linie durch militärische Powerverteidigt werden kann. Vielmehr müssen wir Demokra-tien stärken und unterstützen. Wir müssen für eine wirt-schaftliche Weiterentwicklung in den ärmeren Regionensorgen und so – nicht nur durch den Stabilitätspakt imBalkan, sondern hoffentlich auch durch diese Konzepte –Stabilität erreichen.Für uns – dies sage ich auch als Grüne, und ich wun-dere mich, dass bisher noch gar kein Vorwurf vom Kolle-gen Breuer oder von anderen gemacht worden ist – gehörtzu den Konsequenzen aus den beiden Kriegen im Kosovound in Bosnien: Wir haben gelernt, dass die Bedrohun-gen und Konflikte in und rund um Europa neue Formenangenommen haben. Wir haben gelernt, dass dann, wennnichts anderes mehr hilft, der Einsatz von Militär als letz-tes Mittel, als Ultima Ratio, notwendig ist,
um zu versuchen, weitere Eskalationen zu verhindern.Aufgrund dieser Einsicht – Sie wissen, dass unserePartei lange darüber diskutiert hat – sagen wir: Wir wol-len eine wirkliche Reform. Dann, wenn wir aufgrund ei-nes internationalen Mandats noch einmal dazu gezwun-gen werden, die Bundeswehr einzusetzen, haben die Sol-daten das Recht, adäquat ausgestattet zu sein, dann habensie das Recht auf eine breite politische Unterstützung ausdem Parlament. Deswegen sind wir bei der Reform mitunserem Zahlenansatz sehr viel radikaler – das CDU-Mo-dell will ich gar nicht erwähnen, das ist „out of area“ derDiskussion – als zum Beispiel die SPD-Fraktion mit ihrenmomentanen Eckpunkten und auch als von Weizsäcker.Wir sind der Meinung, dass zukünftig 200 000 Solda-tinnen und Soldaten ausreichend sind. Dann können wirden Konsolidierungsrahmen des Haushaltes einhalten undden investiven Anteil erhöhen. Dann – dies ist uns beson-ders wichtig und ich glaube, das ist auch klar geworden –werden wir die Mittel haben, um in die Kriegsverhütungzu investieren. Dies ist allemal billiger, als sich an einemKrieg, der leider notwendig war, zu beteiligen.Ich will zum Bereich der Prävention ein Beispiel nen-nen. Uns wird immer unterstellt: Ihr redet immer nur da-von, macht aber überhaupt nichts. Das Gegenteil ist derFall. Wir haben angefangen, im Auswärtigen Amt Men-schen auszubilden, die international zur Prävention ein-gesetzt werden können. Wir haben erreichen können, dassvon der OSZE Beschlüsse zur schnellen Eingreiffähigkeitim zivilen Bereich gefasst wurden. Ich glaube, dass es gutist, wenn die Bundeswehr der Zukunft im Rahmen einersolchen präventiven Außenpolitik eingesetzt werdenkann, was dann auch bedeutet, dass die Unterstellungen,eine Freiwilligen- oder Berufsarmee sei automatisch eineRamboarmee, nicht untermauert werden. Vielmehr sollteim politischen Bewusstsein des Parlaments an ersterStelle stehen: Der Primat der Politik ist unbestritten, unddie Stärkung der inneren Führung und der politischen Bil-dung in einer Armee gleich welcher Wehrform ist weiter-hin im demokratischen Rahmen zu gewährleisten.Die Folge aus dem, was ich eben ausgeführt habe, heißtfür Grüne – auch das war ein schmerzlicher Diskussions-prozess; das sage ich ganz ehrlich –, die Verantwortungfür radikale Reduzierung und Modernisierung zu über-nehmen, friedenskompatibel und abrüstungskompatibel.Wenn ich noch einmal auf die Kommission und dabeibesonders auf die Wehrpflicht zu sprechen komme – ichhabe es eben schon am Rande gestreift –, so bin ich ausguten Gründen überzeugt: Diese Debatte hat verdeutlicht,dass die Position meiner Partei und Fraktion zutreffendist, auch wenn jetzt gesagt wird, es gibt keine politischeMehrheit zur Abschaffung der Wehrpflicht. Wir meinen:Die Wehrpflicht ist ein Auslaufmodell.
Wir sehen mit Zuversicht der weiteren Entwicklung ent-gegen. Ich will das aber auch begründen.Unsere Regierung hat gezeigt, dass sie handlungsfähigist. Wir haben mit dem heutigen Kabinettsbeschluss si-chergestellt, dass Frauen gleichberechtigt in der Bundes-wehr ihren Dienst tun können, ohne Diskriminierung. Wirgehen dann eben nur einen Schritt weiter – ich denke, dasist auch selbstverständlich –: Freiwilligkeit für Frauenmuss auch Freiwilligkeit für junge Männer bedeuten.Wenn Sie vorhin vielleicht doch die sicherheitspoliti-sche Analyse verfolgt haben, dann haben Sie erkannt, dassunser Staat zum heutigen Zeitpunkt kein Recht mehr hat,Jugendliche zu zwingen, ihren Lebensweg zu unterbre-chen und im Rahmen der Wehrpflicht oder des Zivildiens-tes einen Dienst zu tun. Deswegen setzen wir darauf, dasswir die freiwilligen Dienste insgesamt ausbauen. Frei-willigkeit für die Jugend bedeutet aber auch: Wir lehneneine allgemeine Dienstpflicht für Jugendliche ab. Dassage ich ganz klar, weil die eine oder andere Stimme in derletzten Zeit immer wieder kam; ich glaube, KollegeKossendey hatte so etwas einmal andiskutiert.
Frau Kollegin, gestat-ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nolting?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Angelika Beer10022
Nein,
heute nicht, sorry.
Eine allgemeine Dienstpflicht wird es mit uns nicht ge-
ben. Ich glaube, dass sie auch in der Gesellschaft nicht le-
gitimierbar wäre, genauso wenig wie die weitere Auf-
rechterhaltung des Zwangsdienstes für junge Männer.
Das letzte Kriterium will ich hier nicht verschweigen.
Wir machen keine Bundeswehrstruktur nach Finanzlage
oder Spardiktat von Finanzminister Eichel, sondern un-
sere Regierung hat die Verantwortung übernommen, den
Schuldenberg abzubauen und den Zustand der Bundesfi-
nanzen zu konsolidieren. Dazu haben wir Rahmenpunkte
beschlossen, und diese Rahmenpunkte werden wir ein-
halten. Das heißt auch ganz klar, dass die Bundeswehr
sich daran beteiligen muss.
Ich habe Verständnis dafür, dass das vielen schwer
fällt. Manches wird wehtun. Ich habe aber kein Verständ-
nis dafür, dass Unionsangehörige, die 16 Jahre lang Raub-
bau an der Bundeswehr betrieben haben,
sich jetzt hinstellen und sagen, alles ist gut, wir brauchen
nur mehr Geld.
Ich möchte zum Schluss allen Mitgliedern der Wehr-
strukturkommission und insbesondere auch Richard von
Weizsäcker dafür danken, dass sie den Auftrag der rot-
grünen Regierung umgesetzt haben.
Der Auftrag war, unter Analyse der sicherheitspolitischen
Rahmenbedingungen ein Reformmodell für die Bundes-
wehr zu entwickeln. Das hat die Kommission geleistet.
Jetzt ist es an der Politik, zu entscheiden, wie weit sie
geht, aber ich bin der Überzeugung, dass der konsequente
Reformansatz der Wehrstrukturkommission tatsächlich
Messlatte für die nächsten Jahre sein wird und dass eine
Annäherung an das alte Modell „Schieben, Strecken,
Streichen“ à la Rühe nicht tragfähig ist, weil sie in kurzer
Zeit eine neue Reformdebatte verursachen würde.
Noch einmal: Die Kommission hat ihre Arbeit getan.
Wir haben sie ebenso wie andere Konzepte begrüßt und
zum Teil kritisiert. Ich glaube, dass viele Reformvor-
schläge, die dort gemacht worden sind, in die Kabinetts-
beratungen und in die Vorlage des Bundesministers der
Verteidigung einfließen werden. Wir werden dann ent-
scheiden müssen, ob wir dem Interesse der Soldaten an
Planungssicherheit gerecht werden können. Sie verlan-
gen nun endlich Planungssicherheit, weil sie gerade bei
internationalen Einsätzen gemerkt haben, dass der Re-
formstau der letzten Jahre zulasten der Einsatzfähigkeit,
der Kommunikation und der Möglichkeit einer multina-
tionalen Zusammenarbeit geht.
Gleichgültig, wie die Entscheidung aussehen mag: Ich
sehe uns auf gutem Wege, von einem bornierten national-
staatlichen Streitkräftedenken zu einer europäischen Ge-
meinsamkeit zu kommen, die nicht nur militärisch-si-
cherheitspolitisch orientiert ist, sondern die Frage der Kri-
sen- und Kriegsverhinderung ganz in den Vordergrund
stellt.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun der
Kollege van Essen, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Seit der deutschen Wiedervereini-gung haben wir uns von vielen Illusionen verabschiedenmüssen. Es hat nicht den sicheren Frieden gegeben, anden viele geglaubt haben, sondern im letzten Jahr einenheißen Krieg mitten in Europa.Wir brauchten bei dem Einmarsch in den Kosovo wie-der schwere Panzer, obwohl alle Experten Anfang derNeunziger Jahre die Zeit für leicht bewegliche und leichtgepanzerte Truppen gekommen sahen.
Unsere Truppen sind immer noch auf dem Balkan, ob-wohl wir zu Beginn unseres Engagements glaubten, dassdas Ganze allenfalls ein Jahr dauern würde. In diesem Zu-sammenhang ist festzustellen, dass die Zahl der Krisenre-aktionskräfte hinten und vorne nicht reicht.
Die Forderungen sind deshalb klar: eine Reform derStreitkräftestruktur für eine leistungsfähige und attraktiveBundeswehr mit dem Ziel der Gliederung in Einsatz-streitkräfte und eine Basisorganisation sowie eine weitereDifferenzierung der Wehrpflicht und Verkürzung derWehrdienstdauer auf das unbedingt notwendige Maß, dieVerringerung des Personalumfangs der Bundeswehr aufeine sicherheitspolitisch vertretbare und staatspolitischverantwortbare Größenordnung, die Anhebung der Fi-nanzmittel für Zeit- und Berufssoldaten, die Höherdotie-rung der Einstiegsgehälter und – besonders wichtig – dieschnelle Anhebung der Ostgehälter auf Westniveau.
Weiter ist zu fordern: die Anhebung der investivenAusgaben im Verteidigungshaushalt auf mindestens30 Prozent, die Steigerung der Effizienz der Bundeswehrdurch Rationalisierung und Privatisierung, wo immermöglich, und schließlich die Öffnung aller Truppengat-tungen für Frauen.Ich habe jetzt nicht aus dem Eckwertepapier des Minis-ters vom 1. Juni 2000 zitiert,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000 10023
obwohl man dort vieles von den Forderungen, die ich ge-rade vorgetragen habe, findet. Ich habe vielmehr aus demWahlprogramm der F.D.P. für die Bundestagswahl 1998zitiert.
Zwei Jahre sind mittlerweile vergangen, und 20 Monaterot-grüner Regierung liegen hinter uns. Bisher hat sich lei-der nichts getan. Anstatt unverzüglich an die notwendigenPlanungen – deren Notwendigkeit ich Ihnen zugestehe –heranzugehen, hat die Regierung unheimlich viel Zeit da-durch verspielt, dass sie eine Kommission einberufen hat.
Die Tatsache, dass die Zeit verspielt worden ist, kön-nen Sie an einem ganz einfachen Vorgang erkennen: DieF.D.P.-Bundestagsfraktion hat im Frühjahr letzten Jahresihr Positionspapier zu einer Reform der Bundeswehr vor-gestellt. Dieses Papier enthält 80 Prozent dessen, was derHerr Minister heute als sein eigenes Konzept vorstellt.Das macht deutlich, dass nahezu alle Entscheidungen be-reits Anfang des letzten Jahres hätten getroffen werdenkönnen.
Jeder weiß auch, warum es so lange gedauert hat. Unswar für heute zunächst eine Regierungserklärung an-gekündigt worden. Diese gibt es nicht, und zwar aus ei-nem ganz einfachen Grund: In dieser Frage herrscht zwi-schen SPD und Grünen keine Übereinstimmung.
Die Grünen sind offensichtlich der Auffassung, dass manauch in diesem Punkt den verstaubten Forderungen derAlt-68er folgen muss und dass das deshalb hier noch ein-mal präsentiert werden muss.
Dies geht immer noch nach dem Motto: Was schadet derBundeswehr am meisten? Das kann so nicht sein. Wirmüssen zusammenarbeiten. Es muss so sein, dass dieBundeswehr auf die breite Zustimmung des ganzen Hau-ses bauen kann. Deshalb hoffe ich, dass wir zu einer Lö-sung kommen werden, die eine breite Mehrheit im Hausefinden wird.
Wir sind im Übrigen – das zeigt die Übereinstimmungvon 80 Prozent mit unserem Positionspapier – mit vielenÜberlegungen des Ministers einverstanden, nämlich mitder Reduzierung der Bundeswehr bei gleichzeitiger Auf-stockung der Einsatzkräfte auf 150 000 Soldaten. Das istüberfällig, weil es sicherheitspolitisch und finanziell ge-boten ist. Durch die Stärkung des Generalinspekteurs undden Aufbau eines ihm direkt unterstellten Einsatzstabesentsteht de facto der von uns geforderte Generalstab. DerGeneralinspekteur ist sein Chef und militärischer Be-fehlshaber.Uns gefällt auch die Zusammenarbeit mit der Wirt-schaft. Nur so lässt sich die Entlastung der Bundeswehrvon nicht verteidigungsrelevanten Aufgaben bewerkstel-ligen.Schließlich sind wir, weil wir die einzige Fraktion imDeutschen Bundestag waren, die das seit Jahren geforderthat, sehr froh, dass es eine Öffnung der Bundeswehrohne Einschränkung für die Frauen gibt. Ich sage aberauch deutlich: Wir bestehen darauf, dass das auf einerverfassungsrechtlich gesicherten Grundlage geschieht.
Die Absicht der Bundesjustizministerin, das auf derGrundlage einer Auslegung des Grundgesetzes durchzu-führen, wird unseren schärfsten Widerstand finden. DieFrauen haben es nicht verdient, dass Karlsruhe derBundesregierung hinterher eine Lektion erteilt.
Lassen Sie mich auch eine persönliche Bemerkung ma-chen. Ich war in der Bundeswehr Wehrpflichtiger. MeinBatteriechef während meiner Wehrpflichtzeit war der da-malige Oberleutnant von Kirchbach. Ich hatte ihn danachnoch zweimal zum Vorgesetzten: einmal als Brigadekom-mandeur, einmal als Divisionskommandeur. General vonKirchbach hat mich und viele andere Soldaten geprägtwie kaum ein Vorgesetzter. Er war ein Beispiel in seinerpersönlichen Dienstgestaltung. Er war ein Beispiel in derForm, wie er mit uns Soldaten umgegangen ist. Deshalbtrifft es mich persönlich, wie mit dem Generalinspekteurin dieser Sache umgegangen worden ist.
General von Kirchbach hat sich Verdienste in denneuen Bundesländern erworben, die wir alle kennen.
Deshalb bedaure ich es zutiefst, dass seine Funktion alsGeneralinspekteur, als höchster Soldat der Bundeswehr,in einer vorzeitigen Zurruhesetzung endet.
– Das ist genau das Gegenteil von innerer Führung, wieder Kollege Breuer sagt.
Der Generalinspekteur ist, wie ich glaube, offensichtlichmissbraucht worden. Die Überlegungen der Weizsäcker-Kommission gingen in eine andere Richtung als dieÜberlegungen des Ministers. Deshalb wurde derGeneralinspekteur gebeten, ein Papier zu erarbeiten – of-fensichtlich ohne Vorgaben, wie es von der politischenLeitung zu erwarten ist. Das Ergebnis war, dass man ihn
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Jörg van Essen10024
hat im Regen stehen lassen. Das kann so nicht sein und ist,wie ich finde, menschlich zutiefst unanständig.
Ich habe viele Punkte angesprochen, in denen wir mitdem Minister übereinstimmen. Ich will aber auch die Un-terschiede deutlich machen. Wir können uns mit dem vonIhnen angedachten flexiblen Wehrdienst nicht einver-standen erklären. Sie wissen, Herr Minister, dass Ihnenalle Kommandeure davon abgeraten haben, und zwar ausguten Gründen. Jeder, der einmal selbst Kommandeur ge-wesen ist – ich bin es regelmäßig –, weiß, mit welcherEinstellung die Soldaten kommen, die nach dem Aus-scheiden aus der Bundeswehr wieder für kurze Zeit ein-berufen werden. Sie können es möglichst unbürokratischregeln wollen, es wird trotzdem besonders teuer werden,Soldaten, die sechs Monate Grundwehrdienst geleistet ha-ben, für eine kurze Zeit wieder einzuberufen.Ich sage Ihnen auch voraus: Jeder von denen, die füreine kurze Zeit wieder in der Bundeswehr Dienst tun sol-len, wird Tausende von Gründen finden, warum er es nichttut. Die Wehrgerechtigkeit wird darunter leiden: DieDummen leisten neun Monate Wehrdienst. Andere wer-den nur sechs Monate Grundwehrdienst leisten und dannversuchen, sich zu drücken. Das kann nicht das Ergebniseiner Reform sein.
Im Übrigen, Herr Minister, müssen Sie die Frage be-antworten, wie Sie eigentlich die notwendige Zahl anWehrpflichtigenstellen schaffen wollen. Sie gehen von77 000 Stellen aus. Wer die Grundrechenarten beherrscht,weiß, dass Sie bei neun Monaten Grundwehrdienst ei-gentlich 135 000 Stellen benötigen.
– Die Zahl der Wehrübungsplätze – der Hinweis ist rich-tig – ist ständig reduziert worden, sodass es erheblicheProbleme geben wird. Hier werden Sie auf unseren ent-schlossenen Widerstand stoßen.Die Bundeswehr – das sollen meine letzten Bemer-kungen sein; ich habe schon vorhin dazu angesetzt – istein Parlamentsheer. Die Bundeswehr lebt davon, dass ihreEinsätze eine breite Unterstützung im Deutschen Bundes-tag finden. Deshalb ist die F.D.P. zu Gesprächen über dieFrage bereit, wie wir eine moderne, den Anforderungengerecht werdende Bundeswehr schaffen können.Vielen Dank.
Das Wort hat nun der
Vorsitzende der PDS-Fraktion, Dr. Gregor Gysi.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichglaube, das Problem der heutigen Debatte besteht zumTeil darin, dass sie zehn Jahre zu spät kommt. Das ist einVorwurf, den man wirklich nicht der heutigen, sondernder vergangenen Koalition machen muss.
Im Jahr 1990 gab es in Europa den bisher größten Um-bruch: Der Warschauer Pakt brach zusammen; die Natio-nale Volksarmee wurde aufgelöst; die Sowjetunion brachein Jahr später zusammen. Das heißt, der Kalte Krieg gingzu Ende, und viele Strukturen, die in der alten Bundesre-publik Deutschland entstanden waren, hatten natürlichmit dem Kalten Krieg zu tun. Dies bezog sich sowohl aufdie Bundeswehr als auch auf den BND und viele andereEinrichtungen. Ich habe mich schon damals ungeheuergewundert, dass diese Institutionen einfach so weiter-machten, als ob sich auf der Welt nichts verändert hätte.Damals hat die Notwendigkeit einer ernsthaften politi-schen Diskussion über die Fragen bestanden – ich sprechenoch gar nicht von Strukturveränderungen –: Wie sollendie Aufgaben solcher Einrichtungen in der Zukunft aus-sehen? Brauchen wir sie noch oder brauchen wir sienicht? Wenn wir sie brauchen, wofür brauchen wir siedann und in welchem Umfang? Diese politische Diskus-sion hat im Grunde genommen nie stattgefunden. Das istnun wirklich ein Versäumnis der alten Bundesregierung.Deshalb halte ich den Vorwurf, die neue Bundesregierunghabe sich viel Zeit gelassen, für unbegründet. Tatsächlichhat sich die alte Bundesregierung nach 1990 acht Jahrelang Zeit gelassen. Damals hätte diesbezüglich etwas ge-schehen können.
Was passiert nun in einer Situation, wie ich sie geradebeschrieben habe? In einer solchen Situation beginnen dieInstitutionen, sich selbst Gedanken darüber zu machen,was aus ihnen werden könnte. Ich nenne Ihnen ein Bei-spiel: Im Plutoniums-Untersuchungsausschuss stellte sichheraus, dass sich der BND mit kriminellem Plutonium-handel in Russland und in anderen Ländern beschäftigthatte. Diese Aufgabe war ihm gar nicht von der Politikvorgegeben worden; vielmehr hatte sich der BND dieseAufgabe selber gesucht, nachdem die alten Aufgabenweggefallen waren. Das heißt, wenn die Politik nichtVorgaben macht und bestimmt, was unter völlig verän-derten politischen Bedingungen aus solchen Institutionenwerden soll, dann suchen sich die entsprechenden Ein-richtungen selbst ihre Aufgaben.
Das haben wir auch bei der Bundeswehr erlebt. Ichmöchte Sie daran erinnern, dass im Jahre 1992 das erstewirkliche Dokument bezüglich der Frage auf den Tischkam, was mit dieser Institution geschehen soll, und zwarvorgelegt vom damaligen Generalinspekteur der Bundes-wehr, von Herrn Naumann. Nicht die Politik, sondern derGeneralinspekteur hat ein Papier erarbeitet, das doku-mentiert, wie er sich künftig die Aufgaben der Bundes-wehr vorstellt. Allein an diesem Vorgang wird das Ver-säumnis der Politik deutlich.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Jörg van Essen10025
Ich habe das damals von Herrn Naumann vorgelegtePapier scharf kritisiert. Ich möchte Ihnen ein Beispiel nen-nen, warum ich das getan habe: Der Generalinspekteur hatgefordert, dass der Einsatz der Bundeswehr auch dann in-frage kommen solle, wenn der freie Welthandel in irgend-einer Form beeinträchtigt sei. Der Kollege Breuer hat da-mals darauf hingewiesen, dass der freie Welthandel völ-kerrechtlich geschützt sei; deshalb sei dies eine völliglegitime Forderung. Ich finde sie aberwitzig, weil es un-terschiedliche Arten von Völkerrechtsverletzungen gibt.Nicht auf jede Völkerrechtsverletzung, sondern nur aufsehr wenige Völkerrechtsverletzungen darf mit Militärreagiert werden. Diese Fälle sind in der Charta der Ver-einten Nationen geregelt. Die Störung des freien Welt-handels gehört ganz bestimmt nicht dazu. Aber solcheIdeen entstehen natürlich, wenn sich die Politik keine Ge-danken über Struktur und Aufgaben einer Institutionmacht.Der damaligen Opposition – da schließe ich mich ein –muss ich allerdings einen Vorwurf machen: Wir haben da-rauf nicht genügend gedrängt. Das müssen wir ehrlicher-weise zugeben. Deshalb können wir die Verantwortungnicht nur bei der Regierungskoalition, sondern auch beiuns sehen. Das will ich in diesem Zusammenhang deut-lich sagen.Im Übrigen darf ich daran erinnern, wie schwer es inder letzten Legislaturperiode war, die Frage der Traditi-onspflege zu klären.
Wissen Sie noch, wie Vertreter Ihrer Fraktion hier darumgekämpft haben, dass jeder Wehrmachtsgeneral in derTradition der Bundeswehr erhalten bleibt? Zwar gab es inIhrer Fraktion unterschiedliche Auffassungen, aber gere-det haben immer nur diejenigen, die für die alten Namenwaren. Es war schwer, ein bestimmtes Denken zu über-winden. Wenn die Politik das nicht leistet, dann könnenwir es von den Institutionen erst recht nicht erwarten.Lassen Sie mich etwas zur Zukunft sagen. Es kanndoch nur um die enge Anlehnung an das Grundgesetz ge-hen. Das Grundgesetz stellt für die Bundeswehr einen kla-ren Verteidigungsauftrag – Landesverteidigung undBündnisverteidigung – fest. Alle jetzt gemachten Vor-schläge laufen mehr oder weniger darauf hinaus, zuklären, wie die Bundeswehr international eingesetzt wer-den kann, auch wenn kein Fall von Landesverteidigungund kein Fall von Bündnisverteidigung vorliegt. Ich willdeutlich sagen: Derartige Vorschläge gehen an der Ver-fassung vorbei.
Herr van Essen, auch in diesem Falle ist die Verfassungnie geändert worden; es gab immer nur unterschiedlicheInterpretationen. Gegen diese Art von Denken stellen wiruns allerdings ganz eindeutig: Eine reduzierte Bundes-wehr, die wirklich die Aufgabe der Landesverteidigungund gegebenenfalls der Bündnisverteidigung hat, bejahenwir. Das geschieht natürlich mit dem Ziel – übrigens stehtauch das in dem F.D.P.-Programm –, irgendwann zu einerWelt ohne Armeen und Waffen zu kommen.
Dieses Ziel behalten wir uns genauso vor, wie es dieF.D.P. in ihrem Parteiprogramm formuliert hat.Aber auf dem Weg dahin – ich räume ein, dass das eineweite Strecke ist – müssen wir über Schritte in diese Rich-tung nachdenken: Reduzierung der Streitkräfte und Ab-rüstung. Es geht also nicht darum, Interventionsfähigkeitzu schaffen, sondern sich auf Verteidigungsfähigkeit zubeschränken. Genau das ist die Zielstellung, die wir in un-serem Vorschlag für eine 100 000-Personen-Armee unter-breitet haben. Dies ist übrigens nicht ohne Gespräche mitSoldaten und Experten geschehen, die uns gesagt haben,dass sowohl Landesverteidigung als auch Bündnisvertei-digung mit einer solchen Armee zu gewährleisten wären,wenn man nicht mehr will. Aber das haben offensichtlichalle anderen Fraktionen in diesem Hause vor.
Lassen Sie mich noch etwas zur Frage derWehrpflichtsagen. Haben wir denn in dem Sinne noch eine Wehr-pflicht? Nehmen Sie diesen Begriff doch einmal wörtlich.Die Angelegenheit hängt mit der Einschätzung desSicherheitsrisikos zusammen. Ich behaupte, dass es imAugenblick keine Wehrpflicht mehr, sondern eine Sicher-heitsdienstpflicht ist, weil es ein irgendwie nennens-wertes, absehbares, akutes Sicherheitsrisiko für die Bun-desrepublik Deutschland in verteidigungspolitischer Hin-sicht nicht gibt. Das gilt trotz der Situation auf demBalkan.
– Mit der Vorsorge ist das immer eine schwierige Sache.Als die Wehrpflicht eingeführt wurde und überhaupt inder ganzen Zeit des Kalten Krieges gab es eine völlig an-dere Situation. Damals ließ sich die Wehrpflicht in der Be-völkerung viel leichter erklären, weil jeden Tag aufgrunddes Kalten Krieges ein „heißer Krieg“ ausbrechen konnte.Diese Situation ist einfach nicht mehr da. Sie könnennicht mit lauter Nebenargumenten versuchen, ein Instru-ment aufrechtzuerhalten, das letztlich im Kalten Kriegentstanden ist und das heute seine Berechtigung verlorenhat.
Das stärkste Argument ist es, zu sagen, dass auch eineBerufsarmee große Risiken beinhaltet und dass es einenständigen Austausch mit der Gesellschaft geben muss.Diesem Argument stehen auch wir nicht gleichgültig ge-genüber. Deshalb war unser Vorschlag: Wie wäre es miteiner Armee, die zu einem bestimmten Teil aus Berufs-soldaten und zu einem größeren Teil aus Zeitsoldaten –unterschiedliche Fristen bis maximal zwölf Jahre; siekönnen auf freiwilliger Basis auch geringer sein – be-steht? So hätte man über die Zeitsoldaten einen ständigenAustausch mit der Gesellschaft.Die Situation, dass bestimmte Menschen zur Bundes-wehr müssen und andere nicht, besteht doch schon heute.Es gibt eine ganz bestimmte Gruppe von Menschen – esist keine geringe Zahl –, die immer den Kriegsdienst ver-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Dr. Gregor Gysi10026
weigern und Zivildienst leisten wird; insofern gibt esschon heute diese Art von Trennung. Mit unserem Modellkönnte zumindest dem Anliegen des Austauschs mit derGesellschaft entsprochen werden. Auf die Wehrpflichtkann man einfach verzichten; sie ist nicht mehr zeit-gemäß.
Alle Argumente, die Sie für die Wehrpflicht zu finden ver-suchen, sind letztlich an den Haaren herbeigezogen.Die Kollegin Beer hatte versprochen, etwas zur Ein-schätzung des Sicherheitsrisikos zu sagen. Sie hat esnicht getan, obwohl sie es angekündigt hat. Ich dachte, et-was Neues zu lernen; aber es ist nichts gekommen. Ichwill ihr heute jedoch alles nachsehen und werde mich des-halb mit ihr wenig auseinander setzen, trotz aller politi-schen Differenzen, die auch bleiben werden. Ich findediesen Überfall einfach schrecklich und unsäglich. Hiermüssen wir deutliche Zeichen gegen Gewalt – auch nachinnen in die Gesellschaft – setzen. So etwas darf es ein-fach nicht geben. Das ist nicht hinnehmbar und duldbar.
Wenn wir nicht anfangen umzudenken, wenn wir unsnicht erst einmal über die Aufgaben der Bundeswehr ver-ständigen, werden wir zu Lösungen zumindest in der Art,wie wir sie für angemessen hielten, nicht kommen. DieDiskussionen werden weitergehen.Lassen Sie mich deshalb noch zu einigen wenigen Din-gen etwas sagen, die hier angesprochen worden sind,zunächst zu der Art der Entlassung des Generalinspek-teurs von Kirchbach. Auch mich ärgert das, und zwar är-gert mich das deshalb, weil man die Begründung nicht er-fährt. Man kann nur spekulieren. Nun muss ich Ihnen vonder CDU/CSU und der F.D.P. allerdings sagen: Sie habendas Gesetz verabschiedet, wonach das nicht zu begründenist. Jetzt können Sie sich nicht darüber beschweren, dassdieses Gesetz auch angewandt wird. Dann müssen wireben die Gesetze diesbezüglich verändern. Es ist nun ein-mal so, dass man solche Beamten ohne Begründung ent-lassen kann, was ich übrigens als einen großen Nachteilempfinde; denn ich meine, auch diese Menschen habeneinen Anspruch darauf, zu erfahren, warum sie entlassenwerden, genauso wie die Öffentlichkeit eigentlich einenAnspruch darauf hätte. Ich finde es bedauerlich, dass dasgesetzlich anders geregelt ist.Ich habe mich sehr gefreut, dass die Kollegin Beer hiervon der Forcierung der zivilen Konfliktprävention und-bewältigung gesprochen hat. Sie hat auch gesagt, dasszum Beispiel in Bezug auf den Kosovo diese Möglich-keiten nie ausgeschöpft worden sind. Da aber gibt es ei-nen großen Widerspruch. Wenn sie denn nie ausgeschöpftworden sind, dann war der Krieg eindeutig falsch, den wirimmer verurteilt haben, zumal er unter Verletzung desVölkerrechts zustande kam. Dann hätte man eben die zi-vilen Konfliktvorbeugungs- und -bewältigungsmöglich-keiten ausnutzen müssen.
Ich kann Ihnen sagen, dass diesbezüglich die Initiati-ven der neuen Regierung nicht besonders glaubwürdigsind. Die Friedensforschung erhält seit Jahren keineMark mehr, sondern Jahr für Jahr ist dafür im Haushaltweniger vorgesehen. Hier hatten wir auf eine wirklicheKorrektur gehofft. Sie findet aber nicht statt. Die Frie-densinstitute, die in der heutigen Debatte so gut wie garkeine Rolle spielten, haben hochinteressante Vorschlägeunterbreitet, zum Beispiel zur Abschaffung der Wehr-pflicht und zur Reduzierung der Streitkräfte. Sie gehennicht so weit wie wir, was die 100 000-Personen-Armeeangeht. Ich sage extra „Personen“, nicht „Mann“ oder„Frau“. Das wäre wieder ein eigenes Thema. In dieserFrage sind auch wir uns – das will ich gar nicht bestrei-ten – nicht einig. Das müssen wir weiter diskutieren. Soetwas gibt es halt auch in der PDS.Eine der wichtigsten Sachen, die im Eckwertepapiernicht vorkommt, wäre es meines Erachtens, aus Gründender inneren Einheit endlich die Dienstbezüge in Ost undWest anzugleichen. Sie können eine unterschiedliche Be-zahlung gerade in einer einheitlichen Armee eines Landesüberhaupt nicht begründen.
– Das stimmt nicht, sagt meine Kollegin gerade. KlärenSie das miteinander. Ich war nicht im Verteidigungsaus-schuss. Ich kann nur eines dazu sagen: Es ist nicht hin-nehmbar, dass selbst beim Einsatz im Kosovo Soldatenunterschiedlich bezahlt werden, je nachdem, ob sie ausden neuen oder aus den alten Bundesländern kommen.
– Moment! Sie wurden zunächst unterschiedlich bezahlt.Das ist dann erst korrigiert worden. Man hätte gar nichterst auf die Idee kommen dürfen, es so zu gestalten. Dasgilt heute noch bei der Dienstausübung. Das ist nichthinnehmbar.Lassen Sie uns also wirklich Friedenspolitik machen,lassen Sie uns Abrüstungspolitik machen. Lassen Sie unsdie Bundeswehr umstrukturieren zu einer reinen Verteidi-gungsarmee. Die Bundeswehr wird nicht international füralle möglichen Einsätze gebraucht. Dafür könnte man zi-vile Einrichtungen fördern, die das viel besser können, alsjede Armee es kann. Das muss der Weg sein. Dann kannman sich auch gemeinsam auf Aufgaben der Bundeswehrin wesentlich kleinerer Größe verständigen.Ich sage Ihnen – ob Sie es wahrhaben wollen odernicht –: Es dauert keine zehn Jahre mehr und die Wehr-pflicht ist vorüber, einfach weil sie nicht mehr zeitgemäßist.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Dr. Gregor Gysi10027
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Peter Zumkley, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Die Bundes-wehr als Parlamentsheer sicher in die Zukunft zu führenist die Aufgabe, vor der wir alle stehen. Wenn ich „wir“sage, dann meine ich wirklich das ganze Haus. Wir allesind jetzt aufgerufen, die notwendige Reform unsererStreitkräfte einzuleiten. Die SPD-Bundestagsfraktion willeine mit Sorgfalt und der gebotenen Präzision vorbereiteteReform der Bundeswehr. Sie sollte auch im Hinblick aufdie heutige Diskussion sowie die kommenden Diskussio-nen und Auseinandersetzungen auf einem breiten gesell-schaftlichen und parlamentarischen Konsens beruhen undvon den Betroffenen darüber hinaus weitgehend mitgetra-gen werden. Darum sollten wir uns auch bemühen.
Deshalb bilden die Vorschläge der Kommission „Ge-meinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr“ unddie vom Bundesverteidigungsminister vorgelegten Eck-werte die Grundlage für unsere Entscheidung. Nebendem Dank an die Kommission – mein Kollege Erler hatdarauf schon hingewiesen – gebührt auch dem Verteidi-gungsminister Dank für die Vorbereitung der Reform undfür die bereits erfolgte Einleitung wichtiger Weichenstel-lungen zur Zukunftssicherung der Bundeswehr. Sein Eck-pfeilerpapier stellt eine fachlich überzeugende, tragfähigeGrundlage für die überfällige Strukturreform der Streit-kräfte dar.Lieber Kollege Breuer, Sie haben ja vorhin ein biss-chen genörgelt. Fragen Sie aber doch erst einmal dieFachverbände, was sie davon halten.
Es gibt ein positives Echo. Wir können uns auf sachlicherEbene sicherlich über das eine oder andere unterhalten.Aber es verhält sich so, wie ich es sage.
Sorgen Sie bitte mit dafür, dass wir von seiten der Oppo-sition klare, einheitliche Vorschläge bekommen. Die Si-gnale, die wir im Moment auffangen, sind – das ist keinVorwurf – noch unterschiedlich.
Um es gleich zu sagen: Das gilt natürlich auch für die Ko-alition, aber eben auch für Sie. Deswegen antworte ich Ih-nen auch darauf.
Es nutzt dann gar nichts, wenn Sie unsachlich werden.Wir hören von Ihrer Seite zugleich Zustimmung und Ab-lehnung und vielerlei Signale, die dazwischenliegen.
Wir gehen davon aus, dass Sie Ihre Vorschläge vorbringenund mit uns diskutieren.Das Ziel der Neugestaltung der Bundeswehr muss essein, die Strukturen den veränderten Anforderungen derBündnis- und Landesverteidigung sowie der Krisen-und Konfliktbewältigung anzupassen. Dies schließt,meine Damen und Herren, auch die Fähigkeit zur Präven-tion ein. Deshalb sind eine Straffung der Führungsebe-nen, die Schaffung flexibler modularer Strukturen beihochmobilen, gut ausgebildeten Verbänden unter best-möglichem persönlichem Schutz unserer Soldaten sowieeine einsatzorientierte Ausbildung erforderlich. Ich gehedavon aus, dass wir hier gar nicht so weit auseinander lie-gen. Wahrscheinlich stimmen wir darin sogar überein.
Hierzu haben die Kommission und Rudolf Scharpingübereinstimmende Vorstellungen entwickelt, die wiruneingeschränkt mittragen.Die Bundeswehr wird ihre Aufgaben künftig mit weni-ger Personal erfüllen können. Stichworte hierzu sind: ver-änderte sicherheitspolitische Lage, NATO-Osterweite-rung und Optimierung der Bundeswehr hinsichtlich ihrerEffizienz. Der zukünftige Personalumfang ist so bemes-sen, dass die Bundeswehr ihre Aufgaben nach unsererÜberzeugung mit der erforderlichen Durchhalte- und Ko-operationsfähigkeit gemeinsam mit den Bündnispartnernwahrnehmen kann. Bei einer Umfangstärke von 277 000,davon 200 000 Berufs- und Zeitsoldaten sowie 77 000Wehrpflichtigen, und zusätzlich circa 80 000 Zivilbe-schäftigten ist dies nach unserer Auffassung auch zu rea-lisieren. Sie, Herr Kollege Breuer, haben die Spielräumeangesprochen: Ihre und unsere Regierung haben immermit einem Spielraum gearbeitet. Ich erinnere an die Soll-stärke von 340 000, während die Iststärke bei Ihnen wiebei uns um den Wert 320 000 schwankte. Insofern gibt esimmer Spielräume. Es ist deshalb ein Zeichen von Ehr-lichkeit, dass wir dieses in unserem Papier so geschriebenhaben. Wir hoffen, dass diese groben Schwankungen, wiesie bisher und bis heute stattfinden, künftig ein wenig ein-gedämmt werden können.
Herrn van Essen möchte ich gerne sagen, dass 77 000Wehrpflichtige nicht 77 000 Tagen entsprechen. Denn beieiner Dauer der Wehrpflicht von neun Monaten oder, wieschon einmal angedacht, von sechs plus drei Monaten, er-geben sich mehr Plätze. Wir werden das durchrechnen. Esist ja eine berechtigte Forderung, dass Wehrgerechtigkeitund Bedarf in Einklang zu bringen sind. Wir werden dassorgfältig ausrechnen und dann auch darüber reden. Bittesagen Sie aber nicht von vornherein, es gehe nicht. Wirsind der Auffassung, dass es geht. Darüber wird auch imVerteidigungsausschuss und auch woanders zu reden sein.Die Wehrpflicht – mein Kollege Erler hat darauf hin-gewiesen – wollen wir beibehalten. Dabei ist die Alterna-tive einer Freiwilligenarmee sorgfältig abgewogen wor-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 200010028
den. Das Pro und Kontra der Wehrpflichtarmee und derFreiwilligenarmee sind übrigens auch in der Öffentlich-keit sehr breit und intensiv diskutiert worden.Wir in der SPD-Bundestagsfraktion sind der Auffas-sung, dass gewichtige Gründe für die Beibehaltung derWehrpflicht bestehen. Aber diejenigen, welche jene ver-teufeln, die sagen, wir wollen eine Freiwilligenarmee ha-ben, verkennen, dass dieser Standpunkt durch breiteSchichten der Gesellschaft vertreten wird. Ich bin ein Be-fürworter der Wehrpflicht. Aber es gibt gute Gründe, dieman nicht einfach wegwischen kann, die für eine Freiwil-ligenarmee sprechen. Ich bin für Sachlichkeit in der Dis-kussion. Dem einen oder anderen, der dies oder jenes will,darf man nicht unterstellen, dass er etwas Böses mit derBundeswehr vorhat.
Wenn wir die Wehrpflicht beibehalten, dann muss dieZahl der Wehrpflichtigen erstens dem Bedarf der Streit-kräfte entsprechen und zweitens Wehrgerechtigkeit mög-lich machen. Dies wird mit den Vorschlägen des Vertei-digungsministers möglich sein. Die Dauer des Wehrdiens-tes muss aber so bemessen sein, dass eine gute Aus-bildung und ein sinnvoller Einsatz unserer Wehrpflichti-gen gewährleistet bleibt. Deshalb stimmt die SPD-Frak-tion einer gesetzlichen Wehrpflicht von neun MonatenDauer und auch der Möglichkeit einer abschnittsweisenAbleistung zu.Eine moderne aufgabenorientierte Bundeswehr musswirtschaftlicher und effektiver werden, auch da gibt eswahrscheinlich großen Konsens. Ein ganzheitliches, auf-gabenbezogenes und teilzeitkraftübergreifendes Sys-temdenken ist dringend notwendig.Der Rahmenvertrag „Innovation, Investition und Wirt-schaftlichkeit in der Bundeswehr“ mit führenden Unter-nehmen in der Industrie ist hierzu ein richtungsweisendesProjekt. Es trägt den Forderungen nach Flexibilisierungund Modernisierung Rechnung. Gleichzeitig muss dieModernisierung der Ausrüstung und deren Anpassung andas neue Aufgabenspektrum erfolgen. Hier gibt es drin-genden Nachholbedarf. Es ist schwierig genug.Unsere klare Unterstützung hat Rudolf Scharping fürseine Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität desDienstes in der Bundeswehr, den Abbau des Verwen-dungsstaus für die neuen Unteroffizierslaufbahnen unddie Öffnung der Bundeswehr für Frauen in allen Ver-wendungen.Die Bundeswehr wird auch nach der Reform der größteArbeitgeber in Deutschland bleiben. Bei Standortent-scheidungen teilen wir die Absicht des Ministers, dieTruppe flächendeckend über das gesamte Bundesgebietverteilt zu lassen. Dies schließt Optimierungen und Prü-fungen insbesondere von Kleinstandorten nicht aus. Da-durch sind ein heimatnaher Einsatz unserer Soldaten, ihreVerankerung in der Bevölkerung und auch wirtschaftlicheInteressen der Regionen gesichert.Wir setzen auf eine rechtzeitige Einbeziehung der Be-troffenen sowie auf Transparenz und Verlässlichkeit beiden zu treffenden Entscheidungen. Eine reformierte, um-strukturierte Bundeswehr, meine Damen und Herren auchvon der Opposition, muss solide finanziert werden. Darinstimmen wir überein. Sie muss so mit Finanzmitteln aus-gestattet werden, dass sie ihren Aufgaben nachkommenund die notwendige Modernisierung einleiten kann.Durch die Umstrukturierung und Reform werden zwei-fellos Mittel für notwendige Umschichtungen im Vertei-digungshaushalt frei. Sie müssen vor allem zur Erhöhungder Investitionen genutzt werden. Rationalisierungsge-winne zum Beispiel müssen im Einzelplan 14 bleiben.Meine Damen und Herren, die Angehörigen der Bun-deswehr, Soldaten und zivile Mitarbeiter, haben einen An-spruch auf Fürsorge. Die zu treffenden Entscheidungenüber Umfang, Ausbildung und Ausrüstung der Streitkräftemüssen deshalb für die Betroffenen und ihre Angehörigentransparent und planbar gestaltet werden. Die notwendi-gen Maßnahmen sollten unverzüglich beginnend ab 2001sozial verträglich und ohne betriebsbedingte Kündigun-gen umgesetzt werden.Die vom Bundesverteidigungsminister angesproche-nen Maßnahmen beschreiben einen realistischen Weg zurLösung der derzeitigen Unzulänglichkeiten in der Bun-deswehr. Nach Jahren des ständigen Umbaus bekommendie Streitkräfte endlich langfristige Planungssicherheitund Zeit zur Konsolidierung.Ich danke ihnen.
Das Wort hat nun der
Kollege Christian Schmidt, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsi-dentin! Meine Damen und Herren! Ich habe sicherheits-halber gleich die Lektüre mitgebracht, um mich nicht demVorwurf auszusetzen, ich hätte das nicht gelesen.
Ich habe es, bevor ich es mitgebracht habe, auch gelesen,sogar einige Dinge angestrichen, die ich zitieren möchte.
Aber vorweg möchte ich mich dem Verein gegen dasVergessen anschließen. Ich möchte einfach die letztenzehn Jahre der Verteidigungspolitik in einigen wenigenStichworten Revue passieren lassen.
Die Kollegen, die schon in Bonn im Bundestag saßen,werden sich noch gut an die – lassen Sie mich sagen –
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Peter Zumkley10029
„Schlachtordnung“ erinnern, die damals bestand, als esum Kambodscha ging, als es um Somalia ging, als es umden AWACS-Einsatz im ersten Jugoslawienkonfliktging. Damals saßen auf der linken Seite Damen und Her-ren, die heute nicht mehr dem Bundestag angehören, Kol-lege Verheugen beispielsweise, der einen heftigen Streitgeführt hat und die Bundeswehr daran hindern wollte,sich an europäischen und NATO-Aktionen zu beteiligen.Ich erinnere an die Diskussion „Out of area“, an dieDiskussion um die Ausrüstung der Bundeswehr. Damalsgab es eine Kollegin Matthäus-Maier.
Wenn ich sie nicht als eine Dame hoch schätzen würde,die jetzt eine wichtige Funktion in Frankfurt ausübt,
würde ich sagen: Reaktionen wie der pawlowsche Hund,wenn das Wort vom Flugzeug fiel.
– Das waren Zeiten! – Es gab Stapel von Kürzungsanträ-gen, die ich auch in gebundener Form vorlegen könnte,für die jeweiligen Verteidigungshaushalte durch die da-malige Opposition.
Wie hieß der Fraktionsvorsitzende? Scharping hieß er.Es müsste manchem, dem das Wort über die letztenJahre so leicht über die Lippen geht, eigentlich das Wortim Halse stecken bleiben.
Herr Kollege Zumkley, ich wollte insofern noch zuIhrem Beitrag kommen, als Sie eine sachliche Diskussionangemahnt haben. Diesem Anliegen stimme ich zu. Ichbewege mich völlig im Rahmen der Sachlichkeit, weil ichnur Fakten wiedergebe. Bei diesen Fakten, über die wirsprechen, müssen wir das in der Tat noch einmal disku-tieren.Ich danke Ihnen dafür, dass Sie von dem häufigen Um-bau der Bundeswehr gesprochen haben. In der Tat ist inden letzten zehn Jahren vieles umgebaut worden.
Aus zwei sich – wenn Sie so wollen – feindlich, jeden-falls in unterschiedlichen Blöcken gegenüberstehendenArmeen wurde die Armee der Einheit gebaut. Es wurdeeine Armee geschaffen, die in der Lage war, nach demEindruck des Golfkonfliktes und der internationalen Pro-bleme, die wir in unserer Situation hatten, an multilatera-len Einsätzen teilzunehmen – eine schwierige Angelegen-heit, die mit den Worten „Militarisierung der Außenpoli-tik“ und „Interventionsarmee“ diffamiert worden ist.Letzteres ist übrigens genau das Wort, das heute von na-hezu den gleichen Personen als Nachweis für Flexibilitätund Erneuerung gebraucht wird.Herr Schlauch machte vorhin den Zwischenruf: „Wol-len Sie die gute alte Bundeswehr oder was?“. Auf jedenFall will ich nicht die gute alte Bundeswehr um des Zer-störens willen zerstören, sondern ich will sie dort um-strukturieren, wo es notwendig ist.
Ich habe weiß Gott nicht das Vertrauen, dass die Grü-nen diese Arbeit gut leisten können.Ich muss es noch einmal sagen: Kollege Zumkley, Siehaben die Harmonie innerhalb der Opposition angemahnt.Wir verstehen uns da sehr gut. Wir haben uns, glaube ich,ziemlich klar geäußert, was die Frage der Zukunft derBundeswehr betrifft, in der gleichen Richtung, wie wir sievor mehreren Jahren, vor zwei Jahren beantwortet habenund auch heute beantworten. Wir sind da stringent.Ich habe heute eine Meldung von dpa bekommen, inder es heißt:Einen Koalitionsstreit wegen der Wehrpflicht hatteAußenminister Joschka Fischer ausgeschlossen.
Jetzt stellt sich die Frage, wie man den Knatsch nen-nen soll, den SPD und Grüne wegen ihrer unter-schiedlichen Vorstellungen von der künftigen Bun-deswehr haben. Die gegenseitigen Vorwürfe sindnicht von Pappe.Daher würde ich Sie doch herzlich bitten, bevor Sie dieseDebatte hier führen, uns mit einer einheitlichen Positiondieser Regierung und der Koalition bekannt und vertrautzu machen. Wir haben davon nichts gehört. Wir haben nurmit Interesse festgestellt, dass es nun noch zwei weiterePapiere gibt. Ich hatte eigentlich gedacht, das Eck-pfeilerpapier des Verteidigungsministers wäre das letztePapier gewesen, das kommt.Bei diesem Papier fehlt allerdings das Letzte und dasmacht die Diskussion über die Eckpfeiler doch rechtschwierig. Ich gehöre zu den Menschen, die neugierigsind und, wenn sie ein Buch lesen, erst das erste Kapitellesen, dann an den Schluss springen, um zu sehen, wie dieGeschichte ausgeht, und erst danach das ganze Buch le-sen.
Wenn Sie das Eckpfeilerpapier lesen und auf den letz-ten Seiten bei Haushalt und Finanzen nach der Auflösungsuchen, nämlich nach der Finanzierung des Ganzen,dann finden Sie dort Leere, Nirwana, nichts. Solange wirnicht wissen, mit welcher Position Sie in diese Debattehineingehen, können wir über Details der Bundeswehrre-form eigentlich nicht ernsthaft diskutieren. Ich will nurdaran erinnern, dass Herr Schlauch bereits diese Wochegefordert hat, das, was man durch Reduzierung einsparenkann, nicht dem Einzelplan 14 zuzuführen.Lassen Sie uns die Zeit anders nutzen. Lassen Sie unsdas machen, was eigentlich in dem von vielen gelobtenWeizsäcker-Papier steht, das ich in vielen Punkten kriti-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Christian Schmidt
10030
siere, vor allem in seiner Fehlgewichtung zwischen Inter-ventionsarmee und dem, was Landes- und Bündnisver-teidigung betrifft. Das Papier gibt uns aber durchaus dieChance, uns der Grundlagen der sicherheitspolitischenNotwendigkeit unserer Bundeswehr zu vergewissern. Wirsollten also sozusagen eine Diskussion darüber führen,wieso wir die Bundeswehr brauchen. Gegenwärtig wirdnur diskutiert, welche Bundeswehr man haben möchte.Aber wichtig wäre: Wieso und wozu brauchen wir sie?Was sind die Bedingungen? Welche neuen Entwicklungenhat es gegeben?Jeder, der die Entwicklungen in der Außenpolitik nurin den letzten fünf Jahren verfolgt hat, muss doch zuge-ben, dass es unmöglich ist, beispielsweise Sicherheitspo-litik ohne einen gewissen Risikozuschlag zu betrachten.Man muss gerade jetzt neue Gefahren, neue Entwicklun-gen einbeziehen, über die wir uns erst Gedanken zu ma-chen beginnen. Ich erinnere an das Thema NMD. Deramerikanische Präsident war hier in Berlin und hat einkurzes Gespräch mit dem Bundeskanzler geführt. Wir ha-ben vorher von keiner Position der Bundesregierunggehört. Wir müssen jetzt gemeinsam – dazu sind wir be-reit – darüber reden, was Raketenbedrohung für uns be-deutet, was das auch für das Bündnis bedeutet, wie der po-litische Wert eines Beitrags Deutschlands zur Verteidi-gungspolitik an sich ist, auch wie der quantitative Werteinzuschätzen ist, das heißt, mit welchen Einheiten, aberauch mit welcher Politik und mit welchen Möglichkeitenman sich beteiligt.Wenn man das Weizsäcker-Papier ernst nimmt, mussman es ganz lesen. Dort heißt es in Ziffer 20, zweiter Ab-satz:Sicherheitsvorsorge bedeutet deshalb auch, eine Ent-wicklungspolitik zu treiben, die Konflikten vor-beugt, indem sie dem Übel dort entgegenwirkt, wo esentsteht. In diesem Sinne ist alle Entwicklungspoli-tik zugleich Sicherheitspolitik. Deswegen darf aufdiesem Felde der Rotstift ebensowenig Regie führenwie auf anderen Feldern der Außen- und Sicherheits-politik.
Wo ist eigentlich Frau Wieczorek-Zeul bei dieser Dis-kussion? Ich freue mich, dass Frau Staatssekretärin Eidhier sitzt, aber ich habe nicht gehört, dass der Entwick-lungshilfeetat aufgestockt wird. Ganz im Gegenteil, er istin den letzten Jahren zurückgefahren worden.
Ich werde mit Interesse verfolgen, wie das Weizsäcker-Papier bei den Haushaltsentwürfen von Ihnen ernst ge-nommen wird.
– Sie haben ihn viel drastischer reduziert. Lesen Sie daseinmal nach. Herr Spranger hatte noch sehr viel mehrGeld zur Verfügung, und er musste sich nicht von HerrnCastro eine Zigarre schenken lassen.
Zurück zur Frage der Prävention bei der Außen- undSicherheitspolitik. Wo ist denn der Beitrag des Außen-ministers zu dieser Debatte? Wo sind die Mechanis-men präventiver Sicherheitspolitik? Wo sind die neuenIdeen?
Auf welche Gefährdungen geht man ein? Wo finde ichdazu etwas in Ihrem Konzept? Bei Weizsäcker finde ichVorschläge, aber in dem Eckpfeilerpapier finde ich dazunichts.
Wenn man von dem erweiterten Sicherheitsbegriffausgeht – das war doch eigentlich immer eines der Anlie-gen, die Sie in der Debatte vertreten haben –, wundert esmich doch sehr, dass Sie dieses Feld unbeackert lassenund uns damit einer Gefährdung aussetzen.
Zu meinem letzten Punkt, zum europäischen Impera-tiv, von dem die Weizsäcker-Kommission zu Rechtspricht. Wir brauchen in der Tat mehr europäische Inte-gration. Die Debatte über die Zukunft der EuropäischenUnion muss allerdings mit dem verknüpft werden, waseuropäische Sicherheitspolitik umfasst. Dazu reichen die„headline goals“ von Helsinki, zum Beispiel das Vor-haben einer einheitlichen europäischen Eingreiftruppe,nicht aus.Es gab einmal einen Außenminister Kinkel, der mit sei-nem Kollegen Juppé eine Initiative zur Einbeziehung mit-teleuropäischer Länder gestartet hat.
Es gab einen Verteidigungsminister Rühe, der die NATO-Osterweiterung angestoßen hat. Über all diese Fragen, diedie Zukunft der europäischen Integration betreffen, wirdin den gegenwärtigen Tagen leider nicht diskutiert.Ein Vorschlag: Lassen Sie die Diskussion reifen. Las-sen Sie und geben Sie Zeit zur Diskussion. EntscheidenSie nicht am Mittwoch im Kabinett, sondern geben Siedem Parlament und der Öffentlichkeit die Chance, sichmit dem auseinander zu setzen, was jeder von uns für sei-nen Teil in den letzten Wochen vorgestellt und erarbeitethat, und entscheiden Sie dann. Was Sie jetzt tun, ist einOktroi und hat mit Demokratie nichts zu tun.Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzinter-vention erteile ich das Wort dem Kollegen Peter Zumkley.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Christian Schmidt
10031
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Kollege Schmidt hat die Kürzungsvor-
schläge der SPD-Fraktion angesprochen. In der Tat, er hat
Recht: Zwischen dem Jahr 1994 und dem Jahr 1998 hat
die SPD-Bundestagsfraktion Kürzungen von 1,88 Milli-
arden DM vorgeschlagen. Im gleichen Zeitraum, also von
1994 bis 1998, lieber Kollege Schmidt, hat die CDU/CSU
den Verteidigungshaushalt um 5,6 Milliarden DM ge-
kürzt. Wäre es bei den von uns vorgeschlagenen 1,88Mil-
liarden DM geblieben, wären wir jetzt in einer besseren
Lage.
Den Zettel, auf dem diese Zahlen stehen, habe ich im-
mer bei mir. Darauf komme ich immer wieder zurück.
Wenn ich die Zahlen der Jahre 1991 und folgende be-
trachte, ist die Lage noch drastischer.
Vielen Dank.
Herr Kollege
Schmidt, wollen Sie antworten? – Bitte sehr.
Herr Kol-
lege Zumkley, ich halte Ihnen zugute, dass Sie nicht
Matthäus-Maier heißen. Sonst wären die Zahlen noch viel
drastischer gewesen.
Sie sollten natürlich die Erhöhungsanträge in die Be-
rechnungen einbeziehen. Sie haben keine gestellt. Sie ha-
ben faktisch weitere Kürzungen über die moderate Ab-
senkung hinaus, die wir vorübergehend, wenn Sie die Fi-
nanzplanung betrachten, vorgesehen haben, gefordert. Sie
haben die Möglichkeit, sich bereits jetzt wieder am 32. Fi-
nanzplan zu orientieren. Wir brauchen uns überhaupt
nicht zu verstecken. Sie haben die Möglichkeit, Farbe zu
bekennen, indem Sie die Erhöhung der Mittel für den Ver-
teidigungshaushalt auf anständige Art und Weise zusam-
men mit dem gesamten Parlament beschließen. Der Ver-
teidigungsminister würde sich freuen. Wie der Finanzmi-
nister davon zu überzeugen ist, müssen Sie unter sich
ausmachen.
Nun hat das Wort der
Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Entschei-dung über die Reform der Bundeswehr erfordert zunächstKlarheit über ihre konstitutiven Grundlagen. Das Grund-gesetz bestimmt in seiner Präambel, dass Deutschlandsoberstes Ziel die Sicherung des Friedens ist. Wir haben dieErfahrung gemacht, dass Frieden und Sicherheit in undfür Europa unteilbar sind. Das verlangt eine umfassendeund übrigens auch multinationale Vorsorge für eine ge-meinsame Sicherheit.Art. 24 und Art. 87 a des Grundgesetzes bestimmen,dass Streitkräfte zur Landes- und Bündnisverteidigungaufgestellt werden. Die veränderte sicherheitspolitischeLage bedeutet, dass die Frontlinie zwischen Ost und Westund der große beherrschende und bedrohliche bipolareKonflikt nicht mehr vorhanden sind. Das heißt aber auch,dass sich die sicherheitspolitische Lage Deutschlands ver-ändert hat und dass deswegen in Zukunft Landesverteidi-gung zugleich auch immer Bündnisverteidigung ist.Das erfordert andere Fähigkeiten. Diese Fähigkeitenkann man, man muss sie aber nicht zwingend auch in derKrisenreaktion einsetzen. Dennoch lege ich Wert darauf,dass klar bleibt, dass die Aufstellung deutscher Streit-kräfte zum Zwecke der Landes- und Bündnisverteidigungdurch unsere Verfassung legitimiert ist. Die daraus er-wachsenden Fähigkeiten kann man, wie gesagt, auch imRahmen der Krisenreaktion einsetzen. Das haben wir zumTeil schon getan und tun es noch. Deutschland trägt zurgemeinsamen Sicherheit innerhalb der NATO und der Eu-ropäischen Union bei, unterstützt aber auch die VereintenNationen und die OSZE.Das Stichwort „gemeinsame Sicherheit“ ist deswegenwichtig, weil hier einige Kollegen erwarten, man sollenoch eine sicherheitspolitische Lageanalyse – einige ha-ben gesagt: Bedrohungsanalyse – vorlegen. Die liegt aberdoch vor, und zwar eine gemeinsame. Sie ist die Grund-lage für die im April 1999 verabschiedete Strategie derNATO; sie ist darüber hinaus die Grundlage für Entschei-dungen innerhalb der Europäischen Union zum Aufbaueiner gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspoli-tik. Wenn hier in Deutschland beispielsweise aus den Rei-hen der CDU/CSU eine eigene Analyse verlangt wird,dann bitte ich Sie zu überlegen, welche Konsequenzen dashaben könnte, jedenfalls in der Wahrnehmung mancherPartner. Das bedeutet nämlich, dass wir uns im Bereichder sicherheitspolitischen Analyse gewissermaßen natio-nalstaatlich noch einmal eigene Gedanken machen, ob-wohl wir uns schon auf eine gemeinsame verständigt ha-ben – einschließlich der Konsequenzen, die daraus zu zie-hen sind, innerhalb der NATO-Strategie ebenso wie in dereuropäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.Deshalb ging die Kommission unter Vorsitz vonRichard von Weizsäcker, gehen übrigens auch die Eck-pfeiler, die ich vorgeschlagen habe und die Grundlage derRegierungsentscheidung sein werden, von diesen ge-meinsamen Festlegungen aus: von der Analyse über dieHerausbildung einer gemeinsamen Strategie bis zur For-mulierung gemeinsamer Fähigkeiten im Interesse ge-meinsamer Sicherheit. Alles andere führt in die Irre.Vor diesem Hintergrund leidet die Debatte möglicher-weise deswegen etwas, weil es nicht darum geht, Kom-promisse zwischen unterschiedlichen Positionen zu fin-den, sondern eine sehr klare, für die Zukunft verlässlicheLinie zu beschreiben, längs derer sich die Streitkräfte mitihren Fähigkeiten und Aufgaben entwickeln können undauf die sich die Streitkräfte mitsamt all ihrer Angehörigen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 200010032
verlassen können. Das war in den letzten Jahren leidernicht gewährleistet. Ich will dazu nachher noch etwas sa-gen.Etwas spöttisch: Die Debatte ist in einem gewissenSinne etwas kurios. Die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen hat mit den Vorstellungen des Verteidigungs-ministers an einer Stelle einen Dissens, will das aber nichtso deutlich werden lassen.
Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU hat an vielen Stel-len Gemeinsamkeiten mit den Vorschlägen des Verteidi-gungsministers, will das aber auch nicht so deutlich wer-den lassen.
Das merkt man auch an der Art und Weise, in der hier ar-gumentiert wird: Man fordert eine breite Debatte ein, be-schwert sich aber über die Vielzahl der Diskussions-beiträge.
Man fordert eine Regierungserklärung ein, empfiehlt miraber gleichzeitig, die Entscheidung innerhalb der Regie-rung zu vertagen. Sagen Sie einmal: Fallen Ihnen eigent-lich diese logischen Unsauberkeiten – um es höflich zuformulieren – in Ihrer eigenen Argumentation auf?
Vor diesem Hintergrund und weil diese Sache wirklichzu wichtig ist, als dass man sie für einen vordergründigenStreit nutzen sollte, will ich sagen: Sicherheit kann wedervorrangig noch allein militärisch sichergestellt werden.Sie erfordert eine umfassende Politik. In Zusammenhangmit der Reform der Bundeswehr allerdings konzentriertman sich klugerweise – auch um jedes weitschweifigeGeschwafel zu vermeiden – auf das, was den Entschei-dungsgegenstand umittelbar berührt, nämlich die unver-zichtbare militärische Sicherheitsvorsorge im Zusam-menhang mit einer umfassenden Sicherheitspolitik.Damit werden die anderen Elemente nicht zur Seite ge-wischt, sondern man konzentriert sich auf das, was zu de-battieren und zu entscheiden ist.Das heißt, dass Deutschland einen substanziellen Bei-trag zur Friedenssicherung im Bündnis und in der Euro-päischen Union leistet, dass es fähig sein muss, Krisenfrühzeitig zu erkennen, umfassend Informationen zur Ver-fügung zu stellen und einen Beitrag zur Krisenpräventionwie zur Rüstungskontrolle und Abrüstung zu leisten. Dasheißt, dass die Anforderungen an Multinationalität in je-der Hinsicht gewährleistet bleiben müssen. Das heißt,dass Umfang und Zahl deutscher Streitkräfte dem politi-schen Gestaltungsanspruch und dem Gewicht der Bun-desrepublik Deutschland im Bündnis und in der Europä-ischen Union gerecht werden müssen. Das heißt auch,dass man in vielen Fragen – vom Wiederaufbau gesell-schaftlicher Ordnung oder Infrastruktur in Krisengebietenbis hin zur Aufwuchsfähigkeit – die Voraussetzungendafür schaffen muss, dass Deutschland einen guten undwirksamen Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit leistet.Dem muss die Reform der Bundeswehr, die Erneuerungvon Grund auf, Rechnung tragen.Welcher Weg ist seither zurückgelegt worden? Ichhabe im November 1998 eine Bestandsaufnahme veran-lasst, die dem Deutschen Bundestag seit Mai 1999 vor-liegt. Es liegt in der Entscheidung des Deutschen Bun-destages, sich darüber Gedanken zu machen und das zudebattieren – was übrigens geschehen ist, zum Beispiel inden Haushaltsberatungen. Ich habe Anfang 1999 dreiLeitlinien genannt, nämlich erstens die planerische undsoziale Sicherheit für die Angehörigen der Streitkräfte zugewährleisten, zweitens die Wirtschaftlichkeit und Effizi-enz in der Bundeswehr zu verbessern und drittensBeiträge für ein zukunftsfähiges Deutschland zu leisten.Diese liegen seit Januar 1999 vor. Seither wird die Arbeitdes Bundesministeriums der Verteidigung daran konse-quent orientiert.Ich habe im Zuge der Bestandsaufnahme und imZuge der Entscheidungsvorbereitung mittlerweile 25 Ta-gungen mit Vorgesetzten und verschiedenen anderen An-gehörigen der Bundeswehr – insgesamt über 6 000 –durchgeführt und mir dafür nun wirklich Zeit genommen.Denn ich bin davon überzeugt, dass die Reform einerso riesigen Organisation wie der Bundeswehr – dassind 460 000 Menschen; mehr als Telekom, Volkswagenund Siemens gemeinsam in Deutschland beschäftigen –niemals gegen die Betroffenen, sondern nur mit ihnen ge-macht werden kann.
Im Übrigen glaube ich, dass eine Politik der Denkverboteoder der Führung durch Informationsvorsprung – nachdem Motto: Wenn die Untergebenen dumm sind, kannman sie leichter führen – einem modernen Führungs- wieStaatsverständnis strikt widerspricht. Das jedenfalls istnicht mein Verständnis.Es sind Eckwerte für die konzeptionelle und planeri-sche Weiterentwicklung der Streitkräfte entwickelt wor-den und es ist der Bericht der Kommission vorgelegtworden. Dabei wird immer der eigentümliche Versuch un-ternommen, Unterschiede zu konstruieren. Wer liest, wasdie Weizsäcker-Kommission in der Analyse der sicher-heitspolitischen Lage, zu den notwendigen Konsequen-zen für die Streitkräfte, hinsichtlich ihrer Führungsorga-nisation, ihrer Logistik, ihrer Multinationalität, ihrer Ein-setzbarkeit – und an vielen anderen Stellen – konkretempfohlen hat, der wird es schwer haben, Unterschiede zuden Eckwerten festzustellen, die von der Führung derStreitkräfte und dem Generalinspekteur vorgelegt wordensind. Die Unterschiede bestehen nur, wenn man sichauf die traditionelle Oberflächlichkeit konzentriert unddas aus der Zahl der Soldaten und dem Ausgestaltender Wehrpflicht herleitet. Nur dann gibt es Unter-schiede, sonst eigentlich nicht – was übrigens auch einen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Bundesminister Rudolf Scharping10033
Rückschluss auf andere hier gestellte Fragen erlaubenkönnte. Aber darauf will ich jetzt nicht eingehen.Sie wissen alle, dass ich seit Februar 1999 mit Firmenüber Fragen der Kooperation im Bereich beruflicherAusbildung, Weiterbildung, Fortbildung gesprochenhabe. Die Vereinbarungen hierzu liegen seit Juli 1999 vor.An ihr beteiligen sich zurzeit über 300 Unternehmen; bisEnde des Jahres werden alle Industrie- und Handelskam-mern, alle Handwerkskammern hinzukommen. Das istein völlig neuer Weg der Kooperation auf einem Gebiet,das für die Leistungsfähigkeit der Streitkräfte, für die zi-vilberufliche Perspektive ihrer Angehörigen und für dieAttraktivität der Bundeswehr als Arbeitsplatz ganz undgar unverzichtbar ist – und notwendig, um die Leistungs-fähigkeit der Streitkräfte, ihre Attraktivität und die beruf-liche Perspektive ihrer Angehörigen gleichermaßen zu si-chern.
Ich wundere mich, dass niemand vorher darauf gekom-men ist.Wir haben einen Rahmenvertrag abgeschlossen, andem sich zurzeit 120 Unternehmen beteiligen. Wir wer-den am 20. Juni eine dritte Unterzeichnerkonferenz ha-ben. Es werden mindestens 150 weitere Unternehmenhinzukommen. Das ist deswegen ein so bedeutsamer re-formerischer Schritt, weil es nicht alleine um Koopera-tion, Outsourcing, Insourcing, Privatisierung und Ähnli-ches geht, sondern weil hier mit einem Prinzip gebrochenwird, nämlich dass Autarkie bedeutet, dass das Militär al-les alleine, aus eigenen Fähigkeiten heraus könne.Die Kooperation mit der Wirtschaft ist der Bruch mitdem Autarkiegedanken und die Konzentration der Streit-kräfte auf ihre militärischen Kernfähigkeiten. Alles an-dere sollte man kooperativ mit Unternehmen machen, un-ter Nutzung von deren Erfahrung, deren Kenntnissen, de-ren Leistungsfähigkeit. Das bekommt den Streitkräftengut und wird sicher auch der Bundesrepublik Deutschlandgut tun. Deshalb wird die Gesellschaft für Entwicklung,Beschaffung und Betrieb gegründet und bald im Handels-register eingetragen.Über all das und manches andere sind der Bundestag,seine Ausschüsse und die Öffentlichkeit regelmäßig in-formiert worden. Sie sind auch darüber informiert wor-den, und zwar schon im September 1999, dass dieKommission dankenswerterweise der Bitte folgen würde,ihre Arbeit nicht erst im November 2000, wie in der Ko-alitionsvereinbarung vorgesehen, sondern im Mai 2000abzuschließen, um die Empfehlungen, soweit möglichund erforderlich, bei den Entscheidungen über den Haus-halt 2001 berücksichtigen zu können. Seit September1999 ist klar, dass der Generalinspekteur seinem – imÜbrigen auch gesetzlichen – Auftrag folgen würde, pla-nerische und konzeptionelle Eckwerte für die Weiterent-wicklung der Bundeswehr vorzulegen.Demjenigen, der vor diesem Hintergrund sagt, derMinister müsse entweder bis zur Vorlage von Kommissi-onsberichten das Denken, im Zweifel auch das Entschei-den einstellen, oder sagt, er sei von der Entwicklung über-rascht, weil sie so schnell komme, entgegne ich, er hat seitSeptember 1999 nicht sonderlich gut zugehört oder nichternst genommen, was mehrfach erläutert worden ist.Was heißt das für die Eckpfeiler? Ich möchte daszunächst in aller Kürze ausführen, obwohl das Themadeutlich mehr Interesse verdient hätte. Ich registriere mitgroßer Aufmerksamkeit, dass in der deutschen Öffent-lichkeit und leider auch in dieser Debatte von den Vertre-tern der Opposition das Thema „Staatsbürger in Uni-form“ und „innere Führung“ praktisch keine Rolle ge-spielt hat, obwohl es das Herzstück eines zeitgemäßenVerständnisses der Streitkräfte auch für die Zukunft seinwird.
Das war in Jahrzehnten einzigartiger Garant für die ge-sellschaftliche Verankerung der Bundeswehr und es istauch am Beginn des 21. Jahrhunderts das Leitbild, dasüberzeugend Halt, Orientierung und Wertefestigkeit bie-ten kann. Das braucht man gerade dann, wenn man inKonfliktverhütung und Konfliktbewältigung engagiertist.Die Bundeswehr ist eine Armee in der Demokratie undfür die Demokratie und sie wird es auch bleiben. Dasmacht die Bedeutung von politischer Bildung und zeit-gemäßer Traditionspflege aus, vor allen Dingen macht esaber die Bedeutung der Grundrechte, der Anwendungrechtsstaatlicher Prinzipien und der Werteordnung unse-rer Verfassung im inneren Gefüge der Streitkräfte deut-lich.Sie wissen doch alle, dass es in der multinationalen Zu-sammenarbeit, auch mit sehr engen Freunden und Part-nern, nicht so ganz einfach ist, das, was wir in Deutsch-land einzigartig entwickelt haben – Offiziere mit einemzivilen Studium, wichtiger noch der direkte Zugang zumParlament über den Wehrbeauftragten, ähnlich wichtigdie Vertretungsrechte und die Vertrauenspersonen für Sol-daten bis hin zur Wehrbeschwerdeordnung und zumWehrstrafrecht usw. –, in internationalen Verbänden undmultinationalen Zusammenhängen zu behaupten und zuverteidigen, weil auch die Streitkräfte unserer engstenBündnispartner diese Übersetzung einer demokratischenVerfassung in die innere Struktur der Streitkräfte nichtkennen, während wir daran festhalten wollen, auch wennder Imperativ der Europäisierung und der multinationalenZusammenarbeit gilt.
Es ist auch Ausdruck des Leitbildes von innererFührung, dass man Führung und Fürsorge nicht auseinan-der reißen lässt. Ich sehe mit einigem Interesse, dass jetztauch Kreisverbände der CSU über Standorte diskutierenund sagen, sie kämpfen darum mit großer Kraft, obwohlsie gar nicht in Zweifel stehen. Da wird mit Windmühlengekämpft.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Bundesminister Rudolf Scharping10034
– Ja, das werde ich Ihnen gleich erläutern, Herr KollegeBreuer.
Das hat schon donquichottehafte Züge: Man kämpft ge-gen Windmühlenflügel, die man sich allerdings nur vorseinem geistigen Auge vorstellt.
Ich bewundere Ihre Fantasie, aber darin steckt auch eingewisses Stück mangelnder politischer Seriosität.
Nein, es gibt ein ganz klares Prinzip, das zuverlässigeingehalten wird: Die Kleinststandorte mit weniger als50 Dienstposten werden auf ihre militärische Notwendig-keit überprüft. Bei allen anderen H39 Standorten wirdes oberste Priorität sein, zu prüfen, wie sie wirtschaftli-cher geführt werden können, statt eine dumme Politik derStandortauflösung zu betreiben. Sie schädigt die Veranke-rung der Bundeswehr in der Fläche, sie schädigt die re-gionale Wirtschaftskraft, sie erschwert die heimatnaheEinberufung und manches andere, was ich mit Rücksichtauf die Zeit jetzt nicht ausführen möchte.Dass Führung im Verständnis des Staatsbürgers in Uni-form und der inneren Führung auch Information bedeutet,habe ich im Übrigen nicht nur durch 25 Tagungen zu zei-gen versucht – diese werde ich fortsetzen –, sondern auchdadurch – ich habe das in den letzten zwei Wochen zwei-mal erlebt –, dass ich mit 4 000 und mehr Kommandeu-ren und Dienststellenleitern unmittelbar – das ist der Se-gen der neuen Informationstechnik – kommuniziert undderen Fragen beantwortet habe. Ich glaube, das ist einguter Weg.Zweiter Eckpfeiler neben innerer Führung und Staats-bürger in Uniform ist das Personal.Wir haben in der Bun-deswehr sehr gutes Personal. Ich bewundere die Leute,dass sie ihre Qualitäten, ihre Leistungen, ihr Verantwor-tungsbewusstsein und ihre Motivation trotz jahrelangerFehlentwicklungen insbesondere in den 90er-Jahren auf-rechterhalten haben. Dies ist erstaunlich. Dem Personalein großes Kompliment.
Aber jetzt wollen wir doch einmal deutsch reden: Werhat denn jetzt damit begonnen, in den einfachen Laufbah-nen die Besoldungsgruppen A 1 und A 2 abzuschaffen?Und wer hat dies über Jahre geduldet, wohl wissend, dassin anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes die Ein-gangsbesoldungsgruppe mittlerweile A5 ist? Glauben Sieim Ernst, es könne für die Attraktivität und Leistungsfä-higkeit der Streitkräfte auf Dauer so bleiben, dass jemandin einer Mannschaftslaufbahn mit 2 600 DM im Monatanfängt?
– Herr Kollege Breuer, was hat das damit zu tun? Sie ha-ben in den Laufbahnen, in den Besoldungen, in den Ver-wendungen und Beförderungen über Jahre hinweg Miss-stände einreißen lassen, die für die Leute eine Belastungund für Sie ein Armutszeugnis waren.
Ich bin sehr an Einigkeit interessiert, aber das kannnicht dazu führen, dass man über die Realitäten nichtmehr sprechen darf. Wir werden eine Feldwebellaufbahnund eine neue Fachunteroffizierlaufbahn einführen, wirwerden die Berufsfördermaßnahmen laufbahnintegriertund dienstzeitbegleitend organisieren und nicht mehr ansEnde schieben nach dem Motto „Lasst erst einmal eineLücke entstehen, dann machen wir schon Berufsförde-rung“. Dies ist ein wesentlich attraktiveres Angebot.Das Prinzip, das dahinter steckt, ist, dass jeder – nichtnur der Abiturient –, der längere Zeit in der BundeswehrDienst leistet, die Möglichkeit erhält, seine zivile Qualifi-kation zu verbessern. Der Geselle kann Meister werden.Der ausgebildete Lehrling kann Facharbeiter oder Gesellewerden. Wer ohne eine Berufsausbildung kommt, kanneinfache zivilberufliche Qualifikationen erwerben usw.Ich halte dies für außerordentlich wichtig, denn die neuenAufgaben, die neuen Herausforderungen der Streitkräfteerfordern zunehmend mehr besonders gut ausgebildeteund gleichzeitig selbstbewusste, demokratisch gefestigteStaatsbürger. Beides brauchen wir. Beides ist für die Leis-tungsfähigkeit der Streitkräfte von besonderer Bedeu-tung.Sie aber haben zugelassen, dass zurzeit in der Bundes-wehr noch über 8 000 Leute auf Dienstposten mit einerBezahlung sitzen, die der Verantwortung nicht entspricht.Sie haben zugelassen, dass wir eine völlig unausgewo-gene Altersstruktur mit dem Ergebnis haben, dass in denOffizier- wie Unteroffizierlaufbahnen in den Jahrgängenab 1963 und älter Überhänge bestehen, die bei einemnatürlichen Prozess erst 2019, in manchen Fällen sogarerst 2026 abgebaut sein werden. Sie haben eine ganzeReihe von schweren Fehlentwicklungen, sogar im Perso-nalbereich, zu verantworten. Wir werden das korrigieren,und zwar in den Jahren 2001 und 2002, soweit es um denBeförderungs- und Verwendungsstau geht, und ab 2002,soweit es um die Laufbahnen geht. Im Übrigen werdenwir die Bundeswehr für Frauen öffnen und strikt nachdem Prinzip „Befähigung, Eignung und Leistung“ vorge-hen.Nun will ich Ihnen noch etwas zu einem anderen Eck-pfeiler, nämlich Ausrüstung und Material, sagen. DieAusrüstung bedarf einer umfassenden Modernisierung.Das ist nicht nur die Konsequenz aus der NATO-Strategie„Defense capabilities initiative“ des „European headlinegoal“ und wie die technokratischen Worte alle heißen.Nein, dies ist auch die Konsequenz aus der Tatsache,dass Sie in den laufenden Haushaltsjahren – der KollegeZumkley hat dankenswerterweise die Zahlen genannt –mit globalen Minderausgaben immer in den investiven
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Bundesminister Rudolf Scharping10035
Haushalt der Streitkräfte mit dem Ergebnis eingegriffenhaben,
dass man eine zunehmend unbrauchbare, weil veralteteund in den Betriebskosten zu teure Ausrüstung hat.
Soll ich Ihnen einmal erzählen, was da los ist? Wir habenzum Beispiel in der Bekleidungswirtschaft der Bundes-wehr Warenbestände im Wert von 1,3 Milliarden DM he-rumliegen.
Wir haben im Bereich der Informationstechnik in derBundeswehr 250 informationstechnische Inseln mit demabsurden Zustand vorgefunden, dass die Software derHeereslogistik mit der Software der Logistik von Luft-waffe und Marine nicht mehr voll kommunikationsfähigwar und ist.Ich finde in den Depots der Luftwaffe Hunderte vonTüren für die Transall, die hoffentlich bald ausgemustertwerden kann, die Millionen und Abermillionen Mark ge-kostet haben, und wir werden sie wegen Fehldispositionauf den Müll werfen müssen. Ich könnte die Liste dieserBeispiele beliebig verlängern. Dann müsste ich eine halbeStunde im Bundestag reden und hätte sie längst noch nichtalle aufgezählt.Wer so etwas geduldet hat – wie immer er heißt, auswelcher Partei er auch immer kommt, in welcher Koali-tion er auch immer war –, der hat ja nicht nur zu wenig indie Streitkräfte, in ihre Ausrüstung, in ihre notwendigenFähigkeiten investiert, sondern er hat den Zeitpunkt fürden Beginn der Reform verschlafen.Und jetzt kommen Sie und sagen, lassen Sie doch einbisschen Zeit zum Diskutieren. Ja, reden Sie einmal mitden Angehörigen der Streitkräfte! Die wollen keine Zeitzum Diskutieren, die wollen Entscheidungen, die ihre Zu-kunft und ihre Leistungsfähigkeit sichern, anstatt immerfröhlich weiterzudiskutieren.
Sie glauben doch, wenn man einmal eine nüchterne,realistische Bilanz zieht, nicht im Ernst, dass die Verbes-serung des Zustandes der Streitkräfte auf dem Gebiete ih-rer Ausrüstung und ihrer Materialausstattung noch in ir-gendeiner Weise Aufschub dulden würde.
Damit sage ich Ihnen etwas zum Umfang und zur Zu-sammensetzung der Streitkräfte. Wir werden diesen Wild-wuchs mit zbV-Schülerstellen, BfD-Stellen und anderem,der ja auch sehr eigenartig war, korrigieren.
– Ich habe das ein Jahr verschleppt?
– Mein lieber Herr Breuer,
ziehen Sie sich doch einmal einen kleinen Moment zurückund denken Sie einmal nach, bevor Sie den Mund aufma-chen!
Ich habe das ein Jahr verschleppt? – Ich habe Entschei-dungsgrundlagen erarbeitet, von denen man heute sagenkann, sie werden einige Jahre, vermutlich zehn Jahre undlänger, tragen.
Sie haben an der Bundeswehr immer nur quantitativherumgeschnippelt, herumgedoktert, herumreduziert.Das Ergebnis liegt jetzt auf dem Tisch. Ich kann verste-hen, dass Ihnen das zu Teilen peinlich ist. Aber ich sageIhnen genauso deutlich: Wenn Sie keine nüchterne Lage-beurteilung haben, dann können Sie auch keine klareKonzeption entwickeln.
Das ist in der Zeit, in der Sie regiert haben, leider nicht nurauf dem Gebiet der Streitkräfte deutlich geworden.
Es sind ein Präsenzumfang der Streitkräfte von255 000 sowie 22 000 Ausbildungsplätze vorgesehen. Daskönnen mehr oder weniger werden; das will ich demDeutschen Bundestag sehr deutlich sagen. Das hängtnämlich davon ab, wie sich die Kooperation mit der Wirt-schaft auf dem Gebiet der Ausbildung, der Fortbildungund der Weiterbildung entwickelt.Der Umfang der militärischen Grundorganisation soll105 000 betragen. Das ist für die Leistungsfähigkeit derStreitkräfte von zentraler Bedeutung, auch für ihre innereEffizienz.Über die Personalstruktur will ich jetzt nichts sagen,wohl aber noch etwas im Zusammenhang mit den zivilenBeschäftigten.Wir haben dort eine Altersfluktuation, diebeachtlich ist. Wir wollen sie nutzen. In welchem Umfangund in welcher Geschwindigkeit das geschehen wird,wird davon abhängen, wie ein Tarifvertrag aussieht, denich ausdrücklich anbiete, und es wird von der Entwick-lung der Kooperation mit der Wirtschaft abhängen. Jeschneller wir diesen Zielkorridor von 80 000 bis 90 000zivilen Mitarbeitern erreichen, und zwar auf strikt sozial-verträgliche Weise und strikt ohne betriebsbedingte Kün-digungen, umso besser wird es für alle an der Zukunft derBundeswehr Interessierten sein.Meine Damen und Herren, hier ist auch einiges überdie allgemeine Wehrpflicht gesagt worden. Ich will mich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Bundesminister Rudolf Scharping10036
auf die Bemerkung beschränken, dass Landesverteidi-gung, auch wenn sie in Zukunft Bündnisverteidigung ist,am besten durch eine allgemeine Wehrpflicht mit sicher-gestellt wird. Das ist ein Teil der sicherheitspolitischenVorsorge, worauf die Kommission unter Vorsitz vonRichard von Weizsäcker zu Recht hingewiesen hat. Wirwerden dann zu berücksichtigen haben, dass sicherheits-politische Vorsorge, der Rückgang der Zahl der Wehr-pflichtigen pro Jahrgang und die Entwicklung des indivi-duellen Entscheidungsverhaltens schwer planbare Kate-gorien sind.Also braucht man ein System mit verlässlichen Grund-lagen und einer gewissen inneren Flexibilität. Das wirddadurch gewährleistet, dass die Möglichkeit zu einer frei-willigen Verlängerung des Wehrdienstes erhalten bleibt,der Wehrdienst gesetzlich auf neun Monate festgelegtwird und dieser neunmonatige Wehrdienst immer dann,wenn der militärische Bedarf – um dies ganz klar zu sa-gen – es erlaubt, abschnittsweise abgeleistet wird. Dieswird mit dem Einberufungsbescheid klargestellt werden.Es wird nicht irgendwann die Brieftaube oder der Post-bote einen Bescheid mit einer Einladung zu einer Wehr-übung bringen. Es wird vielmehr im Einberufungsbe-scheid klarzustellen zu sein, wann und wo die den sechsMonaten folgenden Abschnitte abzuleisten sein werden.Diese abschnittsweise Ableistung des Wehrdiensteskann niemandem neu sein, der das Wehrpflichtgesetzkennt. In diesem Gesetz ist diese Möglichkeit bereits ent-halten. Warum soll nur für die Berufsgruppe der Land-wirte gelten, was insgesamt für die Streitkräfte und für diejungen Männer sinnvoll sein kann? Darauf gibt es keinelogische Antwort. Deswegen werden wir die schon imgeltenden Wehrpflichtgesetz für eine bestimmte Berufs-gruppe vorgesehene Möglichkeit der abschnittsweisenAbleistung des Wehrdienstes in den Bereichen ausdeh-nen, in denen der militärische Bedarf und die Verwendungin der Bundeswehr das erlauben.Ich habe einiges zu dem Eckpfeiler der Kooperationmit Wirtschaft und Handwerk gesagt. Ich werde das in ei-ner Regierungserklärung darstellen, wenn die Regierungihre Entscheidung getroffen hat. Im Übrigen wird sie auchnoch ein Weißbuch vorlegen.Mein letzter Hinweis dient der Kommission und denvielen Diskussionsbeiträgen, die es darüber hinaus gibt.Die Kommission wurde anfangs von einigen Kollegen,die heute diskutiert haben, mit einigem Spott begleitet.
Es wurde gesagt, die Kommission setze sich aus lauternetten Menschen zusammen, die nur leider keine Fach-leute seien; es seien hoch angesehene Persönlichkeiten,die aber mit dem Thema nicht vertraut seien. Heute stel-len wir fest: Die Einsetzung dieser Kommission war ge-nau richtig. Es ist gut für die Bundesrepublik Deutschlandund für die Entwicklung langfristiger Politik, wenn sichBürgerinnen und Bürger unseres Staates mit einem lang-fristig bedeutsamen Thema gründlich auseinander setzen.Das haben die Mitglieder dieser Kommission getan. Al-lein deswegen verdienen sie Respekt und Anerkennung –angesichts des Ergebnisses noch mehr.
Deswegen fließen in meine konzeptionellen Schluss-folgerungen fast alle Empfehlungen der Kommission ein.Nicht eingeflossen ist der Vorschlag, wie man mit Stand-orten umgehen soll und welche Gründe es dafür gibt. Inder Frage des allgemeinen Wehrdienstes gab es einegroße Übereinstimmung über dessen Notwendigkeit, abereinen Unterschied in der praktischen Ausgestaltung desgemeinsam für wichtig erachteten Prinzips. Damit kannman sehr pragmatisch und sehr vernünftig umgehen; dasgilt für die Kommission genauso wie für den zuständigenMinister.Vor diesem Hintergrund kann ich nur sagen: Wir habenjetzt alle Entscheidungen gründlich vorbereitet; wir wer-den die Entscheidungen mit einiger Sicherheit spätestensam 21. Juni, vielleicht schon am 14. Juni, treffen und wirwerden dem Deutschen Bundestag auf dieser Grundlagealle notwendigen Gesetzesänderungen – übrigens ein-schließlich des Haushaltsentwurfes – vorlegen. Danachbeginnt ein politischer und parlamentarischer Diskus-sions- und Entscheidungsprozess, von dem ich hoffe, dasser sachorientiert und so geführt wird, dass die Angehöri-gen der Streitkräfte über die ganz normalen parteipoliti-schen Auseinandersetzungen hinaus eines wissen: DieBundesrepublik Deutschland hatte tiefe Streitereien imZusammenhang mit der Westintegration. Dieses Themahatte das Land und manchmal auch die beteiligten Par-teien sehr beschäftigt und hier und da sogar zerrissen. Wirhatten intensive Diskussionen wegen der Ost- und Ent-spannungspolitik mit ähnlichen Folgen und wir hatten sieauch Mitte der 90er-Jahre im Zusammenhang mit inter-nationalen Einsätzen der Bundeswehr.Vielleicht sollten wir alle als Mitglieder des DeutschenBundestages eines mit auf den Weg nehmen: Diese Aus-einandersetzungen waren nicht nur eine leidenschaftlicheDiskussion um die Sicherheits- und Außenpolitik derBundesrepublik Deutschland, sie waren nicht nur eine lei-denschaftliche Auseinandersetzung um Grundfragen, dieja zu den vornehmsten Aufgaben jedes Staates gehören,nämlich die äußere und übrigens auch die innere Sicher-heit seiner Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten; siehaben vielmehr auch einen für die BundesrepublikDeutschland fruchtbaren und erstaunlichen Konsens überdie Grundlagen der Außen- und Sicherheitspolitik her-vorgebracht. Ich hoffe sehr, dass die Entscheidungen überdie Zukunft der Bundeswehr und über die Bundeswehrder Zukunft, über die notwendige Erneuerung von Grundauf in diesem Geist und auch in dem Bewusstsein getrof-fen werden, dass gerade in solchen Zeiten, die scheinbarsehr entspannt und sehr sicher erscheinen, die Bundes-wehr, wie in der Vergangenheit auch, auf eine breite Un-terstützung des Deutschen Bundestages angewiesen ist.Dazu lade ich Sie ausdrücklich ein.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Bundesminister Rudolf Scharping10037
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht der Kollege Günther Nolting.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Herr Minister Scharping,wenn Sie Vorwürfe in Richtung Opposition vortragen,will ich Sie daran erinnern, dass in den zurückliegendenLegislaturperioden aus den Reihen der SPD kein einzigerAntrag zur vermeintlichen Verbesserung der Situation derBundeswehr, vor allen Dingen auch kein Antrag zumfinanziellen Bereich gestellt wurde.
Ich finde, es gehört zur Redlichkeit, dies noch einmal zuerwähnen. Sie waren zu dieser Zeit Fraktionsvorsitzender.
Meine Damen und Herren, ich möchte aus einer Mel-dung vom gestrigen Tage zitieren:In der Diskussion um die Bundeswehrreform stelltder Fraktionschef der Grünen, Rezzo Schlauch, dieDurchsetzungsfähigkeit von VerteidigungsministerRudolf Scharping, SPD, in Frage. Für so eine Reformbräuchte es einen Scharnhorst oder Gneisenau – aberwir haben nur einen Scharping.Herr Minister, vor dieser Aussage müssen wir Sie aus-drücklich in Schutz nehmen. Das sage ich gerade als Ver-treter der F.D.P. Ich hoffe, es schadet Ihnen nicht, und ichhoffe, es schadet auch mir nicht.
Ihre Vorstellungen gehen ja in die richtige Richtung, wo-bei es einige Ausnahmen gibt, die der Kollege van Essenheute vorgetragen hat.Als Vertreter der Opposition möchte ich mich für diebisherige gute Zusammenarbeit bedanken. Wir nehmenSie natürlich beim Wort, dass diese gute Zusammenarbeitfortgesetzt werden soll.Aber, Herr Minister, bemerkenswert ist – auch das willich sagen –, dass es heute keine Regierungserklärung ge-geben hat, auch wenn Sie dies in Ihrer Rede herunterspie-len wollten. Das ist Ihnen nicht gelungen. Auch dieSchärfe Ihrer Rede ist ein Zeichen dafür, dass die Frak-tionen von SPD und Grünen kein einheitliches Konzeptzur Sicherheitspolitik und zur Bundeswehr haben – unddas vor diesen wichtigen Reformen in diesem Bereich.Herr Minister, sehen Sie sich einmal das eigenwilligeReformverständnis der Grünen in Sachen Bundeswehran. Die Kollegin Beer hat vorhin einige Beispiele undZahlen genannt. Ich will einige ergänzen. Im Wahlpro-gramm 1998 lehnten die Grünen – ich zitiere –... die Umstrukturierung der Bundeswehr zu einerinternationalen Interventionsarmee durch den Auf-bau von Krisenreaktionskräften und Offensivwaffenwie den Eurofighter ab.Jetzt fordern die Grünen in ihrem Papier zur Bundes-wehrreform eine hoch mobile und hoch technisierte Pro-fiarmee in einer Stärke von 200 000 Soldaten.
In ihrem Wahlprogramm 1998 forderten die Grünen – ichzitiere wieder – „mit der Abschaffung der allgemeinenWehrpflicht und der sofortigen Umstellung auf eine Frei-willigenarmee“ zu beginnen. Diese Forderung findet sichzwar auch in dem Bundeswehrpapier wieder; aber münd-lich entschuldigen sich die Grünen, auch bei ihrem Koali-tionspartner, und der Außenminister erklärt – wir haben esvorhin gehört –, dass diese Frage selbstverständlich aufden Opfertisch der Regierungsbeteiligung gelegt wird.Ich sage noch einmal: Ich begrüße ausdrücklich, dassein Umdenken stattgefunden hat. Ich denke aber, es istauch ein Zeichen grüner Unglaubwürdigkeit, dass mandas, was man vorher gefordert hat, einfach auf demKoalitionstisch opfert.
Im November letzten Jahres sprachen die Grünen nochvon der Militarisierung der Gesellschaft, als die F.D.P.eine Änderung des Grundgesetzes forderte, um Frauen dieMitarbeit in der Bundeswehr zu ermöglichen. Heute spre-chen Sie von der endlich erreichten Gleichberechtigung.Ich sage es noch einmal: Die Grünen haben in ihremWahlprogramm gefordert, die Zahl der Bundeswehrsol-daten in vier Jahren auf rund 150 000 zu reduzieren undin den folgenden Jahren weiter drastisch zu senken, zu-nächst mit dem Ziel der Halbierung derTruppenstärke.Davon ist jetzt nichts mehr zu hören oder zu lesen. DieBündnisgrünen fordern jetzt, wie gesagt, 200 000 Solda-ten, 200 000 bis an die Zähne bewaffnete Profis. Zu alldem haben wir heute, Frau Kollegin, nichts gehört. DieGrünen spielen sich plötzlich als Retter der Bundeswehrauf. Dazu kann ich nur sagen: Wer solche Freunde hat,braucht keine Feinde mehr.Herr Minister, die Probleme, die Sie und die SPD mitden Grünen haben, sind heute wieder erkennbar gewesen,auch wenn Sie und die anderen Redner der SPD versuchthaben, diese Probleme zu verniedlichen.
Die offensichtliche Realisierung von rund 80 Prozentder F.D.P.-Forderungen im Zuge der großen Reform derBundeswehr ist gut. Ich bin sicher, dass im Rahmen derFeinplanung – spätestens jedoch bei der Nachsteuerung –weitere Punkte unseres Positionspapiers vor allem in Sa-chen Wehrpflicht und Personalumfang übernommen wer-den. Ich stelle fest, dass die F.D.P. auch auf dem Feld derSicherheits- und Verteidigungspolitik ihrem Ruf alsverantwortungsvolle und bürgerfreundliche Reformparteigerecht geworden ist.Lassen Sie mich noch eines sagen: Wir haben einenAntrag vorgelegt. Wir bedanken uns ausdrücklich bei al-len Mitgliedern sowie bei den Mitarbeiterinnen und Mit-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 200010038
arbeitern der Regierungskommission für die geleisteteArbeit. Ich möchte mich an dieser Stelle auch für die bis-herige Arbeit des Generalinspekteurs bedanken, derEnde des Monats seinen Posten verlässt. Ich glaube, auchdas gehört an diese Stelle.Zum Abschluss noch einen Satz in Richtung PDS undGrüne: Es gibt nichts Militanteres als Antimilitaristen.Vielen Dank.
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Winfried
Nachtwei.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor 14 Tagenhat uns die Kommission „Gemeinsame Sicherheit undZukunft der Bundeswehr“ ihren Bericht an die Bundesre-gierung vorgelegt. Es wurde selbstverständlich nicht er-wartet, dass alle diesem Bericht zustimmen werden. Aberer ist durch die sehr große politische und intellektuelleUnabhängigkeit, mit der er abgefasst wurde, durch seineKlarheit und Gründlichkeit überzeugend. Dieser Berichtist und bleibt ein Maßstab für die weitere Diskussion undfür die Entscheidungen über die Zukunft der Bundeswehr.Das Wohltuende an diesem Bericht ist vor allem, dass eruns aus der bisher unheimlich banalen, parteipolitischenArt und Weise herausholt, in der die Auseinandersetzungum dieses Thema sehr oft geführt wurde und die geradebeim letzten Redebeitrag wieder sehr deutlich zum Aus-druck kam.
Es ist ein gründlicher Bericht, der eine gründliche De-batte erfordert. Wir stehen auf der einen Seite unter enor-mem Entscheidungsdruck. Das ist klar. Wenn ich mir dasjetzige Verhalten der Opposition während dieser Diskus-sion anschaue, dann empfinde ich diesen Entscheidungs-druck fast noch stärker. Aber auf der anderen Seite machtder äußerst enge Zeitplan der Bundesregierung die wün-schenswerte gründliche Debatte des Kommissionsbe-richts sehr schwer. Das muss ich einräumen. Aber auf-grund dieses engen Zeitrahmens erübrigt sich die Diskus-sion und die Kenntnisnahme des Kommissionsberichts inkeiner Weise.Wir haben festgestellt, dass in der öffentlichen Debatteüber den Kommissionsbericht die Frage des Wie im Vor-dergrund stand und viel zu wenig die Frage des Wofür de-battiert wurde. Dazu möchte ich einige Anmerkungenmachen: Bezüglich der Risiko- und Bedrohungsanalysegibt es – auch wenn bereits Festlegungen zwischenNATO, Bundesregierung und EU vorhanden sind – offen-kundig noch Verständigungsbedarf; denn es gibt Dissen-sen bezüglich der Einschätzung der so genannten großenexistenziellen Bedrohung. Die Kommission geht davonaus, dass es in einem mittelfristigen Zeitraum von unge-fähr zehn Jahren keine große existenzielle strategischeBedrohung der Bundesrepublik gibt. Diejenigen, die eineandere Position vertreten, gehen davon aus, dass eine sol-che Bedrohung sehr unwahrscheinlich ist. Aber aus dieserunterschiedlichen Risikoeinschätzung ergeben sich unter-schiedliche Konsequenzen bezüglich der Aufwuchsstärkeder Bundeswehr und der heutigen Legitimation der Wehr-pflicht. Es gibt also im politischen Raum insgesamt nochVerständigungsbedarf. Weil wir bei dieser Risikoanalyseganz klar der Kommission folgen, bleiben wir dabei, dasswir die Wehrpflicht heutzutage sicherheitspolitisch nichtmehr für legitim halten.Die Kommission hat auch die Einordnung der Bundes-wehrreform in ein umfassendes Verständnis von Si-cherheitspolitik deutlich angesprochen. Es ist auffällig –das ist bisher gar nicht zur Sprache gekommen –, wie ge-nau sich die Kommission dazu äußert. Sie sagt nämlich –Zitat aus Nr. 23 –:Zuweilen kann das Militär stabilisierend, dämpfendoder abschreckend wirken. Militärische Macht, vonaußen in eine Krisenregion eingebracht, kann helfen,die Eskalation und Ausweitung von Konflikten zuverhindern. Militärisches Eingreifen wird jedoch nureine Option im Fächer der politischen Gesamtstrate-gie sein.Dies ist eine völlig richtige Einordnung. Es ist zugleicheine deutliche Absage an Interventionismus, was derKommission von manchen, sehr oberflächlichen Kriti-kern vorgeworfen wird.Die Kommission zieht hieraus die richtigen Konse-quenzen. Sie deutet an, wie man den Anspruch einer um-fassenden Sicherheitspolitik umsetzen und welche Instru-mente und welche Fähigkeiten man konkret verstärkt ent-wickeln muss. Das wird von der Kommission zwarvielleicht nicht in der genügenden Gewichtung angespro-chen, aber es wird überhaupt erwähnt. Das ist ein Hinweisdarauf, dass wir – Koalition und Parlament insgesamt – zukurz treten würden, wenn wir uns nur mit einer isoliertenMilitärreform beschäftigen würden.Wenn wir nur eine isolierte Militärreform betreibenwürden, dann liefen wir Gefahr, mehr Krisenreaktions-fähigkeit zu schaffen und am Ende bei militärischer Kri-senreaktion öfter dabei zu sein, aber gleichzeitig keines-wegs bessere Krisenbewältigung zu leisten. Deshalbkommt es auf die unbedingte Einbettung der Militärre-form in eine schnelle Stärkung aller Instrumente undFähigkeiten von Krisenprävention auf der einen Seite undvon Friedenskonsolidierung auf der anderen Seite an.Der Minister hat vorhin sehr zu Recht darauf hinge-wiesen, dass es nötig ist, den Schwerpunkt „innereFührung“ weiterzuentwickeln. Auch für die Kommissionwar die Weiterentwicklung der so genannten blauenFähigkeiten von Soldaten über die militärischen Grund-fähigkeiten hinaus – das geht wirklich in Richtung einesanderen Soldatenbildes – ein ganz entscheidenderSchwerpunkt. Im Bereich der Entwicklung umfassenderInstrumente und Fähigkeiten hinsichtlich vorbeugender
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Günther Friedrich Nolting10039
Sicherheitspolitik braucht sich die Bundesregierung inkeiner Weise zu verstecken.Vorhin wurde der Bundesregierung vorgehalten: Wasgeschieht denn in den anderen Bereichen? Meine Bittelautet: Informieren Sie sich! Hören Sie einmal zu!Schauen Sie sich einmal an, was die Bundesregierung –das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenar-beit und Entwicklung und das Auswärtige Amt – inzwi-schen macht!
Ich erinnere auch an die verschiedenen anderen Instru-mente, um vor allem zivile Kriseneingreiffähigkeitennicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch aufEU-Ebene zu fördern. Schauen Sie sich an, was in denletzten Wochen mit der Aufstellung der React-Einheitenauf OSZE-Ebene usw. geschehen ist! Dies wurde wesent-lich durch die Bundesregierung und wenige andere Län-der angestoßen. Die Bundesregierung braucht sich in die-ser Frage in keiner Weise zu verstecken; es gibt auf die-sem Gebiet erhebliche Fortschritte.
Es besteht zwar kein vollständiger, aber breiter Kon-sens in den verschiedensten Überlegungen zur Zukunftder Bundeswehr, dass der Umfang der so genannten Ein-satzkräfte erheblich aufgestockt werden muss. In Rich-tung der PDS sage ich: Schauen Sie sich bitte das Frie-densgutachten der fünf Friedensforschungsinstitute an.
Auch sie gehen davon aus, dass angesichts gegenwärtigerGewaltkonflikte Situationen existieren – Bosnien undKosovo sind ein Beispiel dafür –, in denen man zur Ge-walteindämmung und Gewaltverhinderung Militärtatsächlich braucht.
Die fünf Friedensforschungsinstitute behaupten zumBeispiel, der Umfang der Einsatzkräfte müsse bei einerGrößenordnung von 100 000 liegen. Das liegt unter denVorschlägen der Bundesregierung und der Kommission;aber es ist eine deutliche Heraufsetzung gegenüber heute.Es ist unbestreitbar, dass wir da eine Aufstockung brau-chen, um die Bundeswehr in einer sinnvollen und – dasist keine orwellsche Sprachverdrehung – friedensfördern-den Weise einzusetzen.
Zugleich sollten wir noch eines bedenken.
Herr Kollege
Nachtwei, Sie haben Ihre Redezeit weit überschritten.
Gut. – Dann will ich zu dem Aspekt der politischen Ein-
grenzung dieser Fähigkeiten nur bemerken, dass wir uns
darüber noch Gedanken machen müssen. Aber das sind al-
les Fragen, deren Erörterung in den nächsten Wochen und
Monaten erfolgen muss. Sie sind selbstverständlich nicht
mit dem Kabinettsbeschluss am 14. oder 21. entschieden.
Damit haben wir uns in der nächsten Zeit zu beschäftigen.
Es ist festzustellen, dass wir gerade in den Bereichen der
Flankierung in der Koalition einen überzeugten Konsens
haben, und zwar nicht nur einen verbalen, sondern einen
tatsächlichen.
Danke.
Ich gebe das Wortdem Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU, FriedrichMerz.Friedrich Merz (von Abgeordneten derCDU/CSU mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Herr Scharping, Sie ha-ben uns am Schluss Ihrer Rede zu einem ausführlichenDialog über die Zukunft der Bundeswehr und ihrezukünftigen Aufgaben eingeladen. Ich stelle Ihnen einmaldie Frage: Was soll eigentlich eine Einladung zu einemsolchen Dialog,
wenn den Mitgliedern des Deutschen Bundestages, insbe-sondere den Oppositionsfraktionen, von Ihnen am Mon-tag dieser Woche kein Konzept, sondern Eckpunkte füreine Bundeswehrreform ausgehändigt wurden und bereitsam Mittwoch der nächsten Woche die Entscheidung imKabinett über die finanzielle Ausstattung der Bundes-wehr getroffen werden soll? Was soll eigentlich eine sol-che Einladung? Sie machen sich unglaubwürdig. Das istkein seriöses Gesprächsangebot.
Mit dem, was Sie vorschlagen, und mit den Zeitabläu-fen, insbesondere mit der Entscheidung des Bundeskabi-netts in der nächsten oder übernächsten Woche, bestätigenSie alle unsere Vorbehalte,
dass diese Bundesregierung nicht etwa eine sorgfältig ge-plante Reform der Bundeswehr auf die Tagesordnung ge-setzt hat, sondern dass alle weiteren Entscheidungen überdie Zukunft der Bundeswehr ausschließlich von den vomBundesfinanzminister gesetzten Daten abgeleitet werden.Das ist die eigentliche Priorität, die von dieser Bundesre-gierung gesetzt wird.
Sie werden den Verdacht nicht entkräften können, dassdie tief greifenden Meinungsverschiedenheiten, die in der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Winfried Nachtwei10040
Koalition nicht nur über die Wehrpflicht, sondern übereine Reihe von verteidigungspolitischen, sicherheits-politischen und auch außenpolitischen Fragen bestehen,diesen Zeitplan diktiert haben, dass Sie so schnell wiemöglich alle Entscheidungen durchziehen und in jedemFalle das verhindern wollen, wozu Sie uns gerade einge-laden haben, nämlich eine wirklich sorgfältige Debatteund eine sorgfältige Entscheidung, die es vorzubereitengilt.
Es ist Ihnen unbenommen, Herr Scharping, auf frühereJahre hinzuweisen. Aber ganz so kurz ist unser Gedächt-nis nun doch nicht.
Sie sind 1998 gegen Ihren erklärten Willen in das Amt desBundesverteidigungsministers gekommen. Sie sind ge-gen Ihren Willen in dieses Amt gekommen;
Sie wollten etwas ganz anderes werden. Aber Sie haben esangenommen, weil Sie damals vom Bundeskanzler undvom Bundesfinanzminister die Zusage bekommen haben
– da täuschen Sie sich, Herr Schlauch –, dass im Etat desBundesverteidigungsministers gegenüber der damalsschon feststehenden mittelfristigen Finanzplanungkeine Kürzungen vorgenommen werden.
Sie haben sich diese Zusage vom Bundeskanzler und vomBundesfinanzminister öffentlich geben lassen. Zu diesenAbsprachen mit Schröder – damals hieß der Finanzminis-ter Lafontaine – sagten Sie damals wörtlich: Mit so weitreichenden Zusagen ist bisher noch kein Verteidigungs-minister auf die Hardthöhe gegangen.
Für die Jahre von 1999 und bis 2003 – das ist ein Zeitraumvon fünf Jahren – fehlen der Bundeswehr abweichend vonden Zusagen, die Sie damals bekommen haben, genau18,6 Milliarden DM.
Ich sage dazu: Mit einer so schallenden Ohrfeige musstenoch nie ein Verteidigungsminister in Deutschland seinAmt beginnen.
Herr Scharping, ich will Sie, nachdem Sie jetzt Zahlenzur Stärke der Bundeswehr genannt haben, an noch etwaserinnern, was Sie damals öffentlich gesagt haben. Sie ha-ben ja völlig zu Recht von Verlässlichkeit – auch für dieSoldaten und deren Familien –, Planbarkeit und Sicher-heit gesprochen. Sie haben, kurz bevor Sie ins Amt ge-kommen sind – ganz genau am 18. Oktober 1998 –, in ei-nem Interview auf die Frage, welche Stärke die Bundes-wehr nach Ihrer Auffassung haben soll, wörtlichgeantwortet: Wir gehen von 340 000 Bundeswehrstärkeaus – damit waren gewiss nur die Soldaten gemeint undnicht auch noch die Zivilbeschäftigten –, 340 000 auchwegen unserer Verpflichtung im Bündnis; Verlässlichkeitund Kontinuität in der Außenpolitik verlangen Ver-lässlichkeit und Kontinuität gegenüber der Bundeswehr.
340 000 – das ist gerade einmal anderthalb Jahre her. Siehaben nun wirklich keinen Grund, der Opposition Vor-würfe zu machen, wenn wir die Verlässlichkeit, Vorher-sehbarkeit und Kontinuität Ihrer Politik infrage stellen.
Meine Damen und Herren, wir haben natürlich seit1989/90 eine veränderte außenpolitische, sicherheitspoli-tische und auch verteidigungspolitische Lage – weltweit,in Europa und auch in Deutschland.
Die Tatsache, dass wir eine solche Veränderung erreichenkonnten, dass durch die Ereignisse der Jahre 1989/90 einhohes Maß an Frieden und Sicherheit zusätzlich fürDeutschland und Europa gewonnen werden konnte, istnun allerdings nicht Ihrer Verteidigungspolitik zu verdan-ken, sondern hängt damit zusammen, dass die von Ihnenso vielfältig kritisierte Regierung von Helmut Kohl jeder-zeit zu ihren Bündnisverpflichtungen gestanden hat undauch niemals aufgegeben hat, eine Grundlage für Friedenund Freiheit in Europa zu schaffen, indem sie die Über-windung derTeilung Europas und die Überwindung derdeutschen Teilung jederzeit als ihr politisches Ziel be-trachtet hat. Jederzeit!
Deswegen hat natürlich die Überwindung der Teilung ei-nen maßgeblichen Beitrag zu mehr Frieden und zu mehrFreiheit in Europa und in Deutschland geleistet.Die außen- und sicherheitspolitische Lage hat sichgrundlegend verändert. Darauf hat die alte Bundesregie-rung reagiert.
Die Streitkräfte in Deutschland sind – abgesehen von derAuflösung der Nationalen Volksarmee – drastisch redu-ziert worden. Volker Rühe hat völlig zu Recht immer wie-der auch von dieser Stelle aus von der Friedensdividendegesprochen, die die Bundeswehr bereits gezahlt hat.
Es ist richtig, dass durch die Überwindung der TeilungEuropas eine existenzgefährdende, militärische Bedro-hung durch große Landstreitkräfte, durch überlegene, auf
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Friedrich Merz10041
Landnahme ausgerichtete Streitkräfte wie die des War-schauer Paktes sehr unwahrscheinlich geworden ist.
Aber die Bedrohung unseres Landes und des europä-ischen Kontinentes hat eine andere Qualität bekommen.Es gibt auch heute Bedrohung. Diese Bedrohung ergibtsich aus dem Zerfall von Staaten in Europa, aus der Pro-liferation von Waffen, atomaren Sprengköpfen, biologi-schen und chemischen Waffen, sowie aus der Existenz un-kalkulierbarer Staatsführungen. Die Amerikaner sprechendabei von so genannten Schurkenstaaten. Diese besitzenWaffen, in deren Reichweite auch die BundesrepublikDeutschland liegen kann.Es gibt eine Bedrohung unseres Landes. Es gibt eineBedrohung des Nordatlantischen Bündnisses. Deswegenkommt es darauf an, dass Deutschland, Europa und dieNATO auch in Zukunft Verteidigungsfähigkeit besitzen.Die Bundesrepublik Deutschland muss einen ihrer Größeund wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entsprechendenBeitrag zur Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses undzur Landesverteidigung leisten. Herr Scharping, es ist un-seren Bündnispartnern nur noch schwer zu vermitteln,dass wir, gemessen an der wirtschaftlichen Leistungs-fähigkeit unseres Landes, innerhalb des Bündnisses mitt-lerweile einen so geringen Verteidigungsbeitrag erbrin-gen, dass nur noch der von Luxemburg und Island ge-ringer ist.Die Bundesrepublik Deutschland steuert gegenwärtigund mit dem, was Sie vorhaben, nicht den Anteil bei, densie leisten müsste, um Bündnisverpflichtungen und dieVerpflichtungen der Landesverteidigung zu erfüllen.Wenn Sie uns dies nicht glauben: Warum haben Sie nochvor wenigen Wochen zu Ihrem rot-grünen Etat gesagt, dieBundeswehr werde auf absehbare Zeit weder vollständigbündnisfähig noch europafähig sein, wenn es bei derderzeit gültigen Finanzplanung bleibe? Warum haben Siedas, Herr Scharping, noch vor wenigen Wochen in einemöffentlichen Interview gesagt? Warum weisen Sie jedeKritik zurück, die Sie heute nicht nur von uns erfahren,sondern auch von vielen anderen, die die Sache fachlichbeurteilen können? Warum tun Sie deren Kritik ab undsagen, dass diese – wie Sie sich eben hier ausgedrückthaben – von der Sache, der rot-grünen Verteidigungspoli-tik nichts verstünden?
Ich sage Ihnen aus unserer Sicht: Die Bundeswehrmuss in Zukunft in sechs wesentlichen Punkten ihreZukunftsfähigkeit beweisen. Wir brauchen eine fun-dierte sicherheitspolitische Analyse. Sie haben völlig zuRecht darauf hingewiesen, dass die NATO diese Analyseauch für unser Land mit erstellt. Auf der Grundlage diesersicherheitspolitischen Analyse brauchen wir eine realis-tische Bewertung des Risikos. Das erwarten natürlich ge-rade diejenigen von uns – ich werde darauf noch zusprechen kommen –, die der Wehrpflicht unterliegen undin diesen Wochen und Monaten zur Wehrpflicht herange-zogen werden.Wir brauchen aber auch eine Definition der deutschenInteressen. Meine Damen und Herren, die deutschen In-teressen in der geopolitischen Mitte Europas sind anderesicherheitspolitische Interessen als beispielsweise die derkleinen Länder, die ich genannt habe, Island und Luxem-burg.Erstens. Wir müssen unsere Verpflichtungen innerhalbder NATO und innerhalb der Europäischen Union auch inZukunft wahrnehmen können. Sie selbst haben infragegestellt, dass wir darauf vorbereitet sind.Zweitens. Die Bundeswehr muss auch in Zukunft zurLandesverteidigung fähig sein. Dies klingt wie eine bareSelbstverständlichkeit. Aber die Pläne, die Sie mit IhremEckpunktepapier vorgestellt haben, weisen darauf hin,dass Sie große Teile der Bundeswehr nicht mehr auf dieLandesverteidigung ausrichten, sondern auf Einsätzeaußerhalb des Bündnisses.
Meine Damen und Herren, es gehört schon zu den Ab-surditäten rot-grüner Politik, dass diejenigen, die jedenauch noch so kleinen Einsatz außerhalb des Bündnisge-bietes in der Zeit, in der sie in der Opposition waren, bishin zum Bundesverfassungsgericht bekämpft haben, jetztdie größte Interventionsarmee haben wollen, die die Bun-desrepublik Deutschland jemals gehabt hat.
Drittens. Meine Damen und Herren, die Bundeswehrals Armee des größten Landes in der Mitte des europä-ischen Kontinentes muss in Zukunft auch als zentraleu-ropäische Armee ausgestaltet sein, die die Aufgabe eineseuropäischen Stabilitätsankers in der Mitte des eu-ropäischen Kontinentes wahrnimmt. Dies ist für die Bun-deswehr anders als beispielsweise für die britische und fürdie französische Armee und dies ist auch fundamental an-ders als beispielsweise für die amerikanische Armee.Deutschland hat im Rahmen der Bündnisverpflichtungenwie kein anderes Land die Verpflichtung, durch Land-streitkräfte in der Mitte Europas die Verteidigungs-fähigkeit und die Bündnisfähigkeit aufrechtzuerhalten.Dies ist mit dem Konzept, das die Bundesregierung jetztin Teilen vorgestellt hat, nicht vereinbar.Viertens. Auch wir brauchen mit der Bundeswehr inZukunft eine eigene Fähigkeit zur multilateralenKrisen- und Konfliktbewältigung. Wir sind mit Ihnen –so hoffe ich jedenfalls – dankbar für das, was die Soldatender Bundeswehr in den Krisenregionen, insbesondere de-nen des Balkans, bis in diese Wochen und Monate hineinleisten, und wir werden morgen – ich hoffe gemeinsam –über die Verlängerung des Mandats der Soldaten im Rah-men des so genannten KFOR-Kontingents zu entscheidenhaben. Ich sage es noch einmal, Herr Scharping: ich hoffe,gemeinsam, und zwar auf der Basis dessen, was wirgestern besprochen haben.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Friedrich Merz10042
– Was das heißt, Herr Kollege, können Sie wahrscheinlichnicht wissen, weil Sie nicht ausreichend darüber in-formiert sind,
dass es gegenwärtig zwischen der Bundesregierung undder Opposition einen Konflikt um die Frage gibt, ob wirmorgen ein zeitlich befristetes Mandat beschließen oderob wir es mit der Bundesregierung zulassen, dass dieFrage des Bundeswehreinsatzes außerhalb des NATO-Gebietes in Zukunft ohne Parlamentsbeteiligung be-schlossen werden kann. Das ist der entscheidende Punkt.Wir werden darauf bestehen, auch wenn es Ihnen nichtgefällt,
auch wenn Sie aus Gründen der Rücksichtnahme auf dieGrünen und auf die Linken in Ihren eigenen Reihen ver-suchen wollen, die parlamentarische Beteiligung an derEntscheidung über den Einsatz der Bundeswehr Schrittfür Schritt auszuhöhlen. Mit uns werden Sie das nichtmachen können!
Meine Damen und Herren, die Erfahrungen aus demEinsatz der Bundeswehr insbesondere im Rahmen desKFOR-Mandats zeigen, dass die Bundeswehr schon heuteeine Reihe von strukturellen Schwächen aufweist, ins-besondere in den Bereichen ihrer Aufklärungsfähigkeit,der Führungsfähigkeit, der Mobilität und in vielen an-deren Fragen bis hin zur elektronischen Kampfführung,wobei die Bundeswehr gegenüber anderen Streitkräften,die mitbeteiligt sind, technologische Rückstände auf-weist. Die Bundeswehr muss auch im Rahmen solcherEinsätze die Möglichkeit bekommen, mit zusätzlichen In-vestitionen in Zukunft auf Einsätze außerhalb des NATO-Gebietes besser vorbereitet zu sein.Fünftens. Dies alles – Landesverteidigung, Bünd-nisverpflichtungen und internationale Verpflichtungen –erfordert nach unserer Auffassung, meine Damen undHerren, eine Personalstärke der Bundeswehr, die nichtunter 300 000 liegen darf. Sie, Herr Scharping, for-mulieren die Personalstärke der Bundeswehr aus-schließlich nach dem, was Ihnen der Bundesfinanzminis-ter an Mitteln zur Verfügung stellt.
Die Personalstärke der Bundeswehr darf nicht nach denkurzfristig verfügbaren Haushaltstiteln, sondern mussnach den sicherheitspolitischen Erfordernissen der Lan-desverteidigung, der NATO-Verpflichtungen und derBündnisverpflichtungen ausgestaltet werden.
Sechster und letzter Punkt, meine Damen und Herren:Wir sind aus vielen Gründen davon überzeugt, dass dieBundeswehr auch in Zukunft maßgeblich auf derWehrpflicht aufbauen muss. Sie, Herr Scharping, habenzu Recht angemahnt, dass über innere Führung, Soldat inUniform und die feste Verankerung der Bundeswehrin unserer Gesellschaft gesprochen wird. Ich teile aus-drücklich das, was Sie dazu gesagt haben. Aber wenn Sieglaubwürdig bleiben wollen, dann muss die Wehrpflichtmit Wehrgerechtigkeit verbunden sein und das heißt,es müssen große Teile der Jahrgänge, die für dieWehrpflicht zur Verfügung stehen, auch eingezogen wer-den können. Und das ist mit einer Zahl von weniger als100 000 Wehrpflichtigen vermutlich nicht realistisch.
Deswegen muss die Wehrpflicht in einem Umfang vonrund 100 000 Wehrpflichtigen beibehalten werden kön-nen.Dies ist mehr als nur eine militärpolitische Frage. Diesist mehr als nur eine sicherheitspolitische Frage. Dies isteine zutiefst gesellschaftspolitische Frage, gerade für dieBundesrepublik Deutschland. Wir sind das einzige Landim Bündnis, das aufgrund seiner Geschichte nicht auf eineüber lange Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte unge-brochene Militärtradition zurückgreifen kann. Geradeweil wir nicht auf eine ungebrochene militärische Tradi-tion zurückgreifen können, brauchen wir nach meiner fes-ten Überzeugung – das ist die feste Überzeugung derallermeisten Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfrak-tion – auf Dauer die Verankerung der Bundeswehr in derBevölkerung der Bundesrepublik Deutschland durch dieAufrechterhaltung der Wehrpflicht.Die Bundeswehr wird in der Bevölkerung der Bun-desrepublik Deutschland nur dann auf Dauer Zustim-mung und Akzeptanz finden, wenn sich auch die Zeitsol-daten und die Berufssoldaten der Bundeswehr, so wie esheute der Fall ist, zum größten Teil aus Wehrpflichtigenrekrutieren. Damit geht die Qualität der Bundeswehr –und ihre gesellschaftliche Akzeptanz als Ganzes – weitüber die Zahl der von uns als notwendig erachteten100 000 Wehrpflichtigen hinaus.
Wenn Sie, Herr Scharping, bereit sind, auf dieser Basiseine breit angelegte Debatte über die Bundeswehr, dieLandesverteidigung, die Bündnisverpflichtungen und dieinternationalen Verpflichtungen der BundesrepublikDeutschland zu führen, und wenn Sie bereit sind, erst amEnde einer solchen Diskussion die Entscheidungen imKabinett über die Haushaltstitel zu treffen, dann werdenSie uns an Ihrer Seite finden,
wenn es um die großen, langfristig tragfähigen politischenEntscheidungen – ich sage ausdrücklich: nicht nur in derBundeswehr und in der Sicherheitspolitik, sondern auchin der Außenpolitik und in der Europapolitik – geht.Ich hätte es sehr begrüßt, wenn an dieser Debatte heuteNachmittag – wenn ich es richtig sehe, ist das die einzigeGelegenheit, vor der Entscheidung des Bundeskabinetts,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Friedrich Merz10043
die die Grundlage für alles Weitere legt, eine solche De-batte zu führen; das ist auch der Grund, warum ich michzu Wort gemeldet habe – auch der Außenminister derBundesrepublik Deutschland teilgenommen hätte.
– Entschuldigung, der Kollege Rühe ist bis vor wenigenMinuten hier im Plenum gewesen, was Ihrer Aufmerk-samkeit wohl entgangen ist. Er hat, weil er einen Terminmit einem Besucher hat, der bereits längere Zeit auf ihngewartet hat, darum gebeten, das Plenum verlassen zudürfen.
– Entschuldigung, es ist nicht der OppositionspolitikerVolker Rühe für die Außen- und Sicherheitspolitik derBundesrepublik Deutschland verantwortlich, sondern essind der Außenminister und der Verteidigungsminister.
Ich stelle fest – das will ich auf Ihren Zwischenruf nochsagen –, dass wir einen Außenminister haben, der sichmittlerweile mehr Zeit nimmt, um den Wannsee zujoggen, als im Deutschen Bundestag zu sitzen.
Diese Antwort bleibe ich Ihnen nicht schuldig.Ich hätte mir gewünscht, dass wir Gelegenheit haben,eine ausführliche Debatte über die Zukunft der Bun-deswehr zu führen. Bei allen Meinungsverschiedenheitenund Auseinandersetzungen, die in diesem Parlament not-wendig sind, insbesondere deshalb, weil diese Bun-desregierung der Bundesrepublik Deutschland der Bun-deswehr die notwendige Ausstattung vorenthält, sollendie Soldaten der Bundeswehr, ihre Angehörigen, ihreFamilien wissen: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktionwird – jenseits aller berechtigen Kritik – auch in Zukunfthinter der Bundeswehr und hinter ihrem Auftrag stehen,den wir ihr politisch gegeben haben: Wahrnehmung derLandesverteidigung und Einhaltung der Bündnisver-pflichtungen.Vielen Dank.
Zu einer Kurzinter-
vention gebe ich dem Kollegen Dr. Ludger Volmer das
Wort.
Herr Merz, Sie haben sich zum Schluss Ihrer Rede nichteiner kleinen rhetorischen Sottise enthalten können, mitder Sie Ihre ansonsten stinklangweilige Rede meintenwürzen zu müssen.
Dies war eine Rede, die als einzigen Gehalt weitere Fi-nanzforderungen hatte, wobei Sie keinen Vorschlaggemacht haben, wie diese erfüllt werden könnten. UmIhrem Vortrag eine gewisse Würze zu geben, meinten Sieden Außenminister angreifen und ihm vorwerfen zumüssen, er gehe just in dem Moment joggen, in dem Sieden Bundestag langweilen.Herr Merz, Sie wissen genau, wo sich der Bundes-außenminister im Moment aufhält: Der Bundesaußen-minister ist vorhin nach Krakau gereist, um dort an denGesprächen des so genannten Weimarer Dreiecksteilzunehmen.
Herr Merz, ich möchte Sie daran erinnern, dass das„Weimarer Dreieck“ eine Idee war –
– Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,ich finde es interessant, dass Sie sich von mir erklärenlassen müssen, was das „Weimarer Dreieck“ ist.
Denn die Schaffung des „Weimarer Dreiecks“ gehört zuden Erfolgen, zu denen wir Ihrem ehemaligen Parteivor-sitzenden Helmut Kohl gratulieren.
Zu den historischen Erfolgen von Helmut Kohl gehört,dass er im Rahmen des „Weimarer Dreiecks“ Beratungeninitiiert hat: zwischen Deutschland, unserem großen west-lichen Nachbarn Frankreich und einem unserer großen,bedeutsamen östlichen Nachbarn, Polen.Es ist selbstverständlich, dass der Bundesaußenminis-ter zu einem lange anberaumten Termin im Rahmen des„Weimarer Dreiecks“ reist. Es ist umso selbstver-ständlicher, dass er dies in einer Situation tut, in der inPolen innenpolitische Friktionen zu beobachten sind undin der es bedeutsam ist, dass wir und die polnische Seitebetonen, dass innenpolitische Veränderungen in Polenunser bilaterales Verhältnis und das trilaterale Verhältniszu Frankreich nicht berühren, sondern dass uns dieseDinge ein Ansporn sind, weiterhin an einer guten Nach-barschaft und einer Vertiefung der Beziehungen zu ar-beiten.Wenn der Bundesaußenminister dies tut, dann leistet erdamit ein bedeutsames Stück an Konflikt- und Krisen-prävention.
Denn dieser Besuch ist in eine Osteuropa- und Europa-politik einzuordnen, mit der versucht wird, auf die Trans-formationsstaaten Osteuropas stabilisierenden Einfluss zunehmen. Ich finde es tragisch, dass das einem Fraktions-vorsitzenden der CDU/CSU so deutlich gesagt werdenmuss.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Friedrich Merz10044
Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell ist die Überweisung des Entschlie-
ßungsantrages der F.D.P.-Fraktion auf Drucksache
14/3511 federführend an den Verteidigungsausschuss und
mitberatend an den Auswärtigen Ausschuss, den Haus-
haltsausschuss und den Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend vereinbart worden. Das Haus ist damit
einverstanden? – Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Fragestunde
– Drucksache 14/3490 –
Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums der Verteidigung. Zur Beantwor-
tung steht Frau Parlamentarische Staatssekretärin Brigitte
Schulte zur Verfügung.
Die Frage 43 des Kollegen Benno Zierer wird
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 44 des Abgeordneten Georg Girisch
auf:
Wie weit sind die Planungen der Bundesregierung fort-
geschritten, Bundeswehrkassen zusammenzulegen und Fusionen
mit anderen Bundeskassen herbeizuführen, und besteht hierdurch
nicht die Gefahr, dass Arbeitsplätze außerhalb von Ballungszen-
tren abgebaut werden?
B
Die Antwort heute, Herr
Girisch, bezieht sich auf eine Planung, die auf die alte
Bundesregierung zurückzuführen ist. Seit 1997 wird mit
ausgewählten militärischen und Verwaltungsdienststellen
erprobt, ob das Haushalts-, Kassen- und Rechnungswe-
sen-Verfahren des Bundes nicht nur im Ministerium
selbst, sondern auch im Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums der Verteidigung erfolgreich angewandt
werden könnte. Das würde eine Konzentration bedeuten.
Im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Fi-
nanzen wurde dieser Pilotversuch 1998 um weitere
Dienststellen mit bundeswehrspezifischen Geschäftsvor-
fällen ausgeweitet. Der Versuch läuft in diesem Jahr aus.
Ein Bericht dazu liegt vor.
Seit dem 2. Mai 2000 sind die Bundeswehrkasse Kiel
und die Bundeskasse Kiel – das eine ist Verteidi-
gungsministerium, das andere Finanzministerium – im
Rahmen eines Modellversuchs zusammengelegt. Der
Modellversuch ist zunächst auf ein Jahr begrenzt. Die
Beschäftigten der Bundeswehrkasse Kiel sind zur Oberfi-
nanzdirektion Hamburg – also in den Bereich des Fi-
nanzministeriums – abgeordnet und nehmen dort die Auf-
gaben im Bereich der Bundeswehr wahr. Bei einem er-
folgreichen Abschluss des Modellversuchs können sie auf
freiwilliger Basis auch in die Bundesfinanzverwaltung
versetzt werden.
Zwischen den beiden Ministerien, dem Bundesvertei-
digungsministerium und dem Bundesministerium der Fi-
nanzen, besteht Einvernehmen, dass der Modellversuch
in Kiel die abschließende Bewertung des laufenden
Pilotversuchs für das Haushalts-, Kassen- und Rech-
nungswesen nicht präjudizieren soll. Die Bundeswehr-
kassen in Bayern sind von dem Modellversuch also nicht
berührt.
Sofern die Bundeswehrkassen mit den Bundeskassen
zusammengelegt werden – was als Ergebnis herauskom-
men kann –, sind beträchtliche Personaleinsparungen zu
erwarten. Zu diesem Zeitpunkt können konkrete Aus-
sagen über den künftigen Bestand der Bundeswehrkassen
oder auch der anderen Kassen, also der des Finanzminis-
ters, aber noch nicht getroffen werden. Das gilt gegen-
wärtig auch für den Freistaat Bayern.
Keine Zusatzfrage.
Dann rufe ich die Frage 45 des Kollegen Erich G. Fritz
auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung den Bericht des Hamburger
Magazins „Stern“ vom 25. Mai 2000, wonach das Exportgeschäft
von Fuchs-Spürpanzern in die Vereinigten Arabischen Emirate
beinahe perfekt ist?
B
Herr Kollege Fritz, der
Bundesregierung liegt eine Voranfrage der deutschen In-
dustrie über die Lieferung von ABC-Spürpanzern Fuchs
in die Vereinigten Arabischen Emirate vor, die jedoch
noch nicht beschieden wurde. Ausfuhrgenehmigungen für
den hier in Rede stehenden Fuchs-Spürpanzer in die Ver-
einigten Arabischen Emirate sind bislang noch nicht
beantragt worden. Es gibt nur die Voranfrage.
Weitere Auskünfte kann die Bundesregierung aus
Gründen des Geheimschutzes gemäß § 30 des Verwal-
tungsverfahrensgesetzes in Verbindung mit § 203 des
Strafgesetzbuches nicht erteilen.
Eine Zusatzfrage.
Ich glaube, dass die Frage
des Geheimschutzes überhaupt nicht bezweifelt wird,
dass aber die Frage des Zeitpunkts der Entscheidung
diesem Geheimschutz sicher nicht unterliegt. Trifft es zu,
dass die Absegnung – wie es in der Presse zu lesen war –
des Fuchs-Geschäfts im Bundessicherheitsrat in aller
Kürze nur noch eine Formalität ist und dass auch Bünd-
nis 90/Grüne dem zustimmen, dass allerdings diese
Entscheidung nicht vor dem Parteitag der Grünen getrof-
fen wird – aus Rücksicht auf den kleineren Koalitions-
partner?
B
Lieber Herr Kollege Fritz,ich kann Sie ja verstehen; aber als Mitglied der Bun-desregierung werde ich mich hüten, spekulative Beiträgein der Presse ernst zu nehmen. Es trifft zu, was ich Ihnenbereits gesagt habe: Es liegt eine Voranfrage vor; es istaber keine Vorentscheidung getroffen worden. Wir wer-den uns entsprechend dem Lauf der Dinge verhalten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000 10045
Eine weitere Zu-
satzfrage.
Frau Staatssekretärin,
teilen Sie dem Deutschen Bundestag dadurch mit, dass
kein Zeitpunkt für die Entscheidung des Bundessicher-
heitsrats festgelegt ist?
B
Ich habe Ihnen gesagt, was
ich Ihnen im Moment sagen kann. Weiteres werde ich Ih-
nen auch deshalb nicht sagen, weil ich Ihre Fragen nicht
beantworten kann.
Eine Zusatzfrage der
Kollegin Heidi Lippmann.
Frau Staatssekretärin
Schulte, können Sie die Zahl spezifizieren oder fällt auch
das unter die Geheimhaltung? Es hatte ja bereits einmal
eine positiv beschiedene Voranfrage über die Lieferung
von, glaube ich, 24 Spürpanzern vom Typ Fuchs in die
Vereinigten Arabischen Emirate gegeben. Die Zahlen, die
zuletzt im Gespräch waren, lagen um die 60 herum. Be-
trifft die jetzt erfolgte Voranfrage eine Lieferung, die die
Zahl 50 oder 60 übersteigt?
B
Frau Kollegin, das kann ich
Ihnen selbstverständlich beantworten. Es gab eine Voran-
frage vom 17. August 1998 auf die Lieferung von
29 „Füchsen“ an die Vereinigten Arabischen Emirate.
Diese Anfrage wurde im Januar 1999 positiv beschieden.
Eine weitere Voranfrage auf eine Erhöhung dieser Stück-
zahl um zusätzlich 35 „Füchse“ vom Oktober 1999 liegt
der Bundesregierung vor. Hinsichtlich letzterer Anfrage
ist aber noch keine Entscheidung gefällt worden.
Sie wissen ja – auch damit verletze ich keine
Geheimnisse –: Neben dem Auswärtigen Amt werden das
Bundesministerium für Wirtschaft und das Bundesminis-
terium für Verteidigung beteiligt. Wir sind nur ein Teil in
dieser Angelegenheit, nicht der handelnde Teil.
Ich rufe die Frage 46
des Abgeordneten Werner Siemann auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung den möglichen Erwerb von
49 Prozent an der Firma Krauss-Maffei Wegmann durch den
amerikanischen Konzern General Dynamics sowie die
Übernahme der spanischen Staatsfirma Santa Barbara durch GD
im Hinblick auf den Know-how-
Transfer und die vereinbarte europäische
Zusammenarbeit in der Rüstungsindustrie?
B
Lieber Herr Kollege
Siemann, zum Verkauf der spanischen Staatsfirma Santa
Barbara Blindados an General Dynamics kann ich Ihnen
nur sagen, dass die Bundesregierung an einer europä-
ischen Lösung interessiert ist. Dies hat der Bundeskanzler
gegenüber dem spanischen Ministerpräsidenten deutlich
zum Ausdruck gebracht. Falls sich die spanische
Regierung jedoch für den Verkauf ihrer staatlichen
Heeresrüstungsindustrie an die amerikanische Firma
General Dynamics entscheiden sollte, könnte das natür-
lich Rückwirkungen auf die europäische industrielle Rüs-
tungszusammenarbeit haben. Der Schutz des Know-how
wird dann durch ein Technologieschutzabkommen zwi-
schen den industriellen Partnern zu regeln sein.
Was die Übernahme der Firma Krauss-Maffei Weg-
mann durch die US-Firma General Dynamics betrifft, so
liegen offizielle Erklärungen der beteiligten Unternehmen
dazu nicht vor. Die Bundesregierung sieht – wie auch in
vorangegangenen Fällen – keinen Anlass, zu Presse-
berichten Stellung zu nehmen.
Wir sind damit am
Ende dieses Geschäftsbereichs. Ich danke Ihnen, Frau
Staatssekretärin.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Minis-
teriums für Arbeit und Sozialordnung.
Ich rufe die Frage 1 des Kollegen Dirk Niebel auf:
Ist die Bundesregierung der Meinung, dass Arbeitsverbotegegen die Menschenwürde verstoßen, und wenn ja, wo kann dage-gen gerichtlich vorgegangen werden?
Zur Beantwortung steht die Parlamentarische
Staatssekretärin Ulrike Mascher zur Verfügung.
U
Herr Kollege,
in der Bundesrepublik Deutschland gibt es keine Ar-
beitsverbote. Art. 12 Abs. 1 des Grundgesetzes gewähr-
leistet allen Deutschen das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und
Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung
kann durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes geregelt
werden. Soweit dieses Grundrecht ausschließlich Deut-
schen zusteht, genießen Ausländer nach der Recht-
sprechung des Bundesverfassungsgerichts über das
Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit nach
Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes im Rahmen der verfas-
sungsmäßigen Ordnung ausreichende Rechte und Frei-
heiten.
Die Frage, auf welchem Gerichtsweg in den vorge-
nannten Fällen vorgegangen werden kann, hängt von dem
jeweiligen Regelungsbereich ab. Gegen Entscheidungen
der Arbeitsverwaltung steht der Weg zu den Sozialge-
richten offen.
Eine Zusatzfrage des
Kollegen Dirk Niebel.
Frau Staatssekretärin, Sie habenrichtigerweise darauf hingewiesen, dass es keine Ar-beitsverbote für Deutsche gibt. Nun weiß nicht nur dieBundesregierung – insbesondere auch die Auslän-derbeauftragte der Bundesregierung –, sondern auch daseine oder andere Sozialgericht im Land, dass es dochgenerelle Arbeitsverbote gibt, und zwar Arbeitsverbote
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 200010046
für Personengruppen. Insbesondere möchte ich hier dieAsylbewerber, die nach dem Mai 1997 in die Bundesre-publik eingereist sind, nennen. Diese sind – noch nacheinem Erlass der alten Bundesregierung, den die F.D.P.mit ihrer damaligen Ausländerbeauftragten, FrauSchmalz-Jacobsen, schon immer als rechtswidrig erachtethat – generell vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen, ohnedass eine Arbeitsmarktprüfung stattfindet. DiverseSozialgerichte haben diese Rechtswidrigkeit bereitsfestgestellt. Die Ausländerbeauftragte der Bundesre-gierung hat in diesem Hause mehrfach darauf hinge-wiesen, dass sie diesen Erlass als rechtswidrig erachtet.Wie wird die Bundesregierung mit dem Umstand um-gehen, dass die Ausländerbeauftragte der Bundesregie-rung einen Erlass, der ohne Beteiligung des DeutschenBundestages geändert werden könnte, als rechtswidrig er-achtet und dieser Erlass immer noch in Kraft ist?U
Zum Ersten, Herr
Niebel: Die Urteile, die Sie angesprochen haben, beruhen
vor allen Dingen darauf, dass die Gerichte in erstinstanz-
lichen Urteilen der Meinung waren, dass die Rechts-
grundlage für den Erlass der Weisung nicht bestanden hat.
Hierzu hat die Bundesregierung eine andere Rechtsauf-
fassung.
Zum Zweiten ist es so – das ist Ihnen sicherlich nicht
unbekannt –, dass sich die Regierung und die Koalitions-
fraktionen im Moment mit der Frage beschäftigen, wie
wir in geeigneter Form die Arbeitsmöglichkeiten, insbe-
sondere für Asylbewerber, regeln können, ohne dass wir
auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit nachhaltigen Ver-
werfungen zu rechnen haben.
Eine zweite Zusatz-
frage.
Frau Staatssekretärin, in der
105. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 18. Mai
dieses Jahres hat in der Debatte über die europäische
Grundrechtscharta für die SPD-Bundestagsfraktion der
Abge-ordnete Dr. Jürgen Meyer im Rahmen der
Diskussion über ein Recht auf Arbeit gesagt, dass es sich
hierbei um „Respektieren, Schützen und Fördern“ han-
dele. Er führte weiter aus – ich zitiere –:
Respektieren heißt, es darf keine Arbeitsverbote ge-
ben. Das hat zum Beispiel der Europäische Gerichts-
hof in seiner Entscheidung zum Waffendienst von
Frauen in der Bundeswehr anerkannt. Dort ging es
nicht nur – aber selbstverständlich auch – um Gleich-
stellung, sondern auch um die Ablehnung pauschaler
Arbeitsverbote.
Muss ich diese Auffassung dahin gehend interpretie-
ren, dass die Aufhebung des Arbeitsverbots für nach Mai
1997 eingereiste Asylbewerber aufgrund des Starrsinns
der Bundesregierung nur durch den Europäischen Ge-
richtshof erfolgen kann?
U
Nein, ich habe Ih-
nen gerade gesagt, dass die Bundesregierung und die Ko-
alitionsfraktionen im Moment prüfen, in welcher Weise
wir die Beschäftigung von geduldeten Ausländern und
Asylbewerbern regeln können, ohne dass sich nachteilige
Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt ergeben. Sie kennen
die öffentliche Diskussion. Wir sprechen über Wartezei-
tenregelungen. Generell werden wir in absehbarer Zeit zu
einem positiven Ergebnis kommen.
Eine Zusatzfrage der
Kollegin Heidi Lippmann.
Frau Staatssekretärin, gibt es
bereits eine zeitliche Perspektive für die Entschei-
dung – soweit ich mich erinnern kann, wurden sowohl
von der SPD als auch von den Grünen vor der Regie-
rungsübernahme dazu Aussagen gemacht –, das Arbeits-
verbot für Asylbewerber aufzuheben?
U
Frau Kollegin, Sie
kennen die schwierige Arbeitsmarktsituation, insbeson-
dere in den neuen Bundesländern. Ich gehe davon aus,
dass Sie Verständnis dafür haben, dass wir sehr sorgfältig
prüfen, in welcher Form wir dieses Arbeitskräftepotenzial
auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zulassen, um zu ver-
hindern, dass Verwerfungen und nachteilige Entwicklun-
gen, auch was die Akzeptanz der ausländischen Arbeit-
nehmer betrifft, eintreten.
Vielen Dank, Frau
Staatssekretärin.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen
Amtes. Die Fragen werden von Staatsminister Dr. Ludger
Volmer beantwortet.
Die Fragen 2 und 3 des Abgeordneten Joachim Günther
werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 4 des Abgeordneten Carsten
Hübner auf:
Aus welchem Haushaltstitel sollen die für die Unterstützung
afrikanischer Armeen in den Bereichen Konfliktverhütung und
Friedenssicherung in Aussicht gestellten 57 Millionen DM finan-
ziert werden und wird das Bundesministerium der Verteidigung an
der Finanzierung beteiligt werden?
D
Herr Kollege Hübner, das Ausstattungshilfe-Pro-gramm der Bundesregierung für Streitkräfte von Empfän-gerländern in der Dritten Welt, für das das AuswärtigeAmt die politische Verantwortung und das BMVg dieDurchführungsverantwortung haben, war bisher im Haus-halt des Auswärtigen Amts im Titel 686 23 eingestellt.Aufgrund der Sparmaßnahmen waren dafür im Haushalt2000 nur noch 5 Millionen DM vorgesehen.Der Haushaltsausschuss des Bundestages hat zur Ge-währleistung der Fortsetzung der laufenden Projekte in
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Dirk Niebel10047
seiner Sitzung am 11. November 1999 10 Millionen DMin den Einzelplan 60 eingestellt und die Bundesregierunggleichzeitig aufgefordert, „rechtzeitig für den Zeitraum ab2001 ein neues Ausstattungshilfe-Programm für Streit-kräfte von Entwicklungsländern vorzulegen“. Dieses Pro-gramm ist sachlich abgestimmt worden und wird demHaushaltsausschuss zur Billigung vorgelegt werden, derauch über die Finanzierung zu entscheiden haben wird.
Ich rufe die Frage 5
des Kollegen Hübner auf:
Wie soll die angekündigte Zusammenarbeit mit dem Bundes-ministerium der Verteidigung bei den geplanten Projekten ausse-hen und welche konkreten Aufgaben sollen von Angehörigen derBundeswehr vor Ort übernommen werden?
D
Ich antworte wie folgt: Wie bisher bei der Ausstat-
tungshilfe für ausländische Streitkräfte wird das Auswär-
tige Amt die politische Federführung haben und das
BMVg die Durchführungsverantwortung tragen. Das
BMVg wird die mit den Partnerländern zu vereinbaren-
den Projekte durch Beratergruppen und Materialausstat-
tung unterstützen. Dabei sind wie bisher die Ausstattung
mit Waffen und Munition oder die Lieferung von Geräten
und Anlagen zu deren Herstellung ausdrücklich ausge-
schlossen.
Eine Zusatzfrage? –
Nein.
Dann kommen wir zur Frage 6 der Kollegin Heidi
Lippmann:
Welche Staaten sollen von der durch die Bundesregierung ge-planten Unterstützung afrikanischer Armeen in den BereichenKonfliktverhütung und Friedenssicherung profitieren und nachwelchen Kriterien soll die Auswahl der Staaten erfolgen?
D
Frau Lippmann, die Bundesregierung beabsichtigt,
im Rahmen des Ausstattungshilfekonzepts für die Jahre
2001 bis 2003 circa 10 Staaten bzw. internationalen Or-
ganisationen die Fortsetzung bzw. die Neuaufnahme von
Projekten vorzuschlagen. Mit Rücksicht darauf, dass das
Konzept noch nicht von den zuständigen Ausschüssen des
Bundestages gebilligt worden ist und noch keine Ge-
spräche mit den Regierungen der Partnerstaaten geführt
worden sind, hält es die Bundesregierung für verfrüht, die
Länder im Einzelnen zu benennen.
Die Auswahl der Staaten richtet sich im Rahmen der er-
forderlichen Prioritätensetzung nach den Erfolgsaussich-
ten der künftigen Zusammenarbeit mit der Zielsetzung
der Kapazitätsverstärkung zur Konfliktverhütung und
Friedenssicherung der Partnerstreitkräfte sowie deren
Rolle bei der Stabilisierung und Demokratisierung der je-
weiligen Staaten.
Wir kommen zur
Frage 7 der Kollegin Lippmann.
Welche Bereiche, Maßnahmen und Kooperationspartner plantdie Bundesregierung bei den geförderten afrikanischen Streitkräf-ten zu unterstützen und anhand welcher Kriterien sollen diesbe-zügliche Entscheidungen getroffen werden?
D
Die Bundesregierung beabsichtigt insbesondere die
Unterstützung von regionalen Einrichtungen zur Frie-
denssicherung sowie des Sanitätswesens, soweit dies zur
Versorgung der Zivilbevölkerung unentbehrlich ist, des
Transportwesens, soweit es der Friedenssicherung und
Katastrophenhilfe dient, und der Berufsausbildung, so-
weit die Partnerstreitkräfte einen unverzichtbaren Beitrag
zur Entwicklung und Stabilisierung ihrer Länder leisten.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, ist im
Rahmen der zukünftigen Zusammenarbeit in diesem Be-
reich geplant, die Tätigkeiten, die bisher von Kräften des
BMVg wahrgenommen werden, aus dem militärischen
Bereich auszugliedern und auf bestehende, zum Beispiel
auf die GTZ und das THW, oder auf neu zu schaffende
nicht militärische Strukturen zu übertragen?
D
Frau Lippmann, solche Aufgabenübertragungen
existieren ja. Diese werden politisch entschieden und
durchgeführt vom Bundesministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit. In dessen Etat ist auch der Hauptteil der
finanziellen Mittel, die für solche Formen der Koopera-
tion zur Verfügung stehen, enthalten. Das Auswärtige Amt
hat traditionell Mittel für die Zusammenarbeit mit auslän-
dischen Streitkräften zur Verfügung gehabt. Dieser Zu-
sammenarbeit haben wir eine neue politische Zielrichtung
gegeben. Während diese Mittel bisher relativ disparat ein-
gesetzt wurden, haben wir versucht, uns auf die Frage zu
konzentrieren, inwieweit existierende Streitkräfte dafür
gewonnen werden können, im Rahmen regionaler Sicher-
heitsverbünde Konfliktprävention zu betreiben, insbeson-
dere auf dem afrikanischen Kontinent. Wenn ausländische
Streitkräfte etwa im Bereich Peace keeping und Konflikt-
verhütung trainiert werden sollen, also hinsichtlich der
Bewältigung von Aufgaben, die von Streitkräften und
nicht sowieso von Zivilorganisationen wahrgenommen
werden, hat sich unseres Erachtens die Zusammenarbeit
mit Ausbildern und Personal der Bundeswehr bewährt.
Eine Zusatzfrage des
Kollegen Hübner.
Herr Kollege Volmer, ichhabe nur eine Frage: Nach welchen Kriterien wurde bis-her über die konkreten Maßnahmen entschieden, wennnoch nicht letztendlich festgelegt worden ist, welchenLändern und welchen in den Ländern jeweils vorzufin-denden Strukturen – von mir aus auch Armeestruktu-ren – Unterstützung gegeben werden soll? Wie sind Sie zuder Nenngröße von 57 Millionen DM für die Restruktu-rierung dieses Fonds, wie Sie das genannt haben, gekom-men?Meiner Meinung nach wird zunächst die Projektierungabgeschlossen und dann wird überprüft, wie viel Geld
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Staatsminister Dr. Ludger Volmer10048
man dafür braucht, gerade bei der gegenwärtigen Haus-haltslage, und nicht umgekehrt, indem man sagt: Wir neh-men einfach einmal 57 Millionen DM und schauen dann,was wir damit machen.D
Herr Kollege, der Prozess lief ein bisschen anders.
Das Auswärtige Amt war gezwungen, im Rahmen der all-
gemeinen Sparmaßnahmen auch dieses Programm dras-
tisch zu kürzen.
Der Haushaltsausschuss besaß die Weisheit zu sagen,
dem würden dann leider manche Projekte zum Opfer fal-
len, die an sich positiv zu bewerten seien. Deshalb hat der
Haushaltsausschuss für diese Projektarbeit, nachdem wir
den Plafonds gekürzt hatten, wieder einen Zuschlag ge-
geben. Wenn wir diese zur Verfügung gestellten Gelder
zusammenrechnen, kommen wir auf die 57 Millio-
nen DM. Dafür haben wir Projektvorschläge vorbereitet.
Die Liste mit Projektvorschlägen wird in Kürze den be-
teiligten Ausschüssen, nämlich dem Haushaltsausschuss
und dem Auswärtigen Ausschuss, zugeleitet werden.
Allerdings hat das AA nicht die alleinige Entschei-
dungsbefugnis darüber, sondern der Haushaltsausschuss,
der die Gelder bereitstellt, hat da ein gewichtiges Wort
mitzureden. Deshalb kann ich nicht sagen, dass dies die
definitiv endgültige Liste ist.
Wir kommen zur
Frage 8 des Kollegen Hartmut Koschyk:
Aus welchen Gründen hat der Bundesminister des Auswärti-
gen den Antrag der Sudetendeutschen Landsmannschaft, die noch
lebenden sudetendeutschen Opfer der Vertreibung aus dem
deutsch-tschechischen Zukunftsfonds zu entschädigen, als „kon-
traproduktiv“ und „schädlich für die deutschen Interessen“ beur-
teilt – vergleiche „Berliner Zeitung“ vom 22. Mai 2000 – und wie
begründet die Bundesregierung ihre diesbezügliche Auffassung
vor allem vor dem Hintergrund der Tatsache, dass aus dem
deutsch-tschechischen Zukunftsfonds auch Zahlungen an tsche-
chische Opfer des Nationalsozialismus erfolgen?
D
Herr Koschyk, Leistungen an Opfer nationalsozia-
listischer Gewalt sind explizit in der Deutsch-Tschechi-
schen Erklärung und in der Satzung des deutsch-tschechi-
schen Zukunftsfonds vorgesehen. Anders geartete Leis-
tungskategorien sind von diesen grundlegenden Doku-
menten nicht abgedeckt.
Der erwähnte Projektantrag der Sudetendeutschen
Landsmannschaft ist der zukunftsgerichteten Weiterent-
wicklung unseres Verhältnisses zur Tschechischen Repu-
blik abträglich. Wir haben kein Interesse an einer Spirale
neuer Forderungen und Gegenforderungen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister,
wie kann denn ein Antrag, der sich einfach bemüht, eine
vom deutsch-tschechischen Verhältnis auf deutscher Seite
besonders hart betroffene Bevölkerungsgruppe in sym-
bolische Leistungen eines auch mit deutschen Steuergel-
dern ausgestatteten Fonds einzubeziehen, für die Zu-
kunftsentwicklung der deutsch-tschechischen Beziehun-
gen abträglich sein, wenn auf tschechischer Seite, zum
Beispiel vom ehemaligen Regierungsberater Herr
Doležal, eine solche Forderung, ein solcher Vorschlag,
auch mit positiver Resonanz in den tschechischen Me-
dien, den Sie – wie Sie ja selbst in der Fragestunde vom
10. Mai sagten – als wichtigen Beitrag für Verständigung
und Versöhnung bezeichnet haben, öffentlich erhoben
wird?
D
Herr Koschyk, die Leistungen, die der Fonds um-
setzen kann, sind in den Fondsbestimmungen ab-
schließend beschrieben. Wenn nun darüber hinausge-
hende Forderungen erhoben werden, so muss man auf der
einen Seite deren außenpolitische Wirkung sehen. Wenn
Sie auf der anderen Seite darauf hinweisen, dass innerhalb
der Tschechischen Republik Diskussionen begonnen wor-
den sind, die – so entnehme ich Ihren Worten – Ihnen nicht
ganz unsympathisch sind, dann würde ich aus Sicht der
Bundesregierung den Rat geben, solche Diskussionen
sich einfach entwickeln zu lassen und nicht durch hier for-
mulierte Ansprüche überzustrapazieren.
Eine zweite Zusatz-
frage.
Hat denn die Bun-
desregierung irgendwann in dieser Diskussion die Bereit-
schaft erkennen lassen und auch durch ihre Vertreter im
Rahmen des deutsch-tschechischen Zukunftsfonds eine
Diskussion dahin gehend mit der tschechischen Seite ge-
führt, mit der tschechischen Seite überhaupt in ein Ge-
spräch zu kommen, den Auftrag des Fonds so zu verän-
dern, dass es zumindest zu einer Art von symbolischen
Leistungen für vertriebene Sudetendeutsche kommt?
D
Herr Koschyk, wir reden intensiv mit der tschechi-
schen Regierung und nehmen sehr wohl wahr, dass dort
eine gewisse Bereitschaft besteht, in diesem Sinne zu-
mindest symbolisch etwas zu unternehmen. Ich weiß,
dass anlässlich des Besuchs von Vaclav Havel informell
über solche Möglichkeiten zumindest geredet wurde.
Man muss aber genauso deutlich sehen: Wenn die Lands-
mannschaft mit solchen drastischen Forderungen öffent-
lich auftritt, wird dieser Diskussionsstrang, wie er sich in
der Tschechischen Republik entwickelt hat, eher abge-
kappt, als dass er sich weiter entwickeln kann.
Ich rufe die Frage 9des Abgeordneten Koschyk auf:Ist die Bundesregierung bereit, sich gegenüber der Tschechi-schen Republik für eine Rückübertragung oder Entschädigung desnach dem Zweiten Weltkrieg konfiszierten Eigentums der in derseinerzeitigen Tschechoslowakei verbliebenen Deutschen einzu-setzen, und falls nein, wie begründet die Bundesregierung ihreHaltung?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Carsten Hübner10049
D
Herr Koschyk, der Bundesregierung ist bekannt,
dass sich die tschechische Restitutionsgesetzgebung mit
den Stichjahren 1948 und 1989 nur auf kommunistische
Enteignungen bezieht. Davon ausgenommen ist die Re-
stitution jüdischen Eigentums. Auch das Schicksal der in
der Tschechischen Republik verbliebenen Deutschen ist
der Bundesregierung bekannt. Die Bundesregierung be-
trachtet die entschädigungslose Enteignung der Betroffe-
nen nach dem Krieg als völkerrechtswidrig.
Zwischen den beiden Regierungen gilt jedoch die in
der Deutsch-Tschechischen Erklärung von 1997 nieder-
gelegte Verabredung, in der es in Ziffer IV heißt, dass
„jede Seite ihrer Rechtsordnung verpflichtet bleibt und
respektiert, dass die andere Seite eine andere Rechtsauf-
fassung hat. Beide Seiten erklären deshalb, dass sie ihre
Beziehungen nicht mit aus der Vergangenheit herrühren-
den politischen und rechtlichen Fragen belasten werden.“
Zusatzfrage? –
Bitte.
Herr Staatsminister,
wir haben ja mehrere deutsch-tschechische Vereinbarun-
gen. In einigen hat sich die tschechische Seite zu ange-
messenen Schutzbestimmungen für Minderheiten wie die
tschechischen Staatsbürger deutscher Nationalität und
deutscher Abstammung verpflichtet. Insofern hat die
deutsche Bundesregierung durch den deutsch-tschechi-
schen Nachbarschaftsvertrag eine gewisse Berufungs-
grundlage gegenüber der tschechischen Seite. Wenn ganz
offensichtlich auch nach der Feststellung des Bürger-
rechtsbeauftragten der tschechischen Regierung, Uhl,
eine demonstrative Nichteinbeziehung tschechischer Bür-
ger deutscher Nationalität und deutscher Abstammung in
tschechische innerstaatliche Restitutionsmaßnahmen vor-
liegt, ist es dann nicht geboten, dass die Bundesregierung
auf der Grundlage des deutsch-tschechischen Nachbar-
schaftsvertrages und auf der Grundlage eines durch den
Nachbarschaftsvertrag – wenn ich das einmal so sagen
darf – zum Ausdruck kommenden Diskriminierungsver-
botes für tschechische Staatsbürger deutscher Nationalität
in dieser Frage gegenüber der tschechischen Regierung
aktiv wird?
D
Herr Koschyk, wir sind froh, dass wir nach
langjährigen, sehr schwierigen Diskussionen mit der
tschechischen Seite diese gemeinsame Erklärung erarbei-
tet haben. Es handelt sich um eine Erklärung, die eine gute
Grundlage für eine freundliche und freundschaftliche Zu-
sammenarbeit in der Zukunft ist. Wenn sich die Bezie-
hungen in diesem freundschaftlichen Sinn weiterent-
wickeln, wird man sicherlich über das eine oder das an-
dere reden können. Ich halte aber nichts davon, sich auf
Standpunkte zu stellen und auf Grundlagen zu berufen,
durch die der freundschaftliche Dialog wieder auf einen
Stand der subtilen juristischen Konfrontation, wie wir ihn
vor der Verabschiedung der gemeinsamen Erklärung hat-
ten, zurückgeworfen würde.
Eine zweite Zusatz-
frage? – Bitte.
Herr Staatsminister,
ich muss noch einmal fragen: Die Deutsch-Tschechische
Erklärung ist, bei allem Respekt, eine politische Willens-
bekundung beider Regierungen. Wir haben einen völker-
rechtlich verbindlichen Nachbarschaftsvertrag mit einer
Vereinbarung über Minderheitenschutz und damit auch
ein Diskriminierungsverbot im Hinblick auf tschechische
Staatsbürger deutscher Nationalität. Gebietet dieser Ver-
trag nicht, dass bei offensichtlicher Diskriminierung, die
auch der Bürgerrechtsbeauftragte der tschechischen Re-
gierung im Hinblick auf den von mir geschilderten Sach-
verhalt feststellt, die deutsche Bundesregierung partner-
schaftlich auf die tschechische Seite zugeht und das von
mir angesprochene Problem gegenüber der tschechischen
Seite zur Sprache bringt?
D
Wenn signifikante Probleme auftauchen, nimmt die
Bundesregierung diese sehr wohl wahr und findet den ge-
eigneten Weg, das anzusprechen, ohne dass damit das
bilaterale politische Klima gestört wird.
Wir sind damit am
Ende dieses Geschäftsbereiches. Ich danke Ihnen, Herr
Staatsminister.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums
des Innern auf. Zur Beantwortung steht der Parlamentari-
sche Staatssekretär Fritz Rudolf Körper zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 10 des Kollegen Dirk Niebel auf:
Wie gedenkt die Bundesregierung sicherzustellen, dass einem
IT-Spezialisten aus einem Land außerhalb der Europäischen
Union, der sich aufgrund der so genannten Green-Card-Initiative
in Deutschland beworben hat, eine einfache Einreise zum Zwecke
eines Bewerbungsgesprächs möglich ist?
F
Herr Kollege Niebel, ich kann
Ihre Frage relativ kurz beantworten: Für Einreisen zum
Zwecke eines Bewerbungsgespräches wird ein Besuchs-
und Geschäftsvisum erteilt.
– So sind wir: kurz, knapp und bündig.
Hin und wieder darf
man sich auch einmal selber loben.
F
Ja, Herr Präsident, das ist nichtschlecht.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 200010050
Die Frage 11 des
Kollegen Dietrich Austermann wird schriftlich beantwor-
tet.
Wir kommen zur Frage 12.
– Der Kollege Kolbe ist im Haushaltsausschuss und damit
nicht anwesend. Es wird verfahren, wie in der Geschäfts-
ordnung vorgesehen.
Ich rufe die Frage 13 des Kollegen Gerhard
Jüttemann auf:
Welche Berufe und Berufsgruppen sind bisher von der Praxis
aufgrund des Schreibens des Bundesministeriums des Innern, Ge-
schäftszeichen D II 2-220 000/44 a vom 13. Januar 2000, wonach
Personal, das für eine Tätigkeit im Tarifgebiet Ost gewonnen wer-
den soll, zunächst im Tarifgebiet West eingestellt und dann in das
Tarifgebiet Ost versetzt werden soll, schwerpunktmäßig betrof-
fen?
F
Die Frage 13 bezieht sich auf das
gleiche Thema wie die Frage des Kollegen Kolbe.
Herr Kollege Jüttemann, wie Sie wissen, führt die
Bundesregierung zurzeit eine Abfrage bei den Ressorts
durch, wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach
dem Rundschreiben des Bundesministeriums des Innern
vom 13. Januar 2000 eingestellt wurden. Das Ergebnis
wird in der Antwort auf die von Ihnen und der Fraktion
der PDS gestellte Kleine Anfrage mitgeteilt. Darüber,
welche Berufe und welche Berufsgruppen aufgrund des
genannten Rundschreibens bisher bei den Einstellungen
vertreten sind, liegen der Bundesregierung keine Er-
kenntnisse vor. Ich will das aber durch eine aktuelle Mit-
teilung ergänzen – Stand: 14.30 Uhr. Die Ressortabfrage
hat ergeben, dass 13 von 22 obersten Bundesbehörden die
Einstellung von bisher zwei Mitarbeitern gemeldet haben.
Zusatzfrage des Kol-
legen Jüttemann.
Wie verhält sich die
ÖTV zu diesem Schreiben? Gibt es hier Übereinstim-
mung oder haben Sie Schwierigkeiten?
F
Ich glaube, dass das Schreiben
von Ihnen und einigen wenigen anderen völlig überinter-
pretiert wird. Das zeigt die Abfrage ganz deutlich: Es sind
zwei Mitarbeiter. Es ist eine besondere Situation. Die Zahl
macht deutlich, um welch ein „großes“ Problem es sich
dabei handelt.
Frage 14 des Kolle-
gen Jüttemann:
Wie begründet und bewertet die Bundesregierung die Einstel-
lungspraxis nach diesem Schreiben?
Herr Staatssekretär.
F
Herr Kollege Jüttemann, zunächst
weist die Bundesregierung die Behauptung, Bundesmi-
nister Schily billige die Umgehung gültiger Tarifverträge,
als irreführend und falsch zurück. Um es klarzustellen:
Das Rundschreiben vom 13. Januar 2000 betrifft nur Mit-
arbeiter aus dem Landes- oder Kommunaldienst mit
Westvergütung, die in den Bundesdienst für eine Tätigkeit
im Tarifgebiet Ost übernommen werden. Das Rund-
schreiben vom 13. Januar 2000 ist – das ist ganz
wichtig – eine übertarifliche Maßnahme, da nicht erwar-
tet werden kann, dass ein Beschäftigter in den Bundes-
dienst wechselt und wegen des Arbeitgeberwechsels Ein-
kommensverluste in Kauf nimmt. In einem solchen Fall
ist die Zusage, das bisherige Einkommensniveau werde
beibehalten, durchaus üblich und angemessen. Die Ein-
stellung im Westen ist in diesen Fällen auch wegen der un-
terschiedlichen Höhe der Umlage der Zusatzversorgung
erforderlich. Der gewählte Weg verhindert, dass sich
diese Beschäftigten insoweit erheblich besser stellen als
die vergleichbaren Mitarbeiter im Westen.
Die Bundesregierung wird auch in Zukunft nach dieser
Praxis verfahren, da eine Mobilität der Beschäftigten nur
erreicht werden kann, wenn zumutbare Bedingungen ge-
schaffen werden. Andernfalls würde jegliche Bereitschaft
zur Mobilität unterbunden.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär,
heißt das, dass es keine Bewerber aus dem Osten für diese
Positionen gibt? Wie begründen Sie dann das Festhalten
an dem Schreiben des Bundesministeriums des Innern?
Unsere Kritik, die wir geübt haben, war doch wohl be-
rechtigt. Die Praxis, Bewerber, die für eine Tätigkeit im
Tarifgebiet Ost gewonnen werden sollen, zunächst im Ta-
rifgebiet West einzustellen und dann in das Tarifgebiet Ost
zu versetzen, ist eine Umgehung des Tarifs.
F
Nein, Herr Kollege Jüttemann,das ist keine Umgehung des Tarifs. Sie machen einenDenkfehler.
– Herr Schauerte, das ist Ihre Interpretation und Ihre Be-merkung, nicht meine.Dabei handelt es sich nicht um Bewerberinnen und Be-werber, die in den öffentlichen Dienst hineinwollen; viel-mehr handelt es sich in diesen Fällen um Personen, die be-reits im öffentlichen Dienst – entweder bei einer Kom-munalverwaltung oder einer Landesverwaltung imWesten unserer Republik – beschäftigt gewesen sind. Dasist der wesentliche Unterschied.Ich sage noch einmal: Die Anzahl der Betroffenen, diewir bisher ermittelt haben – das ist allerdings nur ein Zwi-schenergebnis –, macht deutlich, dass es sich um einThema von relativ geringer Bedeutung handelt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000 10051
Vielen Dank, Herr
Staatssekretär.
Bevor ich den Geschäftsbereich des Bundesministeri-
ums der Finanzen aufrufe, möchte ich darauf hinweisen,
dass aufgrund der zeitlichen Verschiebung und der Ta-
gung einiger Ausschüsse eine ganze Reihe von Kollegen
ihre Fragen zurückgezogen oder um schriftliche Beant-
wortung gebeten haben. Jetzt liegen nur noch zehn Fragen
zur Beantwortung vor. Das hat zur Folge, dass die Aktu-
elle Stunde zum Thema „Haltung der Bundesregierung zu
den steigenden Mineralölpreisen und der Forderung nach
Verzicht bzw. Aussetzung der Ökosteuer“, beantragt von
der F.D.P., früher als ursprünglich erwartet aufgerufen
werden kann. Ich gehe davon aus, dass es eine interfrak-
tionelle Vereinbarung gibt, die Sitzung des Bundestages
nicht zu unterbrechen, sodass im Anschluss an die Frage-
stunde die Aktuelle Stunde aufgerufen werden kann.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums der Finanzen. Zur Beantwortung steht der Parla-
mentarische Staatssekretär Karl Diller zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 15 des Abgeordneten Barthle auf:
Welche Überlegungen gibt es innerhalb der Bundesregierung,
die Bundesfinanzverwaltung neu zu organisieren, und welche
Auswirkungen sind speziell für die Hauptzoll- und Zollämter zu
erwarten?
K
Herr Kollege Barthle, das Bundesministe-
rium der Finanzen beteiligt sich mit seinem Geschäftsbe-
reich an der Konsolidierung des Bundeshaushaltes im
Finanzplanungszeitraum bis 2003 mit Haushaltsein-
sparungen in einer Größenordnung von 3 000 Milli-
onen DM. Davon beziehen sich allein 700 Millionen DM
auf die Struktur der Bundesfinanzverwaltung. Dieses Ziel
ist nur mit erheblichen substanziellen Eingriffen und einer
Neubestimmung des künftigen Gesamtaufgabenbestan-
des erreichbar.
Das Bundesministerium der Finanzen hat zur Realisie-
rung seines Konsolidierungsbeitrages und im Hinblick
auf sich abzeichnende Aufgabenveränderungen – ich
denke insbesondere an die Osterweiterung der EU, die zur
Folge hat, dass die bisherigen Außengrenzen der EU zu
Polen und Tschechien dann Binnengrenzen sind – zum
1. Februar 2000 das Projekt „Strukturentwicklung Bun-
desfinanzverwaltung“ eingerichtet. Dieses Projekt um-
fasst auch eine weit reichende Reorganisation der Orts-
ebene der Zollverwaltung mit einer bundesweiten Straf-
fung der Hauptzollämter und Zollämter. Aber welche
strukturellen Veränderungen in diesem Bereich im Ein-
zelnen erforderlich sein werden, bleibt noch abzuwarten.
Zusatz-
frage? – Bitte schön.
Herr Staatssekretär, in
dem Eckpunktepapier zur Entwicklung der Struktur der
Bundesfinanzverwaltung ist zu lesen, dass die Zahl der
Zollämter von derzeit 332 auf 190 reduziert werden soll.
Liegt diesen Zahlen eine konkrete Standortplanung mit
Standortvorschlägen zugrunde, und wenn ja, ist es mög-
lich, in die Planungsunterlagen Einsicht zu nehmen?
K
Herr Kollege, das würde ich selber auch
gerne tun; denn auch in meinem Wahlkreis gibt es ein
Hauptzollamt und etliche kleinere Zollämter. Auch mich
beschäftigt die Frage: Wird mein Hauptzollamt die ge-
planten Veränderungen überstehen oder wird es von den
Einsparungsmaßnahmen betroffen sein? Welche Zoll-
ämter wird es möglicherweise treffen? Auch ich kann den
möglicherweise in meinem Wahlkreis Betroffenen keine
Antwort auf diese Fragen geben, weil die Fachkundigen
gerade jetzt darüber nachdenken, wie das Eckpunktepa-
pier mit den Zielgrößen – die Zahlen, die Sie genannt ha-
ben, sind Zielgrößen – umgesetzt werden kann. Die Fach-
kundigen werden uns Vorschläge machen, die wir in den
nächsten Monaten erwarten. Wir werden sie dann auf der
politischen Leitungsebene besprechen und wir werden se-
hen, ob sie richtig oder korrekturbedürftig sind. Anschlie-
ßend werden wir das deutsche Parlament darüber unter-
richten, so wie wir die ganze Zeit mit den Fachausschüs-
sen des Deutschen Bundestages, mit dem Haushalts-
ausschuss und mit dem Finanzausschuss, in sehr engem
Kontakt über diese Fragen waren.
Möchten
Sie eine weitere Zusatzfrage stellen? – Das ist nicht der
Fall.
Dann kommen wir zu Frage 16 des Abgeordneten
Barthle:
Gibt es bereits einen Zeitplan, und, wenn ja, wann sollen die
zuständigen Gremien des Deutschen Bundestages informiert wer-
den?
K
Herr Kollege, erste konkrete Vorstellungendes Bundesfinanzministeriums zu Strukturveränderungenunter Einbeziehung von Standortaspekten auch auf derEbene der Hauptzollämter und Zollämter werden nach derderzeitigen Planung der Projektleitung im Sommer vor-liegen. Entscheidungen über Strukturveränderungen, ins-besondere auch zu Standorten von Dienststellen der Bun-desfinanzverwaltung, werden zum Jahresende 2000 zutreffen sein.Inzwischen liegen als erster Schritt auf dem Wege zurNeustrukturierung Eckpunkte der angestrebten Struktur-anpassung vor, über die die Vorsitzenden des Haushalts-und Finanzausschusses des Deutschen Bundestagesunterrichtet worden sind. Gerade zur Stunde tagt derHaushaltsausschuss und berät unter Tagesordnungs-punkt 4 über diese Konzeption.Wenn Sie das Eckpunktepapier noch nicht haben, dannwill ich es Ihnen gerne überreichen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 200010052
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Barthle? – Das ist nicht der Fall.
Wir kommen dann zur Frage 17 des Abgeordneten
Helmut Heiderich:
In welchen einzelnen Medien
hat die Bundesregierung ihre Werbekampagne mit dem Kopf des
Bundesministers der Finanzen und dem Slogan „Nur wer eisern
spart, ...“ an welchen Tagen veröffentlicht?
Herr Staatssekretär, bitte schön.
K
Herr Kollege, die Anzeige mit dem Kopf
des Bundesfinanzministers und dem Slogan „Nur wer ei-
sern spart, kann sich auch was leisten“ erschien an fol-
genden Tagen in folgenden Medien: am 15. Mai 2000 in
„Spiegel“, „Focus“ und „Bild“, am 18. Mai 2000 in
„Stern“, „Capital“, „Financial Times Deutschland“ und
„Handelsblatt“, am 19. Mai 2000 im „Unternehmer Ma-
gazin“, am 21. Mai 2000 in „Bild am Sonntag“ und am
25. Mai 2000 in der Zeitschrift „Impulse“.
Herr Kol-
lege Heiderich, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär,
sicherlich kann mir die Bundesregierung auch erklären,
warum sie in so vielen Zeitungen mit einem solchen Auf-
wand diese Werbung geschaltet hat.
K
Diese Werbung ist Teil einer Werbekonzep-
tion, mit der wir die Öffentlichkeit mit unserem Vorhaben,
nämlich der größten Steuersenkung, die es in der Ge-
schichte der Bundesrepublik Deutschland je gegeben hat,
vertraut machen. Ich darf Ihnen sagen, dass die Hinweise
in den Anzeigen auf weitere Informationsquellen, bei-
spielsweise das Internet oder Broschüren, sehr intensiv
genutzt werden.
Herr Staatssekretär,
sind Sie der Auffassung, dass diese Werbung mit einem
Kopf und einer Plattitüde, die im unteren Teil der Anzeige
steht, tatsächlich den von Ihnen betriebenen Aufwand
rechtfertigt?
K
Herr Kollege, das ist keine Plattitüde, son-
dern eine bittere Notwendigkeit, die wir vollziehen müs-
sen, weil wir von der Vorgängerregierung eine fürchterli-
che Erblast übernommen haben. In Ihrer Regierungszeit
ist die Verschuldung des Bundes vervierfacht worden,
mit dem Ergebnis, dass wir im letzten und in diesem Jahr
rund 80 000MillionenDM nur für Zinsen ausgeben muss-
ten – das waren rund 23 Prozent all unserer Steuereinnah-
men –, ohne damit eine einzige Mark an Schulden zu til-
gen.
Das Bundesverfassungsgericht hat einmal im Falle von
Saarland und Bremen festgestellt, dass sich ein Land, das
rund ein Viertel seiner Steuereinnahmen nur für das
Zahlen von Zinsen ausgeben muss, in einer – so wörtlich –
extremen Haushaltsnotlage befindet. Aus dieser von Ih-
nen übernommenen „extremen Haushaltsnotlage“ hilft
nur der Weg des eisernen Sparens heraus. Das machen
dieser Minister, dieses Ministerium und diese Bun-
desregierung.
Eine wei-
tere Zusatzfrage des Kollegen Schauerte.
Herr Staatssekretär
Diller, wenn man eine Anzeige an das allgemeine Publi-
kum richtet, dann hat sie ihren tieferen Sinn darin, das Pu-
blikum zu einer Aktion aufzufordern bzw. anzureizen.
Deswegen könnte ich mir zum Beispiel vorstellen, dass
man eine solche Anzeige an Abgeordnete richtet, dass sie
nicht mehr Gesetze beschließen, an Beamte, dass sie vor-
sichtig mit dem Geld umgehen. Aber was soll die geneigte
Leserschaft mit dem Spruch anfangen „Nur wer eisern
spart, kann sich was leisten“? Haben Sie den Eindruck,
dass die Leserschaft deswegen jetzt spart oder sparen
sollte? Oder was war mit dieser Anzeige beabsichtigt?
K
Herr Kollege, ich darf Sie darauf aufmerk-sam machen, dass nicht nur der von Ihnen zitierte Satz inder Anzeige steht, sondern auch der folgende Text:Sparsamkeit ist nicht nur eine alte Tugend. Sie istauch das Merkmal eines modernen, handlungsfähi-gen Staates. Deshalb haben wir einen konsequentenSparkurs eingeschlagen. Halten wir Kurs, dann kön-nen wir bereits im Jahre 2006 einen Haushalt vorle-gen, der keine neuen Schulden braucht. Mit den fi-nanziellen Spielräumen, die durch unsere Sparpolitikentstanden sind, können wir uns schon jetzt etwasleisten: die größte Steuersenkung in der GeschichteDeutschlands. Sie entlastet private Haushalte undUnternehmen bis 2005 um rund 75 000 MillionenDM. Dadurch stärken wir die Kaufkraft der Arbeit-nehmer und die Investitionskraft der Unternehmer.Das hilft, neue Arbeitsplätze zu schaffen.Weitere Informationen– Herr Kollege –
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000 10053
zur Steuerreform 2000 erhalten Sie beim Bundes-finanzministerium, Postfach ..., oder im Internet un-ter www.bundesfinanzministerium.de.
Ich darf Ihnen mitteilen, dass von dieser Informations-möglichkeit anschließend 80 000 Mitbürgerinnen undMitbürger Gebrauch gemacht haben. Wir haben 80 000Informationsbroschüren verschickt. Wir haben fest-gestellt, dass auf die Internetseiten des Bundesfinanzmi-nisteriums 90 000-mal zugegriffen worden ist und ent-sprechende Informationen heruntergeladen wurden.
Weitere
Zusatzfrage des Kollegen Fromme.
Herr Staats-
sekretär, Sie haben den Erfolg der Anzeige eben mit der
Zahl der Zugriffe und der Nachfragen nach der Broschüre
begründet. Können Sie mir sagen, wie sich die Zugriffe
und die Nachfragen vor dem 15. Mai und nach dem
15. Mai entwickelt haben?
K
Da bin ich – das muss ich bekennen – jetzt
überfragt. Ich bin aber gern bereit, bei unserer Informati-
onsabteilung nachzufragen, ob dort Erkenntnisse darüber
vorliegen, und werde sie Ihnen gerne mitteilen.
Herr Kol-
lege Fromme, Sie haben nur das Recht, eine Nachfrage zu
stellen.
Eine weitere Nachfrage stellt der Kollege Wittlich.
Herr Staatssekretär, ist
Ihnen eventuell bekannt, zu welchen Umsatzeinbrüchen
bei deutschen Verlagen diese Anzeige geführt hat? Der
Bürger ist nämlich der Einzige gewesen, der gespart hat,
indem er die Zeitungen nicht mehr gekauft hat.
K
Herr Präsident, ich glaube, diese Frage
muss ich nicht beantworten.
Das liegt
in Ihrem Ermessen. Ich habe den Inhalt der Fragen und
der Antworten nicht zu beurteilen. Das ist nicht meine
Aufgabe.
Wir kommen damit zur Frage 18 des Kollegen Helmut
Heiderich:
Welche Kosten sind aus diesen Veröffentlichungen in welchen
Medien im Einzelnen und in der Summe entstanden?
K
Die Kosten für die einzelnen Anzeigen be-
wegen sich zwischen 6 334 DM und 404 280 DM. Die Ge-
samtkosten der genannten Veröffentlichungen betrugen
947 725 DM.
Nach-
frage, Herr Kollege Heiderich, bitte schön.
Herr Staatssekretär,
darf ich Sie einmal um Ihr Urteil bitten? Ich bin Mitglied
des Agrarausschusses. Dort hat Ihr Finanzminister die ei-
sern angesparten Reserven der landwirtschaftlichen
Alterskassen einkassiert und, wie man jetzt hört, von die-
sem Geld für 1 Million DM Werbung mit seinem Kopf in
der Öffentlichkeit gemacht.
Sind Sie sicher, dass der Spruch vom eisernen Sparen
vor diesem Hintergrund wirklich noch berechtigt ist?
K
Herr Kollege, ich möchte Sie darauf auf-
merksam machen, dass mir die zuständigen Leute meines
Hauses mitgeteilt haben, dass für jede abgerufene Infor-
mation, wenn man den Betrag auf jeden einzelnen Nutzer
umlegt, Kosten von 20 Pfennig pro Kopf entstanden sind
und sich von daher eine sehr gute Kosten-Nutzen-Rela-
tion errechnet. Erste Bemerkung.
Zweite Bemerkung: Wir geben im Prinzip nicht mehr
Geld für Information aus, als die Vorgängerregierung zur
Information über ihre Steuerreformpläne vorgesehen
hatte. Wenn ich mich richtig erinnere, waren unter Herrn
Waigel dafür insgesamt 7 Millionen DM im Etat vorgese-
hen. Das ist auch unser Ansatz in diesem Jahr.
Eine wei-
tere Zusatzfrage, Kollege Heiderich? – Bitte schön.
Herr Staatssekretär,sind Sie mit mir der Auffassung, dass eine solche Wer-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Parl. Staatssekretär Karl Diller10054
bung, die in dieser Weise die Persönlichkeit in den Vor-dergrund stellt und die Information bescheiden in einerEcke verbirgt,
die Zulässigkeitsgrenze der Öffentlichkeitsarbeit über-schreitet?
K
Ihre Frage kann ich mit Nein beantworten.
Die Zulässigkeitsgrenze ist nicht überschritten. Im Übri-
gen freue ich mich darüber, feststellen zu dürfen, dass
Bundesfinanzminister Hans Eichel faktisch zum Syno-
nym für eisernes Sparen und eine gute Finanzpolitik ge-
worden ist.
Zusatz-
frage vom Kollegen Fromme.
Herr Staats-
sekretär, wie kommen Sie zu dem Urteil, dass der Mittel-
einsatz, der ja nicht gering war, erfolgreich war, wenn Sie
gar nicht wissen, ob die Zahl der Broschürenanforderun-
gen und die Zahl der Internet-Zugriffe durch die Anzeige
gestiegen ist oder nicht?
K
Herr Kollege, ich habe Ihnen gesagt, dass
diese Anzeige Teil einer Anzeigenkampagne ist,
die wir seit der Vorstellung der Steuerreformkonzeption
im Februar 2000 fahren.
Die Fra-
gen 19 bis einschließlich 26 sollen schriftlich beantwortet
werden.
Damit kommen wir zur Frage 27 des Abgeordneten
Günter Baumann:
Stellt das Gesetz zur Senkung der Steuersätze und der Reform
der Unternehmensbesteuerung , das eine
Veränderung des § 147 Abs. 6 der Abgabenordnung vorsieht und
wodurch der Fiskus zukünftig bei Betriebsprüfungen unbegrenz-
ten Zugriff auf die EDVder Unternehmer erhält, einen Verstoß ge-
gen den verfassungsrechtlich verankerten Datenschutz dar?
Herr Staatssekretär, bitte schön.
K
Herr Kollege Baumann, Bedenken in Be-
zug auf einen Verstoß der gesetzlichen Neuregelung ge-
gen den verfassungsrechtlich verankerten Datenschutz
sind nicht begründet. Einen unbegrenzten Zugriff auf die
EDV der Unternehmen wird es nicht geben. Begrenzun-
gen ergeben sich bereits aus der bestehenden Prü-
fungsanordnung, die den zeitlichen und den sachlichen
Prüfungsumfang, das heißt die Prüfungsjahre und die
Steuerarten festlegt.
Zur Frage des Datenschutzes im Steuerrecht gibt es im
Übrigen eine gefestigte Rechtsprechung des Bundesver-
fassungsgerichts. Danach hat der Gesetzgeber mit der ge-
setzlichen Ausgestaltung des Steuergeheimnisses hin-
reichende Sicherheitsvorkehrungen gegen eine miss-
bräuchliche Verwendung von Daten getroffen und auch
die besondere Gefährdung von Daten unter den Bedin-
gungen der automatisierten Datenverarbeitung bereits
hinreichend berücksichtigt.
Zusatz-
frage, Kollege Baumann? – Bitte schön.
Herr Staatssekretär,
Sie bestätigen, dass es für die Finanzverwaltungen zu ge-
wissen Zeiten und zu gewissen Zwecken Zugriffsmög-
lichkeiten auf die EDV der Betriebe gibt. Ich möchte Sie
fragen: Wer haftet, wenn bei diesen Aktionen Datenver-
luste oder Schäden im betrieblichen Ablauf der Firmen
eintreten?
K
Herr Kollege, ich habe gerade in Vorberei-
tung meiner Antwort auf Ihre Frage gelesen, dass dem
Vorsitzenden der Deutschen Steuer-Gewerkschaft eine
ähnliche Frage gestellt wurde. Dabei hat er darauf hinge-
wiesen, dass die Prüfbeamten lediglich lesend auf die Da-
ten zugreifen können.
Sie schließen also
vollkommen aus, dass hier Schäden im Ablauf entstehen
können?
K
Ich bin kein Experte in dieser Frage, aber
ich gehe davon aus, dass dem so ist, will aber gerne Ihre
spezielle Frage noch einmal durch das Haus prüfen lassen
und Ihnen eine Antwort zukommen lassen.
Bitte
schön, zweite Zusatzfrage.
Ich möchte Sie fra-gen: Wie wird ausgeschlossen, dass der Zugriff durch dieFinanzverwaltung auf nicht steuerrelevante Programmeerfolgen kann? In der Datenverarbeitung eines Betriebesgibt es ja viele Programme. Es muss möglich sein, dassdie Finanzverwaltung nur auf das eine spezielle Pro-gramm zugreift und nicht auch auf andere.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Helmut Heiderich10055
K
Herr Kollege, ich denke, durch das, was ich
Ihnen eingangs dargelegt habe, ist hinreichend rechtlich
klar, auf welche Daten die Finanzbeamten Zugriff haben.
Ich darf im Übrigen darauf hinweisen, dass wiederum
nach Auffassung des Vorsitzenden der Steuer-Gewerk-
schaft – Sie erlauben, dass ich es zum zweiten Mal zitiere –
praktisch jetzt nichts anderes vollzogen wird als das, was
draußen in den Betrieben schon zu 80 Prozent der Fall ist.
Für die Betriebe bedeutet dies eine kürzere Prüfungszeit
und für die Prüfbeamten bedeutet es ein effektiveres Ar-
beiten.
Damit
kommen wir zur Frage 28 des Abgeordneten Gerhard
Wann gedenkt die Bundesregierung, die neuen AfA-Tabellen
zu veröffentlichen?
K
Herr Kollege Schüßler, die aufgrund des
Urteils des Bundesfinanzhofs vom 19. November 1997
erforderliche Überarbeitung der AfA-Tabelle für allge-
mein verwendbare Anlagegüter und der weiteren 100
branchenspezifischen AfA-Tabellen ist in vollem Gange.
Sie geschieht dadurch, dass anlässlich aktueller Betriebs-
prüfungen die Nutzungsdauer von Wirtschaftsgütern des
Anlagevermögens in den Unternehmen festgehalten wird.
Das so zusammengetragene Zahlenmaterial soll so-
dann zumindest für die AfA-Tabelle allgemein verwend-
barer Anlagegüter im Spätsommer dieses Jahres den Ver-
bänden zur Stellungnahme zugeleitet werden mit dem
Ziel, diese Tabelle zum 1. Januar 2001 in Kraft zu setzen.
Je nach Arbeitsfortschritt können dann auch die bran-
chenspezifischen AfA-Tabellen entweder gleichzeitig mit
der AfA-Tabelle für allgemein verwendbare Anlagegüter
oder schrittweise zu einem späteren Zeitpunkt in Kraft ge-
setzt werden.
Zusatz-
frage, Kollege Schüßler.
Herr Staatssekretär, es
sind ja mehrfach Termine zur Vorlage der neuen AfA-Ta-
bellen genannt worden, auch durch den Bundesfinanzmi-
nister persönlich. Zwei Tage später wurde das durch die
Staatssekretärin Frau Hendricks widerrufen. Es sind im-
mer wieder verschiedene Termine genannt worden. Es hat
sich nicht zuletzt bei der Anhörung zur Unternehmen-
steuerreform herausgestellt, wie stark sich die Verunsi-
cherung bei den Betroffenen auf geplante Investitionen
auswirkt. Kann man davon ausgehen, dass die von Ihnen
genannten Termine jetzt verbindlich sind? Werden die
AfA-Tabellen dann vollständig sein?
K
Ich hoffe, dass ich Ihnen verbindliche Ter-
mine genannt habe. Ich will mich persönlich darum
bemühen und dafür sorgen, dass sie eingehalten werden.
Danke
schön. Die Fragen 29 bis 38 im Geschäftsbereich des
Bundesministeriums der Finanzen sollen schriftlich
beantwortet werden. Ich bedanke mich, Herr Staatssekre-
tär, für Ihre Mühe.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Wirtschaft und Technologie. Die Frage
39 wurde zurückgezogen. Die Fragen 40 bis 42 zu diesem
Geschäftsbereich sollen schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen. Zur Be-
antwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staats-
sekretär Siegfried Scheffler zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 47 des Abgeordneten Wolfgang
Dehnel:
Beabsichtigt die Bundesregierung, die Finanzmittel zum Bau
des S-Bahn-Projektes Leipzig–Halle rechtzeitig, in ausreichen-
dem Maße und wie vereinbart bereitzustellen, um die geplante
Fertigstellung im Jahr 2003 nicht zu gefährden?
S
Das
Vorhaben S-Bahn Halle–Leipzig ist im Jahre 1997 in das
GVFG-Bundesprogramm aufgenommen worden. Bereits
im Programmzeitraum 1997 bis 2001 wurden dafür vom
Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswe-
sen Bundesfinanzhilfen von über 135 Millionen DM ein-
geplant. Dies entspricht einem Bauvolumen von rund
255 Millionen DM.
Die Baumaßnahmen wurden im Herbst 1997 begon-
nen. Im Laufe des Jahres 1998 haben jedoch die Länder
Sachsen und Sachsen-Anhalt sowie die Deutsche Bahn
AG die Grundlagen der ursprünglichen Planung dieser S-
Bahn so verändert, dass eine Überarbeitung der Infra-
strukturplanung zwingend notwendig wurde.
Um Fehlinvestitionen auszuschließen, sah sich das
BMVBW Anfang 1999 gezwungen, die GVFG-Förde-
rung bis zur Vorlage eines überarbeiteten Finanzierungs-
antrages der DB AG auszusetzen. Ein solcher Antrag ist
jetzt dem Eisenbahn-Bundesamt zur Prüfung übergeben
worden. Sofern die Förderungsvoraussetzungen gegeben
sind, stehen im Zeitraum 1999 bis 2003 für die S-Bahn
Halle(S)–Leipzig aus dem GVFG-Bundesprogramm Fi-
nanzhilfen in Höhe von rund 138 Millionen DM bereit.
Damit kann ein Bauvolumen von rund 260 Millionen DM
realisiert werden.
Zuständig für die Planung und den Ablauf der Bau-
maßnahmen ist die Deutsche Bahn AG als Baulastträger.
Insofern kann zu den konkreten Terminen der Inbetrieb-
nahme oder der Fertigstellung von hier aus nichts gesagt
werden.
Zusatz-frage, Kollege Dehnel.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 200010056
Herr Staatssekretär,
Sie haben zwar gerade davon gesprochen, dass sich das
Ministerium nicht in der Lage sehe, einen Termin zu nen-
nen, aber gehen Sie davon aus, dass im Jahre 2001 zu-
mindest mit dem Baubeginn gerechnet werden kann?
S
Lie-
ber Kollege Dehnel, wir spekulieren hier nicht. Ich habe
Ihnen auch die Gründe genannt, warum es nicht zu einer
konkreten Terminzusage seitens unseres Hauses kommen
kann. Gleichwohl ist sich das Ministerium für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen natürlich der Bedeutung von
leistungsfähigen Eisenbahnverbindungen gerade im Kor-
ridor Leipzig–Halle an der Saale bewusst. Es hat sich in
der Vergangenheit mehrfach um die Klärung der anste-
henden Fragen bemüht und tut dies auch jetzt. Es muss je-
doch auch sichergestellt werden, dass die künftige Schie-
neninfrastruktur in ihrer Bemessung den voraussehbaren
Bedingungen angepasst wird. Ich gehe davon aus, dass
das Eisenbahn-Bundesamt jetzt kurzfristig bzw. schnell-
stens prüft.
Weitere
Zusatzfragen? – Kollege Dehnel, bitte.
Ich hätte gern ge-
wusst, ob das Bundesministerium mit der Deutschen
Bahn in Verbindung steht. Die Leipziger Mitarbeiter der
Bauplanung haben den schwarzen Peter für die vorgese-
hene Verschiebung des Baubeginns nämlich der Bahn zu-
geschoben. Welche Einflussmöglichkeiten sieht die Bun-
desregierung, um die Bauplanung zu beschleunigen?
S
Kol-
lege Dehnel, ich kenne natürlich auch die Presseberichte
der „Leipziger Volkszeitung“, denen zufolge der geplante
Baustart für die S-Bahn Leipzig–Halle quasi ins Wasser
fallen soll. Ich möchte das Dementi der Deutschen Bahn
AG nicht wiederholen. Aber wir beide als Abgeordnete
des Deutschen Bundestages und ich auch als Parlamenta-
rischer Staatssekretär im zuständigen Ministerium müs-
sen zur Kenntnis nehmen, dass der Bau- und Finanzie-
rungsvertrag zwischen der Deutschen Bahn AG, dem
Land Sachsen und dem Land Sachsen-Anhalt abge-
schlossen wird, sodass wir als Ministerium keinen Ein-
fluss haben.
Vielen
Dank. Wir kommen zur Frage 48 des Abgeordneten
Michelbach. Er ist nicht anwesend. Es wird verfahren, wie
in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Die Fragen 49, 50 und 51 sollen schriftlich beantwor-
tet werden.
Wir kommen damit zur Frage 52 des Abgeordneten
Wittlich:
Wann stehen für den Abschnitt der Hüttentalstraße von
Siegen-Dreisbach bis zum Mudersbacher Kreisel ausreichend Fi-
nanzmittel für den vorbereitenden Grunderwerb zur Verfügung?
S
Kol-
lege Wittlich, da für den Bau der B 62 im Bereich Siegen
bis Landesgrenze noch kein Baurecht vorliegt und somit
eine Realisierung bis zum Jahre 2002 nicht ansteht,
konnte diese Maßnahme im Investitionsprogramm 1999
bis 2002 der Bundesregierung nicht berücksichtigt wer-
den.
Eine weitere Anmerkung dazu: Sie sprechen in Ihrer
Frage über den Abschnitt von Siegen-Dreisbach bis zum
Mudersbacher Kreisel. Diese Bezeichnung ist, wie wir
nach Rücksprache mit dem Land und der zuständigen Ver-
waltung wissen, unüblich. Da der Kollege Breuer nicht
anwesend ist, gehe ich davon aus, dass Sie die Abschnitte
4 bis 6, also von Siegen-Weidenau bis Siegen-West und
über Siegen bis zur Landesgrenze, meinen.
Eine
Zusatzfrage, Kollege Wittlich.
Herr Staatssekretär,
das war eine mit der Frage von Herrn Breuer im Zusam-
menhang stehende Frage.
Eine ergänzende Frage dazu: Können Sie definitiv sa-
gen, wann die Maßnahmen für den Weiterbau der B 62 in
den Vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswege-
plans wieder aufgenommen werden?
S
Ih-
nen ist ja bekannt, dass das Planfeststellungsverfahren für
die neue Linienführung zwar im Frühjahr 1999 eingelei-
tet wurde, aber der Planfeststellungsbeschluss erst im
Jahre 2002 erwartet wird. Die Maßnahme hinsichtlich
dieser Bundesfernstraße kann erst im Rahmen der Über-
arbeitung des Bundesverkehrswegeplanes und der Fort-
schreibung des Bedarfsplanes bewertet werden.
Frage 53soll aufgrund von Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien für die Fra-gestunde schriftlich beantwortet werden.Damit kommen wir zur Frage 54. Das ist im Übrigendie letzte Frage, die zur Beantwortung ansteht. Das sageich im Hinblick darauf, dass anschließend die AktuelleStunde stattfinden soll.Ich rufe die Frage 54 des Kollegen Wolfgang Börnsenauf:Was beabsichtigt die Bundesregierung vor dem Hintergrundzu unternehmen, dass nach Schätzungen der Versicherungen diedurch Inlineskater verursachten Schäden auf über 100 MillionenDM beziffert werden können, um persönliche und materielleSchäden der rund 12 Millionen Nutzer von Inlineskates inDeutschland zu reduzieren?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000 10057
S
Lie-
ber Herr Kollege Börnsen, eine Anfrage beim Gesamt-
verband der Deutschen Versicherungswirtschaft hat
ergeben, dass ein durch Inlineskater verursachter Scha-
densumfang von über 100 Millionen DM nicht bestätigt
werden kann. Es fragt sich auch, ob der Selbstverletzung
bei der Ausübung einer Sportart stets mit Vorschriften
entgegengewirkt werden soll.
Gleichwohl verkennt die Bundesregierung nicht, dass
die geltenden Regeln des Verhaltensrechts – Inlineskates
sind nach § 24 Abs. 1 der Straßenverkehrsordnung „Be-
sondere Fortbewegungsmittel“; ihre Nutzung im öffentli-
chen Verkehrsraum unterliegt den Regeln für den Fußgän-
gerverkehr – von den Skatern weithin missachtet werden,
mit der Folge von Konflikten mit anderen Verkehrsteil-
nehmern. Ob daraus Folgerungen im Sinne einer rechtli-
chen Neuordnung zu ziehen sind, wird derzeit von der
Bundesanstalt für Straßenwesen im Rahmen eines For-
schungsvorhabens „Nutzung von Inlineskates im Straßen-
verkehr“ untersucht. Das Ergebnis sollte nach Auffassung
auch der Landesverkehrsminister abgewartet werden.
Zusatz-
frage, Herr Kollege Börnsen? – Bitte schön.
Herr
Staatssekretär, sind Sie nicht mit mir der Auffassung, dass
die Problematik der Inlineskater – die im Augenblick etwa
12 Millionen Personen in Deutschland umfassen und de-
ren Zahl um 1,5 Millionen pro Jahr steigt –, nämlich ob
ein Inlineskater auf den Fußweg oder, bei Geschwindig-
keiten bis zu 50 Stundenkilometer, auf die Straße gehört,
möglichst umgehend gelöst werden muss? Ein Großteil
der Unfälle – es geht ja nicht um die Summe von 100Mil-
lionen DM, der Schaden an Personen und Sachen beträgt
zwischen 90 und 110 Millionen DM jährlich – ist doch
abzuwenden, wenn man Klarheit hat, wo der Skater ei-
gentlich hingehört.
S
Kol-
lege Börnsen, ich gebe Ihnen insofern Recht. Die Bun-
desregierung hat gehandelt, und zwar nicht erst in diesem
Jahr. Nachdem die Konferenz der Verkehrsminister der
Länder im April 1999 beschlossen hatte, von Neurege-
lungen in der Straßenverkehrsordnung mit dem Ziel der
möglichst konfliktfreien Verkehrsteilnahme von Inline-
skatern abzusehen, bis hinreichend gesicherte Erkennt-
nisse über einen möglichen Regelungsbedarf vorliegen,
hat das Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen die Bundesanstalt für Straßenwesen, die
BASt, mit der Durchführung eines Forschungsvorhabens
zum Inlineskaten im Straßenverkehr beauftragt. Die BASt
hat nach Durchführung und entsprechender Auswertung
des erforderlichen Ausschreibungsverfahrens den For-
schungsauftrag vergeben. Für das Forschungsvorhaben
stellt die Bundesregierung Mittel in Höhe von
200 000 DM über eine Laufzeit von zwei Jahren, nämlich
von September 1999 bis August 2001, bereit.
Nach nochmaliger Rückfrage bei der Bundesanstalt für
Straßenwesen ist zurzeit die Vorerhebung abgeschlossen.
Die Fragebogenaktion wird in den nächsten Wochen an-
laufen. Es sind in erster Linie Großstädte einbezogen. Ich
nenne Bremen, Hamburg, Köln, Dresden, Münster und
München. Aber erst mit gesicherten Erkenntnissen kön-
nen wir eine entsprechende Entscheidung treffen.
Eine wei-
tere Zusatzfrage.
Herr
Staatssekretär, ich weiß um Ihren persönlichen engagier-
ten Einsatz. Das alles ist sehr redlich und hilfreich. Nur,
haben Sie nicht den Eindruck, dass wir uns ein wenig um
die Entscheidung herummogeln, wenn wir jetzt erst ein-
mal die BAST beauftragen, einen Forschungsauftrag zu
formulieren, diesen Forschungsauftrag dann weiter-
reichen usw.? Es besteht eine so große Vielzahl an Kon-
fliktfällen, dass es der Bundesregierung – auch unter Zu-
hilfenahme der Erfahrungen der anderen europäischen
Staaten – doch eigentlich leicht fallen sollte, noch in die-
sem Jahr zu einer Entscheidung zu kommen, zumal – da-
rauf will ich hier auch hinweisen – nach Aussage von Ex-
perten etwa 7 Millionen Skater keine richtige Bremstech-
nik beherrschen, dort also ein Gefahrenpotenzial besteht.
Man muss doch zumindest versuchen, für beide Seiten,
also sowohl für die Skater als auch für die anderen Ver-
kehrsteilnehmer, eine Regelung zu finden, die zu weniger
Konflikten und Problemen führt. Ist in dieser Hinsicht
nicht Handlungsbedarf gegeben?
S
Ichstimme der Feststellung von Handlungsbedarf durchauszu. Die Bundesregierung hat schon im vorigen Jahr ent-sprechend reagiert und einen Forschungsauftrag verge-ben. Aber vor politischen und rechtlichen Entscheidun-gen – diese können vom Bundestag, von den Ländern, indiesem Fall mit der Verkehrsministerkonferenz, oder vonder Bundesregierung getroffen werden – müssen Unter-suchungen stattfinden, und die können nicht in einigenMonaten abgeschlossen werden. Bislang existiert nur eineUntersuchung, eine Diplomarbeit, die sich auf Fußgän-gerbereiche bzw. Radwege bezieht.Ich will Ihnen einmal nennen, welchen Umfang die ge-planten Untersuchungen haben: Es wird zum Beispiel un-tersucht, zu welchem Zweck Inlineskater die Inlineskatesnutzen, wie die Altersverteilung der Nutzer aussieht, wiedas Unfallgeschehen ist, wie groß der Flächenbedarf beiunterschiedlichen Geschwindigkeiten ist, wie die Gefähr-dung und Beeinträchtigung von anderen Verkehrsteilneh-mern zu beurteilen ist und welche Verkehrsanlagen In-lineskater benutzen. Wenn Sie einmal zu Fuß durch dieBerliner Mitte gehen und Inlineskater beobachten, dannsehen Sie, dass sie im Vergleich zu Radfahrern einengrößeren Raum benötigen, dass sie praktisch eine Auto-spur einnehmen. Es wird auch untersucht, welche Ge-schwindigkeiten in welchen Situationen gefahren werden.Bei diesen Untersuchungen müssen die unterschiedlichs-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 200010058
ten Verkehrsteilnehmer befragt werden, also nicht nur dieInlineskater selber, sondern auch die Kraftfahrer, dieFußgänger und die Radfahrer. Insofern muss hier einekomplexe Untersuchung als Grundlage für politische Ent-scheidungen dienen.
Die Fra-
gen 55 und 56 sollen schriftlich beantwortet werden.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Wir sind damit am
Ende der Fragestunde.
Ich rufe Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.
Haltung der Bundesregierung zu den steigen-
den Mineralölpreisen und der Forderung nach
Verzicht auf die bzw. Aussetzung derÖkosteuer
Als erster Redner hat der Kollege Rainer Brüderle von
der F.D.P. das Wort.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Die Wut in der Bevölkerung ist groß.Die Folgen der hohen Benzinpreise und der Ökosteuerwerden immer bedrohlicher. Die Absatzzahlen derAutomobilindustrie brechen ein. Damit werden Tausendevon Arbeitsplätzen gefährdet. Der Anteil der Steuerbelas-tung am Benzinpreis von 70 Prozent zeigt, dass hier eineZwangsbeglückung erfolgt. Es wird so viel Geld abge-nommen, dass man den Scheichs nicht klarmachen kann,dass sie Maß halten sollten. Das kann bei einer Steuerbe-lastung von 70 Prozent des Benzinpreises kein Schlauchden Scheichs klarmachen. Weil die Wut in der Bevölke-rung groß ist, versuchen Sie abzulenken und denschwarzen Peter einseitig den Mineralölkonzernen undden Rohölproduzenten zuzuschieben.
Sie haben mit der Ökosteuer den berühmten Effekt,dass das Fass überläuft, erreicht. Die Bevölkerung fühltsich abkassiert und abgezockt. Entsprechend ist die Re-aktion der Bevölkerung. Es ist verständlich, dass sich dieMenschen wehren, wenn sie so einseitig in diesem Um-fang abgezockt werden.
Die autofeindliche Haltung der Grünen ist hier ganz au-genscheinlich in Politik umgesetzt worden. Sie verdeckenmit dem Modewort „Ökologie“ dieses Abkassieren. Diesist eine zusätzliche Steuerlast. Mit den Einnahmen sollendie Löcher im Haushalt und bei der Rente gestopft wer-den. Der Bund der Steuerzahler hat heute eine Berech-nung bekannt gemacht, nach der nur 70 Prozent dieser Zu-satzlast in die Rente gehen; der Rest wird für den Haus-halt verwendet.
Dann stülpen Sie diesem Zwangsinstrument Ökosteuerauch noch das Etikett „sozial gerecht“ über.
Dabei wissen Sie genau, dass durch die Ökosteuer ge-rade die nicht wohlhabenden Teile der Bevölkerung, näm-lich Rentner, Arbeitslose, Studenten und Auszubildende,einseitig belastet werden.
Deren Thema sind nicht die Lohnnebenkosten. Es entstehthierdurch eine Schieflage.Immer mehr Sozialdemokraten werden aufgeschrecktund rufen nach einer höheren Kilometergeldpauschaleund nach Benzingutscheinen für Geringverdienende. Dasist die Reaktion auf diese Fehlentwicklung. Der selbst er-nannte „Autokanzler“ Schröder schickt seinen Nachfol-ger in Niedersachsen, Gabriel, vor, der eine Erhöhung derKilometergeldpauschale fordert. Ganz schön subtil, wieder Bundeskanzler hier vorgeht. Es ist nichts anderes alseine Distanzierung von der Ökosteuer, wenn die Sozial-demokraten nach einer höheren Kilometergeldpauschaleund nach Benzingutscheinen für Geringverdiener rufen.
Offensichtlich haben Sozialpolitiker, Wirtschaftspolitikerund Umweltpolitiker in der SPD erkannt: Die Ökosteuerist eine Fehlentscheidung gewesen.
Wenn selbst der Umweltexperte Ernst Ulrich vonWeizsäcker für eine Aussetzung der Ökosteuer plädiert,
müsste auch der letzte Genosse kapieren, dass man hier et-was Falsches gemacht hat, was man revidieren muss.
Lediglich die Grünen mit ihren ideologischen Scheu-klappen halten unverändert an der Ökosteuer fest. HerrSchlauch versucht, wie die grüne Hauspostille, die „taz“,schreibt, Gummi zu geben. Plötzlich entdeckt er, dass dasAuto nicht der Volksfeind Nummer eins ist, sondern einvernünftiges Instrument für Mobilität. Herr Kuhn, derMöchtegern-Vorsitzende, sagt, dass der Rückzug von derÖkosteuer dummes Zeug ist. Hier wird die Verblendungdeutlich. Die Grünen treten auf die Innovationsbremse.Weil die Bürger immer mehr Geld für Benzin ausgebenmüssen, können sie kein neues Auto kaufen, das die Um-welt weniger belastet, das weniger Emissionen ausstößt.Deswegen gehen die Umsatzzahlen auch zurück.
Die Fahrzeugflotte wird nicht moderner. Vielmehr wer-den die alten Schleudern länger gefahren, weil mandiesen Fehlweg hier eingeschlagen hat. Sie als Sozialde-mokraten sollten Ihre Verpflichtung Ihren Wählern
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Parl. Staatssekretär Siegfried Scheffler10059
gegenüber endlich ernst nehmen und sich aus der babylo-nischen Gefangenschaft grüner Ideologie befreien.
Der Kanzler sollte sein Versprechen, das er vor der Wahlgegeben hat, den Benzinpreis um maximal 6 Pfennig zuerhöhen, erfüllen und nicht diese ideologische Ökosteuermittragen.Schaffen Sie die Ökosteuer ab! Setzen Sie auf eineSelbstverpflichtung der Wirtschaft. Übernehmen Sie dasF.D.P.-Konzept, die Kfz-Steuer auf die Mineralölsteuerumzulegen, damit ökologisch wirklich etwas erreichtwird. Die Umwelt, die geschröpften Arbeitnehmer unddie Wirtschaft werden es Ihnen danken. Haben Sie dieKraft, eine Fehlentscheidung zu korrigieren. Nehmen Sienicht so viele Arbeitnehmer und sozial Schwache in Gei-selhaft grüner Ideologie.
Das Wort
hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Karl Diller.
Herr Präsident! Meine sehr verehr-ten Damen und Herren! Als ich Herrn Brüderle ebenzuhörte, war ich erstaunt und fasziniert: Denn in so kur-zer Zeit so viel Falsches so polemisch vorzutragen, das istschon ein Kunststück.
Das schafft man eigentlich sonst nur bei der Veranstal-tung, die wir gelegentlich gemeinsam besuchen, nämlichbei der Mainzer Karnevalssitzung.
Sie haben mir als Wirtschaftsminister meines Bundes-landes, in dem Sie auch für den Weinbau zuständig warenund die Weinköniginnen in unserem Lande geküsst haben,viel besser gefallen als hier.Zur Sache: Die Forderung der Opposition nach Aus-setzung oder gar Abschaffung
der weiteren Stufen der ökologischen Steuerreform auf-grund der derzeit hohen Mineralölpreise ist kurzsichtig,widersprüchlich und reiner Populismus.
Zunächst ist festzustellen, dass die Benzinpreiserhöhun-gen seit In-Kraft-Treten der ökologischen Steuerreformim April 1999 nur zu einem geringen Teil auf die Er-höhung der Mineralölsteuer zurückzuführen sind.
Insgesamt hat sich der Benzinpreis in den zurückliegen-den Monaten – je nachdem, was und wo man tankt – umcirca 50 bis 60 Pfennig pro Liter erhöht. Die Erhöhung derMineralölsteuer in diesem Zeitraum beträgt jedoch nur12 Pfennig; rechnet man die Mehrwertsteuer noch hinzu,sind es insgesamt 14 Pfennig.
Daraus wird ersichtlich, dass für den Benzinpreisanstiegnicht die maßvolle Steuererhöhung dieser Bundesregie-rung verantwortlich ist,
sondern der Preis im Wesentlichen von der Entwicklungauf den internationalen Rohölmärkten und vom Dollar-kurs bestimmt wird.
Die Forderung der Opposition ist nichts anderes alssteuerpolitischer Aktionismus. Unsere Steuer- und Haus-haltspolitik, Herr Kollege Brüderle, wird sich nicht kurz-fristig von der aktuellen Marktlage bestimmen lassen,sondern sie wird auch künftig verlässlich und berechen-bar bleiben.
Ein Verzicht auf die Ökosteuer würde bei Ihnen im Übri-gen natürlich noch die fällige Antwort auf die Frage aus-lösen müssen: Was machen wir denn dann mit der Ren-tenkasse? Darauf schweigen die Herren.
In dem Moment, wo die Ökosteuer nicht mehr zur Finan-zierung der Rentenversicherung beiträgt, haben Sie sofortdie Frage zu beantworten: Wie verhindern Sie eine Bei-tragssatzsteigerung in der Rente?
Eine mit den Benzinpreisen schwankende Mineralöl-steuer würde im Übrigen letztlich einer Einladung an dieMineralölindustrie gleichkommen, zulasten des Fiskus ander Preisschraube zu drehen. Eine derartige Steuerpolitikwäre völlig unberechenbar und damit unverantwortlichund ist mit uns nicht zu machen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Rainer Brüderle10060
Aus der Zeit der Regierungsverantwortung der F.D.P. –Sie selbst waren da nicht im Deutschen Bundestag undauch nicht in der Regierung – gab es ganz gewiss keinelangfristige Perspektive hinsichtlich der Energiebesteue-rung. Uns ist kein Fall bekannt, dass eine Erhöhung derMineralölsteuer in Ihrer Regierungsverantwortung inBonn unter dem Eindruck von Preiserhöhungen jezurückgenommen worden ist. Sie selbst, Herr Brüderle,verantworten vielmehr mit der F.D.P. und der CDU/CSUMineralölsteuererhöhungen von 50 Pfennig pro Liter al-lein zwischen 1989 und 1994.
Das waren die größten Preiserhöhungen, die es je gegebenhat.
Die ökologische Steuerreform hingegen dient nichtdazu, kurzfristig Haushaltslöcher zu stopfen. HerrBrüderle, ich würde Sie – weil ich Sie ansonsten weiter-hin schätzen möchte – bitten,
zumindest Ihre Falschaussage in diesem Punkt zurückzu-nehmen. Der ökologischen Steuerreform liegen folgendelangfristigen Ziele zugrunde: Durch Verteuerung – undzwar maßvolle Verteuerung – der Energie soll ein Anreizzum sparsameren Umgang mit Energieressourcen und da-mit zum Schutz der Umwelt erreicht werden. Das dadurcherzielte steuerliche Mehraufkommen wird unabhängigvon der in Arbeit befindlichen umfassenden Reform derRentenversicherung zur Senkung der Rentenversiche-rungsbeiträge verwendet, um so den Faktor Arbeit zu ver-billigen und durch die Senkung der Lohnnebenkostenneue Arbeitsplätze zu schaffen.
Beide Ziele sind nur zu erreichen, wenn die ökologischeSteuerreform wie geplant fortgesetzt wird. Die Einnah-men aus der Ökosteuer sind unverzichtbar, um die Ren-tenversicherungsbeiträge weiterhin niedrig zu halten undweiter zu senken.CDU und CSU hatten in früheren Jahren bereits er-kannt, dass durch das Steuer- und Abgabensystem die Ar-beit zu teuer sei, aber Energie und Rohstoffe, an denen ge-spart werden müsse, zu billig zu haben seien. Im Oktober1997 hielt Frau Merkel – damals in ihrer Eigenschaft alsUmweltministerin der Regierung Kohl – auf dem um-weltpolitischen Forum der Thüringer CDU die Forderungeiner jährlichen Anhebung der Mineralölsteuer um etwa5 Pfennig für angemessen.
Im November 1998 äußerte sich der heutige Fraktions-vorsitzende der CDU/CSU, Herr Kollege Merz – viel-leicht ist er deswegen auch nicht da, weil ihm das Themapeinlich ist –,
im „Morgenmagazin“ wie folgt – ich zitiere ihn –:Durch die Ökosteuern sollen Steuereinnahmen er-zielt werden, um auf der anderen Seite Sozialabga-ben zu reduzieren. Über ein solches Konzept kannman reden ...So Herr Merz damals.
Merkwürdig, dass er von diesen Aussagen heute nichtsmehr wissen will.
Durch die Besteuerung des Energieverbrauchs und dieSenkung der Rentenversicherungsbeiträge wird der Ra-tionalisierungsdruck vom Faktor Arbeit weggenommenund auf den Faktor Umwelt- und Ressourcenverbrauchverlagert. Dies ist ein marktwirtschaftliches Instrumentmoderner Umwelt- und damit auch Technologie- und In-dustriepolitik, das unseren Strukturwandel fördern undneue Arbeitsplätze schaffen soll. Mit der Verzahnung vonUmwelt- und Wirtschaftspolitik stellt sich die Bundesre-gierung dieser Verantwortung für die künftigen Genera-tionen.Die stetige, maßvolle Ausrichtung der Ökosteuerre-form gibt den Unternehmen die erforderliche Gelegenheitund Zeit, neue energiesparende Verfahren zu entwickeln,Techniken zu erforschen und Innovationen für ener-giesparende Investitionen zu tätigen. Die deutsche Wirt-schaft wird auf nachhaltige Produkte und nachhaltige Pro-duktionsverfahren umorientiert. Damit kann sie sich fürdie Zukunft wappnen, in der mit weit größeren Ressour-cenknappheiten umgegangen werden muss.Wir werden diesen Weg fortsetzen; denn er hilft unse-rem Land, das modernste in der Welt zu werden.
Alsnächster Redner hat das Wort der Kollege Norbert Barthlevon der CDU/CSU-Fraktion.Norbert Barthle (von Abgeordneten derCDU/CSU mit Beifall begrüßt): Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir dis-kutieren heute in diesem Hause nicht zum ersten Mal überdie so genannte Ökosteuer;
Herr Staatssekretär Diller, wenn Sie diesen Unfug nichtbald dorthin befördern, wo er hingehört, nämlich auf denzwar noch jungen, aber schon üppig blühenden Friedhofder unsinnigen rot-grünen Steuergesetze, wird es auchnicht das letzte Mal sein.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Karl Diller10061
Die Menschen in unserem Land sind wütend über dieunaufhaltsam steigenden Benzinpreise.
Jetzt versucht der Herr Bundeskanzler, diesen Zorn aufdie Mineralölunternehmen umzulenken.
Zugegeben: Das ist raffiniert, aber es wird nicht funktio-nieren;
denn 70 Prozent des Benzinpreises sind Steuern unddurch die weiteren Stufen der Ökosteuer wird dieser An-teil noch erhöht. Das können Sie nicht leugnen.
Sehr durchsichtig ist auch der Versuch des Bundes-kanzlers, das Bundeskartellamt für sein Ablenkungs-manöver zu missbrauchen. Dieses Amt hat die Konzerneaber wegen Preisdumping und nicht wegen Preistreibereiabgemahnt.
Der einzige zuverlässige und genau berechenbarePreistreiber bei diesem Thema ist die rot-grüne Bundes-regierung.
Aus seiner selbst gestellten Falle – 6 Pfennig: Ende derFahnenstange – kommt der Herr Bundeskanzler so nichtmehr heraus, es sei denn, er hat eine ausfahrbare Fahnen-stange.
Bis zum Jahre 2003 werden wir noch drei Mal 6 PfennigSteuererhöhung plus Mehrwertsteuer erleben, noch min-destens drei Mal wird der berechtigte Zorn der Bürgerüber die rot-grüne Bundesregierung hereinbrechen, weilsie schamlos abkassiert werden.
Erst dann, sagt der SPD-Generalsekretär, Herr Müntefering,könne die Ökosteuer zur Debatte stehen. Herr Müntefering,das überzeugt nicht. Im Gegenteil: Schlechte Gesetzekann man jederzeit abschaffen. Wir helfen Ihnen sogar da-bei, versprochen.
Denn die Leidtragenden dieser Augen-zu-und-durch-Po-litik sind allein die Bürger und Unternehmen am StandortDeutschland.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Ökosteuer ist undbleibt unlogisch und unsozial.
Sie wollten damit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen,hieß es.
Großspurig sprachen Sie von der doppelten Dividende:Tue Gutes für die Umwelt und schaffe neue Arbeitsplätze.
Davon ist nichts, aber auch gar nichts übrig geblieben. DieEntlastung der Unternehmen durch die Senkung des Ren-tenversicherungsbeitrags wird durch die Mehrkostenlängst wieder aufgefressen. Durch diese Steuer entstehtkein einziger neuer Arbeitsplatz. Das wissen Sie genau.Ein Fuhrunternehmer aus meinem Wahlkreis hat mir ge-sagt, dass er allein durch die Ökosteuer Mehrkosten inHöhe von 30 000 DM pro Monat hat.
Der Mann überlegt sich, ob er Mitarbeiter entlassen muss.
Was ist mit dem ökologischen Lenkungseffekt? Wiedenn? Wo denn? Die Besteuerung setzt eben nicht amSchadstoffgehalt an, sondern lässt willkürlich Ausnah-men gerade im energieintensiven Bereich zu. Dies führtzu ebenso willkürlichen überdurchschnittlichen Belastun-gen einiger Wirtschaftszweige und natürlich auch der pri-vaten Verbraucher.
Haben Sie denn den Strom aus erneuerbaren Energie-quellen freigestellt? Haben Sie die Unternehmen des öf-fentlichen Personennahverkehrs begünstigt? – Fehlan-zeige.
Das ökologische Mäntelchen passt hinten und vornenicht, es ist blanke Augenwischerei, nein: Abzockerei.
Die Ökosteuer ist unlogisch und unsozial. Alle werdenzur Kasse gebeten, um die Rentenkasse zu sanieren. Aberwas ist mit den Rentnern? Was ist mit den Arbeitslosen?Was ist mit den Studenten und vor allem den Familien?Sie profitieren nur minimal von der Senkung dieser Ne-benkosten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Norbert Barthle10062
Die Rechnung, die Sie aufmachen, ist deshalb eineMilchmädchenrechnung. Jede Erhöhung des Benzinprei-ses trifft zuerst und am härtesten den kleinen Mann, dieFamilien, die Rentner, die sozial Schwachen.
Gerade die Bezieher niedriger Einkommen haben nichtdie Möglichkeit, ihre Aufwendungen steuerlich geltendzu machen.
Die Menschen in den strukturschwachen Gebieten inDeutschland brauchen als Pendler dringend das Auto.Aber was hört man dazu von den SPD-Ministerpräsiden-ten?
Zur Beruhigung der Pendler soll die Kilometerpauschaleerhöht werden. Ich halte das – mit Verlaub – für steuerpo-litischen Schwachsinn, für geradezu grotesk.
Erst die Steuern zu erhöhen und dann die Subventionen zuverteilen ist vielleicht sozialdemokratische Umvertei-lungspolitik, aber das ist alles andere als logisch.Bekämpfen Sie nicht die Symptome, sondern kurieren Siedie Ursachen und schaffen Sie die Ökosteuer ab. Dannwird ein Schuh daraus.
Herr Kol-
lege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum
Schluss und nenne das Kind beim Namen: Ihre Ökosteuer
ist nichts anderes als eine Benzinpreiserhöhungssteuer. Es
wäre nur gerecht, wenn Sie wenigstens einen Teil dessen,
was Sie abkassieren, an die Autofahrer zurückgeben wür-
den. Geben Sie von den durch die getätigten Erhöhungen
bereits erzielten Einnahmen wenigstens 5 Pfennig pro Li-
ter Benzin für den Ausbau von Autobahnen und Bundes-
fernstraßen aus, dann wäre uns allen geholfen. Herr Bun-
deskanzler Schröder lässt sich als Autokanzler feiern. Der
Kollege Rezzo Schlauch –
Herr Kol-
lege Barthle, Ihre Redezeit ist beendet. Kommen Sie zum
Schluss.
– muss sich als Benzin-
Schlauch bezeichnen lassen. Der eine hat einen Ruf zu
verteidigen, beim anderen ist er schon ruiniert. Also han-
deln Sie entsprechend und schaffen Sie die Ökosteuer ab!
Als
nächster Redner hat der Kollege Reinhard Loske vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! SeitMontag treffen sich in Bonn 2000 Klimaexperten aus 150Ländern zur Vorbereitung der nächsten Vertragsstaaten-konferenz der Klimarahmenkonvention. Diese Klimaex-perten treffen sich aus gutem Grund, denn die Klimaver-änderungen nehmen dramatische Ausmaße an, wie unsdie Wissenschaft vorrechnet.Seit 100 Jahren werden Temperaturen gemessen. Diesieben heißesten Jahre in diesem Zeitraum liegen in den90er-Jahren. Jedes Jahr haben wir einen Zuwachs an Re-kordtemperaturen. Die Wissenschaft weist uns immerdeutlicher darauf hin, dass wir zu viele fossile Energieträ-ger verbrennen. Wenn wir so weitermachen, lassen wirdiesen Planeten als Wüste zurück.
Daraus resultiert klimapolitischer Handlungsbedarf.
Diese Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, dieCO2-Emissionen bis zum Jahre 2005 um 25 Prozent zusenken. Dieses Ziel stammt – das wissen Sie vielleicht –noch aus der Zeit der alten Regierung. Als das Klima-schutzprogramm 1995 von Frau Merkel vorgelegt wurde,hieß es wörtlich:Alle vorliegenden wissenschaftlichen Untersuchun-gen gehen davon aus, dass das -Zielmit den bereits bisher verabschiedeten ... Instrumen-ten nicht erreicht werden kann. Vor diesem Hinter-grund ist die Einführung einer CO2-/Energiesteuerein notwendiges Element der nationalen Klima-schutzpolitik.Das war die Zeit des klimapolitischen Konsenses inDeutschland. Man kann nur sagen: Es ist eine Schande,dass eine Partei wie die CDU, die sich auch als wertkon-servativ bezeichnet, die Ziele des Klimaschutzes so demblanken Populismus opfert.
Meine Damen und Herren von der Union, Sie habensich von der Sachorientierung wegbewegt, hin zur blan-ken Polemik, und Sie haben sich wegbewegt von der Zu-kunftsvorsorge, hin zur blanken Diktatur des Hier undJetzt. Das ist Ihre Politik; die machen wir nicht mit.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Norbert Barthle10063
Warum brauchen wir eine ökologische Steuerreform?Man muss es vielleicht noch einmal ganz kurz sagen, weilSie es offenbar nie kapieren. Auf der einen Seite müssensich die externen Effekte, die Waldschäden, die Klima-schäden und die Gesundheitsschäden, im Preis spiegeln.
Auf der anderen Seite muss man immer wieder daraufhinweisen, dass fossile Energieträger ein knappes, einendliches Gut sind. Mit dem, was wir machen, verprassenwir innerhalb weniger Jahrzehnte das, was die Natur inJahrmillionen angelegt hat.
Wenn das eine Politik sein soll, die mit Zukunftsvorsorgezusammengehen soll, dann kann ich nur sagen: GuteNacht, Deutschland, wir haben die konservative Partei,die wir verdient haben.
Die Industriegesellschaft hängt am Öl wie der Junkiean der Nadel. Das ist ein Problem; das wissen wir alle.Weil das so ist, müssen wir schnell von dieser Abhängig-keit wegkommen. Alles, was Anreize zur Energieein-sparung gibt, ist sinnvoll. Die aufkommensneutrale öko-logische Steuerreform ist eine solche Maßnahme.
Wenn Sie einmal ganz kurz innehalten und nur Ihrenvolkswirtschaftlichen Sachverstand walten lassen, dannist doch das, was wir jetzt machen, der ökologische Struk-turwandel, nichts anderes als die Substitution von Ölim-porten durch inländischen Ingenieursverstand, durch in-ländische Handwerksleistung und durch inländische In-dustrieproduktion. Das ist doch nur gut für den StandortDeutschland und nicht schlecht. Ich bitte Sie!
Das erkennt im Übrigen zunehmend auch die Automo-bilindustrie. Es ist mir wirklich ein Genuss, die dpa-Mel-dung von heute jetzt hier vorlesen zu dürfen, die unter fol-gender Überschrift steht:Autohersteller befürchten trotz Ökosteuer keineProduktionskrise.Jetzt zitiere ich wörtlich erstens die Sprecherin vonDaimlerChrysler. Sie sagt:Wir forcieren die Arbeiten zur Optimierung des Ver-brauchs.
Ich zitiere zweitens den BMW-Sprecher, der Folgen-des sagt:Der Kunde hat angesichts der steigenden Benzin-preise die Möglichkeit, sich für sparsame Pkws zuentscheiden, und er tut es auch.
Das ist das zweite Zitat.Als Dritter wird der VW-Sprecher zitiert. Dort heißt es:Positiv auf den Absatz wirke sich ferner aus, dassVolkswagen drei Modelle mit einem ausgesprochenniedrigen Kraftstoffverbrauch in seinem Programmhat.
Zum Schluss möchte ich doch noch einmal auf etwasverweisen. Ich meine, dass bei den Spaßliberalen in die-ser Richtung nichts zu erwarten ist, ist klar.
Aber wie sehr ist denn Ihr Staatsverständnis auf denHund gekommen, meine Damen und Herren von der kon-servativen Partei,
wenn der Staat sich davon abhängig machen soll, wie diePreispolitik bestimmter Konzerne ist? Wollen wir denndemnächst die Finanzbeamten am Fuße der Preistafelnpostieren, damit sie schnell durchfunken, ob wir die Steu-ern herauf- oder heruntersetzen sollen? Was für ein Staats-verständnis ist das?
Das ist doch unglaublich naiv.Ich will Ihnen zum Schluss auch nicht ersparen – ichbin sofort fertig, drei Sekunden noch –, Wirtschaftsfor-scher vom Rheinisch-Westfälischen Institut aus Essen,aus meinem Land, zu zitieren. Es ist nicht besonders be-kannt für seine Regierungsfreundlichkeit; es ist ein gutes,neutrales Institut. Ich zitiere wörtlich, Tickermeldung vonheute:Ein Verzicht auf eine weitere Anhebung der Öko-steuer könnte in den kommenden fünf Jahren fast
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Dr. Reinhard Loske10064
eine halbe Million Arbeitsplätze in Deutschland kos-ten.Kapieren Sie das bitte endlich!Danke schön.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Barbara Höll von
der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Herr Loske, wir haben leider auch einerot-grüne Regierung bekommen, die wir nicht verdienthaben, denn Sie haben eine grottenschlechte Ökosteuergemacht. Das ist das Problem.
Dass jetzt die F.D.P. diese Situation ausnutzt und nichtnur die schlechte Qualität der Ökosteuer kritisiert, son-dern versucht, den Grundgedanken einer ökologischenBesteuerung zu verunglimpfen, das ist von ihrer Positionaus nachvollziehbar.
Das Tragische ist aber, dass Sie so schlecht gearbeitet ha-ben.
Ihre Ökosteuer ist ein Etikettenschwindel. Das stimmtleider. Sie ist weder ökologisch noch sozial.
Sie ist ökologisch schlecht. Das haben wir von Anfang ankritisiert. Diese Ökosteuer ist schlecht, weil sie die Artund Weise der Energieerzeugung nicht angemessenberücksichtigt. Bei der Produktion werden die energiein-tensiven Bereiche nicht in adäquater Weise herangezogen.Sie nutzen die Ökosteuer nicht zum ökologischen Umbauder Gesellschaft, sondern nur zur Schließung von Haus-haltslücken.
Da Ihre Ökosteuer nicht ökologisch ist, ist sie unsozial.Sie nutzen die durch die Ökosteuer erzielten Mehreinnah-men – im vergangenen Jahr etwa 8Milliarden DM, in die-sem Jahr rechnen wir mit 12 Milliarden DM – nicht zumUmbau der Gesellschaft. Die Bürgerinnen und Bürgerdieses Landes sind zu Recht wütend, da sie keine Mög-lichkeit haben, auf andere Beförderungsmittel umzustei-gen.Ich nenne als Beispiel Annaberg-Buchholz in Sachsen:In diesem Jahr werden in Sachsen 120 Streckenkilometerder Bahn stillgelegt. Annaberg-Buchholz, eine Stadt mit30 000 Einwohnern, wird in diesem Jahr die erste Stadt inSachsen sein, die keine Schienenanbindung mehr hat.Manche Arbeitslose werden das Glück haben, vom Ar-beitsamt in Annaberg-Buchholz eine neue Arbeitsstellevermittelt zu bekommen. Arbeitslosen, denen das nichtgelingt, haben – drei Stunden Wegezeit ist ja zumutbar, daauch die rot-grüne Regierung von den Arbeitslosen Mo-bilität verlangt – keine andere Chance, als auf den Busoder auf den privaten Pkw auszuweichen. Das machtnatürlich Bürgerinnen und Bürger wütend.
Der ÖPNV rechnet allein bis zum Jahre 2003 aufgrundder Ökosteuer mit Mehrausgaben von über 400 Milli-onen DM. Dafür muss ein Ausgleich geschaffen werden.
Das wäre eine ökologische Lenkungswirkung, die tat-sächlich funktionieren würde. Soziale Gerechtigkeit istdie Grundvoraussetzung dafür, dass die Bevölkerung denökologischen Umbau der Gesellschaft, der absolut not-wendig ist, auch tatsächlich mitmacht. Das ist die Ziel-stellung, die Sie durch Ihre schlechte Arbeit leider diskre-ditiert haben.Es ist natürlich klar und wurde vorhin schon gesagt –die F.D.P. hat es etwas spät erkannt, wir haben es von An-fang an kritisiert –, dass Sie natürlich mit der Ökosteuerviele Menschen belasten, ohne sie gleichzeitig zu entlas-ten. Arbeitslose, Rentner und Rentnerinnen sowie Fami-lien mit Kindern haben eine Verbrauchsteuererhöhunghinzunehmen, ohne eine Gegenfinanzierung zu erhalten.Nicht nur, dass Rentnerinnen und Rentner von der Sen-kung der Rentenbeiträge nicht profitieren können: Sie ha-ben sie durch die Abkopplung von der Nettolohnentwick-lung in diesem Jahr doppelt bestraft.
Das ist die Realität, der Sie sich stellen müssen.Der Gipfel des Ganzen sind natürlich jetzt die Vor-schläge zur Kilometerpauschale. Wir sind vielleicht dieeinzigen, die noch ab und zu in den Koalitionsvertraggucken. Man könnte das ja auch von Ihren Ministerpräsi-denten erwarten. In den Vorschlägen ist immerhin nochdie Rede von einer verkehrsmittelunabhängigen Entfer-nungspauschale. Nun frage ich mich: Warum ist das nochnicht durchgesetzt? Warum fassen Sie das nicht an? DieForderung, jetzt nur die Kilometerpauschale zu erhöhen,ist natürlich Blödsinn. Es bedeutete eine weitere Stärkungfür das Auto und würde sich nur auf Steuerzahler undSteuerzahlerinnen auswirken. Auch viele Arbeitslose
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Dr. Reinhard Loske10065
haben ein Auto und würden wiederum keinen Ausgleicherhalten.Dieser Weg kann nicht richtig sein. Es ist notwendig,eine ökologische Steuerreform anzugehen, die diesen Na-men verdient. Dazu fordern wir eine Steuer auf fossilePrimärenergieträger. Wir fordern weiterhin, die Einnah-men aus einer ökologischen Steuerreform für den ökolo-gischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft, für In-vestitionen in den öffentlichen Personennahverkehr undfür die Entwicklung effizienter Verfahren zur Energieer-zeugung zu verwenden. Setzen Sie die jetzige ökologi-sche Steuerreform aus und fangen Sie endlich mit einerrichtigen und sachgerechten Ökosteuer an! Als Sofort-maßnahme böte sich an, den ÖPNV von der Ökosteuer zubefreien.
Das wäre ein richtiger Weg und ein klares Zeichen dafürgewesen, dass Sie wenigstens gewillt sind, eine Alterna-tive zu bieten, statt nur Ihrem Kanzler als Kanzler allerAutokonzerne zu folgen.Ich bedanke mich.
Als
nächster Redner hat der Kollege Wolfgang Grotthaus von
der SPD-Fraktion das Wort.
Das wollte ich Ihnen,Herr Schauerte, gerade empfehlen. Hoffentlich kommtder Heilige Geist über Sie, damit er ein bisschen Verstandhereinbringt.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Sie haben heute bei dieser Fragestunde erlebt, wosich demnächst die Koalitionen anzusiedeln scheinen:Die PDS, die CDU und die F.D.P. scheinen auf einer Li-nie zu liegen. Die F.D.P. orientiert sich langsam um.
Ich kann Ihnen nur empfehlen: Richten Sie sich ein biss-chen nach der PDS, sodass Sie dann einen neuen Koaliti-onspartner bekommen. Das deutet sich in Ihren Beiträgenan.
Ich will Ihnen eines in aller Deutlichkeit sagen: IhreStimmungsmache gegen die Ökosteuer ist populistischund infam. Ich will das aufgreifen, was der KollegeBrüderle gesagt hat; denn Sie – er sitzt da hinten – habendie Ursache für die hohen Kraftstoffpreise nicht genannt.Wenn man damit offen umgeht, muss man die Ökosteuerbei der Erhöhung der Preise einbeziehen. Richtig wäre esgewesen, wenn der Kollege Brüderle auch die niedrigeFörderquote der OPEC-Länder, den gestiegenen Dollar-kurs und die undurchsichtige Preispolitik der großen Öl-konzerne genannt hätte.
So sind Sie, Herr Kollege Brüderle, zu kurz gesprun-gen. Sie sind populistisch deswegen – das zeigen IhreBeiträge deutlich –, weil Sie die Meinungshoheit über denStammtischen erobern wollen. Uns wäre es lieb gewesen,wenn Sie sinnvolle Vorschläge gemacht hätten, wie dieZielsetzung der Ökosteuer mit anderen Mitteln erreichbargewesen wäre. Das ist aber nicht der Sinn dieser Aktuel-len Stunde.
Der Sinn dieser Aktuellen Stunde ist, die Meinungshoheitüber den Stammtischen zu erreichen. Ich finde es gera-dezu einen Witz, wenn der Vertreter der Partei, die sich inden zurückliegenden Jahren immer als Mittelstandsparteibezeichnet hat, als Vertreter der kleinen Leute auftritt,wenn sie deutlich machen will, dass sie das Geld der klei-nen Leute vertritt und – das gilt auch für die CDU – dieSteuergesetzgebung 1999 bis 2002 und nachfolgend ab-gelehnt hat.Lassen Sie mich eines in aller Deutlichkeit sagen: DieÖkosteuer erhöht die Belastung für eine vierköpfige Fa-milie mit einem Einkommen von 5 000 DM um rund7 DM im Monat. Das können Sie nachrechnen.
– Rechnen Sie das einmal nach. Ich will mit Ihnen nichtdas kleine Einmaleins anfangen. Ich glaube, dass Sie dasin der Grundschule gelernt haben.
Wenn Sie dagegen die Senkung der Steuersätze, etwa desEingangssteuersatzes, und die Erhöhung des Kindergel-des sehen, dann kommen Sie auf Mehreinnahmen für einevierköpfige Familie von rund 90 DM im Monat. Auch dasverschweigen Sie hier. Daher kann ich Ihnen nur in allerDeutlichkeit sagen: Sie sollten mit den Zahlen ehrlicherumgehen.
Ich will es wiederholen, damit Sie es verstehen: Waswar 1997, als Ihre jetzige Parteivorsitzende und damaligeBundesumweltministerin forderte:Die Benzinsteuer soll jährlich um 5 Pfennig steigen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Dr. Barbara Höll10066
Ist das etwas anderes als die Ökosteuer? Wie war es 1998?Ich zitiere noch einmal Herrn Merz, den der Staatssekre-tär Diller gerade zitiert hat:Durch die Ökosteuer sollen Steuereinnahmen erzieltwerden, um auf der anderen Seite Sozialabgaben zureduzieren. Über ein solches Konzept kann man re-den.
– Ich zitiere gerade Ihren Kollegen Merz. Wenn Sie sagen,dass sei wahrheitsunfähig, dann muss ich Ihnen sagen: Ichzitiere Ihren Kollegen Merz. Ich gehe davon aus, dass erdie Wahrheit gesagt hat.
Ihre Vorstellungen waren zum damaligen Zeitpunktrichtig. Sie näherten sich unseren Vorstellungen an. Wirhaben Ihre Vorstellungen aufgegriffen.
Nachdem wir sie aufgegriffen und eingeführt haben, istIhr Geschrei groß. Meine Kolleginnen und Kollegen vonder Opposition, ich frage mich: Was ist falsch daran, wennmit den erwirtschafteten Mehreinnahmen die Rentenver-sicherungsbeiträge gesenkt wurden und damit die Ar-beitskosten verbilligt wurden? Was ist daran falsch, wennwir gemeinsam mit acht Ländern in der EuropäischenUnion eine Ökosteuer eingeführt haben? Was soll daranfalsch sein, wenn die Verbraucher in Wirtschaft und imprivaten Bereich langfristig wissen, was auf sie zukommt,und damit eine Planungssicherheit haben? Ich will Ihnenin aller Deutlichkeit sagen: Die Kollegen Schäuble undRepnik formulierten in ihrem Konzept 2000: Die klarepolitische Zielsetzung einer stetigen Verteuerung des Um-weltverbrauches gibt Investoren die notwendige Orientie-rung für langfristige Projekte.
Herr Kol-
lege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum
Schluss. – Nichts anderes bewirkt die Ökosteuer. Ich sage
Ihnen mit aller Deutlichkeit: Die Ökosteuer bleibt. Sie er-
füllt den Zweck, Arbeit und Umwelt gleichrangig zu be-
werten. Eine Umkehr dieses Ansatzes würde bedeuten,
dass man nur die Preise erhöhen müsste, um den Druck
auf die Regierung zu erhöhen und den Staat dazu zu brin-
gen, dass er auf die Vorstellungen der Industrie oder der
Opposition eingeht.
Ob das sinnvoll ist, bezweifle ich. Dadurch kann keine
nachhaltige und auch keine vernünftige Politik gemacht
werden. Wir werden von der Ökosteuer nicht abrücken,
auch wenn Sie noch so laut schreien. Ich habe Ihnen schon
einmal gesagt: Schreien überzeugt nicht.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Birgit
Homburger von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Dramatisch gestiegene Mineralöl-preise führen im Augenblick zu entrüsteten Protesten derBürgerinnen und Bürger, und das zu Recht. Die so ge-nannte Ökosteuer ist ein reines Abkassiermodell ohnedurchgreifende Lenkungswirkung im ökologischen Sinn.
Herr Kollege Loske, ich möchte Ihnen an dieser Stelleganz klar sagen: Wir stehen zu dem Ziel der Minderungder CO2-Emissionen um 25 Prozent.
Wir haben ein eigenes Konzept vorgelegt. Wenn Sie zuunserer Forderung, das Ökosteuerkonzept, das Sie be-schlossen haben und das eigentlich gar kein Ökosteuer-konzept ist, zurückzunehmen, sagen, diese sei Populis-mus, dann kann ich nur fragen: Was anderes sind eigent-lich die Forderungen aus Ihren Reihen nach Anhebung derKilometerpauschale und nach Benzingutscheinen? DieseForderungen sind doch nichts anderes als der Versuch,den Zorn der Leute zu besänftigen, und nichts anderes alsPopulismus. Insofern würde ich an Ihrer Stelle ruhig sein.
Wenn Sie uns vorwerfen, wir würden die Leute ver-schrecken, dann kann ich Ihnen nur sagen: Wenn Sie dasZiel des Klimaschutzes erreichen wollen – das gilt für an-dere umweltpolitische Ziele genauso –, dann müssen Siedie Menschen auf diesem Weg mitnehmen. Sie werdendie Menschen nicht mitnehmen, wenn Sie sie abzockenund auf eine ohnehin schon zu hohe Steuerlast noch drauf-satteln. Sie werden das Gegenteil von dem erreichen, wasSie beabsichtigen. Genau das erleben Sie im Moment.
Deswegen fordert die F.D.P. in ihrem Antrag, den siegestern im Deutschen Bundestag eingebracht hat, dieBundesregierung auf, die Ökosteuer abzuschaffen undeine wirkliche ökologische Steuerreform vorzulegen.Dazu gehören auch die Abschaffung der Kraftfahrzeug-steuer und die Umlegung dieser Steuer auf die Mineralöl-steuer sowie die Umwandlung der Kilometerpauschale ineine verkehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale.
Ich kann vor allen Dingen Sie von den Grünen nur auf-fordern: Stimmen Sie unserem Antrag endlich zu. In ihm
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Wolfgang Grotthaus10067
wird die Umsetzung dessen gefordert, was seit vielen Jah-ren in Ihrem Parteiprogramm steht. Ich finde es bezeich-nend, dass Sie ihn vor kurzem an anderer Stelle abgelehnthaben.
Ich finde das, was zum Thema Ökosteuer und zu derenVerwendung hier gesagt wurde, bemerkenswert. DieÖkosteuer ist doch nichts anderes als ein Lückenbüßer,Herr Diller, für Ihre Einfallslosigkeit bezüglich derRentenpolitik.
Sie haben heute im Plenum in entwaffnender Offenheitund dankenswerterweise gefragt: Was machen wir eigent-lich mit den Rentenversicherungsbeiträgen, wenn wir dieÖkosteuer abschaffen? – Ich kann Ihnen darauf nur ant-worten: Machen Sie eine klare Rentenreform! Wollen Sieder jungen Generation eigentlich noch länger weisma-chen, dass der demographische Faktor kein Problem sei?
Sie müssen eine echte Reform durchführen. Jetzt ver-schieben Sie nur das Geld von einer Tasche in die andere.Das macht die Sache nicht besser, sondern viel schlechter.
Die so genannte Ökosteuer ist auch in sich wider-sprüchlich, und zwar an allen Ecken und Enden. DieKohle – Sie alle wissen, sie hat eine schlechte CO2-Bilanz –ist von der Besteuerung ausgenommen. Die regenerativenEnergien werden dagegen besteuert. Den ÖPNV, den Sielaut Ihrer Koalitionsvereinbarung steuerlich entlastenbzw. fördern wollten – Sie fordern auch jetzt ständig, dassmehr Verkehr auf den ÖPNV umgelenkt werden soll –,haben Sie in die Besteuerung einbezogen und dadurchverteuert. Die Verkehrsunternehmen haben schon jetztPreiserhöhungen angekündigt.Vor diesem Hintergrund sind die Pendler, die auf ihrFahrzeug angewiesen sind, und die Bevölkerung im länd-lichen Raum die Leidtragenden Ihrer Politik.
Diese Personen haben im Übrigen – das müssen Sie sichsagen lassen – auch keinerlei adäquate Entlastung. Nichtnur Rentner, Studierende und Arbeitslose – diese Gruppenwurden hier schon genannt –, sondern auch Landwirteund Freiberufler, die auf ihr Auto oft angewiesen sind undviel fahren, haben bei den Rentenversicherungsbeiträgenkeinerlei Entlastung. Die so genannte Ökosteuer ist daherunsozial und ungerecht.
Ich möchte zum Schluss nur noch eines sagen – dasmüssen Sie sich anhören, so lange Sie hier solche ver-korksten Dinge einbringen –:
Die so genannte Ökosteuer ist in jeder Hinsicht – im Hin-blick auf Arbeitsplätze, aus ökologischer, aber auch aussozialer Sicht – ein verlogenes Konzept; deswegen ziehenSie es bitte zurück!
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Christine Scheel von Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Irgendwiemüssen wir 16 Jahre lang etwas verpasst haben.
Nachdem Sie erzählt haben, wie viel Gutes Sie für die Ar-beitnehmer und für die Bevölkerung getan haben, frageich mich, wie die Steuer- und Abgabenlast 16 Jahre langso steigen und so unerträglich hoch werden konnte, dasswir jetzt mühsam versuchen, sie zu senken.
Diese Regierung hat mit all dem, was bislang von ihr be-schlossen worden ist, 75MilliardenDM an Nettoentlastungauf den Weg gebracht. Das ist ziemlich viel. Unter Lei-tung von Rot-Grün sind in der Bundesrepublik Deutsch-land erstmals nicht nur die Bruttolöhne, sondern auch dieNettolöhne gestiegen, weil es – unter anderem durch dieÖkosteuer – gelungen ist, die Lohnnebenkosten zu senken.
Wenn Sie mit Ihrer Stammtischmentalität behaupten,wir zockten die Arbeitnehmer ab, nach dem Motto „die ar-men Pendler“, dann sage ich Ihnen jetzt einmal – das istauch für die Öffentlichkeit sehr interessant –, was dieCDU/CSU in ihrem Gesetzentwurf vorsieht. Sie sehenvor, dass Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die an230 Tagen im Jahr – das ist der Schnitt – mit ihrem Autozur Arbeit fahren – weil es aufgrund des fehlendenAusbaus öffentlicher Verkehrsmittel anders nicht möglichist –
und keine weiteren Werbungskosten geltend machen, bis15 Kilometer, in Zukunft 500 DM weniger Werbungskos-tenpauschale bekommen. Wenn der Arbeitnehmer oderdie Arbeitnehmerin 20 Kilometer zur Arbeit fahren muss,dann liegt die steuerliche Mehrbelastung nach Ihren Vor-stellungen bei einer Größenordnung von 661 DM, bei30 Kilometern bei 776 DM. Geht man weiter nach oben,dann summiert sich das auf eine Größenordnung, zu derich sagen muss: Man muss verdammt viel Auto fahren –man muss fast den ganzen Tag nichts anderes tun –, um
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Birgit Homburger10068
das zurückzubekommen, was Sie diesen Menschen inWirklichkeit an anderer Stelle wegnehmen wollen.
Ich bezeichne es als Verlogenheit in der Politik, wennin aktuellen Konzepten von CDU und CSU Vorschlägegemacht werden, in denen die Arbeitnehmer und Arbeit-nehmerinnen vor allen Dingen durch die Senkung derWerbungskostenpauschale zusätzlich belastet werden.
Sie wollen die Werbungskostenpauschale von 2 000 DMauf 1 500 DM absenken. Außerdem behaupten Sie, dieUmwidmung in die Entfernungspauschale sei etwas Sinn-volles, weil alle Verkehrsmittel, auch der Gang zu Fuß,gleich behandelt werden. Ich möchte einmal denjenigensehen, der mehr als 15 Kilometer Weg zur Arbeit hat unddiese Strecke zu Fuß erledigt. Irgendwie ist das dochwirklich eine Verarschung der Bevölkerung.
Aus Ihren Wahlprogrammen und Ihren Aussagen aufUmwelttagungen, soweit Sie daran teilnehmen – das giltfür die F.D.P. genauso wie für die CDU/CSU –, kann manimmer wieder entnehmen, wie wichtig und wie notwen-dig es ist, Ressourcen zu schonen, Ressourcen zu verteu-ern, dass die Arbeit im Verhältnis noch immer zu hoch be-steuert ist usw.Genau das, was Sie in Ihren Programmen jahrelang ge-fordert, aber was Sie nie getan haben, obwohl Sie immersuggeriert haben, dass Sie hier etwas tun wollen, hat dieseRegierung auf den Weg gebracht, und zwar internationalvernünftig, im Konsens auch mit vielen anderen europä-ischen Ländern. Wir sind stolz darauf, dass wir diesenWeg gegangen sind.
Vor allem aus Bayern wird ziemlich viel geplärrt – HerrStoiber kann das besonders gut; Herr Protzner, der nachmir sprechen wird, kommt auch aus Bayern; wir beidekommen, wie wir wissen, aus Franken –: Steuern runter!Herr Diller hat völlig richtig gesagt: Konsequenterweisemüssten Sie bei jeder Senkung eine Steueranhebung ver-langen. So etwas ist aber eine chaotische Fall-zu-Fall-Fis-kalpolitik, die für eine Regierung, die verantwortlich han-delt, nicht geeignet ist.
Das ist Ihnen zuzutrauen. Das hätten Sie, wenn Sie ge-konnt hätten, mit Sicherheit getan. Das haben wir ja jetztauszubaden. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass wir denSchuldenberg abbauen, den Sie uns hinterlassen haben.
Auch das Klagelied, der Staat betreibe hier Abzockerei,taugt nur als Stammtischkracher; denn es ist doch logisch,dass der Staat die Steuern einnimmt. Die Mineralölsteuerist eine Steuer genau wie jede andere Steuer auch. Es liegtdoch einfach in der Logik einer Steuer, dass der Staat sieeinnimmt. Deswegen kann man an diesem Punkt nichtvon Abzockerei sprechen.
Frau Kol-
legin Scheel, kommen Sie bitte zum Schluss.
Letzter Satz. Wir machen eine ehrliche, berechenbare und
verantwortliche Politik,
die sowohl für die Ökonomie als auch für die Ökologie
zukunftsweisend ist. Sie werden uns in ein paar Jahren
dankend auf die Schulter klopfen, dass wir es durchge-
halten haben,
obwohl Sie mit Ihrer Schreierei versuchen, eine Stim-
mung dafür zu erzeugen, dass dies ein Unsinn sei.
Frau Kol-
legin Scheel, ich möchte Sie darauf hinweisen, dass Sie
einen Begriff gebraucht haben, der nicht zum parlamenta-
rischen Sprachgebrauch gehört. Ich will ihn aber auch
nicht wiederholen.
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege
Dr. Bernd Protzner von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Kolleginnen und Kollegen! Es ist ganz einfach so: Dierot-grüne Koalition hat Pech gehabt: Als sie die Ökosteuereinführte, meinte sie, es würde niemand merken. Es hal-fen ihr damals auch die Märkte und die Marktentwicklungin 1999 bis Anfang 2000. Die Erdölpreise waren niedrig;sie stagnierten. Die Explorationskosten wurden bei denKonzernen zurückgefahren. Man erschloss keine neuenGebiete.Allerdings – das kommt davon, wenn man Märkte igno-riert und nicht an die Zukunft denkt – steigen die Markt-preise mittlerweile. Das Ölfass ist bei den Bürgerinnen undBürgern übergelaufen.Frau Scheel, ich bewundere Sie,
wie Sie bei Ihren Auftritten hier immer die Johanna derSteuersenkungen spielen, in Wirklichkeit aber das Ge-genteil tun.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Christine Scheel10069
Rechnen wir doch ganz einfach einmal. Damit gehe ichauch auf das ein, was Herr Diller vorhin in der Frage-stunde gesagt hat, nämlich dass es sich um die größteSteuersenkung aller Zeiten handele. Ja, bei den direktenSteuern tun Sie etwas.
Bei den direkten Steuern haben Sie ganz marginal – fürdrei oder vier Jahre – etwas auf den Weg gebracht. 2005 –so hat der Kollege Rauen vorgerechnet – zahlt derBaufacharbeiter nach Ihren Plänen schon wieder mehr alsim Jahre 2001.
Halten Sie die Leute nicht für so dumm. Sie wissen mitt-lerweile auch, dass es nicht nur direkte Steuern, Lohn-und Einkommensteuer, gibt, sondern dass es genauso in-direkte Steuern gibt. Diese erhöhen Sie eben drastisch.Eine vierköpfige Familie mit einem durchschnittlichenEinkommen zahlt in dieser Republik mittlerweile gut6 500 DM indirekte Steuern im Jahr. Das können Sie aus-rechnen. Das sind fast 550 DM im Monat. Ihre Ökosteuerist dabei ein wesentlicher Punkt. Die Ökosteuer hat dieLeute verärgert.
Da hilft eben nur eines, nämlich die Ökosteuer zurückzu-führen.
Ich glaube ja nicht, dass Sie ernsthaft den Ausstieg ausder Automobilwirtschaft versuchen wollen, nachdem Ih-nen der Ausstieg aus anderen Wirtschaftsbereichen schonnicht gelingt. Es tut mir, meine Damen und Herren, alsCSU-Abgeordneten schon gut, wenn ich von SPD-Land-ratsseite mit Bittbrief angegangen werde, ich möge dochAbhilfe bei der Ökosteuer schaffen, die die SPD einge-führt hat.
– Frau Kastner, fragen Sie doch einmal Ihren Parteikolle-gen, den Landrat Marr aus Kronach, und bitten Sie ihndoch einmal um den Brief. Bearbeiten Sie doch einmal dieAnliegen, die er für seine Pendler im Frankenwald, fürseine mittelständischen Transportunternehmer, für die Ta-xifahrer und die Busunternehmen, die er mir aufgelistethat, vorträgt.
Es gibt nur einen Weg, der in die richtige Richtungführt und zukunftsfähig ist: Schaffen wir die Ökosteuerwieder ab!
Meine Damen und Herren, Auto fahren darf nicht nuretwas für Porsche-Fahrer sein. Ich kann mir nicht vorstel-len, dass die neue Parole Ihres Bundeskanzlers GerhardSchröder lautet: freie Fahrt für Porsche-Fahrer. Er kommtja immerhin noch aus Niedersachsen. Wir, die Union, je-denfalls treten nach wie vor für die freie Fahrt von Volks-wagen-Fahrern ein.
Wir verstehen es nämlich noch, an die kleinen Leute zudenken und ihre Interessen wahrzunehmen.
Da unterscheiden wir uns von Ihnen, meine Damen undHerren.Weil Sie schon so viele von uns zitiert haben, erlaubeich mir, auch eine Aussage von mir aus dem Jahre 1988zu zitieren. Wie viele andere Kollegen habe ich im Zu-sammenhang mit der Ökosteuer von Abzockerei gespro-chen. Daran halte ich auch fest. Es ist keine ökologischeSteuer: Sie tun weder etwas für die Umwelt noch ist sielogisch.
Es handelt sich um eine ideologische Steuer. Ideologiensollten wir eigentlich im 20. Jahrhundert gelassen habenund nicht ins 21. Jahrhundert mitschleppen. Deshalb rufeich Ihnen noch einmal zu: Geben Sie sich einen Ruck undzeigen Sie Mut, indem Sie die Ökosteuer abschaffen!
Das Wort
hat jetzt der Kollege Detlev von Larcher von der SPD-
Fraktion.
Nach anderthalb Jahrenhat die Opposition noch nicht ihre Rolle gefunden. Siemacht wirr durcheinander zu den verschiedensten The-men irre Vorschläge. Dass das wahr ist, was ich sage, dassSie Ihre Rolle nicht gefunden haben,
sehen Sie daran, dass Sie nun schon zum zweiten oderdritten Mal, wie ich glaube, verlorene Schlachten schla-gen. Die Argumente gegen die Ökosteuer haben wir dochschon x-mal gehört, als wir sie einführten.
Es fällt Ihnen nichts Neues ein. Sie schlagen verloreneSchlachten.16 Jahre lang haben Sie eine grandiose Umverteilungvon unten nach oben vorgenommen und den Arbeitneh-mern und den Geringverdienern eine riesige Mehrbelas-tung aufgebürdet.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Dr. Bernd Protzner10070
Sie wollen den Arbeitnehmerpauschbetrag in Ihrem Steu-erkonzept von 2 000 auf 1 500 DM senken. Sie wollten
die Sonn- und Feiertagszuschläge streichen. Sie wollendie Nachtzuschläge streichen und die Arbeitnehmer ganzstark belasten. Alles wollen Sie ihnen wegnehmen.Die F.D.P. hat in ihrem Dreistufenmodell zur Einkom-mensteuer vorgesehen, die Kilometerpauschale abzu-schaffen. Heute höre ich jetzt etwas von Entfernungspau-schalen. Was wollen Sie denn nun eigentlich?
In Ihrem Dreistufenmodell sehen Sie jedenfalls vor, dieKilometerpauschale abzuschaffen. Die CDU/CSU forderteine Entfernungspauschale von 50 Pfennig, die aber erstdann greift, wenn man weiter als 15 Kilometer fährt. Fürdie ersten 15 Kilometer bekommt man gar nichts. Wieviele Pendler bekommen denn dann gar nichts? Wahr-scheinlich 60 oder 70 Prozent.
– 80, danke.
80 Prozent der Pendler bekommen nichts. Sie stellen sichhier aber hin und singen das Hohelied der armen Pendler.Das ist wirklich unglaubwürdig und verlogen, was Siehier anstellen.
Es ist wirklich unverantwortlich und unwahrhaftig, wasSie machen.
Meine Kolleginnen und Kollegen haben ja schon inForm von Zitaten auf verschiedene Äußerungen von Ih-nen hingewiesen, zum Beispiel auf die Forderung vonWolfgang Schäuble, Energie müsse langsam immer teurerwerden
und die Kosten für die Arbeitnehmer müssten langsamimmer mehr abnehmen. Wo ist das denn geblieben?Schon als er das geäußert hat, wollten Sie es eigentlichnicht mehr wahrhaben. Die Aussage von Herrn Merz,über unser Konzept könne man reden, ist mit Recht zitiertworden. Heute ist das, weil man populistisch sein will, al-les vergessen.Herr Schäuble:Allerdings muss ein nationaler Alleingang im Um-weltschutz nicht zwingend schädlich sein. So habendie hohen deutschen Anforderungen dazu beigetra-gen, dass deutsche Unternehmen im Bereich der Um-weltschutztechnologie weltweit an der Spitze liegen.Eine schonende Preissteigerung für den Naturver-brauch ist auch im nationalen Alleingang vorstellbar.Alles weg, weil die hohen Benzinpreise die Leute ärgern.
– Sie ärgern die Leute, natürlich!Dann machen Sie ihnen noch etwas vor. Das Grandio-seste war wirklich Herr Merz am Sonntagabend zwischen19.10 Uhr und 19.30 Uhr.
– Der war wirklich grandios–. Er hat gesagt: Die armenÖlkonzerne wollen doch nur ihren Anteil an der Öko-steuererhöhung haben, deswegen werden die Preisehöher. Herr Protzner, Sie sind bis jetzt der Einzige, der ge-sagt hat, Grund für die hohen Preise sind die ölförderndenLänder und der Dollarkurs.
Und Sie wollen die Leute glauben machen, die Erhöhungkommt von der Ökosteuer.
– Herr Schauerte, Sie können so lange schreien, wie Siewollen. Erklären Sie mir einmal, warum das Kerosin imgleichen Verhältnis teurer wird. Darauf gibt es überhauptkeine Steuer. Die ein Drittel Steuern, die Sie schreien, sinddoch Ihre Steuern. Das sind doch Ihre 50 Pfennig aus denletzten Legislaturperioden.
Sie wollten doch damit die Löcher stopfen.
Worüber man reden könnte und worüber wir auch nochreden werden, ist, ob das Aufkommen der Ökosteuer nichtirgendwann einmal ein bisschen umgesteuert werdenmuss.
– Das haben wir immer schon gesagt. – Das ist ein richti-ger Gedanke. Aber, ich mache Sie auf Folgendes auf-merksam: Wir verwenden das Geld, 200 Millionen DM,auch zur gezielten Förderung von erneuerbaren Energien.Wir haben das 100.000-Dächer-Programm gemacht unddas Gesetz für die erneuerbaren Energien verabschiedet.Die Solarenergie boomt inzwischen; denken Sie an diePhotovoltaikanlagen. Wir müssen nachlegen, weil dieNachfrage so groß geworden ist.Sie wollen den Leuten vormachen, dass diese Ausga-ben nur Kosten sind. In Wirklichkeit sind es Investitionenin die Zukunft. Wenn wir diesen Weg weiter beschreiten,wenn wir Energie einsparen, dann schaffen wir ein mo-dernes Deutschland mit modernen Innovationen undHunderttausende von Arbeitsplätzen.
Sie sind Populisten. Sie versuchen sich auf eine Welle zusetzen. Wir halten an unserem bewährten Konzept fest.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Detlev von Larcher10071
Wir lassen uns unsere Steuerpolitik nicht vom Markt dik-tieren.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Michael
Meister von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor gut einemJahr haben Vertreter der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenargumentiert, die Ölpreise fallen, deshalb macht es nie-mandem etwas aus, wenn wir eine Steuer erhöhen.
Heute steigen die Preise. Deshalb müssten Sie logischer-weise die Steuer senken. Wo ist Ihre Antwort auf dieseFrage, wo bleibt Ihre eigene Argumentation, die Sie vorzwölf Monaten hier vorgetragen haben?
Heute wissen wir, dass Sie mit der zweiten Stufe derÖkosteuer eine Initialzündung für die Steigerung der Ben-zinpreise gesetzt haben.
Sie speist sich zwar aus unterschiedlichen Quellen, aberknapp 1,40 DM von jedem Liter Benzin fließen an denFiskus. Deshalb muss der Deutsche Bundestag auchüber diesen Anteil von rund 70 Prozent diskutieren.Die Regierung Schröder hat die so genannte Ökosteuervon Beginn an als reinen Etikettenschwindel eingeführt.Sie dient weder der Ökologie noch hat sie eine innere Lo-gik. Sie war von vornherein als reines Abkassiermodelldefiniert.
Das zentrale Problem, wenn Sie den Zusammenhangmit dem Klimaschutz herstellen, ist, dass Sie keinerleigeschlossenes Energiekonzept für den Standort Deutsch-land haben. Deshalb ist diese Ökosteuer ohne Fundament.Sie ist auf Sand gebaut. Sie wird einstürzen.
Wenn Sie sich das anschauen, werden Sie bald die Ab-surditäten feststellen. Schauen Sie sich den ÖPNVund dieBahn an. Sie fordern ständig den Umstieg auf den ÖPNV.Sie fordern den Umstieg auf die Bahn. Sie besteuern beideüber die Ökosteuer. Dies ist in sich absolut widersinnig.Sie nehmen dem Ganzen die Attraktivität. Ab heute wirddarüber diskutiert, ob auch dort die Preise angehoben wer-den müssen.Es gibt bei dieser Steuer außer dem Bundesfinanzmi-nister keinen Gewinner, sondern nur Verlierer.
Verlierer sind die Rentner, Verlierer sind die Familien,Verlierer sind die jungen Leute. Sie verabschieden sichmit dieser Steuer von der jungen Generation.
Verlierer sind die Berufspendler,
Verlierer ist die Landwirtschaft, Verlierer sind die Nutzerdes ÖPNV, Verlierer ist das deutsche Verkehrsgewerbe,Verlierer sind die Arbeitnehmer.Meine Damen und Herren, diese Steuer ist unsozial; sieist geprägt von eisiger sozialer Kälte und Sie beginnen da-mit eine konsequente Politik gegen die Menschen inDeutschland.
Ich glaube, die Verkehrsteilnehmer, die Mobilitätbenötigen, hätten noch Verständnis, wenn ein Teil der Ein-nahmen oder die Einnahmen insgesamt tatsächlich in Ver-kehrsinfrastrukturmaßnahmen investiert würden, wennder unterfinanzierte Teil Bahninvestitionen, Binnenwas-serstraßen, Straßen damit bedient würde und somit neueInvestitionen getätigt würden. Was machen Sie stattdes-sen? Kein Pfennig wird dort ausgegeben. Die Mittel wer-den weiter gekürzt. Durchgangsstraßen werden nicht ge-baut. Kein Pfennig fließt in die Infrastruktur. Die Men-schen sind enttäuscht, dass ihnen das Geld abgenommenwird und kein Pfennig an dieser Stelle zurückfließt.
Es stellt sich auch die Frage: Wo ist eigentlich derMann mit der Richtlinienkompetenz, der mit dieser Steuerlediglich versucht hat, seine falschen Rentenversprechenzu kaschieren?
Er zeigt sich medienscheu. Vom Herrn Bundeskanzlerhört man an dieser Stelle keinerlei öffentlichen Auftritt,den er ansonsten so toll beherrscht.
Seit dem Wochenende wissen wir: Der Herr Bundes-kanzler versteht unter modernem Regieren, dass man beiunangenehmen Diskussionen abtaucht, schweigt und sichnicht zeigt.
Herr Bundeskanzler, treten Sie endlich vor die deut-sche Öffentlichkeit und legen Sie Ihre persönliche Hal-tung, Ihre Richtlinienkompetenz, die Sie haben, klar! Zei-gen Sie, ob Sie persönlich dafür stehen oder ob Sie per-sönlich an dieser Stelle eine andere Auffassung vertreten!
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Detlev von Larcher10072
Nehmen wir den Hinweis auf das Bundeskartellamt.Das ist der einzige Hinweis, den der Bundeskanzler gege-ben hat. Das Bundeskartellamt sei dem Bundeskanzlergnädig; denn wenn es eingreifen würde, würde das dazuführen, dass die Benzindumpingpreise der großen Gesell-schaften nach oben korrigiert würden. Also wenn der HerrBundeskanzler Recht bekäme, würden die Benzinpreisenoch weiter steigen. Soll das etwa eine Politik für dieMenschen in Deutschland sein? Ist das der Ausweg, dener präsentieren will?Und dann, meine Damen und Herren, wie gehen Sie ei-gentlich mit Ihren eigenen Ministerpräsidenten um? VonHerrn Müller haben wir gelesen, dass das Leute seien, dieein „Gequatsche“ vollführten. Herr Beck, Herr Gabrielsind Personen, die wir Ministerpräsidenten nennen. Siebezeichnen sie als Leute, die ein „Gequatsche“ voll-führen.
Ich würde diese Warnlampen in den eigenen Reihenendlich ernst nehmen und versuchen, eine Änderung derPolitik herbeizuführen. Wie ich weiß, sind Sie, Herr Kol-lege Müller, auch in der IG BAU. Auch Ihr Gewerk-schaftsvorsitzender Wiesehügel hat mit Blick auf die Ar-beitnehmer in seiner Gewerkschaft sehr deutlich gesagt,was er davon hält und was hier zu tun ist. Warum nehmenSie das eigentlich nicht ernst und tun endlich etwas für dieArbeitnehmer in Deutschland?
Ein letztes Wort zum Thema Arbeitsplätze: Durch Er-höhung der Staatsquote werden niemals Arbeitsplätze ge-schaffen. Sie erhöhen mit dieser Steuer die Staatsquoteund bekämpfen deshalb Arbeitsplätze in Deutschland.
Viel sinnvoller als die Einführung der Steuer wäre es,dass Sie endlich einsehen, welchen schlimmen politi-schen Fehler Sie gemacht haben, dass Sie die Konse-quenzen daraus ziehen und dass Sie dieses unsinnige Ge-setz auf den Müllhaufen der deutschen Geschichte wer-fen.Danke schön.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Iris Gleicke von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Ein paar Sachen sind in diesem Hause unstrittig,denke ich, und vielleicht können wir ein bisschen zurSachlichkeit zurückkehren.Die Verkehrspolitik hat entscheidenden Einfluss aufdie Lebensqualität der Menschen und ihre Mobilität,auf die Belastungen von Natur und Umwelt, auf dieLeistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft.Wir wollen die umweltverträglichen VerkehrsmittelBahn, Schifffahrt und öffentlicher Personennahver-kehr ausbauen und stärker als bisher am wachsendenVerkehrsaufkommen beteiligen;
zugleich wollen wir die Umweltverträglichkeit desIndividualverkehrs fördern.
Wir streben im Verkehrsbereich ökologisch ehrlichePreise an. Jedes Verkehrsmittel muss so weit wiemöglich die Kosten seiner Verkehrswege, aber auchdie Kosten der von ihm verursachten Umweltbelas-tungen tragen.
Wir wollen die Anreize und Vorgaben für die Ver-minderung des Energieverbrauches und der Emissio-nen stufenweise verschärfen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, was ich Ihnen geradevorgelesen habe, stammt aus dem verkehrspolitischenTeil des 1996 beschlossenen Grundsatzprogramms derCDU.
Eine Zeit lang konnte man glauben, dass die damaligeRegierungspartei CDU ihre eigenen verkehrspolitischenGrundsätze ernst nehmen würde. 1997 hat die damaligeUmweltministerin Angela Merkel erklärt, sie halte einejährliche Anhebung der Mineralölsteuer um etwa 5 Pfen-nig für angemessen.
– Pro Jahr, natürlich. – Damals sagte Frau Merkel, sie tretefür eine Besteuerung des Energieverbrauchs mit Augen-maß und damit für eine Entlastung des Faktors Arbeit ein.Noch vor zwei Jahren, im Wahlkampfgetümmel, hat siedie Ökosteuer als eine gute Grundidee bezeichnet undnoch vor einem Jahr an dieser Stelle im Parlament be-klagt, dass der ökologische Lenkungseffekt nicht deutlichsei.
Es ist offenbar eine Sache, sich als Umweltministerinin Sonntagsreden über die Bewahrung der Schöpfung aus-zulassen, und eine ganz andere Sache, sich als Parteivor-sitzende an einer ausgesprochen miesen Stimmungsma-che zu beteiligen, weil es einem gerade in den Kram passt.Wo Frau Merkel noch zurückrudert und treuherzig aufdem Verzicht der weiteren Stufen der Ökosteuer besteht,ist ihr der Fraktionsvorsitzende Merz auf dem Weg insNiemandsland schon längst eine Bootslänge voraus. Ersagt nämlich, die Ökosteuer gehöre abgeschafft.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Dr. Michael Meister10073
Damit hat er dann endgültig das Niveau der „Ich-geb-Gas-ich-will-Spaß“–Fraktion von der F.D.P. erreicht.
Das ist übrigens die Partei, die derzeit mithilfe irgend-welcher Sponsoren an den Tankstellen Geld verteilt.Derselbe Herr Merz jedenfalls, der sich noch im No-vember 1998 konstruktiv gab und meinte, man könne überdie Ökosteuer und die Senkung von Sozialabgaben reden,will jetzt nicht mehr reden. Jetzt sagen er und FrauMerkel, der Gedanke, man könne mithilfe einer höherenEnergieverbrauchsteuer die Rente sanieren, sei immerfalsch gewesen. Die Parteivorsitzende und der Fraktions-vorsitzende haben gemeinsam den verkehrs- und umwelt-politischen Rückwärtsgang eingelegt und drücken nunauf die Tube, dass es nur so brummt.
Das ist Politik frei nach dem Motto: Was schert michmein Geschwätz von gestern? So reden und handeln dieSpitzenrepräsentanten einer angeblich erneuerten CDU.Das, meine Damen und Herren, die Sie da hinterherhe-cheln, ist Ihr Verständnis von Glaubwürdigkeit. Es tut mirLeid, Ihnen das sagen zu müssen, aber das ist einfach un-redlich.
Warum sagen Sie den Menschen eigentlich nicht, wo-her die wirklichen Kostensteigerungen kommen? Warumsagen Sie den Leuten draußen nicht, dass wir im europä-ischen Vergleich mit den Benzinpreisen trotz allem immernoch nicht an der Spitze liegen?
Ich habe viel Verständnis dafür, dass sich Autofahre-rinnen und Autofahrer an den Tankstellen über gestiegenePreise ärgern. Wofür ich kein Verständnis habe, ist dieDemagogie von Union und F.D.P. In Wahrheit geht es Ih-nen überhaupt nicht um die Pendler und um die Autofah-rer in den ländlichen Gebieten. In Wahrheit geht es Ihneneinfach darum, dass Sie endlich einmal wieder ein Themagefunden haben; denn sonst fällt Ihnen nichts ein.
Herr Brüderle, wenn gerade Sie, der Sie in den letztenJahren an der Regierung beteiligt waren, die uns die1 500 Milliarden DM Schulden gebracht hat, von Haus-haltslöchern sprechen,
dann ist das Politik nach dem Motto: Haltet den Dieb, erhat mein Messer im Rücken! Ich kann das nicht mehr er-tragen.Verkehrspolitik ist auch Umweltpolitik und umge-kehrt. Wir wollen niemandem die Mobilität vermiesenund auch niemandem das Autofahren vermiesen.
Durch unsere Entlastungen haben wir gerade bei Familiendafür gesorgt, dass die Mobilität bezahlbar wird.Noch etwas.
Frau Homburger, die nicht mehr da ist, Herr Protzner, dernoch da ist, und auch Herr Dr. Meister:
Wenn Sie sich hier hinstellen und allen Ernstes behaupten,der ÖPNV sei genauso belastet, dann sagen Sie, um esfreundlich auszudrücken, die Unwahrheit; ich will dashässliche Wort der Lüge hier vermeiden.
Frau Kol-
legin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Der ÖPNV zahlt den halben Satz
und die Bahn hat so billig wie nie ihren Strom eingekauft.
Wenn wir über die Arbeitsplätze reden, die bei einer
Abschaffung der Ökosteuer verloren gehen würden, bitte
ich Sie einmal um etwas Nachdenklichkeit.
Schönen Dank.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Franz Obermeier von der CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Kol-leginnen und Kollegen! Nachdem ich diese Debatte hierverfolgt habe, habe ich den Eindruck, dass die Vertreterder Regierungskoalition nichts, aber auch gar nichts ausden zurückliegenden Monaten gelernt haben.
Die ökologische Steuerreform war von Anfang an eineMogelpackung. Jetzt sind Sie enttäuscht, weil die Men-schen dies im Zusammenhang mit den Mineralölpreisenspüren. Aber es kommt noch dicker: Die Menschenspüren es auch dann, wenn sie ihre Mietnebenkostenab-rechnungen erhalten.
Mit einem möchte ich aufräumen: Glauben Sie dennwirklich, dass die Ölförderländer nicht merken, dass dierot-grüne Bundesregierung in der Mineralölsteuer einenGoldesel in Form einer systematischen Steigerung der Be-steuerung sieht?
Glauben Sie das wirklich? Wenn Sie das glauben, dannsind Sie auf der falschen Ebene.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Iris Gleicke10074
Das Ganze verkauft die Bundesregierung unter demDeckmantel Öko. Damit möchte ich mich nun ein biss-chen befassen. In der entsprechenden Gesetzesbegrün-dung geht es schon los: Da heißt es, man wolle denEnergieverbrauch verteuern und den Faktor Arbeit entlas-ten. Das ist die Grundphilosophie. Von Öko kein Wort!Der finanzpolitische Grundwiderspruch zwischen dau-erhafter Einnahmeerzielung und ökologischer Lenkungs-wirkung besteht darin, dass Einnahmeverluste vermiedenwerden müssen. Sonst entsteht auf der Rentenversiche-rungsseite ein Finanzierungsloch. Das ist doch völlig klar.Erfolge aus der ökologische Lenkungswirkung müssenSie also vermeiden, weil Sie sonst bei der Rentenversi-cherung ein Defizit haben.
Ich sage Ihnen: Die Ökosteuer, so wie Sie sie angelegthaben, schadet sogar der Umweltpolitik. Ich möchte Ih-nen das anhand einiger Beispiele verdeutlichen. Die Poli-tik kann nämlich Umweltschäden nur wirksam vermei-den, wenn gleiche Umweltschäden auch gleich behandeltwerden. Unterschiedliche Zusatzbelastungen beziehe ichim Folgenden auf die emittierte Tonne von CO2. Danachwird nach Ihrer ersten Stufe der Ökosteuerreform dieKohle mit 0 DM je Tonne CO2-Ausstoß belastet, Heizölmit 13 DM, Erdgas mit 16 DM, Diesel mit 21 DM, Ben-zin mit 24 DM und Strom mit 36 DM.Wenn ich das Ganze jetzt auf das Jahr 2003 projiziere,auf das Jahr, in dem Ihre Segnungen voll durchgeschlagenhaben, sieht das Bild bei einer Gesamtsteuerbelastung fol-gendermaßen aus: Die Kohle liegt wieder bei 0 DM jeTonne CO2-Ausstoß, schweres Heizöl bei 11 DM, leich-tes Heizöl bei 46 DM, Erdgas bei 34 DM, Diesel bei347 DM, Benzin bei 549 DM und Strom bei 71 DM.
– Sie sollten in das Sachverständigengutachten des Um-weltrates hineinschauen. Dort wird Ihnen dies attestiert –neben ein paar Bemerkungen, die die Ökosteuer so dekla-rieren, dass sie schnellstmöglich und grundlegend verän-dert werden müsste.Die Unterschiede, die Sie durch die unterschiedlicheBelastung je Tonne CO2-Ausstoß herbeiführen, sind ökologisch unter gar keinen Umständen vertretbar. Es gibtsogar eine negative Klimawirkung. Angesichts dessen,dass wir heute Vormittag über Klimawirkungen gespro-chen haben, ist festzustellen: Die rotgrüne Bundesregie-rung wird mit dieser Politik das CO2-Ziel von Kioto sichernicht erreichen.Die Ökosteuer garantiert keine Ausrichtung an denUmweltwirkungen der Primärenergieträger. Zum Beispielaus Öl und Gas produzierter Strom wird – abgesehen vonein paar Ausnahmen – zusätzlich belastet, währendKohle, die eine wesentlich höhere Emissionswirkung hat,keine zusätzliche Besteuerung erfährt. Kohle zur Wär-meerzeugung ist die emissionsintensivste Alternative;aber sie ist nicht mit einer Steuer gesegnet. Das ist Ihre Po-litik in Richtung Ökologie.Durch einen nationalen Alleingang dieser Bundesre-gierung wurden die Chancen für eine verbesserte EU-weite Abstimmung der Umweltschutzauflagen deutlichverschlechtert. Die Bundesregierung konnte in der Zeitihrer Ratspräsidentschaft auf diesem Sektor nichts bewe-gen.
Das ist eine Politik, über die sich unsere Bürger zu Rechtärgern. Wenn Sie Verbindung zu denjenigen haben, diedurch diese Ökosteuer geschädigt werden, dann verstehenSie sicher auch, was geäußert wird.
Herr Kol-
lege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich möchte zum
Schluss kommen und Ihnen mit auf den Weg geben: Mit
der Politik, die Sie hier betreiben, nämlich mit den Seg-
nungen wirtschaftspolitischer Natur nach Loske – je mehr
Steuern, desto mehr Arbeitsplätze, was heißen würde: je
höher die Staatsquote, desto mehr Arbeitsplätze –, geben
Sie sich der Lächerlichkeit preis. Sie betreiben eine Poli-
tik gegen die Menschen in Deutschland.
Als letz-
ter Redner in der Aktuellen Stunde hat der Kollege
Michael Müller von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Ich finde, es ist schon mög-lich, dass man zur Frage einer ökologischen Steuerreformunterschiedliche Meinungen vertritt. Die, die jetzt aufeinmal völlig anders reden als früher, müssen sich aller-dings auch Ihre eigenen Programme vorhalten lassen.
Das ist absolut legitim. Der Tatbestand ist, dass alle frühe-ren Regierungsfraktionen in ihren Parteiprogrammenstets eine ökologische Steuerreform vertreten haben.Eine andere Meinung gestehe ich Ihnen durchaus zu;
schlimm ist nur, dass Sie ein zentrales Zukunftsthema zurpopulistischen Schlammschlacht machen. Genau das gehtaber nicht.
Da müssen wir massiv fragen: Was ist das für eineCDU/CSU? Es ist eine schreckliche Abwärtsbewegungzu sehen: von der Kampagne gegen die doppelte Staats-bürgerschaft über die Inder-Kampagne bis zur Ökosteuer-Kampagne. Wo ist eigentlich noch Ihre inhaltliche Sub-stanz?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 107. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. Juni 2000
Franz Obermeier10075
Diese Frage muss man Ihnen stellen.Es geht hier doch nicht um eine Kleinigkeit. Es gehthier um die zentrale Frage: Wie können die Menschen inder Zukunft leben? Was tun wir zum Schutz der natürli-chen Lebensgrundlagen?
Es ist völlig richtig: Die ökologische Steuerreform alleinkann dieses Ziel nicht erreichen. Aber genauso richtig istes: Ohne ökologische Steuerreform geht es nicht. Das istdoch der eigentliche Punkt.
Deshalb kommen Sie an dieser Frage nicht vorbei.
Es ist wirklich interessant, was Sie hier sagen. Ich rateIhnen, die Beschlüsse dieses Hauses zu lesen. Auch inIhren früheren Koalitionsvereinbarungen haben Sie allenoch von der Energiesteuer geredet. Sie müssen einmalnachlesen, was Sie damals beschlossen haben. Tun Siedoch jetzt nicht so, als sei das alles nicht wahr. Gott seiDank gibt es Archive und Menschen, die etwas behalten.Aber wir bleiben bei dem zentralen Punkt. Sie kommenan dem Tatbestand einfach nicht vorbei, dass es nicht geht,sonntags über den Schutz der natürlichen Lebensgrundla-gen zu reden und werktags das Gegenteil zu tun. Das gehtnicht. Das lassen wir nicht zu.
Die Ökosteuer ist nicht Willkür. Sie ist eine zentraleZukunftsfrage. Über die Ausgestaltung können wir in je-dem einzelnen Punkt reden.
Fairerweise muss man dann natürlich auch die rechtlichenRahmenbedingungen nennen. Natürlich hätten wir die re-generativen Energien gerne von der Ökosteuer befreit,wenn es europarechtlich gegangen wäre. Was reden Siedenn? Natürlich wären wir gerne bereit gewesen, einePrimärenergiesteuer zu erheben. Aber wie wollen Sie dasbei den heutigen offenen Märkten noch machen? Nun re-den Sie doch nicht einfach ins Blaue, sondern bleiben Siebitte bei den realen Bedingungen, unter denen wir arbei-ten.
Meine Damen und Herren, wir haben vor einigen Jah-ren eine massive Diskussion darüber gehabt, dass diedeutsche Wettbewerbsfähigkeit durch die hohen Lohnne-benkosten gefährdet ist. Jetzt senken wir die Lohnneben-kosten über die Ökosteuer und es ist auch nicht recht. Ichmuss Ihnen eines sagen: Wer von Nachhaltigkeit und vomSchutz der natürlichen Lebensgrundlagen redet, der musswissen, dass es das nicht zum Nulltarif gibt. Verantwort-liche Politik zeichnet sich dadurch aus, glaubwürdig zuPositionen zu stehen. Wer sich hier wie die Fahne imWind verhält, ist auch bei den Bürgern nicht glaubwürdig.Man muss auch in schwierigen Situationen zu seinen Aus-sagen stehen können.
– Herr Protzner, warum sagen Sie denn beispielsweisenicht, dass auch die CSU für eine Kerosinabgabe ist?Warum sagen Sie das hier eigentlich nicht? Warum stellenSie sich hier so hin, als ob Sie der Supermann wären?
– Warum sagen Sie denn beispielsweise nicht, FrauHomburger, dass in Ihrem Programm die Ökosteuerstand? Warum sagen Sie nicht, dass sogar Herr Rexrodt inder Vergangenheit für einen nationalen Alleingang war?Warum sagen Sie das denn nicht? Ich weiß ganz genau,warum Sie es nicht sagen: weil Sie nämlich inhaltlich soausgedünnt sind, dass Sie nur noch über Stimmungen Po-litik machen können. Genau das ist der Kern, um den eshier geht. Das machen wir nicht mit.
Das Schlimme an der Diskussion ist aber etwas ande-res: Durch die Verengung der Diskussion auf die Öko-steuer werden die eigentlichen Probleme, die wir auf denEnergiemärkten haben, nicht mehr gesehen. Das ist daseigentliche Problem. Was ist denn der Kern der Öko-steuer? Die Ökosteuer soll höhere Effizienz, Energieein-sparungen, höhere Wirkungsgrade und Ähnliches fördern.Dies wird zur zentralen Aufgabe der nächsten Jahre. Wirdürfen nicht übersehen: Die OPEC-Länder haben denPreishebel auf den Ölmärkten wieder in der Hand.
– Den haben sie schon länger in der Hand. Reden Sie dochnicht so einen horrenden Unsinn! Das ist unverantwortli-cher Mist.
Wir müssen doch sehen, dass in vielen Bereichen mög-licherweise eine ähnlich gefährliche Entwicklung wie inden 70er-Jahren auf uns zukommt. Hier ist eine verant-wortliche Politik gefragt, die frühzeitig reagiert und nichterst alles hinnimmt. Deshalb werden wir den Kurs derökologischen Modernisierung gehen; denn das gebietetdie ökonomische wie ökologische Vernunft.
Die Aktu-
elle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Donnerstag, den 8. Juni 2000, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.