Protokoll:
14098

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 98

  • date_rangeDatum: 6. April 2000

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 19:11 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Begrüßung des Präsidenten des Althings der Republik Island, Herrn Halldór Blöndal, und seiner Delegation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9079 A Glückwünsche zum Geburtstag des Bundes- kanzlers a.D. Dr. Helmut Kohl . . . . . . . . . . . 9079 B Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Gottfried Haschke, Heinrich Fink und Erwin Marschewski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9079 B Eintritt der Abgeordneten Helmut Lamp und Grietje Bettin in den Deutschen Bundestag . . . 9079 B Wahl des Abgeordneten Norbert Wieczorek als ordentliches Mitglied in den Gemeinsamen Aus- schuss gemäß Art. 53 a des Grundgesetzes . . . 9079 C Wahl des Abgeordneten Ditmar Staffelt als stellverstretendes Mitglied in den Gemeinsa- men Ausschuss gemäß Art. 53 a des Grundge- setzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9079 D Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . 9079 D Endgültiges Ergebnis der namentlichen Abstim- mung vom 05. April 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . 9080 B Tagesordnungspunkt 5: a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregie- rung zu den Ergebnissen der Sonderta- gung des Europäischen Rates vom23./24. März 2000 in Lissabon . . . . . . . . . . . . . . 9080 C b) Beschlussempfehlung und Bericht desAus- schusses für Arbeit und Sozialordnung . . . 9080 C – zu der Unterrichtung durch die Bundes- regierung: Beschäftigungspolitischer Aktionsplan der Bundesrepublik Deutschland (April 1999) – zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Schnieber-Jastram, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Ausbildung, Qualifizie- rung und Arbeit für junge Menschen (Drucksachen 14/1000, 14/1011, 14/2596) 9080 C c) Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus Grehn, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS: Die Weichen für eine neue Vollbeschäftigung in Europa stellen (Drucksache 14/3030) . . . . . . . . . . . . . . . . 9080 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Beratung der Unterrichtung durch die Bun- desregierung: Beschäftigungspolitischer Aktionsplan der Bundesrepublik Deutschland 2000 (Drucksache 14/2950) 9080 D Gerhard Schröder, Bundeskanzler . . . . . . . . . 9080 D Friedrich Merz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 9086 C Dr. Peter Struck SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9092 A Eckart von Klaeden CDU/CSU . . . . . . . . 9093 D Dr. Helmut Haussmann F.D.P. . . . . . . . . . . . . 9096 B Kerstin Müller (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9098 C Dr. Heidi Knake-Werner PDS . . . . . . . . . . . . 9101 B Edelgard Bulmahn, Bundesministerin BMBF 9103 B Ilse Aigner CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 9105 A Hans-Michael Goldmann F.D.P. . . . . . . . . 9106 A Reinhold Bocklet, Staatsminister (Bayern) . . . 9107 C Christian Sterzing BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9109 D Dr. Gerd Müller CDU/CSU . . . . . . . . . . . 9111 A Plenarprotokoll 14/98 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 98. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 6. April 2000 I n h a l t : Dr. Martina Krogmann CDU/CSU . . . . . . . . 9112 A Günter Gloser SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9113 C Franz Thönnes SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9115 A Tagesordnungspunkt 6: Unterrichtung durch die Wehrbeauftragte: Jahresbericht 1999 (Drucksache 14/2900) 9117 A Claire Marienfeld, Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages . . . . . . . . . . . . . . . . . 9117 B Uwe Göllner SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9118 B Paul Breuer CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 9120 A Rudolf Scharping, Bundesminister BMVg 9122 B Paul Breuer CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 9124 A Günther Friedrich Nolting F.D.P. . . . . . . . 9124 D Winfried Nachtwei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9125 D Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. . . . . . . 9127 C Heidi Lippmann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9129 C Albrecht Papenroth SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 9131 A Günther Friedrich Nolting F.D.P. . . . . . . . . . 9132 B Albrecht Papenroth SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 9132 C Uwe Göllner SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9132 D Werner Siemann CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 9132 D Angelika Beer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9135 B Hans Raidel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 9136 B Ulrike Merten SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9138 A Rainer Arnold SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9139 B Helmut Rauber CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 9140 C Tagesordnungspunkt 13: Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Senkung der Steuersätze und zur Reform der Unternehmensbesteuerung (Steuersen- kungsgesetz) (Drucksache 14/3074) . . . . 9141 B b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu derVier- ten Änderung des Übereinkommens überden Internationalen Währungsfonds (IWF) (Drucksache 14/3075) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9141 B Tagesordnungspunkt 14: Abschließende Beratungen ohne Aus- sprache a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll von 1996 zur Änderung des Überein- kommens von 1976 über die Beschrän- kung der Haftung für Seeforderungen (Drucksache 14/2696, 14/3051) . . . . . . . . 9141 C Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ausführungsgesetzes zu dem Proto- koll von 1996 zurÄnderung des Überein- kommens von 1976 über die Beschrän- kung der Haftung für Seeforderungen (Drucksachen 14/2697,14/3051) . . . . . . . . 9141 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Re- aktorsicherheit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Richtlinie des Eu- ropäischen Parlamentes und des Rates über nationale Emissionshöchstgrenzen für bestimmte Luftschadstoffe Vorschlag für eine Richtlinie des Eu- ropäischen Parlamentes und des Rates über den Ozongehalt der Luft (Drucksachen 14/1936 Nr. 1.4, 14/2987) . . . 9142 A c) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- torsicherheit zu der Verordnung der Bundes- regierung: Erste Verordnung zurÄnderung derVerpackungsverordnung (Drucksachen 14/2810, 14/2947 Nr. 2.1, 14/3064) . . . . . . . 9142 B d) – g) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses Sammelübersichten 140, 141, 142, 143 zu Petitionen (Drucksachen 14/2998,14/2999, 14/3000, 14/3001) 9142 C Zusatztagesordnungspunkt 4: Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache (Ergänzung zu TOP 14) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 29. November 1996 aufgrund von Ar- tikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union betreffend die Auslegung des Über- einkommens über den Schutz der finanzi- ellen Interessen der Europäischen Gemein- schaften durch den Gerichtshof der Eu- ropäischen Gemeinschaften im Wege der Vorabentscheidung (EG-Finanzschutz- Auslegungsprotokollgesetz) (Drucksa- chen 14/2120, 14/3092) . . . . . . . . . . . . . . 9142 D Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2000II Tagesordnungspunkt 7: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht derBundesregierung überdie Er- gebnisse der Verhandlungen zum Biosi- cherheits-Protokoll (Drucksache 14/3071) 9143 B Andrea Fischer, Bundesministerin BMG . . . . 9143 B Dr. Peter Paziorek CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 9145 A Andrea Fischer (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9147 D Dr. Peter Paziorek CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 9148 B Marga Elser SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9148 C Ulrike Flach F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9149 C Angela Marquardt PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 9150 B Heino Wiese (Hannover) SPD . . . . . . . . . . . . 9151 B René Röspel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9152 A Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Günter Nooke, Dr. Michael Luther, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Exportchancen im Ausland nutzen – Absatzförderung Ost intensivieren (Drucksache 14/2911) . . . . . . 9153 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Dr. Mathias Schubert, Christian Müller (Zittau), weiterer Abgeord- neter und der Fraktion SPD sowie der Abge- ordneten Margareta Wolf (Frankfurt), Kerstin Müller (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Stär- kung von Absatz und Export der ostdeut- schen Wirtschaft (Drucksache 14/3094) . . . . 9153 A Dr.-Ing. Paul Krüger CDU/CSU . . . . . . . . . . 9153 B Barbara Wittig SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9155 B Jürgen Türk F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9156 B Werner Schulz (Leipzig) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9157 A Dr.-Ing. Paul Krüger CDU/CSU . . . . . . . . 9157 C Gerhard Jüttemann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 9159 A Christian Müller (Zittau) SPD . . . . . . . . . . . . 9160 A Ulrich Klinkert CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 9162 A Dr. Gerald Thalheim SPD . . . . . . . . . . . . . 9163 B Rolf Schwanitz, Staatsminister BK . . . . . . 9164 A Ulrich Klinkert CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 9164 C Wolfgang Dehnel CDU/CSU . . . . . . . . . . . 9165 B Tagesordnungspunkt 9: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Verordnung (EG) des Rates über die freiwillige Beteiligung von Organisa- tionen an einem Gemeinschaftssystem für das Umweltmanagement und die Umweltbetriebsprüfung (Drucksachen 14/488 Nr. 2.58, 14/1131) . . . . . . . . . . . . . 9166 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab- geordneten Birgit Homburger, Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion F.D.P.: Erhöhung der Attraktivität des freiwilligen Umweltaudits durch De- regulierung (Drucksachen 14/570, 14/2030) 9166 B c) Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Umweltcontrolling und Umweltmanagement in Bundesbehör- den und Liegenschaften (Drucksache 14/2907) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9166 C Marion Caspers-Merk SPD . . . . . . . . . . . . . . 9166 C Bernward Müller (Jena) CDU/CSU . . . . . . . . 9168 C Dr. Peter Paziorek CDU/CSU . . . . . . . . . . 9170 A Dr. Reinhard Loske BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9170 C Winfried Hermann BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9171 A Gila Altmann (Aurich) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9172 C Birgit Homburger F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . 9173 A Eva Bulling-Schröter PDS . . . . . . . . . . . . . . . 9174 A Tagesordnungspunkt 10: a) Große Anfrage der Abgeordneten Ulrich Heinrich, Ulrike Flach, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion F.D.P.: Chancen der Gentechnik als Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts (Drucksachen 14/678, 14/2942) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9174 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung durch die Bundesre- gierung Vorschlag für eine Entscheidung des Rates über das vorläufige Verbot des Verkaufs von genetisch verändertem Mais (Zea mays L.) mit kombinierter Änderung der Insektizideigenschaften aufgrund des BT-Endotoxingens und Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2000 III erhöhterToleranz gegenüberdem Herbi- zid Glufosinatammonium in Österreich zu der Unterrichtung durch die Bundesre- gierung Vorschlag für eine Entscheidung des Rates über das vorübergehende Verbot der Ver- wendung und des Verkaufs von genetisch verändertem Mais (Zea mays L.) mit kom- binierter Änderung der Insektizideigen- schaften aufgrund des BT-Endotoxingens und erhöhter Toleranz gegenüber dem Herbizid Glufosinatammonium im Groß- herzogtum Luxemburg (Drucksachen 14/74 Nr. 2.7, 14/74 2.4, 14/838) . . . . . . . . . . . . . . 9175 A Ulrike Flach F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9175 B Gudrun Schaich-Walch SPD . . . . . . . . . . . . . 9176 D Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9177 C Vera Lengsfeld CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 9178 B Christa Nickels BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9179 B René Röspel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9179 D Vera Lengsfeld CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 9180 A Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9180 B Vera Lengsfeld CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 9180 C Kersten Naumann PDS . . . . . . . . . . . . . . 9182 B Albert Deß CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9183 A Wolf-Michael Catenhusen SPD . . . . . . . . . . 9184 C Heinrich-Wilhelm Ronsöhr CDU/CSU . . . . 9186 A Ulrich Heinrich F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . 9186 D Tagesordnungspunkt 11: a) Antrag der Abgeordneten Klaus-Jürgen Hedrich, Dr. Christian Ruck, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion CDU/CSU: Bemühungen fürAgrarreformen in Ent- wicklungsländern verstärken (Drucksa- che 14/1663) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9187 C b) Antrag der Abgeordneten Reinhold Hemker, Adelheid Tröscher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion SPD sowie der Abgeord- neten Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans- Christian Ströbele, Kerstin Müller (Köln), und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜ- NEN: Agrarreform in der Entwicklungs- zusammenarbeit einen höheren Stellen- wert geben (Drucksache 14/1194) . . . . . . 9187 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Joachim Günther (Plauen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Agrarpolitische Entwicklungszu- sammenarbeit fördern (Drucksache 14/3102) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9187 D Tagesordnungspunkt 12: Zweite und dritte Beratung des von den Ab- geordneten Eva Bulling-Schröter, Monika Balt, weiteren Abgeordneten und der Frak- tion PDS eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Änderung des Atomgesetzes (Drucksachen 14/841, 14/2618) . . . . . . . . 9187 D Eva Bulling-Schröter PDS . . . . . . . . . . . . . . . 9188 A Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9189 C Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9206 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . 9191 A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der An- träge: – Bemühungen für Agrarreformen in Ent- wicklungsländern verstärken; – Agrarreform in der Entwicklungszusammenarbeit einen höheren Stel- lenwert geben, – Agrarpolitische Entwicklungs- zusammenarbeit fördern ( Tagesordnungspunkt 11 a und b; Zusatztagesordnungspunkt 6) Brigitte Adler SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9192 A Marlies Pretzlaff CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 9193 C Klaus-Jürgen Hedrich CDU/CSU . . . . . . . . . 9195 B Joachim Günther (Plauen) F.D.P. . . . . . . . . . 9197 B Kersten Naumann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 9198 B Reinhold Hemker SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9199 A Dr. Uschi Eid BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9200 A Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes (Tagesordnungspunkt 12) Horst Kubatschka SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 9201 C Kurt-Dieter Grill CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 9202 C Hans-Josef Fell BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9202 D Birgit Homburger F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . 9204 B Rainer Brinkmann (Detmold) SPD . . . . . . . . 9205 B Anlage 4 Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung . . . . 9206 C Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2000IV Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2000
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    Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2000 Eva Bulling-Schröter 9189 (C)(A) Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2000 9191 (C) (D) (A) (B) entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage zum Stenographischen Bericht Adam, Ulrich CDU/CSU 06.04.2000* Andres, Gerd SPD 06.04.2000 Dr. Bartsch, Dietmar PDS 06.04.2000 Behrendt, Wolfgang SPD 06.04.2000* Bohl, Friedrich CDU/CSU 06.04.2000 Bühler (Bruchsal), CDU/CS 06.04.2000* Klaus Dr. Bürsch, Michael SPD 06.04.2000 Deligöz, Ekin BÜNDNIS 90/ 06.04.2000 DIE GRÜNEN Ernstberger, Petra SPD 06.04.2000 Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 06.04.2000 Fischer (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 06.04.2000 Joseph DIE GRÜNEN Frick, Gisela F.D.P. 06.04.2000 Friedrich (Altenburg), SPD 06.04.2000 Peter Gebhardt, Fred PDS 06.04.2000 Gleicke, Iris SPD 06.04.2000 Hanewinckel, Christel SPD 06.04.2000 Hinsken, Ernst CDU/CSU 06.04.2000 Dr. Hoyer, Werner F.D.P. 06.04.2000 Ibrügger, Lothar SPD 06.04.2000 Imhof, Barbara SPD 06.04.2000 Jäger, Renate SPD 06.04.2000* Leidinger, Robert SPD 06.04.2000 Lörcher, Christa SPD 06.04.2000* Dr. Lucyga, Christine SPD 06.04.2000* Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 06.04.2000* Erich Möllemann, Jürgen W. F.D.P 06.04.2000 Müller (Berlin), PDS 06.04.2000* Manfred Neumann (Gotha), SPD 06.04.2000* Gerhard Nietan, Dietmar SPD 06.04.2000 Özdemir, Cem BÜNDNIS 90/ 06.04.2000 DIE GRÜNEN Ohl, Eckhard SPD 06.04.2000 Ost, Friedhelm CDU/CSU 06.04.2000 Ostrowski, Christine PDS 06.04.2000 Dr. Penner, Willfried CDU/CSU 06.04.2000 Philipp, Beatrix BÜNDNIS 90/ 06.04.2000 DIE GRÜNEN Probst, Simone BÜNDNIS 90 / 06.04.2000 DIE GRÜNEN Dr. Riesenhuber, CDU/CSU 06.04.2000 Heinz Dr. Rüttgers, Jürgen CDU/CSU 06.04.2000 Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 06.04.2000 Hans Peter von Schmude, Michael CDU/CSU 06.04.2000* Simmert, Christian BÜNDNIS 90/ 06.04.2000 DIE GRÜNEN Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 06.04.2000 DIE GRÜNEN Wimmer (Karlsruhe), CDU/CSU 06.04.2000 Brigitte Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 06.04.2000* Zierer, Benno CDU/CSU 06.04.2000* * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm-lung des Europarates Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Bemühung für Agrarreformen in Entwicklungsländern ver- stärken; – Agrarreform in der Entwicklungszu- sammenarbeit einen höheren Stellenwert geben; – Agrarpolitische Entwicklungszusammenarbeit fördern (Tagesordnungspunkt 11 a und b; Zu- satztagesordnungspunkt 6) Brigitte Adler (SPD): Fragen der menschlichen Ent- wicklung, wie Armutsbekämpfung, Demokratisierung, Beteiligung der Zivilgesellschaft an entwicklungspoliti- schen Entscheidungen, Umweltschutz und Ernährungssi- cherheit, bewegen uns Entwicklungspolitiker. Dabei kön- nen Agrarreformen weltweit zur Lösung einer ganzen Reihe von Problemen beitragen. Die vorliegenden Anträ- ge nehmen deshalb zu Recht die anstehenden notwendi- gen Entscheidungen auf. Wie aber müssen Agrarreformen ausgestaltet sein, um den umfassenden Ansprüchen gerecht zu werden? Die Antwort auf diese Frage muss nicht erst erfunden werden, es ist keine grundsätzliche wissenschaftliche Analyse not- wendig, und auch Politiker im Norden und Süden dieser einen Welt kennen die Antwort schon seit mehr als zwan- zig Jahren. Agrarreformen sind nur dann sinnvoll, wenn sie glei- chermaßen zur Veränderung von Agrarstruktur- und Agrarverfassungselementen führen: Landreform plus Landbewirtschaftungsreform im Sinne des Slogans „put- ting people first“. Das ist die Vorgabe. Weltkonferenzen für Agrarreform und ländliche Ent- wicklung haben diesen ganzheitlichen Charakter jedwe- der Agrarreform bereits deutlich herausgearbeitet. Im Ak- tionsplan von 1979 wurden zum Beispiel folgende Schwerpunkte bereits genannt: Zugang zu Land, Wasser und anderen natürlichen Ressourcen, Partizipation, Inte- gration von Frauen, Zugang zu Krediten, Märkten und Dienstleistungen, Entwicklung von außerlandwirtschaft- lichen Aktivitäten, zum Beispiel im handwerklichen Be- reich, sowie Bildung und Ausbildung. Sie lassen den Prozesscharakter erkennen, der einer wie auch immer ausgestalteten Agrarreform immanent ist. Agrarreformen mit endgültigen Ergebnissen von heute auf morgen kann es deshalb nicht geben. Agrarreformen finden fortlaufend statt oder gar nicht. Es kommt entscheidend darauf an, wo sich die Agrar- reformprozesse abspielen. In Lateinamerika herrschen ganz andere Voraussetzungen als etwa in Afrika oder Asi- en. Ich will das einmal an zwei Beispielen erläutern. Etwa Sambia. Dort finden wir zwei völlig unter- schiedliche Bodenrechtssysteme, denen im Grunde gänz- lich verschiedene Gesellschaftskonzeptionen zugrunde liegen. Einerseits gibt es verschiedene Formen des ge- meinschaftlichen Eigentums im Kontext traditioneller Formen des Zusammenlebens, andererseits liegen auf- grund der kolonialen Vergangenheit Pachtrechtssysteme auf der Basis verstaatlichten Grund und Bodens vor. Der Versuch, mithilfe eines Landesgesetzes eine Art Harmonisierung zu erreichen, führte zwangsläufig zu ei- ner heftigen Kontroverse. Der Unterschied lautet: Orien- tierung am Kollektiv oder am Individuum. Oder anders ausgedrückt: Gemeinschaftseigentum unter der Treuhän- derschaft der mächtigen Chiefs oder Preisbildung am Markt; traditionelles System mit Elementen einer moder- nen Sozialversicherung oder Marktregulierung; Tradition oder Moderne. In Brasilien ist die Schieflage zwischen Großgrundbe- sitzern und Kleinbauern beziehungsweise Landlosen be- sonders deutlich. „Muita gente sem terra – muita terra sem gente“. – „Viele Menschen ohne Land – viel Land ohne Menschen“. So einfach sehen es die betroffenen Klein- bauern und Landlosen. Und sie haben Recht! Sie stellen mit ihren Familien den Großteil der mehr als 30 Millionen in absoluter Armut le- benden Brasilianer. Die konsequente Durchsetzung des verfassungsmäßig garantierten Prinzips der Landreform durch Enteignung und Verteilung von 1988 ist bis heute Makulatur geblieben. Auch die verschiedenen Stufen der vom IWF und der Weltbank geforderten Strukturanpassungsmaßnahmen haben diesen Prozess nicht gerade beschleunigt, im Ge- genteil. Die neueste Initiative einer marktkonformen Landverteilung der brasilianischen Regierung in Zusam- menarbeit mit der Weltbank wird aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zu mehr Gerechtigkeit auf dem Land führen. Die Landkonflikte werden sich weiter verschärfen und an den Landbesitzverhältnissen wird man auch in absehba- rer Zukunft die Machtstellung der in den Parlamenten vertretenen Großgrundbesitzer ablesen können. Sambia und Brasilien – zwei Beispiele, die für die Komplexität der Agrarreformfrage und die individuellen Problemlagen stehen; zwei Beispiele, die aufzeigen, war- um politisch und vor allem praktisch mehr getan werden muss, wenn Reformen Realität werden sollen; aber auch Beispiele, die unmissverständlich klarmachen, dass die Agrarreformfrage untrennbar mit den Machtverhältnissen eines Landes verbunden ist. Aus diesem Grund müssen wir auf bi- und multilateraler Ebene unser Engagement für die- ses Schlüsselelement einer nachhaltigen Entwicklungs- zusammenarbeit stärken. Wichtig ist mir in diesem Zusammenhang der Hinweis auf den internationalen Pakt über die wirtschaftlichen, so- zialen und kulturellen Menschenrechte. Es ist der Mangel an Reformwillen, der in seiner Konsequenz nachweisbar die dort verankerten Grundsätze missachtet. Diese so ge- nannten WSK-Rechte sind zu respektieren, zu schützen und zu gewährleisten! Viele positive Veränderungen für die Menschen, die Umwelt und die Wirtschaft würden sich daraus ergeben. So wäre etwa ein wichtiger Schritt in Richtung der Verwirklichung des Menschenrechts, sich selbst zu ernähren, getan. Deshalb ist es wichtig, auch die auf diesem Gebiet seriös tätigen Nichtregierungsorgani- sationen im Norden und Süden tatkräftig zu unterstützen. Es wird Zeit, hier substanziell endlich voranzukom- men, anstatt die Aktionspläne der verschiedensten Welt- konferenzen ständig mit Wiederholungen zu füllen. Es wä- re wichtiger, konkrete umsetzbare Vorschläge zu erarbei- ten, als weiterhin Absichtserklärungen zu formulieren. Es darf natürlich nicht beim Debattieren innerhalb der Fachwelt aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft bleiben. Unsere Partner vor Ort müssen permanent mit einbezogen werden, und zwar auf allen Ebenen. Selbst- verständlich können wir nicht auf den Dialog mit Nicht- regierungsorganisationen im Norden und Süden verzich- ten. Nur so finden wir die Ansatzpunkte für eine sinnvol- le Kooperation im Sinne der bestmöglichen Entfaltung der Selbsthilfekräfte. Das ist das Ziel unserer Politik. Und dies Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 20009192 (C) (D) (A) (B) betrifft eben grundsätzlich alle Elemente der Agrarstruk- tur und der Agrarverfassung, ob es sich nun um Fragen der Bodenordnung, des landwirtschaftlichen Kreditwesens, der Ausbildung, der Vermarktung, der Agrarforschung oder um produktionstechnische und andere betriebswirt- schaftliche Komponenten handelt – um nur einige weni- ge Punkte zu nennen. Beide vorgelegten Anträge greifen das anstehende Thema umfassend – in Nuancen unterschiedlich – auf. Al- le wissen, um was es geht. Nur, warum hatten Sie, verehrte Kolleginnen und Kol- legen von der CDU, während Ihrer Regierungszeit keinen Erfolg? Warum tun wir uns so schwer? Haben wir nicht die richtigen Fragen gestellt? Zum Beispiel: Wo liegen die Gründe und Hürden für eine erfolgreiche Politik im Be- reich der Landwirtschaft? Wie können erkannte Hemm- nisse ausgeräumt werden? Welche Konflikte können je- weils neu entstehen, wenn zum Beispiel Frauen stärker einbezogen werden? Wenn wir nicht den Mut haben zu erkennen, dass Ver- änderungen auf die Betroffenen zukommen, dann wird Entwicklungshilfe als Weltsozialhilfe immer ein Tropfen auf dem heißen Stein bleiben. Immer nur Geld und mehr Geld fordern reicht nicht aus. Ein Beispiel ist die internationale Agrarforschung. Angemahnt und versprochen ist die inhaltliche Reform der bei der Weltbank angesiedelten Beratungsgruppe der In- ternationalen Agrarforschung CGIAR. Was nützt mehr Geld, wenn keine Konsequenzen aus den vorgeschlagenen Projekten gezogen werden? Sonst erleben wir wieder, dass einseitig die „Mächtigen“ den Nutzen haben und die „vie- len“ leer ausgehen. Welche Folgerungen sind daraus zu ziehen? Ich schlage konkret drei Schritte vor, um endlich voranzukommen, wobei ich eine offene und ehrliche Erörterung dazu er- warte. Erster Schritt: Für jedes Land, mit dem wir in agrar- politischer Hinsicht zusammenarbeiten, werden konkrete, auf dieses Land bezogene Vorschläge erarbeitet. Denken Sie an die Beispiele Sambia und Brasilien und ihre Unter- schiede. Zweiter Schritt: Die Vorschläge sollen von einer Ex- pertengruppe, die keine Eigeninteressen haben darf, in Zusammenarbeit mit den Betroffenen ausgearbeitet wer- den, die dann die schrittweise Umsetzung begleitet. Dritter Schritt: Die Patenschaft für diese treuhän- derischen Gremien könnte eine Durchführungsorganisa- tion der Vereinten Nationen übernehmen. Dies wäre ein deutliches Signal und ein wesentlicher Beitrag für das Werben um Vertrauen, sowohl bei den Partnerregierungen als auch bei den betroffenen Menschen. Lassen Sie mich deshalb auch deutlich feststellen: Kon- struktive Vorschläge sind allemal besser als das Schwin- gen der Konditionierungskeule. Wie diese Gremien sin- nvollerweise finanziell und organisatorisch auszustatten sind, dafür werden sich die Mittel und Wege finden. Davon bin ich überzeugt. Die Erfolgsaussichten für tatsächliche Veränderungen wären jedenfalls enorm und die Entwick- lungszusammenarbeit würde mehr leisten als nur einen Beitrag zur Weltsozialhilfe. In diesem Sinne verstehen wir unseren Antrag als Im- puls für ein verstärktes Engagement für Agrarreformen weltweit. Es ist so viel Potenzial dafür vorhanden, wir müssen es nur endlich nutzen. Marlies Pretzlaff (CDU/CSU): Wenn wir heute abend über Agrarreformen in Entwicklungsländern spre- chen, dann reden wir nicht nur über die lebensnotwendi- gen Ressourcen Boden und Wasser, über den Zugang zu Land, über Flächennutzung, über Produktionsformen in Entwicklungsländern, sondern wir beschäftigen uns zu- gleich mit Schlüsselthemen des 21. Jahrhunderts wie Ernährungssicherung und Armutsbekämpfung, wie Be- völkerungswachstum und Migration oder Klimaverände- rungen und Umweltzerstörungen. Wir debattieren über Herausforderungen, deren Lösung das Überleben der Menschheit auf unserem blauen Planeten betrifft. Wir haben nur diese eine Welt, deren gegenwärtige Prob- leme weit weg in Afrika, im fernen Asien und in Südameri- ka stattfinden, uns hier in den gemäßigten Breiten Europas einholen werden, wenn wir nicht alles unternehmen, um diesen Kreislauf der Selbstzerstörung zu verhindern. Traurige Tatsache ist, dass alle Weltgipfel, Weltkon- ferenzen, verabschiedete und unterzeichnete Aktionspläne der letzten 10, 20 Jahre nicht viel mehr als medienwirk- samer „Donnerhall“ waren. Die Erkenntnisse sind da, aber die Umsetzung der vielen schönen Absichten, Einsichten und Willenerklärungen stehen bisher weitgehend aus. Wir, der Ausschuss für WZ wollen und müssen gemein- sam mit der Zivilgesellschaft den NGOs, Kirchen, Stiftun- gen, Bürgerinitiativen – in unseren Partnerländern darauf drängen, dass deren Regierungen die mitbeschlossenen Aktionspläne endlich umsetzen. Agrarreformen könnten meines Erachtens ein wichtiges zusätzliches Entscheidungskriterium bei Regierungsver- handlungen, bei Beratungsfunktionen und bei Umschul- dungsmaßnahmen des BMZ sein. Jetzt zu den Fakten. Erstens. Wir wissen, dass zusätzliche landwirtschaftli- che Nutzfläche weltweit kaum zur Verfügung steht. Die gesamte eisfreie Erdoberfläche beträgt rund 13 Milliarden Hektar. Davon sind nur 11 Prozent, also circa 1,4 Milliarden Hektar, uneingeschränkt landwirtschaftlich nutzbar, hiervon wiederum nur 3 Prozent hochproduktiv. Weitere 8 Prozent sind ausschließlich für Viehwirtschaft – ich denke zum Beispiel an die Nomaden im Sahel – oder nur sehr eingeschränkt zu bewirtschaften. Je nach Bo- denbeschaffenheit, Klima, Niederschlägen, Anbaumetho- den und Qualität des Saatgutes kann auf manchen Böden nur alle zwei Jahre eine Ernte eingefahren werden, in an- deren Regionen können die Bauern dreimal im Jahr ernten, wenn nicht Dürren oder Überschwemmungen, wie jetzt in Ostafrika beziehungsweise Mosambik, die Länder heimsuchen. Zweitens. Wir wissen auch, dass seit den 50er-Jahren die notwendige Produktionssteigerung vorrangig durch Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2000 9193 (C) (D) (A) (B) Intensivierung der Landwirtschaft, insbesondere durch industrielle Anbaumethoden, durch neugezüchtete Hoch- ertragssorten, massiven Einsatz von Dünger und Pestizi- den und durch verbesserte Bewässerungsanlagen erfolgt. Durch diese Übernutzung, zum Beispiel auch durch ex- portorientierte Monokulturen von agrarindustriellen Kon- zernen, stoßen die Produktionssteigerungsraten zuneh- mend an ihre Grenzen und führen zum Teil zu Bodende- gradierung. Als Beispiel für extreme Landnutzung und gleichzei- tige Landverschwendung möchte ich Guatemala als ex- emplarisches Beispiel aufzeigen. Im westlichen Hoch- land von Guatemala sind die einst dicht bewaldeten Berg- hänge und -kuppen selbst an den steilsten Hanglagen mit Kleinstfeldern übersät. Die Ureinwohner, die Mayas, ha- ben als Kleinbauern kein anderes Siedlungsgebiet mehr, denn das fruchtbare Land an der Westküste haben weni- ge Großgrundbesitzer unter sich aufgeteilt. Zuckerrohr- und Kaffee- Latifundien, Bananen- und Viehplantagen bringen Devisen –, aber die Grundnahrungsmittel für die Bevölkerung müssen importiert werden. Eine Katasterisierung der Ländereien existiert nicht – mangels Finanzkraft des Haushalts. Sie wäre im Übrigen wegen der schwierigen Topographie Guatemalas auch sehr teuer. Die Kleinbauern müssen für ihren überschau- baren Landbesitz Steuern zahlen, während die einflus- sreichen Großeigentümer erst einmal auf das Kataster warten. In Guatemala gehören 70 Prozent des bewirtschafteten Bodens gerade 2,2 Prozent der Bevölkerung. 97,8 Prozent müssen sich die restlichen 30 Prozent teilen. Dabei liegen große Agrarflächen brach und dienen all zu oft der Bodenspekulation. Diese extrem ungleiche Landverteilung ist kein Ein- zelfall. Eine Studie der Weltbank über 83 Ländern stellte fest, dass nur 3 Prozent aller Landbesitzer über gut drei Viertel des gesamten Ackerlandes verfügen. Drittens. Bodenrechtsreformen sind in vielen Ent- wicklungsländern dringend erforderlich. Wenn wir wis- sen, dass 900 Millionen Menschen als Landlose sich ent- weder illegal in Schutzgebieten ansiedeln, Tropenwälder abbrennen beziehungsweise roden oder entwurzelt in den Slums der Großstädte dahin vegetieren, in Brasilien die wirtschaftliche Erschließung des Nordens unter anderem auch dazu geführt hat, dass Haziendabesitzer des südli- chen Brasiliens und internationale Agrarindustrien sich riesige Waldgebiet einverleibten und die dort ansässigen Kleinbauern – mit zum Teil eingetragenen Landtiteln – enteigneten, vertreiben oder gar ermordeten, in vielen Ländern Afrikas Frauen das zugesprochene Land des Mannes zwar bewirtschaften dürfen, das heißt den Boden mit der Hacke bearbeiten, Wasser schleppen und die Ern- te einbringen, aber kein Erbrecht haben, wenn der Mann stirbt, traditionelle Landnutzungsrechte, überlieferter Landbesitz, der oftmals nicht schriftlich dokumentiert ist, von den Behörden nicht anerkannt werden, wenn wir wis- sen, dass 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung in Entwick- lungsländern in der Landwirtschaft leben und arbeiten – oft müssen sie sich als Landarbeiter zu Hungerlöhnen auf dem ehemals eigenen Grund und Boden verdingen –, dann müssen die Geberländer sich dafür einsetzen, diesen Menschen zu helfen, und ihnen den Zugang zu Land er- leichtern. Wenn wir Armutsbekämpfung als ein wichtiges Krite- rium unserer Entwicklungspolitik nicht nur im Munde führen, ist zu überlegen, ob unsere GTZ und KFW-Zusa- gen verstärkt auch von durchzuführenden Landreformen abhängig gemacht werden sollten. Auch bei der Ent- schuldungsinitiative sollten die ausstehenden Agrarrefor- men als Entscheidungskriterium mit herangezogen wer- den. Das Gleiche gilt für Umschuldungsmaßnahmen. Die Mittelverwendung für den Agrarsektor könnte zur nach- haltigen Entwicklung der ländlichen Räume beitragen und damit auch der Umwelt nützen. Der verbesserte Zugang zu Land ist allerdings nur ei- ne Seite der Hunger- und Armutsmedaille. Die andere Seite ist eine optimale und nachhaltige Nutzung des knap- pen Gutes Boden. Beratung bei der Verbesserung der Pro- duktionsformen und die Erstellung von Landnutzungs- plänen haben zum Teil erstaunliche Erntezuwächse er- bracht und den Menschen wieder Hoffnung gegeben. Als Beispiel: In einem Projekt im Niger konnte die Wüsten- bildung und Bodenerosion erfolgreich gestoppt werden und löste einen Schneeballeffekt in den umliegenden Dör- fern aus. Voraussetzung war die frühzeitige Einbindung der Dorfbevölkerung in das Projekt und das sensible Vorge- hen der Berater, die die Bedürfnisse der Landbevölkerung in die Planung einbezogen. Im Senegal konnte der fort- schreitende Verlust von Boden durch Versalzung ge- bremst und verlorengegangene Reisanbaufelder zurück- gewonnen werden. Wie wichtig derartige Projekte sind, zeigt die Tatsache, dass laut VN-Bericht in den letzten zehn Jahren 230 Millionen Hektar fruchtbares Weide- und Ackerland zur Wüste wurden. Zur Veranschaulichung ein Größen- vergleich: 13-maliger Verlust der gesamten deutschen landwirtschaftlichen Nutzfläche. Zwar reicht rein rechnerisch die weltweite Nahrungs- mittelproduktion derzeit aus, um die heutigen 6 Milliarden Menschen zu ernähren, aber nach Schätzun- gen der FAO müsste die Nahrungsmittelproduktion in den Entwicklungsländern in den nächsten 25 Jahren um 60 Prozent gesteigert werden, um mit dem Bevölkerungs- wachstum mithalten zu können. Der Anspruch, bis 2025 die Zahl von 840 Millionen chronisch an Hunger leiden- den Menschen und fast 200 Millionen unter- und mange- lernährte Kinder zu halbieren, scheint angesichts der Zah- len über Bodenverluste und -degradierung kaum haltbar zu sein. Die zur Verfügung stehende landwirtschaftliche Nutzfläche sinkt im Verhältnis zur wachsenden Weltbe- völkerung unaufhörlich. Vor 40 Jahren betrug sie pro Kopf knapp ½ Hektar – 0,44 ha 1961 –, in diesem Jahr we- niger als ¼ Hektar – 0,22 ha 2000. Zum Vergleich: ein Fußballfeld hat die Fläche von 0,6 ha. Zunehmend wird nutzbare Landfläche auch durch immer mehr Industrialisierung – Bergbau, Erdölförderung und Produktionsstätten –, durch In- frastrukturmaßnahmen – Straßenbau und Verkehr – und immer größere urbane Zentren mit ausufernder Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 20009194 (C) (D) (A) (B) städtischer Randbesiedlung verbraucht. Agrarland wird aber auch immer öfter mit unlauteren Methoden den oft des Lesens und Schreibens unkundigen Subsistenz- bauern „abgekauft“, wie ein Beispiel aus Südostasien zeigt. In Thailand dachten die Bauern eines Dorfes, sie verkaufen ein Stück Sumpfland an einen Städter. Als sie hinterher die Verträge in den Händen hatten, mussten sie feststellen, dass sie ihr ganzes Gemeinschaftsland verkauft hatten – inklusive Ortstempel. Aber auch Regierungen von Partnerländern erliegen „Wirtschaftswachstums- Verlockungen“ und verstoßen gegen die eigene Verfassung, wenn sie überdimensio- nierte Staudämme oder zwecks lukrativer Erdölförderung zum Beispiel Industrieanlagen in den ausgewiesenen Schutzgebieten der Indigenas planen und deren Existenz gefährden: Kolumbien. Örtliche Nichtregierungsorgani- sationen, die sich für den Schutz Landloser oder Indige- ner einsetzen, sind oft Repressalien ausgesetzt. Vermehrt müssen unproduktive, versalzte, überdüngte, erodierte oder vertrocknete Landstriche bewirtschaftet werden, um ausreichend Grundnahrungsmittel – Reis, Maniok, Yam, Cassaba, Hirse, Mais und Weizen – anzu- bauen. Für die Ernährungssicherung einer weiterwach- senden Weltbevölkerung ist deshalb die Bedeutung der 16 Agrarforschungsinstitute ebenso wichtig wie der Erhalt der unterschiedlichen traditionellen Kulturpflanzen der verschiedenen Regionen – Genbanken – und das Wissen zum Beispiel der indigenen Völker. Wenn wir wissen, welche Bedeutung die Agrarfor- schung für eine nachhaltige Entwicklung hat, warum kürzt das BMZ im Haushalt 2000 seine Zuwendungen für die Agrarforschungsinstitute von 35 Millionen DM auf die Hälfte, also auf 17,5 Millionen DM? Wir fordern die Wie- deraufstockung. Zusammenfassend: In vielen Partnerländern sind ge- rechtere Landvereilung, partizipativer Zugang zu Land- besitz, Landnutzungsrechte, nachhaltige Produktionsfor- men und ressourcenschonende Produktionssteigerung dringend erforderlich. Eine nachhaltige Bodenutzung beinhaltet, dass bei der Erzeugung von Nahrungsmittel und von nachwachsenden Rohstoffen die natürliche Fruchtbarkeit der Böden dauer- haft erhalten bleibt. Die Bundesregierung ist deshalb aufgefordert: erstens den Agrarreformen in der Entwicklungszusammenarbeit eine Höhere Priorität einzuräumen, zweitens die Bereit- schaft der Partnerländer für Agrarreformen zu einem Ent- scheidungskriterium bei Um- und Entschuldungsmaß- nahmen zu machen, drittens die Kürzungen von Bera- tungsvorhaben und Agrarforschungsmittel im Haushalt 2001 zurückzunehmen. Klaus Jürgen Hedrich (CDU/CSU):Die vorliegen- den Anträge der Fraktion der SPD und Bündnis 90/Die Grünen wie auch der CDU/CSU weisen erfreulich viele Parallelen auf. Ihre wichtigste Gemeinsamkeit besteht in der Betonung der Bedeutung von Agrarreformen für die Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktion und Ernährungssituation in den Entwicklungsländern. Erwähnenswert ist dabei auch die Selbsterkenntnis der Fraktion der SPD und Bündnis 90/Die Grünen, dass die Bundesregierung und das BMZ der Unterstützung von Agrarreformen in Entwicklungsländern einen höheren Stellenwert einräumen müssen als bisher. Diese Feststel- lung kann allerdings trotz aller inhaltlichen Gemein- samkeiten beider Anträge nur als – gelinde gesagt – schmeichelhafte Verharmlosung des vollkommenen Desinteresses der Bundesregierung für dieses entwick- lungspolitisch so wichtige Attribut gewertet werden. Denn die rot-grüne Bundesregierung agiert geradezu in entge- gengesetzter Richtung von dem, was die beiden hier zu erörternden Anträge fordern. Die unionsgeführte Bundesregierung hatte im Rahmen ihrer Schwerpunktsetzung bei Armutsbekämpfung und Umweltschutz in ihrer Entwicklungspolitik der vergan- genen Jahre gerade auch der Thematik der Notwendigkeit von Agrarreformen in Entwicklungsländern eine zentrale Position eingeräumt. Ich möchte dabei jedoch nicht ver- hehlen, dass trotz dieses Einsatzes die Realisierung der- artiger Reformschritte in den Entwicklungsländern nur stockend voranschritt. Zudem fielen viele dieser Akti- vitäten nicht überzeugend und wirtschaftlich nicht nach- haltig aus, weil flankierende Maßnahmen ausblieben bzw. nicht finanziert werden konnten, wie vor allem Boden- rechtsreformen und Bodenbewirtschaftungsreformen. Agrarreformbemühungen können natürlich nicht allei- ne den Hunger in den Entwicklungsländern beseitigen. Den vielen armen Menschen in den Entwicklungsländern mangelt es nicht nur am Zugang zu Ackerland, sondern insbesondere auch am Zugang zum Wissen und zu den Ressourcen zur Nutzung eben dieses Ackerlandes. Das bedeutet, dass es in den Entwicklungsländern in erster Li- nie an produktiven Ressourcen, Gesundheits- und Bil- dungseinrichtungen sowie einer ländlichen Infrastruktur fehlt, die die dortigen Menschen erst in die Lage versetzt, das vorhandene Ackerland zu nutzen und die Ernährungs- situation ihrer Länder zu verbessern. Eine erfolgreiche Strategie gegen den Hunger in den Entwicklungsländern muss deshalb mindestens zwei Aspekte umfassen: Neben politischen und sozialen Re- formen im Agrarbereich muss die ländliche Bevölkerung ausreichend mit technischen, auf Produktionssteigerung abzielenden Anbaumethoden, Kreditmöglichkeiten, In- frastruktur, Schulen, Gesundheitsdiensten und sonstigen Beratungsdiensten ausgestattet werden. Erst die Beglei- tung von Agrarreformbemühungen durch technische Be- ratung und sonstige Dienstleistungen macht Agrarre- formbemühungen sinnvoll. Nicht zu vergessen ist in die- sem Zusammenhang auch die Rechtsberatung zum Beispiel zum Aufbau von Bodenkatastern. Als vielversprechend haben sich in vielen Entwick- lungsländern die dort anlaufenden landwirtschaftlichen Sektorinvestitionsprogramme erwiesen, die Maßnahmen- bündel zur Verknüpfung staatlicher Agrarstrukturen und privatwirtschaftlicher Initiativen enthalten. Blickt man nun auf das diesbezügliche entwicklungs- politische Engagement der Bundesregierung, schockieren zunächst die drastischen Budgetkürzungen gerade in den entwicklungspolitischen Sektoren, die für die sinnvolle Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2000 9195 (C) (D) (A) (B) Begleitung von Agrarreformbemühungen von wesentli- cher Bedeutung sind. So werden die Mittel für die ländli- che Entwicklung von insgesamt gut 1,1 Milliarden DM im Haushalt 1999 auf nur noch 680 Millionen DM im Haus- halt 2000 heruntergestutzt. Einen ähnlichen Aderlass erleiden die für diesen Bereich ebenfalls wich- tigen Sektoren der Grundbildung und des Gesundheits- wesens, die beide um circa die Hälfte zusammengestri- chen werden. Beschämend ist die massive Kürzung der BMZ-Mittel für die internationalen Agrarforschungszentren der Con- sultative Group on International Agricultural Research, die seit 30 Jahren wertvolle Beiträge zur Steigerung der Agra- rerträge gerade in Entwicklungsländern leisten. Besonders erschreckt aber einen die entwicklungspo- litische Gleichgültigkeit der Bundesregierung in Bezug auf Familienplanungs- und Bevölkerungspolitikmaßnah- men in den Entwicklungsländern. Die Bundesregierung verkennt dabei offenbar völlig, dass die Weltbevölkerung seit Mitte des Jahrhunderts wesentlich rascher wächst als das ihr zur Verfügung stehende Ackerland. Die Bevölkerungsentwicklung der Erde, nämlich Pa- kistan, Nigeria und Äthiopien, kündigt an, dass für viele Entwicklungsländer die Selbstversorgung mit Nahrungs- mitteln bald unmöglich sein wird. In den genannten Ent- wicklungsländern war die Getreideanbaufläche von 1950 bis 1998 pro Person schon um 38 bis 56 Prozent gesun- ken und bis 2050 dürfte sie nochmals um 55 bis 63 Prozent abnehmen, wobei kein weiterer Verlust von Ackerland vorausgesetzt wird. Diese drei Entwick- lungsländer werden dann zusammen 750 Millionen Ein- wohner und eine Getreideanbaufläche von lediglich 300 bis 700 Quadratmeter pro Person haben – was weniger als einem Drittel der Fläche von 1950 entspricht. Trotz dieser beunruhigenden Tendenz hat die Bundes- regierung Finanzmittel für entwicklungspolitische Maß- nahmen in dem Bereich der Familienplanung und Bevöl- kerungspolitik im Vergleich zum Haushalt von 1999 auf nur noch ein Drittel zurückgeführt. Dies ist eine entwick- lungs- und bevölkerungspolitische Bankrotterklärung im Angesicht der auch die bisherige Wohlstandsinsel Euro- pa bald direkt tangierenden Bevölkerungs- und Ernährungsprobleme dieser Welt. Aber abgesehen vom Versagen der Bundesregierung hinsichtlich der Einbettung von Agrarreformen in Ent- wicklungsländern in sinnvolle flankierende Maßnahmen lässt diese darüber hinaus jegliches diplomatische und entwicklungspolitische Fingerspitzengefühl für sinnvolle Agrarreformen in Entwicklungsländern vermissen. Aktu- elle Musterbeispiele hierfür sind Simbabwe und Kuba. Simbabwe, das einst dank seiner Bildungs- und Ver- söhnungspolitik weltweit als Vorbild für Afrika gepriesen wurde, taucht seit geraumer Zeit nur noch als ab- schreckendes Beispiel eines afrikanischen Landes auf, das durch seinen sozialistischen Präsidenten Mugabe im- mer tiefer in einen politischen und wirtschaftlichen Ab- grund getrieben wird. Abgesehen von dem sinnlosen, aber höchst kostspieligen Einsatz der simbabwischen Armee im Kongo-Konflikt und der sonstigen unglaublichen Miss- wirtschaft und Korruption im Lande greifen seit kurzem massive illegale Besetzungen weißer Farmen durch schwarze Kriegsveteranen, arbeitslose Städter und mili- tante Mugabe-Anhänger und die Forderung nach ent- schädigungslosen Enteignungen der weißen Eigentümer um sich. Immer mehr Indizien deuten daraufhin, dass diese Vor- fälle von Mugabe gesteuert werden. Ich erinnere zum Bei- spiel daran, dass erst kürzlich ein von Mugabe vorgeleg- ter Verfassungsentwurf in einem Referendum abgelehnt worden war, der die Rolle des Präsidenten weiter gestärkt und ihm die entschädigungslose Enteignung von land- wirtschaftlichen Flächen ermöglicht hätte. Die Regierung teilte mit, sie werde nicht gegen die Landbesitzer ein- schreiten, bis das Parlament eine Verfassungsänderung bil- ligt, die die entschädigungslose Enteignung von Land er- laubt. Zudem legte der simbabwische Oppositionsabge- ordnete Dongo eine Untersuchung vor, wonach die Regierung im vergangenen Jahr 272 Staatsfarmen mit 250 000 Hektar statt landlosen Bauern Regierungsmitglie- dern, Beamten und Partei-funktionären übergeben habe. Die wirtschaftlichen Konsequenzen dieser desaströsen Politik scheinen Präsident Mugabe egal zu sein, Derzeit müsste zum Beispiel der Tabak geerntet werden. Die Far- menbesetzung verhindert vielerorts eine Ernte. Ange- sichts der Tatsache, dass das fruchtbare Simbabwe zwei Drittel seiner Exporteinnahmen mit Produkten gerade der weißen Farmen erwirtschaftet, dürfte Mugabe damit der Wirtschaft den endgültigen Dolchstoß versetzt haben. Dies, Herr Mugabe, Frau Wieczorek-Zeul, kann nicht die Art von Agrarreform sein, wie wir sie in unseren Anträ- gen fordern! Und was tut die Bundesregierung? Außer, dass sie sich wie gewohnt für einen angeblichen, aber nur selten sicht- baren Einsatz für gute Regierungsführung in den Ent- wicklungsländern auf die Schulter klopft, passiert gar nichts. Weder wird das Mugabe-Regime an seinem agrar- und wirtschaftspolitischen Harakirilauf gehindert, noch wird die weitere Ausgabe deutscher Steuergelder für die Entwicklungszusammenarbeit mit dem unverbesserli- chen Mugabe-Regime zum Beispiel in Form einer Aus- setzung der finanziellen Zusammenarbeit zur Disposition gestellt. Frau Ministerin Wieczorek-Zeul, ich rufe Sie hiermit auf, im Interesse der Glaubwürdigkeit der deutschen Ent- wicklungspolitik Ihren ambitiösen Ankündigungen eines konsequenten Einsatzes für gute Regierungsführung in un- seren Partnerländern endlich gerecht zu werden und eine klare Position zum unverantwortlichen Treiben des machtgierigen Autokraten Mugabe in Simbabwe zu be- ziehen, bevor das Land in seinen vollkommenen Ruin schlittert. Eine gute Gelegenheit hierfür auf dem kürzlich beendeten EU-Afrika-Gipfel in Kairo haben sie leider verpasst. Das weitere Negativbeispiel aktueller deutscher Ent- wicklungspolitik bezieht sich auf Kuba, mit dem die Bun- desregierung vor kurzem die offizielle bilaterale Ent- wicklungszusammenarbeit aufgenommen hat. Kuba als eines der letzten kommunistischen Regime dieser Erde ist gekennzeichnet durch ein totalitäres Einparteiensystem, Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 20009196 (C) (D) (A) (B) Menschenrechtsverletzungen zum Beispiel in Form der Unterdrückung der Meinungsfreiheit sowie eine kurz vor dem Bankrott stehende Staatswirtschaft. Diese beinhaltet auch eine weitgehend verstaatlichte Landwirtschaft, deren Produktionsziffern immer weiter zurückgehen. Durch Aufrechterhaltung seiner stark sozialistischen Misswirt- schaft nimmt es Castro bewusst in Kauf, dass mindestens die Hälfte der kubanischen Bevölkerung in Armut und Not ums Überleben kämpft. Zahlreiche Erfahrungen aus Projekten deutscher Nichtregierungsorganisationen in Kuba zeigen, welch er- staunliche agrarwirtschaftliche Produktivitätserfolge kleine private Produzenten im Landwirtschaftsbereich zum Beispiel hinsichtlich Gemüse erzielen könnten. Doch der kubanische Staatssozialismus unterdrückt nach wie vor breitere Ansätze für Privatinitiative in der Landwirt- schaft. Eine Umkehr Kubas zu mehr Demokratie, Markt- wirtschaft und Privateigentum könnte gerade auch im Landwirtschafsbereich die Voraussetzungen für eine er- hebliche Verbesserung der Lebens- und Ernährungssitua- tion der kubanischen Bevölkerung schaffen. Doch der kommunistische Diktator Castro bewegt sich keinen Zen- timeter von der Stelle. Umso enttäuschender ist daher, dass Ministerin Wiec- zorek-Zeul für ihn ihre entwicklungspolitischen Prinzipi- en, wie dasjenige der guten Regierungsführung, über Bord wirft. Denn die Aufnahmen der offiziellen bilateralen Ent- wicklungszusammenarbeit mit Kuba stärkt Castros Ge- waltregime, von dem sich zuletzt selbst eher kubafreund- liche Staaten Lateinamerikas zu distanzieren begannen. Menschenrechte nützen wenig, wenn sie nicht ge- schützt werden. Doch die meisten Staaten kümmern sich wenig darum. Die Regierungen lassen foltern und morden, sie beginnen Kriege und lassen die Bevölkerung verelen- den. Und sie lassen sie hungern. Über 800 Millionen Men- schen auf der Erde haben zu wenig Nahrung, um ein men- schenwürdiges Leben zu führen. Dazu gehören die Ge- sundheit und das Recht zur Selbstbestimmung. Doch wer hungert, wird krank. Hungernde Menschen können nicht selbstständig entscheiden, ob und wo sie ar- beiten, wie sie und ihre Familie leben. Hunger schwächt und erniedrigt. Wer hungert, denkt nur an die Nahrungs- suche und kann sich nicht entwickeln. Ich appelliere daher an die Bundesregierung und die Leitung des BMZ, sich konsequenter für die Beachtung des Prinzips der guten Regierungsführung in den Part- nerländern einzusetzen, die Kooperation mit machtgieri- gen oder unbelehrbaren Despoten auf ein Mindestmaß wie im Fall Simbabwe zu reduzieren bzw. wie im Fall Kuba gar nicht erst aufzunehmen, und die hieraus frei werden- den entwicklungspolitischen Gelder verstärkt für eine sinnvolle Begleitung von Agrarreformen in Entwick- lungsländern in hierfür wichtigen Sektoren wie der länd- lichen Entwicklung einschließlich der Agrarforschung, der Grundbildung oder der Familienplanung bzw. Bevöl- kerungspolitik einzusetzen. Joachim Günther (Plauen) (F.D.P.): Aus liberaler Sicht ist die Ernährungssicherheit aus eigener Kraft ein vorrangiges Ziel aller Entwicklungsbemühungen. Dabei kann es auch in diesem Bereich nur darum gehen, die Selbsthilfefähigkeiten der Betroffenen zu stärken. Dies be- deutet Unterstützung einer standortgerechten und nach- haltigen Steigerung der Produktion für den heimischen Konsum sowie für den Export. Es bedeutet aber auch Schaffung von Kaufkraft für Konsumenten und Produzenten. Dies kann nur erreicht werden durch eine Markt- und Preispolitik, die Anreize zur Steigerung der Agrarproduktion schafft durch gesicherte Bodenbesitzverhältnisse bzw. langfristige Nutzungsrech- te für Bauern sowie durch eine aktive Bevölkerungspoli- tik, die zum Ziel hat, den Bevölkerungsdruck auf die knappen Ressourcen zu mildern. Diese Grundsätze dürfen auch bei der internationalen Nahrungsmittelhilfe nicht aus dem Auge verloren werden. Wenn Nahrungsmittelhilfe dazu führt, dass Produktions- anreize für die ländliche Bevölkerung entfallen, führt sie nicht zu einer Entspannung der Ernährungssituation, son- dern mittel- bis langfristig zu einer Verschärfung. Ernährungssicherungsprogramme und Nahrungsmittel- hilfe können daher nur in akuten Defizitsituationen sinn- voll sein. Aber auch in diesen Fällen muss sichergestellt werden, dass die Nahrungsmittelhilfe eng in die jeweili- ge Agrarpolitik eingebunden wird. Eine besondere Rolle für die Ernährungssicherung in den Entwicklungsländern spielen kleinbäuerliche Famili- enbetriebe. Sie sind für etwas 85 Prozent der landwirt- schaftlichen Produktion verantwortlich. Die Förderung dieser Betriebe durch die deutsche Entwicklungspolitik sollte sich in erster Linie auf die Länder südlich der Sa- hara, die im besonderen Maße von der Ernährungsunsi- cherheit betroffen sind, konzentrieren. Dabei sollten aus unserer Sicht Fördermaßnahmen zur Entwicklung von Produktionsverfahren, die den Nahrungsbedarf der wach- senden Bevölkerung decken und gleichzeitig die Produk- tionsgrundlagen Land und Wasser schonen, im Vorder- grund stehen. Die agrarpolitische Entwicklungszusam- menarbeit sollte sich daher für den Zugang der Kleinbauern zu ertragssicherem Pflanz- und Saatgut so- wie für die Unterstützung bei der Vermarktung, aber auch bei der Gewährung von Kleinkrediten einsetzen. Ein besonderer Stellenwert für die künftige Wel- ternährung und dem gleichzeitigen notwendigen Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen bei weiter wachsender Bevölkerung kommt der internationalen Agrarforschung zu. In kaum einem Bereich der Entwicklungshilfe werden die deutschen Zuschüsse sinnvoller eingesetzt. Mit der Unterstützung der CGIAR – „Consultativ Group on In- ternational Agricultural Research“ – wird ein besonders wirkungsvoller Beitrag zur Krisen- und Konfliktvorbeu- gung geleistet. Es ist daher besonders bedauerlich, dass auch dieser wichtige Bereich nicht vor dem gnadenlosen Rotstift des Finanzministers verschont wurde. Investitio- nen in internationale Agrarforschung bedeutet Verbesse- rung lokaler Nahrungskulturen, bedeutet Erhaltung natür- licher Ressourcen, als Alternative etwa zu der noch weit verbreiteten Brandrodung, und es bedeutet Schutz und Er- halt der genetischen Artenvielfalt. Die Ernährungsprobleme der Dritten Welt können je- doch nicht nur aus landwirtschaftlicher Sicht betrachtet Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2000 9197 (C) (D) (A) (B) werden, sondern müssen im Zusammenhang mit der ge- samten Entwicklungsproblematik gesehen werden. Die vielschichtige Verknüpfung von niedriger Produktivität und niedrigem Einkommen, ungünstigen Produktionsbe- dingungen, mangelhaften institutionellen und politischen Rahmenbedingungen bedeuten in ihrer Gesundheit Un- terentwicklung. Zwei zentrale Aspekte, die aus unserer Sicht in den Anträgen der anderen Fraktionen zu kurz kommen bzw. überhaupt nicht erwähnt werden, sind die Bedeutung der europäischen Agrarpolitik sowie die Rolle des Welthandels für die landwirtschaftliche Entwicklung in der so genan- nten Dritten Welt. Nur durch den Abbau des Agrarprotek- tionismus in Europa, aber auch in anderen Industrieländern haben die Agrarmärkte der Dritten Welt eine ernsthafte Chance. Exportsubventionen führen zu Verzerrungen des Wettbewerbs und beeinträchtigen dadurch zusätzlich die landwirtschaftliche Produktivität in den Entwicklungslän- dern. Die Erfahrung zeigt, dass der Verkauf hochs ubven- tionierter europäischer Agrarprodukte geradezu kontrapro- duktive Wirkungen auf die Agrarmärkte der Entwick- lungsländer hat. Aufkäufe insbesondere von Getreide und anderen lagerfähigen Grundnahrungsmitteln in Entwick- lungsländern mit überdurchschnittlich guten Ernten sind dagegen ein gutes Mittel, um Produktionsanreize in Über- schussregionen zu gewährleisten. Als weltweit größter Importeur und zweitgrößter Ex- porteur landwirtschaftlicher Erzeugnisse hat die Eu- ropäische Union hier eine besondere Verantwortung. Bei der Weiterentwicklung der europäischen Agrarpolitik muss daher ein Konzept für den Ausgleich der Interessen der europäischen Landwirte und Verbraucher sowie der In- teressen der Entwicklungsländer erarbeitet werden. Mit unserem Antrag haben wir daher insbesondere diesen As- pekt in den Vordergrund gestellt. Kersten Naumann (PDS): „Haltet den Dieb“ rufen Ganoven oft, um vom eigenen Raubüberfall abzulenken und ich habe den Eindruck, dass die vorliegenden Anträ- ge zur Agrarreform in der Entwicklungszusammenarbeit offensichtlich eine ähnliche Funktion haben. Eine inter- nationale Konferenz jagt die andere, auf denen hehre Zie- le verkündet werden. Das Ergebnis ist aber, wie es im An- trag der Koalition richtig heißt, „in vielen Entwicklungs- ländern hat sich nichts geändert“. Vielmehr sind „in vielen Ländern die Agrarreformprozesse ins Stocken geraten“. Doch bei der Ursachenforschung für diese Tatsachen halten sich die Antragsteller nicht auf. Ich komme deshalb nicht umhin, ein paar Aspekte für das Versagen der En- twicklungszusammenarbeit aufzuzeigen: Erstens: Viele der Entwicklungländer sind ehemalige Kolonien. Die Kolonialherren haben ihnen jenes Erbe hin- terlassen, an dem sie heute so schwer zu tragen haben. Selbst nach der staatlichen Unabhängigkeit wurde die Ausbeutung durch die ehemaligen so genannten „Mutter- länder“ und deren Konkurrenten auf neue Weise fortge- setzt. Zweitens: Die damalige Wirtschaftsweisen in diesen Ländern haben in vielen Fällen eine Agrarstruktur mit Großgrundbesitzern und Plantagen hinterlassen. Wie Großgrundbesitzer gegen landarme Bauern vorgehen, zeigt eine Pressemeldung, in der es heißt: „Im brasilianis- chen Bundesstaat Para hat die Polizei in den vergangenen zwei Jahren auf zehn großen Landgütern insgesamt 850 Sklavenarbeiter befreit“. Drittens: Der neue Kolonialismus besteht heute unter anderem in der Erpressung mithilfe von Krediten. Sie wer- den nicht nur genutzt, um sich einen Teil des Nationalre- ichtums anzueigenen. Mit ihrer Hilfe werden auch die Be- dingungen für den Zugang des internationalen Kapitals zu den nationalen Märkten diktiert. Viertens: Die weltweite öffentliche Entwicklungshilfe ist in den Jahren 1997/98 mit rund 50 Milliarden US-$ auf den tiefsten Stand seit 50 Jahren gesunken. Wie die politischen Prioritäten in der Bundesrepublik gegenwärtig verteilt sind, wird am Vergleich zweier Zahlen deutlich: Für die Naturkatastrophe in Mosambik mit mehreren Tausend Toten wurden 50 Millionen DM bereitgestellt. Der Krieg gegen Jugoslawien kostete täglich 500 Millionen DM, in 80 Tagen also das 800fache der Mosambik-Hilfe. Und die Rechnung dafür sollen auch die europäischen Bauern mit 600 Millionen DM bezahlen. Die Liste der Missachtung der Probleme der Entwick- lungsländer durch die Bundesrepublik und andere Wirtschaftsmächte ließe sich beliebig fortsetzen. Ich denke dabei an den subventionierten Agrarexport, die Kürzung der internationalen Agrarforschung, den Export von Pflanzenschutzmitteln, die in Deutschland verboten sind, und an den Export von Gentechnologie in die En- twicklungsländer. Doch den Koalitionsparteien fallen nur nichts sagende Floskeln ein wie: den Agrarreformen eine hohe Priorität einräumen; auf internationalen Konferen- zen erreichte Fortschritte überprüfen; deutlich zum Aus- druck bringen, dass Agrarreformen Demokratisierung- sprozesse implizieren – und so weiter, und so weiter. Der CDU/CSU-Antrag hat eine ähnliche Qualität. Allerdings soll die Zusammenarbeit nur mit „seriösen Nichtregierungsorganisationen“ erfolgen. Offen bleibt allerdings, woran die „Seriosität“ gemessen werden soll? Die FDP dagegen hat offensichtlich die Proteste von Seattle vergessen und setzt voll auf Liberalisierung, Glob- alisierung und auf die Segnungen der Gentechnologie. Die Forderung, die sich daraus ergebenden „Auswirkungen auf die Entwicklungsländer zu berücksichtigen“, hat eine reine Alibifunktion. Wo bleiben eigentlich die wirklichen Hilfeleistungen? Diese müssen, wie folgt aussehen: erstens Erhöhung der Entwicklungshilfe auf mindestens 0,7 Prozent des Brut- tosozialprodukts; zweitens Nichteinmischung in die in- neren Angelegenheiten der Entwicklungsländer; drittens Herstellung fairer Handels- und Kreditbeziehungen; viertens Entschädigung für die Verluste, die den Entwick- lungsländern durch die Kolonialherrschaft und den Neokolonialismus entstanden sind; fünftens Erlass der Schulden, die durch das kreditpolitische Missmanagement der Geldgeber und den Kauf von Rüstungsgütern ent- standen sind. Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 20009198 (C) (D) (A) (B) Der afrikanische Schuldenberg wird derzeit auf 350 Milliarden Dollar, also rund 700 Milliarden DM, ge- schätzt und Kanzler Schröder hat diese Woche in Kairo ei- nen Schuldenerlass bis zu 700 Millionen DM zugesagt hat; das sind 0,1 Prozent der Schulden. Was wird mit den an- deren 99,9 Prozent? Was ist das für eine Verantwortung Deutschlands für die Entwicklungsländer? Agrarreformen in den Entwicklungsländern werden nur Erfolg haben, wenn die Politik des Neukolonialismus beendet und Gerechtigkeit in den internationalen Wirt- schaftsbeziehungen hergestellt wird. Darin besteht die spezifische Verantwortung der Bundesrepublik. Und dafür wird sich die PDS einsetzen. Reinhold Hemker (SPD): Wir sind im vierten Jahr nach der Welternährungskonferenz in Rom im Jahre 1996, und vier Jahre sind seit der Anhörung – damals noch in Bonn – zu Fragen der Welternährung vergangen. Ich er- innere mich noch daran, dass in der Debatte zum Welt- ernährungsgipfel die Landwirtschaft als wichtige – man- che sagten sogar: wichtigste – Säule für eine breite wirt- schaftliche Entwicklung bezeichnet wurde. Wir waren uns einig: Erstens. Besonders in Ländern mit geringerem Ein- kommen ist die Nahrungsmittelproduktion Grundlage für die Schaffung von Beschäftigung und Einkommen, so- wohl für lokale Märkte als auch für Export. Zweitens. Die ortsnahe Bereitstellung von Lebensmit- teln wurde und wird als der wohl wichtigste Faktor bei der Befriedigung der Grundbedürfnisse bezeichnet. Drittens. Landwirtschaft ist Eckstein für eine Strategie der wirtschaftlichen Entwicklung auf breiter Basis. Ich rufe in Erinnerung: Diese und andere Grundsätze fanden Eingang in den Aktionsplan, der vom Welt- ernährungsgipfel am 17. November 1996 verabschiedet wurde. Alle Aspekte der drei hier vorliegenden Anträge finden sich in diesem Aktionsplan wieder. Und: Das, was im Aktionsplan gefordert wurde – nämlich die Berück- sichtigung des Einsatzes für eine bessere Entwicklung im Welternährungsbereich bei den anderen Weltkonferenzen – Frauen, Klima, Bevölkerung etc., hat stattgefunden. Die Protokolle dieser Konferenzen zeigen das deutlich. Aber: Die Umsetzung in nationales Recht und in nationale Pro- gramme in den genannten Bereichen, wie zum Beispiel Bodenrecht, Bodenordnung, Saatgutproduktion und Be- reitstellung von Saatgut, Flurbereinigung etc. pp., schei- terte und scheitert oft am politischen Willen und/oder der politischen Durchsetzungsfähigkeit – aber auch an man- gelnden finanziellen Mitteln. Ich fände es gut, wenn wir nach der Überweisung der vor- liegenden Anträge vor der Beratung im Fachausschuss aus den drei Anträgen ein auf unsere Arbeit bezogenes Aktions- papier entwickelten, das dann im Ausschuss beraten wird. Ich würde dann auch gerne von der Bundesregierung wissen, wann und wo Experten der Gesellschaft für Technische Zu- sammenarbeit GTZ, oder des Deutschen Entwicklungsdien- stes, DED, an Grenzen bei der Abwicklung und Durchset- zung von Projekten stoßen, die etwas mit den Rahmenbe- dingungen im Agrarbereich zu tun hatten oder haben. Wir wissen, dass zum Beispiel die Sicherstellung ge- eigneter politischer, wirtschaftlicher und sozialer Rah- menbedingungen für Ernährungssicherheit die gleichbe- rechtigte Teilnahme von Frauen und Männern am Pro- duktionsprozess insgesamt voraussetzt. Ferner muss es einen Zugang zu der produzierten Nahrung für alle geben und die Sicherstellung der Nahrungsversorgung in Notsi- tuationen muss in einer Art und Weise geschehen, die ei- ne weitere Entwicklung auf der Basis von Eigenverant- wortung nicht behindert. Ich verweise auch noch einmal auf die Diskussionen, die im Zusammenhang der WTO-II-Runde geführt wer- den. Es muss um ökologische und soziale Mindeststan- dards bei der Produktion von Nahrungsmitteln und bei der Beteiligung der Entwicklungsländern am Welthandel ge- ben. Der Bundesregierung ist zu danken, dass sie mit dafür gesorgt hat, dass mit der Agenda 2000/Agrarteil ein Ein- stieg in eine Reformentwicklung gelungen ist. Die katholische Landjugendbewegung, KLJB, ver- weist in ihrem Positionspapier darauf, dass die Landwirt- schaft in Europa sich ihrer globalen Verantwortung be- wusst ist. Die Schaffung und der Erhalt einer nachhalti- gen und existenzsichernden Landwirtschaft, insbesondere in den Entwicklungsländern, kann nur in Partnerschaft mit den starken Wirtschaftsgemeinschaften, wie zum Beispiel der Europäischen Union, geschehen. Über die Beispiele hinaus, die zum Beispiel die Kolle- gin Brigitte Adler schon genannt hat, verweise ich auf zwei Erfahrungen, die die Delegation des Ausschusses für wirt- schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Anfang März dieses Jahres in Malawi und Simbabwe gemacht hat. Dort konnten weiterführende Reformbemühungen nicht umgesetzt werden. Zum Beispiel bei der Saatgutproduk- tion und der Bewässerung, weil die Parzellen, die von Fa- milien bewirtschaftet wurden, zu klein waren. Seit Jahren ist der Missstand bekannt; es werden aber im Blick auf Flurbereinigung und der Kooperation keine ausreichenden Bemühungen der Regierung unternommen. In Simbabwe schreitet der Landreformprozess, der seit Jahren beschlossen ist, nicht fort, weil unter anderem bei der Abwicklung fünf Ministerien beteiligt sind und immer noch auf fruchtbarem Ackerland extensive Weidewirt- schaft betrieben wird, während in den ehemaligen über- völkerten Reservatsgebieten die Bodenqualität für ange- messene Produktion nicht bzw. nicht mehr ausreicht. Wir sehen, dass es für die Fachberatungen im Aus- schuss genug konkretes Material gibt. Ich freue mich da- rüber, dass in der nächsten Woche die Bundesregierung in Zusammenarbeit mit engagierten Fachorganisationen wie VENRO, Verband Entwicklungspolitik Deutscher Nicht- regierungsorganisationen, und dem Forum Umwelt & Entwicklung eine Fachtagung zu dem heute diskutierten Themenzusammenhang durchführt. Offensichtlich wird endlich damit Ernst gemacht, auf der Regierungsebene das wichtige Thema Agrarreform anzupacken. Ich habe auch davon gehört, dass für das nächste Jahr schon zu einer in- ternationalen Fachtagung zum Thema Bodenrecht und Bodenordnung eingeladen wurde. Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2000 9199 (C) (D) (A) (B) Ich freue mich auf die weitergehende Arbeit im Blick auf die Ausschussberatungen und biete die Mitarbeit in einer vorbereitenden Arbeitsgruppe an. Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin beim Bundesmi- nister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- lung: In Art. 25 (1) der Allgemeinen Erklärung der Men- schenrechte ist das Recht jedes Einzelnen auf ausrei- chende und gesunde Nahrung festgeschrieben. In der Umsetzung dieses Rechts hat die internationale Staaten- gemeinschaft große Fortschritte erreicht. Trotzdem leiden etwa 790 Millionen Menschen in Entwicklungsländern, ein großer Teil davon Kinder, chronisch an Hunger. Etwa 75 Prozent der Armen leben auf dem Land. Dürrekata- strophen, kriegerische Konflikte, Verschlechterung von Böden und Wassermangel sind einige der Ursachen für Nahrungsmangel. Aber: Um diesen Menschen Zugang zu lebensnotwen- digen Ressourcen zu sichern, sind in vielen Ländern Agrarreformen notwendig. Denn die Konzentration von Bodeneigentum in den Händen weniger Großgrundbesit- zer ist in hauptsächlich landwirtschaftlich strukturierten Entwicklungsländern eine der wichtigsten Ursachen länd- licher Armut. Die rechtliche Absicherung von Landnutzung ist eine notwendige Voraussetzung, um das Recht auf Nahrung zu sichern und umweltzerstörende Nutzung von Böden ein- zudämmen. Ihnen allen bekannt sind die Beispiele aus Brasilien, bei denen bei Vertreibungen von indigenen Gruppen aus angestammten Gebieten keine Rücksicht auf Menschenleben genommen wurde. Hinlänglich bekannt sind auch die Beispiele, bei denen Menschen regelrecht Raubbau an der Natur betreiben, weil das Stück Land, das sie heute bewirtschaften, morgen schon nicht mehr ihnen gehört. Agrarreformen – und hier meine ich eine breitenwirk- same Reform des rechtlich abgesicherten Zugangs zu Land – bestimmen als ein wesentlicher Erfolgsfaktor den Fortschritt von ökonomischer, ökologischer und sozialer Entwicklung in den Agrargesellschaften der Entwick- lungsländer. Gesicherte Nutzungsrechte für Kleinbauern und -bäuerinnen – über Grundbesitz oder langfristige Pacht – fördern die Produktivität der Landwirtschaft, weil Bewirtschaftungsformen auf langfristigen Ertrag statt auf kurzfristiges „Sich-über-dem-Wasser-Halten“ angelegt werden können. Erst dadurch werden Ertragssteigerungen, Ernährungssicherung und auch eine umweltverträgliche Ausrichtung der Landbewirtschaftung möglich. Gleich- zeitig können sie auch rechtliche Grundlage für den Zu- gang zu Bankkrediten sein. Agrarreform zur Umverteilung von Land sind komplexe und auch höchste konfliktträchtige Vorhaben. Der drohen- de Verlust von Macht, Geld und Einfluss von Grundbesit- zern führt dazu, dass vonseiten der Besitzenden alles getan wird, um Reformen zu verhindern. Das ist mit ein Haupt- grund für das Stocken der Prozesse in vielen Partnerländern in Asien, Lateinamerika und Afrika. Wir begrüßen, dass zum Beispiel die Regierungen auf den Philippinen und in Südafrika entsprechende Reformen in Angriff nehmen wer- den, obwohl die Frage der Entschädigungen bei der Um- verteilung privaten Grundbesitzes äußerst schwierig ist. Selbst wenn gesetzliche Grundlagen geschaffen wur- den, sind die vorhandenen Rechtssysteme oft nicht zu- verlässig. Am stärksten benachteiligt sind die Frauen. Be- stehendes Erbrecht und festgefahrene gesellschaftliche Muster lassen Landbesitz – oder doch wenigstens gesi- cherte Nutzung – häufig nicht zu. So zum Beispiel im Na- hen Osten: Dort besitzen Frauen nur selten Land. Wenn sie Land besitzen, wird der dazugehörige Titel häufig von männlichen Verwandten kontrolliert und, sobald die Frau Kinder bekommt, auf deren Söhne übertragen. Grundbedingung für eine Konzeption und Umsetzung sozialverträglicher Reformen ist, dass gesellschaftliche Gruppen den Freiraum haben, sich zu formieren, sich zu artikulieren und sich mit ihren Interessen in Entschei- dungsprozesse einzubringen. Anliegen müssen von Män- nern und Frauen gleichberechtigt vertreten werden kön- nen. Oft sind solche Organisationen, die die Interessen ih- rer Mitglieder vertrete harten Repressionen ausgesetzt – wie wir dies aus lateinamerikanischen Ländern kennen – oder sie sind sehr schwach oder erst im Aufbau begriffen. Sie zu stärken, gerade Bauernorganisationen, Landlosen- gruppen oder Landfrauenvereine zu unterstützen, ist ein wesentlicher, wenn auch indirekter Beitrag zu Landrefor- men und damit zur Verbesserung der Lebensverhältnisse in den Partnerländern. Obwohl die Weltgemeinschaft 1992 auf der Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro festgestellt hat, dass Agrarreformen eine wichtige Voraussetzung für nachhaltige Landwirtschaft und ländliche Entwicklung ist – und dies wurde auf dem Welternährungsgipfel 1996 in Rom bekräftigt –, hat unsere Vorgängerregierung we- nig getan auf diesem Sektor. Was kann unser Beitrag zur Unterstützung von Land- reformen sein? Eine Analyse von Reformprozessen in Asien, Afrika und Lateinamerika zeigt, dass es kein Pa- tentrezept für Landreform gibt. Landreformen unter- scheiden sich in Zielsetzungen, Strategien, Methodik, be- teiligten Gruppierungen und in den makroökonomischen Wirkungen. Deutlich ist aber in allen Fällen, dass dem Staat eine aktive Rolle zukommt. Bei den gegenwärtigen strukturellen Veränderungen in Partnerländern muss der Staat rechtliche Systeme stärken und die Rahmenbedin- gungen für eine dynamische Landnutzung setzen. Unse- re Beiträge werden dann erfolgreich sein, wenn wir uns auf die gesellschaftlichen Prozesse in Partnerländern einlas- sen und nicht versuchen, europäische Modelle zu über- tragen. Die Herausforderung ist dabei die Unterstützung innovativer Ansätze im politischen, rechtlichen und so- zialen System unserer Partnerländer. Trägerschaft und Verantwortung liegen bei den Partnern, wir können dabei beraten und begleiten. Im Rahmen eines Sektorvorhabens führen wir eine Pi- lotstudie durch, in der wir Ansätze zu Bodenpolitik und Bodenordnung untersuchen. In einer zweiten Phase, die dieses Jahr beginnt, wird der Aufbau von regionalen Netz- werken unterstützt, die vorhandene indigene und fach- wissenschaftliche Erfahrungen zu innovativen Ansätzen aufarbeiten und zugänglich machen werden. In der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit inten- sivieren wir den Politikdialog mit Partnerländern Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 20009200 (C) (D) (A) (B) überall dort, wo ländliche Entwicklung und Ressourcen- schutz Schwerpunkte sind. Voraussetzungen für unsere Beiträge sind die Sozialverträglichkeit von Vorhaben, die Partizipation gesellschaftlicher Gruppen, insbesondere der Frauen, und eine Berücksichtigung der ökologischen Dimension. Zudem werden wir im März 2001 gemeinsam mit dem Arbeitskreis Armutsbekämpfung eine internatio- nale Fachtagung zum Thema „Zugang zu Land“ veran- stalten. Prozesse der Agrarreform in Partnerländern Asiens, Afrikas, Lateinamerikas und aus Transformati- onsländern werden mit ihren Erfolgen und Schwierig- keiten vorgestellt werden. Von der Tagung erhoffen wir uns den Austausch von Erfahrungen und Wissen. Sie wird uns und unseren Partnerorganisationen in den Ent- wicklungsländern Impulse für innovative Ansätze zur Landreform geben. Interessant und neu ist der Einsatz des Zivilen Frie- densdienstes im Rahmen von Landreformprojekten. In Simbabwe wurde eine Organisation, die „Farmers Deve- lopment Trust“ gegründet, die sich auf die Fahnen ge- schrieben hat, die konfliktträchtige Landfrage anzuge- hen. Sie will im Konsens mit allen Konfliktparteien Lö- sungen in der Landverteilung erarbeiten. Wir planen, fünf Fachkräfte des Friedensdienstes zur Unterstützung dieser Organisation zu entsenden. Wie wichtig eine solche Un- terstützung sein kann, machen die jüngsten Entwicklun- gen in Simbabwe sehr deutlich. Die dortige gesetzeswid- rige Besetzung von Großfarmen durch Veteranen be- trachten wir mit Sorge. Agrarreform kann über die Beseitigung strukturell bedingter Konfliktpotenziale einen Beitrag zur Krisenvorbeugung leisten – gleichzeitig muss sie aber so ausgestaltet werden, dass die bestehenden Konflikte nicht eskalieren. Deshalb ist es wichtig, den Re- formprozess fair und transparent zu gestalten und eine Lö- sung des Landproblems auf Basis der Gesetze zu finden. In diesem Sinne habe ich einen Brief an Präsident Muga- be und Herrn Ndebele, den Präsidenten des simbabwi- schen Parlaments, geschrieben. Auch von europäischer Seite wird unsere Position geteilt. Im März wurde in glei- cher Sache ein Demarche der Ausschuss für die Angele- genheiten der Europäischen Union-Troika an Vize-Präsi- dent Msika gerichtet. Die Konzeption von Agrarreform, verbunden mit ei- ner konsensorientierten Umsetzung, ist eine unabding- bare Voraussetzung für die Verwirklichung der Men- schenrechte auf Nahrung und Entwicklung. Agrarrefor- men können einen entscheidenden Beitrag leisten, Ernährung zu sichern und dem Ziel einer Halbierung der Zahl der chronisch Hungernden bis zum Jahr 2015 – wie die der Welternährungsgipfel 1996 in Rom verabschie- det hat – näher zu kommen. Damit kann das Konflikt- potenzial entschärft werden, das der Ausschluss vom Zugang zu produktiven Ressourcen für Millionen von Armen, insbesondere Frauen, mit sich bringt. Und da- mit wird auch die Grundlage geschaffen, über umwelt- schonende Landbewirtschaftungsreformen, die Boden- fruchtbarkeit auch für künftige Generationen zu erhal- ten. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes (Tagesordnungspunkt 12) Horst Kubatschka (SPD): Es ist schwierig, aus einer Sackgasse herauszukommen. Dies beweist das Beispiel Kernenergie. Manche wollen immer noch nicht erkennen, dass wir uns mit der Kernenergie in einer Sackgasse be- finden. Dies zu erkennen ist auch nicht leicht. Das galt auch für meine Partei. Wenn ich mich zurück erinnere: In den 50er-Jahren war die Einfahrt in diese Sackgasse sehr hoffnungsvoll. Die Wissenschaft hat der Politik, aber auch der Wirtschaft wortreich erklärt, die Kernenergie sei die Lösung aller Energieprobleme. Die Welt müsse sich nie mehr Gedanken über die Energieversorgung machen. Energieverschwendung war angesagt. „Atome für den Frieden“ war das Schlagwort. Als Studenten waren wir begeistert. Unsere Professo- ren erzählten uns aber nicht, dass das Problem nicht zu En- de gedacht war. Von der Lösung des Atommüllproblems sprach niemand. Wenn man sich in einer Sackgasse befindet, muss die Fahrt abgebremst werden. Man muss anhalten und in ei- ne andere Richtung fahren. Nachdem Politik nur an Stammtischen und stamm- tischähnlichen Veranstaltungen einfach ist, laufen diese Vorgänge alle gleichzeitig ab, sie sind also miteinander vernetzt und deswegen auch nicht leicht zu handhaben. Im Bremsvorgang der Kernenergie befinden wir uns bereits seit vielen Jahren. Die Wissenschaft ist ernüchtert. Per Un- terschrift kann man sich zwar leicht zur Kernenergie be- kennen, aber wenn es um Lösungsvorschläge für die End- ablagerung geht, haben wir bisher von der Wissenschaft und Technik keine Lösungen erhalten – und dies weltweit. Die Reihe der wissenschaftlichen und technischen Nie- derlagen auf dem Gebiet der Kernenergie ist lang und teu- er. Viele Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. An einige möchte ich erinnern: das Kernkraftwerk Niederaichbach, der Hochtemperaturreaktor und vor allem der Schnelle Brüter. Das Perpetuum mobile wurde uns versprochen. Diese Hoffnungen und andere sind zerplatzt wie Seifen- blasen. Aber auch das Atomgesetz hat die Zukunft der Kern- energie in Deutschland besiegelt. Die Anforderungen an Genehmigungen von Anlagen sind in § 7 so festgelegt, dass kein neues Kernkraftwerk in Deutschland genehmigt werden könnte. Der Europäische Druckwasserreaktor hätte keine Chance. Die Industrie und die EVUs verhalten sich zwitterar- tig. Auf der einen Seite haben sie sich bereits aus der Kern- technik verabschiedet. Seit 1980 ist in Deutschland keine neues Kernkraftwerk bestellt worden. Große Konzerne ziehen sich aus der Herstellung von Atomkraftwerken zurück. Wenn sie ihre Kernenergiesparte nicht verkaufen, werden sie in Gemeinschaftsunternehmen eingebracht. Die Kernkraft hat in Deutschland keine Zukunft mehr. Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2000 9201 (C) (D) (A) (B) Auch die Europäische Union wird diesem Weg über kurz oder lang folgen. Auf der anderen Seite ist erstaunlich, mit welcher Hart- näckigkeit die EVUs an dieser Technik des 20. Jahrhun- derts hängen. Betriebszeiten von 50 bis 60 Jahren werden von ihnen angestrebt. Diesen Weg werden wir aber nicht mitgehen. Wir werden die Fahrt in die Sackgasse stoppen. Wir hoffen, dass die Fahrt angehalten wird im Konsens, dass wir also eine Verhandlungslösung mit den Betreibern der Kernkraftwerke in Deutschland erreichen. Dies wäre für alle sicher der bessere und elegantere Weg. Sollte aber ein Konsens nicht möglich werden, werden wir im Dissens aussteigen. Die SPD hat sich schon vor langer Zeit für den Aus- stieg ausgesprochen. Im Bundestagswahlkampf sagten wir aus: entschädigungslos und nach Möglichkeit im Konsens mit den Betreibern. Diesen Konsens wollten wir innerhalb eines Jahres aushandeln. Diese Zeit ist jetzt überschritten. Wir befinden und sozusagen in der Ver- längerung der Spielzeit. Aber einmal ist auch die Ver- längerung abgelaufen. Wir werden noch vor der Som- merpause des Parlaments in erster Lesung ein Aus- stiegsgesetz im Deutschen Bundestag behandeln. Ob dies im Konsens oder im Dissens erfolgen wird, dies ent- scheiden die Betreiber der Kernkraftwerke. Die rot-grü- ne Koalition ist den Betreibern deutlich entgegenge- kommen. Mit dieser Aussage ist auch klar: Wir werden dem Ge- setz der PDS nicht zustimmen. Vor einigen Wochen haben wir gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. das Erneuerbare-Energien-Gesetz verabschiedet. Der Bundesrat hat zugestimmt. Das ist ein Meilenstein zum Einstieg in eine andere Energieversor- gung. Der Anteil der erneuerbaren Energien soll bis zum Jahre 2010 verdoppelt werden Für die Rettung der Kraft-Wärme-Kopplung haben wir ein Übergangsgesetz beschlossen. Es wird ein Gesetz fol- gen, das den Anteil des KWK-Stroms bis zum Jahre 2010 ebenfalls verdoppeln soll. Dies ist Förderung des Ener- giestandortes Deutschland. Mit diesen Gesetzen sichern wir Tausende von Arbeitsplätzen und schaffen neue. Ich bin sicher, das Handwerk, die mittelständischen Betriebe werden die Chance nutzen. In meinem Wahlkreis geschieht dies. Das EEG hat ei- nen deutlichen Kick gegeben, die Bürgerinnen und Bür- ger engagieren sich, die Unternehmen ziehen mit. Eine Vorzeigegemeinde: Furth im Landkreis Landshut, eine kleine Gemeinde in Niederbayern. Im Gemeinderat sitzen CSU, Freie Wähler, SPD, ein grüner Bürgermeister und der Wille, 90 Prozent der in der Gemeinde verbrauchten Energie selbst zu erzeugen – durch erneuerbare Energie. Und dieses Ziel ist erreichbar: ein Biomasse-Kraftwerk, viel Photovoltaik, vielleicht ein Windrad. An diesem Bei- spiel sehen Sie: Es geht! Die rot-grüne Koalition redet nicht nur über nachhalti- ge Energiepolitik und Konzepte. Sie handelt, indem sie wegweisende Gesetze beschließt. Die Opposition ist ein- geladen, uns auf diesem Weg zu begleiten, Sie sollten uns begleiten, damit Sie glaubwürdig bleiben. Die Fronten haben sich auch etwas verschoben bei uns, wenigstens in Bayern. Die CSU läuft Sturm gegen Anla- gen der Atomkraftwerke. Sie protestiert lauthals gegen standortnahe Zwischenlager. In Gundremmingen hat sich der Bundesfinanzminister Waigel mit an die Spitze der Be- wegung gestellt. Zu diesen Zwischenlagern möchte ich Folgendes erklären: Bei der Genehmigung müssen drei Bedingungen erfüllt werden: Erstens: Ein Ausstiegsgesetz muss bereits verabschiedet sein. Zweitens: Mit diesem Ausstiegsgesetz sind auch die Be- triebszeiten festgelegt. Drittens: Auf diese restlichen Betriebszeiten der AKWs wird die Größe der Anlagen ausgelegt. Nur wenn diese Bedingungen erfüllt sind, sind Zwi- schenlager – ich betone: Zwischenlager – am Standort der Kernkraftwerke tragbar. Zum Schluss: Wir lehnen den Antrag der PDS ab. Bis zur Sommerpause dieses Jahres wird ein Atomgesetz der rot-grünen Koalition im Bundestag in erster Lesung be- handelt. Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): Der von der PDS ein- gebrachte Antrag für den Entwurf eines Gesetzes zur Än- derung des Atomgesetzes hat die gleiche strukturelle Schwäche wie die Politik der Bundesregierung. Er be- schreibt lediglich den in der Sache falschen Weg, den Ausstieg aus der Kernenergie, ohne dass die Partei bisher deutlich gemacht hätte, wie die Kernenergie klimaver- träglich ersetzt werden soll. In Anbetracht der historischen Vergangenheit der PDS ist es dagegen wenig glaubwürdig, dass die politische Gruppierung heute zu den fundamentalen Gegnern der Kernenergie gehört. Den Ausstieg aus nicht den westli- chen Standards entsprechenden Kernkraftwerken wie Greifswald und anderswo hat die CDU/CSU, F.D.P.-Re- gierung unter Kohl und Töpfer eingeleitet. Die CDU/CSU-Bundesfraktion lehnt den vorliegen- den Gesetzentwurf ab. Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Der Ausstieg aus der Atomenergie ist für die Grünen eines der wichtigsten Reformprojekte der rot-grünen Bundesregie- rung. Anders als die PDS wollen wir zusammen mit der SPD diesen Atomausstieg tatsächlich realisieren. Das heißt, wir werden keinen Schauantrag vorlegen, der we- nig durchdacht und von vornherein zum Scheitern verur- teilt ist. Bündnis 90/Die Grünen und SPD wollen den Atom- ausstieg tatsächlich, und zwar unumkehrbar, Forderungen nach einem Sofortausstieg, wie sie von weiten Teilen der Antiatombewegung gestellt werden, oder auch die For- derung der PDS nach einem Ausstieg in fünf Jahren sind angesichts der Widerstände von kleinen, aber einflussrei- chen Teilen der Gesellschaft, vor allem der Betreiber und der Opposition, nicht durchsetzbar. Nur ein Zugehen auf die Betreiber in Verhandlungen kann den Ausstieg in greifbare Nähe rücken lassen. Gleichzeitig verschaffen wir Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 20009202 (C) (D) (A) (B) uns aber auch rechtlich Klarheit darüber, wie ein verord- neter Ausstieg rechtssicher und ohne Entschädigungen verwirklicht werden kann. Das Ergebnis ist bekannt: In etwa 19 Jahren kann das letzte Atomkraftwerk vom Netz genommen werden, auch gegen den Widerstand der Betreiber; bei vielen Kraft- werken kann das bereits wesentlich früher geschehen. Konsensverhandlungen oder ein entsprechendes Aus- stiegsgesetz im Dissens sind erfolgversprechender als dieser Antrag der PDS, der nicht durchdacht und schnell gestrickt ist und der viele notwendige Novellierungs- schritte außer Acht lässt. Warum zum Beispiel wird die Morsleben-Regelung, die die alte Regierung ins Atomge- setz einfügte, nicht rückgängig gemacht? Warum sehen Sie keine Erhöhung der Deckungsvorsorge vor? Der Antrag der PDS ist ein leicht durchschaubarer Pro- filierungsversuch, ohne jede Aussicht auf Erfolg. Bünd- nis 90/Die Grünen werden den Antrag daher als untaug- lich für das gemeinsame Ausstiegsziel ablehnen. Aber was halte ich mich so lange mit dem Antrag der PDS auf. Wir sind uns ja im Ziel, dem Ausstieg aus der Atomenergie, mit der PDS einig. Die Blockierer für die- sen seit Jahrzehnten überfälligen Reformschritt in der Energieversorgung sitzen in den Reihen der CDU/CSU und FDP, wie wir gegenwärtig hören und in der Vergan- genheit immer wieder hören konnten. Die Union und die Betreiber leugnen seit Jahren die Risiken, obwohl die Kernenergie bereits größten Schaden und unermessliches menschliches Leid über diese Welt gebracht hat. Denken wir nur an Tschernobyl, an Tokaimura oder an die Uran- bergbaugebiete dieser Welt! Die ökologischen und finanziellen Schäden durch den Abbau von Uran werden in der Diskussion bislang weit- gehend ausgeblendet. Wir alle wissen aber doch, dass die Sanierung der Wismut AG – eines alten Uranbergbauge- bietes in den neuen Bundesländern – den deutschen Steu- erzahler inzwischen über 7 Milliarden DM kostete. Nie- mand hat diese Sanierungskosten bisher auf den Strom- preis umgerechnet, geschweige denn umgelegt. Der Uranbergbau schädigt zum Teil schlimmer noch als im Falle der Wismut in vielen Teilen der Welt die Natur und die ansässige Bevölkerung. Dazu gehört zu Beispiel Aus- tralien, wo die weltweit größten der knapp werdenden Re- serven liegen. Ein Weltnaturerbe, der Kakadu-National- park, soll dem Uranbergbau geopfert werden, mit gravie- renden Auswirkungen für die Aborigines, die dort lebenden Ureinwohner. Noch immer werden die Sicherheitsrisiken von Union und FDP geleugnet, obwohl sie auch bei uns sehr gegen- wärtig sind und zum Teil von den Betreibern nicht be- dachte Ursachen haben können. Wer hat denn schon die Überflutung von Notkühlpumpen als Störfall in einer Re- aktorsicherheitsstudie beachtet? Ein unrealistischer Pro- blemfall? – Nein. Erst kürzlich war eine solche Überflu- tung Ursache für einen Beinahe-Super-GAU in einem französischen Kernkraftwerk an der Mündung des Flus- ses Gironde. Als der schreckliche Sturm – wohl eine der Auswirkungen der Klimaveränderungen, die momentan unzweifelhaft stattfinden – im letzten Dezember über Frankreich hinwegfegte, überflutete die Sturmflut drei der vier Notkühlpumpen, die für die Sicherheit des Kraft- werkes gebraucht wurden. Ein Super-GAU, ausgelöst durch eine Sturmflut, konnte nur knapp verhindert wer- den. In der deutschen Presse konnte man darüber kaum et- was lesen. Auch darüber, dass dieser Sturm die Anfällig- keit einer zentralen Stromversorgung auf der Basis großer zentraler Kernkraftblöcke deutlich machte, wurde in der Öffentlichkeit nicht diskutiert. Riesige Hochspannungs- masten knickten im Sturm um und legten die Strom- versorgung in weiten Teilen Frankreichs lahm. Bis heute sind die Schäden noch nicht vollständig behoben. Es ent- standen Schäden in Milliardenhöhe, die bei einer dezen- tralen Stromversorgung auf der Basis von Kraft-Wärme- Kopplung und erneuerbarer Energien nicht möglich ge- wesen wären. Dieser Sturm lenkt den Blick auch auf ein zweites Pro- blem der heutigen Energieversorgung: auf die Klimaver- änderungen dieser Erde, deren Auswirkungen heute kaum noch bestritten werden, deren Lösung aber nur in der Ab- lösung des atomaren und fossilen Energiesystems liegen kann. CDU/CSU und F.D.P. begründen ihr Festhalten an der schädlichen und bedrohenden Kernenergie häufig mit der Notwendigkeit, den Kohlendioxidausstoß zu verringern. Oberflächlich betrachtet scheint diese These zutreffend zu sein. Bei näherem Hinsehen jedoch wird offensichtlich, wie absurd diese Behauptung ist, die Atomenergie trägt mit etwa 5 Prozent zum Weltenergieverbrauch bei – ein verhältnismäßig kleiner Anteil, der nicht nennenswert die riesigen CO2-Mengen aus Kohle, Erdöl und Erdgas ver-meiden hilft. Sollte die Kernenergie wirklich zur Bekämpfung der Treibhausgase eingesetzt werden, so müsste die Kernenergie kräftig ausgebaut werden. Einmal abgesehen von nicht unerheblichen CO2-Emmisionen beieinem Uranabbau, bei der Brennelement-Herstellung, bei dem Transport und bei der Entsorgung ist ein starker Aus- bau aber völlig absurd, wenn man die Uranreserven auf der Welt betrachtet. Bei heutiger Nutzung reicht das Uran auf der Welt etwa noch 40 bis 60 Jahre. Dabei ist schon ein sechsfach höherer Uranpreis eingerechnet. Die Technik des schnellen Brüters, die die Uranreserven strecken soll, ist weltweit gescheitert, wie wir in Deutschland am Mil- liardengrab Kalkar erkennen können. Heute ist statt einer Atomanlage einer Vergnügungsstätte in Kalkar, wofür ich viel Sympathie habe. Wollte man also weltweit die Nut- zung der Kernenergie nur verdreifachen, was immer noch nicht den entscheidenden CO2-Minderungseffekt bringenwürde, wären die weltweiten Uranreserven in etwa 25 Jahren Nutzungsdauer verbraucht. Gleichzeitig behindert aber die heutige Nutzung und erst recht ein möglicher Ausbau dieser zentralen Groß- kraftwerke den Umstieg in eine dezentrale umweltver- trägliche Stromversorgung auf der Basis von Kraft-Wär- me-Kopplung, Energieeinsparung und erneuerbaren En- ergien. Nur diese ist wirklich in der Lage, den Treibhauseffekt effektiv zu bekämpfen. Die Kernenergie ist also ein entscheidender Hinde- rungsgrund für die CO2-Reduktion und nicht, wie dieUnion behauptet, eine Voraussetzung dafür. Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2000 9203 (C) (D) (A) (B) Bündnis 90/Die Grünen und SPD sagen sehr deutlich, wie der Einsatz für die Kernenergie aussehen wird – auch wenn die Opposition unseren umweltfreundlichen und Arbeitsplätze schaffenden Weg offensichtlich nicht mit- tragen will. Viele Bausteine zum Erreichen einer sozial- verträglichen und umweltverträglichen Energieversor- gung haben wir bereits verwirklicht, so zum Beispiel das Sofortprogramm für die KWK, wobei wir Grünen noch ei- nen deutlichen Schritt weiter gehen werden und eine Zer- tifikatslösung zur Verdoppelung der KWK bis 2010 vor- nehmen wollen. Das 100 000-Dächer-Programm im Be- reich der Photovoltaik und das 200-Millionen-Programm für die Einführung erneuerbarer Energien haben wir be- reits im Jahre 1999 aufgelegt. Vor wenigen Tagen ist das weltweit fortschrittlichste Gesetz zur Markteinführung erneuerbarer Energien, das Erneuerbare-Energien-Ge- setz, in Kraft getreten. Mit fadenscheinigen Gründen ha- ben CDU, CSU und F.D.P. im Bundestag die Zustimmung verweigert. Immerhin waren sie zum Teil im Bundesrat vernünftiger und haben zugestimmt. Trotz der Ablehnung im Bundestag ist in Deutschland in den letzten Wochen eine große Aufbruchstimmung ent- standen: im Handwerk, in der Industrie, bei Anlagenbe- treibern und in der Landwirtschaft. Wer sich auf der Han- nover-Messe genau umschaute, konnte erkennen, dass viele Hersteller von Energieerzeugungsanlagen nun auf erneuerbare Energien setzen. Kein geringerer als Bill Ga- tes hat in Deutschland Solaraktien gekauft. Die Wind- kraftbranche boomt und wird ein deutscher Exportschla- ger. Arbeitsplätze werden bei den Erneuerbaren Energien geschaffen und nicht in der Kernenergie. Lediglich etwa 40 000 Arbeitsplätze bundesweit gibt es in der Kernener- gie, obwohl sie mit gut 30 Prozent zur Stromerzeugung beiträgt. Für nur 2 Prozent Stromanteil aus der Windkraft arbeiten aber bereits deutlich über 20 000 Arbeitnehmer in der Windkraftbranche. Bündnis 90/Die Grünen und SPD haben Ernst gemacht mit der Energiewende. Die kernenergiepolitischen Vor- stellungen der Union aus den 50 Jahren sind ein alter Hut und hemmen den Fortschritt in Deutschland. Ein wichtiger Baustein der Energiewende ist der Aus- stieg aus der Atomenergie. Ich fordere die Union und die F.D.P. auf endlich ihre Blockadehaltung gegen den Aus- stieg aufzugeben und die Maßnahmen der Bundesregie- rung für eine umweltverträgliche und sozialverträgliche Energieversorgung zu unterstützen. Je schneller wir den Ausstieg schaffen – dies kann, wenn der Konsens verein- bart ist, auch wesentlich schneller gehen als in 19 Jahren, da die volkswirtschaftliche Unvernunft der Kernenergie- nutzung offensichtlich ist –, desto schneller werden wir auch die Klima- und Arbeitsplatzprobleme in den Griff be- kommen. Bündnis 90/Die Grünen und SPD werden den Ausstieg aus der Atomenergie schaffen; daran habe ich keinen Zweifel: entweder im Konsens mit der Industrie oder mit einem besseren Gesetz als dieser von der PDS vorgeleg- te Antrag. Birgit Homburger (F.D.P.): Die PDS legt einen Ge- setzentwurf vor, der unter anderem aus verfassungs- rechtlicher Sicht mehr als zweifelhaft ist. Was Rechts- staat und Grundgesetz betrifft, hat die PDS ja traditio- nell eigene Vorstellungen, etwa nach dem Motto: Was heißt schon Grundgesetz? Auf die Gesinnung kommt es an! Lässigkeit gegenüber Recht und Gesetz ist bei der PDS nichts Neues. Der Gesetzentwurf wird beraten. Auch das Ergebnis bietet keine Überraschung. Ein- mütige Ablehnung: die Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS-Fraktion. Nichts Neues also, auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick wird man stutzig: Handelt es sich doch um den Entwurf eines Gesetzes zum Ausstieg aus der Kernenergie. Rot-Grün lehnt ab? Da lohnt sich Aufmerksamkeit, wenn es um die Begründung geht. Im Ausschuss heißt es dazu: Die SPD teile zwar das Ziel. Die Sache aber sei recht kompliziert, man wolle lieber den Konsens. Eine Auseinandersetzung vor Gericht wol- le man lieber doch vermeiden. Die Begründung lässt aufhorchen: Lässt doch gerade der Umweltminister öf- fentlich keine Gelegenheit aus zu betonen, dass man notfalls auch in Dissens – und das bedeutet eine ge- richtliche Auseinandersetzung – das Ziel durchsetzen wolle. Die F.D.P. folgt Ihnen nicht, weder mit Blick auf das Ziel, noch auf Ihrem Weg. Der Weg ist mit der F.D.P. nicht zu gehen, weil für uns der Rechtsstaat unbedingte Ver- pflichtung ist. Das Ziel verfolgen wir nicht, weil die F.D.P. den Klimaschutz ernst nimmt. Zunächst zum Ziel: Glaubwürdige und verantwort- liche Umweltpolitik fordert die Bereitschaft, Verant- wortung zu übernehmen. Es gilt, der Energieversor- gung einen Weg zu ebnen, der zugleich für das Welt- klima verträglich und wirtschaftlich tragfähig ist. Im demokratischen Rechtsstaat geht es um verantwortli- che Politik auch für kommende Generationen. Die zentrale Frage lautet: Wie kann man auf die Kernen- ergie langfristig verzichten, ohne die Atmosphäre durch den verstärkten Einsatz von Kohle, Öl zusätzlich zu belasten? Die F.D.P. fordert die Bundesregierung auf, dazu endlich ein schlüssiges Gesamtkonzept vorzulegen. Unermüdlich hat die F.D.P. darauf hinge- wiesen: Ein Ausstieg aus der Kernenergie zum gegen- wärtigen Zeitpunkt wäre fahrlässig. Solange Strom in Kernkraftwerken kostengünstig produziert werden kann, wird er auch nach Deutschland fließen. Steigen- de Importe verspielen für Deutschland aber die Chan- ce, Schrittmacher und Vorreiter beim sicherheitstech- nischen Fortschritt zu sein. Politische Unvernunft und Willkür gefährden Arbeitsplätze und vernichten Inve- stitionen. Auch den Weg, den Sie gehen wollen, lehnt die F.D.P. ab – nicht aus Liebe zur Kernenergie, sondern aus Re- spekt vor dem Eigentum und seiner Garantie durch das Grundgesetz. Dass es die PDS hier nicht so genau nimmt, ist bekannt. Die Bundesregierung aber muss sich fragen lassen: Wie halten Sie es mit dem Eigentum? Wollen Sie dem Eigentum einen Stempel aufdrücken nach dem Motto: Mindestens haltbar bis ...? Ein solches Verständnis vom Eigentum kannte man zuletzt vor 4 000 Jahren in Ägypten. Dort galt Landeigentum nur so lan- ge, bis Grund und Boden vom Nil wieder weggespült Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 20009204 (C) (D) (A) (B) wurden. In Deutschland gibt es für Grundrechte aber kein Verfallsdatum. Will die Bundesregierung sich etwa wie- der einmal auf höhere Gewalt berufen? Minister Trittin hat dieses Argument an anderer Stelle ja schon einmal bemüht. Und wo wir gerade beim Verfassungsverständnis sind: Wie hält es die Bundesregierung mit den Rechten des Parlaments? Die Bundesregierung verfügt nicht über die Kompetenz, sich selbst, eine andere Regierung oder das Parlament durch einen so genannten Konsens zu binden. Beim Ausstieg aus der Kernenergie sind außerdem Kom- petenzen der Länder berührt. Nicht die Bundesregierung und Vertreter der Energiewirtschaft mussten also am Ver- handlungstisch sitzen. Vielmehr wäre unter Einbezug der Länder und aller Fraktionen im Deutschen Bundestag ein Konsens zu suchen, wenn man den Ausstieg aus der Kern- energie tatsächlich will. Es wäre zu wünschenswert, wenn die Energieversorger sich dem faulen Kompromiss ver- weigerten und ihre Rechte stattdessen vor Gericht durch- setzen würden. Allein schon aus Gründen der politischen Hygiene. Dann würde die Bundesregierung für jedermann erkennbar das Gesicht verlieren. Die F.D.P. verweigert sich dem faulen Kompromiss. Die F.D.P. setzt auf eine preiswerte, sichere und um- weltfreundliche Energieversorgung. Neben einer Offen- haltung der Option auf die friedliche Nutzung der Kern- energie geht es vor allem um eine intelligente Förderung der erneuerbaren Energien und um wirksame Maßnah- men zur Energieeinsparung. Die F.D.P. fordert die Bun- desregierung auf, endlich ein glaubwürdiges Energie- konzept vorzulegen, eine effiziente Förderung regenera- tiver Energien mit marktwirtschaftlichen Instrumenten statt staatlichem Dirigismus einzuführen, weitere An- strengungen bei Kernforschung und bei der Entwicklung von Sicherheitstechnik zu unternehmen und die Entsor- gungsfrage nicht zum Spielball einer strategischen Ver- handlungsführung im rot-grünen Atom-Deal werden zu lassen. Rainer Brinkmann (Detmold) (SPD): Der Ausstieg aus der Atomenergie wird kommen, unabhängig davon, ob die rechte Opposition es will oder nicht. Und er wird auch kommen, ohne dass wir den Antrag der PDS verabschie- den. Der Ausstieg wird kommen, weil die absolute Mehr- heit der Bevölkerung es will und weil wir als gewählte Ver- treterinnen und Vertreter Verantwortung für die Sicherheit der Bevölkerung tragen. Der Ausstieg wird auch deswe- gen kommen, weil kein einziger Energieversorger zurzeit ernsthaft daran denkt, ein neues AKW zu bauen. Es geht uns darum, eine sichere, wirtschaftliche und umweltfreundliche Energieversorgung ohne Atomener- gie sicherzustellen. Dieses Ziel erreicht man nicht mit Schauanträgen, selbstverständlich auch nicht mit Verwei- gerung seitens der CDU. Die SPD-Fraktion sieht keinen Anlass, zu dem vorliegenden Gesetzentwurf eine andere Haltung einzunehmen als bereits im Ausschuss für Um- welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Wir lehnen ihn nach wie vor ab. Dieser Antrag ist nicht hinreichend durchdacht. Er geht von falschen Voraussetzungen aus und er kommt zur falschen Zeit. Hier wird nach meinem Dafürhalten so getan, als betreibe die Bundesregierung den Ausstieg aus der Kernenergie nicht wirklich. Das aber ist, wie Sie alle wissen, nicht der Fall. Die Initiatoren bemühen sich redlich, für ein politisches Ziel zu werben, das längst beschlossene Sache ist. Aber mit diesem un- ausgegorenen Gesetzentwurf will die PDS das Ausstiegs- gesetz vorwegnehmen, das nach unserer Meinung jedoch erst dann detailliert formuliert und verabschiedet werden kann, wenn die Konsensgespräche mit der Atomwirt- schaft – so oder so – abgeschlossen sind. Dann, und zwar erst dann, ist es auch an der Zeit, die Bedingungen für die Beendigung der Wiederaufarbeitung in Europa festzule- gen. Ich kann ja verstehen, dass manchem der Ausstieg nicht schnell genug geht. Aber ich meine, es gibt im Moment überhaupt keinen Grund zu Aufgeregtheit und Aktionismus, wie ihn der heute zur Debatte stehende Gesetzentwurf nach Einschätzung der SPD-Fraktion dokumentiert. Es gibt ein von der Bundesregierung trans- parent und unmissverständlich festgelegtes Verfahren, und ich sehe keinen Anlass, davon abzuweichen. Wir wol- len den Ausstieg aus der Kernenergie und werden ihn um- setzen. Wir wollen ihn möglichst im Konsens mit der Atomwirtschaft, und wir wollen ihn entschädigungsfrei regeln. Mit dieser Strategie befinden wir uns übrigens in bester Gesellschaft. Ich verweise an dieser Stelle auf das Gutachten des Umweltrates, in dem es heißt: Der Umweltrat befürwortet wegen der noch beste- henden rechtlichen Unsicherheiten die Strategie der Bundesregierung, Möglichkeiten einer entschädi- gungsfreien Beendigung der Nutzung der Atom- energie im Wege einer konsensualen Lösung mit den Betreibern zu suchen. Auf deren Grundlage sollte so- dann ein Ausstiegsgesetz verabschiedet werden, in dem die Eckpunkte eines Ausstiegs festgelegt wer- den. Dazu zählt auch eine Einigung über Restlauf- zeiten der Atomkraftwerke. Nach Auffassung des Umweltrates dürfte den berechtigten Interessen der Betreiber von Atomkraftwerken im Hinblick auf de- ren Vertrauen auf den Fortbestand der bisherigen Rechtslage getätigten Investitionen durch eine Ge- samtlaufzeit von etwa 25 bis 30 Kalenderjahren hin- reichend Rechnung getragen sein. Wer aus der Kernenergie aussteigt, muss Alternativen bieten. Das tun wir. Warten wir doch einmal die Aus- wirkungen des EEG ab, das seit wenigen Tagen in Kraft ist! Warten wir doch einmal ab, welche Auswirkungen unsere AKW-Regelungen haben werden, die wir in Kür- ze dem Bundestag vorstellen werden! Beides stellt die geeigneten Instrumente bereit, damit sich diese umwelt- verträglichen Energiesparten künftig auf dem Markt be- haupten können. Wir setzen alles daran, parallel zur Festlegung von Restlaufzeiten nachhaltige Stromver- sorgung durch erhöhte Energieeffizienz und die ver- stärkte Nutzung erneuerbarer Energieträger zu gewähr- leisten. Diesem Ziel dient unsere Gesetzgebung. Diesem Ziel dient aber auch die Arbeit der Energie-Enquete- Kommission. Spannend dabei ist wirklich die Haltung der CDU/CSU und der F.D.P. Wer sich die unterschiedlichen Äußerun- gen der Vertreterinnen und Vertreter dieser Parteien an- Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2000 9205 (C) (D) (A) (B) schaut, der muss den Eindruck gewinnen, hier werde nicht mehr gedacht, hier werde nur taktiert. Ich zitiere aus dem Angebot der Bundes-CDU im Internet: Um eine umweltschonende, effiziente Energiever- sorgung zu international wettbewerbsfähigen Preisen dauerhaft sicherzustellen, müssen wir auch in den nächsten Jahren auf einen Energiemix aus Öl, Gas, Kernenergie, Kohle und regenerativen Energien set- zen: Gleichzeitig muss die Effizienz beim Stromver- brauch gesteigert, elektrischer Strom mit immer höheren Wirkungsgraden erzeugt (beispielsweise durch den Ausbau der Blockheizkraftwerke) und ne- ben dem Ausbau der erneuerbaren Energien der Kraft-Wärme-Kopplung sowie der Erforschung und Entwicklung neuer Energietechnologien, wie der Kernfusion oder Brennstoffzelle, noch größeres Au- genmerk gewidmet werden. Wesentlicher Bestandteil einer nachhaltigen Ener- giepolitik ist die verstärkte Nutzung und Förderung regenerativer Energiequellen. Gerade die CDU hat sich stets konsequent für eine Steigerung des An- teils dieser Energieträger an der Energieversor- gung eingesetzt. Deutschland wurde unter der Re- gierungsverantwortung der CDU in Europa unbe- stritten zur Nummer 1 bei der Benutzung der Windenergie und gehört ebenso wie bei den ande- ren erneuerbaren Energiequellen gemeinsam mit den USA und Japan zu den führenden Nationen in der Welt. Erstens frage ich mich: Was hat die CDU eigentlich in den letzten Sitzungswochen getan, als sie sowohl dem Erneuerbare-Energien-Gesetz als auch aus der KWK- Schutzregelung die Zustimmung verweigert hat? Offen- sichtlich nimmt sie ihre eigene Programmatik nicht ernst. Jedenfalls muss sie sich sagen lassen, dass sie der Schaffung von Arbeitsplätzen, dem Klimaschutz und der Förderung neuer Technologien nicht gedient hat. Zweitens muss sie die Frage beantworten, warum sie gleichzeitig erneuerbare Energien fördern will, wenn sie nicht bereit ist, vorhandene Kraftwerke abzuschalten, obwohl wir schon heute ganz beachtliche Überkapazitä- ten haben. Noch schöner wird es in dem Beitrag der verbraucher- politischen Sprecherin der F.D.P., Frau Kopp, in der Zei- tung „Sieg-Tech“. Dort fordert sie vehement den Ausbau des Anteils der erneuerbaren Energien und lehnt gleich- zeitig eine Förderung ab. Wie – so frage ich mich – soll das denn gehen? Es wäre so, als wenn wir die Förderung der wissenschaftlichen Ausbildung fordern und gleichzei- tig das Geld für die Hochschulen streichen würden. Nein, so wird keine seriöse Energiepolitik gemacht. Wer eine nachhaltige, Ressourcen schonende und zugleich sichere Energiepolitik will, der muss zwei Dinge gleichzeitig tun. Er muss mit voller Kraft die erneuerbaren Energien, die Energieeffizienz und das Energieeinsparen fördern und zugleich den Ausstieg aus einer gefährlichen, nicht be- herrschbaren und umweltgefährdenden Stromerzeugung vollziehen. Dieses Ausstiegszenario muss allerdings durchdacht und entschädigungsfrei sein. Hierzu werden wir rechtzeitig einen entsprechenden Antrag vorlegen. Anlage 4 Amtliche Mitteilung ohne Verlesung Die Fraktion der F.D.P. hat mit Schreiben vom 23. März 2000 ihren Antrag China-Reise des Bundes- kanzlers muss Fortschritte bei den Menschenrechten bringen – Drucksache 14/1874 – zurückgezogen. Die Abgeordnete Jella Teuchner hat ihre Unterschrift zu dem Antrag Kunstprojekt im nördlichen Lichthof des Reichstagsgebäudes von Hans Haacke „Der Be- völkerung“ – Drucksache 14/2867 (neu) – zurückgezo- gen. Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit- geteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu der nachstehenden Vorlage absieht: Rechtsausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über den Verhandlungsstand des Menschen- rechtsübereinkommens zur Biomedizin (früher: Bioethik-Konvention) – Drucksachen 13/5435, 14/272 Nr. 14 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht zur Neuregelung der deutschen Rechtschrei-bung – Drucksachen 14/356, 14/430 Nr. 3 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Zweiter Produktpirateriebericht der Bundesregierung Bericht über die Auswirkung der durch das Gesetz zurStärkung des Schutzes des geistigen Eigentums und zurBekämpfung der Produktpiraterie (PrPG) vom 7. März 1990 (BGBl. S. 422) einführten neuen Maßnah-men zur Bekämpfung der Schutzrechtsverletzungen imBereich des geistigen Eigentums, insbesondere der Pro-duktpiraterie – Drucksachen 14/2111, 14/2410 Nr. 1 – Haushaltsausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 1999 Überplanmäßige Ausgaben beiKapitel 11 10 Titel 681 01 (Versorgungsbezüge für Be-schädigte in der Kriegsopferversorgung)Kapitel 11 10 Titel 681 02 (Versorgungsbezüge fürWit-wen und Witwer in der Kriegsopferversorgung)Kapitel 11 10 Titel 642 51 (Kriegsopferfürsorge undgleichartige Leistungen) – Drucksachen 14/2458, 14/2736 Nr. 3 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 1999 Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 14 03 Titel 547 01 – Maßnahmen der Bundeswehr im Zusammenhang mit internationalen – humanitären und sonstigen – Einsät- zen – – Drucksachen 14/2459, 14/2736 Nr. 4 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 2000 Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 14 02 – Allgemei-ne Bewilligungen – Titel 698 01 – Abgeltung von Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 20009206 (C) (D) (A) (B) Schadenersatzansprüchen Dritter, soweit es sich nichtum Ansprüche aus Übungsschäden handelt – – Drucksachen 14/2751, 14/2811 Nr. 2 – Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten – Unterrichtung durch die Bundesregierung Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserungder Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ für denZeitraum 1999 bis 2002 – Drucksache 14/1634 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die künftige Gestal-tung des Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ hier: Rahmenplan 2000 bis 2003 – Drucksache 14/1652 – Ausschuss für Kultur und Medien – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über die Maßnahmen zur Förderung des Kul-turarbeit gemäß § 96 Bundesvertriebenengesetz in denJahren 1997 und 1998 – Drucksachen 14/2312, 14/2555 Nr. 1.1 – Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU-Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäi- sche Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung abgesehen hat. AuswärtigerAusschuss Drucksache 14/2414 Nr. 2.10 Drucksache 14/2554 Nr. 2.7 Innenausschuss Drucksache 14/2554 Nr. 2.15 Finanzausschuss Drucksache 14/2609 Nr. 1.14Drucksache 14/2609 Nr. 1.17 Ausschuss fürWirtschaft und Technologie Drucksache 14/2554 Nr. 1.1 Drucksache 14/2554 Nr. 1.2 Drucksache 14/2554 Nr. 2.2 Drucksache 14/2554 Nr. 2.5 Drucksache 14/2554 Nr. 2.6 Drucksache 14/2554 Nr. 2.8 Drucksache 14/2554 Nr. 2.12 Drucksache 14/2554 Nr. 2.14 Drucksache 14/2609 Nr. 1.1 Drucksache 14/2609 Nr. 1.21 Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Drucksache 14/1708 Nr. 2.8 Drucksache 14/2952 Nr. 2.23 Drucksache 14/2952 Nr. 2.25 Drucksache 14/2952 Nr. 2.29 Ausschuss für Gesundheit Drucksache 14/1016 Nr. 2.18 Drucksache 14/2104 Nr. 2.13 Drucksache 14/2104 Nr. 2.20 Drucksache 14/2609 Nr. 1.22 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Drucksache 14/1579 Nr. 1.8 Drucksache 14/2414 Nr. 1.4 Drucksache 14/2414 Nr. 2.1 Drucksache 14/2554 Nr. 2.1 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2000 9207 (C) (D) (A) (B) Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin 53003 Bonn, Telefon: 02 28/3 82 08 40, Telefax: 02 28/3 82 08 44 20
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409800000
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

Auf der Ehrentribüne haben der Präsident des
Althings der Republik Island, Herr Halldór Blöndal,
und eine Abgeordnetendelegation Platz genommen. Sehr
geehrter Herr Präsident, liebe Kollegen aus dem Althing,
ich begrüße Sie im Namen der Mitglieder des Deutschen
Bundestages sehr herzlich in diesem Hause. Ihr Aufent-
halt in Deutschland ist ein Zeichen für die außerordentlich
freundschaftlichen, vertrauensvollen und warmherzigen
Beziehungen zwischen unseren Ländern. In Geschichte
und Gegenwart sind wir durch Handel und Wandel, Kul-
tur und Politik auf mannigfaltige Weise miteinander
verbunden und fühlen trotz geographischer Entfernung
einander sehr nahe. Mögen wir uns auf dieser festen
Grundlage gemeinsam und gemeinschaftlich den Heraus-
forderungen unserer Zukunft stellen. Seien Sie versichert,
dass wir deutschen Parlamentarier daran nach besten
Kräften mitwirken wollen! Herzlich willkommen!


(Beifall)

Zu Beginn der Plenarsitzung möchte ich dem Bundes-

kanzler a. D. Dr. Helmut Kohl namens des Hauses noch
zu seinem 70. Geburtstag gratulieren und ihm die besten
Glückwünsche aussprechen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Ebenso gratuliere ich nachträglich dem Kollegen
Gottfried Haschke und dem Kollegen Heinrich Fink
jeweils zum 65. Geburtstag sowie dem Kollegen Erwin
Marschewski zur Vollendung seines 60. Lebensjahres
und wünsche allen dreien herzlich alles Gute.


(Beifall)

Sodann teile ich mit, dass für den verstorbenen Kolle-

gen Gert Willner der Kollege Helmut Lamp am 28.März
die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben
hat. Herzlich willkommen, lieber Kollege!


(Beifall)


Für den Abgeordneten Klaus Wolfgang Müller (Kiel),
der am 31. März auf seine Mitgliedschaft im Deutschen
Bundestag verzichtet hat, hat die Kollegin Grietje Bettin
am 3. April die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag
erworben. Ich begrüße die neue Kollegin sehr herzlich.


(Beifall)

Weiterhin teile ich mit, dass der frühere Kollege Ernst

Schwanhold als ordentliches Mitglied aus dem Gemein-
samen Ausschuss gemäß Art. 53 a des Grundgesetzes aus-
scheidet. Die Fraktion der SPD schlägt als Nachfolger den
Kollegen Norbert Wieczorek, der bisher stellvertreten-
des Mitglied war, und als neues stellvertretendes Mitglied
den Kollegen Ditmar Staffelt vor. Sind Sie damit einver-
standen? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann sind der
Kollege Wieczorek als ordentliches und der Kollege Staf-
felt als stellvertretendes Mitglied im Gemeinsamen Aus-
schuss bestimmt.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sollen in der
kommenden Sitzungswoche keine Befragung der Bun-
desregierung und keine Fragestunde stattfinden, da am
Mittwoch wegen der erst am Nachmittag beginnenden
Ausschusssitzungen keine Plenarsitzung möglich ist.

Außerdem ist interfraktionell vereinbart worden, die
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:

1 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU: Kosovo-
Politik überprüfen und weiterentwicklen – Drucksache
14/3093 – (97. Sitzung)

Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsausschuss

2 Aktuelle Stunde auf der Verlangen der Fraktion der
CDU/CSU: Anweisung des Bundesministers Müller, die
Höhe des Briefportos bis Ende 2002 beizubehalten,
obwohl die Regulierungsbehörde für Telekommunikati-
on und Post eine 15-prozentige Absenkung wollte

(97. Sitzung)


9079


(C)



(D)



(A)



(B)


98. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 6. April 2000

Beginn: 9.00 Uhr

3 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Be-
schäftigungspolitischer Aktionsplan der Bundesregie-
rung Deutschland 2000 –Drucksache 14/2950 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus


(Ergänzung due TOP 14)

mung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 29. November 1996
aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische
Union betreffend die Auslegung des Übereinkommens über
den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Ge-
meinschaften durch den Gerichtshof der Europäischen Ge-

(EG-Finanzschutz-Auslegungsprotokollgesetz)

– Drucksache 14/2120 –

(Erste Beratung 76. Sitzung) Beschlussempfehlung und

Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 14/3092 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Winfried Mante
Dr. Susanne Tiemann
Hans-Christian Ströbele
Rainer Funke

5 Beratung des Antrags Dr. Mathias Schubert, Christian
Müller (Zittau), Dr. Ditmar Staffelt, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Margareta Wolf (Frankfurt), Kerstin Müller (Köln), Rezzo
Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Stärkung von Absatz und Export der ostdeutschen Wirt-
schaft –Drucksache 14/3094
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut

(Plauen, Ulrich Irmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Agrarpolitische Entwicklungszusammenarbeit fördern – Drucksache 14/3102 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gebe ich noch das endgültige Ergebnis der gestern Abend durchgeführten namentlichen Abstimmung zu dem Antrag „Kunstprojekt im nördlichen Lichthof des Reichstagsgebäudes von Hans Haacke „Der Bevölkerung“, Drucksache 14/ 2867 durch die Schriftführer sehr knapp war, ist gestern Abend ausdrücklich nur das vorläufige Ergebnis bekannt gegeben worden. Eine erneute Auszählung hat ergeben, dass das gestern Abend mitgeteilte Ergebnis absolut korrekt war. Es wurden 549 Stimmen abgegeben. Mit Ja haben 258 Abgeordnete gestimmt, mit Nein haben 260Abgeordnete gestimmt, es gab 31 Enthaltungen. Der Antrag ist damit abgelehnt worden. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c sowie Zusatzpunkt auf: 5 a)


(Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen)

gebnisse der Sondertagung des Europäischen Rates
vom 23./24. März 2000 in Lissabon

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuss)

– zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
BeschäftigungspolititischerAktionsplan derBundesre-
publik Deutschland (April 1999)

– zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Schnieber-
Jastram, Dr. Maria Böhmer, Karl-Josef Laumann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Ausbildung, Qualifizierung und Arbeit für junge Men-
schen
– Drucksachen 14/1000, 14/1011, 14/2596 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Nahles

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus Grehn,
Ulla Lötzer, Uwe Hiksch, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS
Die Weichen für eine neue Vollbeschäftigung in Euro-
pa stellen
– Drucksache 14/3030 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union

ZP 3 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
BeschäftigungspolititischerAktionsplan derBundesre-
publik Deutschland 2000
– Drucksache 14/2950 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus

Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie der Fraktion
der CDU/CSU vor. Nach einer interfraktionellen Verein-
barung sind für die Aussprache im Anschluss an die
Regierungserklärung zwei Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch: Dann ist es so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland,
Gerhard Schröder.


Gerhard Schröder (SPD):
Rede ID: ID1409800100
Sehr geehrter
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Der Europäische Rat von Lissabon setzt die Reihe erfolg-
reicher europäischer Gipfeltreffen der letzten Zeit fort.
Lissabon hat deutlich gemacht: Die Europäische Union ist
willens und imstande, den Wandel von der Industriege-
sellschaft zur Wissens- und Informationsgesellschaft
wirtschafts- und gesellschaftspolitisch nicht nur hinzu-
nehmen, sondern aktiv zu gestalten. Die Chancen, die




Präsident Wolfgang Thierse
9080


(C)



(D)



(A)



(B)


dieser Wandel für Wachstum und Beschäftigung eröffnet,
werden wir wahrnehmen.

Aus der Sicht der Bundesregierung ist besonders er-
freulich, dass bei den europäischen Partnern Einigkeit be-
steht: Es gibt einen europäischen Weg in die Wissens- und
Informationsgesellschaft und dieser Weg ist der Weg ei-
ner Teilhabegesellschaft,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


also ein Weg, den die gesamte Gesellschaft mitgehen
kann. Das ist einer der Gründe dafür, warum wir in Lissa-
bon der Auffassung waren, dass die angeblich bestehen-
de Kluft von der gelegentlich zu hören war, zwischen
ökonomischer Effizienz auf der einen Seite und sozialer
Ausgewogenheit sowie sozialem Zusammenhalt auf der
anderen Seite, bei Licht betrachtet nicht besteht, jedenfalls
nicht bestehen darf. Darum ist es die gemeinsame Auf-
fassung der europäischen Regierungen, man müsse diesen
Weg als europäischen Weg, als einen Weg der ökonomi-
schen Vernunft und des sozialen Ausgleichs gemeinsam
gehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In Lissabon hat die Europäische Union ein neues stra-
tegisches Ziel formuliert. Wir, die Europäer, wollen im
kommenden Jahrzehnt, was die Wettbewerbsfähigkeit
und die Dynamik betrifft, unseren Binnenmarkt zum
stärksten Wirtschaftsraum der Welt machen. In diesem
Sinne haben wir in Lissabon beschlossen, uns auf die
wichtigsten Handlungsfelder zu konzentrieren.

Erstens. Wir wollen und wir werden den Fortschritt, den
die Industriegesellschaft durch Information und Kommu-
nikation machen kann, so gestalten, dass er den Men-
schen in Europa in ihrer täglichen Existenz, in ihrer Ar-
beitswelt zugute kommt. Wir werden dafür sorgen, dass
dieser Fortschritt – übrigens genauso wie seinerzeit der
Fortschritt von der Agrar- zur Industriegesellschaft – zu
mehr Wohlstand und zu einer besseren Lebensqualität für
die Menschen in Europa führt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Auf nationaler Ebene setzt die Bundesregierung in die-
sem Sinne das Aktionsprogramm „Innovation und
Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des
21. Jahrhunderts“ um und arbeitet mit derWirtschaft in
der Initiative D 21 zusammen. Durch dieWirtschafts- und
Beschäftigungspolitik der Bundesregierung zusammen
mit der InitiativeD21 ist es uns bereits 1999 gelungen, die
Ausbildungsplätze für junge Leute im Bereich der Infor-
mations- undKommunikationstechnologienvon seinerzeit
13 000 auf 30 000 zu steigern. Das ist eine Leistung, die
aus der Gemeinsamkeit zwischenBundesregierung einer-
seits und einschlägiger Wirtschaft andererseits resultiert.
Das ist imÜbrigen eine Leistung, die wir in unser aller In-
teresse, auch im Interesse der ökonomischen Entwick-
lung, noch steigern müssen und steigern werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN )


Schon in diesem Jahr – so die Festlegungen der ausbil-
denden Wirtschaft in diesem Bereich – wird die Zahl der
eigentlich erst für 2002 vorgesehenen Ausbildungsplät-
ze in einer Größenordnung von 40 000 – ich vermerke: in
den Betrieben – erreicht werden können. Aber auch damit
können und dürfen wir uns nicht zufrieden geben, und das
ist der Grund, warum wir in der Initiative D 21 gemein-
sam beschlossen haben, die Zahl der betrieblichen Aus-
bildungsplätze bis spätestens 2003 – möglicherweise
schaffen wir es bis zum Ende des Jahres 2002 – auf ins-
gesamt 60 000 zu steigern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Damit schließen wir – oder helfen wir zu schließen – ei-
ne Qualifizierungslücke, die ohne Zweifel bestand und be-
steht und für die man ohne jeden Zweifel keineswegs nur
die Politik verantwortlich machen kann und darf, sondern
für die man vor allem diejenigen verantwortlich machen
muss, die in der Vergangenheit in den Betrieben zu wenig
ausgebildet haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dass es da Defizite gegeben hat, kann man ohne falsche
Polemik feststellen; das wird von der ausbildenden Wirt-
schaft genauso gesehen. Deshalb ist es auch die gemein-
same Aufgabe, die Zahl der Ausbildungsplätze in diesem
Bereich in dieser Deutlichkeit und in dieser Schnelligkeit
dramatisch zu erhöhen. Wir werden das tun.

In diesem Zusammenhang ist es dann wenig hilfreich,
wenn aus sehr durchsichtigen Wahlkampfgründen der
Versuch gemacht wird, eine zwischenzeitlich bestehende
Notwendigkeit in der Weise, wie das Herr Rüttgers tut, zu
diffamieren.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie es
mich klar sagen: Diese Art des Umgangs mit diesem The-
ma ist nicht nur in höchstem Maße unanständig, sie ist
auch wirtschaftsfeindlich. Das muss man in aller Deut-
lichkeit hinzufügen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Sagen Sie lieber was zu Europa!)


Sie ist wirtschaftsfeindlich deshalb – und es wird Sie auch
in der Wirtschaft isolieren, wenn Sie so weiter machen –,
weil wir wegen der Versäumnisse in der Vergangenheit


(Michael Glos [CDU/CSU]: Genau, Sie reden wie einer von der Deutschen Bank gestern!)


diese Menschen für eine gewisse Zeit brauchen und des-
halb alles tun werden, um erstklassige Leute her zu be-
kommen, weil wir wissen, dass an jedem dieser hoch
qualifizierten Menschen zwischen drei und fünf weitere
Arbeitsplätze hängen können, die wir zur Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit in Deutschland dringend brauchen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Bundeskanzler Gerhard Schröder

9081


(C)



(D)



(A)



(B)


Deshalb ist es – ich sage es noch einmal – nicht nur un-
moralisch, sondern auch wirtschaftsfeindlich und ein Ver-
stoß gegen das Ziel der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit,
wenn in der Art und Weise, wie das geschieht, mit diesem
Thema umgegangen werden soll.

Im Übrigen wird der Entwurf für die einschlägige Ver-
ordnung, die wir machen müssen, um – ich sage es noch
einmal – auf Zeit hoch qualifizierte Menschen zu uns zu
bekommen, in den Ministerien fertig gestellt. Sie wird
dann innerhalb der Initiative D 21 besprochen werden,
weil wir die bisherigen Erfahrungen, die man in der Wirt-
schaft mit der Anwerbung hoch qualifizierter Fachkräfte
aus dem Ausland gemacht hat, in die endgültige Fassung
der einschlägigen Verordnung einbeziehen wollen und
einbeziehen werden.

Ich hoffe deshalb, dass diejenigen, von denen ich ja
weiß, dass es sie auch in der Opposition gibt, vor allen
Dingen in der Union, die Oberhand gewinnen, die genau
wissen, dass wir dies auf Zeit brauchen und dass es des-
halb gegen die eigenen Interessen verstößt, wenn man der-
artige Kampagnen, wie sie dort gemacht worden sind, fort-
setzt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aus dem, was wir vorzuweisen haben, wird deutlich, dass
wir dabei sind, die Qualifizierungslücke zu schließen,
übrigens nicht nur auf dem Ausbildungssektor, sondern
auch und ausdrücklich auf dem Weiterbildungssektor.Es
ist völlig klar, dass es gemeinsame Aufgabe von Politik
und Wirtschaft ist, diejenigen, die in anderen Berufen kei-
ne zureichenden Chancen haben und qualifizierbar sind,
auch so zu qualifizieren, dass sie neue Chancen auf dem
neuen Arbeitsmarkt erwerben und diese auch nutzen kön-
nen. Dieser Aspekt wird ebenfalls völlig zu Recht betont.
Er wird von uns ins Auge gefasst und realisiert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diese Ansätze, die wir in Deutschland machen, sind bei
den europäischen Partnern auf großes Interesse gestoßen.
Sie finden sich deshalb auch in den Schlussfolgerungen
des Rates wieder. Der Europäische Rat hat sich im Übri-
gen darauf verständigt, den rechtlichen Rahmen für den
elektronischen Geschäftsverkehr rasch, das heißt, noch in
diesem Jahr, zu vervollständigen. Die Rechtsakte zu Ur-
heberrechten und verwandten Schutzrechten, zum
elektronischen Geld und zum Fernabsatz von Finanz-
dienstleistungen werden vom Rat vorangebracht und in
kürzester Zeit realisiert werden.

Im Bereich der Telekommunikation haben wir in Lis-
sabon vereinbart, den Wettbewerb auch bei den Ortsan-
schlussnetzen zu intensivieren, übrigens nicht nur, damit
man billiger telefonieren kann, sondern vor allen Dingen,
um zur Kostensenkung bei der Internetnutzung beitragen
zu können. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt dessen, was
in Lissabon diskutiert und beschlossen worden ist. Libe-
ralisierung und Integration des Telekommunikations-
marktes sollen bis Ende des Jahres 2001 in Europa, im Eu-
ropa der 15 abgeschlossen sein.

Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben
sich das Ziel gesetzt, dass die wichtigsten öffentlichen
Funktionen für die Bürgerinnen und Bürger und natürlich
auch für die Wirtschaft bis zum Jahre 2003 online ver-
fügbar sind. Ich bin sicher, meine Damen und Herren, die-
se Initiative wird nicht nur die Effizienz der öffentlichen
Verwaltung verbessern, sondern auch ein weiterer, und
zwar bürgernaher – wenn Sie so wollen: kundenfreundli-
cher –, Ansatz sein, um die Onlinekommunikation nicht
nur in Deutschland, sondern auch in Europa überhaupt zu
nutzen.

Zweitens. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Uni-
on sind sich darin einig, dass die Wachstums- und Be-
schäftigungspotenziale einer Wissensgesellschaft auf
Dauer dann und nur dann genutzt werden können, wenn
wir Europäer bei der Forschung und Entwicklung erst-
klassig sind. Im Vergleich zu anderen gibt es in Europa De-
fizite. Wir werden diese Defizite abbauen. Deshalb wer-
den in diesem Bereich die nationalen und europäischen
Anstrengungen zu bündeln und auf europäischer Ebene zu
koordinieren sein. Auch das ist ein Ergebnis der Diskus-
sion von Lissabon.

Wir wollen einen großen europäischen Forschungs-
raum. Wir wollen hoch qualifizierte Forscher dauerhaft
für Europa gewinnen. Sie sehen, meine Damen und Her-
ren, auch auf diesem Sektor sind die Europäer dabei, sich
zu öffnen, weil sie wissen, dass wir den weltweiten Aus-
tausch der qualifizierten Forscher brauchen, um unsere ei-
gene Entwicklung, auch unsere eigene wirtschaftliche
Entwicklung, voranbringen zu können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Natürlich braucht man dazu eine entsprechende Infra-
struktur. Im Bereich der Infrastrukturausstattung wird
deshalb mit Unterstützung der Europäischen Investiti-
onsbank ein hochleistungsfähiges Datennetz aufgebaut
werden, das wissenschaftliche Einrichtungen in Europa
miteinander verbindet, also vernetzt. Gerade Deutsch-
land, das mit dem Deutschen Forschungsnetz bereits her-
vorragend positioniert ist, hat ein nachhaltiges Interesse
daran, die Einbindung dieses Netzes in einen leistungs-
starken europäischen Verbund zu schaffen.

Zur Förderung der privaten Forschungs- und Entwick-
lungsanstrengungen werden wir ein Gemeinschaftspa-
tent einführen, dessen rechtliche Voraussetzungen nach
den Beschlüssen von Lissabon bis Ende 2001 geschaffen
werden sollen.

Wichtig für private Forschungs- und Entwicklungsan-
strengungen gerade junger, innovativer Unternehmen ist
ebenso die Bereitstellung von Risiko-, besser: Wagniska-
pital. In diesem Zusammenhang begrüße ich ausdrücklich
die Bereitschaft der Europäischen Investitionsbank, eine
weitere Milliarde Euro für Wagnisfinanzierung zur Ver-
fügung zu stellen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Drittens. Der Europäische Rat hat noch einmal betont,
dass weitere Wirtschaftsreformen notwendig sind, um den
Binnenmarkt zu dynamisieren. Er hat dazu aufgerufen, die




Bundeskanzler Gerhard Schröder
9082


(C)



(D)



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(B)


Liberalisierung in den Bereichen Gas, Strom, Postdienste
und Verkehr zu beschleunigen. Ich halte es für eine der
ganz großen Leistungen der portugiesischen Präsident-
schaft, insbesondere von Premierminister Guterres, in
diesem zweifellos schwierigen Punkt Einvernehmen je-
denfalls über den Grundsatz einer weiteren Liberalisie-
rung herbeigeführt zu haben. Wir, die Deutschen, haben
in diesem Bereich vor dem Hintergrund dessen, was ge-
leistet worden ist, weniger Schwierigkeiten als andere.
Aber die Schwierigkeiten anderer sind angesprochen und
durch den Beschluss von Lissabon auch weitgehend über-
wunden worden.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang sagen, dass
ich von den Mitgliedstaaten und auch von der Kommis-
sion Verständnis dafür erwarte, dass die Bundesregierung
nicht tatenlos zusehen kann, wenn gewachsene und be-
währte – ich betone ausdrücklich: bewährte – Strukturen
öffentlicher Daseinsvorsorge in Deutschland im Zuge
europäischer Integration zur Disposition gestellt werden.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der PDS)


Sie wissen, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass
die Frage öffentlich-rechtlicher Kreditinstitute und auch
des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auf der Tagesord-
nung der Europäischen Kommission steht. Es nutzt nun
wenig, gegen die Vorstellungen der Kommission zu pole-
misieren. Das Einzige, was hilft, ist, der Kommission und
übrigens auch den Mitgliedstaaten, die eine andere ver-
fassungsrechtliche Situation als wir haben, am Ende deut-
lich zu machen, dass und warum wir diese Strukturen
brauchen und warum das Vorhalten öffentlich-rechtlicher
Strukturen nichts mit Beihilfepolitik, sondern mit einer
vernünftigen Versorgung mit Dienstleistungen dieser Art
auch und gerade in der Fläche zu tun hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Christa Luft [PDS])


Ich habe deshalb die Kommission, die das Verhältnis
von Binnenmarkt und öffentlicher Daseinsvorsorge bereits
in einer Mitteilung von 1996 aufgegriffen hatte, gebeten,
diese Mitteilung im Lichte des Amsterdamer Vertrages zu
aktualisieren. Der Europäische Rat hat auf meine Bitte hin
eine entsprechende Aufforderung an die Kommission
zum Ausdruck gebracht. In den jetzt beginnenden Arbei-
ten über die Erneuerung dieser Mitteilung werden wir
dafür zu sorgen haben, dass die deutsche Position so weit
wie irgend möglich eingebracht und verständlich gemacht
wird. Wir werden das tun, meine Damen und Herren, weil
wir davon überzeugt sind, dass auch und gerade auf dem
Kreditsektor die Mischung aus privatwirtschaftlicher und
öffentlich-rechtlicher Versorgung eine vernünftige
Mischung ist, die wir nicht zuletzt brauchen, damit auf die-
sem Sektor „kleinere“ Kunden und vor allen Dingen die
kleinen und mittleren Unternehmen in optimaler Weise
mit Finanzdienstleistungen versorgt werden können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Angesichts der Globalisierung auf den Finanzmärk-
ten und entsprechender, nicht immer gelingender Strate-
gien der privaten Banken auf diesem Felde


(Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist wahr! Das kann man wohl sagen!)


glaube ich, dass es eine Renaissance insbesondere der
Sparkassen in Deutschland geben kann,


(Beifall des Abg. Michael Glos [CDU/CSU])

weil sie kundennah agieren und weil sie von alters her die
Versorgung insbesondere der kleinen und mittleren Ge-
werbetreibenden, aber auch der kleineren privaten Kun-
den in durchaus optimaler Form geleistet haben.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der PDS)


Was für die Sparkassen gilt, gilt ebenso für die Genos-
senschaftsbanken.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Diese beiden Einrichtungen werden, so glaube ich, gera-
de vor dem Hintergrund der Globalisierung und der Stra-
tegien der großen Kreditinstitute, die damit verbunden
sind, eine immer wichtiger werdende Aufgabe in der Ver-
sorgung und vor allem in der flächendeckenden Präsenz
in Deutschland erhalten.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Wo er Recht hat, hat er Recht!)


Deswegen hoffe ich, dass wir in dieser Frage mit der
Kommission und mit denen, die andere staatsrechtliche
Verfasstheiten haben und deswegen für diese Probleme
nicht von vornherein sensibilisierbar sind, eine gemein-
same Position entwickeln können. Aber auch innerhalb der
Phalanx der Bundesländer müssen wir eine gemeinsame
Position entwickeln, um deutlich zu machen, dass das,
worum es hier geht, im gemeinsamen Interesse des Deut-
schen Bundestages und des Bundesrates ist. Das würde
die Position der Bundesregierung stärken. Ich bin guten
Mutes, dass sich in dieser Frage eine Gemeinsamkeit in
der europäischen Politik erzielen lässt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Viertens. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union
sind sich einig, dass gerade angesichts guter Wachstums-
aussichten eine aktive Politik der Haushaltskonsolidie-
rung notwendig und auch möglich ist. Das Zukunfts-
programm der Bundesregierung schafft mit der Konsoli-
dierung der Staatsfinanzen und mit einer Steuerpolitik, die
Familien, die Arbeitnehmer und die Wirtschaft entlastet,
die Voraussetzungen für ein kräftiges Wirtschaftswachs-
tum und damit für neue Arbeitsplätze.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist der Grund, warum das Zukunftsprogramm, erstellt
vor allem vom Bundesfinanzminister, im Kreise unserer
europäischen Partner große Unterstützung findet. Diese
Unterstützung geht weit über die hinaus, die von der
Opposition hier im Hohen Hause zu erwarten ist.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)





Bundeskanzler Gerhard Schröder

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(C)



(D)



(A)



(B)


Fünftens. Im Europäischen Rat ist es gemeinsames
Ziel, eine Spaltung der Gesellschaften zu verhindern. Wir
wollen kein Europa der zwei Klassen: die eine mit Zugang
zu den neuen Informations- und Kommunikationsange-
boten und die andere, die diesen Zugang nicht hat. Diese
Spaltung nicht nur in Europa, sondern auch in Deutsch-
land dürfen wir nicht zulassen. Deshalb müssen wir die
Anstrengungen in Bezug auf Ausbildung und Bildung
kontinuierlich verstärken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Alle Schüler – ich betone das Wort „alle“ –, aber auch
andere Personen sollten so früh wie möglich den Umgang
mit dem Medium Internet einüben können. Deshalb haben
wir in Deutschland gemeinsam mit der Wirtschaft die Ini-
tiative „Schulen ans Netz“ auf den Weg gebracht. Der
Europäische Rat hat auch in diesem Punkt die Politik der
Bundesregierung bestätigt und unterstützt. Die europa-
weite Mobilität von Schülern, Studenten und Lehrern soll
gefördert werden. Hierzu sind bereits bestehende Ge-
meinschaftsprogramme zu nutzen. Daneben geht es aber
auch um die Verbesserung bei der Anerkennung von Ab-
schlüssen im Studium und in der Ausbildung.

Eine weitere Zielsetzung ist es, die Zahl der Jugendli-
chen, die nach dem Schulabschluss weder eine Berufs-
noch eine weiter führende Schulausbildung durchlaufen,
so schnell wie möglich zu halbieren. Insbesondere dank
des für andere Mitgliedstaaten vorbildlichen dualen Aus-
bildungssystems kann Deutschland bei der Berufsausbil-
dung der Jugendlichen weit überdurchschnittliche Erfol-
ge aufweisen.

Auch das gilt es noch einmal zu unterstreichen: Die Tat-
sache, dass wir – nicht zuletzt durch das Programm der
Bundesregierung – im letzten Jahr unsere Ausbildungs-
anstrengungen so verstetigt und ausgeweitet haben, hat da-
zu geführt, dass Deutschland Gott sei Dank den Spitzen-
platz bei der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ein-
nimmt. Dies ist, wie ich finde, eine Leistung, die sich
sehen lassen kann und die es lohnt, hier im Hohen Hause
immer wieder zu unterstreichen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Natürlich war mir bei den Beratungen über diesen
Punkt in Lissabon immer gegenwärtig, dass die Fragen der
Schul- und der weiterführenden Bildung in Deutschland
Fragen sind, die im Wesentlichen nicht vom Bund ent-
schieden werden. Alle Aufforderungen – natürlich aus
Furcht vor den Gewaltigen aus Bayern – wir müssten bei
den Beratungen in Lissabon aufpassen, nicht die Kultur-
hoheit der Länder zu gefährden, waren mir immer gegen-
wärtig. Herr Glos, nicht Sie, aber die denkbaren Auffor-
derungen waren mir immer gegenwärtig.

Deshalb findet sich in den Schlussfolgerungen des Eu-
ropäischen Rates auch der von Deutschland erbetene Hin-
weis, dass die Mitgliedstaaten den an sie gerichteten Auf-
forderungen in diesem Sektor selbstverständlich nur im
Rahmen ihrer verfassungsrechtlichen Vorschriften nach-
kommen können und sollen. Sagen Sie das also in Mün-
chen und anderswo: Sie dürfen es machen, aber Sie müs-
sen es auch bezahlen.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sechstens. Der Europäische Rat hat dazu aufgefordert,
wir sollten uns im Rahmen des so genannten Luxemburg-
Prozesses auf die Verbesserung der Beschäftigungsfähig-
keit, auf lebenslanges Lernen, auf den Ausbau der Be-
schäftigung im Dienstleistungsbereich und auf die För-
derung der Chancengleichheit konzentrieren.

Gemeinsames mittelfristiges Ziel einer Beschäfti-
gungspolitik mit exakt diesen Schwerpunkten ist die
Erhöhung der Beschäftigungsquote, die nach den Verein-
barungen von Lissabon möglichst nahe an 70 Prozent he-
rangeführt werden soll. Dabei ist selbstverständlich die je-
weilige nationale Ausgangslage zu berücksichtigen. Die-
ses sehr ambitionierte Zukunftsprogramm von Lissabon
wird der Europäische Rat alljährlich im Frühjahr auf ei-
ner gesonderten Tagung zu Wirtschafts- und Sozialfragen
überprüfen und aktualisieren. Das ist, wenn Sie so wollen,
ein Beschluss über das notwendige Controlling.

Das in Lissabon formulierte strategische Ziel kann
nach meiner Auffassung erreicht werden, wenn die An-
strengungen auf der europäischen Ebene mit entspre-
chenden Anstrengungen auf der Ebene der Mitgliedstaa-
ten einhergehen. Wenn wir die Beschlüsse von Lissabon
konsequent umsetzen, schaffen wir die Voraussetzung für
eine nachhaltige Steigerung von Wachstum und als Folge
dessen selbstverständlich auch von Beschäftigung. Ein
durchschnittliches Wachstum in der Europäischen Union
von etwa 3 Prozent ist dann eine realistische Aussicht für
die kommenden Jahre.

Gewiss ist der Hinweis, man könne Wachstum nicht
verordnen, nicht falsch. Aber wir haben deutlich gemacht,
dass wir die Handlungsmöglichkeiten und die Hand-
lungsnotwendigkeiten der Politik auf europäischer wie auf
nationaler Ebene entschlossen an diesem Ziel orientieren
wollen. Die Chancen dafür sind gut.

Für die Euro-Zone hat der Internationale Währungs-
fonds seine Wachstumsschätzung für dieses Jahr von bis-
lang 2,8 Prozent bereits auf 3,2 Prozent heraufgesetzt. Der
IWF sieht darüber hinaus für Europa gute Möglichkeiten
für eine Phase lang anhaltenden Wirtschaftswachstums.

Auch und gerade in Deutschland hat sich die konjunk-
turelle Entwicklung verstetigt und an Dynamik gewonnen.
Die Prognosen der Forschungsinstitute gehen für dieses
Jahr von einem Wirtschaftswachstum von bis zu 2,7 Pro-
zent aus. Es gibt sogar Institute, die mit einem höheren
Wachstum rechnen.

Besonders wichtig dabei ist: Der konjunkturelle Auf-
schwung hat jetzt endlich den Arbeitsmarkt erreicht. Im
März hat sich die positive Entwicklung der vergangenen
fünf Monate fortgesetzt. Wie schon im Februar sind auch
im März die Arbeitslosenzahlen auf dem niedrigsten
Stand seit 1996, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Mit 4,14 Millionen registrierten Arbeitslosen gab es im
März 136 000 Arbeitslose weniger als im Februar. Das
Vorjahresniveau, ist damit um 148 000 deutlich unter-




Bundeskanzler Gerhard Schröder
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(D)



(A)



(B)


schritten. Die Arbeitslosenquote ist auf 10,6 Prozent
gefallen. Sie ist in den vergangenen Monaten kontinuier-
lich gesunken. Gleichzeitig ist die Erwerbstätigkeit im
Januar 2000 – über neuere Daten verfügen wir noch
nicht – saisonbereinigt um 37 000 gestiegen. Die positive
Entwicklung der Vormonate hat sich damit verstärkt.
Auch im Vorjahresvergleich gibt es heute 20 000 Er-
werbstätige mehr. Dies ist eine Entwicklung, meine sehr
verehrten Damen und Herren, die auch die Opposition an-
erkennen und nicht kaputtreden sollte.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In Westdeutschland sind die Auswirkungen des Auf-
schwungs auf die Beschäftigung schon deutlich zu
spüren. Die Zahl der Arbeitslosen wird im Vergleich zum
Vorjahresmonat um mehr als 200 000 unterschritten und
beträgt damit noch 2 691 000. Ich sage es noch einmal:
Das ist seit fünf Jahren der niedrigste März-Wert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Auf der anderen Seite haben wir zu beklagen, dass sich
diese Entwicklung in Ostdeutschland leider noch nicht
eingestellt hat. Die Zahl der Arbeitslosen ist im Vergleich
zum Februar zwar um 30 000 gesunken, im Vorjahres-
vergleich aber um 59 000 gestiegen. Niemand bedauert
das mehr als die Bundesregierung. Es ist aber auch wich-
tig, diese Zahl richtig zu bewerten, damit nicht die
falschen Schlüsse daraus gezogen werden.

Ich möchte deshalb auf eines hinweisen: Die Zahl der
Teilnehmer an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen,
ABM, Weiterbildungs- oder Strukturanpassungsmaß-
nahmen, in Ostdeutschland ist im März dieses Jahres im
Vergleich zum März 1999 um mehr als 155 000 gesunken.
Man kann die Arbeitslosigkeit – ich sage es noch einmal
–, die in Ostdeutschland bedauerlich hoch ist, überhaupt
nur richtig einschätzen, wenn man sich diese Zahl und die
Gründe für diese Entwicklung vor Augen führt.

Was ist passiert, meine Damen und Herren? Die Re-
gierung meines Vorgängers Herr Kohl hat gegen Ende ih-
rer Amtszeit aus für den einen oder anderen durchschau-
baren Motiven massiv die Arbeitsbeschäftigungsmaß-
nahmen im Osten ausgeweitet. Heute, nachdem die
Wahlkampf-ABM ausgelaufen sind


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Unverschämtheit!)


– so ist das gewesen, meine Damen und Herren –,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

spüren wir die Nachwirkungen dieser kurzatmigen und im
Übrigen ziellosen Politik.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Chefsache!)


Die Maßnahmen haben den beteiligten Menschen gerade
keine dauerhafte Perspektive eröffnet.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)


Wir hingegen verstetigen die aktive Arbeitsmarktpolitik
auf einem hohen Niveau und werden damit den Men-
schen mit wirksamen Maßnahmen auch auf Dauer eine
Perspektive und eine echte Chance geben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Finanz-, die Wirtschaftspolitik und die Verstetigung
in diesem Sektor werden – ich bin da zuversichtlich – da-
zu führen, dass die konjunkturelle Aufwärtsentwicklung
die Lage auf dem ersten Arbeitsmarkt, um den es in erster
Linie geht, auch in Ostdeutschland verbessert und dass die
Arbeitslosenquote auch in Ostdeutschland sinken wird.

Wie sehen die Perspektiven für den weiteren Jahres-
verlauf aus? Die konjunkturelle Belebung aus dem letz-
ten Quartal 1999 setzt sich zu Beginn dieses Jahres fort.
Die Dynamik des Aufschwungs nimmt weiter zu. Das
wirtschaftliche Umfeld stimmt. Investoren und Konsu-
menten hegen positive Erwartungen. Dass diese Ent-
wicklung die Opposition noch nicht ganz erreicht hat, ist
schade,


(Dr. Peter Struck [SPD]: Ist auch egal!)

aber wohl kurzfristig nicht zu ändern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – HansPeter Repnik [CDU/CSU]: Noch nicht einmal die eigene Truppe kann er begeistern!)


Die Tarifpartner in der Chemieindustrie, in der Bau-
wirtschaft genauso wie in der Metallindustrie haben übri-
gens im Sinne der Vereinbarungen des Bündnisses fürAr-
beit Tarifverträge abgeschlossen. Zu dieser Entwicklung
ein Wort: Aus Ihren Reihen, meine Damen und Herren von
der Opposition, insbesondere von der kleineren Opposi-
tionspartei


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Der PDS?)

– nein, ich habe nicht die PDS gemeint, Herr Repnik, son-
dern die F.D.P.; die gibt es auch noch –, habe ich, was die
Beratungen des Bündnisses für Arbeit und dessen Funk-
tion angeht, ein Jahr lang nur Häme gehört.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie gleichermaßen politischen Verstand und die
Bereitschaft zur Selbstkritik hätten, würden Sie sich hier
einmal hinstellen und sagen: Wir haben nicht Recht
gehabt. – Es ist völlig unverkennbar, dass nicht nur, aber
dass auch die Beratungen des Bündnisses für Arbeit – so
die Einlassungen aller Beteiligten – mit dazu beigetragen
haben,


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ist es!)


dass wir im Bereich der Metallindustrie, der Chemiein-
dustrie und der Bauwirtschaft gesamtwirtschaftlich ver-
tretbare, vernünftige Tarifabschlüsse bekommen haben,
die die Aufschwungtendenzen in Deutschland kräftigen
werden und deshalb positive Wirkungen auf dem Ar-
beitsmarkt hervorrufen werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Bundeskanzler Gerhard Schröder

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Es wäre deshalb ganz im Sinne der weiteren ökonomi-
schen und sozialen Entwicklung des Landes, wenn der hä-
mische Umgang mit dem Bündnis für Arbeit, Ausbildung
und Wettbewerbsfähigkeit jedenfalls in diesem Hause
aufhört, denn die Erfolge sind unverkennbar. Wir werden
daran arbeiten – das wird auch in Zukunft nicht einfach
sein, das ist gar keine Frage –, dass dieser Weg in
Deutschland fortgegangen wird. Es ist gleichermaßen ein
Weg der ökonomischen Vernunft und des sozialen Aus-
gleichs in Deutschland.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir müssen miteinander dafür sorgen und wir werden
auch dafür sorgen, dass in dem beginnenden Auf-
schwung, der nach dem Urteil aller einschlägigen Insti-
tute ein dauerhafter sein kann und die nächsten Jahre be-
stimmen wird, die Beschäftigungsorientierung im Vor-
dergrund steht. Die Wirtschaft und die Investoren können
für die nächsten zwei Jahre mit verlässlichen Rahmenbe-
dingungen rechnen. Ich bin sicher, dass wir unser im Jah-
reswirtschaftsbericht 2000 gestecktes Ziel erreichen.

Die Zahl der Arbeitslosen wird im Durchschnitt des lau-
fenden Jahres um 200 000 Personen zurückgehen. Das ist
nicht genug, das weiß auch ich. Wenn ich mir aber die Kri-
tik aus der Opposition anschaue, die Kritik der Seienden
und der Designierten, dann muss ich doch darauf hinwei-
sen: In die Zeit Ihrer Regierung fällt dauerhaft steigende
Arbeitslosigkeit,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Sie wissen, dass das falsch ist!)


in die Zeit unserer Regierung fällt dauerhaft sinkende Ar-
beitslosigkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Lachen des Abg. Friedrich Merz [CDU/CSU])


– So ist das, meine Damen und Herren.
Ich will mich ja nicht auf zu viele Quellen berufen und

auch nicht sagen, dass die von mir angeführten Personen
immer Recht haben, aber in einem Punkt hat der Haupt-
geschäftsführer des BDI Recht: Wir werden auch nach
2002 weiter regieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der Aufschwung in Deutschland, die konjunkturelle
Entwicklung in der Europäischen Union und die Ergeb-
nisse des Europäischen Rates von Lissabon zeigen eines
deutlich: Die Politik auf europäischer wie auf national-
staatlicher Ebene wird Europa auf dem Weg in die Infor-
mations- und Wissensgesellschaft voranbringen. Wir
werden gemeinsam dafür sorgen, dass dieser Fortschritt in
die Informationsgesellschaft Wohlstand und Beschäfti-
gung mehrt, die Lebensqualität in Europa und in Deutsch-
land verbessert und auf diese Weise die Zukunft unserer
Kinder und unserer Enkel sichert.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409800200
Ich eröffne die Aus-
sprache. Das Wort hat Friedrich Merz, Vorsitzender der
Fraktion der CDU/CSU.

Friedrich Merz (CDU/CSU) (von der CDU/CSU mit
Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da-
men und Herren! Da dies heute mein erster Beitrag in neu-
er Funktion ist, möchte ich zunächst die Gelegenheit nut-
zen, den zahlreichen Kolleginnen und Kollegen, die mir
gratuliert haben, herzlich zu danken, insbesondere allen
Kollegen Fraktionsvorsitzenden aus diesem Haus. Ich ha-
be mich darüber gefreut. Ich nehme die Einladung gern an,
den Deutschen Bundestag auch in Zukunft zum Ort der
fairen, aber auch harten parlamentarischen Auseinander-
setzung zu machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Eines der großen Themen nicht nur unseres Landes –
aber besonders unseres Landes – ist die weitere Entwick-
lung in der Europäischen Union. Herr Bundeskanzler, Sie
haben eine Regierungserklärung zu einem Gipfel der eu-
ropäischen Staats- und Regierungschefs abgegeben. Las-
sen Sie mich zu diesem Gipfel eine Vorbemerkung ma-
chen.

In Lissabon hat die Gemeinschaft ihre Politik der Iso-
lierung Österreichs fortgesetzt und noch einmal be-
stätigt.


(Lachen des Abg. Detlev von Larcher [SPD])

Wir konnten gleichzeitig am Dienstagabend Fernsehbil-
der einer freundlichen Begegnung von Ihnen, Herr Bun-
deskanzler, mit dem libyschen Staatschef Gaddafi sehen.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wie zu hören und zu lesen ist, bemühen Sie sich of-
fenbar um eine Zusage von Fidel Castro, den Sie als Gast
zur Weltausstellung EXPO nach Hannover eingeladen ha-
ben. Wie können Sie es eigentlich erklären, dass Sie einen
der letzten kommunistischen Despoten dieser Welt als
Staatsgast nach Deutschland einladen?


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Joachim Poß [SPD]: Gehört Gaddafi der Europäischen Union an? – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Thema verfehlt, Herr Merz! – Weitere Zurufe von der SPD)


Zum selben Zeitpunkt tragen Sie persönlich ganz maß-
geblich dazu bei, dass eine demokratisch gewählte Re-
gierung eines Mitgliedstaates der Europäischen Union
fortgesetzt ausgegrenzt und in geradezu kindischer – um
nicht zu sagen: pubertärer – Art und Weise geschnitten
wird. Wie können Sie das erklären?


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] Bundeskanzler Gerhard Schröder 9086 [SPD]: Nehmen Sie sich eigentlich selber ernst? – Detlev von Larcher [SPD]: Jeder blamiert sich, so gut er kann! – Weitere Zurufe von der SPD)





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Stellen Sie sich einmal vor, die frühere Regierung hät-
te den französischen Staatspräsidenten wegen der Betei-
ligung der Kommunisten an der Regierung in Frankreich
so behandelt und gleichzeitig General Pinochet zur Han-
nover-Messe nach Deutschland eingeladen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Franz Thönnes [SPD]: Jetzt ist das außenpolitische Bild des Fraktionsvorsitzenden deutlich geworden!)


Damit keine Missverständnisse entstehen: Niemand
von uns hat etwas mit Haider und der FPÖ gemeinsam.
Niemand von uns kann sich über das Wahlergebnis in
Österreich freuen.Aber dieser ganzeVorgang– er hält an –
der Ausgrenzung und Isolierung ist und bleibt ein ekla-
tanter Verstoß gegen den EU-Vertrag. Er bleibt eine poli-
tische Dummheit ohnegleichen;


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


denn alles, was Sie sich im Europäischen Rat und in der
Europäischen Union, Herr Bundeskanzler, mit Regie-
rungskonferenz und Erweiterung der Gemeinschaft vor-
genommen haben, bedarf der einstimmigen Zustimmung
aller Mitgliedstaaten und damit eben auch der Zustim-
mung der Republik Österreich. Irgendwann müssen Sie
aus dieser Sackgasse wieder herauskommen, in die Sie
sich hineinmanövriert haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Lassen Sie mich zum eigentlichen Inhalt des so ge-
nannten Beschäftigungsgipfels in Lissabon kommen
und zunächst eine grundsätzliche Feststellung treffen. Es
hat ja durchaus seinen Sinn, dass in der Europäischen Uni-
on – und zwar zuförderst in den Institutionen: im Parla-
ment, im Rat und in der Kommission – über die anhaltende
Beschäftigungskrise in der Europäischen Union – ich
muss wohl genauer sagen: in einigen bestimmten Mit-
gliedstaaten der Europäischen Union – gesprochen wird.
Der Vertrag von Amsterdam enthält dazu ein eigenes Ka-
pitel.

Die Gemeinschaft ist nur für die Koordinierung der
Wirtschaftspolitik in den Mitgliedstaaten zuständig, aber
nicht für politische Entscheidungen im Einzelnen und
auch nicht für die operative Politik selbst. Dies muss klar
sein und muss im Kern so bleiben. Denn wenn der Ge-
meinschaft die Beschäftigungspolitik übertragen würde,
müsste sie scheitern, da alle Versuche einer zentralen Lö-
sung scheitern müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Joachim Poß [SPD]: Er baut wieder Scheingegensätze auf!)


Herr Bundeskanzler, diese Konsequenz müsste eigent-
lich ein deutscher Bundeskanzler mit besonderem Nach-
druck vertreten, weil wir in Deutschland mit dezentraler

Verantwortung, mit einem ausgeprägt föderalen Staats-
aufbau und mit regionaler Zuständigkeit gute Erfahrungen
gemacht haben.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Die erste Frage, die wir Ihnen daher stellen, lautet: Wie soll
denn nach den sehr ehrgeizigen Zielen, die in Lissabon
aufgestellt worden sind, die Verteilung der Zuständig-
keiten zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten
in Zukunft konkret aussehen? Soll die Europäische Uni-
on wirklich die Verantwortung an sich ziehen, nicht nur
Wachstums-, sondern auch Beschäftigungsziele zu for-
mulieren und diese dann auch durchzusetzen?

Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, dies bejahen, dann ent-
spricht dies Ihrer Haltung, die Sie auch in Deutschland
zum Thema Föderalismus und Wettbewerb einnehmen.
Sie wollen ja auch schon in Deutschland den Wettbewerb
zwischen den Ländern möglichst vermeiden. Sie miss-
trauen in Wahrheit zutiefst dem Wettbewerb.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wo haben Sie denn das her? Jetzt wird es aber abenteuerlich! Die Scheinwelt des Herrn Merz!)


Dies wird leider auch in Ihrer Haltung zum Wettbewerb
zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union
deutlich.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Günter Gloser [SPD]: MerzScherz!)


Herr Bundeskanzler, es war höchst aufschlussreich,
dass das Wort Wettbewerb in Ihrer Regierungserklärung
nicht ein einziges Mal vorgekommen ist.


(Zurufe von der SPD: Oh!)

Wer aber den Wettbewerb nicht will, wer auf zentralisti-
sche Lösungen setzt, erhöht die Fehleranfälligkeit.


(Lachen bei der SPD – Franz Thönnes [SPD]: Freiheit statt Sozialismus!)


– Entschuldigung, das Wort Wettbewerb ist für Sie –
bezogen auf den Wettbewerb zwischen den Ländern in der
Bundesrepublik Deutschland und auch in der Europä-
ischen Union – offenkundig mehr und mehr zu einem
Fremdwort geworden. Wettbewerb ist aber das zentrale
Ordnungselement in einer Marktwirtschaft, auch in der
Europäischen Union.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Wer den Wettbewerb nicht will, wer auf zentralistische
Lösungen setzt, erhöht die Fehleranfälligkeit, da er das
notwendige Korrektiv ausschaltet, im Wettbewerb zu be-
stehen oder eben nicht zu bestehen. Nur Wettbewerb, auch
und gerade zwischen den Mitgliedstaaten der Europä-
ischen Union, schafft wirklich Innovation und damit
Wachstum und Beschäftigung.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Besorgnis erregend ist nicht nur die Sprache,




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(Zuruf des Abg. Detlev von Larcher [SPD] – Gegenruf des Abg. Hans-Peter Repnik [CDU/ CSU]: Es lohnt sich nicht, darauf einzugehen! Es ist der Schreihals Larcher!)


sondern mehr noch, was da aufgeschrieben wurde.

(Zurufe von der SPD: Oh!)


Ich will Ihnen deshalb aus den Schlussfolgerungen des Ra-
tes von Lissabon eine Passage vortragen, die den Geist der
Europapolitik zu Beginn des Jahres 2000 wie kaum eine
andere dokumentiert. Da heißt es:

Die Umsetzung der Strategie wird mittels der
Verbesserung der bestehenden Prozesse erreicht, wo-
bei eine neue offene Methode der Koordinierung auf
allen Ebenen, gekoppelt an eine stärkere Leitungs-
und Koordinierungsfunktion des Europäischen Rates,
eingeführt wird, die eine kohärentere strategische
Leitung und eine effektive Überwachung der Fort-
schritte gewährleisten soll.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Es geht weiter:
Der Europäische Rat wird auf einer im Frühjahr ei-
nes jeden Jahres anzuberaumenden Tagung


(Joachim Poß [SPD]: War die Sprache bei Kohl anders?)


die entsprechenden Mandate festlegen und Sorge
dafür tragen, dass entsprechende Folgemaßnahmen
ergriffen werden.

(Joachim Poß [SPD]: War die Sprache früher anders?)

Herr Bundeskanzler, das ist die Sprache europäischer
Bürokraten und nicht europäischer Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Apparatschiks! – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist die Botschaft?)


In der Sache selbst kommt in dieser Sprache zum Aus-
druck: Sie setzen offenkundig in der Europäischen Union
in Zukunft stärker auf den intergouvernementalen An-
satz und weniger auf die Gemeinschaftspolitik.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr! – Gegenruf des Abg. Joachim Poß [SPD]: Sie wissen gar nicht, wie man das schreibt!)


Dies hat Konsequenzen, die offensichtlich auch Ihnen gar
nicht so richtig bewusst geworden sind.

Die britische Regierung hat sich heute klar und ein-
deutig – gerade in dieser Woche war es notwendig – hin-
ter den Präsidenten der EU-Kommission gestellt und hat
die Kommission gestärkt. Von Ihnen war in der Regie-
rungserklärung zur Kommission und ihrem Präsidenten
kein Wort zu hören. Das ist aufschlussreich, Herr Bun-
deskanzler.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist doch gar nicht nötig!)


Aber unterstellen wir, dass dies nun alles richtig wäre.
Ich frage Sie einmal aus dem Blickwinkel anderer, auch
benachbarter Staaten: Was sollen beispielsweise Länder
wie die Niederlande, Dänemark, Luxemburg, Österreich,
Portugal, Irland und auch Großbritannien eigentlich für
ein Interesse daran haben, mit der Bundesrepublik
Deutschland gemeinsam in Europa Beschäftigungspolitik
zu machen? In den genannten Ländern liegt die Arbeits-
losigkeit nämlich mittlerweile um 4 Prozent, zum Teil bei
3 Prozent. Diese Länder haben ihre Beschäftigungspro-
bleme im Wesentlichen gelöst,


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Hausaufgaben gemacht!)


und zwar nicht europäisch, sondern in nationaler Kraft-
anstrengung und weil sie sich dem Wettbewerb gestellt ha-
ben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Joachim Poß [SPD]: Irland ohne Hilfe der EU?)


Weil ich natürlich diese Zwischenrufe erwartet habe,
lassen Sie mich zur Entwicklung der Arbeitslosigkeit in
Deutschland ein Wort sagen. Es ist schon ein ziemlich
dreistes Stück, sich hier hinzustellen und zu sagen,
während der gesamten Regierungszeit von Helmut Kohl
sei die Arbeitslosigkeit in Deutschland nur gestiegen und
während Ihrer Regierungszeit nur gesunken. Herr Bun-
deskanzler, zur Erinnerung, damit Sie das Gedächtnis
nicht völlig trügt und verlässt: In den Jahren zwischen
1982 und 1990, also in knapp zehn Jahren, ist die Be-
schäftigung in der Bundesrepublik Deutschland um
3,2 Millionen gestiegen. Einen solchen Zuwachs an Be-
schäftigung hat es in der Bundesrepublik Deutschland
noch nie zuvor gegeben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Und die Arbeitslosenzahl?)


Wie bescheiden Sie mittlerweile geworden sind, konn-
te man an Ihrer Rede heute Morgen auch erkennen. Sie
verweisen jetzt darauf, dass im ersten Jahr Ihrer Regie-
rungstätigkeit die Beschäftigung in der Bundesrepublik
Deutschland im Jahresdurchschnitt um 20 000 Personen
gestiegen sei.


(Zuruf von der SPD: Immerhin!)

Herr Bundeskanzler, wenn Sie bei 4,2 Millionen Arbeits-
losen in der Bundesrepublik Deutschland mit einem Be-
schäftigungszuwachs von 20 000 Personen zufrieden sein
wollen, dann müssen Sie allein zur Halbierung der
Arbeitslosigkeit in Deutschland 105 Jahre regieren. Das
werden Sie gewiss nicht schaffen.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das hat er doch gar nicht gesagt! Das ist doch Unsinn!)


Genauso unzutreffend – um nicht zu sagen: unwahr –
ist Ihre Behauptung im Hinblick auf die so genannte
Wahlkampf-ABM in den neuen Bundesländern. Auch
hierzu ganz einfach und nüchtern die Zahlen:


(Willi Brase [SPD]: Nee, nee, nee!)

– Die interessieren Sie nicht,




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(Willi Brase [SPD]: Doch, doch, doch!)

aber ich werde sie trotzdem nennen, auch wenn Sie ver-
suchen, mich daran zu hindern.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, im Jahre 1998 – das war das

letzte Regierungsjahr von Helmut Kohl – lagen die Aus-
gaben für so genannte aktive Beschäftigungspolitik in
Deutschland insgesamt bei 39 Milliarden DM, im ersten
Jahr Ihrer Regierungstätigkeit, 1999, bei 44,5 Milliar-
den DM. Das war eine Steigerung um 5,5Milliarden DM.
Im zweiten Jahr Ihrer Regierungstätigkeit, in diesem Jahr
2000, steigern Sie die Ausgaben für aktive Beschäfti-
gungspolitik weiter auf 46 Milliarden DM. Das sind
7 Milliarden DM mehr als im letzten Regierungsjahr der
alten Regierung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sie können doch wohl nicht im Ernst behaupten, dass
Sie die Ausgaben für aktive Beschäftigungspolitik
zurückgefahren haben, nur weil es im Jahr 1998 Ausga-
ben für Beschäftigungspolitik in den neuen Bundesländern
gegeben hat.


(Widerspruch bei der SPD)

Sie haben das in den neuen Bundesländern übrigens mit
ziemlich linker Hand behandelt.


(Dr. Mathias Schubert [SPD]: Da waren Sie noch nie, wenn Sie so reden!)


Die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern hat ganz
unabhängig davon, dass Sie auch dort die Ausgaben für so
genannte aktive Beschäftigungspolitik gesteigert haben,
erneut deutlich zugenommen. Die neuen Bundesländer ge-
raten in die Gefahr, selbst vom wirtschaftlichen Auf-
schwung, vom konjunkturellen Aufschwung im Westen so
weit abgekoppelt zu werden, dass sie auf mittlere und län-
gere Sicht keine Perspektive haben, das Beschäftigungs-
problem gelöst zu bekommen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ruhig nochweiter kaputtreden! Da haben Sie Recht! – Norbert Wieczorek [SPD]: Wie war das mit den blühenden Landschaften?)


Dies ist das eigentliche Problem, das Sie in Ihrer Regie-
rungserklärung mit linker Hand abgehandelt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Nun haben sich auch die Bedingungen für mehr Be-

schäftigung in der Bundesrepublik Deutschland nicht
unbedingt verbessert. Wahr ist: Wir werden im laufenden
Jahr ein höheres wirtschaftliches Wachstum haben.


(Zuruf von der SPD: Das ist doch gut! Monika Ganseforth [SPD]: Das tut Ihnen wohl Leid!)


– Das tut uns überhaupt nicht Leid. Wir begrüßen das aus-
drücklich. Sie werden aber im Jahr 2000 vermutlich noch
nicht einmal ein wirtschaftliches Wachstum in der Höhe
erreichen, in der es im letzten Jahr der alten Regierung
gab.


(Lachen bei der SPD)

Da waren es 2,8 Prozent. Sie sprechen jetzt von
2,7 Prozent – à la bonne heure! Aber die Bedingungen für
mehr Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland
haben sich damit nicht verbessert. Denn Sie haben zu
verantworten, dass die Staatsquote in der Bundesrepublik
Deutschland im Jahre 1999 erneut auf 49 Prozent
gestiegen ist. Wir haben mit einer Abgabenquote von
43 Prozent im Jahre 1999 einen historischen Höchststand
erreicht. Glauben Sie denn im Ernst, dass die Beschäfti-
gungsprobleme in Deutschland mit höherer Staatsquote
und höherer Abgabenquote zu lösen sind?


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Lassen Sie mich zum Inhalt des so genannten Beschäf-

tigungsgipfels zurückkehren,

(Zuruf von der SPD: Was heißt hier „so genannt“?)

den Sie zum „Internet-Gipfel“ hochstilisiert haben. Wir
brauchen in Deutschland ohne Zweifel auch und gerade
bei den neuen Technologien einen kräftigen Schub, ins-
besondere bei den Informationstechnologien. Aber Ihr
Vorwurf, den Sie auch heute hier erneuert haben, an
unseren Kollegen Jürgen Rüttgers,


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr berechtigt!)


dass er das alles verschlafen habe und Sie erst alles erfun-
den hätten – –


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Beifall bei der SPD und den Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Wo war er denn?)


– Sie klatschen etwas zu früh. Der damalige Bundesmi-
nister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Tech-
nologie, Dr. Jürgen Rüttgers, hat im Jahre 1997 allein
vier neue IT-Ausbildungsberufe in die Handwerksordnung
aufge-nommen. Zum selben Zeitpunkt befanden Sie sich,
Herr Bundeskanzler, damals noch als Ministerpräsident
des Landes Niedersachsen, in einem Rechtsstreit mit der
Hochschule Hildesheim, an der Sie die Studiengänge für
Informatik und Wirtschaftsmathematik geschlossen
haben. Das ist die historische Wahrheit!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Hochschule Hildesheim hat sich gegen diesen Ver-

waltungsakt der Regierung Schröder erfolgreich zur Wehr
gesetzt. Im Jahre 1999 hat die Universität den Rechts-
streit gewonnen. Aber Ihr Nachfolger in Niedersachsen hat
es bis heute nicht für notwendig befunden, diese Studien-
gänge an der Universität Hildesheim wieder zu eröffnen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Kommen Sie doch mal auf Herrn Rüttgers zu sprechen!)


Wenn Sie dann wörtlich behaupten: „In Deutschland
haben wir die Initiative ‚Schulen ans Netz‘ auf den Weg
gebracht“, ist das wirklich eine Dreistigkeit. Denn diese




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Initiative, Herr Bundeskanzler, hat Dr. Jürgen Rüttgers auf
den Weg gebracht und ganz gewiss nicht Sie.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Der hat darüber gefaselt, aber gemacht hat er nichts!)


– Auf Ihre Zwischenrufe, Herr Kollege Schmidt, muss ich
sagen: Ende des Jahres 1998 sind bereits 10 000 Schulen
in Deutschland am Netz gewesen. Da haben Sie noch gar
nicht regiert.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Und wie viele Schulen gibt es? 300 000! Nur, damit das einmal in die richtige Relation gesetzt wird!)


Sie haben hier auch etwas zu dem Thema ausländische
Fachkräfte in der Bundesrepublik Deutschland gesagt. Ich
will aus meiner Sicht noch einmal ausdrücklich betonen:
Bevor wir in der Bundesrepublik Deutschland in diesem
Zusammenhang über Einwanderung und Zuwanderung
reden, ist es doch wohl angemessen, einmal darüber zu
sprechen – und, wenn notwendig, auch zu streiten –, wie
eigentlich die Bedingungen sein müssten, damit in
Deutschland bei 4,3 Millionen Arbeitslosen freie Arbeits-
plätze besetzt werden können. Deswegen lassen wir ein-
mal den ganzen Streit um die von Ihnen vorgeschlagenen
Einwanderungsregeln außer Betracht, Herr Bundeskanz-
ler. Die eigentliche Frage lautet doch: Was sind die Be-
dingungen eines Marktes – unabhängig von der Nationa-
lität der dort Beschäftigten – damit neue Chancen wirklich
wahrgenommen werden können und neuen Unternehmen
in jungen Branchen eine Zukunft gegeben werden kann?


(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Genau!)


Ich will Ihnen Beispiele nennen. In den USA hat ganz
ohne Zweifel ein weitgehend deregulierter Arbeitsmarkt
zur schnellen Entwicklung auch und gerade der IT-
Branche beigetragen. Ist die Bundesregierung also bereit,
das sehr dichte Netz der arbeitsrechtlichen Regeln in
Deutschland wenigstens daraufhin zu überprüfen, ob
dieses Neugründungen von Unternehmen und Einstellun-
gen in Unternehmen eher fördert oder eher behindert?
Oder stimmen Sie der Analyse zu, Herr Bundeskanzler,
dass das deutsche Tarif- und Betriebsverfassungsrecht bei
diesen schnell wachsenden Märkten und Unternehmen in
vielerlei Hinsicht eher einen Hemmschuh als einen Stan-
dortvorteil darstellt?


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich will es ganz konkret machen: Sind Sie bereit,

wenigstens das Tarifvertragsrecht in der Weise zu ändern,
dass Abweichungen von Tarifverträgen gesetzlich zulässig
sind, wenn Belegschaft und Unternehmensführung dies
befürworten, um zum Beispiel einen höheren Beschäfti-
gungsstand miteinander zu vereinbaren? Offenkundig
lehnen Sie solche wirklich innovativen Schritte zur Flexi-
bilisierung unseres Arbeitsmarktes ab,


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Dazu brauchen wir Sie nicht! Das gibt es schon längst! – Joachim Poß [SPD]: Ablenkungsmanöver von Rüttgers! – Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Wenn man die Tarifverträge nicht kennt, dann kann man hier so dumm daherreden!)


führen aber ständig Worte wie „makroökonomischer Dia-
log“, „Erneuerung des sozialen Modells“, „Innovation“,
„Modernisierung“, „Veränderung“, „Aufbruch in das
21. Jahrhundert“ und viele andere im Mund.

Aber dann bitte konkret: Welche Richtung und welche
Innovation und Modernisierung sind gemeint, Herr
Bundeskanzler? Worin besteht denn der Aufbruch in das
21. Jahrhundert? Sind Sie bereit, so wie die Niederländer
Anstöße zu geben, den Bildungssektor grundlegend zu re-
formieren, Verantwortung an die Schulen und Hoch-
schulen zu delegieren und sie gleichzeitig im Sinne von
Benchmarking dem Wettbewerb auszusetzen?

Sind Sie bereit, ein besonders eklatantes Beispiel der
ganzen Widersprüchlichkeit Ihrer Politik zu beseitigen
und zum Beispiel die Verlustverrechnung zwischen
verschiedenen Einkunftsarten wieder zuzulassen? Diese
Regelung im Einkommensteuergesetz trägt nämlich bis
heute und unverändert die Handschrift der orthodox-
antikapitalistischen Finanzpolitik von Oskar Lafontaine.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, Herr Merz! – Zurufe von der SPD: Oh!)


Herr Bundeskanzler, wenn Sie wirklich im Sinne der
New Economy und im Sinne des Beschäftigungsgipfels
von Lissabon in Deutschland etwas tun wollen, dann soll-
ten Sie schleunigst dafür sorgen, dass junge Unternehmen
Anlaufverluste in den ersten Jahren wieder voll mit an-
deren Einkünften verrechnen können. Wenn Sie dies nicht
tun, dann bleibt die Beschreibung von Mut und Dynamik,
die Sie, Herr Bundeskanzler, gerade jungen Menschen auf
dem Weg in die Selbstständigkeit wünschen, allenfalls
Wunschdenken und in Wahrheit nur floskelhaftes politi-
sches Gerede.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, die Detailbesessenheit ei-

ner zentralistisch angelegten Beschäftigungspolitik

(Lachen bei der SPD und dem BÜND-NIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Das war München! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das wird auch durch Wiederholung nicht besser! – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja noch schlimmer als die Sprache der EU! Das ist ja noch schlimmer als das, was Sie vorhin zitiert haben! Sie hätten Linguist werden sollen!)


verstellt offenkundig den Blick darauf, worum es in Eu-
ropa wirklich geht: Die Europäische Union steht vor der
größten Erweiterung ihrer Geschichte und zuvor in der
zwingenden Notwendigkeit, sich darauf vorzubereiten,
sich selbst erweiterungsfähig zu machen.

Wir unterstützen das Ziel der Erweiterung derEU und
wollen, dass sie Erfolg hat. Deshalb werden wir die Ver-




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handlungen auch künftig konstruktiv begleiten. Wir haben
gleichzeitig klare Vorstellungen darüber, welche Voraus-
setzungen erfüllt sein müssen, damit dieses ehrgeizige und
wichtige Projekt auch tatsächlich gelingt. Wir warnen
davor, die Schwierigkeiten dieser Aufgabe sowohl auf der
Seite der Mitgliedstaaten der Europäischen Union als auch
auf der Seite der Beitrittskandidaten zu unterschätzen.


(Jörg Tauss [SPD]: Jetzt könnte mal etwas Inhaltliches kommen!)


In unserem Antrag vom 30. November 1999 zum
Europäischen Rat von Helsinki haben wir ausführlich
beschrieben, wie wir uns die Erweiterungsfähigkeit der
Europäischen Union und die Beitrittsfähigkeit der künfti-
gen Mitglieder vorstellen. Ich hielte es für wünschenswert,
dass wir auch und gerade im Interesse der Menschen in
Deutschland, die wir von manchem Schritt erst noch
überzeugen müssen, die wir für diese Erweiterung erst
noch gewinnen müssen,


(Jörg Tauss [SPD]: Stoiber!)

über die Erweiterung im Konsens entscheiden.

Das Gleiche gilt für die Regierungskonferenz. Wir
wollen, dass die Regierungskonferenz erfolgreich ist; denn
sie ist die Voraussetzung für die Erweiterung. Deshalb
können wir uns auch nicht auf die Vorstellung einlassen,
die Regierungskonferenz müsse nur diejenigen Fragen
lösen, zu denen es in Amsterdam noch keine Verständi-
gung gab. Herr Bundeskanzler, das ist wichtig. Denn
die Begrenzung der Anzahl der Kommissare, die
Stimmengewichtung im Rat und auch die Frage der
Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen, sind alles
wichtige Fragen der institutionellen Reformen. Aber dies
sind bei weitem nicht die einzigen und aus meiner Sicht
auch nicht die wichtigsten.

Deshalb stelle ich hier – damit es keinerlei Zweifel
gibt – für unsere Fraktion fest: Diese Regierungskonferenz
muss den Einstieg in eine verbindliche Klarstellung im
Hinblick auf die Kompetenzabgrenzung zwischen Eu-
ropäischer Union und Mitgliedstaaten schaffen. Die
Notwendigkeit hierfür wird nicht einmal in der EU-Kom-
mission selbst infrage gestellt. Diese Frage hat ganz un-
mittelbar etwas zu tun mit dem, was Sie in Lissabon
beschlossen haben. Wenn die Europäische Union nämlich
weiter voranschreitet auf dem Weg in die Zentralisierung,
in die Anmaßung von Zuständigkeiten, die weit besser in
den Mitgliedstaaten und in föderal strukturierten Staaten
wie der Bundesrepublik Deutschland in den Ländern und
auf kommunaler Ebene ausgeübt werden, dann wird das
Projekt Europa die Zustimmung bei den Bürgerinnen und
Bürgern auch unseres Landes verlieren.

Bei allen wohlklingenden Beschlüssen, Forderungen
und Formulierungen haben Sie, Herr Bundeskanzler, näm-
lich eines – vermutlich ganz unbewusst – sehr deutlich
werden lassen: Die Schlussfolgerungen von Lissabon und
Ihre Regierungserklärung dazu sprechen unverändert die
Sprache moderner Technokraten.


(Lachen bei der SPD – Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist ja entsetzlich! – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schröder und Technokrat?)


Die politische Perspektive, was aus Europa werden soll –
ich sage nur stichwortartig: Regierungskonferenz und
Osterweiterung – und wie es eine dauerhafte politische
Ordnung für Europa im Sinne einer gesamteuropäischen
Friedens- und Freiheitsordnung geben kann, gerät Ihnen,
aber leider auch vielen anderen Regierungen der Mit-
gliedstaaten der Europäischen Union immer mehr aus dem
Blickfeld.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ich sage Ihnen zum Schluss: Es ist nicht die technische
Anleitung für Computer, die in der zweiten Hälfte des
letzten Jahrhunderts aus Europa das gemacht hat, was es
heute ist. Es sind der europäische Geist und die europäi-
sche Vision von Konrad Adenauer, Charles de Gaulle,
Helmut Kohl, Francois Mitterrand und vielen anderen, aus
denen jetzt eine Agenda für die erste Hälfte des neuen
Jahrhunderts entstehen müsste, und zwar in enger Ko-
operation zwischen Deutschland und Frankreich.


(Günter Gloser [SPD]: Jetzt hören Sie doch mit Ihrem Schnarren auf!)


Aber von deutsch-französischen Initiativen ist seit dem
Amtsantritt dieser Regierung genauso wenig zu sehen und
zu hören wie von durchdachten langfristigen europä-
ischen Strategien.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Günter Gloser [SPD]: Eine Legende nach der anderen! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie bauen einen Popanz nach dem anderen auf!)


Die innenpolitische Wirkung, die Wirkung in den Medien,
ist Ihnen offenkundig noch immer wichtiger als eine
Vorstellung davon, was aus Europa im 21. Jahrhundert
werden soll!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Joachim Poß [SPD]: An die Wirkung in den Medien denken Sie offenkundig überhaupt nicht!)


Computer aber, so wichtig sie auch sind, meine Damen
und Herren – ich persönlich verstehe davon mindestens
genauso viel wie Sie, Herr Bundeskanzler –,


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herzlichen Glückwunsch!)


ersetzen auch im 21. Jahrhundert nicht die notwendigen
politischen Konzepte.


(Günter Gloser [SPD]: Wer sagt denn das? – Joachim Poß [SPD]: Das hat keiner behauptet!)


Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ihr Klatschen klingt wie das Pfeifen im Walde!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409800300
Ich erteile dem Vor-
sitzenden der SPD-Fraktion, Peter Struck, das Wort.




Friedrich Merz

9091


(C)



(D)



(A)



(B)


Dr. Peter Struck (SPD) (von Abgeordneten der SPD
mit Beifall begrüßt):


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Spärlicher Beifall!)


Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Merz, ich habe Ihnen nach Ihrer
Wahl angeboten, freundlich, fair und konstruktiv zu-
sammenzuarbeiten. Dieses Angebot gilt nach wie vor, ob-
wohl ich nach dieser Rede von Ihnen leichte Zweifel be-
kommen habe. Sie haben nämlich zur Europapolitik einen
Popanz nach dem anderen aufgebaut und sie dann umge-
hauen, mit der Realität hatte das überhaupt nichts zu tun.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Antworten, die Sie gegeben haben, scheinen mir im
Übrigen relativ unklar zu sein.

Für uns Sozialdemokraten ist klar, dass es bei jenem
Konsens bleibt, der uns alle seit Beginn der Europapolitik
in unserem Hause ausgezeichnet hat: Dreh- und
Angelpunkt unserer Europapolitik ist die tiefe Überzeu-
gung, dass die europäische Integration im ureigenen
deutschen Interesse liegt. Ich habe allerdings den Ein-
druck, Herr Kollege Merz, dass Sie davon abgehen wollen.
Sie wollen, wahrscheinlich auf Weisung der Staatskanzlei
in München, einen anderen Weg gehen. Dem „Spiegel“
haben Sie kürzlich gesagt:

Ich bin mir mit Stoiber völlig einig, dass das Euro-
pa-Thema nicht mehr so behandelt werden kann wie
in den letzten Jahrzehnten.

Damit kündigen Sie unseren Konsens auf. Sie wollen eine
neue – wie wir meinen: falsche – Europapolitik.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es geht Ihnen gar nicht mehr um Europa; es geht Ihnen nur
noch darum, Brüssel in deutsche Wahlkämpfe hinein-
zuziehen.

Ich sehe mit hohem Interesse Altbundeskanzler Helmut
Kohl hier sitzen. Herzlich willkommen im Plenarsaal,
Herr Kollege Kohl! Wir haben Sie lange vermisst.


(Lachen bei der CDU/CSU)

Ich würde mich freuen, Herr Kollege Kohl, da Sie schon
einmal mehrere Zwischenfragen bei einer Rede von mir
gestellt haben, wenn Sie sich dazu auch jetzt entschließen
könnten,


(Michael Glos [CDU/CSU]: Blas dich doch nicht so auf! – Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Welch ein Niveau von diesem Kasper!)


etwa in der Weise, dass Sie fragen, ob ich mit Ihnen einer
Meinung bin, dass die Europapolitik der letzten Jahre und
Jahrzehnte richtig war und dass der Kollege Merz die
Union und die Unionsfraktion auf einen falschen Weg
bringen will.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Natürlich lässt es sich nicht vermeiden – das kann ich
verstehen –, dass die Opposition an dem Gipfel von
Lissabon herumkritisiert. Es allerdings so darzustellen,
als habe Schröder das alles ganz alleine beschlossen, was
da aufgeschrieben ist, würde die Kraft des Bundeskanz-
lers, die ich, wie er weiß, sehr hoch schätze, doch deutlich
überschätzen.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Nein, der Struck hat ihm geholfen! Das weiß jeder!)


Es sind einstimmige Beschlüsse gewesen, an denen auch
Konservative mitgewirkt haben. Ihre Kritik geht also ab-
solut fehl.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Joachim Poß [SPD]: Auch zur Sprache!)


– Wenn Sie die Sprache kritisiert haben – Sie haben das
getan –: Glauben Sie, dass es unter Kohl und den anderen,
die Europapolitik und -gipfel gemacht haben, eine andere
Sprache gegeben hätte? Das ist nun wirklich ein künst-
licher Gegensatz, den ich überhaupt nicht nachvollziehen
kann – nach dem Motto: Ich muss irgendetwas finden, was
ich bemeckern kann. Diese Sprache gab es vorher auch.

Die Ergebnisse von Lissabon können sich sehen lassen.
Sie bringen Europa näher zusammen und nach vorne. Die
vereinbarten wirtschaftspolitischen Zielvorgaben von
3 Prozent Wachstum und 70 Prozent Erwerbstätigenquote
sind richtig gewählt. Die Beschäftigungspolitik rückt in
den Vordergrund. Die Vollbeschäftigung als langfristiges
Ziel der Europäischen Union zu formulieren war und ist
richtig und ist auch unsere Politik hier in Deutschland.


(Beifall bei der SPD)

Herr Merz, Sie haben diese Zielvorgaben mit der Be-

merkung kritisiert, dass sich Wachstum nicht verordnen
lasse. Das ist klar; das hat auch der Bundeskanzler gesagt.
Aber die Politik kann Rahmenbedingungen für Wachstum
schaffen. Genau das haben wir in Deutschland in dieser
Koalition getan: mit der Steuerreform 2000, mit der Un-
ternehmensteuerreform, mit dem Zukunftsprogramm, mit
der Haushaltskonsolidierung. Das ist der richtige Weg.
Die europäischen Staaten folgen uns auf diesem Weg. Das
sollten Sie anerkennen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die gestern veröffentlichten Zahlen der Bundesanstalt
für Arbeit geben uns eindeutig Recht. Herr Bundeskanzler
hat darüber gesprochen. Wachstum wird in den Beschlüs-
sen von Lissabon nicht angeordnet. Vielmehr werden die
gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen definiert,
unter denen ein Wachstum von 3 Prozent möglich wird.

Dafür ist die Frage des Internets, die Sie, Herr Kollege
Merz, so heruntergespielt haben, ganz zweifellos von
besonderer Bedeutung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir sind heute in Deutschland und Europa weit hinter der
Entwicklung in den USAzurück. Dass hier der Gipfel von
Lissabon ein Zeichen gesetzt hat – auch auf Initiative der
Bundesregierung –, war dringend nötig.






(C)



(D)



(A)



(B)



(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Günstige Zugangsmöglichkeiten zum Internet für alle und
Internetzugänge für alle Schulen bis 2001: Das sind
wichtige Ziele, die uns helfen werden, diesen dringenden
Nachholbedarf zu decken.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Ergebnisse von Lissabon bestätigen den Kurs der
Bundesregierung mit dem Sofortprogramm zur Deckung
des Bedarfs an IT-Fachkräften. Die Fehler der
Regierung unter Kohl müssen wir jetzt aufarbeiten. Er-
lauben Sie, dass ich dazu etwas ausführlichere Aus-
führungen mache.

Die Regierung Kohl hat jahrelang geschlafen. Wenn
man dann so unsanft geweckt wird, hat man erst einmal
keine Orientierung, weiß nicht, wo links und rechts, wo
oben und unten ist


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vor allem, wo Indien ist!)


und wie es weitergehen soll. Dieses Bild bieten Sie hier:
Jeder sagt etwas anderes, und manche wissen gar nicht,
wovon sie reden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn ich dann auch noch höre, dass Sie heute Abend
im Fernsehen und heute Morgen in der Zeitung „Die
Woche“ ein Interview Ihres Altfraktionsvorsitzenden
Schäuble hören bzw. und lesen können, der von „krimi-
nellen Energien“ in Ihrer Fraktion gesprochen hat, der
davon gesprochen hat, dass Beteiligte aus seiner Fraktion
ihn „umbringen“ wollten – wörtliches Zitat –, dann wun-
dert mich das Durcheinander in diesem Verein ganz und
gar nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Herr Struck, jetzt sind Sie selbst unter Ihrem Niveau!)


Das Durcheinander gilt übrigens auch – das sei nur eine
kurze Anmerkung, Herr Kollege Merz – für Äußerungen
über die Rente. Ich will Ihnen klar sagen: Man kann sich
als Fraktionsvorsitzender am Anfang schon einmal ver-
galoppieren. Auch mir ist das passiert; das will ich gern
zugeben.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Echt? Nein, wir haben es gar nicht gemerkt!)


– Am Anfang. Aber, Herr Kollege Merz, wer den Leuten
sagt, sie sollen bis 70 arbeiten und ihnen dann auch noch
sagt: „Du musst deine Rente versteuern“ der muss nun
ganz und gar nicht dicht sein. Das will ich Ihnen einmal
ehrlich sagen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Zurück zu den IT-Fachkräften. Es ist völlig klar: Es
fehlen in Deutschland 75 000 bis 100 000 Fachkräfte.
Diese Zahl wächst jedes Jahr an. Lediglich 2 400 der cir-

ca 30 000 arbeitslos gemeldeten Datenverarbeitungsfach-
leute sind Informatiker mit Hochschulabschluss. Besten-
falls ist in diesem Jahr mit 8 000 Hochschulabsolventen
aus IT-Studieneinrichtungen zu rechnen. Gebraucht wer-
den aber 30 000.

Herr Kollege Merz, ich habe mir gedacht, dass Sie mit
Sicherheit über Hildesheim und Niedersachsen reden
werden. Das ist ja klar. – Sie müssen dann aber auch ein
bisschen bei der Wahrheit bleiben – nicht nur ein bisschen,
eigentlich muss man immer bei der Wahrheit bleiben.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Passen Sie auf! Der Kollege von Hildesheim sitzt hier!)


Nach einer Presseveröffentlichung des niedersächs-
ischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur vom
17. März 2000 beträgt die Zahl der Informatik Stu-
dierenden im Wintersemester 1999/2000 5 700, davon
60 Prozent an Universitäten und 40 Prozent an Fach-
hochschulen; im Wintersemester 1995/1996 waren es
5 168 – mit Hildesheim. Sie haben aber vergessen zu er-
wähnen, Herr Kollege Merz, dass die niedersächsische
Landesregierung – die alte unter Schröder und die neue
unter Gabriel – den Studiengang Informatik aus guten
Gründen von den Universitäten an die Fachhochschulen
verlagert hat.


(Monika Ganseforth [SPD]: Das wurde auch höchste Zeit!)


Bei den Fachhochschulen gibt es eine Steigerung von
127 Prozent. Das ist dann nämlich die Wahrheit, Herr Kol-
lege Merz.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409800400
Kollege Struck,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von
Klaeden?


Dr. Peter Struck (SPD):
Rede ID: ID1409800500
Bitte.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Herr von Klaeden, das wird auch nicht besser!)



Eckart von Klaeden (CDU):
Rede ID: ID1409800600
Herr Kollege
Struck, ist Ihnen bekannt, dass das Oberverwaltungsge-
richt Lüneburg in einer Entscheidung festgestellt hat, dass
der Verwaltungsakt, mit dem die Studiengänge in Hildes-
heim abgezogen worden sind, nichtig ist, weil es gerade
an sachlichenGründen – die Sie gerade angeführt haben –
gefehlt hat? Deshalb sei es dazu gekommen, dass noch
nicht einmal das nötige Ermessen ausgeübt worden sei. Sie
wissen selber, dass ein Verwaltungsakt rechtswidrig sein
kann, dass aber der Grad der Rechtswidrigkeit besonders
hoch ist,


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was hat denn das mit dem Verwaltungsakt zu tun? Typisch Jurist! Was soll denn hier die Juristerei! – Die Zahl der Studienplätze ist gestiegen! – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Winkeladvokat!)





Dr. Peter Struck

9093


(C)



(D)



(A)



(B)


wenn ein Oberverwaltungsgericht dazu kommt, einen
solchen Vorgang als nichtig zu bezeichnen.


Dr. Peter Struck (SPD):
Rede ID: ID1409800700
Herr Kollege von Klaeden,
ich weiß nicht, ob Sie Jurist sind, aber ich vermute es ein-
mal.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Ein Besserer als Sie einer sind!)


– Na langsam, über Prädikatsexamen können wir reden,
Herr Repnik. Ich weiß nicht, welches Sie haben. Damit
können wir schon einmal anfangen.


(Heiterkeit bei SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ihnen müsste eigentlich klar sein, Herr von Klaeden,
dass das Oberverwaltungsgericht nicht in der Sache gegen
die Landesregierung entschieden hat, sondern wegen eines
Formfehlers. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Das
müssen wir festhalten.

Zurück zu dem Thema IT-Fachkräfte. Die Verantwor-
tung für diesen Mangel an IT-Fachkräften in Deutsch-
land liegt bei der alten Regierung, sie liegt aber auch bei
der Wirtschaft. Das darf hier überhaupt nicht ver-
schwiegen werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist versäumt worden, junge Leute rechtzeitig gezielt
zu fördern und auszubilden. Bereits zu Beginn der 90er-
Jahre ist die Misere abzusehen gewesen. In der Wirtschaft
hat man darauf unzureichend reagiert. Ingenieurstellen
sind abgebaut, Forschungsaufträge sind ins Ausland
vergeben und Ausbildung ist, wenn überhaupt, nur oft
halbherzig betrieben worden. Es gab auch Zeiten, in denen
die Wirtschaft Studenten an Fachhochschulen und Uni-
versitäten dringend davor warnte, ein Ingenieursstudium
zu beginnen.

Viele haben zu spät begriffen, dass allein das Etikett
„Made in Germany“ überhaupt nicht mehr ausreichend
dafür ist, dass man innovativ und erfolgreich ist. Wer
jetzt den fehlenden Nachwuchs beklagt, obwohl er selbst
nicht ausgebildet hat, hat selbst sehr kurzfristig gedacht.
Dafür muss er sich auch deutlich kritisieren lassen.

Auch wir hätten uns ein höheres Engagement der
Wirtschaft gewünscht. Als Politik müssen wir jetzt das in
Ordnung bringen, was sie in der Vergangenheit versäumt
und auch mit zu verantworten hat.


(Beifall bei der SPD)

Die Krux in der Vergangenheit ist aber gewesen – da
wende ich mich wieder dem Altbundeskanzler Kohl zu –,
dass den Arbeitnehmern und auch der Wirtschaft die
Orientierung durch die Bundesregierung – eine Bundes-
regierung, die ihren Zukunftsauftrag in Sachen Bildung
und Forschung überhaupt nicht ernst genommen hat –,
wohin denn die Reise gehen soll, gefehlt hat. Sie haben
keine langfristige Orientierung gegeben, Herr Kollege
Kohl.
Die neue Regierung dagegen handelt. Das Bündnis für Ar-
beit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit, die Initiative

D 21 und der EU-Gipfel in Lissabon belegen dies ein-
drucksvoll.

Da ich gerade bei Ihnen bin, Herr Kollege Kohl, fällt
mir doch noch etwas ein. Als die neue Bundesregierung
1998 ins Kanzleramt einzog, gab es in dieser Behörde
zwei – ich wiederhole: zwei, an Fingern: zwei – Laptops,
ansonsten funktionierte die Kommunikation in der Be-
hörde über Rohrpost.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das muss man einmal sagen. Sie schütteln den Kopf, Herr
Altkanzler, aber mit Rohrpost kann man heute nicht mehr
viel werden. Die Bundesregierung arbeitet jetzt viel mo-
derner.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Aber Bargeld lässt sich so leichter transportieren!)


Die Ausbildungsplätze im IT-Bereich werden auf 60 000
erhöht, die Weiterbildungsmaßnahmen der Bundesanstalt
für Arbeit werden auf 40 000 gesteigert, und für das Pro-
gramm zur Förderung von Bildungssoftware stehen
400 Millionen DM bereit. Alle Schulen werden Internet-
Anschlüsse erhalten, die notwendige Hardware an den
Schulen wird bereitgestellt.

Die Anzahl der Hochschulabsolventen im IT-Bereich
wird gesteigert und zusätzlich – aber eben nur zusätzlich:
nun komme ich auf das Thema Green Card zu sprechen –
werden 10 000 Green Cards in diesem Jahr und 10 000 im
nächsten Jahr im Bedarfsfall ausgegeben; die auf fünf
Jahre befristet sind. Dass man über die Bürokratie, die
damit vielleicht verbunden ist, noch reden muss, versteht
sich von selbst. Die Maßnahme ist aber absolut richtig.
Das ist eine Lösung für ein akutes Problem – durch eine
befristete Maßnahme und kombiniert mit strukturellen
Maßnahmen. Es ist eine gute und wirksame Kombination.

Ich höre aus den Reihen der Union in diesem
Zusammenhang, dass über Asylrecht und Verfassungsän-
derung gefaselt wird. Hätte Herr Rüttgers als damaliger so
genannter Zukunftsminister seine Hausaufgaben gemacht,
hätten wir dieses Problem heute nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Merz, glauben Sie eigentlich wirklich,
dass Sie in Deutschland verantwortungsvoll Politik
machen können, wenn Sie die Wirtschaft, immerhin Ihr
ehemals wichtigster Verbündeter, in Sachen Steuerreform
zu erpressen versuchen? Oder wenn Sie die Unternehmen
jetzt bei dem Thema Green Card als Opportunisten
beschimpfen? So kann man vielleicht in der CDU etwas
werden, Herr Merz, aber ein Bündnis für Arbeit, an dem
Gerhard Schröder intensiv arbeitet, würden Sie so über-
haupt nicht hinkriegen. Das will ich Ihnen deutlich sagen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Damit das allen klar ist, allen Zuhörerinnen, allen
Gästen auf den Tribünen und allen Fernsehzuschauern:




Eckart von Klaeden
9094


(C)



(D)



(A)



(B)


Die politisch Hauptverantwortlichen für Deutschlands
Mangel an Informationstechnologie-Fachkräften sind
heute alle hier. Sie sitzen auf der rechten Seite dieses Hau-
ses, auf den Oppositionsbänken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da gehören sie auch hin! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Da werden sie auch lange bleiben!)


Wer grob fahrlässig die Zukunft unseres Landes verpennt
und aufs Spiel gesetzt hat, hat nicht das geringste Recht,
eine Regierung zu kritisieren, die handelt, und das auch
noch mit einer unglaublichen Postkartenaktion.

Fragen Sie doch einmal, Herr Merz, was Ihr Lands-
mann Rüttgers eigentlich so den lieben, langen Tag als
Zukunftsminister getrieben hat. Vielleicht kann Ihnen da
der „Stern“ vom 23. März weiterhelfen. Ich zitiere:

Es war ein schöner Tag, richtig zum Wohlfühlen, als
der Politiker sich auf seinem Chefsessel entspannte
und gut gelaunt die Fragen des Mannes vom „Ham-
burger Abendblatt“ beantwortete. Erstaunt blickte
der Reporter auf den blank gefegten Schreibtisch
und fragte, ob man denn als Politiker keinen Com-
puter brauche. Der Befragte antwortete: „Wahr-
scheinlich bin ich mit 45 Jahren zu alt für einen Com-
puter.“


(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das war im Jahre 1997, und der Politiker hieß
Jürgen Rüttgers. Sein Job: Zukunftsminister.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

[SPD]: Und der will Ministerpräsident werden
im Hochtechnologieland!)

Er war wohl nicht nur für den Computer zu alt, er konnte
seinen Job einfach nicht machen. Zukunftstechnologien
und Ausbildung hat er nicht gefördert. Ich will das an drei
kurzen Beispielen deutlich machen.

Von 1982 bis 1998 ist der Anteil der Ausgaben für Bil-
dung und Forschung im Haushalt von 4,7 auf 3,2 Prozent
zusammengestrichen worden. Beim Anteil der öffent-
lichen Bildungsausgaben lag Deutschland unter Zu-
kunftsminister Rüttgers auf dem letzten Platz in der
OECD. Die Gesamtzahl der Ingenieurstudenten ist zwis-
chen 1992 und 1998 um 23 Prozent zurückgegangen. Herr
Rüttgers hat damit nicht nur seine eigene innovative
Zukunft verpennt,


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist Herr Rüttgers eigentlich?)


sondern auch dazu beigetragen, dass unser Land in einem
der wichtigsten und arbeitsplatzintensivsten Innovations-
bereiche aus eigener Kraft nicht mehr in der Lage ist,
weltweit mithalten zu können. Er und die alte Bun-
desregierung Kohl tragen die Verantwortung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Union sucht verzweifelt nach einem Ausweg, wie
sie sich zu diesem Thema „Green Card“ stellen soll.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Postcard! – Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wie kann man der eigenen Konzeptionslosigkeit und dem
Schatten der Vergangenheit entrinnen? Sie greifen bekann-
te Rezepte aus der Mottenkiste auf: Mit polemischen und
unsauberen Parolen wollen Sie Angst schüren und hoffen
darauf, dass die Bevölkerung darauf hereinfällt.

Auch hierzu muss man sich einfach einige Fakten vor
Augen halten: Im Jahre 1997 wurden unter dem uns allen
aus verschiedenen Anlässen gut bekannten Innenminister
Kanther über 450 000 Arbeitserlaubnisse für in Deutsch-
land erstmalig beschäftigte ausländische Mitbürger aus-
gestellt. Damals haben Sie nicht davon gesprochen, dass
dies unseren Arbeitsmarkt kaputt macht. Aber jetzt, da es
um die Arbeitserlaubnis für nur 10 000 IT-Spezialisten in
diesem Jahr geht, schlagen Sie die populistische Alarm-
glocke. Das ist unanständig, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ich halte es da lieber mit dem früheren Chef der
Deutschen Bank, Hilmar Kopper, einem Mann, der völlig
unverdächtig ist, uns nahe zu stehen. Er sagte bei der Kon-
rad-Adenauer-Stiftung zu Jürgen Rüttgers´ Erzählungen:
„Kompletter Müll!“


(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
Aber auch die eigentlich CDU-nahe Wirtschaft wird

deutlich: „Undurchdacht und erbärmlich populistisch“,
sagt Arbeitgeberpräsident Hundt. „Deutschland kann sich
einen solchen Provinzialismus nicht leisten“, sagt BDI-
Präsident Henkel. Ich könnte jetzt endlos aus dem disso-
nanten Chor der Unionskollegen zitieren. Ich erspare Ih-
nen das.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Sagen Sie einmal etwas zum Gipfel in Lissabon!)


– Das habe ich die ganze Zeit gemacht, Herr Kollege. Sie
haben überhaupt nicht aufgepasst.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich rede über IT-Technologie, über den Weg ins 21. Jahr-
hundert. Herr Repnik, das ist Ihnen vielleicht ein bisschen
fremd, aber ich habe wirklich darüber gesprochen.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie

müssen sich jetzt entscheiden, wie Sie zu der Rüttgers-
nummer stehen: Mal auf Distanz gehen, mal unterstützen,
heute so, morgen so, das geht nicht. Frau Merkel – nun ist
sie leider nicht mehr da –, das ist nicht die Klarheit, die Sie
Ihrer Basis versprochen haben.




Dr. Peter Struck

9095


(C)



(D)



(A)



(B)



(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie geht an der Ostsee spazieren!)


Viele in der Union haben – wie man sieht – bis heute
nicht kapiert, worum es eigentlich geht. Es geht nicht um
Asylbewerber und es geht auch nicht um die Einwan-
derung von Ausländern. Es geht lediglich um eine kleine
Gruppe von hoch bezahlten Spitzenkräften, die lieber in
unserem Land als in den USA oder anderswo ihre Ideen
verwirklichen sollten und die uns helfen sollten.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Dafür muss man aber Anreize schaffen! Das geht nicht von allein!)


Auch die CDU/CSU muss doch irgendwann einmal
kapieren, dass hier ein Standortproblem gelöst wird und
dass alle von ihr aufgeworfenen Parolen mit diesem Pro-
blem überhaupt nichts zu tun haben.

Das Pikante an der Angelegenheit Rüttgers ist übrigens,
dass seine Postkartenaktion natürlich auch über Com-
puter abgewickelt werden muss. Nun will ich dem Hohen
Hause nicht vorenthalten, dass Herr Rüttgers, während er
dagegen polemisiert, dass ausländische Computerexperten
den Deutschen Arbeit wegnehmen, für seine Kampagne
indische – ich wiederhole: indische! – Hilfe braucht. Denn
für die Auswertung der Postkartenaktion bedient er sich
einer Datenbank, die von einem Inder namens Umang
Gupta aus Bangalore entwickelt worden ist.


(Heiterkeit und lebhafter Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Bravo, Herr Rüttgers! Herr Rüttgers lernt das schneller als Herr Merz! – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat er dem eine Arbeitserlaubnis gegeben?)


– So viel, meine Damen und Herren, zum Thema Glaub-
würdigkeit. Das zeigt, wohin bei Ihnen die Reise geht.

Demgegenüber geht die Reise so, wie wir sie gestalten
wollen, in die richtige Richtung. Die Bundesregierung hat
die Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion auf dem
weiteren Weg nach Europa.


(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409800800
Ich erteile dem Kol-
legen Helmut Haussmann, F.D.P.-Fraktion, das Wort.


Prof. Dr. Helmut Haussmann (FDP):
Rede ID: ID1409800900
Sehr geehrter Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bun-
deskanzler hat in Lissabon einer Erklärung zugestimmt,
in der es heißt, Europa solle sich zu einem der modernsten,
dynamischsten Räume des Wissens und Fortschritts ent-
wickeln und sogar zum stärksten Wirtschaftsraum der
Welt werden.

Die heutige Diskussion über einen europäischen Gipfel
ist eigentlich die erste, in der zu den großen Krisen in Eu-
ropa kein Wort gesagt wurde:


(Beifall bei der F.D.P.)


Wir haben einen angeschlagenen EU-Präsidenten Prodi,
der seinerzeit von Herrn Schröder in Berlin als „Wunder-
waffe“ gepriesen wurde, wir haben nach wie vor keinen
Beitrittstermin für die Osterweiterung, wir haben Still-
stand bei den wichtigen institutionellen Reformen und es
fiel hier kein Wort über das skandalöse Verhalten
gegenüber Österreich. Demgegenüber streiten wir heute
über Green Cards und Inder. Ich kann mir richtig
vorstellen, wie diese Diskussion die Vereinigten Staaten
von Amerika im Hinblick auf die zukünftige Wettbewerbs-
situation beeindruckt.

Wer sich mit den Vereinigten Staaten von Amerika
messen will, der muss drei Voraussetzungen erfüllen: Er-
stens muss er sich auch in Deutschland zu einer modernen,
flexiblen, internetgestützten, dynamischen – Sie können
auch sagen: liberalen – Wirtschaft bekennen. Deshalb bitte
ich die Grünen und die SPD, bei dem Begriff „liberal“ ide-
ologisch abzurüsten. In allen wirtschaftswissenschaft-
lichen Diskussionen ist „liberal“ der Sinnbegriff für offen,
wettbewerbsfähig, innovativ und dynamisch.


(Beifall bei der F.D.P.)

Sie sollten also einmal Ihr Verhältnis zum Begriff „libe-
ral“ klären.

Zweitens brauchen wir eine starke europäische
Währung, die wir im Moment nicht haben. Drittens
brauchen wir ein vereinigtes Europa; damit meine ich
keine Vereinigten Staaten von Europa. Die Vereinigten
Staaten von Amerika nehmen nur ein Europa ernst, das
sich vereinigt hat. Ein solches vereinigtes Europa umfasst
nicht nur Westeuropa, sondern das gesamte Europa.


(Beifall bei der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit dem er-

sten Punkt, der neuen Wissensgesellschaft, beginnen.
Hier kann man sich sicherlich an Herrn Rüttgers reiben. Es
ist ja interessant, dass Präsident Clinton in Neu-Delhi an
einem amerikanisch-indischen Gipfel mit dem Thema „In-
dien – USA: eine Vision für das 21. Jahrhundert“ teilge-
nommen hat, während zugleich der frühere Zukunftsmini-
ster den auch aus meiner Sicht unsäglichen Slogan
„Kinder statt Inder“ geprägt hat. Angesichts der globali-
sierten Wirtschaft brauchen wir in Deutschland beides: gut
ausgebildete Kinder und hervorragende internationale
Wissenschaftler und Fachleute.


(Beifall bei der F.D.P. – Franz Thönnes [SPD]: „Indernationale“!)


Nur kann der jetzt von Herrn Riester vorgelegte „An-
werbestoppausnahmeverordnungsentwurf“ auch nicht die
Wunderwaffe sein. Dieses Wort ist zunächst einmal gar
nicht ins Englische übertragbar. Das ist vielleicht auch
besser, weil sonst der Abschreckungscharakter für
Spezialisten noch stärker zum Ausdruck käme, meine
Damen und Herren.


(Beifall bei der F.D.P.)

Es ist falsch – das ist typisch sozialdemokratisch-

grün –, dass die Voraussetzung für eine Zulassung in
Deutschland nicht die bisherige berufliche Leistung ist,
sondern Zeugnisse sind.




Dr. Peter Struck
9096


(C)



(D)



(A)



(B)



(Beifall bei der F.D.P.)

Es ist falsch, dass der Familiennachzug und vor allem die
Berufstätigkeit der Frau nicht geregelt ist. Es ist falsch,
dass die Frage der Selbstständigkeit nicht geklärt ist;


(Beifall bei der F.D.P.)

denn viele werden als Arbeitnehmer bei Firmen, zum
Beispiel bei SAP in Baden-Württemberg oder anderen, be-
ginnen und werden sich dann, was wir sehr wünschen,
selbstständig machen. Es ist falsch, dass die Personen nach
drei Jahren zurückkehren müssen und dass nur in einem
erneuten Prüfungsverfahren über eine Verlängerung
entschieden werden kann.


(Beifall bei der F.D.P.)

In den USA dagegen besteht bei der Green Card von

Anfang an die Perspektive, dort auf Dauer arbeiten und
leben zu können, und zwar einschließlich der Familie. Nur
diese Perspektive wird hervorragend qualifizierte Men-
schen nach Deutschland ziehen.

Wenn Sie mit den Fachleuten reden, dann bekommen
Sie von ihnen als Reihenfolge der bevorzugten Länder
genannt: USA, Kanada, Australien, Singapur, Nieder-
lande, andere Länder und unter ferner liefen Deutschland.
Es kommt nämlich nicht nur auf ein neues Gesetz an, auch
das gesellschaftliche Klima ist für kreative Menschen
wichtig. Ohne mehr Liberalität, ohne mehr Toleranz
gegenüber anderen, ohne mehr Offenheit, ohne Anerken-
nung von Leistungen in einer Gesellschaft, die nach wie
vor von Neid und Wettbewerbsschwäche geprägt ist, wer-
den Sie die besten Leute der Welt nicht in Deutschland ver-
sammeln können.

Auf Dauer wird es nicht möglich sein, das Thema ohne
ein Einwanderungsbegrenzungsgesetz,wie es die F.D.P.
vorgelegt hat, zu regeln.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Wie soll ich der mittelständischen Maschinenbauindustrie
in meinem Wahlkreis, die ebenfalls einen Mangel an
Fachkräften – allerdings nicht im IT-, sondern im
Steuerungsbereich, im Maschinenbau – zu verzeichnen
hat, erklären, warum sie sich keiner Kräfte aus dem Aus-
land bedienen darf? Warum darf das nur eine Branche, die
glänzt und die beim Bundeskanzler zu Tische sitzt? Ich
glaube, dass es auf Dauer rechtlich nicht gehen wird, be-
stimmte Branchen auszuschließen. Früher oder später
werden Sie beim Gesetzentwurf der F.D.P. landen. Sie
brauchen ein Einwanderungssteuerungsgesetz. Das ist für
die Wirtschaft von entscheidender Bedeutung.


(Beifall bei der F.D.P.)

Zweitens. Herr Bundeskanzler, wer global mit den USA

gleichziehen will, dem darf der Außenwert der europäi-
schen Währung nicht gleichgültig sein. Der Innenwert des
Euro ist nach wie vor stabil, was für die Sparer und für die
„kleinen Leute“ sehr wichtig ist. Wir haben die gleiche
Geldentwertung wie unter D-Mark-Bedingungen. Alle
Diskussionen in Amerika zeigen allerdings, dass sich der-
jenige, der langfristig eine zweite Leitwährung, eine Re-
servewährung bilden will, entschiedener um den Au-
ßenkurs des Euro kümmern muss. Seit Einführung des Eu-

ro hat dieser gegenüber dem Dollar 19 Prozent an Wert
verloren und gegenüber dem Yen sogar 23 Prozent. Nur
der Vergleich „Die USAsind dynamisch – wir nicht“ zieht
also nicht. Der Euro ist weltweit auch gegenüber dem Yen
nach wie vor eine Schwachwährung.

Die Euroschwäche ist die Quittung der Märkte für un-
terlassene liberale Reformen in Kontinentaleuropa. Das
süße Gift einer geduldeten Weichwährung wirkt auf Dauer
äußerst negativ auf unsere Wirtschaft und besonders auf
den Mittelstand.


(Beifall bei der F.D.P.)

Eine Weichwährung spiegelt mangelnde Wettbewerbs-
fähigkeit vor. Unter derzeitigen Bedingungen sind die
USA trotz hartem Dollar noch wettbewerbsfähiger. Dort
gibt es Vollbeschäftigung. Es gibt dort nicht einen
Beschäftigungszuwachs von 20 000 Stellen pro Jahr, son-
dern einen durchschnittlichen Zuwachs von 250 000 neuen
Arbeitsplätzen pro Monat. Diese Entwicklung findet
schon im achten Jahr statt. Das heißt, mit der amerikani-
schen Wirtschaftsdynamik wäre die Arbeitslosigkeit in
Deutschland in sechs Jahren beseitigt. Im letzten Quartal
gab es in den USA ein Wirtschaftwachstum von
7,3 Prozent.

Eine weitere Gefahr einer weichen Währung ist, dass
sich auf Dauer die importierte Inflation entwickelt. Dann
müsste die Europäische Zentralbank die Zinsen erhöhen.
Letztlich müssten wieder der Mittelstand und die Sparer
die Zeche bezahlen.

Die Euroschwäche ist meines Erachtens in Wirklichkeit
das Ergebnis eines Systemvergleiches. Auf der einen Seite
steht das angelsächsische, flexible, offene, man kann
sagen: liberale Wirtschafts- und Gesellschaftssystem.
Dem gegenüber steht das mehr bürokratische, kontinen-
taleuropäische und wenig flexible Wirtschaftssystem.

Bevor Sie sich nicht im Steuer-, Arbeits- und Tarifrecht
zu echten Reformen entschließen, werden wir den Euro
auf Dauer nicht härter bekommen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist auf Dauer, insbesondere für die „kleinen Men-
schen“, von größtem Nachteil.

Der dritte für ein wirtschaftliches Kräftemessen mit den
Vereinigten Staaten wichtige Punkt ist die kontinentale Or-
ganisation Europas. Allein Westeuropa ist auf Dauer zu
klein. Deshalb kommt der Osterweiterung auch unter
globalen Gesichtspunkten eine enorme Bedeutung zu. Die
Osterweiterung ist im besten Sinne Sicherheitspolitik für
ganz Europa. Sie liegt im strategischen Interesse unseres
Landes. Die Liberalen werden nicht ruhen, die Ost-
erweiterung pünktlich einzufordern.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es war die Regierung Brandt/Scheel, die im Jahre 1973
die Ostverträge gegen den Widerstand der Union
durchgesetzt hat. Die Ostverträge waren der Anfang der
Öffnung und zugleich das Ende des „Eisernen Vorhangs“.
Die Regierung Kohl/Genscher hat die Zwei-plus-Vier-




Dr. Helmut Haussmann

9097


(C)



(D)



(A)



(B)


Verträge und den Maastricht-Vertrag ohne Verzögerung
ratifiziert und den Euro pünktlich eingeführt. Unter der
Regierung Kohl/Kinkel ist die Erweiterung um Österreich,
Finnland und Schweden im Jahre 1995 exakt zum voraus-
gesagten Zeitpunkt durchgeführt worden. Deshalb werden
Sie in Osteuropa auch intern keine Stabilität erreichen,
wenn Sie sich nicht entscheiden, einen Termin zu nennen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Vor kurzem hat uns der frühere Ministerpräsident
Mazowiecki besucht, der heute Vorsitzender des Auswär-
tigen Ausschusses in Warschau ist. Er ist zutiefst von der
Zögerlichkeit der jetzigen Bundesregierung enttäuscht.


(Günter Gloser [SPD]: Das stimmt doch überhaupt nicht – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nur Herr Mazowiecki, aber sonst niemand!)


Die Agenda 2000 reicht nicht aus und die Agrarpolitik
stockt. Wir haben eine Koalition der Verzögerer. Die Bun-
desrepublik als wichtigstes Land in Europa unternimmt
keine entscheidenden Initiativen, um die Voraussetzungen
für die Osterweiterung zu schaffen. Wir haben das vor
kurzem im Europaausschuss erlebt: Der Außenminister
kann nicht anwesend sein. Er setzt sich gegenüber dem
Agrarminister nicht durch. Es gibt keinen Beschluss über
Mehrheitsentscheidungen. Es gibt keine deutsch-franzö-
sische Initiative für institutionelle Reformen.


(Günter Gloser [SPD]: Das stimmt nicht!)

Mein Gefühl ist – ich sage das sehr offen –, dass sowohl

Herr Schröder als auch Herr Stoiber aus wahlkampftakti-
schen Gründen keine pünktliche Osterweiterung wün-
schen, weil eine solche genau mit den nationalen
deutschen und französischen Wahlen zusammenfallen
würde. Das ist der Unterschied zur früheren Regierung
Kohl/Kinkel.


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Michael Glos [CDU/CSU])


Die Euro-Einführung im Wahljahr war ein äußerst
schwieriges Thema. Aber Osterweiterung und europäische
Währung sind Fragen der politischen Überzeugung der
Eliten. Auch wenn man anfänglich Widerstand spürt, muss
man auf Dauer führen und sich durchsetzen. Diese Durch-
setzungsfähigkeit vermisse ich bei der jetzigen Bun-
desregierung.


(Beifall bei der F.D.P.)

Letztlich wird sich Europa weltweit dauerhaft nicht als

Wirtschaftsgroßmacht mit Gemeinsamer Währung be-
haupten können. Europa braucht die politische und kul-
turelle Dimension. Die politische Union mit einer
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist auf dem
Wege. Allerdings wird uns der jetzige Verteidigungs-
beitrag der Bundesregierung dem Ziel einer ernsthaften
Verteidigungs- und Sicherheitspolitik nicht näher bringen.

Europa braucht auch einen einheitlichen Raum für
Recht und Freiheit. Jetzt geht es um eine europäische
Grundrechtscharta als erstem Schritt zu einer Verfas-
sung für Europäer.

Letztlich wird die Zustimmung zu Europa dann
zunehmen, wenn wir die Menschen politisch davon über-
zeugen, dass europäische Lösungen die wirkliche Antwort
sind, um mit der Globalisierung fertig zu werden. Der
Nationalstaat allein kann es nicht schaffen.

Die F.D.P. wird jede Initiative zu einer pünktlichen Ost-
erweiterung, zu schnellen institutionellen Reformen und
zur raschen Einführung einer Grundrechtscharta unter-
stützen. Hier gibt es und bleibt es bei Gemeinsamkeiten.
Die Bundesregierung muss aber als wichtigstes, als
größtes Land in Europa eine Führungsrolle übernehmen
und darf sich nicht hinter anderen Staaten verstecken.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409801000
Ich erteile der Kolle-
gin Kerstin Müller, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jeder
Mensch muss Zugang zu den neuen Medien bekommen.
Jeder Mensch muss die Chance haben, die neue Kultur-
technik, den Umgang mit Computern und Internet zu ler-
nen. Das haben die Regierungen der EU erkannt. Und sie
haben sich mit der Erklärung von Lissabon vorge-
nommen, die Entwicklungschancen, die in der Informati-
onstechnologie liegen, die Chancen für Ausbildung und
Beschäftigung, die Chancen für Forschung und Innovati-
on endlich zu nutzen. Das, meine Damen und Herren, ist
nachdrücklich zu unterstützen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Denn viele Länder Europas haben in den letzten zehn
Jahren den Anschluss an diese wirtschaftlichen und tech-
nologischen Entwicklungen verpasst. Das gilt leider auch
für Deutschland.

Mit dem Regierungswechsel haben wir auf vielen
Feldern angefangen umzusteuern. Wir haben mit dem
Wirtschaften auf Kosten zukünftiger Generationen endlich
Schluss gemacht, indem wir eine nachhaltige Haushalt-
spolitik eingeleitet haben. Wir haben eine Steuerreform
auf den Weg gebracht, mit der wir systematisch die Nach-
frage stärken: durch eine Entlastung der kleinen und mit-
tleren Einkommen und vor allem durch eine massive Ent-
lastung der Familien. Wir haben gleichzeitig durch eine
deutliche Entlastung des Mittelstandes die Angebotsbe-
dingungen verbessert. Wir werden diesen Kurs konse-
quent fortsetzen.

Wir verbinden die soziale und ökologische Erneuerung
mit wirtschaftlichen Reformen. Das führt auch zu Erfol-
gen bei der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. Ich
halte es für einen Erfolg, wenn wir heute, also im März
2000, immerhin fast eine halbe Million weniger Arbeits-
lose haben als im März der Kohl-Regierung 1998.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)





Dr. Helmut Haussmann
9098


(C)



(D)



(A)



(B)


Darauf können wir uns nicht ausruhen. Das ist völlig klar.
Es ist aber ein wichtiger Schritt nach vorn. Die Ergebnisse
des EU-Gipfels von Lissabon fügen sich in diese Politik
nahtlos ein.

Wir sind auf dem Weg in die so genannte Informa-
tionsgesellschaft. Wir haben aber bisher in Deutschland
noch nicht die notwendigen Konsequenzen gezogen. Das
heißt vor allem: deutlich mehr Investitionen in Bildung.
Das ist sowohl eine Frage sozialer Verantwortung als auch
Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg unserer
Gesellschaft.

Dabei geht es nicht nur um die Frage, ob ich möglichst
schnell im Netz drin bin, sondern auch darum: Was ist
sinnvoll und was nicht? Welche Informationen brauche
ich, welche nicht? Es geht um den mündigen Umgang mit
den neuen Medien, den wir und die Schülerinnen und
Schüler erlernen müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es geht um qualifizierte und ausreichende berufliche Bil-
dung.

Genau diese Herausforderungen, diese neuen Entwick-
lungen, meine Damen und Herren von der Opposition,
haben Sie in Ihrer Regierungszeit völlig verschlafen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie haben den Anteil von Bildung, Wissenschaft und
Forschung am Bundeshaushalt um über 30 Prozent herun-
tergewirtschaftet. Allein in der letzten Legislaturperiode
unter dem Zukunftsminister Rüttgers sind die Bil-
dungsausgaben um fast eine halbe Milliarde DM zusam-
mengestrichen worden. Da kann man nur sagen: Die alte
Regierung, vor allem der Zukunftsminister, hat die Zu-
kunftschancen der jungen Menschen nicht gesichert, son-
dern vertan.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Herr Rüttgers, der behauptet, dass er für diesen Bereich
gar nicht zuständig gewesen sei, war als Bildungsminister
bis 1998 gerade für die Berufsbildung zuständig. Er hat
den Bedarf an Fachkräften auch in der IT-Branche total
verschlafen.

So liegt Deutschland – Herr Merz, weil Sie es ange-
sprochen haben – bei den Privatanschlüssen an das Inter-
net in Europa auf dem 9. Platz. Ich frage mich: Wie konn-
te das passieren? Wie konnte aus 80 Millionen Deutschen
ein Volk ohne Anschluss werden? Wie konnte es passieren,
dass ausgerechnet wir gerade einmal 6 Prozent unseres
Bruttoinlandprodukts in diesen Zukunftsbereich in-
vestieren? Damit liegen wir laut OECD auf dem 29. Platz.

Die Antwort darauf ist einfach: Unter Kohl und
Rüttgers hat Deutschland digital stillgestanden. Deutsch-
land war offline.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Glos [CDU/CSU]: Still gestanden? Rührt euch! Wir sind hier doch nicht auf dem Kasernenhof!)


– Ich würde über diesen Punkt nicht lachen. Ich halte das
für absolut entscheidend.

Ausgerechnet Herr Rüttgers, der für diese Misere ver-
antwortlich ist, polemisiert jetzt mit dumpfen Parolen wie
„Kinder statt Inder“ gegen die Green-Card-Initiative.
Der Grund dafür ist ziemlich schlicht: Sie wollen mit
dieser schäbigen Kampagne einfach nur von Ihren eigenen
Versäumnissen ablenken,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


indem Sie wieder einmal – Herr Koch aus Hessen lässt da
grüßen – Wahlkampf auf Kosten von Ausländern machen.
Das ist nicht nur peinlich, das ist wirklich verantwor-
tungslos.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Meine Damen und Herren von der CDU, Deutschland
kann sich einen solchen Provinzialismus nicht leisten.
Diese Aussage stammt nicht von uns, sondern das sagte
kein anderer als der BDI-Vorsitzende Hans-Olaf Henkel.
Kollege Struck hat das heute schon erwähnt.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr richtig!)

Erwin Staudt von IBM Deutschland sagte:

Was Rüttgers macht, ist die unnötigste Aktion, seit
der römische Kaiser Caligula sein Pferd zum Konsul
ernannt hat.

Auch das ist ein schöner Spruch.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409801100


Die Kampagne ist undurchdacht und erbärmlich po-
pulistisch.

Eigentlich könnte ich uns ja nur gratulieren, denn Sie
haben fast die gesamte Wirtschaft gegen die CDU aufge-
bracht. An sich könnte uns das ja recht sein, nur leider
beschädigen Sie nicht nur den Ruf der CDU, sondern auch
den Ruf Deutschlands im Ausland.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das ist das Problem. Wenn nämlich die einflussreiche in-
dische Zeitung „Asian Age“ titelt „Der deutsche Haider
nimmt IT-Spezialisten aus Indien aufs Korn“, dann heißt
das doch, dass die Kampagne nicht nur erbärmlich frem-
denfeindlich ist, sondern Herr Rüttgers inzwischen auch
schon zum Standortrisiko für unser Land geworden ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das merken auch die Menschen; Sie werden das am
14. Mai bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen
erleben, meine Damen und Herren von der CDU; da bin
ich mir ziemlich sicher.




Kerstin Müller

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(C)



(D)



(A)



(B)


Ich will natürlich nicht verschweigen, dass auch die
Wirtschaft ein gerütteltes Maß an Verantwortung für die
derzeitigen Probleme hat. Natürlich ist eine Ursache die
mangelnde Ausbildung von Fachkräften. Natürlich hat die
Zurückhaltung bei der Einstellung durch die Unternehmen
den Rückgang bei den Studienanfängern in der Informatik
verursacht. 1994 waren es nur noch knapp 4 000. Und
genau diese schwachen Jahrgänge verlassen jetzt die
Hochschulen.

Aber umso wichtiger ist es doch jetzt, durch eine
gemeinsame Anstrengung den Rückstand in Europa und
im globalen Wettbewerb so schnell wie möglich aufzu-
holen. Die Wirtschaft hat insgesamt bis 2003 60 000 neue
Ausbildungsplätze im IT-Bereich zugesagt. Wir reden
nicht nur, wir investieren in Bildung und sorgen für mehr
Ausbildung: Wir haben 1Milliarde DM zusätzlich für Bil-
dung, Wissenschaft und Forschung zur Verfügung gestellt.
Bei uns steigt der Anteil der Bildungsausgaben am
Gesamthaushalt endlich wieder.

1999 haben wieder weit mehr als 10 000 junge Men-
schen mit dem Informatikstudium begonnen. Die Bundes-
anstalt für Arbeit erhält nochmals 200 Millionen DM
zusätzlich, insgesamt stehen 1,2Milliarden DM für Quali-
fizierungsmaßnahmen im IT-Bereich zur Verfügung. Bis
2001 sollen alle Schulen in der Europäischen Union am
Netz hängen. Aber all das ist eben – das ist das Problem –
noch keine Lösung, um den kurzfristigen Bedarf von rund
70 000 Fachkräften sowie den bis 2003 auf 250 000 Fach-
kräfte ansteigenden Bedarf zu decken. Deshalb – das sage
ich für meine Fraktion sehr klar – begrüßen wir ausdrück-
lich die Initiative des Bundeskanzlers, durch eine un-
bürokratische Green Card zunächst einmal die Zuwan-
derung von IT-Fachkräften zu erleichtern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Aber lassen Sie mich auch das ganz klar und deutlich
an dieser Stelle sagen: Wir wollen ein wirklich attraktives
Angebot an die hoch qualifizierten Fachkräfte. Wir wollen
wirklich eine unbürokratische Lösung. Sonst werden wir
nämlich erleben, dass die Menschen nicht kommen, weil
sie in anderen Ländern, zum Beispiel in den USA, bessere
Angebote bekommen. Dort bekommt nämlich auch der
Partner eine Arbeitserlaubnis, dort kann man sich selbst-
ständig machen und dort gibt es eine langfristige
Lebensperspektive, weil man nicht schon nach drei Jahren
wieder in die bürokratischen Mühlen gerät. Deshalb, Herr
Bundeskanzler, machen Sie Nägel mit Köpfen! Sorgen
Sie dafür, dass aus der Green Card keine Red Card wird.
Unsere Unterstützung dafür haben Sie.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Entwicklung der Informationstechnologie, die Ent-
wicklung zu einer Wissens- und Informationsge-
sellschaft, die im Mittelpunkt des EU-Gipfels von
Lissabon stand, ist keine leichte Aufgabe, sondern für alle
Länder eine große Herausforderung. Die Regierungen der
Europäischen Union haben sich dieser Herausforderung
nicht nur mit der Erklärung von Lissabon gestellt. Das ist
gut so; denn, meine Damen und Herren von CDU und

CSU, Globalisierung heißt doch nicht: freier Handel,
freier Warenverkehr in aller Welt, wir Deutschen fahren,
wohin wir wollen,


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Sondern?)

aber für Menschen aus anderen Ländern machen wir die
Schotten dicht. Globalisierung und nationale Borniertheit
vertragen sich nun einmal nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deutsche Unternehmen, die weltweit agieren, sind auf
multinationale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ange-
wiesen, sonst können sie auf Dauer nicht mithalten. Glo-
balisierung muss eben auch heißen: Deutsche Studierende
lernen im Ausland, junge Menschen aus der ganzen Welt
studieren an deutschen Hochschulen.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Na endlich!)

Das muss eben auch heißen: Deutsche Fachkräfte arbei-
ten im Ausland; dafür kommen Fachleute aus anderen
Ländern zu uns.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)


Sicher ist es so: Globalisierung löst bei vielen Men-
schen auch Ängste aus. Doch ich bin fest davon überzeugt:
Wir werden die Herausforderungen nicht bewältigen,
wenn wir die Ängste der Menschen für Wahlkämpfe miss-
brauchen und ansonsten den Kopf in den Sand stecken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir müssen die Globalisierung sozial und ökologisch
gestalten. Wir müssen den Menschen die Chancen deutlich
machen, die darin stecken. Jede IT-Fachfrau, jeder IT-
Fachmann, der jetzt nach Deutschland kommt, schafft
auch für uns neue Perspektiven, schafft neue Arbeits-
plätze, neue Ausbildungsplätze, auch für die Menschen in
Deutschland. Aber jede Firma, die ins Ausland geht, weil
sie eben hier keine Entwicklungschancen mehr hat, nimmt
ihre Arbeits- und Ausbildungsplätze mit.

Deshalb sage ich für meine Fraktion sehr klar: Die Bun-
desrepublik ist gerade vor dem Hintergrund der Globali-
sierung ein Einwanderungsland. Aus diesem Grunde
sind wir der Meinung: Wir können uns auf Dauer einer
Debatte um die Gestaltung der Einwanderung nicht ver-
schließen. Ich bin überzeugt: Mittelfristig brauchen wir ein
Einwanderungsgesetz, das die Zuwanderung planvoll
steuert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber Ihnen, Herr Merz, fällt dazu wieder einmal nur
eines ein: Einwanderung ja, aber Sie wollen dann gleich
das Asylrecht abschaffen. Herr Merz, ich weiß, aller An-
fang ist schwer. Aber ich finde, dieser Missgriff ist um
keinen Deut besser als die fremdenfeindlichen Parolen des
Kollegen Rüttgers.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)





Kerstin Müller
9100


(C)



(D)



(A)



(B)


Sie verabschieden sich damit von der gemeinsamen eu-
ropäischen Flüchtlingspolitik und auch von der Genfer
Flüchtlingskonvention. Sie wollen demnächst also wirk-
lich sagen: Tut mir Leid, lieber Flüchtling, wenn Sie ver-
folgt werden, wenn Sie gefoltert wurden, aber wir haben
in diesem Jahr leider schon 100 000 Computerspezialisten
ins Land gelassen, da können nicht auch Sie noch hinein.
– Das kann ich mir kaum vorstellen. Wenn Sie das wirk-
lich wollen, dann sollten Sie besser nicht mehr über die EU
als Wertegemeinschaft reden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Aber dass Sie mit der EU als Wertegemeinschaft
Probleme haben, haben Sie meines Erachtens schon in
Ihrer Bemerkung über einen möglichen Türkei-Beitritt
und über die EU als Religionsgemeinschaft gezeigt. Das
widerspricht diametral dem Grundkonsens der Europäi-
schen Union. Die EU ist keine Religionsgemeinschaft.
Die EU ist eben eine Wertegemeinschaft.


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Eben!)

– Eben! Das heißt,


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Ja, was heißt das?)

wir stehen gemeinsam für Demokratie, für Rechtsstaat-
lichkeit und für die Wahrung der Menschenrechte ein. Wir
stehen für den Schutz der Verfolgten ein, so wie dies auf
dem Gipfel in Tampere vereinbart worden ist. Diese Werte
sind die gemeinsame Grundlage, nicht irgendwelche Re-
ligionszugehörigkeiten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Peter Hintze [CDU/CSU]: Sehen Sie da keinen Zusammenhang?)


Nur auf dieser Grundlage wird der Gipfel von Lissabon
mit seiner vereinbarten Strategie zum gemeinsamen Auf-
bau einer europäischen Wissens- und Informationsge-
sellschaft, für eine aktive Beschäftigungspolitik und für
Reformen zum Erhalt und eben nicht zum Abbau des
Sozialstaates auf Dauer erfolgreich sein. Nur auf dieser
Grundlage kann es auch eine Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik in Europa geben.

Herr Merz und Frau Merkel – Frau Merkel ist leider
nicht mehr anwesend –, die neue CDU sollte sicherlich
manches anders machen als in den Jahren unter Helmut
Kohl. Dieser Meinung sind auch wir. Wenn es aber eines
gibt, was Sie bewahren sollten, dann ist es die Absage an
Nationalismus und die klare Orientierung auf ein
demokratisches und rechtsstaatliches Europa. Wir jeden-
falls werden diesen Weg konsequent gehen.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409801200
Es spricht nun
die Abgeordnete Dr. Knake-Werner, PDS-Fraktion.


Dr. Heidi Knake-Werner (PDS):
Rede ID: ID1409801300
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lissabon, gern als In-

ternetgipfel gefeiert und als zukunftsfähiger Weg in die
Wissensgesellschaft gelobt, erweist sich, wenn man genau
hinschaut – wir von der PDS haben das getan –, als Gip-
fel der Deregulierung.Der Verzicht auf soziale und öko-
logische Gestaltung hat sich leider durchgesetzt.


(Beifall bei der PDS)

Statt der vielversprechenden Ankündigung eines Eu-

ropas der Beschäftigung und des sozialen Zusammen-
haltes – darauf warten die Menschen, die ohne Arbeit sind
und unter sozialer Ausgrenzung leiden – droht ein Europa
der Börse, der Finanzmärkte und einer undifferenzierten
High-Tech-Euphorie. Lieber Kollege Struck, es ist wohl
so, dass sich die Konservativen in Lissabon durchgesetzt
haben, leider Hand in Hand mit unserem Bundeskanzler
Schröder und Tony Blair.


(Beifall der Abg. Dr. Ruth Fuchs [PDS])

Natürlich ist es gut, dass endlich wieder einmal der Be-

griff Vollbeschäftigung in der europäischen Debatte auf-
taucht. Es muss der Bundesregierung aber schon zu
denken geben, dass ausgerechnet Portugal es schafft,
diesen Begriff wieder in die Diskussion zu bringen.


(Beifall bei der PDS)

Wie soll denn diese Vollbeschäftigung aussehen? Geht

es tatsächlich um existenzsichernde Arbeit für alle mit
sozialen und tariflichen Schutz- und Mitbestim-
mungsrechten? Oder geht es vielleicht doch eher um
Vollbeschäftigung um jeden Preis, ohne jeden sozialen
und emanzipatorischen Anspruch? Wenn Sie von Chan-
cengleichheit reden, muss ich fragen: Sollte es jetzt nicht
endlich zu einer gerechten Aufteilung von bezahlter und
unbezahlter Arbeit zwischen Männern und Frauen kom-
men? Ich fürchte, das wird nicht geschehen. Ich fürchte,
Sie, Herr Bundeskanzler, bauen ein Europa für hochquali-
fizierte und gut bezahlte Eliten und ein Europa der Mini-
jobs für die große Masse. Dieses Europa wollen wir nicht.


(Beifall bei der PDS)

Mit den Beschlüssen von Lissabon ist man endgültig dazu
übergegangen, die Beschäftigungspolitik sowie die Wett-
bewerbs- und Technologiepolitik in eins zu setzen.

Die Europäische Union will an die Weltspitze. Das war
doch die zentrale Botschaft von Lissabon. Deshalb geht es
im Abschlussdokument vor allem um die Steigerung der
ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit, um den Sieg im
Standortkrieg und um ehrgeizige Wachstumsraten, die
dann aber wieder so bescheiden sind, dass durch sie die
20 Millionen neuen Arbeitsplätze, die nötig sind, ganz si-
cher nicht geschaffen werden können.

Letztlich hat sich in Lissabon der fatale Irrtum durchge-
setzt, dass ausgerechnet die größten Jobkiller der vergan-
genen beiden Jahrzehnte die sicherste Gewähr bieten, in
der Europäischen Union mit der Arbeitslosigkeit fertig zu
werden. Das Gegenteil ist doch der Fall: Dem Einsatz
neuer Technologien und der Erhöhung der Wettbewerbs-
fähigkeit fallen nach wie vor die meisten Arbeitsplätze
zum Opfer. Bis heute kommen auf jeden Arbeitsplatz in
der IT-Branche zwei bis drei Beschäftigte, die in der übri-
gen Wirtschaft ihren Arbeitsplatz verlieren.




Kerstin Müller

9101


(C)



(D)



(A)



(B)


Was bedeutet die Erhöhung der Wettbewerbs-
fähigkeit unter den Bedingungen begrenzter Märkte an-
deres, als die Beschäftigtenzahl zu verringern? Wenn es
immer noch so ist, dass die Aktienwerte dann am meisten
steigen, wenn Massenentlassungen angekündigt werden,
dann wissen wir doch, was die größere Wettbewerbs-
fähigkeit in Bezug auf Arbeitsplätze heißt. Kein Unter-
nehmen geht heute an die Börse, ohne zuvor einen rigiden
Beschäftigungsabbau zu verkünden.

Man muss doch gerade im Hinblick auf die Bundesre-
publik die Frage stellen, wieso ausgerechnet das Land mit
dem größten Exportüberschuss und folglich offensichtlich
mit den besten Wettbewerbspositionen auf den Welt-
märkten gleichzeitig die geringsten Fortschritte bei der
Schaffung neuer Arbeitsplätze aufweist. In Ostdeutsch-
land – das räumen Sie freundlicherweise ein – haben Sie
in dieser Frage komplett versagt.


(Beifall bei der PDS)

Wettbewerbsfähigkeit ist zu einem Fetisch geworden,

dem alle sozialen, humanen und ökologischen Ziele und
nicht nur die Sicherung der Beschäftigung untergeordnet
werden und wo zudem völlig ausgeblendet wird, mit wel-
chen gesellschaftlichen Kosten das Anheizen der Stand-
ortkonkurrenz verbunden ist. Ihr werden nicht nur
Arbeitsplätze geopfert, sondern durch Steuersenkungspro-
gramme werden der öffentlichen Hand genau die Mittel
entzogen, die für eine zukunftsfähige Entwicklung hier
und anderswo in Europa notwendig sind.


(Beifall bei der PDS)

Es fehlt dann eben das Geld für den Ausbau des Bil-

dungswesens oder der Wissenschaftsentwicklung und der
Pflege sozialer Strukturen. Woher soll zum Beispiel der in
Lissabon geforderte soziale Zusammenhalt der Gesell-
schaft kommen, wenn nicht aus öffentlichen Investitionen,
durch öffentlich geförderte Arbeitsplätze und zusätzliche
Anstrengungen in einer öffentlichen Daseinsvorsorge, die
sich wirklich dem Ziel widmet, die soziale Ausgrenzung
zu bekämpfen, wie es offensichtlich nicht nur die PDS
will?

Es ist sicher verdienstvoll, wenn in Lissabon zur
Überwindung des Analphabetismus aufgerufen wird. Im-
merhin gibt es selbst in der angeblichen Wissensge-
sellschaft Bundesrepublik drei bis vier Millionen Men-
schen, die weder lesen noch schreiben können. Aber hier
wie in allen anderen Punkten, die nicht unmittelbar zur
technologischen und ökonomischen Weltspitze führen,
fehlt es an konkreten Maßnahmen und vor allem an der
schlichten Einsicht, dass die viel beschworenen Investi-
tionen in die Menschen ohne Verbesserung der öf-
fentlichen Einnahmen wohl kaum zu bewerkstelligen sind.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Regierungskoalition, machen da genau das Gegenteil.

Was zum Beispiel nutzt eine Selbstverpflichtung, bis
zum Ende des nächsten Jahres alle Schulen ans Internet
zu bringen, wenn es in den Schulen an Lehrern mangelt –
von Sozialarbeitern, Schulpsychologen und Berufsberate-
rinnen gar nicht zu reden? Wie steht es um die Wissens-
und Informationsgesellschaft, wenn der Stundenausfall in
den Schulen bundesweit fast 10 Prozent beträgt und die

Klassengrößen ständig zunehmen?
Frau Kollegin Müller, ich muss mich schon über Ihre

Euphorie wundern, wenn ich gleichzeitig lese, dass die
angebliche Wissensgesellschaft nicht nur versäumt hat,
genügend Computerspezialisten, sondern auch ausrei-
chend Lehrerinnen und Lehrer auszubilden.


(Beifall bei der PDS)

Allein im berufsbildenden Schulwesen werden im
laufenden Jahrzehnt jedes Jahr 1 400 bis 2 000 Stellen
fehlen. Diesen Mangel wird weder die Green Card noch
der Internetzugang beseitigen.

Alles, was in Lissabon unter der wichtigen Überschrift
„Bildung und Ausbildung für das Leben und Arbeiten in
der Wissensgesellschaft“ zusammengefasst wurde, bleibt
auf der Ebene der guten Wünsche und Hoffnungen und
steht zudem in tiefem Widerspruch zu einer rigiden
Haushaltspolitik, wie sie auch hierzulande betrieben wird.

An Letzterem wird sich leider auch wenig ändern, wenn
man sich den Entschließungsantrag von SPD und Bünd-
nisgrünen anschaut. Sie bleiben damit tatsächlich noch
hinter dem beschäftigungspolitischen Aktionsprogramm
der Bundesregierung für das Jahr 2000 zurück.

Das Kapitel der Beschäftigungspolitik von Lissabon
enthält – bei aller Kritik – viele wichtige Punkte, die drin-
gend in nationale Politikkonzepte umgesetzt werden
müssten. Dazu würde zum Beispiel gehören, ernsthafte
Schritte zur Eröffnung einer Qualifizierungsoffensive
aufzunehmen, statt gering Qualifizierte in Niedriglohnsek-
toren zu entsorgen.


(Beifall bei der PDS)

Dazu gehören auch Überlegungen, wie die bestehenden

Bildungsbarrieren abgebaut und die größte von ihnen, die
Armut, endlich beseitigt werden und die zunehmende
Spaltung der Gesellschaft aufgebrochen wird. Schließlich
müsste dazu gehören, die Instrumente der Arbeits-
förderung endlich so zu novellieren, dass der im Doku-
ment von Lissabon ausdrücklich erwähnte und von der
PDS seit langem geforderte dritte Sektor endlich verwirk-
licht werden kann,


(Beifall bei der PDS)

nicht nur – das sage ich auch ausdrücklich – als Feld zu-
sätzlicher Beschäftigung, sondern als Beitrag zum Aufbau
des auch in Lissabon geforderten aktiven Wohlfahrts-
staates. Das verlangt auch endlich Konzepte zur radikalen
Arbeitszeitverkürzung, zum Überstundenabbau, für sinn-
volle Teilzeitmodelle, wie wir von der PDS sie seit langem
fordern. Auch hier bei Ihnen Leerstellen!

Zur Widersprüchlichkeit der in Lissabon nieder-
geschriebenen Schlussfolgerungen gehört schließlich
auch, dass die kleinen und mittelständischen Un-
ternehmen zwar als Aktivposten der Beschäftigungspoli-
tik erwähnt werden – das ist auch gut und richtig so –, dass
sie aber durch die Dominanz der globalen Wettbewerbs-
orientierung und das Gerangel um den Spitzenplatz als
Wirtschaftsmacht wieder an den Rand gedrängt werden.
Wer die kleinen und mittelständischen Betriebe fördern
will, der muss die Binnennachfrage stärken – das genau




Dr. Heidi Knake-Werner
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(D)



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(B)


aber tun Sie nicht –, der darf die Wirtschaftsstruktur nicht
allein dem Markt überlassen – das genau tun Sie –, der
muss regionale Kreisläufe fördern – das wiederum tun Sie
nicht – und der darf vor allem nicht übersehen, dass die
versprochene Ausstattung dieses Wirtschaftsbereichs mit
Risikokapital umso schlechter gelingt, je mehr die
Finanzmärkte dereguliert werden; und genau das ist Ihr
oberstes Prinzip.

Lassen Sie mich abschließend eine Bemerkung zum
Antrag der Unionsfraktion machen. Man kann Ihnen
schon das Kompliment machen, dass Sie den in Lissabon
formulierten Widerspruch des Jonglierens zwischen über-
mäßiger Wettbewerbsfixierung und gleichzeitigem
Bekenntnis zum aktiven Wohlfahrtsstaat wirklich auf den
Punkt gebracht haben. Sie fordern ein Zurückbleiben der
öffentlichen Haushalte hinter der allgemeinen Wachs-
tumsrate, was natürlich die Wettbewerbsfähigkeit des Eu-
ro auf den Finanzmärkten erhöhen dürfte. Aber den
Wohlfahrtsstaat können Sie endgültig vergessen, wenn Sie
die staatlichen Haushalte weiter austrocknen, wie Sie es
damit beabsichtigen.

Sie scheinen sich endgültig einen Spitzenplatz im
Bremserhäuschen der europäischen Integration erobern zu
wollen. Wenn man Europa will, Kollege Merz, wenn man
eine europäische Beschäftigungspolitik will, dann muss
man auch europäische Standards wollen, soziale und öko-
logische.


(Beifall bei der PDS)

Wer sich mit dem Hinweis auf das Subsidiaritätsprinzip
dieser Verantwortung entzieht und diese Standards
verneint, verneint auch eine gemeinsame Beschäfti-
gungspolitik. Dazu aber gibt es bei aller Kritik, die wir an
Lissabon haben, keine Alternative.

Die PDS hat heute dazu einen Antrag für die weitere
Beratung eingebracht, in dem viele wichtige Anregungen
formuliert sind, die wirklich zu einem gemeinsamen
sozialen und ökologischen Europa führen können.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409801400
Es spricht jetzt
Frau Bundesministerin Edelgard Bulmahn.

Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen! Liebe Kollegen! In Deutschland bewegt sich
wieder etwas. Wir haben mit dem Sofortprogramm
Hunderttausenden von Jugendlichen eine Chance gege-
ben, indem wir sie in berufliche Maßnahmen und Ausbil-
dung gebracht haben. Wir modernisieren Berufe schnel-
ler und wir schaffen neue Berufe. Die Zahl der Ausbil-
dungsplätze in den informationstechnischen Berufen wird
in diesem Jahr auf 40 000 steigen, gegenüber 14 000 im
Jahre 1998. Erstmals seit der deutschen Einheit werden in
den neuen Bundesländern in den Betrieben wieder mehr
Menschen ausgebildet.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das alles haben wir nicht allein geschafft, sondern gemein-
sam mit den Gewerkschaften und mit der Wirtschaft, und
zwar in einem Rekordtempo.

Die Zeiten des Stillstandes sind vorbei. Von uns
wird – im Gegensatz zu der Vorgängerregierung – die
Zukunft nicht verschlafen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ CSU – Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Na, na! Etwas mehr Sachlichkeit durch die Bildungsministerin!)


Wer heute die Zukunft gestalten will, muss dabei interna-
tional denken und handeln. Wir müssen weg vom pro-
vinziellen Abschotten, wie es sich in den wirklich dummen
Sprüchen von Herrn Rüttgers widerspiegelt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Denn die Zukunft Deutschlands liegt im Fortschritt und in
der Innovation. Beides erreicht man nicht, wenn man
ängstlich in alten Denkmustern verharrt. Denn mit Angst
und Angstmacherei ist kein Staat zu machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Herren und Damen, die Zeit des Stillstandes ist
auch bei der Entwicklung und Nutzung der Informations-
und Kommunikationstechnologie vorbei. Herr Merz,
Sie haben nicht Recht, wenn Sie die Informations- und
Kommunikationstechnologie so betrachten wie jede an-
dere Technik. Denn das ist sie nicht. Sie ist eine Schlüs-
seltechnologie, die in einem hohen Maße darüber
entscheidet, ob wir auch in Zukunft zum Beispiel im
Maschinenbau, in der Biotechnologie, in der chemischen
Branche und in der Lasertechnik wettbewerbsfähig sein
werden. Denn Steuerung, Sensorik und Datenverarbeitung
sind Schlüsseltechnologien, die sich auf die Wettbewerbs-
fähigkeit unserer gesamten Volkswirtschaft auswirken.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es war dringend notwendig, dass die Bundesregierung in
diesem Bereich eine Offensive gestartet hat, um nicht
abgehängt zu werden und um nicht Arbeitsplätze zu ver-
spielen.

Wir brauchen klare und strategische Ziele in einem
handlungsfähigen und sozialen Europa, in einem Europa,
das zur Verbesserung unserer wirtschaftlichen Wett-
bewerbsfähigkeit und unserer Lebensqualität beiträgt, vor
allem aber in einem Europa, das hilft, Arbeitslosigkeit zu
überwinden und jungen Menschen Perspektiven zu bieten.
Deshalb verstehe ich es nicht, wenn hier ein Widerspruch
zwischen nationalen Anstrengungen, das heißt den
Anstrengungen der Länder, und europäischen Anstreng-
ungen hergestellt wird.


(Joachim Poß [SPD]: Ja, alles falsche Gegensätze!)


Natürlich gehören die wirtschaftliche Entwicklung, die
kulturelle Entwicklung und die Entwicklung des Arbeits-
marktes zusammen. Es ist ein völliger Unsinn, wenn man
so tut, als ob das nichts miteinander zu tun hätte.




Dr. Heidi Knake-Werner

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(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Erfolgreich kann ich Politik nur dann gestalten, wenn ich
nicht borniert nur auf ein Ressort schaue, sondern wenn
ich einen Querschnitt herstelle und einen Gesamtblick
habe.

Bildung und Qualifizierung spielen in einer Welt, in
der Wissen immer mehr zu dem entscheidenden Wettbe-
werbsfaktor wird, eine wichtige Rolle. Sie spielen nicht
nur für die Entwicklungsfähigkeit unserer Wirtschaft, son-
dern auch für die individuellen Lebenschancen eines Men-
schen und für die Chancen, am gesellschaftlichen
Fortschritt teilzuhaben, eine entscheidende Rolle.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Deshalb war es richtig, dass die Staats- und Regierungs-
chefs der Europäischen Union in Lissabon im März dieses
Jahres diese Themen ganz nach oben auf die Agenda ge-
setzt haben und beschlossen haben, wichtige Schritte nach
vorne zu machen und die Investitionen zu erhöhen, aber
auch in einer gemeinsamen Anstrengung die Infrastruktur
und die Voraussetzungen dafür zu verbessern.

Die Bundesregierung hat dies in Deutschland gleich
nach ihrem Amtsantritt angepackt. Deshalb verstehe ich
die von der PDS geäußerte Kritik nicht. Wir haben bereits
1999 die Ausgaben für Bildung und Forschung um
1 Milliarde DM erhöht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das hat es in den ganzen 20 Jahren zuvor nicht gegeben.
Und wir werden damit fortfahren! Wir werden die Aus-
gaben für Bildung und Forschung nicht kürzen, so wie das
mein Vorgänger bzw. die alte Bundesregierung getan hat.
Wir werden vielmehr den Zukunftsgedanken ernst
nehmen und Investitionen in diesem Bereich weiter ver-
stärken.

Wir haben im letzten Jahr 2 Milliarden DM für das So-
fortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit
eingesetzt und haben damit einen sehr großen Erfolg
erzielt.

Wir haben erstmals in Deutschland einen Ausbil-
dungskonsens geschaffen. Auch das hat es unter Ihrer
Regierung, meine Herren und Damen von der Opposition,
nicht gegeben. Gemeinsam mit Wirtschaft und Ge-
werkschaften haben wir hier einen erheblichen Fortschritt
erreicht. Zum ersten Mal haben wir in den neuen Bun-
desländern wieder mehr betriebliche Ausbildungsplätze.
Das zeigt: Es klappt, es geht, wenn man zusammenwirkt.
Wir haben mit unseren Beschlüssen und Vereinbarungen
ein Gesamtkonzept erarbeitet und ersetzen damit die
Flickschusterei während Ihrer Regierungszeit, meine Her-
ren und Damen von der Opposition.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Was ist neu? Wir modernisieren die Ausbildungsberufe,

zum Beispiel die Laborberufe, aber auch die Ausbildung
zum Maschinenbaumechaniker, in der es in der Vergan-
genheit über 200 detaillierte Lerninhalte gab. So etwas
wird es in Zukunft nicht mehr geben. Denn wir wollen,

dass die Berufe immer so gestaltet sind, dass sie den beste-
henden Arbeitsanforderungen tatsächlich entsprechen.
Nur so können wir erreichen, dass unsere Jugendlichen
eine dauerhafte Berufschance haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [F.D.P.])


Wir geben allen Jugendlichen eine berufliche Chance.
Das bedeutet, auch lernschwächeren jungen Menschen
eine Perspektive zu bieten. Sie zu motivieren und ihnen
eine richtige Berufsausbildung zu geben, das ist unsere
Aufgabe. Deshalb sage ich Ihnen ganz klar: Eine „Ausbil-
dung light“ halten wir für falsch und lehnen wir ab. Das
Problem der Jugendarbeitslosigkeit kann man nicht durch
abgesenkte Bildungsstandards und eine verkürzte Dauer
der Ausbildung lösen. Das wäre der falsche Weg.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben uns deshalb im Bündnis für Arbeit mit allen
Sozialpartnern darauf verständigt, dass auch Jugendliche
mit schlechteren Startchancen eine vollwertige Berufs-
ausbildung erhalten sollen. Dies stößt im Übrigen bei den
Unternehmen auf eine sehr gute Resonanz. Sie müssen
sich einmal die Mühe machen, sich vor Ort zu informieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich habe das gemacht und in der letzten Woche einige Un-
ternehmen in Nordrhein-Westfalen besucht. Ein Un-
ternehmen in Ostwestfalen hat sich in Absprache mit den
Schulen verpflichtet, lernschwachen Jugendlichen, auch
Jugendlichen, die aller Wahrscheinlichkeit nach keinen
Hauptschulabschluss erhalten werden, eine Ausbildung
anzubieten.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Gut!)

Das halte ich für eine tolle Sache. Ich wünsche mir, dass

viele Unternehmen diesem Beispiel folgen werden. Durch
unsere Verabredung im Rahmen des Bündnisses für Arbeit
haben wir die Voraussetzungen dafür geschaffen, lern-
schwachen, benachteiligten Jugendlichen diese Chance zu
geben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Bundesregierung und die SPD-geführten Bundeslän-
der reden also nicht nur über Ausbildung und Quali-
fizierung, wir handeln.

Noch ein Wort zu der Ausbildung in den informations-
technischen Berufen, zu dem Thema „PCs in Schulen
und in derAusbildung“.Wenn Sie sagen, der Computer
ersetze nicht das Denken und das Lernen, so ist das sicher-
lich völlig richtig. Aber genauso richtig ist es, dass das Ar-
beiten am PC eine erhebliche Motivationsunterstützung
sein kann, eine bessere Lehre und auch eine Verbesserung
der Qualität des Unterrichts ermöglicht. Deshalb ist es
richtig, dass zum Beispiel im Land Nordrhein-Westfalen
inzwischen knapp 7 000 Schulen ans Netz angeschlossen
wurden. Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg
liegen damit in dieser Hinsicht an der Spitze aller
bundesdeutschen Länder.




Edelgard Bulmahn
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(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass Sie all das, was

wir in den letzten anderthalb Jahren auf den Weg gebracht
haben, schon vor einigen Jahren gestartet hätten. Dann
nämlich müssten wir heute nicht über mangelnde Quali-
fikation und Nachwuchsprobleme miteinander disku-
tieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409801500
Frau Ministerin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?


(Jörg Tauss [SPD]: Jetzt kommt Bayern!)


Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Ja, gerne.


Ilse Aigner (CSU):
Rede ID: ID1409801600
Frau Ministerin, Sie haben
gerade gesagt, wie viele Schulen in Nordrhein-Westfalen
ans Netz gegangen sind. Ich frage Sie, warum in Nord-
rhein-Westfalen noch nicht der Standard anderer Bundes-
länder erreicht worden ist. In Bayern sind 97 Prozent der
Gymnasien, 88 Prozent der Realschulen und etwa 70 Pro-
zent der Hauptschulen ans Netz angeschlossen.


(Zuruf von der SPD: Warum der Rest noch nicht?)


Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Zunächst einmal: Nordrhein-Westfalen
weist ein besseres Ergebnis auf; dort sind mehr Schulen
ans Netz angeschlossen als zum Beispiel in Bayern.


(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Ja, in absoluten Zahlen! – Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Aber nicht prozentual!)


– Sie müssen die Zahl der Schulen addieren. Es geht nicht
nur um die Gymnasien, sondern auch um die
Hauptschulen, die Berufsschulen, die Realschulen und die
Grundschulen. Darauf kommt es an.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Das ist sehr trickreich, Madame! – Michael Glos [CDU/CSU]: Die Hauptschulen und die Klippschulen!)


– Es geht doch gerade um die Hauptschulen, Herr Glos.
Insbesondere den Jugendlichen an diesen Schulen müssen
wir das Arbeiten am PC anbieten, damit auch in dieser
Schulform eine bessere Ausbildung ermöglicht werden
kann.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Da würde ich mich jetzt nicht verrennen!)


Zum anderen: Gerade Sie von der Opposition haben es
in den vielen Jahren Ihrer Regierungszeit versäumt, mit
den Ländern und den Netzbetreibern eine Offensive zu
starten.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Die Antwort war nicht einmal schwach; es war gar keine Antwort! Das war mangelhaft! Setzen! – Michael Glos [CDU/CSU]: Ungenügend!)


Wir haben es gemeinsam mit den Netzbetreibern erreicht,
dass in den kommenden zwei Jahren alle Schulen kosten-
los an das Netz angeschlossen werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben im Rahmen der Initiative D 21 mit den Un-
ternehmen verabredet, die Hardware-Ausstattung in einer
„public private partnership“ so zu erhöhen, dass es in
Zukunft in jedem Klassenraum PCs gibt. Wir haben vor
einem Monat ein Programm zur Entwicklung von Bil-
dungssoftware gestartet, weil es nicht ausreicht, wenn nur
in einem Fach oder in zwei Fächern mit dem PC gearbei-
tet wird. Das Arbeiten mit dem PC muss genauso selbst-
verständlich sein wie das Arbeiten mit einem Arbeitsbuch.

All das haben wir in anderthalb Jahren geschafft. Hät-
ten Sie das schon Anfang oder Mitte der 90er-Jahre in An-
griff genommen, ständen wir heute wesentlich besser da.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409801700
Gestatten Sie
eine zweite Zwischenfrage der Kollegin?

Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Ja, gerne.


Ilse Aigner (CSU):
Rede ID: ID1409801800
Frau Ministerin, ich kon-
kretisiere: Ich wollte eigentlich nicht die absoluten Zah-
len wissen, weil Nordrhein-Westfalen bekanntlich etwas
größer ist als Bayern. Mich hätten die Prozentzahlen
interessiert.

Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Wenn Sie in einer Studie nachschauen, die
den Zustand Ende 1998 zeigt – sie ist veröffentlicht wor-
den –, werden Sie feststellen, dass Nordrhein-Westfalen
auch bei der prozentualen Verteilung sehr gut dasteht.


(Widerspruch bei der CDU/CSU – Reinhard Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Und Niedersachsen? – Hartmut Schauerte [CDU/ CSU]: Niedersachsen war noch schlechter!)


– Entschuldigung, Sie müssen alle Schulen gemeinsam be-
trachten. Dann kommen Sie zu anderen Ergebnissen.

Ich will nur darauf hinweisen, dass das Land Nord-
rhein-Westfalen nicht nur beim Anschluss der Schulen ans
Netz sehr gut dasteht, sondern zum Beispiel auch bei der
Entwicklung der Informatikstudiengänge, was genau-
so wichtig ist, wenn wir hier über Spitzenfachkräfte reden.


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Das ist schon wieder nicht wahr!)


– Doch. Da müssen Sie einmal Fakten zur Kenntnis
nehmen.




Edelgard Bulmahn

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(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Es gibt einen Untersuchungsausschuss, wenn Sie hier so weiterreden! – Widerspruch bei der SPD)


In Nordrhein-Westfalen hat sich die Zahl der Studienan-
fänger von 3 211 im Jahre 1995/96 auf 5 419 erhöht. In-
zwischen hat jeder vierte in Deutschland ausgebildete
Informatiker seinen Abschluss an einer Hochschule in
Nordrhein-Westfalen erhalten. Die Zahl der IT-Absolven-
ten ist in NRW zehnmal schneller gestiegen als im
Bundesdurchschnitt. Das sind Fakten, meine Damen und
Herren. Hier wird also eine ganze Menge gemacht, in
sozialdemokratisch regierten Ländern genauso wie auf
Bundesebene.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409801900
Frau Ministerin,
gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, diesmal des
Kollegen Goldmann?

Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Ja.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409802000
Mehr lasse ich
aber an dieser Stelle nicht zu.


Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1409802100
Frau Ministerin,
Sie haben sicher in vielen Punkten Recht. Aber ich frage
mich, warum in dem Land, in dem Sie die Landesvorsit-
zende sind und aus dem der heutige Bundeskanzler
kommt, nämlich Niedersachsen, 1996 der Informatikstu-
diengang an der Universität Hildesheim,


(Lachen bei der SPD – Günter Gloser [SPD]: Wer zu spät kommt! Die F.D.P. schläft wieder!)


der sich in besonderer Weise mit Hochtechnologie im
Gesundheitsbereich beschäftigte, geschlossen wurde, ob-
wohl die Universität sich sehr dagegen gewehrt hat. Wie
erklären Sie es sich, dass erst im Jahr 2000 der jetzige
Ministerpräsident von Niedersachsen immerhin den revo-
lutionären Vorschlag macht, die Lehrerzimmer ans Netz
anzuschließen?

Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Das erkläre ich Ihnen sehr gerne.

Nur zur Information: Das Land Niedersachsen wird das
erste Bundesland sein, das gemeinsam mit der Telekom
alle Schulen ans Netz anschließt. Das ist vereinbart wor-
den. Auch da bitte ich Fakten zur Kenntnis zu nehmen und
nicht Vorurteile zu pflegen.

Zweitens. Ich wiederhole – zum Lernen gehört die
Wiederholung, wie man auch hier feststellt –: Im Jahre
1995/96 betrug die Zahl der Informatik Studierenden in
Niedersachsen 5 168. In diesem Jahre beträgt die Zahl
5 700.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Enormer Zuwachs! Gratulation!)


Wir haben das Fachhochschulangebot an Informatikstu-
diengängen – wir haben heute gerade an den Fach-
hochschulen einen eklatanten Mangel an Studienplätzen in
Informatik und in Kombinationen mit Informatik wie
Wirtschaftsinformatik etc., den Sie einmal zur Kenntnis
nehmen müssen – um 127 Prozent erhöht.


(Bundesminister Otto Schily: Prozent!)

Das ist eine Entwicklung, die sich wirklich sehen lassen
kann.


(Zuruf des Abg. Hans-Michael Goldmann [F.D.P.])


– Nein, die Professoren sind nicht nach Dortmund gegan-
gen. Vielmehr sind sie teilweise an andere Hochschulen
gegangen und teilweise an der Hochschule geblieben.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Kein einziger an Fachhochschulen!)


Alle Fachleute sind sich einig, dass es darauf ankommt,
dass unsere Hochschulen ein Profil entwickeln, dass sie in
der Region ihre Aufgaben vernünftig verteilen. Ich kann
von Ihnen nicht verlangen, dass Sie detaillierte Geo-
graphiekenntnisse haben,


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Ich bin immerhin in Hildesheim geboren!)


obwohl ich denke, dass es zur Allgemeinbildung gehört,
zu wissen, wie nahe zum Beispiel Hildesheim bei Han-
nover, bei Braunschweig oder bei Clausthal-Zellerfeld
liegt. Das sind Universitäten, an denen die Informatikstu-
diengänge ausgebaut worden sind.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das hören die Genossen in Hildesheim sicher sehr gern! – Reinhard Freiherr von Schorlemer [CDU/ CSU]: Das werden wir in Hildesheim laut machen!)


Es ist sinnvoll, das Profil so zu entwickeln, dass man zum
Beispiel technische oder naturwissenschaftliche Stu-
diengänge mit Informatik kombiniert. Genau das ist
gemacht worden: eine sinnvolle Profilbildung der Hoch-
schulen. Das ist genau das, was in Zukunft notwendig ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Herren und Damen, Sie haben in Ihrer
Regierungszeit jahrelang sträflich versäumt, Wirtschaft
und Gesellschaft auf die Anforderungen der Informations-
gesellschaft vorzubereiten.


(Beifall des Abg. Günter Gloser [SPD])

Sie haben zwar Zeit genug gehabt, aber es ist nichts
geschehen. Ich meine, das ist auch kein Wunder bei einem
Exbundeskanzler, der die Datenautobahn noch dem
Verkehrsbereich zuordnete.

Wir haben deshalb gesagt: Jetzt ist Schluss damit, wir
packen die Probleme an. Das haben wir mit einer Ausbil-
dungs- und Qualifizierungsoffensive, die wir bereits im
letzten Sommer gestartet haben, getan. Wir haben die Aus-
bildungsplätze in der informationstechnischen Branche
erheblich gesteigert – 40 000. Wir haben aber auch die




Edelgard Bulmahn
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(B)


Ausbildung und Umschulung erheblich gesteigert. Das ist
der Unterschied zu Ihnen. Sie machen eine „Wahlkampf-
ABM“, wir setzen auf Beschäftigung, Weiterqualifizie-
rung und Umschulung, weil nur so die Leute die Chance
bekommen, in den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren.
Das ist genau der Unterschied.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Wir haben wichtige Verabredungen getroffen, um eine
deutliche Steigerung der Zahl der Hochschulabsolventen
zu erreichen. Auch dabei sind wir auf einem guten Weg,
weil sich die Zahl der Studienabgänger gegenüber Ihrem
letzten Regierungsjahr verdoppelt hat.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Was hat die neue Bundesregierung dazu getan?)


Wir haben mit den Ländern gemeinsam ein Programm
„Neue Medien“ gestartet, wir haben die „be.Ing“-Kam-
pagne gestartet, um auch besonders Frauen für die neuen
Berufe zu motivieren


(Monika Ganseforth [SPD]: Sehr gut!)

und das ist – wie schon gesagt – bei weitem nicht alles.

Lassen Sie mich noch ein Wort zur Green Card für
Spitzenkräfte sagen.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Wenn wir so gut ausgestattet sind, brauchen wir die doch nicht!)


Die informationstechnische Branche ist – so wie ich das
am Anfang gesagt habe – die wichtigste Schlüsseltech-
nologie in den kommenden Jahren. Sie ist eine der
wichtigsten Wirtschaftszweige für Wachstum und
Beschäftigung. Dieses Wachstum stößt zurzeit in der Bun-
desrepublik an seine Grenzen, weil es uns an Spitzen-
fachkräften mangelt. Ich habe überhaupt kein Verständnis
dafür, dass sich die gleichen Leute, die in einem hohen
Maße die Verantwortung dafür tragen, dass wir einen ekla-
tanten Mangel an Spitzenfachkräften haben, nicht zu
schade sind, mit dümmlichen Sprüchen von ihrem eigenen
Versagen abzulenken.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der PDS)


Wie borniert das ist, was Herr Rüttgers hier macht, das hat
sich an dem Beispiel, das Peter Struck hier genannt hat,
gezeigt. Wie kann man eigentlich so borniert sein, so einen
Spruch in die Welt zu setzen und gleichzeitig die Software,
die von einem Inder entwickelt worden ist, einsetzen? Wie
kann man eigentlich so borniert sein? Wie kann man so
verantwortungslos sein?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS – Günter Glosen [SPD]: Seltas statt Rüttgas!)


Wenn wir wollen, dass sich unsere Wirtschaft so ent-
wickeln kann, dass Arbeitsplätze geschaffen werden,
brauchen wir Spitzenfachkräfte. Wir wissen, dass im
Zuge eines jeden Spitzenfachkraftarbeitsplatzes drei bis

fünf Arbeitsplätze in der Bundesrepublik geschaffen wer-
den. Und wir wollen die Arbeitsplätze hier halten. Ich
möchte eben nicht, dass sie ins Ausland abwandern. Wenn
wir wollen, dass die Arbeitsplätze hier bleiben, müssen wir
die Ausbildungs- und Qualifizierungsanstrengungen, die
wir richtig kräftig gestartet haben, fortsetzen. Das werden
wir tun. Wir brauchen zur Überbrückung dieses akuten
Spitzenfachkraftmangels die Möglichkeit, ausländischen
Spitzenkräften hier eine Arbeit anzubieten. Deshalb ist es
richtig, dass wir diese Entscheidung getroffen haben, weil
durch jeden dieser Spezialisten hier in der Bundesrepu-
blik Deutschland Arbeitsplätze geschaffen werden.

Diese Bundesregierung wird es nicht zulassen, dass
diese Chancen verspielt werden, weil wir Arbeitsplätze in
der Bundesrepublik sichern wollen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS – Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Erst die Green Card, dann die rote Karte! – Jörg Tauss [SPD]: Nur ein Blinder ist gegen Inder!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409802200
Für den Bun-
desrat erhält nun der Herr Staatsminister Reinhold
Bocklet das Wort.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409802300
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die europäischen
Staats- und Regierungschefs feiern den Aufbruch, den der
Gipfel von Lissabon verordnet hat. Die Erklärung des
Bundeskanzlers hat dies noch einmal deutlich gemacht.

Hohes Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung, Mod-
ernisierung des Sozialschutzsystems, Verringerung der Ar-
mut und die Anpassung der Ausbildungssysteme an die Er-
fordernisse der modernen Wissensgesellschaft lauten die
stolz verkündeten Ziele. Wer könnte da nicht zustimmen?
Neu sind diese Ziele allerdings nicht, auch nicht besonders
originell.

Wer wünscht sich denn nicht ein hohes Wirtschafts-
wachstum und Vollbeschäftigung oder die verstärkte
Nutzung von Computertechnologie und Internet?

Was ist also das Besondere an Lissabon? Die Antwort
gibt der Ratspräsident, der portugiesische Premierminister
Guterres selber. Das Revolutionäre dieses Gipfels, verkün-
det er, sei die neue Methode, auf die man sich verständigt
habe. Davon findet sich in Ihrer Erklärung, Herr Bun-
deskanzler, leider kein Wort.

Die Einigung auf eine neue Methode europäischer Poli-
tikgestaltung ist in der Tat der zentrale Aspekt des Gipfels.
„Offene Koordinierung“ heißt das Zauberwort. Nach dem
Vorbild der europäischen Beschäftigungsstrategie können
künftig vom Europäischen Rat in praktisch allen Politik-
bereichen konkrete Vorgaben gesetzt werden, die von den
Mitgliedstaaten umgesetzt werden müssen. Die jeweiligen
Fortschritte bei der Umsetzung werden dann regelmäßig
auf EU-Ebene kontrolliert und bewertet.


(Franz Thönnes [SPD]:Richtiger Wettbewerb!)





Edelgard Bulmahn

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Hier geht es um eine fundamentale Systemänderung in der
Europäischen Union. Ratspräsident Guterres nennt dies
stolz eine „wahre Revolution“ und der britische Premier-
minister Blair spricht von einer „Gezeitenwende“. Man
kann also nicht behaupten, dass hier nicht aufgeklärt wor-
den wäre. Nur bei unserer Regierung ist das offensichtlich
nicht angekommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Doch was verbirgt sich hinter diesem „völlig frischen

und neuen Politikansatz“, um noch einmal Ratspräsident
Guterres zu zitieren? Bleibt es bei der Formulierung
schöner Ziele und hehrer Absichtserklärungen? – Beileibe
nicht. Neben abstrakten Zielbestimmungen macht der Eu-
ropäische Rat im Wege der so genannten offenen Koor-
dinierung auch ganz konkrete Vorgaben für die Politik der
Mitgliedstaaten. Vorgesehen sind – ich zitiere aus den
Schlussfolgerungen –: Festlegung von Leitlinien mit
einem jeweils genauen Zeitplan für die Umsetzung;
gegebenenfalls Festlegung quantitativer und qualitativer
Indikatoren und Benchmarks im Vergleich zu den Besten
der Welt; Umsetzung dieser europäischen Leitlinien in die
nationale und regionale Politik durch Vorgabe konkreter
Ziele und den Erlass entsprechender Maßnahmen und
regelmäßige Überwachung, Bewertung und gegenseitige
Prüfung.

Das ist es, was vielen für Europa vorschwebt. Der Eu-
ropäische Rat als Taktgeber, die Mitgliedstaaten als Voll-
zugsorgane und die Kommission allenfalls als Kontrolleur
– und das vorbei an den vertraglichen Zuständigkeits-
regelungen und am Strukturgefüge der Verträge. Das ist
die staatspolitische Gefahr, die vom Lissaboner Gipfel
ausgeht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Parlamente in Bund und Ländern werden ins Ab-

seits gedrängt, die politischen Verantwortlichkeiten wer-
den verwischt. Die wesentlichen politischen Entschei-
dungen fallen nicht mehr hier in diesem Haus, sondern
beim Europäischen Rat. Nicht nur grundlegende politische
Weichenstellungen werden dort vorgenommen, es werden
höchst konkrete präzise Vorgaben für die Politik in den
Mitgliedstaaten gemacht.

Die Parlamente sind beim Zustandekommen dieser
Beschlüsse in keiner Weise beteiligt, wohl aber bei der
Umsetzung nachher daran gebunden. Sie werden folglich
in immer stärkerem Maße zu bloßen ausführenden Orga-
nen für Politiken, die praktisch ohne öffentliche Diskus-
sion und jedenfalls ohne Beteiligung der nationalen Par-
lamente festgelegt worden sind. In letzter Konsequenz
führt diese so genannte neue Methode der offenen Koor-
dinierung zur Entmachtung der Parlamente und damit zur
Entparlamentarisierung und zur Entdemokratisierung der
Politik.

Das gilt übrigens für die Parlamente in den Mitglied-
staaten ebenso wie für das Europäische Parlament. Auch
der EG-Ministerrat und die Europäische Kommission ver-
lieren an Einfluss zugunsten des Europäischen Rates. Für-
wahr eine fundamentale Weichenstellung! Nicht ohne
Grund spricht Christian Wernicke in der „Zeit“ deshalb
von einem „Putsch von oben“.

Damit nicht genug. Mit der so harmlos klingenden
„offenen Koordinierung“ kann sich der Europäische Rat in
Zukunft leicht über die vertraglich vereinbarte Kompe-
tenzordnung hinwegsetzen. Er kann den Mitgliedstaaten
auch in solchen Politikfeldern konkrete quantitative Vor-
gaben machen, in denen die EU keine Zuständigkeiten be-
sitzt. Davon wurde in Lissabon bereits intensiv Gebrauch
gemacht. So gibt der Europäische Rat beispielsweise als
Ziel die Weiterentwicklung von Schulen und Ausbil-
dungszentren zu „lokalen Mehrzwecklernzentren“ vor.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Unglaublich!)


Diese sollen allen offen stehen und ein möglichst breites
Spektrum von Zielgruppen erreichen. Was soll man sich
darunter vorstellen?


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Europäische Gesamtschulen!)


Etwa eine europäische Gesamtschule?
Ebenso wird die europaweite Absolventenquote für

einzelne Schulabschlüsse festgelegt. So soll die Zahl der
18- bis 24-Jährigen mit einem Abschluss der Sekun-
darstufe I halbiert werden. Europa will also festlegen, wie
viele Abiturienten, wie viele Mittlere Reifen und wie viele
Hauptschulabschlüsse es geben soll. Das geht Europa –
mit Verlaub gesagt – überhaupt nichts an und es wäre auch
nicht sachgerecht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die politische Verantwortung dafür tragen in Deutschland
die Landesregierungen und Länderparlamente. Diese kann
und soll ihnen weder der Bundeskanzler noch Europa ab-
nehmen.

Weiter wird ein „europäischer Rahmen“ für die zu ver-
mittelnden neuen Grundfertigkeiten angestrebt. Darüber
hinaus wird dem EG-Ministerrat der Auftrag erteilt, allge-
meine Überlegungen über die konkreten künftigen Ziele
der Bildungssysteme anzustellen.

Ich wiederhole: Bei alledem handelt es sich nicht um
europäische Aufgaben. In Deutschland fallen diese An-
gelegenheiten in die Zuständigkeit der Länder. Der
Bundesrat hat daher im Vorfeld von Lissabon ausdrücklich
vor Festlegungen in diesen Bereichen gewarnt. Das kam
nicht nur von Bayern, Herr Bundeskanzler, sondern ist ein
Anliegen aller deutschen Länder.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Doch der Bundeskanzler hat sich in Lissabon über die

klare einstimmige Stellungnahme des Bundesrates hin-
weggesetzt


(Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist ungeheuerlich!)


und damit seine verfassungsrechtlichen Pflichten aus Art.
23 des Grundgesetzes grob verletzt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Glos [CDU/CSU]: Der Mann muss zurücktreten! – Günter Gloser [SPD]: Legende, Herr Bocklet!)





Staatsminister Reinhold Bocklet
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(D)



(A)



(B)


Daran ändert auch Ihr – jedenfalls bislang – erfolgloser
Einsatz für den Bestand öffentlicher Daseinsvorsorge
nichts.

Der Satz in den Schlussfolgerungen des Gipfels: Der
Europäische Rat ersucht die Kommission, ihre Mitteilung
von 1996 in Einklang mit dem Vertrag zu überarbeiten,
führt nicht weiter, weil es nicht darauf ankommt, eine
weitere Interpretation des Vertrages zu liefern, sondern da-
rauf, die Daseinsvorsorge im Vertrag selbst abzusichern.
Dieses notwendige Ziel hat der Herr Bundeskanzler ganz
offensichtlich bereits aufgegeben.

Doch es geht nicht nur um Eingriffe der Europäischen
Union in Länderhoheitsrechte. Es drohen auch massive
Einschnitte in Bundeszuständigkeiten, so etwa in der
Sozialpolitik. So heißt es etwa im Beschlusstext, die
Sozialschutzsysteme müssten angepasst werden. Dabei
hat der Gipfel besonders die Tragfähigkeit der Altersver-
sorgungssysteme im Blick. Ich frage Sie: Wollen Sie die
Neuordnung der Rentenversicherung jetzt europäisch
regeln?

Bezeichnenderweise erklärte Kommissionspräsident
Prodi am 17. Februar im Ausschuss der Regionen:

Wir sollten aufhören, in Kategorien wie Kompetenz
und Subsidiarität zu denken. Das sind veraltete Kon-
zepte.

Stattdessen müsse über ein „Netzwerk Europa“ nach-
gedacht werden. Bei einer solchen Denkweise brauchen
wir auf Regierungskonferenzen gar nicht mehr über Ver-
tragsänderungen zu verhandeln und sie dann in Bundestag
und Bundesrat zu ratifizieren. Vertragliche Regelungen
sind bei diesem Politik- und Rechtsverständnis ohnehin
Makulatur.

Mindestens genauso schlimm ist, dass der gewählte
Ansatz für die Erreichung des eigentlichen Ziels, nämlich
die Stärkung Europas im globalen Wettbewerb, völlig kon-
traproduktiv ist. Hier kehrt sie wieder, die alte Planungs-
gläubigkeit, die sich doch längst als untauglich erwiesen
hat.


(Joachim Poß [SPD]: Neue Melodie!)

Der Gipfel lebt in der Illusion, man könne einen riesi-

gen Wirtschaftsraum planwirtschaftlich steuern. Er lähmt
mit dieser Planungsgläubigkeit die Eigeninitiative in den
Mitgliedstaaten und Regionen sowie den fruchtbaren
Wettbewerb untereinander.

Ziel des Gipfels war es, die USA einzuholen und zu
überholen. Doch genau das Mittel, das die USA stark
gemacht hat, der innere Wettbewerb, wird nicht ange-
wandt. Stattdessen vertraut man auf planwirtschaftliche
Vorgaben und zentrale Konzepte, die den Wettbewerb
unter den Mitgliedstaaten begrenzen und behindern.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Typisch Sozis!)

Folgerichtig fehlt das Wort „Wettbewerb“ auch in der
Regierungserklärung des Bundeskanzlers. Darüber hin-
aus werden die Planvorgaben bei den schwächeren Staa-
ten zum Ruf nach zusätzlicher finanzieller Förderung
führen, die wiederum zulasten des Hauptnettozahlers
Deutschland geht.

Statt einer wettbewerbsorientierten Standortpolitik, wie
sie Länder wie zum Beispiel Bayern mit der „Offensive
Zukunft Bayern“ und der High-Tech-Offensive betreiben,
droht jetzt unter Berufung auf die Lissabon-Quoten mas-
siver Druck auf die Europäische Zentralbank mit
Gefahren für den Euro-Stabilitäts-Pakt.

Herr Bundeskanzler, mit der Methode des Gipfels von
Lissabon degradieren Sie die nationalen Parlamente zu
bloßen Umsetzungsorganen des Europäischen Rates,
stellen Sie zentralistische Bevormundung vor nationale
und regionale Eigenveranwortung und Wettbewerb und
setzen Sie generelle europäische Allzuständigkeit an die
Stelle subsidiärer Aufgabenerledigung. Mit dieser Me-
thode verraten Sie die Vision von Europa.


(Günter Gloser [SPD]: Nicht schon wieder!)

Sie verlassen den Weg der Europapolitik der letzten
Jahrzehnte und kündigen den europapolitischen Konsens
von Ihrer Seite aus auf.


(Günter Gloser [SPD]: Sie verraten Europa doch!)


Mit dieser Methode werden Sie Europa nicht an die Spitze,
sondern in eine Krise führen.


(Joachim Poß [SPD]: Sie suchen nach einem Alibi für Ihren Rechtspopulismus!)


Dies ist das gefährliche Fazit von Lissabon.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409802400
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Sterzing.


Christian Sterzing (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409802500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eigentlich wollten wir heute vor allen Dingen über Lis-
sabon diskutieren.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Sagen Sie das Frau Bulmahn und Herrn Struck!)


Aber Green Cards und die fremdenfeindlichen
Postkartenaktionen sind sehr stark in den Vordergrund
der Debatte gerückt. Insofern stellt sich natürlich die
Frage, welcher Zusammenhang zwischen der europä-
ischen Dimension und dem besteht, was derzeit in Nord-
rhein-Westfalen von der Opposition im Wahlkampf
betrieben wird. Gestern habe ich in den Tickermeldungen
einen solchen Zusammenhang feststellen können. In ei-
ner Meldung heißt es:

Die Europäische Stelle zur Beobachtung von Ras-
sismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC) hat sich
besorgt über den Wahlkampf der nordrhein-westfä-
lischen CDU geäußert.


(Jörg Tauss [SPD]: Zu Recht!)

Mit Parolen wie „Kinder statt Inder“ habe CDU-
Spitzenkandidat Jürgen Rüttgers die politische De-
batte in Deutschland auf einen neuen Tiefpunkt ge-
bracht, erklärte der EUMC-Verwaltungsratsvor-sit-
zende.




Staatsminister Reinhold Bocklet

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(C)



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(A)



(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Weiter heißt es:
Dadurch würden Fremde zu Sündenböcken gestem-
pelt und Minderheiten bedroht.
Die EUMC griff ebenfalls die österreichische Re-
gierungskoalition aus konservativer ÖVP und den
rechtspopulistischen Freiheitlichen (FPÖ) an. ... Ein
Schlüsselelement im Kampf gegen Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit sei es, keine Koalitionen mit
der extremen Rechten einzugehen.

So weit ist es also gekommen, dass Haider und
Rüttgers in einem Atemzug genannt werden!


(Jörg Tauss [SPD]: Der Glos macht doch Kotau vor Haider!)


Das sollte uns alle sehr nachdenklich stimmen.
Der Zusammenhang zwischen Österreich, Haider und

der EU war offensichtlich der Opposition so wichtig, dass
der Kollege Merz glaubte, damit seine Einstandsrede als
Fraktionsvorsitzender eröffnen zu müssen. Das scheint
nun wohl zu einem Dauerthema der Opposition zu werden.

Wir haben in Lissabon beobachtet, dass Schüssel zwar
sein „Mascherl“ abgelegt und eine Krawatte umgebunden
hat.


(Kerstin Müller DIE GRÜNEN]: Echt? Ist mir gar nicht aufgefallen!)


Aber diese Einordnung in die europäische Klei-
deretikette reicht nicht aus, damit man wieder Business as
usual treiben kann.


(Zuruf von der CDU/CSU: Muss er dafür ein Grüner werden?)


An dieser Stelle muss noch einmal deutlich gesagt werden,
dass es keine Sanktionen der EU gegen Österreich gibt.
Es gibt lediglich ein abgestimmtes Verhalten der 14 an-
deren Mitgliedstaaten.

Die entsprechenden Passagen in Ihrem Antrag zum
heutigen Tage sind leider falsch und irreführend. Sie wer-
fen dort der Bundesregierung vor, sie mische sich
parteipolitisch motiviert in die inneren Angelegenheiten
Österreichs ein. Dies ist eine Äußerung wider besseren
Wissens. Sie brauchen nur in die Meldungen der Agen-
turen zu schauen. Dort steht:

Der Vorstand der Europäischen Volkspartei (EVP) im
Europaparlament stimmt am Donnerstag über einen
zeitweiligen Ausschluss der Österreichischen Volks-
partei (ÖVP) ab. Der ÖVP wird von mehreren kon-
servativen Gruppen die Koalition mit den rechtspo-
litischen Freiheitlichen (FPÖ) von Jörg Haider vor-
gehalten.

Was also ist mit der parteipolitisch motivierten Einmi-
schung? Es scheint offensichtlich auch innerhalb der kon-
servativen Parteien Österreichs ein Problem zu geben. Es
ist aber gerade die CDU/CSU, die ihre schützende Hand

nicht nur über die ÖVP, sondern damit auch indirekt über
Haider legt.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Sehr bedauerlich! – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Stuss!)


Es ist darauf hinzuweisen, dass hinsichtlich dieser Po-
sition eine weitere Übereinstimmung in den übrigen 14
Mitgliedstaaten in Europa herrscht. Der Ausschuss der
Regionen – Herr Haider ist dort Mitglied – hat am 17. Feb-
ruar beschlossen, dass er bedauert, dass an der öster-
reichischen Regierung eine Partei beteiligt ist, die sich für
Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus und Un-
gleichheit ausspricht.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Ich dachte, das Thema wäre nicht so wichtig, Herr Sterzing!)


Außerdem befürchtet er, dass solche Ideen in der Zukunft
verharmlost werden könnten. „Verharmlosung“ ist das
Stichwort in diesem Zusammenhang. Die Rüge an die
Adresse der ÖVPrichtet sich natürlich auch an Sie von der
Opposition, denn Sie leisten dieser Verharmlosung
Vorschub.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Joachim Poß [SPD]: Heute Morgen schon wieder!)


Die Diskussion in der ÖVP und im Ausschuss der Re-
gionen zeigt deutlich, dass die Kritik an der Bun-
desregierung, die Sie üben, sehr unaufrichtig ist. Die Hal-
tung der übrigen 14 EU-Mitgliedstaaten zu dieser Koali-
tion ist kein Problem der sozialdemokratischen Parteien in
Europa, es ist vielmehr ein Problem der Konservativen
in Europa und besonders eines von der CDU und der
CSU.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Insofern ist nicht die Solidarität mit der ÖVP gefragt,
sondern die Distanzierung von ihr. Damit würden Sie der
Wertegemeinschaft in der Europäischen Union einen
besseren Dienst leisten, als Sie das mit den Solidaritäts-
bekundungen tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich höre immer die Sprüche, dass man von Haider und
der FPÖ natürlich nichts halte. Lassen Sie mich auf einen
Zeitungsartikel zu sprechen kommen, den ich entdeckt
habe. Er stand im Jahre 1991 im „Münchner Merkur“.
Dort wird geschrieben:

Er hatte ihnen aus der Seele gesprochen. Zufriedenes
Kopfnicken bei Bayerns Innenminister Edmund
Stoiber und langanhaltender Beifall von Umweltmi-
nister Peter Gauweiler, der dem Redner freudig vie-
le Gemeinsamkeiten mit der CSU bescheinigte. Kein
Wunder: Jörg Haider, Landeshauptmann von Kärn-
ten ...

– das war er damals ja auch schon –,
zeigte sich beim fünften „Münchner Gespräch“ des
CSU-Bezirksverbandes so recht nach dem Ge-




Christian Sterzing
9110


(C)



(D)



(A)



(B)


schmack der Christsozialen als leidenschaftlicher
Föderalist und Europäer.
Edmund Stoiber blieb am Ende nur die undankbare
Rolle des Co-Referenten, hatte doch der Gast, „das
einzige liberale Oberhaupt eines europäischen Lan-
des“ (Gauweiler), mit seinem Referat zum Thema
„Österreich und Bayern ...“ schon alles vorwegge-
nommen.

Angesichts so vieler Gemeinsamkeiten, die im Jahre
1991 bekundet wurden, denke ich, überrascht natürlich
nicht, warum Herr Stoiber der ÖVP kurz nach den öster-
reichischen Wahlen die Koalition mit der FPÖ empfohlen
hat.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409802600
Herr Abgeord-
neter, es besteht der Wunsch nach einer Zwischenfrage.
Ich suche nur den Namen des Kollegen.


(Zurufe von der CDU/CSU und von der SPD: Müller! Dr. Müller, Allgäu!)


– Herr Dr. Müller, bitte schön.


Dr. Gerd Müller (CSU):
Rede ID: ID1409802700
Frau Präsidentin, es ist
nicht unbedingt notwendig, dass Sie meinen Namen ken-
nen.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Der berühmte Gerd Müller!)


Wie bewerten Sie die Tatsache, dass nach den Wahlen in
Österreich im Herbst 1999 der damalige SPÖ-Bun-
deskanzler zunächst der Partei von Jörg Haider ein Ange-
bot zum Eintritt in die Regierung gemacht hatte und die
jetzige Entwicklung erst einsetzte, als Jörg Haider erklärte:
„Mit dem nicht“?

Wie bewerten Sie darüber hinaus die Tatsache, dass die
SPÖ, die sozialistischen Brüder der SPD, mit der FPÖ bis
heute in fünf Landesregierungen Österreichs sitzt?


Christian Sterzing (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409802800

Sie können mich nicht für das Verhalten von Sozialde-
mokraten in Österreich in die Verantwortung nehmen. Sie
wissen, dass wir dieses Problem hier schon mehrfach an-
gesprochen haben. Ich denke, es geht um die politische
Gemeinsamkeit, die hier zwischen CSU, ÖVP und auch
FPÖ zum Ausdruck gekommen ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Das hätten Sie gern!)


Das ist der entscheidende politische Punkt, den es hier
festzuhalten gilt und der auch Ihr Verhalten und Ihr ständi-
ges Betonen erklärt, es gehe Ihnen um dem Schutz Öster-
reichs. Das ist in diesem Zusammenhang das politische
Problem: die Behandlung Österreichs innerhalb der Eu-
ropäischen Union.

Die Gemeinschaft hat in Lissabon sehr deutlich
gesagt – Präsident Guterres hat es betont –, es gehe nicht
um eine Strafaktion gegen Österreich, gegen die öster-
reichische Bevölkerung, sondern darum, dass man mit
einer solchen Regierung nicht einfach wieder zu einem

„business as usual“ zurückkehren kann. Das ist der Punkt.
Ich glaube, vor dieser Auseinandersetzung – auch mit der
ÖVP – können Sie sich nicht drücken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie versuchen – das ist natürlich Ihr Recht – immer
wieder, Haare in der europapolitischen Suppe zu entdeck-
en. Das tun Sie auch im Zusammenhang mit dem
Lissabonner Gipfel. Auch hier ist darauf hinzuweisen, dass
es nicht die Konzeptionslosigkeit der Bundesregierung ist,
sondern dass es die Widersprüchlichkeit und die Konzep-
tionslosigkeit der Europapolitik der CDU/CSU sind, die
hier zu sehr merkwürdigen Einschätzungen führen.

Da wurde von Herrn Merz der zunehmende Einfluss
des EuropäischenRates zulasten der Mitgliedstaaten kri-
tisiert. Die Gewichtsverlagerung von der Kommission
zum Europäischen Rat ist nach meiner Meinung eine
durchaus bedenkliche Entwicklung. Aber, meine Damen
und Herren von der Opposition, Sie müssen sehen, dass
diese Form der Gewichtsverlagerung innerhalb des Insti-
tutionengefüges der EU durch den Amsterdamer Vertrag
eingeleitet worden ist. Sie laborieren insofern an den Fol-
gen einer Politik herum, die Sie ganz entscheidend mit auf
den Weg gebracht haben.

Ich glaube, Ihre Widersprüchlichkeit ist auch heute
besonders deutlich geworden. Herr Merz hat dem Bun-
deskanzler vorgeworfen, er habe das Wort „Wettbewerb“
kein einziges Mal erwähnt. Hinsichtlich der Einstellung
von Herrn Stoiber zitiere ich aus der „Berliner Zeitung“
von gestern:

Schröder hat mit dem Kapitalismus seinen Frieden
geschlossen.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Früher war alles Teufelszeug!)

Dies sei ein Wandel, als ob die Union plötzlich für die
Abtreibung einträte.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409802900
Herr Kollege
Sterzing, denken Sie bitte an Ihre Zeit.


Christian Sterzing (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409803000

Ich komme zum letzten Satz.

Angesichts dieser Widersprüchlichkeit in der Analyse
der Europapolitik der Bundesregierung durch die Oppo-
sition wird es niemanden von uns überraschen, dass die
Opposition selbst in der Europapolitik äußerst konzepti-
onslos ist und bei solchen Debatten immer wieder den Ver-
such macht, auf politische Nebenkriegsschauplätze aus-
zuweichen. Dies werden wir auf Dauer nicht hinzuneh-
men.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)





Christian Sterzing

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Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409803100
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Martina Krogmann.


Dr. Martina Krogmann (CDU):
Rede ID: ID1409803200
Frau Präsiden-
tin! Sehr geehrte Damen und Herren! Natürlich stimmen
wir den Zielen von Lissabon zur Entwicklung des Inter-
nets ausdrücklich zu. Es kommt aber entscheidend auf die
Maßnahmen und ihre Umsetzung an.

Was Sie, Frau Bulmahn, heute abgeliefert haben, ist
einer Bildungsministerin unwürdig.


(Beifall bei der CDU/CSU Günter Gloser [SPD]: Na, na!)


Ich will Ihnen ein einfaches Beispiel aus der Wirklichkeit
rot-grüner Politik geben: Zurzeit wird in Nordrhein-West-
falen ein neues Dreiländerhochschulprojekt für den Stu-
diengang Informatik durch die Unfähigkeit von Rot-Grün
blockiert. Die jeweilige belgische und die holländische
Hochschule haben den Studiengang bereits eingerichtet,
die Studenten stehen Schlange. Nur das Wissenschafts-
ministerium in Düsseldorf schafft es nicht, die notwendi-
gen Fristen einzuhalten. Deshalb droht jetzt das gesamte
Projekt zu scheitern. Ich darf aus einem Brief des nieder-
ländischen Projektkoordinators Willem Uitterhoeve zi-
tieren:

Der deutsche Bundeskanzler setzt auf Multimedia
und Internet und möchte in Indien Spezialisten an-
werben. Gleichzeitig bekommen deutsche Studenten
nicht die Chance, an einem innovativen Studiengang
teilzunehmen, der sich gerade auf die Themen Mul-
timedia und Internet stützt.

Das ist ein Skandal, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ernst Burgbacher [F.D.P.])

Hören Sie einmal, was der Bundesverband der Freien

Berufe zu den Auswirkungen des 630-DM-Gesetzes und
des Gesetzes zur Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit
gesagt hat. Ich zitiere:

Im Bereich der Informatik haben 40 Prozent der be-
fragten Freiberufler Auftragsverluste beklagt.

Weiter heißt es, „... die Zahl der Neugründungen..., ins-
besondere im EDV-Bereich,“ ist durch die beiden Geset-
ze erheblich zurückgegangen. Dieses Beispiel macht lei-
der deutlich, wie Sie Politik machen. Sie geben Lippen-
bekenntnisse für eine moderne Politik ab, doch die Realität
zeigt: Der alte Mief von gestern kennzeichnet noch immer
rot-grüne Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich finde es schade, dass Sie von der Wirklichkeit so weit
entfernt sind; dadurch


(Jörg Tauss [SPD]: Wie war das mit der Datenautobahn?)


verpassen wir enorme Chancen, Herr Kollege. Vergessen
Sie bitte nicht:


(Jörg Tauss [SPD]: Rohrpost!)

Wir leben in einer Zeit des ungeheure schnellen Wandels.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409803300
Herr Kollege
Tauss, ein bisschen zurückhaltender, bitte.


Dr. Martina Krogmann (CDU):
Rede ID: ID1409803400
Wir stehen mit-
ten in einer Revolution unseres gesamten Wirtschaftsle-
bens, was Sie immer noch nicht begriffen haben. Noch nie
zuvor hat sich ein Medium so schnell entwickelt wie das
Internet. Noch nie zuvor waren die Auswirkungen einer
neuen Technik so weit reichend. Das Zeitalter der Inter-
netwirtschaft hat begonnen – mit ungeheuren Chancen für
unsere Arbeitsplätze. Die USAhaben uns Europäern vor-
gemacht, wie das geht. Sie haben seit 1993 20 Millionen
neue Arbeitsplätze geschaffen, davon 80 Prozent im
Dienstleistungsbereich und hier wiederum zum überwie-
genden Teil im Bereich der neuen Medien.

Es ist natürlich richtig, dass auch Europa, wie in
Lissabon geschehen, endlich die Chancen der New Econ-
omy nutzen will, dass wir auf europäischer Ebene den
ordnungspolitischen Rahmen verbessern und weiter
liberalisieren. Denn wie in Europa und gerade wir in
Deutschland haben große Chancen: Wir haben weltweit
die modernsten und leistungsfähigsten Telekommunika-
tionsnetze. Wir sind in der Verbreitung von ISDN-An-
schlüssen international führend.


(Wiederspruch des Abgeordneten Jörg Tauss [SPD])


Aber trotz dieser guten Voraussetzungen müssen wir fest-
stellen, dass wir bei der Schaffung von neuen Arbeit-
splätzen in diesem Bereich hinterherhinken. Seit Rot-Grün
an der Regierung ist, ist die Zahl der Arbeitslosen um
mehr als 175 000 gestiegen.

Andere Länder sind bei der Schaffung neuer Arbeits-
plätze erfolgreicher gewesen als wir. Ich denke hier an die
Niederlande, Dänemark, Großbritannien und Irland, mit
Blick auf das vergangene Jahr sind hier auch Spanien und
Frankreich zu nennen. Nur Sie schaffen es nicht. Der
Grund dafür ist Ihre vollkommen verfehlte Wirtschafts-
und Finanzpolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ernst Burgbacher [F.D.P.])


Neue Arbeitsplätze schaffen Sie nur durch strukturelle Re-
formen, durch eine Senkung der Steuer- und Abgabenlast,
durch eine Senkung der Staatsquote und vor allem durch
eine Liberalisierung der Arbeitsmärkte. Andere Länder
machen uns doch vor, wie das geht.

Natürlich hat jedes Land gemäß seiner Kultur seine
eigenen Instrumentarien genutzt. Aber dennoch gibt es
zwei Gemeinsamkeiten, die alle diese erfolgreichen Län-
der haben: Das eine ist eine niedrige Staatsquote und das
andere sind liberalisierte Arbeitsmärkte. Bei uns geht die
Staatsquote hoch. Sie versuchen, unsere Arbeitsmärkte
immer noch in das Korsett der 70er-Jahre zu pressen. Sie
sind auch nicht bereit, über den Tellerrand zu schauen und
von erfolgreichen Ländern in Europa, von denen wir
umgeben sind, zu lernen. Aber gerade in dem Prozess des
Voneinander Lernens steckt die große Chance der EU bei
der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.






(C)



(D)



(A)



(B)


Gerade bei der wichtigen Frage der Beschäfti-
gungspolitik müssen wir die Frage nach der Kompetenz-
abgrenzung stellen:
Was kann, was muss Europa leisten? Was kann, was muss
bei den Nationalstaaten und bei den Bundesländern
verbleiben? Wir haben über 15 Millionen Arbeitslose in
Europa. Wenn wir, nur um Verantwortung abzuschieben,
immer mehr Aufgaben auf die europäische Ebene über-
tragen, wecken wir Erwartungen, die die EU nicht erfüllen
kann. Genau dies tun Sie aber: Sie schieben Verantwor-
tung ab, um von den eigenen Problemen abzulenken.
Damit schaden Sie Europa und dem europäischen Inte-
grationsprozess.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Es ist vollkommen absurd zu glauben, mit verbind-
lichen quantitativen Zielvorgaben und immer mehr
bürokratischen Koordinierungsprozessen auf europäisch-
er Ebene Arbeitsplätze schaffen zu können. Die Ursachen
und damit auch die Lösungen zur Bekämpfung der Ar-
beitslosigkeit sind in Europa viel zu unterschiedlich. In
Andalusien hat die Arbeitslosigkeit andere Ursachen als
im Bayerischen Wald und im Bayerischen Wald wiederum
andere als im Emsland oder in der Lausitz. Direkt vor Ort
gibt es die beste Sachkenntnis bezüglich der Arbeitsmarkt-
lage und der Anforderungen der örtlichen Wirtschaft.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Das haben wir schon immer gesagt!)


Die Lösung der Probleme haben Sie bisher nicht in An-
griff genommen. Stattdessen haben Sie in Lissabon eine
Charta für Kleinstunternehmer in Auftrag gegeben. Der
Bundeskanzler hat vorhin in seiner Regierungserklärung
das Wort online entdeckt. Ich stelle fest, dass er in der
Sache ziemlich offline ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich würde Ihnen vorschlagen, doch mal mit jungen Exis-
tenzgründern aus dem IT-Bereich und mit Software-
Entwicklern zu reden. Die sagen Ihnen: Wir brauchen
keine Charta, sondern vernünftige wirtschaftliche Rah-
menbedingungen.


(Hildebrecht Braun So ist es!)


Reden Sie einmal mit jungen Existenzgründern aus der IT-
Branche über EU-Förderprogramme. Die sagen Ihnen,
dass die Prozedur, bis sie das Geld bekommen, so lange
dauert, dass in der Zwischenzeit die Idee veraltet.

Wir wollen vernünftige Rahmenbedingungen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Stattdessen haben Sie während Ihrer Ratspräsidentschaft
den makroökonomischen Dialog auf EU-Ebene ins Leben
gerufen. Dieses bürokratische Ungeheuer allein beweist
schon, dass Sie von der Wirklichkeit der New Economy,
des E-Commerce, des E-Learning und des Internets Licht-
jahre entfernt sind.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409803500
Frau Kollegin,
Herr Tauss kann scheinbar gleichzeitig telefonieren und
sich zu einer Zwischenfrage melden. Lassen Sie diese zu?


Dr. Martina Krogmann (CDU):
Rede ID: ID1409803600
Nein, jetzt
nicht, er ist wieder einmal zu spät dran.


(Jörg Tauss [SPD]: Dann muss ich wieder telefonieren!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409803700
Dann muss ich
Sie darauf hinweisen, dass Ihre Redezeit schon über-
schritten ist. Sie können noch einen Schlusssatz sprechen.


Dr. Martina Krogmann (CDU):
Rede ID: ID1409803800
Frau Präsiden-
tin, ich komme zum Schluss. Hören Sie auf, die Verant-
wortung auf Europa abzuschieben. Schaffen Sie endlich
hier neue Arbeitsplätze und machen Sie endlich eine mo-
derne Wirtschafts- und Finanzpolitik!

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409803900
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Günter Gloser.


Günter Gloser (SPD):
Rede ID: ID1409804000
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die Debatte ver-
folgt, muss man sich manchmal fragen, in welcher Welt
eigentlich die Christlich Demokratische Union und auch
die Christlich-Soziale Union leben.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Realitätsnah!)

Frau Dr. Krogmann, ich möchte an Ihre Ausführungen

anknüpfen: Diese Bundesregierung macht eine moderne
Wirtschafts- und Bildungspolitik und damit Zukunftspoli-
tik.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wo denn? Niemand weiß es!)


Das ist auch das Ergebnis des Lissabonner Gipfels.

(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Dies ist doch keine Märchenstunde!)

Ich möchte einmal in der Geschichte zurückgehen: Es

war die Sozialdemokratie, die während ihrer Oppositions-
zeit darauf gedrungen hat, dass in den Amsterdamer Ver-
trag ein Beschäftigungskapitel aufgenommen wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie haben weit gefehlt, meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen von der Opposition: Wir wollten keine zentralisti-
sche europäische Beschäftigungspolitik, sondern wollten
in der Tat eine Abstimmung auf europäischer Ebene. Da
gibt es auch keinen Widerspruch zwischen uns. Auch Sie
haben gesagt, dass in bestimmten Bereichen ein Schauen
über den Gartenzaun stattfinden muss und man vom an-
deren lernen soll. Genau das ist unsere Devise. Nichts an-
deres machen wir.




Dr. Martina Krogmann

9113


(C)



(D)



(A)



(B)


Herr Staatsminister Bocklet, wenn man aus der
Trutzburg der Bayerischen Staatsregierung kommt, dann
ist klar, dass man sich eine virtuelle Welt aufbauen muss.
Dabei kommt man dann zu solchen Ergebnissen, wie sie
heute in Ihrer Rede zu hören waren, aber auch in Ihrer
Presseveröffentlichung nachzulesen sind.
Wenn Sie von planwirtschaftlichen und sonstigen zentra-
listischen Elementen sprechen, frage ich mich mittler-
weile: Wo lebt Ihr Ministerpräsident? Wo leben Sie?
Haben Sie eigentlich begriffen, dass auf dem Lissabonner
Gipfel nicht nur sozialdemokratisch geführte, sondern
konservativ geführte Regierungen vertreten waren?
Jean-Claude Juncker, Christdemokrat aus Luxemburg,
sagte schon vor vielen Jahren. Wir müssen uns gerade im
Bereich der Beschäftigungspolitik klare Ziele setzen.
Auch hier müssen wir das erreichen, was wir beim Euro
erreicht haben. Nach dem Gipfel in Lissabon hat er gesagt.
Endlich einmal ein Ergebnis, das von anderen Gipfel-
ergebnissen abweicht, endlich, nicht die übliche Lyrik,
sondern ganz konkrete Verabredungen! Ich denke, dazu
hat auch diese Bundesregierung einen wesentlichen
Beitrag geleistet.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Der neue Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU hat uns
in seiner so genannten Einstandsrede vorgeworfen, es gebe
keine Visionen keine visionären Vorstellungen dieser
Bundesregierung in Sachen Europapolitik. Doch was
helfen alle wunderschönen Sonntagsreden, die wir alle
halten können, wenn wir nicht gerade im Bereich des Ab-
baus von Arbeitslosigkeit, des Zuwachses von Beschäfti-
gung in den nächsten Jahren vorankommen – natürlich bei
klaren europäischen Zielvorgaben? Darum geht es, nicht
um das Klein-Klein, wie uns die Rednerinnen und Redner
der Opposition heute ständig weismachen wollten.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Diese Bundesregierung hat diese Perspektive aufge-
griffen. Wenn wir heute über Zukunft sprechen, dann
sprechen wir auch junge Menschen an: Sie wollen ar-
beiten. Sie brauchen eine Ausbildung. Sie möchten eine
entsprechende schulische Qualifikation haben. Sie möch-
ten nicht mit Aussagen eines Mannes konfrontiert werden,
der sich noch vor wenigen Jahren mit dem Etikett des
Zukunftsministers geschmückt hat. Dieser Mann gehört
der Vergangenheit an. Er ist der Erste, der in eine Quali-
fizierungsoffensive hinein müsste.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich noch – die Opposition macht dies
gerne zum Thema – die Frage der Vertrauenswürdigkeit
dieser Bundesregierung ansprechen, auch im Hinblick auf
die Osterweiterung – . der Kollege Dr. Haussmann kann
nicht mehr hier sein, weil er sich beim verbalen Austausch
vermutlich den Fuß verletzt hat;


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist primitiv! Er hat eine Operation am Knie!)


deshalb jetzt an die Adresse der – Union: Wir wollen die
Bürgerinnen und Bürger bei diesem europäischen Er-
weiterungsprozess mitnehmen; das ist völlig klar. Dem,
der bei sämtlichen europäischen Debatten pausenlos sagt,
nun müsse ein Termin her, antworte ich: Was hat es für
einen Sinn, jetzt konkret Termine zu nennen, wenn gerade
die bayerische CSU ständig verlangt, die Osterweiterung
nicht zu schnell durchzuführen? Es müssen sich also
Prozesse entwickeln.

Wir können, Herr Bocklet, in diesem Punkt möglicher-
weise eine Übereinstimmung erreichen. Aber dann
müssten Sie – Ihrem Ministerpräsidenten werden Sie es
nicht sagen können, das werde ich machen müssen –
endlich Ihre chamäleonhafte Politik aufgeben. Sie können
nicht auf der einen Seite einem Gast aus Osteuropa, dessen
Land zu den Beitrittskandidaten gehört, sagen: Natürlich,
wir wollen den raschesten und schnellstmöglichen Beitritt.
Kaum ist er wieder weg, wird auf der anderen Seite –
typisch Stammtischpolitik in Bayern – auf die Bremse
gedrückt. Ich meine, Sie sollten diese Doppelmoral
endlich aufgeben.


(Beifall bei der SPD)

Natürlich, wir wissen, welche Anpassungsprozesse die

Osterweiterung mit sich bringen wird, gerade auch im
Hinblick auf den Arbeitsmarkt. Wir als SPD nehmen die
Ängste und Befürchtungen, die vielleicht in unmittelbar an
den Grenzen liegenden Regionen vorhanden sind, gerade
auch was die Freizügigkeit angeht, ernst. Aber unsere Auf-
gabe als Politikerinnen und Politiker ist es, den Leuten
nicht ständig die Angst zu bestätigen, sondern wir sollten
versuchen, gerade auch im Bereich der Arbeitsplätze, un-
sere Verantwortung wahrzunehmen, indem wir die Risiken
minimieren, und nicht noch Ängste schüren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Fazit: Europäische Beschäftigungspolitik ist ein typisch
sozialdemokratisches Projekt. Wir haben das initiiert und
umgesetzt. Ein anderes Projekt ist die europäische Grund-
rechtscharta, zu der wir gestern eine sehr interessante An-
hörung hatten.
Die Union wollte das Beschäftigungskapitel und auch die
Grundrechtscharta nicht. Davon spricht aber in der Union
keiner mehr. Heute wollen alle diese Weiterentwicklun-
gen. Ich habe diesen Punkt ganz bewusst erwähnt, weil
Herr Kollege Dr. Haussmann vorhin den ehemaligen Mi-
nisterpräsidenten aus Polen genannt hat.

Ich bitte Sie von der Union: Lassen Sie uns den Grund-
konsens gerade in der europäischen Politik, der über viele
Jahrzehnte bestanden hat, fortsetzen! Es hat keinen Sinn,
jeden Tag nur Erbsenzählerei zu betreiben. Lassen Sie uns
vielmehr diese europäische Idee in vielen Bereichen um-
setzen!

Herr Fraktionsvorsitzender Merz, bringen Sie den
größeren Teil Ihrer Fraktion wieder auf den europäischen
Weg! Es gibt bei Ihnen doch die überzeugten Europäer, die
viele Dinge anpacken wollen. Aber sie sind momentan in
der Minderheit. Bei Besuchen im Ausland können sie zwar
viele hehre Worte sagen, aber in der Fraktion haben sie
momentan kein Gewicht mehr.




Günter Gloser
9114


(C)



(D)



(A)



(B)



(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben als SPD-Bundestagfraktion der Bun-
desregierung für ihre Initiativen auf diesem Beschäfti-
gungsgipfel zu danken. Wir sind uns sicher, dass die Bun-
desregierung in den Bereichen Wirtschaft, Bildung und
Beschäftigung die Zukunft gestalten wird. Das ist ein guter
Weg für Europa. Lissabon brachte ein gutes Ergebnis für
diese Bundesregierung.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409804100
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Franz Thönnes.


Franz Thönnes (SPD):
Rede ID: ID1409804200
Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Damen und Herren!

Die neue Bundesregierung wird die Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit in den Mittelpunkt der europäischen
Politik stellen. Ihr Ziel ist ein europäischer Beschäf-
tigungspakt. In die beschäftigungspolitischen Leitli-
nien sollen verbindliche und nachprüfbare Ziele vor
allem zum Abbau der Jugend- und Langzeitarbeits-
losigkeit sowie zur Überwindung der Diskriminie-
rung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt, aufgenom-
men werden.

So steht es im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien.
Das haben wir versprochen; das haben wir gehalten. Es ist
gut, dass es in Deutschland wieder eine Regierung gibt, die
die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit auch auf europäi-
scher Ebene in den Mittelpunkt stellt. Es ist auch gut, dass
es einen Kanzler gibt, der nicht nur redet, sondern gemein-
sam mit den anderen Ländern in Europa handelt.


(Beifall bei der SPD)

Die beiden Tage des Sondergipfels am 23. und 24.März

dieses Jahres waren gute Tage für Europa und für Deutsch-
land. Sie haben gezeigt: Europa wird menschlicher. Das
Maß aller Dinge ist eben nicht der Shareholder-Value.
Jetzt wird endlich über den Menschen gesprochen.

Der Titel des Gipfels „Beschäftigung, Wirtschaftsre-
formen und sozialer Zusammenhalt – für ein Europa der
Innovation und des Wissens“ und die getroffenen Ve-
rabredungen sind die Antworten Europas auf die Heraus-
forderungen auf unserem Kontinent und auf die Heraus-
forderungen der Globalisierung. Es sind die Antworten auf
die Zahl von über 15 Millionen Arbeitslosen. Es sind die
Antworten auf die ökonomischen und sozialen Heraus-
forderungen. Es wird höchste Zeit, dass diese Antworten
jetzt gegeben werden; denn wir brauchen endlich ein Eu-
ropa der fairen Verteilung und der Teilhabe, ein Europa der
Leistung, der Verantwortung und der Solidarität unter-
einander.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Christian Sterzing [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


In den nächsten Jahren wird der Wandel in Wirtschaft,
Technik und Politik noch rasanter vorangehen. In 10

Jahren werden wir Produkte und Dienstleistungen kaufen
bzw. nachfragen, an die wir heute noch gar nicht denken.
Wir werden bald in Fabriken und Büros mit Techniken ar-
beiten, die heute noch nicht entwickelt sind. Es wird
Berufe geben, die wir heute noch gar nicht kennen. Aber
entscheidend für eine gute Zukunft und für diesen Wandel
ist, dass die Balance zwischen Fortschritt und Sicherheit
sowie zwischen Innovation und Gerechtigkeit gewahrt
wird. Wir wollen, dass in Europa dabei keiner auf der
Strecke bleibt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb begrüßen wir sehr, dass die Staats- und
Regierungschefs in Lissabon eine konkrete Vision wieder
auf Platz eins der europäischen Politik gesetzt haben, näm-
lich die Vision der Vollbeschäftigung. Wirtschaftswachs-
tum wird nicht alleine um des Wachstums willen forciert.
Es wird vielmehr ein qualitatives Wachstum postuliert, das
mit einer 3-prozentigen Steigerungsrate binnen 10 Jahren
wieder zur Vollbeschäftigung führen soll. Damit wird ein
wichtiger Beitrag zur Demokratisierung Europas geleistet.
Was wäre denn ein Europa des freien Verkehrs der Waren,
der Dienstleistungen, der Niederlassung und des Kapitals
ohne die Vision einer Gesellschaft, die Menschen, die Ar-
beit haben wollen, auch Arbeit gibt?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen setzt der Zusammenhalt in der Gesellschaft
voraus, dass die Menschen eine Perspektive haben: eine
Perspektive auf Arbeit, eine Perspektive auf Ausbildung
für ihre Kinder, ein Mindestmaß an Integration, an Sicher-
heit und an Zukunft.

Die beschlossenen Strategien, die Wissens- und
Informationsgesellschaft voranzubringen, strukturelle Re-
formen weiterzuentwicklen, das europäische Sozialmo-
dell zu modernisieren und die solide makroökonomische
Politik fortzusetzen –, das sind Strategien auf einem richti-
gen Weg.

Es ist gut, dass der Rat die Investitionen in die Men-
schen jetzt als einen wesentlichen Schwerpunkt seiner Ar-
beit bestimmt hat. Die Umsetzung der vom Rat be-
schlossenen umfangreichen Qualifizierungsoffensive ist
dabei ein wesentlicher Schritt. Es ist gut, dass man sich
gemeinsam Ziele setzt, – die nach den unterschiedlichen
Bedingungen in den Ländern und, wie ich ausdrücklich
hinzufüge, nach deren verfassungsrechtlichen Gegeben-
heiten – von den einzelnen Ländern in eigener Verantwor-
tung umgesetzt werden. Es ist gut, dass es dafür einen
Leistungsvergleich, ein Benchmarking, untereinander
gibt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen unterstützen wir die Absicht, innerhalb von
zehn Jahren die Beschäftigungsquote von 61 auf
70 Prozent anzuheben und bei den Frauen eine Anhebung
von 51 auf 60 Prozent zu erreichen. Hier ist die Bundes-
regierung genauso auf dem richtigen Weg, wie sie es war,
als wir die Investitionen in die aktive Arbeitsmarktpolitik




Günter Gloser

9115


(C)



(D)



(A)



(B)


mit gut 44,5 Milliarden DM im Jahr 1999 vorgenommen
haben, die wir sie jetzt, im Jahr 2000, mit 46 Milliar-
den DM fortsetzen wollen.

Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bun-
desregierung zeigen konkrete Erfolge. Die konjunkturelle
Belebung hat den Arbeitsmarkt erreicht. Mit 535 000 of-
fenen Stellen bei den Arbeitsämtern ist der höchste Stand
seit zehn Jahren erreicht worden.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Christian Sterzing [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Da Sie so gerne Vergleiche ziehen: Immerhin sind
482 000 Menschen weniger arbeitslos als im März 1998.
Das zeigt: Die Politik greift. Die gemeinsamen Kraftan-
strengungen, die im Bündnis für Arbeit unternommen
wurden, zeigen Erfolge.

Das Gleiche gilt für die Situation auf dem
Ausbildungsstellenmarkt: Ende Dezember konnten wir
dank der gemeinsamen Kraftanstrengung fast 25 000 mehr
Ausbildungsverträge als vor einem Jahr verzeichnen. Das
sind 4 Prozent mehr. Das sind gute Investitionen in die
Zukunft unserer Kinder und alle sind aufgefordert mit
dazu beizutragen, dass die Brücke von der Schule in das
Beschäftigungssystem eine gangbare Brücke für die
Schülerinnen und Schüler wird und dass ihnen nicht die
Tür vor der Nase zugeschlagen wird.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Christian Sterzing [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ein wesentliches Element hierbei – das werden wir fort-
setzen – ist das Zwei-Milliarden-Programm für die jun-
gen Menschen. Wir haben mit 100 000 Plätzen angefan-
gen und am Ende konnten wir selbst erfreut feststellen:
220 000 junge Menschen in Deutschland habe eine neue
Perspektive bekommen und gut 11 000 Arbeitsplätze sind
beim JUMP-Programm entstanden. Dieses Geld ist gut in-
vestiert worden. Es war besser, es in diesen Bereich zu in-
vestieren als in die nachsorgende Jugendarbeit und später
möglicherweise noch in Jugendstrafanstalten.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Jetzt gilt es, diese Politik fortzusetzen mit einer Reform
des SGB III, mit einer Reform der Arbeitsmarktförderung,
die die Vermittlung in die Arbeit noch stärker beschleunigt,
die Arbeitslosigkeit nicht weiter finanziert, sondern die In-
vestitionen in Arbeit umlenkt; denn Investitionen und die
Zurverfügungstellung von Geld für die Schaffung von Ar-
beitsmöglichkeiten, von Qualifizierungsmöglichkeiten
sind allemal besser als die Finanzierung von Ar-
beitslosigkeit. Das nützt am Ende keinem.


(Beifall bei der SPD)

Der Gipfel von Lissabon hat deutlich gemacht, dass die

Menschen das wichtigste Gut in der Gemeinschaft sind.
Die Verabredung des Rates auf die Modernisierung des
sozialen Schutzes und der Förderung der sozialen Integra-
tion beschreibt nach der Montan-, der Zoll-, der
Wirtschafts- und der Währungsunion nun endlich auch
den so dringend notwendigen Schritt in die Sozialunion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die Absicht, sich im Dezember in Nizza auf eine eu-
ropäische Sozialagenda zu einigen, unterstreicht dies.

Wir lassen uns auch hier nicht, nachdem wir nun das er-
folgreiche Bündnis für Arbeit auf den Weg gebracht haben,
in der Tarifpolitik die Erfolge zu sehen sind, in der Alters-
teilzeitregelung die Erfolge zu sehen sind, die anderen
wichtigen Elemente, Herr Merz, wie das deutsche Ta-
rifvertragsrechtswesen, wie die deutsche Betriebsverfas-
sung, die Elemente der guten Beziehungen der Sozial-
partner sind, von Ihnen zerreden. Wir lassen nicht zu, dass
sie zu Dumping-Entwicklungen im Arbeitsmarkt herange-
zogen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir wollen, dass es gute Sozialbeziehungen zwischen den
Arbeitgebern und den Gewerkschaften gibt.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409804300
Herr Kollege,
denken Sie an die Redezeit.


Franz Thönnes (SPD):
Rede ID: ID1409804400
Ja. – Der Gipfel von Lissa-
bon ist dem Ziel eines innovativen und menschlichen Eu-
ropas in einer sich rasant verändernden Welt ein erhebli-
ches Stück näher gekommen. – Das ist das eine Ergebnis
der heutigen Debatte.

Das zweite Ergebnis ist leider, dass uns die Opposition
nach dem Scheitern und dem Versagen in der Sozialpoli-
tik, der Finanzpolitik und der Steuerpolitik heute gezeigt
hat, dass auch in der Europapolitik ihre Internetadresse in
den nächsten Jahren lauten wird: http://www.cdu-csu.ade.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409804500
Ich schließe die
Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung.

Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und
Sozialordnung zu dem beschäftigungspolitischen Aktions-
plan der Bundesregierung, Drucksache 14/2596 unter
Buchstabe a. Der Ausschuss empfiehlt, die Unterrichtung
auf Drucksache 14/1000 zur Kenntnis zu nehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses?
– Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Das ist nicht
der Fall. Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen worden.

Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und
Sozialordnung zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
mit dem Titel „Ausbildung, Qualifizierung und Arbeit für
junge Menschen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag
auf Drucksache 14/1011 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung des Ausschusses? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen
die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen
worden.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3030 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Feder-
führung abweichend von der Tagesordnung beim Aus-
schuss für Arbeit und Sozialordnung liegen soll. Einver-
standen? – Ja. Dann ist die Überweisung so beschlossen.




Franz Thönnes
9116


(C)



(D)



(A)



(B)


Weiterhin wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Druck-
sache 14/2950 zur federführenden Beratung an den Aus-
schuss für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung
an – jetzt neu – den Finanzausschuss, den Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend, den Ausschuss für Angele-
genheiten der neuen Länder und den Ausschuss für
Tourismus zu überweisen. Gibt es weitere Vorschläge? –
Das ist nicht der Fall. Dann ist auch diese Überweisung so
beschlossen.

Die Entschließungsanträge zur Regierungserklärung
auf den Drucksachen 14/3099 und 14/3101 sollen nach
einem interfraktionellen Vorschlag zur federführenden
Beratung an den Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union und zur Mitberatung an den Auswär-
tigen Ausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Tech-
nologie, den Ausschuss für Bildung, Forschung und Tech-
nikfolgenabschätzung, den Ausschuss für Arbeit und
Sozialordnung sowie den Finanzausschuss überwiesen
werden. Der Entschließungsantrag auf Drucksache
14/3099 soll zusätzlich an den Haushaltsausschuss über-
wiesen werden. Gibt es weitere Vorschläge? – Das ist nicht
der Fall. Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Wehrbeauf-
tragte
Jahresbericht 1999 (41. Bericht)

– Drucksache 14/2900 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das auch so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Claire
Marienfeld.

Claire Marienfeld, Wehrbeauftragte des Deutschen

(von der CDU/CSU und der F.D.P. mit Beifall begrüßt)

men und Herren! Am 21. Januar dieses Jahres habe ich von
dieser Stelle aus Abschied genommen, in der sicheren Er-
wartung, nicht mehr im Plenum zu sprechen. Ich habe
mich bei Ihnen allen für die große Unterstützung meiner
Arbeit bedankt. Nun kommt es für Sie und mich zu einem
Déjà-vu-Erlebnis besonderer Art. Ich nehme erneut Ab-
schied von Ihnen und werde Ihnen am Ende meiner Aus-
führungen auch erneut danken, obwohl natürlich mein
damaliger Dank keine Halbwertszeit hat.

Mit der heutigen Debatte geben wir den Soldaten in der
Bundeswehr gleich zweierlei: parlamentarische Aufmerk-
samkeit und politische Orientierung. Beides wird – dessen
bin ich mir ganz sicher – in der Truppe sehr genau re-
gistriert und hochwillkommen sein.

Mitte März habe ich dem Herrn Bundestagspräsidenten
meinen letzten Jahresbericht übergeben. Mit diesem
Bericht erfülle ich meine Chronistenpflicht für das Jahr

1999. Aber Seelenlagen und Stimmungen halten sich nicht
an den Kalender. Und so gilt vieles von dem, was 1998
galt, unverändert auch für 1999 und für dieses Jahr.
Geblieben sind viele der geschilderten Probleme, Miss-
stände und Unzulänglichkeiten.

Ich will mich in der Darstellung meiner Erkenntnisse
aus 5 800 Eingaben und zahlreichen Truppenbesuchen
deshalb auf das wichtigste Thema beschränken, auf die
Unsicherheit. Die Klagen vieler Soldaten und auch höher-
er Vorgesetzter über die Materialsituation und die Mängel
in der Ersatzteilversorgung sind Ihnen bekannt. Altes Ma-
terial und Versorgungsengpässe erschweren den Dienst
seit langem. Seit langem behelfen sich die Soldaten mit
improvisierten Zwischenlösungen. Aber die Freude an
dieser Improvisation nimmt spürbar ab. Die Klagen zur
Personalplanung und -führung sind ebenfalls bekannt.
Auch hier wechselt die Tonlage jetzt häufiger auf Moll.


(Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Kein Wunder!)


Zu viele Soldaten klingen mir enttäuscht und frustriert.
Lassen Sie mich an dieser Stelle hinzufügen: Es gibt

zwar nur eine Wirklichkeit, aber sicher mehrere Wahrneh-
mungen dieser Wirklichkeit. Das, was ich Ihnen schildere,
ist meine Wirklichkeit.

Neben den vielen kleinen und großen Mängeln, die sehr
häufig in fehlenden Haushaltsmitteln ihre handfeste Ur-
sache haben, gibt es den wenig greifbaren Virus der Verun-
sicherung. Dieser Virus ist für die Einsatzbereitschaft der
Truppe nachteilig. Vielen aktiven Zeit- und Berufssolda-
ten fehlt heute die Aussicht auf eine Verbesserung der
Lage oder zumindest eine klare Perspektive für die nächs-
ten Jahre. Viele potenzielle Bewerber wollen aus diesem
Grund erst gar keine Zeit- oder Berufssoldaten werden.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Leider wahr!)

Man ahnt so einiges und man weiß zu wenig. Man

ahnt, dass noch viele Kontingente in der Krisenregion auf
dem Balkan Dienst leisten müssen und dass nicht genü-
gend qualifiziertes Personal vorhanden sein wird, dass die
versprochene Pause von zwei Jahren zwischen den Ein-
sätzen nicht eingehalten werden kann, dass sich die Be-
förderungsstaus in vielen Dienstgradgruppen nicht auflö-
sen werden, dass die Truppe erheblich verkleinert wird
und die Nachwuchsprobleme zunehmen und dass es
vielleicht irgendwann keine Wehrpflicht mehr geben wird.
Man ahnt es; aber man möchte es gerne genau wissen.

Es gibt große Erwartungen an die Wehrstrukturkom-
mission. Die größte Erwartung ist, dass sie mehr Pla-
nungssicherheit bringt, und die allergrößte Erwartung ist,
dass der Verteidigungshaushalt es zulässt, diese Planungen
zu verwirklichen. Das Ziel der Reform soll die Aufrechter-
haltung und Verbesserung der Einsatzbereitschaft sein.
Deshalb darf bei dieser Reform die Befindlichkeit der Sol-
daten nicht vergessen werden. Denn die Menschen sind
das größte Kapital der Bundeswehr.

Mit klaren, nachvollziehbaren und praktikablen
Entscheidungen von Parlament und politischer Führung
der Bundeswehr kann und wird die Unsicherheit be-
endet. Erst dann kehrt das Vertrauen zurück, das für ein




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

9117


(C)



(D)



(A)



(B)


motiviertes und engagiertes Dienen in der Bundeswehr un-
verzichtbar ist. Erst dann kehrt die Motivation zurück, die
nicht nur Voraussetzung für eine Reform der Streitkräfte
ist, sondern auch der Garant für deren Erfolg. Denn nur
eine Bundeswehr mit einer klaren Perspektive ist attraktiv
und wirkt attraktiv genug, um den qualifizierten Nach-
wuchs anwerben zu können, den sie dringend braucht.

Ich will aber auch die Soldaten auf etwas hinweisen: In
Zeiten eines tief greifenden Wandels haben sie nicht nur
das Recht, sie haben geradezu die Pflicht zu konstrukti-
ver Kritik. Diese konstruktive Kritik ist kein Angriff auf
die Gehorsamspflicht. Ich habe in allen meinen Jahres-
berichten gerade auf diesen Punkt hingewiesen. Sie ist un-
verzichtbar, um der militärischen und politischen Führung
der Bundeswehr ein vollständiges und korrektes Bild des
Bundeswehralltages zu vermitteln. Sie ist das, was die
Truppe zum Erfolg der Strukturreform selbst beitragen
kann.

Ich schließe, wie versprochen, mit einem erneuten
Dank an Sie alle. Ich habe das Vertrauen, dass es Ihnen
gemeinsam gelingt, die Interessen unseres Landes, der
Bundeswehr und der Soldaten in Einklang zu bringen;
denn ich glaube, dass die Interessen deckungsgleicher
sind, als es auf den ersten Blick aussieht.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409804600
Frau Kollegin
Marienfeld, da Sie Ihr Mandat direkt vom Deutschen
Bundestag erhalten haben, möchte ich Ihnen an dieser
Stelle noch einmal für Ihre Arbeit danken. Es wird uns
auch nicht zu viel, wenn wir dies nun zum zweiten Mal
tun.


(Beifall)

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Uwe Göllner.


Uwe Göllner (SPD):
Rede ID: ID1409804700
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Die Wehrbeauftragte hat es gesagt: Es ist erst
wenige Wochen her, dass wir über den Jahresbericht 1998
diskutiert haben. Sie hat in diesem Rahmen den damals
vermeintlich letzten Dank an uns ausgesprochen. Frau
Marienfeld, ich gebe diesen ehrlichen Herzens zurück: Ich
bedanke mich für die vertrauensvolle Zusammenarbeit.

Lassen Sie mich an dieser Stelle noch sagen: Eine ver-
trauensvolle Zusammenarbeit bieten wir selbstver-
ständlich auch dem Nachfolger an. Ich bin sicher, dass die
Kontinuität in diesem Amt gewahrt bleiben wird.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Meine Damen und Herren, ich habe darauf
hingewiesen, dass es ungewöhnlich ist, in einem so kurzen
Zeitraum über zwei Jahresberichte zu diskutieren. Nor-
malerweise wäre dieser Bericht ohne Aussprache an den
Verteidigungsausschuss überwiesen worden, um dort vor-
ab darüber zu beraten und ihn dann dem Plenum zuzulei-
ten.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Wenn er nicht so wäre, wie er ist!)


Aber manche – so pflegen wir im Rheinland zu sagen –
können das Wasser nicht halten. Jeder will über die Zu-
kunft der Bundeswehr diskutieren, jeder will mitreden.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das ist auch richtig so! Es ist eine Parlamentsarmee! Insofern redet das Parlament auch mit!)


Dass dies vor Ablauf der verabredeten Zeit nur spekula-
tiven Charakter haben kann, Herr Nolting, stört fast nie-
manden. Ich finde, es ist wenig verantwortungsvoll,
darüber zur Unzeit eine öffentliche Debatte zu führen.


(Beifall bei der SPD)

Der Kollege Breuer nimmt den Bericht der Wehrbeauf-

tragten für das Jahr 1999 zum Anlass, dem Bundesminis-
ter der Verteidigung, Rudolf Scharping, ein Scheitern an
seiner Aufgabe vorzuwerfen.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: So ist es! – Zuruf von der CDU/CSU: Er ist nicht der Einzige!)


Statt der versprochenen Perspektiven herrschten Mangel-
wirtschaft, Zukunftsangst und Perspektivlosigkeit in der
Bundeswehr. Herr Breuer, Sie müssten dem erstaunten
Publikum schon erklären, wie wir im Laufe einer nur
einjährigen Regierungszeit den von Ihnen beschriebenen
Zustand hätten herstellen können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Alles versprochen, nichts gehalten!)


Schon im Bericht der Wehrbeauftragten für das Jahr
1996 heißt es in Kapitel 5.5:

Wie schwierig die Lage ist, zeigt der Umstand, dass
von 150 für den Einsatz im ehemaligen Jugoslawien
abzugebenden Kfz 140 die vorgeschaltete Überprü-
fung aufgrund von Mängeln nicht bestanden haben.

Ihr Kollege Kossendey wird in der „Süddeutschen
Zeitung“ vom 20. Juni 1997 folgendermaßen zitiert:

Immer mehr soll mit immer weniger Geld geleistet
werden. Diese Rechnung geht nicht auf. Da helfen
auch keine Denkverbote, wie der Verteidigungsmi-
nister ... sie gerne verkündet.

Der Verteidigungsminister hieß damals Rühe, nicht
Scharping.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


In der Debatte über den Jahresbericht 1996 habe ich
damals für die SPD-Fraktion erklärt:

... die Folgen fehlender Kontinuität in der Finanz-
planung ziehen sich wie ein roter Faden durch den
vorliegenden Bericht. Es ist die nur schwer zu ver-
antwortende Haushaltskürzung des Bundesministers
der Finanzen, die den inneren Zustand der Bundes-
wehr beeinträchtigt.
Wo man hinschaut, stimmen die finanziellen Mittel
nicht mehr mit Auftrag, Struktur, Umfang und Aus-
rüstung überein ...




Claire Marienfeld
9118


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir Sozialdemokraten setzen uns daher für eine par-
teiübergreifende Wehrstrukturkommission ein, die
neue und für alle tragbare Lösungen entwickeln
könnte.

Meine Damen und Herren, hätten Sie damals der Einrich-
tung dieser Kommission zugestimmt, wären wir heute ein
gutes Stück weiter.

Die in allen Berichten der Wehrbeauftragten ange-
führten Materialmängel haben uns veranlasst, die In-
vestitionsmittel 1999 und 2000 um über 2 Milliarden DM
zu erhöhen. Der Verteidigungshaushalt weist damit die
höchste Investitionsquote seit 1991 auf. Wir sind
entschlossen, diesen Weg fortzusetzen.


(Beifall bei der SPD – Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Weiß Eichel das?)


Meine Damen und Herren aus der CDU/CSU-Fraktion,
Sie können meinen Ausführungen zum Bericht der
Wehrbeauftragten für 1996 entnehmen, dass ich schon
damals mehr den Bundesminister der Finanzen als den der
Verteidigung im Visier hatte. Nicht, dass mir die Sorgen
der Finanzminister fremd wären! Nein, ich wollte schon
damals mögliches Streitpotenzial aus unserem Arbeitsge-
biet heraushalten. In den letzten Jahren Ihrer Regierung
haben wir als Opposition geholfen, möglichst Konsens in
Sicherheitsfragen zu fördern. Manche Wortmeldungen aus
Ihren Reihen haben mich in den letzten Wochen zweifeln
lassen, ob dieser breite Konsens von Ihnen noch ge-
wünscht ist. Damit mich niemand falsch versteht: Konsens
heißt nicht Kritiklosigkeit. Aber wer eingedenk der eige-
nen Schwierigkeiten in seiner Regierungszeit das eingangs
Zitierte vertritt, der trägt nicht zur Klimaverbesserung in
diesem Bereich bei.


(Beifall bei der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Auch von dem, was nach der Vorstellung des Berichtes
1999 durch die Frau Wehrbeauftragte in den Zeitungen
stand, habe ich vieles nicht nachvollziehen können. Das
Ausscheiden der Frau Wehrbeauftragten hat wohl man-
chen Journalisten bewogen, erstmals einen Bericht der
Wehrbeauftragten zu lesen. Denn nichts von dem, was da
veröffentlicht wurde, war neu. Das allermeiste war in
früheren Jahresberichten nachzulesen.

An einer Stelle heißt es im Bericht der Wehrbeauf-
tragten:

Auch im militärischen Einsatz hat der Soldat sein
Verhalten an den Menschenrechten ... auszurichten.
... Ich habe ... mit großer Erleichterung zur Kenntnis
genommen, dass unsere Soldaten gut ausgebildet
und beispielhaft vorbereitet in den Einsatz gegangen
sind.

Die Soldaten, von denen Frau Marienfeld da spricht, sind
unsere Soldaten. Ich denke, diese Feststellung der
Wehrbeauftragten wäre ein Grund für die gesamte Nation,
auf diese Truppe stolz zu sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber die Journalisten nehmen dieses Positive durchaus
nicht zur Kenntnis. Stattdessen wird folgender Satz undif-

ferenziert aufgegriffen und breit ausgewalzt: Bei den Sol-
daten und ihren Familien „treffe ich ... vermehrt ... auf
Unsicherheit und Motivationsverlust“. Hätte man den
nächsten Satz dazu gelesen, hätte man vielleicht nachge-
fragt. Denn dort wird beschrieben, dass die sich abzeich-
nende strukturelle Veränderung, Innovationsstau und
Fragen nach der eigenen künftigen Verwendung dabei eine
Rolle spielen. Dass dies die Menschen in der Bundeswehr
interessiert und bewegt, ist eine schlichte Selbstver-
ständlichkeit. Daraus Motivationsverlust für den derzeiti-
gen Dienst abzuleiten, halte ich allerdings für eine falsche
Schlussfolgerung. Sie ist mir so auch noch nicht begegnet.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS SES 90/DIE GRÜNEN)


Die Soldaten wissen nur zu gut, dass – bei aller
Ungeduld, die verständlich ist – die Kommission Zeit für
ihre Arbeit braucht. Das Ende ist ja nun abzusehen. Wer
den Minister in den 17 Monaten seiner Amtszeit einiger-
maßen objektiv beobachtet hat, der kann sicher sein, dass
die notwendigen Konsequenzen zügig auf den Tisch
kommen.


(Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Da sind wir mal gespannt!)


Meine Damen und Herren, was die sicher notwendige
Kenntnisnahme von ärgerlichen Sachverhalten und
Vorkommnissen betrifft, verweise ich auf die Debatte vom
Januar. Ausdrücklich erwähnen will ich allerdings den
drastischen Rückgang der gemeldeten Verdachtsfälle mit
rechtsextremem Hintergrund. Die besonderen Be-
mühungen von militärischer und politischer Führung
scheinen hier zu wirken. Dafür will ich allen Beteiligten
ausdrücklich danken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.])


Obwohl die Debatte über den Bericht 1998 erst wenige
Wochen her ist, will ich die darin enthaltenen
Dankadressen wiederholen. Da waren die Militärseel-
sorge, die Evangelische und die Katholische Arbeitsge-
meinschaft für Soldatenbetreuung und die Familienbe-
treuungszentren zu erwähnen. Ausdrücklich will ich in
den Dank alle einschließen, die zum Ansehen der Bundes-
wehr im In- und Ausland beigetragen haben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in wenigen Wochen
beginnt für die meisten von uns das Verfahren zur Auf-
stellung des Bundeshaushalts 2001. Die Begehrlichkeiten
sind in allen Bereichen groß. Allzu viele in diesem Parla-
ment und in der Gesellschaft sehen den Verteidigungs-
haushalt immer noch als Deckungsreserve für anderes,
vermeintlich Wichtigeres. Gesellschaftliche und parla-
mentarische Gestaltung in Frieden und Freiheit wäre ohne
Sicherheit nicht denkbar. Diese Sicherheit kostet natürlich
Geld. Für dieses Geld zu streiten und seine Verwendung
breiter gesellschaftlicher Akzeptanz zuzuführen, das ist
unsere Aufgabe. In diesem Sinne sollten wir alle in un-
seren Parteien und darüber hinaus keinem Streit aus dem
Wege gehen.

Danke schön.




Uwe Göllner

9119


(C)



(D)



(A)



(B)



(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409804800
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Paul Breuer.


Paul Breuer (CDU):
Rede ID: ID1409804900
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Auch ich möchte am Anfang meiner
Ausführungen der Wehrbeauftragten Claire Marienfeld für
ihre Arbeit ein herzliches Dankeschön sagen. Ich darf für
meine Fraktion formulieren, dass wir eine sehr gute und
fruchtbare Zusammenarbeit hatten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich schließe die Mitarbeiter in diesen Dank mit ein. Wir
werden bei der Verabschiedung der Wehrbeauftragten
Gelegenheit haben, auf ihre Arbeit intensiver einzugehen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist hier
eben in der Debatte sowohl von Frau Marienfeld als auch
vom Kollegen Göllner als eine Besonderheit dargestellt
worden, dass die erste Beratung des Berichts der
Wehrbeauftragten für das Jahr 1999 so schnell erfolgte.
Herr Kollege Göllner, Sie haben aus der Sicht der SPD
dazu Ausführungen gemacht. Lassen Sie mich jetzt aus der
Sicht meiner Fraktion formulieren.

Der Bericht der Wehrbeauftragten auf das Jahr 1999 be-
zogen ist kein normaler Bericht. Dieser Bericht stellt fest,
dass die Bundeswehr in der Gefahr steht, in eine tiefe
Krise zu geraten. Wenn diesem Parlament seitens der
Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages deutlich
gemacht wird, die Armee drohe in eine tiefe Krise zu
stürzen, dann muss sich der Bundestag damit umgehend
beschäftigen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Schauen wir genau hin, um welche Art Krise es sich

handelt. Es ist eine Krise, herbeigeführt durch Irritation
und Desorientierung und auch eine Krise bei der Nach-
wuchsgewinnung. Man muss sich über die Verant-
wortlichkeiten sehr genau Gedanken machen. Ich bin fest
davon überzeugt, dass die 17 Monate Ihrer Amtszeit an
dieser Krise durch Irritation und Desorientierung ein er-
hebliches Stück mitgewirkt haben und dass Minister
Scharping die Hauptverantwortung dafür trägt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Peter Zumkley [SPD]: Und Ihre Veröffentlichungen, nicht zu vergessen! – Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Breuer, überlegen Sie sich mal, was Sie dazu beitragen!)


Schauen wir uns einmal genau an, was im Einzelnen
gemacht worden ist. Minister Scharping ist ins Amt ge-
kommenundhat gesagt: Ich tue das nur deshalb – er hat das
ja nicht unbedingt aus eigenemWillen heraus gemacht –,
weil ich Garantien besitze. Ich besitze Garantien seitens
des Bundeskanzlers, ich besitze Garantien seitens des
Bundesfinanzministers. Er hat davon gesprochen, er be-
sitze Garantien, die noch kein Verteidigungsminister vor
ihm besessen habe. – Das stimmt. Solche schlechten

Garantien hat niemand vor ihm besessen.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dann schauen Sie sich doch die Koalitionsverein-
barung, die Sie von Rot und Grün getroffen haben, genau
an. In der Koalitionsvereinbarung steht etwas, was ich
wörtlich zitieren kann.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hören wir immer gern, was da steht! Das verschafft der Öffentlichkeit die Information, Herr Breuer! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Das ist kostenlose Werbung! Das ist doch wunderbar!)


– Ich hoffe, dass Sie die Koalitionsvereinbarung noch im
Einzelnen interessiert. Ich weiß, einige von Ihnen haben
sie längst vergessen. Dort steht:

Vor Abschluss der Arbeit der Wehrstrukturkommis-
sion werden ... keine Sach- und Haushaltsentschei-
dungen getroffen, die die zu untersuchenden Berei-
che wesentlich verändern oder neue Fakten schaffen.

(Peter Zumkley [SPD]: Und so ist es gesche hen! Das ist doch so geschehen!)

– Das ist so geschehn? Herr Zumkley, der Finanzminister
hat im Vergleich zum Verteidigungsetat 1998 in den
Haushalten 1999 und 2000 Fakten geschaffen, die die
Grundlagen um 4 Milliarden DM verändert haben.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Was kümmert mich das Geschwätz von gestern!)


Das ist eine ganz entscheidende Zahl, um die es hier geht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Peter Zumkley [SPD]: Immer noch höher, als Ihre Ansätze waren!)


Dann beschäftigen wir uns etwas mit der Wehrstruk-
turkommission und der Art, wie sie arbeitet. Herr Minis-
ter Scharping, Sie haben gesagt, Sie wollten mit dieser
Wehrstrukturkommission sichern, dass alle Teile dieser
Gesellschaft in eine Diskussion über die Zukunft der Bun-
deswehr einbezogen werden.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deswegen machen Sie ja auch nicht mit!)


Es ist löblich, so etwas zu versuchen. Aber glauben Sie
etwa, dass die Art, wie die Kommission arbeitet – die Art
hat nicht die Kommission gewählt, sondern Sie –, dass
hinter verschlossenen Türen gearbeitet wird, dass Ergeb-
nisse oder Nichtergebnisse herausgespielt werden, dass
spekuliert werden kann,


(Peter Zumkley [SPD]: Von Ihren eigenen Leuten!)


dass Sie parallel zur Wehrstrukturkommission den Gene-
ralinspekteur beauftragen, eine eigene Planung zu erar-
beiten,


(Zuruf von der F.D.P.: Das ist das Problem!)

dass all das das Vertrauen in diese Kommission stärkt? Das
führt zu Spekulationen,




Uwe Göllner
9120


(C)



(D)



(A)



(B)



(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Sie schüren!)


und diese Spekulationen führen genau zu den Irritationen,
von denen die Wehrbeauftragte spricht.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Schauen Sie sich, Herr Minister Scharping, doch nur

die letzten Tage an. Schauen Sie sich an, was Sie selbst in
diesen letzten Tagen gemacht haben. Insgesamt ist es ja so,
dass viele der Forderungen, die Sie erheben, von uns un-
terstützt und geteilt werden können.


(Peter Zumkley [SPD]: Das ist doch ein Wort!)


Ich stelle auch fest, dass wir diese Forderungen, ins-
besondere im Hinblick auf die haushaltspolitischen Fol-
gen, stärker unterstützen als diejenigen in der SPD-Frak-
tion, in der Fraktion der Grünen oder im Finanzministe-
rium, die für den Haushalt zuständig sind. Das ist doch ein
Widerspruch. Sie stellen Forderungen, die Forderungen
werden nicht erfüllt. Das wirkt irritierend, das öffnet
Spekulationen Tür und Tor. Und dann meinen Sie, das sei
eine Veranstaltung, die mehr Vertrauen erwecken kann?
Das begünstigt das Misstrauen. Das wirft Ihnen die
Wehrbeauftragte zu Recht vor, meine Damen und Herren.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Darum ist Herr Kröning ja heute auch nicht hier!)


– Das ist bemerkenswert.
Schauen Sie doch, wie Sie in den letzten Tagen

gesprochen haben. Sie sind zunächst vor die Kameras ge-
treten und haben gesagt, Sie wollten den Wehrdienst
verkürzen, nannten eine Zahl von sechs Monaten und an-
schließend Wehrübungen. Heute lese ich in der
Tageszeitung „Die Welt“, Sie wollten es mitnichten; Sie
wollten eine Wehrdienstdauer von neun Monaten.
Früher haben Sie gesagt: Die Wehrstrukturkommission
wird die Grundlagen für die Entscheidungen bringen,
warten wir es ab. Dann haben Sie den Generalinspekteur
eingesetzt, der sollte eigene Planungen machen. Nun kön-
nen Sie das Wasser nicht halten und spekulieren jeden Tag
über neue Zahlen. Das soll Vertrauen schaffen? Das wirkt
irritierend und verunsichernd auf jeden, der sich damit
beschäftigt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Peter Zumkley [SPD]: Wo ist eigentlich Herr Austermann?)


Nun zu den Zahlen im Haushalt: Es ist sicher richtig,
Herr Zumkley und Herr Göllner, dass auch in der zweiten
Hälfte der 90er-Jahre der Verteidigungsetat von der dama-
ligen Mehrheit im Deutschen Bundestag nicht großzügig
gestaltet worden ist. Volker Rühe wäre der Letzte, der das
bestreiten würde.


(Verena Wohlleben [SPD]: Das hätte er damals sagen müssen! Damals war er noch begeistert!)


Aber eines will ich Ihnen sagen. Wenn man sich die
Haushaltsentwicklung am Ende der Legislaturperiode und
die mittelfristige Finanzplanung, die sich daraus bis zum
Jahre 2003 entwickelt hat, anschaut, kommt man zu der

Erkenntnis: Die Haushaltsentwicklung wurde verstetigt
und berechenbar und die mittelfristige Finanzplanung
führte zu einer moderaten Erhöhung und damit zur Ver-
stetigung und Berechenbarkeit des Verteidigungs-
haushaltes.


(Peter Zumkley [SPD]: Aber das musste doch nicht eingelöst werden durch Sie! 2003 haben wir noch nicht!)


Ganz im Gegenteil dazu, Herr Kollege Zumkley, steht
die mittelfristige Finanzplanung der rot-grünen Koalition.
Diese mittelfristige Finanzplanung vergeht sich doch an
der eigenen Koalitionsvereinbarung. Sie wollen innerhalb
eines Vier-Jahres-Zeitraums den Verteidigungsetat so weit
nach unten fahren, dass der Bundeswehr dabei fast 20Mil-
liardenDM entzogen werden. Glauben Sie, damit könnten
Sie Vertrauen innerhalb der Bundeswehr schaffen? Damit
führen Sie zu Desorientierung, zu Irritation, zu Zukunfts-
angst, und Sie vergrößern damit die Schwierigkeiten bei
der Nachwuchswerbung, die von der Wehrbeauftragten
beschrieben worden sind.

Es ist zum großen Teil auch von den jetzt realisierten
Haushaltszahlen her gar nicht möglich, das dann alles in
das Spielfeld der ehemaligen Mehrheit zu führen. Ich will
Sie darauf hinweisen, dass Sie, die Mehrheit dieses Hau-
ses, im jetzt gültigen Haushalt 2000 im Kapitel „Materi-
alerhaltung und Betrieb“– ein wichtiges Kapitel im
Bericht der Wehrbeauftragten – bei der Materialerhal-
tung von Fahrzeugen ein Minus von 14 Prozent her-
beigeführt haben, eine Kürzung von 1,032Milliarden DM
auf 890 Millionen DM.

Der Verteidigungsminister tritt an und spricht davon,
die Fahrzeuge seien älter als die Soldaten, was stimmt.
Aber das moralische Recht, das gegenüber der Vergan-
genheit zu kritisieren, hätte er doch nur, wenn die
Haushaltszahlen heute verbessert worden wären.
Sie werden nicht verbessert, sondern sie werden bei dieser
Position um 14 Prozent gesenkt. Ist das vertrauener-
weckend? Der Haushalt für die Erhaltung von Fern-
meldematerial – Verbindung und Information, ein wich-
tiges Thema, das der Verteidigungsminister immer
anspricht – reduziert sich um 10 Prozent von 235 Millio-
nen DM auf 211 Millionen DM. Ich frage Sie: Ist das ver-
trauenerweckend? Das ist absolut irritierend.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Anke Fuchs)

Sie sind aufgefordert, durch eine konsistente Planung

und nicht durch Verzögerungstaktik und alles auf die
Wehrstrukturkommission abschiebend dazu beizutragen –
Sie haben die politische Verantwortung –, dass die Zu-
kunft der Bundeswehr sicher ist, dass Berechenbarkeit,
Vertrauen und Planungssicherheit entstehen. Meine
Damen und Herren, momentan sind Sie davon meilenweit
entfernt.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409805000
Herr Kollege, denken
Sie bitte an die Redezeit.




Paul Breuer

9121


(C)



(D)



(A)



(B)



Paul Breuer (CDU):
Rede ID: ID1409805100
Ich fordere Sie dringend
auf, die Grundlage für diese Sicherheit zu schaffen. Ich
halte es für notwendig, dass dieses Parlament, dem ge-
genüber die Bundeswehr zur Loyalität verpflichtet ist –
daran hat niemand Zweifel –, im Hinblick auf die deut-
schen Sicherheitsinteressen, aber auch im Hinblick auf un-
sere Verpflichtungen gegenüber der Bundeswehr tätig
wird.

Schaffen wir eine Zukunft für die Bundeswehr, die den
deutschen Sicherheitsinteressen innerhalb Europas und in-
nerhalb des NATO-Bündnisses gerecht wird und die den
Menschen in der Bundeswehr, den jungen Wehrpflichtigen
und der Gesellschaft signalisiert, dass wir es mit der
deutschen Sicherheit und den Belangen der Bundeswehr
ernst meinen.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssten Sie erst einmal Ihr Konzeptpapier einstampfen!)


Hören Sie auf damit, jedes Jahr erneut darüber zu disku-
tieren, welche Kürzungen vorgenommen werden sollen
und wie die Bundeswehr verkleinert werden soll. Das kann
sie auf Dauer nicht ertragen. Das war die Grundlage des
Berichtes von Claire Marienfeld.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Peter Zumkley [SPD]: Darüber gibt es keinen Streit!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409805200
Das Wort hat jetzt
Bundesminister Rudolf Scharping.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409805300

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Ich möchte zunächst einmal Ihnen, Frau Marienfeld,
sehr herzlich für das danken, was Sie für die Bundeswehr,
für die Soldaten und deren Belange getan haben. Die Be-
richte der Wehrbeauftragten müssen auf Unzulänglich-
keiten und Mängel hinweisen. Insofern sind sie hilfreich.

Es ist eine ganz andere Frage der politischen Verant-
wortung, wie man mit diesen Mängeln umgeht. Dafür
haben wir gerade ein sehr interessantes Beispiel erlebt:
Herr Kollege Breuer, ich habe hier ein Interview von Ih-
nen vom 8. Februar 2000 vorliegen. Dieses spiegelt eine
ganz eigenartige Vertrautheit mit den Fakten wider. Darin
behaupten Sie, dass eine Brigade 5 000 Soldaten hätte, was
nicht stimmt.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Nein!)

– Das steht alles in dem Interview.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Darin geht es um eine Brigadestärke international!)


– Ich kann Ihnen das auch alles vorlesen. Sie behaupten,
der Haushalt habe 48,3Milliarden DM betragen, was auch
nicht stimmt. Dann sagen Sie, der Wehrdienst könne zwi-
schen sechs und 23 Monaten schwanken, um mir hinter-
her Verunsicherung vorzuwerfen,


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Das Interview will ich sehen!)


wobei Sie nichts anderes getan haben, als einen Prü-
fungsauftrag an den Führungsstab der Streitkräfte zur
Kenntnis zu nehmen, als eigenen Vorschlag an die Öf-
fentlichkeit zu bringen und dann hinterher Verunsicherung
zu beklagen.


(Beifall bei der SPD)

Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Die Bundeswehr hat

1999 700 Millionen DM mehr zur Verfügung gehabt als
1998. Das waren zusammen mit den internationalen Ein-
sätzen insgesamt 47,4 Milliarden DM.


(Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Das war auch ein Haushalt, den wir mitgetragen haben!)


Die Bundeswehr hat im Jahre 2000 einschließlich der in-
ternationalen Einsätze 47,3Milliarden DM zur Verfügung.
In die Ausrüstung der Bundeswehr werden in den Jahren
1999 und 2000 2,5 Milliarden DM mehr als in den Jahren
1997 und 1998 investiert.

Sie tragen die Verantwortung dafür, dass die Investitio-
nen in die Ausrüstung der Bundeswehr im Jahre 1997 auf
5,3 Milliarden DM – ein unverantwortlich niedriges
Niveau – zurückgegangen waren.


(Beifall bei der SPD – Peter Zumkley [SPD]: Unmöglich!)


Sie können doch nicht der Bundesregierung und dem
Verteidigungsminister vorhalten, dass die Bundeswehr es
mit Gerät zu tun hat, das zum Teil 30 oder 40 Jahre alt ist,
und dass allein in die Nutzungsdauerverlängerung von
Mannschaftstransportfahrzeugen 500 Millionen DM in-
vestiert werden müssen, weil Sie die Kraft nicht hatten,
rechtzeitig zu investieren. Die Betriebskosten sind doch
deswegen so hoch, weil Sie über Jahre hinweg die In-
vestitionen in kostengünstigeres und leistungsfähigeres
Gerät schlicht versäumt haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Im Übrigen: Der Haushalt 1999 war der erste seit 1992,
in den mit globalen Minderausgaben nicht eingegriffen
wurde, was für Verlässlichkeit der Haushaltsführung und
übrigens auch für Vertrauensbildung in der Bundeswehr
richtig und notwendig gewesen ist. Sie haben doch zu
vertreten, dass in den 90er-Jahren allein mit globalen Min-
derausgaben in Höhe von über 5 Milliarden DM in die
laufenden Haushalte des Verteidigungsministeriums
eingegriffen worden ist. Und dann tun Sie hier so, als kön-
nte man an all diesem vorbeisehen. In den 90er-Jahren ist
eine Investitionslücke von über 15 Milliarden DM ent-
standen. Wir haben begonnen, sie abzubauen. Wir werden
das konsequent fortsetzen, und zwar auch in den kom-
menden Haushaltsjahren. Das ist der eine Teil.

Der zweite Teil betrifft das Personal. Sie haben zu
verantworten, dass es einen Beförderungsstau gibt und
dass in der Bundeswehr 8 000 Menschen unterwertig
besoldet werden.


(Peter Zumkley [SPD]: Das muss man sich mal anhören!)


Sie haben zu verantworten, dass die Besoldungs- und Per-
sonalstruktur so ist, wie sie ist. Die Bundeswehr ist zurzeit






(C)



(D)



(A)



(B)


der einzige Bereich des öffentlichen Dienstes, der noch in
einem nennenswerten Umfang nach A 1, A 2 oder A 3
besoldet wird. Sie haben zu verantworten, dass im Zuge
der Halbierung der Bundeswehr in der Mitte der 90er-
Jahre nicht nur viel Verunsicherung, sondern auch ein Fehl
von über 6 000 Unteroffizieren entstanden ist. Ich wehre
mich dagegen – und zwar ganz engagiert –, dass Sie wei-
tere Verunsicherung der Bundeswehr betreiben. In der
jetzigen Situation gibt es klarere und für die Zukunft der
Bundeswehr wesentlich nützlichere Entscheidungen als
alles, was Sie in den 90er-Jahren hier im Parlament
beschlossen haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Was ist denn mit der mittelfristigen Finanzplanung?)


– Ich komme gleich auch noch zur mittelfristigen Finanz-
planung, aber Sie werden schon die Geduld aufbringen
müssen, sich mit den Konsequenzen Ihrer Entscheidungen
auseinander zu setzen.

Sie haben zu verantworten, dass das fliegende Per-
sonal in der Bundeswehr durch Ihre Entscheidungen
15 Prozent Nettoeinkommensverlust hinnehmen musste.
Die daraus entstehenden Schwierigkeiten in der Nach-
wuchsgewinnung, ja sogar im Halten der Leute müssen
bereinigt werden. Es wird Sie interessieren, dass der Bun-
desinnenminister und ich bereits dabei sind. Sie haben zu
verantworten, dass nur 8 Prozent der Dienstposteninha-
ber in der Bundeswehr in der mittleren und gehobenen
Laufbahn – Unteroffiziere und Feldwebel – die Spitzen-
positionen erreichen können, während das beispielsweise
in der Polizei 50 Prozent sind. Sie haben sich doch nie ge-
traut, die Personal- und Besoldungsstruktur zu verändern.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Seien Sie da mal vorsichtig!)


Was wir als Folge Ihrer Politik auf der Kompanieebene er-
lebt haben, war ein Ausdünnen der Leistungsfähigkeit auf
beiden Seiten: auf der Seite des Personals und auf der
Seite der Ausrüstung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich werde nicht anstehen, das nüchtern zu beschreiben,
und im Übrigen werde ich alles tun, um das zu ändern.

Das heißt, die Investitionen in die Ausrüstung der Bun-
deswehr werden steigen und sie müssen auch steigen. Das
bedeutet: Die Zahl der Berufs- und Zeitsoldaten wird
steigen; sie darf im Interesse der Leistungsfähigkeit der
Bundeswehr nicht fallen. Das bedeutet auch, dass wir uns
in Fragen der Wehrpflicht intelligentere Konzepte über-
legen müssen. Da ist ja mit der freiwilligen Verlängerung
des Wehrdienstes schon etwas getan. Allerdings kann ich
mir mehr Flexibilität vorstellen.

Damit bin ich bei der Wehrpflicht. Das Folgende sage
ich mehr an die Adresse der Öffentlichkeit, weniger an die
Adresse des Parlamentes, weil ich weiß, dass das hier eine
breite Übereinstimmung findet. Wir sollten uns davon ver-
abschieden, eine Gesellschaft allein so zu definieren, dass
sie nach dem Motto funktioniert: Wenn jeder an sich denkt,

ist an alle gedacht. Das geht nicht. Jeder Freiheit steht eine
Verantwortung, jedem Recht auch eine Verpflichtung
gegenüber. Die gemeinsame Verpflichtung, die Freiheit
und die Sicherheit unseres Landes und seiner Bündnis-
partner zu gewährleisten, wird am besten in der Wehr-
pflicht ausgedrückt. Im Übrigen hat das auch etwas mit
dem zivilen, dem inneren Gefüge der Streitkräfte selbst zu
tun; denn mit jedem Wehrpflichtigen gibt es auch Eltern
und Großeltern, die sehr genau hinschauen, was in der
Bundeswehr wirklich passiert.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das ist jetzt die Ansprache an die Grünen, ja?)


– Entschuldigung, man wird doch in der Lage sein, Herr
Kollege Nolting, das eine oder andere noch einmal zu
bekräftigen, ohne dass das als Ansprache an irgendjeman-
den, auch nicht an unseren Koalitionspartner, missver-
standen werden muss. Ich bin jedenfalls dagegen, diese
gemeinsame Sicherheit wie eine gewerbliche Dienstleis-
tungsagentur zu betrachten. Das wird nicht weiterhelfen.

Der Dank an die Soldaten wird sichtbarer und deut-
licher, wenn man darauf aufmerksam macht, dass trotz
dieser Mängel und trotz der Fehlentwicklung der 90er-
Jahre die Bundeswehr ein sehr hohes Maß an Leistung er-
bringt. Das hat mit einem systematischen und gründlichen
Entscheidungsprozess zu tun. Ich habe veranlasst, dass
eine Bestandsaufnahme gemacht wird. Ich weiß, dass
manche diese nicht lesen wollen oder im Mai 1999 dazu
vielleicht keine Zeit gefunden haben. Diese Bestands-
aufnahme ist Ergebnis einer sehr systematischen Arbeit in
den Streitkräften, durchgeführt vom Generalinspekteur
sowie von den Führungsstäben, und einer sehr sorgfältigen
Bestandsaufnahme in über 15 Tagungen mit Angehörigen
der Bundeswehr.

Meine Führung ist ausdrücklich für die Leistungs-
fähigkeit der Bundeswehr und somit auch für die Mit-
sprache der Angehörigen der Bundeswehr. Man hat näm-
lich nichts von Soldaten, die bloße Befehlsempfänger sind.
Aber man hat auch nichts von Verteidigungsministern, die
Vorlagen durch die Gegend werfen nach dem Motto: Ich
will überhaupt nicht wissen, was die Oberstleutnants
denken. Ich möchte das wissen. Ich möchte die Angehöri-
gen einbeziehen, nicht nur die Oberstleutnants.


(Peter Zumkley [SPD]: Sehr gut!)

Wir erarbeiten nun systematisch Arbeitsgrundlagen.

Dies tun wir in der Kommission.Wie Sie sich verhalten,
ist – auch angesichts der vielen, die Ihrer Partei angehören
und in dieser Kommission mitarbeiten – in hohem Maße
erstaunlich. Sie sollten einfach das Normalste der Welt tun
und sagen: Gott sei Dank gibt es in diesem Land noch
Menschen, die sich Stunden, Tage und Wochen um die
Ohren schlagen, ohne irgendetwas dabei zu verdienen, die
sich den einen oder anderen Ärger einhandeln und die
sachkundig und qualifiziert im Interesse des Landes und
seiner sicheren Zukunft arbeiten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409805400
Herr Minister, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Breuer?




Bundesminister Rudolf Scharping

9123


(C)



(D)



(A)



(B)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409805500

Ich möchte diesen Gedanken erst zu Ende bringen.

Diese Kommission hat Respekt verdient. Dass die
Streitkräfte Vorschläge auf den Tisch legen, ist ausdrück-
lich mein Wunsch. Es gehört zum guten Recht der
Streitkräfte, an diesem Prozess beteiligt zu sein.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409805600
Es kommen nun Zwi-
schenfragen der Kollegen Breuer und Nolting. Herr Kol-
lege Breuer, bitte sehr.


Paul Breuer (CDU):
Rede ID: ID1409805700
Herr Minister Scharping,
darf ich Sie darauf hinweisen, dass ich nicht Kritik an der
Arbeit der Kommission geäußert habe, sondern an den
Umständen, unter denen diese Kommission arbeitet?


(Zurufe von der SPD: Wo bleibt die Frage?)

– Die Frage ist, ob ich Herrn Scharping darauf hinweisen
darf. Aber gut, ich nehme Ihren freundlichen Rat auf und
werde meine Ausführungen deutlicher als Fragen for-
mulieren.

Erinnern Sie sich daran, dass Sie gegenüber dem
Verteidigungsausschuss zugesagt haben, dass über die Ar-
beit der Kommission kontinuierlich und fortlaufend in-
formiert werde? Können Sie sich daran erinnern, dass Sie
sich an diese Zusage irgendwann nicht mehr erinnern
mochten? Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
ich eben darauf hingewiesen habe, dass ich es für falsch
halte, dass die Kommission hinter verschlossenen Türen
arbeitet? Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es
andere Kommissionen in Europa gibt, die ihre Verhand-
lungen öffentlich gemacht haben, sodass mehr Trans-
parenz entsteht? Das ist die eigentliche Kritik.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409805800
Herr Minister, bitte
sehr.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409805900

Herr Kollege Breuer, ich beantworte Ihre Fragen mit ei-
nem kurzen Hinweis. Ich will mich mit Ihnen nicht über
Erinnerungen streiten, sondern will Sie nur auf Folgendes
aufmerksam machen: Ich habe Sie und einige Ihrer Frak-
tionskollegen im späten Herbst des letzten Jahres über ei-
ne ganze Reihe von Fragen im Zusammenhang mit der
Bundeswehr der Zukunft informiert. Danach habe ich in
den Zeitungen völlig haltlose Spekulationen gelesen. Ich
stehe nicht an zu sagen, Vertraulichkeit ist nur in einer
„Zweibahnstraße“ möglich. Ich bin aber nicht bereit,
mich noch einmal dem Umstand auszusetzen, dass Sie
bzw. Ihre Fraktionskollegen auf eine so erbärmliche Wei-
se vertrauliche Informationen verfälschen, wie das ge-
schehen ist. Ich habe mich – mit dem vollen Verständnis
Ihrer Fraktionsführung – korrekt verhalten und habe sie
informiert. Wenn Kollegen Ihrer Fraktion ein solches Ge-
spräch missbrauchen, um im Vorfeld eines Parteitages der
Sozialdemokraten Mist in die Welt zu setzen, führe ich
keine vertraulichen Gespräche mehr. Das ist ganz einfach.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409806000
Eine zweite Frage des
Kollegen Breuer. Bitte schön.


Paul Breuer (CDU):
Rede ID: ID1409806100
Herr Minister, darf ich
darauf hinweisen, dass bezüglich dieses Gespräches in der
Öffentlichkeit kein sachlicher Inhalt zum Ausdruck kam,
sondern dass die von Ihnen genährte Erwartung, den
Bundeskanzler zu beerben, Gegenstand dessen war, was
Sie hier kritisieren?


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409806200

Das war Gegenstand Ihrer öffentlichen Berichterstattung,
obwohl dies in unserem Gespräch keine Rolle gespielt hat
und auch keine Rolle spielen konnte, weil ich diese Ab-
sicht weder hatte noch habe noch in Zukunft haben wer-
de.

Im Übrigen will ich Sie im Zusammenhang mit Ihrer
Frage nach der Kommission auf eines aufmerksam ma-
chen: Ich habe es einfach satt, dass einige in der Union –
Gott sei Dank nicht alle – regelmäßig den Versuch
machen, Fragen über die Zukunft der Bundeswehr, die ei-
ner gründlichen Diskussion bedürfen, weil sie Entschei-
dungen fordern, die für zehn bis 20 Jahre Bestand haben
müssen, zum Gegenstand eines ganz billigen parteipoli-
tischen Spiels zu machen.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie zehn Jahre lang gemacht!)


Ich könnte Ihnen Dutzende von Interviews als Beispiel
nennen. Das läuft mit mir nicht. Das hat die Bundeswehr
nicht verdient und das ist im Übrigen ein Stil der politi-
schen Auseinandersetzung, den ich nicht sonderlich
schätze.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409806300
Herr Minister, gestat-
ten Sie nun eine Zwischenfrage des Kollegen Nolting? Ich
möchte darauf hinweisen, dass wir uns beim Tagesord-
nungspunkt 6, der Beratung des Berichts der Wehrbeauf-
tragten, befinden. Wir sollten uns etwas an die Inhalte der
Tagesordnung halten.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.])


Herr Kollege Nolting, bitte.


Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1409806400
Herr Minister
Scharping, könnten Sie uns erklären, welchen Sinn eine
Zukunftskommission macht, die ja von Ihnen eingesetzt
wurde und auf deren Ergebnisse wir warten, wenn Sie
gleichzeitig den Generalinspekteur beauftragen, eigene
Planungen vorzunehmen, die offensichtlich in Wider-
spruch zu dem stehen, was die Zukunftskommission vor-
legen wird? Glauben Sie nicht, dass dies insgesamt – wie
hier schon diskutiert wurde – zur Verunsicherung in der
Truppe führt? Darf ich Sie im Zusammenhang mit der mit-
telfristigen Finanzplanung auch daran erinnern, dass wei-
tere Kürzungen in Höhe von circa 18Milliarden DM vor-
genommen werden sollen und dies in absolutem Wider-
spruch zu dem steht, was Sie fordern: nämlich zusätzliche
15 Milliarden DM?






(C)



(D)



(A)



(B)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409806500

Herr Kollege Nolting, erstens: Ich habe auf eine Investi-
tionslücke aus den 90er-Jahren hingewiesen. Ich müsste
dies mit dem Hinweis ergänzen, dass diese Investitionslü-
cke nicht all das erfasst, was angesichts einer gemeinsa-
men europäischen Sicherheitspolitik und wegen der von
der NATO gemeinsam beschlossenen Strategie an künfti-
gen Fähigkeiten für die Bundeswehr erworben werden
muss.

Zweitens. Ich muss Sie darauf hinweisen – wir haben
das mehrfach diskutiert –, dass die Zahlen der mittelfristi-
gen Finanzplanung unter einem – dem Parlament im Übri-
gen mitgeteilt – Vorbehalt stehen, sodass Sie ebenso wie
ich darauf warten müssen, was im Juni 2000 wirklich
entschieden werden wird.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das werden wir machen!)


Ich bin ziemlich sicher, dass Sie von den Umständen et-
was überrascht sein werden.

Drittens. Mit Blick auf Ihre Frage nach der Arbeit der
Kommission muss ich Sie darauf hinweisen, dass nach un-
seren Regeln und den Ihnen bekannten Vorschriften der
Generalinspekteur der Bundeswehr als oberster si-
cherheitspolitischer Berater der Bundesregierung ver-
pflichtet ist, konzeptionelle Eckwerte für die Bundeswehr
zu entwickeln. Ich sage es einmal etwas polemisch: Wenn
es bei Ihnen üblich sein sollte, dass niemand denken darf,
weil ein anderer denkt, würde ich das für sehr unsinnig hal-
ten. Dies hat aber auch einen sehr begründeten, sachlichen
Umstand, nämlich die klare Tatsache, dass Sie die Bun-
deswehr in einen Zustand gebracht haben, der einen lan-
gen Entscheidungsprozess nicht duldet.

Deswegen bin ich der Kommission dafür dankbar, dass
sie ihre Ergebnisse im Mai vorlegt; deswegen habe ich
veranlasst, dass parallel gearbeitet wird, um vor den Som-
merferien zu Entscheidungen über diese Eckpfeiler zu
kommen. Denn alles andere hätte dazu geführt, dass einige
Kollegen in diesem Haus ihre Taktik der Verunsicherung
hätten weiter betreiben können, die Entscheidung erst im
Jahre 2001 statt jetzt im Sommer 2000 gefallen wäre und
der Zustand der Bundeswehr nicht nach vorne hätte
verbessert werden können. Dies wäre angesichts des Zu-
standes, den die Bundeswehr erreicht hat, nicht verant-
wortbar. Deswegen bin ich gemeinsam mit dem Bun-
deskanzler fest entschlossen, diese Eckpfeiler im Sommer
entschieden zu haben. Sie haben mit dem Umfang der
Bundeswehr, mit der Wehrform, mit der Beseitigung der
Personal- und Besoldungsmängel und mit einer klaren
Perspektive der Beseitigung der Ausrüstungsmängel zu
tun. Wenn Sie nach dem Vorliegen dieser Entscheidung
dann die Kraft haben, Ihre Spekulationen als so haltlos zu
bezeichnen, wie sie heute schon sind, dann wird mein
Respekt wieder etwas wachsen.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der SPD: Sehr gute Antwort! – Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Wir kommen darauf zurück!)


Im Übrigen möchte ich abschließend, Frau Präsidentin,
darauf hinweisen, dass der Bericht der Wehrbeauftragten
eine Fülle von sehr beachtlichen – –


(Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Jetzt kommt er doch auf den Bericht zu sprechen!)


– Ja, natürlich. Sie können doch keine Motivationsmängel
und Verunsicherungen innerhalb der Truppe beklagen,
ohne dass wir beginnen, über die Ursachen zu reden. Wo
kommen wir denn da hin? Das geht doch nicht nach der
Methode: Ich beklage den Zustand, frage nicht nach den
Ursachen und verliere deswegen die Fähigkeit, sie zu be-
seitigen. Mit Verlaub: Das ist nicht nur politisch, sondern
auch intellektuell unredlich.

Deswegen will ich Sie noch auf einen Umstand
aufmerksam machen. Ihre unüberlegte Reduzierung der
Bundeswehr – personell wie finanziell wurde die Bun-
deswehr in den 90er-Jahren halbiert – hat dazu geführt,
dass allein in einem einzigen Jahr über 50 000 zusätzliche
Umzüge bewältigt werden mussten. Sie dürfen sicher sein:
Ich orientiere mich an sehr klaren Leitlinien der plane-
rischen und sozialen Sicherheit für die Soldaten als Vo-
raussetzung für Motivation und Leistungswillen, für die
Dauerhaftigkeit dieses Willens, die Erhöhung der
wirtschaftlichen Effizienz innerhalb der Bundeswehr, was
dringend erforderlich ist, und die Rücksichtnahme auf das
familiäre Umfeld der Soldaten und der zivilen Angehöri-
gen der Bundeswehr. Denn 50 000 ohne Not provozierte
Umzüge waren 50 000 Eingriffe in das Leben von Fami-
lien, in die Berufstätigkeit von Frauen, in das schulische
Umfeld von Kindern usw. Wer jetzt Mängel in der Moti-
vation, schwere Mängel in der Ausrüstung beklagt, beklagt
das zu Recht. Das befreit uns nicht davon, nach den Ur-
sachen zu fragen und sie konsequent auszumerzen. Das
wird auch geschehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409806600
Das Wort hat jetzt der
Kollege Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen.


Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409806700

Frau Präsidentin! Liebe Frau Marienfeld! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Herr Breuer, Sie haben gerade so
bedeutungsschwer festgestellt, der Bericht der Wehrbe-
auftragten sei kein normaler Bericht, sondern er sei ein Be-
richt zur Krise der Bundeswehr. Sie haben dabei eine
Kleinigkeit vergessen, nämlich, dass das der Bericht zum
Jahr 1999 war. Das Jahr 1999 war, abgesehen von schon
erheblichen Veränderungen für die Bundeswehr in den
90er-Jahren, das einschneidende Jahr der Veränderungen.
Immerhin war die Bundeswehr und das demokratische
Deutschland zum ersten Mal an einem Krieg beteiligt. Die
personelle und materielle Belastung spitzte sich durch
den gesamten Einsatz im letzten Jahr zu. Die Rahmenbe-
dingungen für die innere Führung, für das Verhältnis der
Streitkräfte zur Gesellschaft haben sich dadurch verändert.
Ich glaube, die Anforderungen an den Primat der Politik
sind dabei gewachsen.

Zum ersten Punkt. Die Wehrbeauftragte stellt fest, sie
habe die Bundeswehrsoldaten im Einsatzgebiet auf dem
Balkan als gut ausgebildet und bestens vorbereitet erlebt.
Diejenigen, die die Bundeswehrsoldaten besucht haben,
können dieses Urteil voll und ganz bestätigen.






(C)



(D)



(A)



(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der CDU/CSU)


Bei SFOR und KFOR erweist sich die Bundeswehr als
voll bündnisfähig – ich sage das einmal ausdrücklich so –,
als fähig zum Zusammenwirken mit Armeen, die nicht der
NATO angehören, zum Beispiel den russischen Batail-
lonen, und schließlich mit zivilen Kräften, was gerade bei
Kriseneinsätzen von entscheidender Bedeutung ist. Erst-
malig nahmen Bundeswehrsoldaten an einem Kriegsein-
satz teil. Wir haben dabei nichts von einer Art befreiendem
Aufatmen gespürt, dass man endlich „voll dabei“ war. Es
gibt auch keinerlei Bedürfnis, möglichst schnell ein nächs-
tes Mal zu erleben und vielleicht auch das Heer ein-
zubeziehen. Nein, unverändert – das ist jedenfalls mein
fester Eindruck – und sogar noch stärker als früher gehen
die Bundeswehrangehörigen von der Grundhaltung aus,
dass der Frieden weiterhin der Ernstfall ist und die Bun-
deswehr ganz entscheidend vor allem etwas zur Frie-
densbewahrung, zur Friedensunterstützung und zur
Kriegsverhütung beitragen soll.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich habe darüber hinaus die Erfahrung gemacht, dass
Soldaten und Offiziere mit Balkanerfahrung inzwischen
zu den stärksten und überzeugtesten Befürwortern von
Krisenprävention, umfassender Krisenbewältigung und
Friedenskonsolidierung gehören. In diesem Zusammen-
hang, Herr Minister Scharping, danke ich Ihnen für Ihre
Anregung, ein Friedenskorps aufzustellen. Das zielt ja
genau in die Richtung, die zivile Eingreiffähigkeit
entsprechend zu stärken. Diese Anregung sollte nicht ein-
fach in einem Interview verschwinden, sondern von uns
für die weitere Arbeit wirklich aufgenommen werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Der Bericht der Wehrbeauftragten zeigt, dass das Jahr
1999 eine enorme Steigerung der personellen und ma-
teriellen Belastung der Bundeswehr brachte, der Auftakt
zu einer erheblich höheren Dauerbelastung als in den Vor-
jahren war. Bewältigt wurde die rapide gewachsene
Aufgabenbelastung durch einen zum Teil ungeregelten
Abbau der Teile der Bundeswehr, die noch für ihre tradi-
tionellen Hauptaufgaben wie die Landesverteidigung vor-
gehalten werden. Das Jahr 1999 bestätigte aber vor allem
die Entscheidung der rot-grünen Koalition vom Herbst
1998, schnell eine umfassende Bundeswehrreform
anzugehen.


(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: „Kaputtzumachen“ wollten Sie sagen!)


Sie müssten sich eigentlich noch sehr deutlich daran erin-
nern, dass gerade die Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU zum damaligen Zeitpunkt keinerlei nachhalti-
gen Reformbedarf gesehen haben. Wo die Bundeswehr
stände, wenn Ihrer Devise gefolgt worden wäre, kann sich
jeder ausmalen: Sie wäre noch in ganz andere Krisen
hineingerutscht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das Jahr 1999 unterstreicht, wie notwendig eine durch-
greifende Reform ist, die lange trägt. Jede kurzschrittige
Reform, wie sie sich zum Beispiel im CDU-Vorschlag
findet, ist zwangsläufig auch eine kurzlebige Reform und
würde die jetzige Planungsunsicherheit fortschreiben. Vo-
raussetzung für eine langfristig ausgelegte Bun-
deswehrreform ist neben einer nüchternen Bestandsauf-
nahme auch eine breite Debatte mit Beiträgen der einzel-
nen Parteien. Diese Debattenbeiträge dienen der
Entwicklung von Urteilsfähigkeit und der Meinungsbil-
dung, ohne dabei in irgendeiner Weise den Ergebnissen
der Kommission vorzugreifen.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das darf aber, nach dem, was der Minister gerade gesagt hat, nicht vor der Sommerpause entschieden werden!)


Deshalb ist zurzeit natürlich eine gewisse Unsicherheit
über den weiteren Weg der Bundeswehr unvermeidbar.
Das Entscheidende ist allerdings, trotz aller unvermeid-
baren Unsicherheit nicht mutwillig und zum Teil böswillig
Verunsicherung zu schüren, wie es soeben von der Oppo-
sition geschieht.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Was?)

Zurzeit befinden sich mehr als 8 000 Bundeswehrsol-

daten im Auslandseinsatz und weitere 16 000 entweder in
der Vor- oder Nachbereitungsphase. Damit leben sie ge-
trennt von ihren Familien und ihrem sozialen Umfeld
sowie von ihren Heimatstandorten überwiegend unter
ihresgleichen, sind zumeist in Militärlagern untergebracht
und stecken sieben Tage die Woche in Uniform. Das sind
inzwischen ganz andere Rahmenbedingungen für den
Bürger in Uniform und sein Verhältnis zur Zivilge-
sellschaft. Deshalb ist es vor dem Hintergrund dieser
veränderten Rahmenbedingungen umso wichtiger, auf die
Stärkung und Weiterentwicklung der inneren Führung zu
achten, die sich eben nicht auf schlichtes, ordentliches
Vorgesetztenverhalten und Sozialtechnik beschränken soll
und darf. Die Wehrbeauftragte hat ja in diesem und in den
letzten Berichten darauf hingewiesen, wie wichtig gerade
die Bereitschaft und die Fähigkeit von Vorgesetzten zur
Zivilcourage ist, also dass jeder Kritik einbringen kann,
ohne damit seine Karriere aufs Spiel zu setzen. Ich glaube,
in dem Bereich müssen wir genau hinschauen und Solda-
ten unterstützen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Auslandseinsätze ändern auch die Rahmenbedin-
gungen der Kontrolle. Wir erfahren schon einiges durch
unsere parlamentarischen Kurzbesuche vor Ort. Diese
sind sehr hilfreich. Noch viel nützlicher und umfassender
sind natürlich die Berichte der Wehrbeauftragten. Aber ich
glaube, gerade um längerfristige und eher geräuschlose
Veränderungen in den Streitkräften und in ihrem Verhält-
nis zur Gesellschaft wahrnehmen zu können, brauchen
wir ein noch weiter verfeinertes Wahrnehmungsinstru-
mentarium.

Die Bundesrepublik weist in diesem Bereich bisher
eine große Forschungslücke auf. Wir verfügen wohl
über das Sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut




Winfried Nachtwei
9126


(C)



(D)



(A)



(B)


der Bundeswehr, das nützliche und hilfreiche Arbeit leis-
tet. Aber was uns ganz im Gegensatz zu angelsächsischen
Ländern fehlt, ist das breite Feld der militärbezogenen
Sozialwissenschaft, der Militärsoziologie. Ich glaube,
dass die Stärkung dieses Forschungsbereiches auch
dazugehört, wenn wir jetzt die Friedens- und Konflikt-
forschung fördern. Man sollte sich auch um dieses The-
menfeld kümmern.


(Beifall der Abg. Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Entscheidung von Bundestag und Bundesregierung
im letzten Jahr stellte die Bundeswehrangehörigen vor
höchste Anforderungen. Auf der anderen Seite – das
schreiben Sie, Frau Marienfeld, in Ihrem Bericht – haben
die Bundeswehrangehörigen völlig zu Recht hohe Er-
wartungen an ihre politischen Auftraggeber, also an uns.
Der Einsatzauftrag musste und muss deshalb nicht nur
moralisch legitim sein, er muss nicht nur rechtlich be-
gründet; werden können er muss selbstverständlich auch
völkerrechtlich legal sein.

Hier müssen wir feststellen, dass wir aus Gründen der
Nothilfe, zu der es keine Alternative gab, den Luftwaffen-
soldaten der Bundeswehr im letzten Jahr zumuten
mussten, dass sie sich nicht an das völkerrechtliche
Gewaltverbot hielten. Die ganze Koalition ist der festen
Überzeugung, dass diese Vorgehensweise im letzten Jahr
eben die Ausnahme in einer Extremsituation war, dass
sich daraus die positive Verpflichtung auf UN-Mandate in
Zukunft ergibt. Jedes Gerede von einem UN-Mandat als
Königsweg, wie es im letzten und vorletzten Jahr von der
CDU/CSU zu hören war, ist nur noch als verantwortungs-
los zu bezeichnen.

Die Soldaten erwarten aber auch verantwortbare
Aufträge. Dazu gehört, dass Ziele, Risiken und Fähigkei-
ten nüchtern abgewogen werden, dass vor allem auch
rückblickend die Ergebnisse des Kosovo-Krieges, die
gewollten Wirkungen und Ergebnisse, die Teilerfolge,
aber auch die Opfer und die Zerstörungen umfassend und
offen bilanziert werden. Hier hat mir die gestrige Debatte
gezeigt, dass wir, als Koalition und auch unsere Bun-
desregierung in dem Punkt der umfassenden Bilanzierung
noch Nachholbedarf haben.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409806800
Herr Kollege, denken
Sie bitte an Ihre Redezeit.


Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409806900

Liebe Frau Marienfeld, das war Ihr letzter Jahresbericht.
Es ist kein Ritual, wenn ich Ihnen im Namen meiner Frak-
tion für Ihre und Ihrer Mitarbeiter vorzügliche Arbeit
herzlich danke, insbesondere für Ihre sehr genaue Beo-
bachtung des menschlichen Klimas in der Bundeswehr.
Sie haben sich um eine Bundeswehr, die fest in Demo-
kratie und Rechtsstaat verankert ist, verdient gemacht.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409807000
Das Wort hat nun der
Kollege Hildebrecht Braun, F.D.P.-Fraktion.


Hildebrecht Braun (FDP):
Rede ID: ID1409807100
Frau Präsi-
dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Zunächst ein Wort an den Verteidigungsminister: Herr
Scharping, ich bedaure die Rede, die Sie vorhin gehalten
haben, sehr.


(Peter Zumkley [SPD]: Wir nicht!)

Wir sprechen hier über den Bericht der Wehrbeauftragten
und versuchen gemeinsam, die richtigen Konsequenzen
aus diesem Bericht und der geschilderten Situation zu
ziehen.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hätten Sie dem Breuer einmal sagen sollen!)


Sie aber nutzen heute Ihren Auftritt für eine polemische
und polarisierende Rede,


(Peter Zumkley SPD): Wenden Sie sich ein-

mal an die richtige Adresse!)

in der Sie nach dem Motto „Angriff ist die beste Verteidi-
gung“ auf die unbestreitbaren Schwächen der Haushalts-
finanzierung in den 90er-Jahren verweisen, statt einfach zu
sagen, dass Sie es bedauern, dass Sie sich nicht gegenüber
Ihren Kollegen durchsetzen konnten und deswegen in den
nächsten Jahren eine deutliche Einschränkung Ihrer Hand-
lungsfähigkeit als Verteidigungsminister hinnehmen
müssen. Das wäre richtig gewesen und hätte Ihnen Res-
pekt bei allen Beteiligten verschafft.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich möchte mich nun mit dem Bericht der Wehrbeauf-

tragten befassen und dazu einige Anmerkungen machen.
Im letzten Jahr hatten wir die Gelegenheit, das 50-jährige
Bestehen der NATO zu feiern. Die Bundeswehr ist eine
große Stütze des NATO-Bündnisses, das unserem Land
50 Jahre Freiheit gebracht hat und weiterhin die Freiheit
erhält.

Wir haben im letzten Jahr zugleich das 40-jährige
Bestehen der Institution des bzw. der Wehrbeauftragten
gefeiert. Darauf will ich jetzt zu sprechen kommen. Es ist
eine wunderbare Sache, dass die Bundeswehr, die in un-
serer Gesellschaft integriert ist – auf diesen Punkt werde
ich noch zu sprechen kommen – eine Wehrbeauftragte des
Parlaments hat, die jedes Jahr in einem Bericht alle Män-
gel der Bundeswehr ungeschönt auflistet und diese der Öf-
fentlichkeit mitteilt, sodass wir darüber diskutieren kön-
nen.

Es gibt wohl kaum eine Armee auf dieser Welt, die in
dieser Form im Auftrag des Parlaments von einer
Wehrbeauftragten beobachtet wird und die weiß, dass ihre
Nöte und Probleme im Parlament offen diskutiert werden.
Es gibt auch kaum eine andere Armee, über die trotz der
schonungslosen Offenlegung aller Mängel insgesamt ein
Bericht zustande käme, von dem wir sagen könnten:
Natürlich gibt es viele Mängel und viele Defizite; aber sie
halten sich in einem gewissen Rahmen. Ich denke in
diesem Zusammenhang an die Soldaten beispielsweise in




Winfried Nachtwei

9127


(C)



(D)



(A)



(B)


Russland, in der Ukraine und in China, aber auch an die
Soldaten in etlichen Berufsarmeen, die dankbar wären,
wenn die Situation in ihrer Armee so wäre, wie sie in dem
Bericht bezüglich der Bundeswehr dargestellt wird.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Wichtigste an dem Bericht ist, dass es ihn gibt, dass
er hier diskutiert wird, dass er in großer Auflage verbrei-
tet wird und dass auch die Presse ihn erwähnt. Auf diese
Weise wird sichergestellt, dass jeder in der Bundeswehr,
der sich gegen die Prinzipien der inneren Führung und
gegen das Prinzip der Kameradschaft unter Soldaten wen-
det, Gefahr läuft, dass die Wehrbeauftragte davon Kennt-
nis erlangt und dass dieser Einzelfall dann in dem Bericht
erwähnt wird. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass die
Existenz dieses Berichtes dazu beiträgt, dass Vorkomm-
nisse, die wir in der Bundeswehr nicht wollen, erst gar
nicht geschehen.

Unsere Bundeswehr kann nicht besser sein als die
Gesamtgesellschaft. Deswegen ist es gut, wenn wir nicht
unerfüllbare Erwartungen an die Bundeswehr stellen. Das
wäre nicht hilfreich. Wir müssen uns immer wieder vor
Augen halten: Die Bundeswehr ist nicht die Schule der
Nation; die Schule der Nation ist die Schule. Was das El-
ternhaus, der Kindergarten und die Schule nicht zu leisten
vermögen, das kann die Bundeswehr in den wenigen
Monaten, in denen junge Männer in ihr als Wehrpflichtige
dienen, nicht nachholen.

Wenn wir uns dessen bewusst sind, dass unsere jungen
Menschen tagtäglich unter anderem der Berieselung durch
Gewaltsendungen im Fernsehen ausgesetzt sind und dass
das die Seelen und das Denken junger Menschen prägt,
dann dürfen wir uns nicht darüber wundern, dass wir die
einen oder anderen Übergriffe in der Bundeswehr erleben,
die wir natürlich beklagen und gegen die wir gemeinsam
angehen müssen.

Natürlich müssen wir alles tun, um die pädagogischen
Möglichkeiten der Vorgesetzten in der Bundeswehr zu
verbessern. Aber wir sollten nicht erwarten, dass wir je-
dem jungen Mann, dem wir eine Uniform verpassen, zu-
gleich einen guten Charakter mitgeben könnten. Damit
würden die Bundeswehr überfordern.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich möchte die Gelegenheit nutzen und auf die

Möglichkeiten des positiven Einflusses der Bundeswehr
auf junge Leute hinweisen; denn es gibt viele junge Leute,
die in ihrem Leben zum ersten Mal erleben, in der Gruppe
Verantwortung für sich, aber auch für andere zu über-
nehmen. Das ist eine wichtige Erfahrung, die rundherum
als förderlich bezeichnet werden kann. Sie bietet eine
Chance für viele Menschen, die in ihrem privaten Bereich,
zumindest in diesem Alter, Derartiges noch nicht erleben
können.

Ich erwähne dies speziell vor dem Hintergrund der im-
mer wieder aufflackernden Diskussion über die Wehr-
pflicht und möchte bei dieser Gelegenheit sehr deutlich
machen: Die F.D.P. steht mit ganz großer Mehrheit nach-

haltig hinter der Wehrpflicht und das wird sich auch in den
nächsten Jahren nicht ändern.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich möchte zu einigen Einschätzungen von Ihnen, liebe

Frau Marienfeld, kommen, die Sie in diesem Bericht
gebracht haben. Den meisten stimme ich zu; sie muss ich
hier nicht wiederholen. Ich möchte aber drei Punkte
nennen, bei denen ich von Ihrer Einschätzung abweiche.

Der erste Punkt betrifft die Familienbetreuung. Sie
haben für diesen Bereich gerade zehneinhalb Zeilen in
Ihrem Bericht reserviert. Das war mir schon vom Ausmaß
her, aber auch inhaltlich viel zu wenig. Denn wir müssen
uns eines vor Augen halten: Wir schicken nicht nur die
Soldaten über einen gewissen Zeitraum in den Kosovo,
nach Bosnien, nach Mazedonien oder nach Osttimor, son-
dern wir belasten auch die Familienangehörigen mit
diesen Auslandseinsätzen sehr stark.

In der Öffentlichkeit wird viel zu wenig wahrgenom-
men, dass die Angehörigen, auch die Kinder, von Solda-
ten ohnehin sehr belastet sind – durch sich wiederholende
Umzüge in kurzer Zeit, infolge derer sie zum Beispiel
wieder in neue Schulen müssen und damit nicht an das
anknüpfen können, was sie davor erlebt haben. Das ist eine
schwere Last, die Familien mittragen.

Aber jetzt, wo die Männer zum Teil in Kampfeinsätzen
im Ausland tätig sind, kommt noch ein neues Moment
hinzu, nämlich die tägliche Angst um den Mann, aber auch
um den Freund, den Lebensgefährten, den Vater. Das sind
Belastungen neuer Qualität und wir müssen natürlich auch
in neuer Form darauf eingehen. Ich glaube, dass das, was
wir bisher an Familienbetreuung leisten, schlicht zu wenig
ist.

Zweiter Punkt: Mütter in der Bundeswehr. Da haben
Sie sich sehr deutlich und sehr klar für die Interessen des
Dienstes und gegen die Interessen der Mütter ausge-
sprochen. Ich kann dem so nicht folgen. Ich glaube, wir
sollten die Botschaft vermeiden, dass eine junge Frau, die
den Dienst in der Bundeswehr anstrebt, damit zugleich
mehr oder weniger auf die Rolle als Mutter verzichten
muss. Das kann es nicht sein. Das war früher bei
Stewardessen der Lufthansa der Fall. Das ist durch die
Gerichte untersagt worden.

Ich bin der Meinung, dass eine Mutter, die bei der Bun-
deswehr Dienst tut, die also eine Uniform trägt, immer
noch Mutter ist und sie Rechte haben muss, die Mütter
auch in allen anderen Bereichen der Gesellschaft haben.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wir müssen in der Zukunft flexibler sein und auch
Teilzeitarbeit ermöglichen. Das wird auf die Bundeswehr
zukommen und ich halte das auch für richtig.


(Peter Zumkley [SPD]: Das steht aber nicht im Bericht!)


Drittens. Die Dauerdes Einsatzes im Ausland, die von
vier auf sechs Monate angehoben wurde, haben wir immer
für falsch gehalten. Ich wiederhole das hier. Die Belastung
für die Soldaten und für die Familien ist dadurch ungleich
größer geworden. Wir halten das für falsch. Ich möchte das
hier nochmals betonen.




Hildebrecht Braun (Augsburg)

9128


(C)



(D)



(A)



(B)


Nun zu unseren Soldaten, speziell im Kosovo:Wir Ab-
geordnete des Bundestages haben allen Anlass, den Dienst
tuenden Soldaten, aber auch der Bundeswehrführung
dafür zu danken, dass dieser Dienst im Kosovo in hervor-
ragender, ja in beispielhafter Weise geleistet wurde,


(Dr. Eberhard Brecht [SPD]: In Bosnien aber auch!)


dass Ergebnisse erreicht wurden, die uns stolz machen
können, nämlich dass die Situation im deutschen min-
destens so gut ist wie in den anderen Sektoren, in Teil-
bereichen sicherlich sogar besser.

Ich möchte aber auch darauf hinweisen, dass die von
Deutschland entsandten Polizisten einen oft noch schwie-
rigeren Job machen, dass sie nämlich, ohne die große
Gruppe der Bundeswehr hinter sich zu haben, vor Ort
Probleme lösen müssen, in einem Umfeld von Menschen,
deren Sprache sie nicht sprechen. Auch das möchte ich bei
dieser Gelegenheit einmal ansprechen.


(Ulrike Merten [SPD]: Ohne die Soldaten würde gar nichts mehr gehen!)


Es ist gut, dass bei den Auslandseinsätzen das Einkom-
men der Soldaten aus Deutschland Ost und Deutschland
West gleich hoch ist. Es ist aber nicht gut, dass nach der
Rückkehr nach Deutschland diejenigen, die im Osten sta-
tioniert sind, wieder nur 86,5 Prozent des Einkommens
derer bekommen, die im Westen Soldaten sind. Wir sind
der Meinung, dass sich dies bald ändern muss. Ich ver-
weise auch hier darauf.


(Beifall bei der F.D.P.)

Der Bericht spricht auch von den Reservisten und

ihrem wichtigen Auftrag zur Aufgabenerfüllung im Koso-
vo, aber auch hier zu Hause. Das ist eine Botschaft, die
durch das Ministerium immer wieder an die Öffentlichkeit
gebracht werden sollte: Unsere Bundeswehr kann ihren
Auftrag nicht ohne die Unterstützung von hoch quali-
fizierten Reservisten erfüllen. Das ist wichtig zu wissen.

Ich möchte auf einen Punkt zu sprechen kommen, der
mir besonders am Herzen liegt.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409807200
Aber denken Sie auch
an Ihre Redezeit.


Hildebrecht Braun (FDP):
Rede ID: ID1409807300
Gut, ich
denke an meine Redezeit und mache es ganz kurz. –

Die Bundeswehr hat eine Integrationsaufgabe, die
nicht nur von unschätzbarem Wert ist, weil junge Men-
schen aus Ost und West gemeinsam erleben, welche Sor-
gen, Ängste, Erwartungen, Hoffnungen die anderen je-
weils haben, sondern ebenso, weil sie mit jungen Deut-
schen, deren Eltern hier noch als Ausländer gelebt haben,
zusammen den Dienst erleben. Ich meine hier auch die
Russlanddeutschen, junge Mensche, die oft ganz schlecht
Deutsch sprechen und sich in unser Land noch gar nicht
richtig eingefunden haben. Hier wird eine gewaltige Leis-
tung für alle erbracht.

Erlauben Sie mir einen letzten Gedanken. Der Bericht
konnte zum Thema Homosexuelle in der Bundeswehr

natürlich noch nicht das aufgreifen, was wir vor einer
Woche im Parlament angesprochen haben. Ich danke ganz
herzlich dem Bundesverteidigungsminister für seine geän-
derte Haltung in diesem Bereich,


(Beifall der Abgeordneten. Angelika Beer [BÜNDNIS 90 /DIE GRÜNEN])


besonders aber auch der CDU/CSU, die hier eine neue
Entwicklung mitträgt und dafür sorgt, dass es in der Bun-
deswehr keine Diskriminierung mehr gibt, ganz gleich,
aus welchem Grund sie entstehen mag. Das ist gut so; ich
freue mich darüber.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409807400
Nun erteilte ich das
Wort der Kollegin Heidi Lippmann, PDS-Fraktion.


Heidi Lippmann-Kasten (PDS):
Rede ID: ID1409807500
Meine Damen und Herren!
Sehr geehrte Frau Marienfeld! Wie ein roter Faden durch-
zieht die neue Rolle der Bundeswehr als aktiver
Kriegsteilhaber den vorliegenden Bericht der Wehrbe-
auftragten. Dass der von Ihnen, liebe Kolleginnen und
Kollegen, politisch gewollte Umbau der Bundeswehr von
einer Manöverarmee zu einer Interventionsarmee nicht
ohne tief greifende Veränderung in der Struktur vonstat-
ten gehen kann, zeigt nicht nur die Debatte um die zukünf-
tige Wehrstruktur, sondern insbesondere der vorliegende
Bericht.

Zu Recht wird festgestellt, dass die Soldaten möglichst
rasch Planungssicherheit bräuchten. Doch die Rezepte,
die hier gehandelt werden, um den Problemen begegnen
zu können, greifen zu kurz und gehen in die falsche Rich-
tung. Nachdem der Kollege Breuer eben schon fast eine
Krisenreaktionstruppe zur Rettung der Bundeswehr
gefordert hat, möchte ich einmal darauf hinweisen, dass in
den meisten Bereichen bei den vier Fraktionen, die mir
gegenübersitzen, doch ziemlich große Einigkeit herrscht
und die Unterschiede doch häufig nur in Nuancen beste-
hen, wie zum Beispiel bei der Aufstockung der Krisen-
reaktionskräfte, bei der Verbesserung der Betreuungskon-
zepte und bei der finanziellen Ausstattung. Von daher soll-
ten wir versuchen, die Debatte etwas ruhiger zu führen.

Was mir in der Diskussion zu kurz kommt, ist die
grundsätzliche Frage, ob und wozu die Bundesrepublik
eine große, starke, schlagkräftige Armee braucht.


(Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])

Es wird überhaupt nicht mehr infrage gestellt, dass sich die
Bundeswehr künftig an internationalen Kampfeinsätzen
beteiligen wird,


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Das wäre aber nötig!)

es wird nicht über den originären, im Grundgesetz fest-
gelegten Auftrag der Bundeswehr debattiert und es wird
auch nicht die Frage gestellt: Wollen wir überhaupt, dass
sich deutsche Soldaten an Kriegseinsätzen außerhalb des
Verteidigungsauftrages beteiligen?




Hildebrecht Braun (Augsburg)


9129


(C)



(D)



(A)



(B)


Dies sind Fragen, die nicht nur wir hier verstärkt disku-
tieren müssen, sondern die ebenso ganz massiv die Sol-
daten bewegen. Das geht auch aus dem Bericht von Frau
Marienfeld hervor. Diese Fragen stellten sich nicht, wenn
sich die Bundesrepublik der neuen NATO-Strategie ent-
gegenstellen würde, wenn sie sich nicht länger an völker-
rechtswidrigen Kriegen beteiligen würde und wenn man
sich davon abkehren würde, die Bundeswehr künftig nur
noch als Interventionsarmee zu sehen. Diese Unsicher-
heiten spielen bei den Soldaten eine sehr viel größere Rolle
als hier im Parlament. Diese Probleme gilt es ernst zu
nehmen. Deswegen fordern wir Sie auf: Geben Sie den
Soldaten – auf der Grundlage einer erheblichen Re-
duzierung der Bundeswehr und auf der Grundlage des
Grundgesetzes – Planungssicherheit.


(Beifall bei der PDS)

Die Wehrbeauftragte hat in der Truppe vermehrt Un-

sicherheit, Frustration und Motivationslosigkeit fest-
gestellt, was durch die derzeitige Übergangssituation und
materielle Engpässe noch verstärkt werde. Ein Beispiel
dafür ist – Kollege Braun sprach es bereits an – die Un-
gleichbehandlung bei der Besoldung zwischen Ost und
West. Zehn Jahre nach Vollendung der deutschen Einheit
ist es niemandem mehr zu vermitteln, dass Soldaten aus
den neuen Bundesländern, die beim Auslandseinsatz die
gleichen Bezüge erhalten wie ihre Westkollegen, zu Hause
nur rund 85 Prozent der Westbesoldung erhalten.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Das ist ja noch viel komplizierter!)


Diese soziale Ungerechtigkeit muss umgehend abge-
schafft werden, und zwar nicht nur bei der Bundeswehr,
sondern auch im gesamten Tarifgefüge.


(Beifall bei der PDS – Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Warum haben Sie denn unserem Antrag nicht zugestimmt?)


– Das habe ich.

(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Nein, das haben Sie nicht!)

– Doch.

Wenn wir über eine neue Struktur sprechen, darf nicht
ausgeblendet werden, dass die gesunkene Zahl der
gemeldeten rechtsextremen Vorfälle nicht als Signal zur
Entwarnung verstanden werden darf. Angesichts der
drastischen Zunahme von rechtsextremistischer Gewalt
bei Jugendlichen muss sich auch und gerade die Bun-
deswehr weiterhin damit beschäftigen.

Dies betrifft nicht nur die Soldaten im aktiven Dienst,
sondern insbesondere auch die Reservistenstruktur. Erst
vor wenigen Tagen erhielten wir die Antwort auf eine in
diesem Zusammenhang gestellte Kleine Anfrage, wonach
die Auswertung der Verbandszeitschrift „Soldat im Volk“,
die über den Verband der Reservisten der Deutschen Bun-
deswehr indirekt mit Bundesmitteln unterstützt wird, tat-
sächlich einen „rechtsextremen Hintergrund“ ergeben hat.
Diese Auskunft der Bundesregierung überrascht und er-
schreckt zugleich. Denn obwohl PDS, engagierte Gruppen
und auch die Grünen immer wieder darauf hingewiesen

haben, dass im Milieu der soldatischen Traditionsver-
bände rechtsradikales und neonazistisches Gedankengut
weit verbreitet ist,


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das ist doch dummes Zeug! Quatsch!)


wurde dies bisher immer geleugnet, abgestritten und ver-
drängt, Herr Nolting. Selbst im Untersuchungsausschuss
„Rechtsextremismus in der Bundeswehr“ war die Ein-
beziehung dieser Problematik tabu. Es gab keine Unter-
suchung der vielfältigen Querverbindungen zwischen Tra-
ditionsverbänden, dem Reservistenverband und Einheiten
der Bundeswehr.

Diese Fragen müssen dringend geklärt werden. Wir
fordern Sie, Herr Verteidigungsminister, auf, in eine kri-
tische Diskussion mit den Reservisten zu treten, damit
dort nicht länger falsche Kameradschaften gepflegt wer-
den. Wer den Holocaust leugnet oder Verbrechen der
Wehrmacht prinzipiell in Abrede stellt, hat in der Bun-
deswehr nichts zu suchen.

Neben den materiellen Schwierigkeiten in Bezug auf
Ausrüstung und Ausstattung, finanzielle Absicherung,
Zuschläge und Ähnliches ist die Liste der Probleme, die
Frau Marienfeld erstellt hat, lang: angefangen von den
großen psychischen und physischen Belastungen im Aus-
landseinsatz über den Missbrauch von Alkohol und Dro-
gen in der Truppe bis hin zu der Frage, welcher Schmuck
bei Soldatinnen und Soldaten im Zuge der Gleichberech-
tigung angemessen ist.

Ein ernsthaftes Problem ist nach wie vor die unzu-
reichende Beförderungspraxis bei schwulen Soldaten.
Auch Kollege Braun hat darauf soeben hingewiesen. Ich
denke, die Debatte in der vergangenen Woche hat gezeigt,
dass das amerikanische Prinzip „Don´t ask, don´t tell“
nicht mehr länger Gültigkeit in der Bundeswehr haben
darf.

Angesichts des politischen Willens der Regierungs-
fraktionen, Frauen den Dienst mit der Waffe künftig zu
gestatten, wird die Liste der Probleme in Zukunft noch
länger werden. Denn es kommen verstärkt zum Beispiel
Fragen im Hinblick auf Erziehungsurlaub und Teil-
zeitbeschäftigungsmöglichkeiten, aber auch das Thema
„sexuelle Belästigungen“ hinzu.

Bei der Anhörung des Rechtsausschusses zum Thema
„Waffendienst für Frauen“ sagte einer der Experten der
Universität der Bundeswehr: Soldaten sind immer nur für
den Ernstfall da. – Dieser Gedanke, der viele Soldaten der
Bundeswehr bewegt, sollte ebenso wie das Grundgesetz
die Grundlage aller Überlegungen über den Zustand der
Bundeswehr und die künftige Struktur sein.

Nehmen Sie Abschied von Ihren bisherigen Vorstellun-
gen, dass die Bundeswehr überall auf dieser Welt in
Kampfeinsätzen und sonstigen Einsätzen dabei sein muss.
Wir fordern Sie auf: Denken Sie über eine Bundeswehr in
abgespeckter Form nach, die ausschließlich den im
Grundgesetz verankerten Verteidigungsauftrag erfüllt und
gegebenenfalls ihrer Pflicht im Bündnisfall nachkommt!
Schaffen Sie die Wehrpflicht ab! Streiten Sie gemeinsam
mit uns dafür, dass es im Rahmen der jetzigen Bestände




Heidi Lippmann
9130


(C)



(D)



(A)



(B)


der Bundeswehr und darüber hinaus zivile Krisenreak-
tionskräfte gibt, die humanitäre Hilfe bzw. Katastrophen-
schutzdienste leisten und die künftig vor allen Dingen
OSZE-Missionen zur Verfügung stehen!

Ich denke, wenn man wirklich für eine friedliche
Außen- und Sicherheitspolitik streitet, wäre diese Vision
sehr viel wirkungsvoller als eine weitere Aufrüstung, als
das Bemühen, mit allen Mitteln die neue NATO-Strategie
umsetzen zu wollen, auch wirkungsvoller als eine Beteili-
gung an der europäischen Militärunion.


(Beifall bei der PDS)

Sehr verehrte Frau Marienfeld, ich bedanke mich im

Namen der gesamten Fraktion der PDS im Nachhinein bei
Ihnen und wünsche Ihnen für Ihren weiteren Lebensweg,
für Ihre politische und berufliche Zukunft alles Gute.


(Beifall bei der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409807600
Das Wort hat nun der
Kollege Albrecht Papenroth, SPD-Fraktion.


Albrecht Papenroth (SPD):
Rede ID: ID1409807700
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Bei der Betrachtung des Berichts der
Wehrbeauftragten fällt auf, dass sich gegenüber den Be-
richten der vergangenen Jahre die Schwerpunkte nur
unwesentlich verändert haben. Das betrifft in erster Linie
die Kritik an Einzelfällen von subjektivem Fehlverhalten
Bundeswehrangehöriger verschiedener Dienstgrade. Die
im Bericht einzeln aufgeführten Sachverhalte sind aber
weder verallgemeinerungsfähig noch auf die Bundeswehr
insgesamt zu beziehen. Sie dürfen demnach auch nicht
überbewertet werden.

Damit will ich keine Art von Fehlverhalten beschönigen
oder gar tolerieren. Ich will nur darauf hinweisen, dass ein
besonderes Vorkommnis nicht hochgespielt werden darf.
Wichtig ist allerdings, dass auf jedes Fehlverhalten
angemessen reagiert wird: Die Ursachen müssen erforscht
und grobe Verstöße unnachgiebig geahndet werden.


(Beifall bei der SPD)

Mit größerer Sorge sind die Ausführungen von Frau

Marienfeld zu den zunehmenden Mängeln an Ausrüs-
tung, Ausstattung und Unterbringung zu betrachten.
Hier macht sich außerordentlich drastisch bemerkbar, was
durch die Vorgängerregierung in mehr als einem Jahrzehnt
vernachlässigt wurde. Für unsere Bundeswehrangehöri-
gen ist nicht nachvollziehbar, dass zum Beispiel die der-
zeit genutzte Wehrtechnik älter ist, als sie selbst es sind,
und dass die Unterbringung unserer Soldaten teilweise in
sanierungsbedürftigen Gebäuden erfolgt; unser Minister
hat bereits darauf hingewiesen. Diese Umstände erfordern
zwar von unseren Soldaten Kreativität und Improvisa-
tionsvermögen, die jeweilige Situation zu meistern. Ich
bin allerdings der Auffassung, dass diese Art der Mängel-
bewältigung dem Image der Bundeswehr schadet. Die
Bundeswehr muss wirtschaftlicher und effektiver werden.
Das geht aber nicht ohne die gleichzeitige Modernisierung
der Ausrüstung und Ausstattung, auch nicht ohne die
entsprechende Ersatzteilbeschaffung.

Wir wissen – das haben unsere Soldaten in der Vergan-
genheit für alle sichtbar bewiesen –, dass sie hoch mo-
tiviert und diszipliniert ihre oftmals sehr schwierigen Auf-
gaben auch unter widrigen Bedingungen gelöst haben und
weiterhin lösen. Dafür möchten wir uns bei ihnen aus-
drücklich bedanken.


(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, ich komme nun zu einem

Punkt, der im Bericht der Wehrbeauftragten nicht ausrei-
chend bewertet worden ist: die Bezahlung der Bun-
deswehrangehörigen und die Auswirkungen auf die
Attraktivität des Dienstes. In dieser Hinsicht wird es nun
darauf ankommen, die von der Vorgängerregierung ange-
häuften Missstände schrittweise abzubauen.

Zu Recht weist unser Verteidigungsminister darauf hin,
dass zurzeit mehr als 8 000 Soldaten, gemessen an den von
ihnen wahrgenommenen Dienstposten, unterwertig besol-
det werden. So entspricht die Bewertung und Bezahlung
vieler Dienstposten nicht mehr der jeweiligen Verantwor-
tung. Beispielsweise erhält ein Kompaniechef nach sieben
Jahren intensiver ziviler und militärischer Ausbildung bei
einer Verantwortung für bis zu 200 Soldaten und für Gerät
in einem Wert bis zu 1Milliarde DM eine Besoldung nach
A11. Das ist weniger, als beispielsweise eine Lehrkraft an
einer Hauptschule bekommt. Dies ist unzumutbar.

Noch drastischer wirkt sich die Vergütung in den neuen
Bundesländern aus, da sie hier um 13,5 Prozent niedriger
ist. Es ist für mich nicht akzeptabel, dass Soldaten in den
Ostländern bei gleicher Leistung nur 86,5 Prozent der
Westbezüge erhalten.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Warum haben Sie unserem Antrag nicht zugestimmt?)


Ich stimme Herrn Braun zu: Man kann eigentlich nicht oft
genug erwähnen, dass es recht kurios ist, dass Ostsolda-
ten, die zum Auslandseinsatz antreten, zwar 100 Prozent
erhalten, ihre Vergütung aber, sobald sie wieder nach
Hause kommen und sie Schulter an Schulter mit ihren
Westkollegen ihren Dienst tun, wieder um 13,5 Prozent
abgesenkt wird. Das kann kein Dank sein.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409807800
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nolting?


Albrecht Papenroth (SPD):
Rede ID: ID1409807900
Für die paar Minuten
lohnt das nicht.


(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Was? Darauf komme ich noch zurück! – Angelika Beer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wo er Recht hat, hat er Recht!)


Meine Damen und Herren, nun werden sicherlich
einige sagen, die Angleichung des Wehrsoldes sei eben-
so unbezahlbar wie die Angleichung der Vergütungen des
sonstigen öffentlichen Dienstes oder der Löhne und
Gehälter in der Wirtschaft. Sie werden mir aber zustim-
men, dass diese drei Komponenten untereinander nicht
vergleichbar und damit auch nicht gleichzusetzen sind.




Heidi Lippmann

9131


(C)



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(A)



(B)


Wir müssen uns darüber klar sein, welchen Stellenwert
die Bundeswehr zur Gewährleistung der veränderten An-
forderungen der eigenen Sicherheit, der Bündnisver-
pflichtungen sowie der Krisen- und Konfliktbewältigung
einschließlich der humanitären Hilfe jetzt und in Zukunft
hat. Nur das kann Maßstab für die Bereitstellung ange-
messener finanzieller Mittel sein.

Wir müssen gewährleisten, dass unsere Bundeswehr-
angehörigen nicht durch fortgesetzte Ungleichbehandlung
und eine fast durchgängige Unterbezahlung demotiviert
werden. Unsere Soldaten haben Verständnis dafür, dass
nicht alles auf einmal geht. Sie müssen aber konkrete
Schritte der Anpassung und Erhöhung erkennen können.
Laufbahnperspektiven müssen in West und Ost in gleich-
er Weise mit den Realitäten künftiger Bundeswehr übere-
instimmen.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409808000
Herr Kollege, nun
müssen Sie doch an die Redezeit denken.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409808100
Ja. Ich bin gleich fertig. –
Unsere Bundeswehrangehörigen brauchen ein persönli-
ches Ziel, das sie anvisieren können.

Ein weiteres aktuelles Problem betrifft insbesondere
ostdeutsche Wehrdienstwillige. Es besteht darin, dass die
Nichtgewährung einer befristeten Zurückstellung vom
Wehrdienst wegen begonnener Lehrausbildung zum Ver-
lust des Ausbildungsplatzes führt. Nach dem Ende des
Wehrdienstes ist die Ausbildungsfortführung infolge der
oftmals schwierigen Wirtschaftslage der Unternehmen
und der bestehenden Lehrstellenknappheit leider nur theo-
retisch einklagbar. Hier ist eine flexible Herangehensweise
notwendig, damit Wehrdienstwillige nicht zu Wehrdien-
stunwilligen werden.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409808200
Sie können einen Au-
genblick stehen bleiben, Herr Kollege. Der Kollege Nol-
ting möchte jetzt eine Kurzintervention machen, auf die
Sie noch antworten können.

Herr Kollege Nolting.


Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1409808300
Herr Kollege
Papenroth, ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie hier
Missstände wie die Unterschiede zwischen West und Ost
in der Besoldung beklagen, wie es auch der Minister ge-
tan hat, dass Sie sich aber in der Realität ganz anders ver-
halten. Sie haben die Mehrheit. Sie haben zum Beispiel ei-
nem Antrag der Freien Demokratischen Partei im Vertei-
digungsausschuss nicht zugestimmt.

Wir hatten einen Stufenplan aufgezeigt, um die Unter-
schiede in der Besoldung zwischen Ost und West auszu-
gleichen.


(Zuruf von der SPD: Wozu Sie 16 Jahre nicht fähig waren!)


Dem haben Sie nicht zugestimmt, obwohl Sie die
Möglichkeit und die Mehrheit dazu gehabt hätten. Sie ver-
fahren heute nach dem Motto: Alles versprechen, aber
nichts halten. Daran müssen Sie sich auch in Zukunft
messen lassen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Eckart von Klaeden [CDU/CSU])



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409808400
Herr Kollege
Papenroth, wollen Sie antworten? – Bitte.


Albrecht Papenroth (SPD):
Rede ID: ID1409808500
Herr Kollege Nolting,
Sie wissen ganz genau, dass nicht alles auf einmal geht,
wie ich es schon beschrieben habe.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Wir haben einen Stufenplan vorgelegt!)


– Das ist richtig. Aber der Stufenplan war nicht realisier-
bar.

Danke.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409808600
Zu einer weiteren
Zwischenbemerkung erteile ich dem Kollegen Göllner
das Wort. Dann lasse ich aber keine mehr zu, weil wir uns
sonst im Verlauf des Tages den Zorn des ganzen Hauses
einhandeln.

Herr Kollege, bitte.


Uwe Göllner (SPD):
Rede ID: ID1409808700
Frau Präsidentin! Die Kollegen
Braun und Papenroth haben auf die 86,5-Prozent-Rege-
lung hingewiesen, die niemand für gerecht hält. Ich möch-
te in diesem Zusammenhang aber darauf hinweisen, dass
es die Kollegen Schäuble und Krause waren, die im Eini-
gungsvertrag durch die Einfügung von zwei Wörtern –
„und Soldaten“ – die Soldaten mit dem öffentlichen
Dienst gleichgestellt haben. Herr Nolting, dies geschah
nicht unter unserer Verantwortung. Man hätte auf diese
beiden Wörter verzichten können. Dann hätten wir heute
eine Menge Ärger weniger.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409808800
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Werner Siemann, CDU/CSU-Frakti-
on.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Endlich einmal ein guter Redner!)



Werner Siemann (CDU):
Rede ID: ID1409808900
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr
Kollege Papenroth, mit ein bisschen Verwunderung habe
ich Ihre Ausführungen zu den Missständen zur Kenntnis
nehmen müssen.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So eine Offenheit hat es bei Ihnen während Ihrer Regierungszeit nie gegeben!)





Albrecht Papenroth
9132


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich war zumindest bei den letzten Haushaltsberatungen
dabei und habe erleben müssen, dass vonseiten der Koali-
tion im Verteidigungsausschuss mit seltener Einmütigkeit
alle unsere Anträge für eine bessere Besoldung und zur
Beseitigung dieser Missstände, die man auch erkannt hat,
abgelehnt worden sind.


(Albrecht Papenroth [SPD]: Das Augenmaß hat gefehlt!)


Eine sachliche Analyse der Wehrbeauftragtenberichte
der letzten fünf Jahre anhand des Berichts für das Jahr
1999 lautet für mich: Noch nie war die Bundeswehr in
einem besorgniserregenderen und dramatischeren Zustand
als heute. Der innere Zustand der Bundeswehr entspricht
längst nicht mehr den äußeren Anforderungen. Das
bestätigt auch der Herr Verteidigungsminister bei jeder
sich bietenden Gelegenheit, zuletzt am Dienstag auf einer
Tagung vor 140 Brigade- und Regimentskommandeuren,
wenn er der Bundeswehr – man höre und staune – die
Bündnis- und Europafähigkeit abspricht.

Die Wehrbeauftragte stellt in ihrem Bericht nachdrück-
lich fest, dass sich die Bundeswehr mit ihren derzeitigen
Strukturen an den Grenzen ihrer materiellen und perso-
nellen Belastbarkeit befindet.


(Peter Zumkley [SPD]: Da hat sie auch Recht!)


Mit ihren radikalen Einschnitten in den Verteidigungs-
haushalt hat die rot-grüne Bundesregierung maßgeblichen
Anteil an der heutigen Situation.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist doch wirklich nicht so schwierig, die Zahl 2 Milliarden in Ihren Kopf zu bekommen!)


Zwar hätte ich es – damals als Betrachter von außen –
als wünschenswert empfunden, wenn in den 90er-Jahren
der Bundeswehr ein größerer Spielraum zugestanden wor-
den wäre. Es ist jedoch irreführend und falsch, in diesem
Zusammenhang gebetsmühlenartig allein von einem In-
vestitionsstau von 15 Milliarden DM zu sprechen, ohne
auch zu sagen, dass es die SPD und niemand anderes war,
die in den Jahren 1990 bis 1996 zusätzliche Kürzungsan-
träge zum Verteidigungshaushalt in Höhe von rund 15Mil-
liarden DM eingebracht hat.


(Beifall bei der CDU/CSU – Peter Zumkley [SPD]: Das ist nicht wahr!)


– Die Zahlen kann ich Ihnen geben, Herr Zumkley.

(Peter Zumkley [SPD]: Ja, wir gleichen die ab!)

Heute ist die Regierung nicht nur nicht geneigt, die von ihr
festgestellte Investitionslücke zu schließen, sondern sie
will darüber hinaus in den nächsten Jahren bei der Bun-
deswehr zusätzlich 18,6MilliardenDM kürzen. Es ist des-
halb scheinheilig, nun der Union vorzuhalten, eine In-
vestitionsruine hinterlassen zu haben.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Man kann sich das nicht immer aussuchen!)


Die unzureichende finanzielle Ausstattung der Bun-
deswehr – durchgesetzt im Rahmen eines Eichel’schen

Spardiktats in Rasenmähermanier – ist Ursache vieler der
im Bericht der Wehrbeauftragten aufgeführten Mängel
und Defizite. Sie wirkt sich nachhaltig auf die Motivation
und die Nachwuchsgewinnung aus.

Besonders die Material- und Ersatzteillage hat sich in
1999 erheblich verschlechtert. So kommt die Wehrbeauf-
tragte zu dem Ergebnis, dass der Dienstbetrieb im Be-
richtsjahr in den Teilstreitkräften durch Defizite in der
Material- und Ersatzteillage geprägt wurde. In der von
Bundesminister Scharping zu verantwortenden Stellung-
nahme des Ministeriums zum Wehrbeauftragtenbericht
1998 heißt es – und ich darf das einmal zitieren –:

Durch die Verstärkung der Haushaltsmittel für die
Materialerhaltung 1997/98 ist eine ausreichende
Verfügbarkeit des Wehrmaterials zur Durchführung
einer auftragsorientierten Ausbildung erreicht. Die
Truppe wurde mit ausreichenden Haushaltsmitteln
für die Materialerhaltung ausgestattet.

Daher trägt die jetzige Bundesregierung und keine an-
dere die volle Verantwortung für die konkrete, reale, an die
Substanz gehende katastrophale Material- und Ersatzteil-
lage.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Eineinhalb Jahre Regierungsverantwortung haben aus-
gereicht, um diese „katastrophale Situation“ – Originalton
der Wehrbeauftragten – herbeizuführen.

Konkret wirkt sich das wie folgt aus: Ein Bataillon
konnte über einen Zeitraum von 18 Monaten drei Panzer-
fahrzeuge nicht nutzen, weil die erforderlichen Getriebe
nicht lieferbar waren. In einem anderen Fall waren
Fahrzeugreifen nicht zu beschaffen. Bei einem Lufttrans-
portgeschwader waren von den 23 der Verfügungsbereit-
schaft zugeteilten Flugzeugen tatsächlich nur fünf nutzbar.
Nur durch gesteuerten Ausbau, also das gezielte Aus-
schlachten funktionsfähiger Geräte, kann in vielen Ein-
heiten der Bundeswehr der Dienst- und Ausbildungs-
betrieb noch aufrechterhalten werden. Das ist Kannibalis-
mus in Reinkultur. Die eigentlich sinnlose Tätigkeit bindet
in steigendem Maße qualifiziertes Fachpersonal und wirkt
sich verheerend auf die Motivation aus.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Einen weiteren Schwerpunkt des Berichts stellen die

Auswirkungen der Auslandseinsätze auf den Ausbil-
dungsbetrieb dar. Insbesondere das Heer wurde seit dem
Frühjahr 1999 durch die Auslandseinsätze vor schwer zu
bewältigende personelle und materielle Probleme gestellt.
Zwar müssen unsere Soldaten im Einsatz selbstver-
ständlich auf das beste Material der Bundeswehr zurück-
greifen können, jedoch darf der Betrieb im Inland deshalb
nicht zum Erliegen kommen. Der gestern im Verteidi-
gungsausschuss beratene Bericht des Inspekteurs des
Heeres „Auswirkungen der Auslandseinsätze auf den Be-
trieb der Bundeswehr im Inland“ spricht Bände. Ich rate
jedem, diesen zur Kenntnis zu nehmen.

Hinzu kommt: Zwei Drittel der sich zurzeit im Einsatz
befindlichen KFOR- und SFOR-Kontingente gehören
HVK-Einheiten an, ohne dass erfreulicherweise die Quali-
tät der Einsatzkräfte darunter gelitten hätte. Folgerichtig
hat die Union in ihrer Konzeption „Sicherheit 2010 –




Werner Siemann

9133


(C)



(D)



(A)



(B)


Zukunft der Bundeswehr“ die Beendigung dieser fakti-
schen Zweiklassenarmee gefordert.

Diese Vermischung von HVK- und KRK-Einheiten
führte aber auch dazu, dass bei den HVK-Einheiten Führer
abgezogen wurden, die Auftragslage und die Ausbil-
dungsaufträge jedoch unverändert weiter erfüllt werden
mussten. Gerade bei den Berufs- und Zeitsoldaten musste
erhebliche Mehrarbeit auf wenige Schultern verteilt wer-
den. An dieser Stelle möchte ich deshalb ausdrücklich den
Soldaten danken, die den Auslandseinsatz ihrer Kame-
raden von Deutschland aus überhaupt ermöglichen und
die entstehenden Mehrbelastungen bei allen Unzuträg-
lichkeiten mit Bravour schultern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Als äußerst problematisch hat sich die Verlängerung

der Einsatzdauer von vier Monaten auf sechs Monate er-
wiesen. Die Wehrbeauftragte hat immer wieder darauf
hingewiesen. Diese Verlängerung stößt bei den Soldaten
und ihren Angehörigen überwiegend auf Ablehnung, zu-
mal oftmals auch die anvisierte zweijährige Verweildauer
im Inland nicht wird eingehalten werden können.

Der in der Truppe von der Regierungspolitik in unver-
antwortlicher Weise hervorgerufene „Virus der Unsicher-
heit“ – so von der Wehrbeauftragten bezeichnet – kann nur
bekämpft werden, wenn den Soldaten Planungssicherheit
und Verlässlichkeit zurückgegeben werden. Die leidige
Debatte um die noch ausstehende Strukturreform der Bun-
deswehr hat bereits mehr als genug Schaden angerichtet.
Sichtbarer Ausdruck dieses Schadens ist das besorgniser-
regend hohe Niveau der Anträge auf Kriegsdienstver-
weigerung. Neben persönlichen Nützlichkeitserwägun-
gen macht die Wehrbeauftragte zu Recht die Diskussion
um den Bestand der allgemeinen Wehrpflicht dafür ver-
antwortlich.

Durch die Einsetzung der Wehrstrukturkommission
wurden die außen- und sicherheitspolitischen Gegensätze
und Widersprüche der rot-grünen Koalition bislang not-
dürftig kaschiert.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch!)


Auf Kosten der Soldaten wurde so der Koalitionsfrieden
hergestellt bzw. gewahrt. Nun, kurz bevor die Kommission
ihre Ergebnisse vorstellt, treten diese Gegensätze und
Widersprüche offen und in atemberaubender Geschwin-
digkeit hervor.

Während sich der Verteidigungsminister und die Jus-
tizministerin für die Beibehaltung der Wehrpflicht ein-
setzen, fordert der Außenminister – anscheinend kennt-
nisfrei – eine Berufsarmee, um diese freudig weltweit für
internationale Aktionen einsetzen zu können. Während
der Minister der Verteidigung eine Entscheidung über die
zukünftige Wehrstruktur noch vor der Sommerpause nach-
drücklich ankündigt, sollen nach dem Willen des SPD-
Fraktionsvorsitzenden Struck die Eckpunkte der Wehr-
strukturkommission erst für das Jahr 2002 oder sogar erst
2003 Berücksichtigung finden. Dies wäre gleichbedeu-
tend mit der Manifestierung des Stillstandes. Weitere kost-
bare Jahre gingen verloren. Ein Schelm, wer Böses dabei

denkt; bekanntlich wird 2002 gewählt.
Während der Verteidigungsminister wiederholt zuge-

sagt hat, sich für eine Angleichung des Soldes ostdeut-
scher Soldaten an westdeutsches Niveau zu verwenden,
wiegelt sein Kabinettskollege Eichel kategorisch ab. Hier
bleibt die Regierung nach wie vor aufgefordert, ein
Konzept vorzulegen, das die kurzfristige Nivellierung der
Dienstbezüge zum Inhalt hat. Es gilt – auch diese Mei-
nung muss man vertreten –, eine bestehende Gerech-
tigkeitslücke zu schließen.

All diese Widersprüche innerhalb der Koalition belegen
deren fortgesetzte Konzeptionslosigkeit in Sachen Bun-
deswehr. Die – noch dazu hoffnungsvolle – Erwartung des
Verteidigungsministers, dass nach kontroverser Diskus-
sion alles auf seine Linie einschwenke und der Wehretat
nun erhöht werde, nehme ich – durchaus im Interesse un-
serer Bundeswehr – zur Kenntnis. Allein, mir fehlt der
Glaube, wenn ich mir die Äußerungen der Verant-
wortlichen auf Koalitionsseite anhöre.

Festzuhalten ist, Herr Minister – bei all den aufge-
führten Differenzen im Regierungslager –, dass sich Ihre
eigenen Vorstellungen in großen Teilbereichen unseren
Vorstellungen nähern bzw. sie sich mit diesen decken. Mit
anderen Worten: Sie erheben Forderungen, welche unse-
rer Konzeption „Sicherheit 2010“ entsprechen. Konsens-
möglichkeiten mit Ihnen bestehen also, man muss sie nur
nutzen, man muss sie nur wollen.

Die Begründung des Außenministers, die Einführung
einer Berufsarmee in Frankreich müsse als Präjudiz auch
für Deutschland verstanden werden, ist im Übrigen ab-
wegig und absurd. Die französischen Erfahrungen zeigen,
dass mit dem Übergang zu einer Berufsarmee die Verklei-
nerung der Armee um 25 Prozent mit einer Erhöhung der
Kosten um 30 Prozent einher geht.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Darüber hinaus scheinen die Gegner der Wehrpflicht

und Befürworter der Berufsarmee – damit komme ich
noch einmal zur Wehrpflicht – zu vergessen, dass die
sicherheitspolitische Lage unseres Erachtens auch in
Zukunft die Wehrpflicht bedingt, dass nur eine Wehr-
pflichtarmee die Möglichkeit der Aufwuchsfähigkeit bie-
tet, dass rund 50 Prozent der Berufs- und Zeitsoldaten aus
Grundwehrdienstleistenden rekrutiert werden, dass die
USA allein 1999 1,8 Milliarden Dollar für die Rekru-
tierung von Freiwilligen ausgeben mussten, dass in
Spanien der zur Aufnahme in die Berufsarmee notwendi-
ge Intelligenzquotient abgesenkt werden musste, um
genügend Nachwuchs zu bekommen, und dass in Großbri-
tannien straffälligen jungen Männern angeboten wird, statt
ins Gefängnis zur Armee zu gehen.

Diese Liste ließe sich ohne weiteres fortsetzen. Ich
empfehle insoweit die Kenntnisnahme des Berichts des
Ministeriums über die Situation der Nachwuchswerbung
und Nachwuchsgewinnung vom 3. April 2000. In diesem
Zusammenhang hat die Hardthöhe darauf hingewiesen,
dass sich mehr als zwei Drittel aller Grundwehrdienstleis-
tenden zwischen dem sechsten und dem neunten Monat
entscheiden, ihren Dienst freiwillig zu verlängern. Das ist
ein Umstand, der dafür sorgen sollte, die Wehrdienstzeit




Werner Siemann
9134


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(D)



(A)



(B)


nicht auf eine unzumutbare Kürze zu verringern. In diesem
Zusammenhang sollte ich auch noch darauf hinweisen,
dass Paul Breuer in dem angesprochenen Interview
selbstverständlich nicht gesagt hat, dass er für eine obli-
gatorische Wehrdienstzeit von sechs Monaten sei.

Eine Erhöhung des Wehretats – das wurde heute auch
schon angesprochen – löst zwar nicht alle im Bericht der
Wehrbeauftragten enthaltenen Probleme, jedoch hilft eine
bessere finanzielle Ausstattung der Bundeswehr bei der
Verbesserung dreier Problemfelder: Die adäquate ma-
terielle Ausstattung verbessert die Motivation der Soldat-
en. Eine gut motivierte Truppe hat keine Nachwuchspro-
bleme.

Sie, Frau Marienfeld, haben mit Ihrem letzten Bericht
dem Deutschen Bundestag mit aller Eindringlichkeit
klargemacht, wie es tatsächlich um unsere Bundeswehr
steht und welche drohenden negativen Folgen vermieden
werden müssen. Ihnen wurde bereits mehrfach zu Recht
gedankt. In meiner Eigenschaft als Berichterstatter für
Ihren Bereich möchte auch ich es nicht unterlassen, mich
bei Ihnen und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für
die außerordentlich konstruktive und gute Zusammenar-
beit zu bedanken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Bundeswehr der Zukunft – so Verteidigungsmini-

ster Scharping Anfang des Jahres – wird für Männer und
Frauen ein attraktiver Arbeitsplatz sein. Sollten sich seine
Kritiker mit ihren finanzpolitischen Vorstellungen durch-
setzen, werden wir diese Perspektiven verspielen. Lassen
Sie es nicht so weit kommen!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409809000
Jetzt hat die Kollegin
Angelika Beer, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.


Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409809100
Frau
Präsidentin! Verehrte Kollegen und Kolleginnen! Sehr
geehrte Frau Wehrbeauftragte, auch ich möchte mich ganz
herzlich bei Ihnen bedanken. Die Debatte geht in der Tat
ein Stück an Ihrem Bericht vorbei. Ich erinnere aber da-
ran, dass Sie heute von der Politik auch eingefordert ha-
ben, unserer Bundeswehr eine klare Perspektive zu geben.

Ich erinnere mich an Ihre letzte Rede, in der Sie be-
gründeten, warum Sie für eine zweite Amtszeit nicht zur
Verfügung stehen, was ich persönlich bedauere. Ich finde,
eine Frau hat diesen Platz gut ausgefüllt. Sie haben Ihre
Entscheidung damit begründet, dass Sie die zukünftige
Strukturreform der Bundeswehr nicht verantworten kön-
nen. Insofern ist ganz klar, dass sich die heutige Debatte
auch mit dieser Frage auseinander zu setzen hat.

Ich möchte insbesondere auf die CDU eingehen,
und zwar im ersten Teil auf den Kollegen Breuer, den
Sprecher der AG Sicherheit, und im zweiten Teil auf die
Partei selbst.

Herr Kollege Breuer, Sie haben hier behauptet, die Bun-
deswehr sei in einer tiefen Krise der Irritation und der Des-
orientierung,


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Die Krise hat auch einen Namen!)


und Rot-Grün habe diese Krise herbeigeführt.
Ihr Kollege Volker Rühe hat als Verteidigungsminister ein-
mal in einer sehr wichtigen Debatte gesagt: Wir müssen
Garant dafür sein, dass wir nicht Teil des Problems wer-
den; wir müssen vielmehr immer Teil der Lösung sein. Ich
kann nur sagen: Solange Sie Debatten führen wie heute,
sind Sie Teil des Problems und nicht Bestandteil der Lö-
sung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich will gern erläutern, wie ich zu diesem Schluss
komme: Herr Kollege Breuer, Sie haben zunächst kri-
tisiert, dass diskutiert wird, haben aber dann in diesem Jahr
ein Papier vorgelegt und darin eine Scheinreform
skizziert: 300 000 Mann, neun Monate Wehrpflicht und
ansonsten ein paar Milliarden drauf.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Zu wenig!)

Sie haben das Verbleiben in den Denkkategorien des
Kalten Krieges und den Weg des damaligen Verteidi-
gungsministers Rühe skizziert,


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Nichts verstanden!)


der die Debatte über unsere Bundeswehr, über die Einsätze
und die innere Situation gefürchtet hat wie der Teufel das
Weihwasser. Sie haben das in diesem Jahr noch einmal
festgeschrieben. Das ist ein schlechter Start ins Jahr 2000
und auch schlecht für die Jahre darüber hinaus.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Sie haben das doch gar nicht gelesen!)


Was ich ganz spannend finde: Es gibt ein zweites Pa-
pier von der CDU/CSU, allerdings von der Partei selbst,
vorgestellt von Frau Angelika Merkel. Ich möchte hier
einen Satz zitieren, Herr Kollege Breuer, und ich empfehle
Ihnen, auch den Rest des Papiers irgendwann zu lesen – es
kommt ja von Ihrer Partei. Dort steht:

Angesichts der veränderten Sicherheitslage zählen
aber traditionelle Vorteile der Bundeswehr – wie ho-
he personelle Aufwuchsfähigkeit, Luftverteidigung
auf eigenem Boden oder große Panzerkräfte – im
Bündniskontext immer weniger. Demgegenüber
fehlt es an ausreichender strategischer Mobilität und
Flexibilität – die derzeitige mehrjährige Entsendung
von etwa 10 000 Soldaten auf den Balkan führt die
Bundeswehr an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit.

Ich halte dies für eine reale Einschätzung.

(Paul Breuer [CDU/CSU]: Ich habe doch da mitgewirkt! Das sind doch Formulierungen, die auch von mir stammen!)


Ich zitiere noch einen weiteren Satz:
Die langjährige Unterfinanzierung der Bundeswehr

(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Die die Grünen immer beklagt haben!)





Werner Siemann

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(C)



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(B)


hat einen Investitions- und Modernisierungsstau auf-
laufen lassen, der auf etwa 30 Milliarden DM ge-
schätzt wird.

Ich will mich jetzt nicht über die Zahl streiten, aber Ihre
Partei, die offensichtlich im Wandel begriffen ist –
zumindest die Partei, nicht Sie –, ist bereit, sich endlich
von der sicherheitspolitischen Blockade, die über Jahre ihr
Denken eingegrenzt hat, zu verabschieden und sich posi-
tiv in eine Diskussion über die Zukunft der Sicherheit
Deutschlands und der Reform der Bundeswehr einzu-
lassen. Das finde ich durchaus begrüßenswert.

Ich möchte zum Schluss noch darauf hinweisen, dass
wir es für notwendig halten, die Unabhängigkeit der
Wehrstrukturkommission immer wieder in den Vorder-
grund zu stellen, sie zu unterstützen und auf das Ergebnis
zu warten. Genauso notwendig ist es aber auch, dass nicht
nur Parteien auf Grundlage unterschiedlicher Parteiposi-
tionen diskutieren, sondern dass auch die Gesellschaft
diskutiert. Insofern treten wir als Grüne – das ist kein
Koalitionskonflikt, sondern eine Debatte, die auch in der
Gesellschaft und bei den Jugendlichen geführt wird – nicht
nur für eine drastische, klare Reform, sondern auch für die
Abschaffung der Wehrpflicht ein. Ich glaube, dass die
Jugend ein Recht hat – nachdem Frauen das Recht bekom-
men haben, in allen Laufbahnen der Bundeswehr ihren
Dienst zu tun –, zu diskutieren oder auch zu verlangen,
dass diese Freiwilligkeit zukünftig auch für sie gilt.

Ich glaube, dass wir auch verpflichtet sind, sicherheit-
spolitische Rahmenbedingungen zu diskutieren – wie die
CDU/CSU oder auchTeile der F.D.P. es hier vormachen –,
wobei man zu dem Schluss kommen kann, dass die
Wehrpflicht als Zwangsdienst sicherheitspolitisch nicht
mehr legitimiert ist.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das sieht der Minister aber anders! Wer setzt sich denn durch?)


Wie auch immer dann ein möglichst breiter Konsens für
die Zukunft der Bundeswehr aussehen wird – er muss
möglichst breit sein, das ist keine Frage von Parteien und
von Koalitionen, das ist eine gesellschaftliche und gesamt-
politische Aufgabe –, Sie brauchen angesichts des
gesellschaftlichen und sicherheitspolitischen Wandels
gute, sehr gute Argumente, um zu begründen, womit ein
Zwangsdienst für Jugendliche noch gerechtfertigt werden
kann. Die Argumente haben wir vorher auszutauschen und
dürfen nicht hinterher im Hauruckverfahren beschließen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das ist eine Drohung an die SPD!)


– Nein, das ist der Mut zur Diskussion.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409809200
Jetzt erteile ich das
Wort dem Kollegen Hans Raidel, CDU/CSU-Fraktion.


Hans Raidel (CSU):
Rede ID: ID1409809300
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Der Bericht der Wehr-
beauftragten zeigt wie gewohnt ganz präzise und im De-

tail auf, was Sache ist, woran es fehlt, wie der Truppen-
alltag ausschaut, wie die Auslandseinsätze zu bewerten
sind und wie es an der so genannten Heimatfront zugeht.
Was mir an diesem Bericht imponiert, ist, dass er scho-
nungslos, ohne Polemik und ohne falsches Pathos objek-
tiv darstellt, was wirklich Sache ist, wo Plus und Minus
liegen, und dass dieser Bericht nicht nur Kritik enthält,
sondern dass er sich auch bemüht, Wege zur Beseitigung
von Mängeln aufzuzeigen, dass er Defizite klarstellt, aber
auch Perspektiven andeutet und teilweise eröffnet. Das
macht diesen Bericht für mich persönlich wertvoll. Wir als
Abgeordnete sollten meiner Auffassung nach darauf ach-
ten, dass dieser Bericht eben nicht wie so vieles einfach
verschwindet, sondern dass er eine ständige Arbeits-
grundlage auch für uns im Ausschuss darstellt.

Wir müssen nun gemeinsam versuchen, das zu beseiti-
gen, was in diesem Bericht bemängelt wird. Unsere Sol-
daten müssen spüren, dass es unser Anliegen ist, für sie da
zu sein, dass wir sie ernst nehmen, dass das Petitionsrecht,
das sie haben, und die Fürsorge bei uns gut aufgehoben
sind.

Es sind verschiedene Punkte genannt worden, die
wichtig für die Akzeptanz sind, zum Beispiel die Betreu-
ung im Ausland, die damit einhergehende Familienfür-
sorge und die Militärseelsorge. Wenn ich Sie richtig ver-
stehe, dann ergeben sich daraus für die Zukunft folgende
Fragen: Haben wir im Betreuungsbereich genug Fach-
leute? Haben wir genügend Sprachenvermittler?

Neben all dem Streit, den wir hier sachlich führen –
Polemik würzt manchmal die Debatte –, müssen wir als
Parlament gemeinsam bereit sein, für die Akzeptanz dieser
Bundeswehr in der Gesellschaft auf allen Ebenen zu wer-
ben.

Sie, Frau Marienfeld, haben sich mit diesem Bericht
viel Lob, auch Kritik, aber vor allem Respekt von allen
Seiten verschafft. Sie werden häufig als „Mutter Courage“
bezeichnet, weil Sie ohne Scheu und ohne Angst vor ir-
gendwelchen Königsthronen Ihr aufgetragenes Wächter-
amt voll ausschöpfen. Sie waren und sind eben kein
Feigenblatt für irgendeine Regierung. Ich danke Ihnen
sehr herzlich für Ihre Arbeit.

Wir von der CSU danken Ihnen ganz besonders, weil
Sie ursprünglich aus den Reihen der CSU kamen, dann
aber zur CDU wechseln mussten. Sie haben sich bei uns
aber immer gut aufgehoben gefühlt.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Aber sie ist jetzt die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages!)


– Das wollte ich gerade sagen: Sie wurden von uns, vom
Parlament, gewählt; und wir als Parlament sind auf Ihre
Arbeit stolz, weil sie ein Stück auch unsere Arbeit ist und
unsere Arbeit entsprechend dokumentiert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Dieser Bericht ist ein Alarmsignal. Das wurde in den

einzelnen Redebeiträgen schon besonders herausgestellt,
weswegen ich das alles nicht wiederholen werde. Ich
möchte nur noch einmal den Mut von Ihnen, Frau
Wehrbeauftragte, betonen, dass Sie sich bewusst in einen




Angelika Beer
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(A)



(B)


offenen Widerspruch zum Bundesminister der Verteidi-
gung gesetzt haben: Sie haben festgestellt, dass die Moti-
vation in der Truppe in einem gefährlichen Maße sinkt,
dass der Dienst in der Bundeswehr nicht mehr als attrak-
tiv angesehen wird und dass die Soldaten zwar bereit sind,
vieles zu ertragen, dass sie aber unter dem Virus der Un-
sicherheit leiden.

Meine Damen und Herren, Sie sind seit eineinhalb
Jahren an der Regierung. Sie können das drehen und wen-
den, wie Sie wollen: Es ist Ihr Baby. Für all das, was in der
Bundeswehr passiert bzw. nicht passiert, ist diese
Regierung direkt verantwortlich. Wer denn sonst?
Umgekehrt würden Sie das doch auch in unseren Verant-
wortungsbereich schieben, wenn wir noch regieren wür-
den. Wir beklagen, dass es anders gekommen ist. So hat
auch dieses Jahr zu Schäden bei der Bundeswehr geführt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wenn sich der Herr Minister nun aufregt, dass er in der

Öffentlichkeit angegangen wird, dann muss er immer
daran denken: Wer in der Öffentlichkeit steht, der hat kein
Recht auf Rücksichtnahme. Er darf ein solches Recht auch
nicht fordern.
Er hat sich der Verantwortung zu stellen. Er ist es, der
Problemlösungen vorzuschlagen hat und der sie zusam-
men mit seiner Koalition dann auch zu verantworten hat.

Ich will eine von der öffentlichen Meinung zum Aus-
druck gebrachte Kritik zitieren, also eine Kritik, die nicht
von uns kommt. „Die Woche“ berichtet:

Scharping sitzt zwischen allen Stühlen. Er bekommt
seinen Job nicht in den Griff. Aber wie sollte er auch?
Er ist zunächst einmal Opfer eines gravierenden De-
fizits dieser Bundesregierung. Sie hat kein zusam-
menhängendes Konzept zur Außen- und Sicher-
heitspolitik. Jeder wurstelt irgendwie vor sich hin.

(Beifall bei der CDU/CSU – Peter Zumkley [SPD]: Das ist doch ein alter Hut! Die Journalisten sind längst weiter!)


– Natürlich, Herr Kollege Zumkley: Immer dann, wenn es
unangenehm wird und man die Wahrheit nicht hören will,
bezeichnet man es als „alten Hut“.


(Peter Zumkley [SPD]: Das ist es auch!)

Das kennen wir. Dies ist das Übliche und ich bin überhaupt
nichts anderes gewöhnt.


(Peter Zumkley [SPD]: Ein alter Hut und noch nicht einmal wahr!)


Selbstverständlich kann es nicht wie bisher weiterge-
hen. Die Bundeswehr muss sofort an Haupt und Gliedern
reformiert werden. Wir müssen – darüber sind wir uns alle
einig – von einer Ausbildungs- zu einer Einsatzarmee auf
der Grundlage der Wehrpflicht und eines guten Reservis-
tenkonzeptes, das daraus abgeleitet werden muss, kom-
men.

Dabei wäre ich dankbar, wenn sich auch die jetzige
Koalition darüber klar würde, was sie eigentlich will. Ich
möchte nicht auf Konzeptionelles eingehen, sondern nur
wiederholen, was schon gesagt worden ist. Lesen Sie ein-

mal die Parteiprogramme der SPD und von Bündnis
90/Die Grünen. Dann werden Sie sehr viel Widersprüch-
liches und Gegensätzliches zu dem Positiven finden, das
hier gesagt wird. In den beiden Parteien ist eine völlig an-
dere Stimmung und eine andere Erwartungshaltung
anzutreffen. Korrigieren Sie einmal diese Dinge, dann
werden Sie auch hier im Parlament in Ihren Aussagen
glaubwürdiger. Von der PDS möchte ich in diesem Zusam-
menhang nicht reden, da sie nach meiner Auffassung in
diesen Fragen sowieso eine indiskutable Meinung hat.

Natürlich geht es immer ums Geld. Der Auftrag der
Bundeswehr muss mit den Finanzen in Einklang gebracht
werden. Dafür stellen die anstehenden Haushaltsberatun-
gen eine Nagelprobe dar, in denen Sie über Wohl und We-
he einer ernsthaften Außen- und Sicherheitspolitik dieser
Bundesregierung Auskunft geben müssen. Sie behaupten
immer, die Vergangenheit habe diese Defizite gebracht.
Aber wer hat Sie zu dem Zeitpunkt Ihrer Regierungsüber-
nahme daran gehindert, sofort zu Gunsten der Bundeswehr
nachzulegen? Sie haben immer gesagt, es sei alles unter-
finanziert. Sie hätten das bereits für das vergangene Jahr,
spätestens aber für 2000 ändern und der Bundeswehr einen
zukunftsorientierten Finanzrahmen geben können, damit
diese ihre internationalen Verpflichtungen in der UN,
NATO, EU, WEU und OSZE einhalten kann.

Sie haben überall Versprechungen gemacht. Beenden
Sie doch endlich die bestehende Verunsicherung in der
Truppe mit einer neuen Haushaltsdarstellung, die eine
feste und zukunftsorientierte Planung ermöglicht. Schaf-
fen Sie diesen Finanzrahmen! Wer hindert Sie denn daran?


(Zuruf von der SPD: Ihre Schulden!)

Sie haben die Mehrheit.

Der Gegensatz zwischen Eichel und Scharping ist nicht
künstlich konstruiert, sondern tatsächlich vorhanden.


(Peter Zumkley [SPD]: Wie immer zwischen Finanzund Verteidigungsminister!)


Ich gehe so weit zu sagen: „Die Geister, die ich rief, werd
ich jetzt nicht los.“ Scharping würde nie mehr eine solche
Kommission einsetzen, die sich – Gott sei Dank – nicht
von ihm beeinflussen und in irgendeine Richtung drängen
lässt, und deren Ergebnisse man jetzt am liebsten nicht
hätte.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409809400
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist überschritten.


Hans Raidel (CSU):
Rede ID: ID1409809500
Hätten Sie sich damals an
unsere Finanzplanung gehalten, würde sich Scharping
heute als Krösus fühlen, der viele der bestehenden Pro-
bleme nicht hätte.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409809600
Herr Kollege, darf ich
Sie an Ihre Redezeit erinnern.


Hans Raidel (CSU):
Rede ID: ID1409809700
Ich komme zum letzten
Satz.




Hans Raidel

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(C)



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(A)



(B)


Wir müssen jetzt den Kanzler entscheiden lassen. Er hat
gesagt: Wir machen vieles nicht anders, aber vieles bes-
ser. Für die Bundeswehr ist er den Nachweis noch schuldig
geblieben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409809800
Ich erteile der Kolle-
gin Ulrike Merten, SPD-Fraktion, das Wort.


Ulrike Merten (SPD):
Rede ID: ID1409809900
Frau Präsidentin! Sehr geehrte
Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Frau Marien-
feld, Sie haben einmal mehr einen sehr detaillierten Be-
richt vorgelegt.

Das können Sie tun,

(Ursula Lietz [CDU/CSU]: Das muss sie tun!)


weil Sie die Sorgen und Nöte der Bundeswehrangehörigen
nur zu gut kennen. Sie haben sich in den vergangenen
Jahren besonders für sie eingesetzt. Dafür danke ich Ihnen
ganz herzlich.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie haben die Mängel auch in den Berichten der zurück-
liegenden Jahre immer wieder benannt. Deshalb, Herr
Kollege Breuer und Herr Kollege Siemann, finde ich es
schon ärgerlich, wenn Sie heute so tun, als sei die der-
zeitige Situation der Bundeswehr gleich einer Naturkata-
strophe innerhalb weniger Tage über uns gekommen. Sie
verschweigen, dass dies auch ein Ausfluss Ihres
Regierungshandelns war.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Paul Breuer [CDU/CSU]: Die Orientierungskrise ist Ihr Produkt!)


Und, Herr Kollege Raidel, es geht hier nicht um Rück-
sichtnahme, die der Minister einfordert. Es geht hier aber
um Tatsachen und Seriosität. Das, was Sie eben gemacht
haben, ist alles andere als seriös, und es ist auch nicht wahr.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich finde es daher bemerkenswert, dass die Bundeswehr
bei allen Problemen, die sie hat und die wir gar nicht ver-
schweigen wollen, ihre Aufgabe bei Auslandseinsätzen
wahrnimmt. Das gilt insbesondere für die noch immer
schwierige Situation im Kosovo. Unsere Soldaten ge-
nießen dort hohes Ansehen. Hoch motiviert, engagiert und
gut ausgebildet, leisten sie Beachtliches. Wir verlangen ih-
nen ja auch einiges ab, nämlich ein hohes Maß an Flexi-
bilität und Einsatzbereitschaft. Dazu kommen erhebliche
Anforderungen an ihre soziale Kompetenz, die sie jeden
Tag im Einsatz aufs Neue unter Beweis stellen müssen.

Während meiner Reise in den Kosovo hatte ich Gele-
genheit, mit den jungen Männern und Frauen vor Ort zu
sprechen. Ich muss Ihnen sagen, liebe Kolleginnen und
Kollegen: Ich war tief beeindruckt von ihrer Haltung, mit
den Widrigkeiten, die unvermeidbar sind, umzugehen. Ich

hatte auch den Eindruck, dass die jungen Männer und
Frauen sehr wohl die Verlängerung der Einsatzzeit von
vier auf sechs Monate als notwendig anerkennen.


(Peter Zumkley [SPD]: Richtig!)

Kurzfristig – das gehört zur Ehrlichkeit dazu – werden

wir die Einsatzdauer nicht verkürzen können. Wir sollten
deshalb die Ergebnisse der anstehenden Untersuchung des
Sozialwissenschaftlichen Institutes der Bundeswehr ab-
warten, um dann noch einmal darüber zu reden, ob es bei
den sechs Monaten wirklich bleiben muss.

Bis dahin – das finde ich wichtig – sollten wir im Hin-
blick auf die Häufigkeit der Einsätze sehr wohl auf
Verlässlichkeit achten. Ich sage aber auch ganz deutlich:
Wir werden nicht immer gewährleisten können, dass in
allen Verwendungen eine erneute Heranziehung erst nach
zweijähriger Verweildauer im Inland erfolgt. Deshalb
müssen wir unsere Anstrengungen verstärken, in diesen
Bereichen zusätzliche Soldaten auszubilden. Ich glaube,
wir sind uns darin einig. Wenn wir, wie wohl zu Recht, un-
terstellen, dass das Engagement der Bundeswehr in dieser
Balkanregion noch auf Jahre hin notwendig sein wird,
dann müssen wir die Bedingungen so ausgestalten, dass
wir unserer Verantwortung, die wir übernommen haben,
indem wir die Soldaten der Bundeswehr in solche Einsätze
schicken, auch an jeder Stelle gerecht werden. Wenn wir
von Verantwortung reden, dann gehört es auch dazu, wie
wir mit Äußerungen in der Öffentlichkeit umgehen. Im
Nachhinein den Einsatz der Bundeswehr in einer
unglaublichen Weise in Frage zu stellen, ist alles andere als
verantwortlich. Dies ist in höchstem Maße unverant-
wortlich.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir über Verantwortung reden, dann gehört auch
dazu, dass wir nicht nachlassen dürfen, die einsatzorien-
tierte Ausbildung für friedenssichernde und frieden-
schaffende Missionen so optimal wie möglich zu gestal-
ten. Wir wissen: Dies ist der beste Schutz der Soldaten im
Einsatz.

Aber ebenso gehört zum Reden über Verantwortung,
dass wir den jungen Leuten die Möglichkeit geben, ihre
Freizeit wirklich sinnvoll zu gestalten. Als ich Ende letzten
Jahres in Prizren war, durften die jungen Männer
und Frauen das Kasernengelände nur zu dienstlichen
Zwecken verlassen, weil die Sicherheitslage noch so in-
stabil war. Das heißt, sie waren in ihrer Freizeit darauf
angewiesen, ausschließlich die Möglichkeiten innerhalb
des Geländes zu nutzen. Was das für junge Leute bedeutet,
die häufig nicht älter als 22 oder 23 Jahre sind, kann sich
wohl jeder vorstellen. Umso wichtiger ist es, dass sie un-
kompliziert regelmäßigen Kontakt mit ihren Familien
halten können. Ich bin sehr froh, dass die Anlauf-
schwierigkeiten im Bereich des Postaustausches über-
wunden sind. Ich habe immer wieder erlebt, dass mir die
jungen Soldaten in Gesprächen sagten: Wir können diesen
Dienst nur verantwortlich und konzentriert tun, wenn wir
uns keine Sorgen über das machen müssen, was zu Hause
abläuft. Eine Erkenntnis ist mir dabei noch einmal deutlich
geworden: Die Trennung von den Angehörigen belastet




Hans Raidel
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(C)



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(A)



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die jungen Leute sehr, vor allem – das ist ja nicht selten –
wenn sie selbst schon Verantwortung für eine Familie tra-
gen.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409810000
Frau Kollegin, Ihre
Redezeit ist abgelaufen.


Ulrike Merten (SPD):
Rede ID: ID1409810100
Ja, ich komme zum Ende.
Ich finde, eine Menge an Sorgen können wir ihnen ab-

nehmen, wenn sie sicher sein können, dass ihre Familien
in den Betreuungszentren der Bundeswehr, auf die wir gar
nicht genügend Wert legen können, ein offenes Ohr fin-
den und dort mit ihren Alltagssorgen nicht allein bleiben.
Wir müssen in den kommenden Jahren noch einmal hier-
auf das Gewicht legen und dafür ausreichend Mittel und
Fachpersonal zur Verfügung stellen. Insofern ist mir die
betreffende Passage im Bericht der Wehrbeauftragten –
das sage ich ganz ehrlich, auch wenn ich mich an der
Stelle noch einmal ausdrücklich bei ihr bedanken möchte –
ein wenig kurz geraten.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409810200
Als letztem Redner in
dieser Aussprache erteile ich das Wort dem Kollegen
Rainer Arnold, SPD-Fraktion.


Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1409810300
Frau Präsidentin! Werte Kolle-
ginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Wehrbeauftrag-
te! Es ist natürlich eine Binsenweisheit, dass Zeiten
großen Wandels immer beides in sich bergen, Chancen
und Risiken. Die Bundeswehr steht vor der größten Re-
form seit ihrem Bestehen. Insofern verwundert es natür-
lich nicht, wenn die Wehrbeauftragte in ihrem Bericht fest-
stellt, dass sie unter den Soldaten auch Unsicherheit und
Frustration angesichts neuer Herausforderungen ausge-
macht hat. Wer aber wie die CDU, vor allen Dingen Sie,
Herr Breuer, und heute auch Herr Siemann, dies seit Wo-
chen wie auch heute zum Anlass nimmt, die Zu-
kunftsängste, die natürlich in jeder Firma vorhanden sind,
in der Umbrüche anstehen, weiter zu schüren, statt unse-
re Soldaten für ihre Zukunftsaufgaben zu motivieren, der
handelt wirklich ganz grob fahrlässig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wer unserer Truppe generell mangelnde Motivation
einzureden versucht, verspielt zum Schluss das
unglaublich große Potenzial an Kreativität und Leis-
tungswillen vieler hochmotivierter Soldaten und Sol-
datinnen, die wir für diesen Wandel ganz dringend
brauchen.

Der Bericht der Wehrbeauftragten ist naturgemäß ein
Mängelbericht. Zweifelsohne spürt die Bundeswehr die
erheblichen Mängel insbesondere bei der Ausrüstung und
beim Material. Dass die Wehrbeauftragte dies in allen
Berichten der letzten Jahre immer wieder anmahnen

musste, hat doch seinen Grund – das müssen wir immer
wieder sagen – in einer seit Jahren verfehlten Investitions-
politik.

Diese ist die Folge Ihrer Halbherzigkeit, meine Damen
und Herren von der Opposition,


(Peter Zumkley [SPD]: Richtig! So ist es!)

mit der Sie in den letzten Jahren an den Missständen in der
Bundeswehr herumgedoktert haben, anstatt sie zu besei-
tigen.


(Beifall des Abg. Peter Zumkley [SPD])

Jetzt gibt es etwas Neues: Seitdem der Verteidigungs-

minister Scharping heißt, werden die vorhandenen
Defizite zum ersten Mal offen benannt. Dies ist die
entscheidende Voraussetzung dafür, überhaupt etwas zu
verbessern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vor dem Hintergrund dieses offenen Benennens haben wir
natürlich das Anliegen, dass Zahlen korrekt wieder-
gegeben werden. Herr Siemann – der Minister hat es ja
heute wiederholt gesagt –, es ist nicht wahr, dass radikale
Einschnitte in den Haushalt vorgenommen wurden. Ich
will die genannten Zahlen nicht wiederholen, aber eine an-
dere, die nicht stimmt, noch einmal korrigieren. Sie haben
zwischen 1994 und 1998 im Verteidigungsetat 5,6 Mil-
liarden DM gestrichen und einfach weggenommen, ohne
über eine neue Struktur nachzudenken. Sie haben vorhin
behauptet, die SPD habe einen viel höheren Antrag zur
Streichung gestellt.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Genau so war es!)


– Dies ist falsch. Kaufen Sie sich einen Rechenschieber
oder einen Taschenrechner und rechnen Sie nach.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Haben Sie vergessen, was damals los war?)


Die Zahlen, die die damalige Opposition beantragt hat,
lauten in diesem genannten Zeitraum 1,88Milliarden DM
an Kürzung.


(Peter Zumkley [SPD]: So ist es gewesen!)

Wären Sie dem gefolgt, stünden wir heute an einem ganz
anderen Punkt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Paul Breuer [CDU/CSU]: Nehmen Sie zur Kenntnis, dass die deutsche Einheit kam!)


Eines ist schon interessant: Sie färben jahrelang schön
und jetzt sitzen Sie in der Opposition und machen eine
radikale Kehrtwende. Ohne Differenzierung malen Sie
jetzt tiefschwarz.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die ist tiefschwarz!)


Die moderne, den neuen Aufgaben gerecht werdende
Bundeswehr der Zukunft hat erst unter Rudolf Scharping
an Kontur gewonnen.




Ulrike Merten

9139


(C)



(D)



(A)



(B)


Es ist schon ein bisschen verwunderlich, Herr Raidel,
wenn Sie sagen, wir wüssten nicht, dass wir jetzt Verant-
wortung tragen. Wir stehen mitten in diesem Prozess.
Haben Sie doch noch ein paar Wochen Geduld! Es ist eine
Leistung, wenn in weniger als zwei Jahren neue wichtige
Eckpunkte offen und breit diskutiert werden, und zwar in
unseren Reihen, und wir diese Diskussion auch nach
außen mit der Gesellschaft haben wollen. Das ist eine
Grundvoraussetzung dafür, dass die Gesellschaft diesen
Wandel in den Streitkräften mitträgt.

Insofern, Herr Raidel, brauchen wir keine Belehrungen,
wenn es um interne Diskussionen geht. Schauen Sie erst
einmal in Ihren eigenen Reihen nach, was war, als Sie Ihr
Papier „Zukunft 2010“ vorgelegt haben. Fragen Sie ein-
mal bei CDU und CSU nach, ob das überhaupt abgestimmt
ist. Wenn Sie das geschafft haben, sind Sie vielleicht in der
Lage, mit uns seriös und gründlich über die Zukunft zu
debattieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Was kommt denn jetzt? Eine lange Diskussion oder eine schnelle Entscheidung, wie es der Minister will?)


Der Verteidigungsminister hat viel in Gang gebracht.
Ich nenne von diesen vielen Dingen nur ein Beispiel, den
Rahmenvertrag mit der Wirtschaft. Frau Marienfeld sagt
zu Recht, dass dies zu den großen Zukunftsaufgaben der
Bundeswehr gehören wird. Die Soldatinnen und Soldaten
draußen haben nicht Ängste, sondern setzen Hoffnung in
diesen Rahmenvertrag und in diesen Modernisierungs-
prozess.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Wann haben Sie den letzten Besuch gemacht?)


Ich bin sicher, diese Hoffnungen sind begründet. Sie er-
warten sich davon nämlich schnellere Entscheidungen,
mehr Flexibilität und besseren, effizienteren Einsatz des
Geldes.

Ich hoffe sehr, dass das Beharrungsvermögen von
manchen in Ihren Reihen, vielleicht auch auf der
Hardthöhe und in Koblenz, zum Schluss nicht größer als
die Motivation und der Wille zur Veränderung ist auf den
ich bei den Soldaten in der Truppe, nämlich jeden Tag,
wenn ich sie besuche, in dieser Frage treffe.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409810400
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist abgelaufen.


Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1409810500
Ich komme zum Schluss.
Durch dieses Projekt – das war nur ein Beispiel; es gibt

viele – würde der Wehrdienst in der Tat attraktiver. Es
eröffnen sich neue Perspektiven für Soldatinnen und Sol-
daten.

Der entscheidende Punkt ist: Sie haben es nicht
geschafft, neue, andere berufliche Perspektiven bei verän-
derten Herausforderungen zu öffnen und aufzuzeigen. Ich
bin sicher, dass auch der oder die Wehrbeauftragte der
Zukunft noch wichtiger sein wird, um diesen Reform-
prozess in den nächsten Monaten und Jahren zu begleiten.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Bei dieser Regierung ganz bestimmt!)


Er ist für die Soldaten nach innen wichtig.
Er ist aber auch für uns als Parlament wichtig. Er wird

erst dann eine richtige Grundlage sein, wenn die Opposi-
tion der Versuchung widersteht, den Bericht, in dem vieles
steht, von dem wir lernen können, parteipolitisch zu in-
strumentalisieren.

Die Soldatinnen und Soldaten haben es verdient, dass
wir uns ernsthaft und seriös mit den Problemen in den
Streitkräften auseinander setzen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409810600
Ich danke noch einmal
im Namen des Deutschen Bundestages der Wehrbeauf-
tragten des Deutschen Bundestages, Frau Marienfeld, für
ihre geleistete Arbeit.


(Beifall)

Ich kann die Aussprache noch nicht schließen, denn ich

gebe hiermit dem Kollegen Rauber das Wort zu einer
Kurzintervention.


Helmut Rauber (CDU):
Rede ID: ID1409810700
Frau Präsidentin! Lie-
be Kolleginnen und Kollegen! Sechs Punkte zur Klar-
stellung:

Erstens. Richtig ist – wenn man die 2 Milliarden DM
aus dem Einzelplan 60 dazu zählt –, dass der Verteidi-
gungshaushalt 2000 nominal höher liegt als 1998. Aber
Umsatz ist nicht gleich Gewinn. 1998 standen auf dem
Balkan 2 700 Soldaten. Zwischenzeitlich wurde dort ein
Krieg geführt. Ende 1999 waren es 9 000 Soldaten.

Zweitens. Es ist schlicht und einfach falsch, zu be-
haupten, dass sich in den letzten Jahren innerhalb der Bun-
deswehr nichts verändert hätte. Wir hatten 1995 unter der
Regierung Kohl die Wehrstrukturreform eingeleitet, nicht
aus Lust an der Veränderung, sondern weil die sicherheits-
politische Lage es erforderte. Sie waren es, die höhere
Friedensdividenden eingefordert haben. Wir haben sie er-
möglicht. Es muss die Tatsache beachtet werden, dass es
den Warschauer Pakt nicht mehr gibt, dass die deutsche
Einheit in Frieden und Freiheit realisiert wurde und dass
wir nicht mehr an der Grenze, sondern in der Mitte des
Bündnisses liegen.

Drittens. Richtig ist, dass die Bundeswehr zu unserer
Zeit unterfinanziert war. Richtig ist aber auch, dass Sie in
der Vergangenheit Anträge nicht auf Erhöhung, sondern
auf Senkung des Haushaltes gestellt haben.

Viertens. Wer die Zeitungsberichte über den Bericht
der Wehrbeauftragten gelesen hat, der konnte die
Schlagzeile „Zwischen Zynismus und Resignation“ lesen.
Wir müssen diese Feststellung ernst nehmen. Wer ver-
drängt, löst keine Probleme. Auch gegenseitige
Schuldzuweisungen führen nicht zum Ziel.




RainerArnold
9140


(C)



(D)



(A)



(B)


Fünftens. Frau Kollegin Lippmann, ich weise mit aller
Entschiedenheit Ihre Vorwürfe zurück, dass die Reservis-
ten nationalistisch eingestellt seien. Wir haben in unserem
Verband 138 000 Mitglieder. Wir gehen jedem Vorwurf
nach. Wann immer es ein Fehlverhalten gegeben hat, wird
es abgestellt. Ich weise Ihre Vorwürfe zurück, die Sie in
schändlicher Form verallgemeinert vorgetragen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Sechstens. Wir als CDU/CSU-Fraktion sind für ein
konstruktives Miteinander. Es geht um unser aller Sicher-
heit. Es mag für den einen oder anderen wie eine Phrase
klingen, wenn gesagt wird: Frieden und Freiheit ist nicht
alles, aber ohne Frieden und Freiheit ist alles nichts.

Wir als CDU/CSU-Fraktion sind für einen konstrukti-
ven Dialog, was wir im Zusammenhang mit der Diskus-
sion über den Bericht der Wehrstrukturkommission unter
Beweis stellen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409810800
Ich schließe nunmehr
die Aussprache und danke Frau Marienfeld noch einmal
sehr herzlich. Es ist sicherlich richtig, dass man sie gar
nicht genug loben kann.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/2900 an den in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschuss vorgeschlagen. Gibt es anderweitige
Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.

Wir kommen zu den Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.

Ich rufe zunächst die Tagesordnungspunkte 13 a und
13 b auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Senkung der Steuersätze und zur Reform der
Unternehmensbesteuerung

(Steuersenkungsgesetz – StSenkG)

– Drucksache 14/3074 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der
Vierten Änderung des Übereinkommens
über den Internationalen Währungsfonds

(IWF)


–Drucksachen 14/3075 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu über-
weisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Wir kommen jetzt zu Beschlussfassungen über weitere
Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 a auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll von
1996 zur Änderung des Übereinkommens
von 1976 über die Beschränkung der Haf-
tung für Seeforderungen
– Drucksache 14/2696 –

(Erste Beratung 90. Sitzung)

Zweite Beratung und dritte Beratung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Ausführungesetzes zu dem Protokoll
von 1996 zur Änderung des Übereinkom-
mens von 1976 über die Beschränkung der
Haftung für Seeforderungen
– Drucksache 14/2697 –

(Erste Beratung 90. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechts-
ausschusses

(6. Ausschuss)

– Drucksache 14/3051–
Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Stünker
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
Volker Beck (Köln)

Rainer Funke

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Übereinkommens von 1976 über die Beschränkung
der Haftung für Seeforderungen auf Drucksache 14/2696.
Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/3051
unter Buchstabe a, den Gesetzentwurf unverändert anzu-
nehmen. Wer dem zustimmen will, den bitte ich um das
Handzeichen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Damit ist
die Beschlussempfehlung einstimmig angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Ausführungs-
gesetzes zur Änderung des Übereinkommens von 1976
über die Beschränkung der Haftung für Seeforderungen
auf Drucksache 14/2697. Der Rechtsausschuss empfiehlt
auf Drucksache 14/3051 unter Buchstabe b, den Geset-
zentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das




Helmut Rauber

9141


(C)



(D)



(A)



(B)


Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
angenommen.

Wir kommen zur,
dritten Beratung

und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
dagegen stimmen möchte, darf sich jetzt erheben. – Wer
enthält sich? – Auch dieser Gesetzentwurf ist einstimmig
angenommen.

Tagesordnungspunkt 14 b:
Beratung und Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)

zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Vorschlag für eine Richtlinie des Euro-
päischen Parlamentes und des Rates über
nationale Emissionshöchstgrenzen für be-
stimmte Luftschadstoffe
Vorschlag für eine Richtlinie des euro-
päischen Parlamentes und des Rates über
den Ozongehalt der Luft
– Drucksachen 14/1936 Nr. 1.4, 14/2987 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Rainer Brinkmann (Detmold)

Dr. Paul Laufs
Winfried Hermann
Ulrike Flach
Eva-Maria Bulling-Schröter

Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner
Beschlussempfehlung, die Vorschläge der genannten EU-
Richtlinien zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 14 c:
Beratung und Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)

zu der Verordnung der Bundesregierung
Erste Verordnung zur Änderung der Ver-
packungsverordnung
– Drucksachen 14/2810, 14/2947 Nr. 2.1,
14/3064 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Marion Caspers-Merk
Werner Wittlich
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Eva-Maria Bulling-Schröter

Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung zuzustim-
men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –

Gegenprobe! –Enthaltungen? – Bei Enthaltung der PDS ist
die Beschlussempfehlung angenommen.

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Peti-
tionsausschusses:

Tagesordnungspunkt 14 d:
Beratung und Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 140 zu Petitionen
– Drucksachen 14/2998 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Bei Enthaltung der PDS ist Sammelüber-
sicht 140 angenommen.

Tagesordnungspunkt 14 e:
Beratung und Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 141 zu Petitionen
– Drucksachen 14/2999 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Bei Enthaltung der PDS ist Sammelüber-
sicht 141 angenommen.

Tagesordnungspunkt 14 f:
Beratung und Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 142 zu Petitionen
– Drucksachen 14/3000 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Sam-
melübersicht 142 ist einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 14 g:
Beratung und Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 143 zu Petitionen
– Drucksachen 14/3001 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Gegen die
Stimmen der PDS ist Sammelübersicht 143 angenommen.

Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 29.
November 1996 aufgrund von Artikel K.3 des
Vertrages über die Europäische Union betref-
fend die Auslegung des Übereinkommens über
den Schutz der finanziellen Interessen der Eu-
ropäischen Gemeinschaften durch den Ge-
richtshof der Europäischen Gemeinschaften im
Wege der Vorabentscheidung

(EG-Finanzschutz-Auslegungsprotokollgesetz)





Vizepräsidentin Anke Fuchs
9142


(C)



(D)



(A)



(B)


– Drucksachen 14/2120 –

(Erste Beratung 76. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechts-
ausschusses

(6. Ausschuss)

Berichterstattung:
Abgeordnete Winfried Mante
Dr. Susanne Tiemann
Hans-Christian Ströbele
Rainer Funke

Was immer das auch sein mag, der Rechtsausschuss
empfiehlt auf Drucksache 14/3092, den Gesetzentwurf
unverändert anzunehmen.


(Heiterkeit bei der SPD)

Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Gegenprobe! – Der
Gesetzentwurf ist damit einstimmig in zweiter Lesung
angenommen.

Wir kommen zur Schlussabstimmung: Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu er-
heben. – Wer stimmt dagegen? – Auch dieser Gesetzen-
twurf ist einstimmig angenommen worden.

Ich habe Sie vorhin bei Tagesordnungspunkt 14 b
vergessen zu fragen, ob Sie der Ausschussempfehlung
unter Nr. 2 zustimmen wollen. Wer mir darin folgen mag,
den bitte ich um das Handzeichen. – Gegenprobe! – Die
Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich glaube, das
können wir so machen. Damit habe ich das berichtigt. Ich
bitte um Entschuldigung.

Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Bericht der Bundesregierung über die Er-
gebnisse derVerhandlungen zum Biosicher-
heits-Protokoll
– Drucksachen 14/3071 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten-
Ausschuss für Umweltschutz, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit

Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer inter-
fraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine
Dreiviertelstunde vorgesehen. – Das ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin An-
drea Fischer das Wort.


Andrea Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409810900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Titel die-
ses Protokolls ist nicht ganz so schwierig wie das Gesetz,
das wir gerade verabschiedet haben; gleichwohl hat es bis-
lang nicht ganz die Aufmerksamkeit gefunden, die ich ihm
wünschen würde.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)


Wir haben in Montreal das Ende eines acht Jahre
währenden Prozesses erlebt und endlich die Verständi-
gung auf das Protokoll über die biologische Vielfalt er-
reicht, was ich nicht nur für einen Meilenstein in der
internationalen Politik in Sachen Gen- und Biotechnolo-
gie halte, sondern auch für einen Meilenstein in der inter-
nationalen Politik, über Mindeststandards eine Verallge-
meinerung von Verbraucherschutz und Gesundheits-
schutz herzustellen.
Das war ein großer Erfolg, der viele Väter und Mütter hat
und der auf jeden Fall eine entsprechende Würdigung ver-
dient.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Apropos Väter und Mütter: Es war sehr bedeutsam,
dass der kolumbianische Umweltminister engagiert
dafür gearbeitet hat. Aber es war auch ein wesentliches
Moment des Erfolges, dass die EU-Minister, die dort
waren, also die Umweltminister bzw. im Fall der Bun-
desrepublik Deutschland die Gesundheitsministerin, sehr
stark zusammengearbeitet haben und damit eine starke
Verhandlungsposition hatten. Ich habe das als eine prak-
tizierte Form der gemeinsamen europäischen Politik erlebt
und das war eine sehr gute Erfahrung.

Das Protokoll – ich habe es gerade gesagt – hat eine
lange Vorgeschichte, die 1992 in Rio begonnen und sich
dann in vielen einzelnen Konferenzen fortgesetzt hat. Ich
glaube, es war, auch mit Blick auf die Diskussionen, die
es im Vorfeld zur Seattle-Konferenz gegeben hat, eine er-
mutigende Entwicklung, die gezeigt hat, dass wir mit-
einander sprechen können und gemeinsame Verabre-
dungen treffen können.

Ich will kurz auf den Gegenstand dieses Protokolls zu
sprechen kommen. Einerseits besteht die Verabredung,
dass der Export gentechnisch veränderter Organismen, mit
Ausnahme von Humanarzneimitteln, einer vorherigen
Ankündigung und der Zustimmung des Importlandes be-
darf. Das heißt, dass diese gentechnisch veränderten Or-
ganismen nicht ohne Wissen des Landes, in das sie ex-
portiert werden sollen, bewegt werden können. Es müssen
eine Information und eine Prüfung erfolgen und es wird
die aktive Zustimmung benötigt.

Andererseits haben wir für gentechnisch hergestellte
Organismen, die als Lebensmittel, Futtermittel oder für die
Weiterverarbeitung bestimmt sind, eine von dem Er-
fordernis der aktiven Zustimmung abweichende
Regelung. Die Vorschriften sind weicher.

Wir haben eine Kennzeichnungsregelung verabredet.
Das war das, was in den nicht ganz einfachen Verhand-
lungen, vor allem mit der Miami-Gruppe, USAund Kana-
da, machbar war. Ich will ausdrücklich noch einmal sagen:
Die EU-Standards in Sachen Kennzeichnung sind höher
und von diesem Protokoll unberührt. Wir haben dafür
gekämpft, unsere hohen Standards allgemein durchzuset-
zen, aber das haben wir nicht ganz erreicht. Wir müssen
jetzt innerhalb von zwei Jahren eine Entscheidung über die




Vizepräsidentin Anke Fuchs

9143


(C)



(D)



(A)



(B)


detaillierten Kennzeichnungsanforderungen treffen.
Deutschland wird dabei eine ausgesprochen verbraucher-
schutzfreundliche Position einnehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich habe eben schon auf Seattle verwiesen. Ein zen-
traler Punkt neben dem nicht einfach zu verhandelnden
Punkt, das Vorsorgeprinzip zum Gegenstand dieser in-
ternationalen Vereinbarung zu machen, ist die Verabre-
dung, dass dieses Protokoll gleichrangig mit anderen in-
ternationalen Vereinbarungen betreffend den Welthandel
ist. Das war ein echter Durchbruch, der hart erkämpft wer-
den musste. Damit haben wir verhindert, dass das Pro-
tokoll nur eine sehr begrenzte Wirkung entfaltet, was der
Fall gewesen wäre, wenn es nachrangig zum Beispiel
gegenüber den WTO-Bestimmungen gewesen wäre. Ich
bin sehr froh, dass dieser Durchbruch gelungen ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir werden weiter daran arbeiten müssen, das Protokoll
umzusetzen. Es muss erstens ratifiziert werden, wofür sich
die Bundesregierung einsetzen wird. Das heißt, sie wird es
nicht nur selbst ratifizieren, sondern auch bei anderen
Staaten für die Ratifizierungwerben. Zum Zweiten muss
darüber nachgedacht werden, wie die Umsetzung in die
Realität des internationalen Handels gelingen kann. Das
bedeutet vor allen Dingen eine Unterstützung der betref-
fenden Länder bei der Kennzeichnung, Überprüfung, In-
formation und Wissensgewinnung.

Wir haben hier eine internationale Vereinbarung über
den Handel mit gentechnisch veränderten Organismen und
damit über eine Materie, die nicht zuletzt in unserem Land
häufig Gegenstand sehr kontroverser Debatten ist, was
man, wie ich meine, auch an den zu einer späteren Debat-
te vorliegenden Entschließungsanträgen sehen kann. Ich
glaube, das Protokoll sollte uns auch in dieser Hinsicht
Vorbild und Aufforderung sein.Ich denke, es ist trotz der
Kontroverse, die wir in diesem Bereich haben, möglich,
die Biotechnik und Gentechnik sowohl als eine Schlüs-
seltechnologie als auch eine Risikotechnologie zu betra-
chten. Bei einer Verfolgung neuer Technologien ist es
notwendig – dies entspricht dem modernen Standard auch
in anderen Industriezweigen –, eine Technologiefolgen-
abschätzung vorzunehmen. Vor allem in diesem Bereich
müssen wir weiterkommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn man die öffentliche Diskussion in diesem Bere-
ich betrachtet, stellt man fest, dass es in der öffentlichen
Wahrnehmung einen deutlichen Unterschied zwischen der
so genannten roten und der grünen Gentechnik gibt. Wenn
es zum Beispiel um die Entwicklung von Medikamenten
geht, gibt es in der Bevölkerung eine sehr große Akzep-
tanz, weil ein Nutzen gesehen wird. Das ist für uns aber
kein Freifahrtschein, nicht auch die in diesem Zusam-
menhang aufgeworfenen schwierigen ethischen Fragen
und die Problematik, welche langfristigen Folgen diese
Eingriffe, die wir am menschlichen Erbgut vornehmen,
haben werden, zu berücksichtigen. Diese Fragen müssen
immer wieder auf die Agenda gesetzt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Ich halte es für einen gewaltigen Fehler, wenn diese kri-
tischen Fragen und auch Überlegungen über die Grenzen
dessen, was wir tun dürfen, einfach als wirtschafts- bzw.
technologiefeindlich abgetan werden. Ich halte es
vielmehr für geboten, dass sie berücksichtigt werden. Das
sind wir übrigens auch den Menschen schuldig, die, wie
ich meine zu Recht, mit einer gewissen Skepsis fragen:
Wie weit gehen wir da eigentlich? Wollen wir überhaupt
so weit gehen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich glaube übrigens auch, dass diejenigen, die die Chan-
cen dieser neuen Technologien in den Vordergrund stellen,
sich selber einen Bärendienst erweisen. Das kann man vor
allen Dingen bei der grünen Gentechnik sehen. Dort steht
die Frage, was uns das nützt, ganz oben auf der Tagesord-
nung.

Für die Verfechter dieser Technologien ist es nicht im-
mer einfach, eine entsprechende Antwort zu geben. Wenn
man den Wettbewerb und die Vorstellung von souveränen
Verbraucherinnen und Verbrauchern ernst nimmt,
dann muss man auf diese Fragen gute Antworten finden.
Diese Antworten werden weitergehen müssen, als nur ab-
strakt auf die Möglichkeit, damit den Hunger in der so
genannten Dritten Welt bekämpfen zu wollen, zu ver-
weisen, wenn es in Wirklichkeit darum geht, dass diese
Technologie für die Lebensmittelindustrie ein einfacheres
und günstigeres Produktionsverfahren darstellt. So ein-
fach wird eine Akzeptanz dieser Technologie nicht zu
haben sein. Dafür fragen die Verbraucherinnen und Ver-
braucher zu genau nach und ich halte es für richtig, dass
sie so genau nachfragen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Gerade auch die Freunde des Wettbewerbs werden sich
der inzwischen neu entstandenen Dimension stellen
müssen, dass wir es mit sehr kritischen Verbraucherinnen
und Verbrauchern zu tun haben und dass sie von uns ver-
langen, Bedingungen zu schaffen, damit sie die Informa-
tionen, die sie haben wollen, einholen können, um, auf
diese Weise aufgeklärt, eine angemessene Entscheidung
treffen zu können. Deshalb halte ich es weder für geboten,
diese Technologie in Bausch und Bogen abzulehnen, noch
für richtig, zu glauben, jeder, der kritische Nachfragen
nicht nur unterstützt, sondern sie geradezu herausfordert,
sei ein Ewiggestriger.

In diesem Sinne werden wir seitens der Bun-
desregierung unsere Politik, die auf informierte und
aufgeklärte Verbraucherinnen und Verbraucher setzt, fort-
setzen. Ich meine, dass wir – neben den verhältnismäßig
strengen EU-Standards – in dem Bio-Safety-Protocol, in
das diese kritische Debatte über die Gentechnologie einge-
flossen ist, die Länder der so genannten Dritten Welt, in
denen es um Fragen der Entwicklung geht, sehr stark un-
terstützt haben. Das ist – so groß der Erfolg auch ist, dass
wir das Bio-Safety-Protocol verabredet haben – eine




Bundesministerin Andrea Fischer
9144


(C)



(D)



(A)



(B)


Arbeit, die jetzt erst so richtig beginnt. Es geht dabei um
die Durchführung und die Etablierung der erforderlichen
Institutionen, damit dieses Protokoll mit Leben erfüllt
werden kann. Wir als eine Regierung, die sich gerade ein-
er kritischen Unterstützung dieser Technologien ver-
pflichtet fühlt, wollen dies tun. Wir werden auch in den
Ländern dafür werben, die dem Biosicherheits-Protokoll
bislang ausgesprochen distanziert gegenüberstehen.

Ich glaube, das sollte uns ein Beispiel geben, wie man
auch in Deutschland über diese heiß umstrittenen Tech-
nologien debattieren kann. Es ist möglich, in diesem Be-
reich Verbraucherstandards festzuschreiben, und zwar
sogar in internationalem Maßstab. Dies wiederum weist
über die Debatte um die Gentechnik hinaus.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409811000
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Peter Paziorek.


Dr. Peter Paziorek (CDU):
Rede ID: ID1409811100
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Die Bio- und Gentechnologie
ist neben der Informationstechnologie eine der Schlüs-
seltechnologien des 21. Jahrhunderts. Deutschland, das bei
der Entwicklung und Erforschung in diesem Bereich bis-
lang zurücklag, hat eine bemerkenswerte Aufholjagd ge-
startet und zu den Biotechnologienationen USA und
Großbritannien aufgeschlossen.

Nach dem Bericht von Frau Ministerin Fischer sage ich
ganz deutlich: Wir, die CDU/CSU-Fraktion, begrüßen den
Bericht der Bundesregierung über die Ergebnisse der Ver-
handlungen zum Biosicherheits-Protokoll.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist der Ansicht, dass
dieses Sicherheitsprotokoll eine hervorragende Grundlage
abgeben kann, weltweite Rahmenbedingungen und Stan-
dards für den Umgang mit der Bio- und Gentechnologie
zu setzen. Für die Bürgerinnen und Bürger der Europä-
ischen Union ändert sich aufgrund der europarechtlichen
Situation konkret nichts; das haben Sie schon ausgeführt.
Zum ersten Mal aber wird durch dieses internationale
Abkommen der Ex- und Import solcher Produkte
verbindlich geregelt. Damit wird eine wesentliche Lücke
des internationalen Rechts geschlossen.

Das Biosicherheits-Protokoll soll Menschen und
Umwelt in den Unterzeichnerländern – die Unterzeich-
nung muss noch erfolgen – vor Schäden durch Lebens-
mittel, Saatgut, Tiere und Tierfutter sowie Bakterien, die
gentechnisch manipuliert sind, schützen. Das Abkommen
erlaubt allen Ländern, den Import gentechnologischer Pro-
dukte im begründeten Zweifelsfall abzulehnen. Es
schreibt den Exportländern vor, die Informationen über die
Produkte offen zu legen und die Produkte entsprechend zu
kennzeichnen. Diese Zielsetzung unterstützen wir aus-
drücklich.

Dies sage ich ganz deutlich, weil ich heute meine erste
Rede als neuer umweltpolitischer Sprecher unserer Frak-
tion halte: Es ist nicht unser Anliegen, bei solch wichtigen
Fragen, die unsere Zukunft und eine Zukunftstechnologie
berühren, reflexhaft Oppositionspolitik zu betreiben nach
dem Motto: Wir müssen immer eine andere Position
vertreten als die Bundesregierung.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Eine kleine Spitze muss ich dem aber aufsetzen.

(René Röspel [SPD]: Dann nehmen wir den Beifall zurück!)

Wir haben natürlich aus den Problemen, die Sie gerade in
der internationalen Umweltpolitik haben, gelernt. Sie
haben über Jahre hinweg die Politik von Professor Töpfer
und Frau Merkel in Sachen internationaler Klimaschutz im
Bundestag massiv bekämpft und gesagt, das sei zu wenig,
es müsse mehr unternommen werden. Nun rühmen Sie
sich in internationalen Konferenzen damit, den einge-
schlagenen Kurs fortzusetzen, und haben Schwierig-
keiten, sich von Ihrer damaligen Oppositionsrhetorik zu
entfernen. Aus diesem Fehler haben wir gelernt. Wenn wir
im Jahr 2002 an die Regierung kommen, wollen wir eine
saubere Oppositionspolitik nachweisen können. Ich sage
dies aber auch in tiefer Überzeugung von der Sache, Frau
Ministerin Fischer.


(Beifall bei der CDU/CSU – Rene Röspel [SPD]: Wahrscheinlich müssen Sie noch ein bisschen üben!)


Dieser Aspekt ist wichtig, weil er über den Gesund-
heits- und Umweltaspekt hinausgeht; er berührt die
gesamte deutsche Forschungslandschaft. Deshalb muss
dieses Thema im Diskurs mit allen Beteiligten und allen
gesellschaftlichen Gruppen erörtert werden. Wir begrüßen
auch ausdrücklich – Sie haben es gerade dargestellt, Frau
Ministerin – die Verankerung des Vorsorgeprinzips im
Protokoll. Dies spiegelt ein gutes Stück deutscher Um-
welt- und Gesundheitspolitik wider, die wir seit Jahrzehn-
ten gepflegt haben. Aus diesem Grunde besteht unserer-
seits kein Anlass, uns von einer Politik, die dies niederlegt,
abzuwenden.

Gleichwohl erfüllt es uns mit Sorge, wenn die Bun-
desregierung dann in der nationalen Politik die Freiset-
zung von Genmais ver- oder behindert. Ich denke dabei
an die Entscheidung, die Sie Mitte Februar vor Eröffnung
des Landtagswahlkampfes in Schleswig-Holstein getrof-
fen haben. Dieses Handeln nährt auf nationaler Ebene die
Befürchtung, dass die positiven Einzelerklärungen der
Bundesregierung – ich denke auch an Äußerungen von
Bundeslandwirtschaftsminister Funke – bloße Rhetorik
sind.

Das Vorsorgeprinzip darf aber nicht missbraucht wer-
den; das sage ich sehr deutlich. Leider wird bezüglich
Ihrer Entscheidung im Februar dieses Jahres, den Anbau
von BT-Mais im Freilandversuch auszusetzen, angesichts
des Wahlkampfes in Schleswig-Holstein gemutmaßt, es
könne hier ein Missbrauch des Vorsorgegedankens vor-
liegen. Wir müssen aufpassen, dass solch wichtige




Bundesministerin Andrea Fischer

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(C)



(D)



(A)



(B)


Prinzipien auf nationaler Ebene im konkreten Einzelfall
nicht so eingesetzt werden, dass eine sinnvolle Prüfung der
Gentechnologie verhindert wird. Wir werden also immer
wieder prüfen, ob Reden und Handeln seitens der Regie-
rung übereinstimmen, und die Öffentlichkeit darüber in-
formieren, wenn wir der Meinung sind, dass sich Ihr Han-
deln anders darstellt, als Sie es politisch formuliert haben.

Deshalb sage ich für die CDU/CSU-Bundestagsfrak-
tion ganz deutlich: Die Biotechnologie muss sich kritis-
chen Fragen stellen. Sie muss sich auch der Forschung
stellen. Sie muss sich den Einwänden stellen. Sie darf aber
nicht dem parteipolitischen Kalkül geopfert werden. Wir
müssen darauf achten, dass ein sorgfältiger, wis-
senschaftlicher Prozess durchgeführt wird, der belastbare
Entscheidungsgrundlagen abgibt.

In der Medizin, in der Pharmazie und im Bereich der
nachwachsenden Rohstoffe, aber insbesondere auch bei
der Ernährung wird – da unterscheiden wir uns in Nuan-
cen bei der Beurteilung, Frau Ministerin Fischer – aus un-
serer Sicht die Bio- und Gentechnologie in den nächsten
Jahrzehnten eine bedeutende Rolle spielen – nicht nur in
Teilbereichen, wie Sie es angesprochen haben.

Der Hunger in der Welt kennt heute viele Ursachen.
Bei einem von vielen Experten vorausgesagten Bevöl-
kerungswachstum und der weiteren Reduzierung der land-
wirtschaftlichen Nutzfläche könnte jedoch der Tag kom-
men, an dem die Menschheit ohne den Einsatz der mo-
dernen Gen- und Biotechnologie nicht mehr ernährt wer-
den kann. Deshalb wird daran gearbeitet, durch die
Entwicklung hitze-, kälte- und salzresistenter Pflanzen
auch Problemzonen wie zum Beispiel die Sahelzone
wieder nutzbar zu machen.

Darüber hinaus kann die Bio- und Gentechnologie
wertvolle Hilfe im Umweltschutz leisten. Der Einsatz
gentechnisch veränderter Pflanzen kann zum Beispiel den
Einsatz umweltbelastender chemischer Pflanzen-
schutzmittel, also den Einsatz der Herbizide, reduzieren
und eines Tages vielleicht sogar ganz entbehrlich machen.

Während die Anwendung der Gen- und Biotechnologie
bei der Herstellung von Medikamenten heute weitgehend
akzeptiert ist, gibt es im Bereich der Pflanzen, insbeson-
dere im Bereich der Lebensmitteltechnologie, weltweit –
das ist zu Recht gesagt worden – eine Akzeptanzkrise.
Zum Teil ist diese Akzeptanzkrise durch – auch das sage
ich deutlich – übertriebene Panikmache verschiedener Or-
ganisationen hervorgerufen worden. Zum Teil trägt die
betreffende Industrie – da stimme ich Ihnen, Frau Minis-
terin, ausdrücklich zu – einen Teil der Verantwortung, da
sie zunächst, gerade aus dem amerikanischen Bereich
kommend, versucht hat, diese Technologie ohne
gründliche Information des Verbrauchers einzuführen.
Das musste scheitern, und das war auch kein richtiger
Weg.

Mittlerweile haben sich auch in den USA die Einstel-
lungen gewandelt. Die Industrie hat erkannt, dass sie die
Biotechnologie den Verbrauchern nicht aufzwingen kann.
Den Gegnern der neuen Technologie ist andererseits klar
geworden, dass auch ein Verbot und damit die Ablehnung
einer solchen Technologie einer belastbaren und nach-

weisbaren Begründung bedarf. Die Tatsache, dass die
amerikanischen Farmer die Entscheidung für oder gegen
den Anbau genetisch veränderter Getreidesorten von der
Akzeptanz ihrer Produkte auf dem Weltmarkt abhängig
machen – sie wollen ihre Produkte verkaufen; das ist
nachvollziehbar –, hat für eine Sensibilisierung der
amerikanischen Agrarindustrie gesorgt. Ich glaube, das
sind gemeinsame Erfahrungen, die wir, mehrere Abge-
ordnete, im Herbst des vergangenen Jahres gemacht
haben, als wir uns bei einem USA-Aufenthalt mit dieser
Thematik befasst haben.

Diese veränderten Einstellungen können die Grundlage
eines konstruktiven Dialogs zwischen den Beteiligten
werden. Befürworter wie Gegner der grünen Gentech-
nologie haben jeweils im Einzelfall gute Argumente für
ihre Positionen. Je nach Art und Richtung des Technolo-
gieeinsatzes können erwünschte und unerwünschte Folgen
auftreten. Die Vorteile zu maximieren und die Nachteile zu
minimieren, das ist die Aufgabe der Forschung, der Poli-
tik des Bundestages und natürlich der Gesellschaft.
Schwarzweißmalerei, wie sie bis vor einigen Jahren noch
hier bei uns vorkam, ist völlig fehl am Platze. Benötigt
wird ein konstruktiver Dialog zwischen Wissenschaft,
Wirtschaft, Nichtregierungsorganisationen und Politik mit
der Bereitschaft zu Zugeständnissen bei allen Beteiligten.

Dass Risiken nicht gänzlich auszuschließen sind, liegt
auf der Hand. Von Pflanze zu Pflanze, von Anwendung zu
Anwendung können sich die angeführten Risiken
durchaus unterschiedlich darstellen. Über die meisten ver-
muteten Risiken liegen zurzeit noch keine gesicherten
Erkenntnisse vor. Es wird der Bereich der Allergien ange-
sprochen. Deshalb ist es richtig, dass die EU sagt, dass im-
mer auf Allergenität getestet werden muss. „Anti-
biotikaresistenzen“ ist ein Reizwort. Aber es muss gefragt
werden, ob nicht auch in anderen Bereichen Antibiotika zu
stark eingesetzt werden und ob das Problem tatsächlich in
diesem Bereich liegt.

Wir müssen die Möglichkeit sehen, dass gentechnisch
veränderte Pflanzen andere Lebewesen in der Natur beein-
trächtigen. Die Diskussion über den Schmetterling
„Monarch“, der – so sagt eine Studie – geschädigt wor-
den ist, ist uns allen bestens bekannt. Aber es muss unter-
sucht werden, ob diese Studie belastbar ist und ob die
Probleme, die dieser Schmetterling beim Überleben in
einem Freilandfeld hat, auf diesen Mais zurückzuführen
sind oder ob andere biologische Rahmendaten zu diesem
Problem geführt haben. Ich sage das mit aller Vorsicht,
weil das Problem bekannt ist. Wir müssen dieser Pro-
blematik nachgehen.

Bei all diesen Problemen im mehr biologisch-umwelt-
politischen Bereich muss ein Gesichtspunkt ganz deutlich
angesprochen werden: das Leitbild des selbstverant-
wortlichen Verbrauchers. Der Verbraucher muss in die
Lage versetzt werden, eine Einzelfallentscheidung treffen
zu können. Das heißt, es muss eine saubere Kennzeich-
nung verlangt werden. Jeder von uns, der sich mit dem
Thema befasst, weiß, dass die Kennzeichnung im 1-
Prozent-Bereich problematisch sein kann. Die Frage ist al-
so, ab wann und in welcher Größenordnung muss etwas
vorliegen, damit auch gekennzeichnet werden muss. Der




Dr. Peter Paziorek
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(D)



(A)



(B)


Grundsatz muss aber klar sein. Wir haben das Leitbild des
selbstverantwortlichen Verbrauchers. Der Verbraucher
muss alle Informationen bekommen, um eine selbstver-
antwortliche Entscheidung treffen zu können. All die
Überlegungen, die es einmal in ausländischen Indus-
triezweigen gab – es gibt kein gesundheitliches Problem,
der Verbraucher braucht keine Entscheidung zu treffen
und deshalb brauchen wir das nicht zu kennzeichnen –,
halten wir für falsch. Die Kennzeichnungspflicht bedeutet
größtmögliche Transparenz, deshalb sprechen wir uns
auch für eine solche Politik aus.

Wir brauchen natürlich die Freisetzung, also den Frei-
landversuch.Damit korrespondierend brauchen wir auch
die kritische Begleitung von Freisetzungen, das ist ganz
klar. Aber ich warne davor, hier mit verhärteten Fronten,
wie wir sie in der Umweltpolitik zum Beispiel in Sachen
Gorleben haben, zu diskutieren. Man weiß heute schon,
obwohl die Versuche noch gar nicht zuende sind, dass der
Salzstock in Gorleben nicht geeignet ist – so sagt es eine
Richtung. Wir sind aber der Ansicht, die Versuche sind
noch gar nicht zuende gefahren. Genau den Fehler darf
man hier nicht machen.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Die Ergebnisse sind besser als gedacht!)


– Ja, Herr Hirche. Da haben Sie Recht.
Es kann aber auch nicht angehen, dass man – weil zum

Beispiel ein Institut Bedenken in einem Gutachten
geäußert hat – sagt: Die ganze Entwicklung in diesem
Bereich kann nicht stattfinden und wir verzichten auf
Freilandversuche. Die Konsequenz muss sein, dass gerade
diese Freilandversuche sehr sauber und mit einem stren-
gen Monitoring begleitet werden. Man muss aber auch den
Mut haben zu sagen, wir probieren es aus, weil wir nicht
wissen, ob die Risiken tatsächlich vorhanden sind. Wir
machen die Freilandversuche ja gerade deshalb, um
Ergebnisse für eine Risikobeurteilung zu bekommen.
Deshalb halte ich es manchmal für bedenklich, so einfach
von vornherein Freilandversuche zu bekämpfen.

Das bedeutet also, das Biosicherheits-Protokoll stellt
eine hervorragende Grundlage zur Weiterentwicklung
dieses technologischen Bereichs dar. Es wird aber darauf
ankommen, ob wir in der praktischen Umsetzung tatsäch-
lich all die Chancen nutzen, die gegeben sind. Wenn wir
einerseits international ein solches Protokoll loben und in
der praktischen Umsetzung hier in Deutschland anderer-
seits Barrikaden, Barrieren und Hindernisse aufbauen,
dann ist das hohle Rhetorik. Ich sage deshalb noch einmal,
wir hatten die Vermutung, dass es hier zu einer Doppel-
strategie kommt: Die Regierung lobt die internationalen
Aktivitäten und vor der schleswig-holsteinischen Land-
tagswahl wird die Freisetzung von BT-Mais hier in
Deutschland gestoppt, nur um vielleicht eine parteipo-
litische Klientel zufrieden zu stellen.

Es gibt Informationen darüber, Frau Ministerin, dass
sich seit dem letzten Wochenende ihre Stopp-Politik etwas
aufgeweicht hat und dass in Sachen BT-Mais eine neue
Situation eingetreten ist. Es wäre interessant, gleich zu
hören, ob tatsächlich eine neue Situation eingetreten ist
und ob Sie Ihre Reserviertheit vom Februar dieses Jahres

aufgegeben haben. Die interessierte Öffentlichkeit wird
sehr gespannt darauf sein, diese Informationen zu erhalten.

Ich bin auch der Ansicht – das ist auch die Forderung
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion –, dass die Europä-
ische Union von einem überzogenen Moratorium bei der
Zulassung von gentechnisch veränderten Organismen Ab-
stand nehmen sollte. Aus politischen Gründen ist gerade
ein breites Zulassungsverfahren auf der europäischen
Ebene gestoppt worden. Die fachlichen Zweifel, die da
sind, rechtfertigen nicht den derzeitigen Zustand, den
totalen Stopp bei Freisetzungsverfahren auf europäischer
Ebene. Hier muss einiges geschehen, damit wir auch wis-
senschaftlich im Vergleich mit den Konkurrenten in Japan
und Nordamerika nicht verlieren.

Hier bleibt die Bundesregierung aufgefordert zu han-
deln, um nicht ein Stück deutscher Zukunft zu verspielen.
Die CDU/CSU-Fraktion plädiert für eine ideologiefreie,
aber kritisch begleitete Förderung der Bio- und Gentech-
nik. Das Biosicherheits-Protokoll muss als Chance für die
Schaffung wirksamer Rahmenbedingung zur Erforschung
und Entwicklung der Gentechnologie genutzt werden.
Eine verantwortliche Technologiepolitik aus der Sicht der
CDU/CSU muss daher für folgende Punkte eintreten:
erstens für die umfassende Aufklärung der Bevölkerung
und der Verbraucher, zweitens für eine strenge Kenn-
zeichnung der gentechnisch veränderten Lebensmittel,
drittens für eine umfassende Prüfung von Freisetzung und
deren kritische Begleitung, viertens für eine Aufhebung
des bestehenden De-facto-Moratoriums der EU, fünftens
für die Schaffung von Investitionssicherheit bei Verfahren,
die nur befristet zugelassen sind und sechstens sollte man
den Mut haben zu prüfen, ob nicht in Teilbereichen
verkürzte und vereinfachte Verfahren eingeführt werden
können.

Zusammenfassend möchte ich für meine Fraktion er-
klären: Die Bio- und Gentechnik ist eine der wichtigsten
Zukunftsentwicklungen. Sie eröffnet zahlreiche Chancen,
das Leben menschenwürdiger zu gestalten, aber ins-
besondere auch Ansätze im Bereich Gesundheit,
Ernährung und Umweltschutz. Wer diese Technik
pauschal ablehnt, verweigert sich der Verpflichtung,
Krankheiten zu lindern, Hunger zu bekämpfen und
Umweltzerstörung entgegenzuwirken.

Weltweit leiden 800 Millionen Menschen an Mangel-
ernährung, und jedes Jahr sterben 7 Millionen Kinder den
Hungertod. Hier kann die Biotechnologie wesentlich
helfen. Diese Chance gilt es zu nutzen. Hier gilt es für alle
Fraktionen, eine gemeinsame positive Position zu for-
mulieren und sie in Deutschland auch umzusetzen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409811200
Zu einer Kurz-
intervention erhält die Abgeordnete Andrea Fischer das
Wort.

Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Herr Kollege, weil Sie gerade diese Frage aufge-




Dr. Peter Paziorek

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worfen haben, würde ich gern klarstellen: Das Verbot der
Inverkehrbringung von BT-Mais bezog sich auf eine un-
begrenzte Inverkehrbringung. Die Mengen wären über-
haupt nicht mehr kontrollierbar gewesen – dafür gibt es
in der Tat viele Indizien –, sodass es außerordentlich ge-
fährlich wäre. Sie haben selber auf die diversen kritischen
Studien verwiesen.

Der Änderungsbescheid, auf den Sie, wenn ich Sie
richtig verstanden habe, vorhin angespielt haben,


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das haben Sie richtig verstanden!)


erfolgte zu Zwecken der Sicherheitsforschung. Man kann
das auch anders nennen. Es geht genau um die Frage:
Welche Wirkungen gehen davon aus, dass wir für 12 Ton-
nen BT-Mais eine Genehmigung zur Inverkehrbringung
gegeben haben? Da diese Menge so gering ist, können wir
davon ausgehen, dass die befürchteten Sicherheitsrisiken,
die damals zum Verbot geführt haben, nicht eintreten wer-
den. Gerade angesichts der Tatsache, dass seit Jahren zwar
von der Industrie gesagt wurde, sie unterstütze uns bei der
Forderung nach Sicherheitsforschung, sie dann de facto
aber wenig gemacht hat, ist es richtig, dass jetzt nicht wir
diejenigen sind, die sagen, die Sicherheitsforschung solle
nicht stattfinden. Wir wollen sie, um die Debatte über die
Risiken der Gentechnik auf eine solidere Grundlage zu
stellen.

Vor diesem Hintergrund haben wir uns nach längeren
Verhandlungen – auch mit dem Hersteller – für diesen Än-
derungsbescheid entschieden. Ich glaube, dass das auch
dem gerecht wird, was ich vorhin sagte. Wir müssen die
Risiken kennen, wir brauchen mehr wissenschaftliche
Grundlagen für die Beurteilung dieser Risiken. Das ist der
Sinn dieser Änderungsmitteilung.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409811300
Herr Paziorek,
bitte.


Dr. Peter Paziorek (CDU):
Rede ID: ID1409811400
Frau Ministerin, Ih-
re Entscheidung, die Sie jetzt gerade genannt haben, ist zu
begrüßen. Ich glaube, dass sie ein Schritt in die richtige
Richtung ist. Ich will jetzt auch nicht nachkarten, wenn ich
sage: Ich persönlich hätte mir sehr gewünscht, dass Sie ei-
ne solche Entscheidung sofort im Januar oder Februar ge-
troffen hätten, ohne diesen großen propagandistischen
Auftritt. Ich hätte mir gewünscht, dass in Deutschland sol-
che Entwicklungen nicht zunächst gestoppt werden und es
dann nach einer Landtagswahl in die richtige Richtung
weitergeht. Das soll kein Nachkarten sein, nur noch ein
Hinweis auf eine gewisse zeitliche Abfolge. Von der Sa-
che her ist das sicherlich ein Schritt in die richtige Rich-
tung. Ich hoffe, dass Sie so weitermachen


(Rene Röspel [SPD]: Noch viele, viele Jahre!)

und dass Sie tatsächlich auch den Mut haben, in diesen
Fragen den Anschluss an die internationale Entwicklung
nicht zu verlieren. Ich wäre froh, wenn diese Erkenntnis
auch in Ihrem Regierungslager immer stärker Platz greifen
würde.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409811500
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Marga Elser.


Marga Elser (SPD):
Rede ID: ID1409811600
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-
ginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Paziorek, herz-
lichen Glückwunsch zu Ihrer Sprecherrolle. Aber denken
Sie doch bitte über die Zeitschiene noch einmal nach.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Na ja, 2002 war es!)


Nach der Enttäuschung von Cartagena im Februar 1999
haben wir nun einen guten Grund zur Freude. Nach tage-
und nächtelangen Verhandlungen haben sich 133 Staaten
in Montreal auf den Text zu einem Bio-Safety-Protocol
geeinigt.

Die Verabschiedung des Protokolls geht nicht zuletzt
auf die geschickte Verhandlungsführung des kolumbi-
anischen Umweltministers zurück – aber auch die Einig-
keit der anwesenden EU-Minister ist hier zu nennen.

Wir bedanken uns ausdrücklich bei der deutschen
Delegation, angeführt von unserer Gesundheitsministerin,
Andrea Fischer, aber ebenso bei den NGOs und allen, die
durch jahrelanges Bemühen und Aufklärungsarbeit zum
Zustandekommen dieses Protokolls beigetragen haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der positive Ausgang ist eine Kompromisslösung, weil
natürlich jede Seite gern ihre eigenen Wünsche und
Vorstellungen untergebracht hätte. Dennoch haben sich
Regierungsvertreter, Umweltschutzverbände und Indus-
trieverbände ebenso wie UNEP-Direktor Töpfer zufrieden
geäußert.

Wir leben in einer Zeit, in der sich viele Menschen um
die Zukunft der biologischen Vielfalt sorgen. Viele
machen sich Sorgen um die Auswirkungen der Gentech-
nik. Die ungeheure Geschwindigkeit, mit der sie sich seit
den 70er-Jahren entwickelt hat, hat nicht nur Blüten-
träume – manchmal kann man sich fragen, ob das viel-
leicht auch Albträume sein können – von optimierten
Menschen aus der Retorte und vom Sattwerden der Welt
durch „grüne Gentechnik“ reifen lassen. Nein, sie macht
den Menschen auch Angst, Angst um ihre Gesundheit,
weil man eben nicht weiß, inwieweit Nahrungsmittel aus
gentechnischer Produktion Allergien hervorrufen können.

Ebenso gibt es ernst zu nehmende Warnungen vor der
Ausbreitung von Antibiotikaresistenzgenen. Bei trans-
genen Pflanzen könnten Antibiotika, die in der Human-
und Tiermedizin verwendet werden, ihre Wirkung ver-
lieren. Beispielsweise gibt es – das haben sich nicht ir-
gendwelche altmodischen Gentechnikgegner ausgedacht,
sondern das steht im Umweltgutachten 1998 des Sachver-
ständigenrates – Resistenzgene in transgenen Pflanzen
gegen das Antibiotikum Kanamycin, das in der Augen-
heilkunde eine wichtige Rolle spielt. Ebenso bewirkt das
Ampicillinresistenzgen neben der Resistenz gegen Ampi-
cillin auch eine Resistenz gegen andere Penicillinderivate.

Bei der Entwicklung von gentechnisch erzeugten
Virusresistenzen werden inzwischen eine Reihe von




Andrea Fischer (Berlin)

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(A)



(B)


Risikofaktoren für unerwünschte Konsequenzen disku-
tiert. Sicher, Laien schätzen Risikofaktoren anders ein als
Experten. Dennoch hat beispielsweise die Reaktion der
Verbraucher auf die „Butterfinger“ ein hohes Ver-
braucherbewusstsein gezeigt. Dies gilt ebenso mit Blick
auf die massiven Absatzschwierigkeiten der amerikani-
schen Farmer im vergangenen Jahr hinsichtlich ihrer –
sehr teuer erzeugten – gesamten Jahresernte Genmais.

Wir müssen auch die Sorgen der Entwicklungsländer
ernst nehmen. Sie haben die Furcht, von einigen wenigen
Lieferanten für Saatgut abhängig zu werden, das sich die
Kleinbauern dort dann gar nicht mehr leisten könnten.
Hier haben die Hochtechnologieländer eine sehr große
Verantwortung den armen Ländern gegenüber.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Im Weltagrarhandel besteht die Gefahr, dass sich die
Wettbewerbssituation durch die Gentechnik zuungunsten
der Entwicklungsländer verschiebt. Wenn gentechnolo-
gische Fortschritte die landwirtschaftliche Produktivität
stark steigen lassen, darf den Ländern des Südens die
Technologie nicht aus Kostengründen verschlossen
bleiben.

Die Unterzeichnung des Biosicherheits-Protokolls ist
deshalb ein wichtiger Schritt in Richtung internationaler
Verbraucherschutz, Gesundheitsschutz und Schutz unser-
er natürlichen Ressourcen, eben ein Schritt zur Biosicher-
heit. Erstmals wird das Vorsorgeprinzip als Leitgedanke
für den Handel mit gentechnisch veränderten Organismen
verankert.

Eine Gefahr, dass wichtige Entwicklungen in der Hu-
manmedizin behindert werden, besteht nicht. Human-
arzneimittel sind vom Anwendungsbereich des Biosafety-
Protokolls grundsätzlich ausgenommen.

Vor dem erstmaligen Verbringen eines gentechnisch
veränderten Organismus in ein anderes Land wird es ein
Genehmigungsverfahren geben. Dabei geht es vor allem
darum, durch die Etablierung von Verfahren sicher-
zustellen, dass der Schutz der biologischen Vielfalt, aber
auch und vor allem der Schutz der menschlichen Gesund-
heit gewährleistet ist.

Für Lebensmittel und Futtermittel ist die Weiterverar-
beitung von gentechnisch veränderten Organismen klar
geregelt. Es gibt eine Kennzeichnungspflicht, die aller-
dings durch ein „may contain“ – also „kann beinhalten“ –
verwässert worden ist. Die Vertragsstaatenkonferenz
muss deshalb innerhalb von zwei Jahren nach In-Kraft-
Treten detaillierte Anforderungen festlegen.

Unsere Aufgabe wird es nun sein, zusammen mit der
Bundesregierung eine verbraucherfreundliche und ein-
deutige Kennzeichnung im Rahmen der Ausführungsvor-
schriften zu formulieren. Wir brauchen weltweit die Ein-
richtung von Institutionen, Kontrollinstrumenten und In-
formationsstrukturen. Wir werben dafür und unterstützen
die Bundesregierung in ihrem Bestreben, möglichst viele
Staaten für die Zeichnung des Protokolls zu gewinnen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ebenso begrüßen wir das Angebot, zur Unterstützung der
Entwicklungsländer eine Liste von Fachleuten zu erstel-
len.

Ich bitte Sie, unserem Entschließungsantrag, der un-
sere Forderungen zusammenfasst, zuzustimmen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409811700
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ulrike Flach.


Ulrike Flach (FDP):
Rede ID: ID1409811800
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Frau Fischer, Sie haben zu Recht angeführt:
Die F.D.P. steht zur Gentechnik als Schlüsseltechnologie
dieses Jahrtausends – und zwar ohne Wahlkampfgeplän-
kel –, unter Abwägung der Risiken, aber selbstverständ-
lich auch mit Blick auf die Chancen dieser Technologie.

Wir reden heute erst um 17 Uhr im Detail über dieses
Thema; insofern möchte ich mich auf das beschränken,
was hier jetzt ansteht, auf das Protokoll über die biologi-
sche Sicherheit. Dieses soll durch Kontrolle und
Kennzeichnungsvorschriften beim grenzüberschreiten-
den Handel gentechnisch veränderter Organismen da-
zu beitragen, die biologische Vielfalt zu schützen. Wenn
ein Staat oder ein Unternehmen zukünftig gentechnisch
veränderte Organismen in ein anderes Land exportieren
will, muss das Zielland über den beabsichtigten Transport
informiert und die Zustimmung beantragt werden.

Für Organismen, die direkt zur Weiterverarbeitung,
zum Beispiel in der Lebensmittelproduktion vorgesehen
sind, gelten vereinfachte Vorschriften. Die F.D.P. findet
das selbstverständlich gut. Aber Ihre Begeisterung, Frau
Fischer, die Sie eben erneut geäußert haben, können wir
nicht teilen. Sie haben die Verabschiedung des Biosafety-
Protokolls offiziell zu einem „wichtigen umweltpoliti-
schen und umweltrechtlichen Schritt“ erklärt und es als ein
„global gültiges, rechtsverbindliches Instrument zum si-
cheren Umgang mit dieser wichtigen neuen Technologie“
bezeichnet. Das sehen wir schon deutlich kritischer.

Sie mussten nach dem Misserfolg von Cartagena in
Montreal ein greifbares Ergebnis hervorbringen. Da kam
nun die eben von Frau Elser schon erwähnte Kompro-
misslösung zur Kennzeichnung zustande. In den Begleit-
dokumenten werden wir zukünftig den Begriff „may con-
tain“ lesen können. Das heißt: Die Ware – das kann sich
jeder vorstellen, der täglich einkauft – könnte gentech-
nisch veränderte Organismen enthalten. Und da fangen die
Probleme doch an: Für den Verbraucher entsteht die Un-
sicherheit, ob – und wenn ja, in welchem Anteil – zum Bei-
spiel gentechnisch veränderter Mais oder Soja enthalten
ist; denn die Begleitdokumente sind ja auch Grundlage für
eine spätere Kennzeichnung des weiterverarbeiteten Pro-
dukts im Geschäft. Das dient definitiv nicht der Transpa-
renz.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ab welchem Anteil soll eine Kennzeichnung ver-

pflichtend sein: ab 1 Prozent, ab 0,1 Prozent oder ab der




Marga Elser

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(C)



(D)



(A)



(B)


Nachweisgrenze? Eine Ausführungsbestimmung soll in-
nerhalb von zwei Jahren nach In-Kraft-Treten des Proto-
kolls nachgeliefert werden. Das Protokoll soll 90 Tage
nach der 50. Ratifizierung in Kraft treten. Das heißt – für
die, die sich damit nicht auskennen –: 50 Länder müssen
unterzeichnen und 50 Parlamente müssen ratifizieren. Sie
wissen ebenso wie ich, wie lange das dauern kann, Frau
Fischer. Das heißt, wir werden jahrelang auf eine Präzi-
sierung warten müssen. Die Bundesregierung sollte den
Mut haben, zu erklären, dass das Protokoll für den Ver-
braucher sehr wichtige Fragen offen lässt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir wollen den Verbrauchern eine klare Entscheidung
für oder gegen gentechnisch veränderte Produkte ermög-
lichen. Ich füge hinzu: Wir sehen die Chancen der Gen-
technik, gerade auch ihre guten Marktchancen.

Ein weiterer Schwachpunkt, Frau Fischer, ist die un-
klare Stellung des Biosafety-Protokolls gegenüber den
WTO-Regeln. Die Bundesregierung betont in ihrer Stel-
lungnahme die Gleichrangigkeit beider völkerrechtlicher
Abkommen. Diese Gleichrangigkeit soll zum Beispiel
durch eine Anlehnung an Formulierungen in der Präam-
bel der PIC-Konvention über gefährliche Chemikalien
und Pestizide sichergestellt werden. Aber auch hier blei-
ben Fragen offen: Nach welchen Streitschlichtungsme-
chanismen soll zum Beispiel entschieden werden, wenn
es zu Konflikten kommt? Trifft es zu, dass dem Wirt-
schaftsministerium inzwischen ein Papier der EU-Kom-
mission vorliegt, in dem die Widersprüche zwischen Bio-
safety-Protokoll, WTO und EU-Recht thematisiert wer-
den? Das geltende europäische Recht ist – das haben Sie
eben angeführt – schärfer als das Biosafety-Protokoll.
Was folgt daraus für unsere europäischen Standards? Hier
muss – um ein geflügeltes Wort der Regierung Schröder
zu gebrauchen – wirklich nachgebessert werden.


(Beifall bei der F.D.P.)

Die Unterrichtung der Bundesregierung enthält den

schönen Satz: „Allerdings steht die Bewährung der ge-
fundenen Regelungen in der Praxis noch aus.“


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Das gilt für fast alle Gesetze, die die machen!)


– Sehr wahr, Herr Kollege Niebel. – Der Teufel steckt im
Detail. Besondere Freude an der Detailarbeit haben wir
aber bei der Regierung Schröder bisher nicht entdecken
können.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409811900
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Angela Marquardt.


Angela Marquardt (PDS):
Rede ID: ID1409812000
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Einigung auf den Text ei-
nes Biosafety-Protokolls bei der Vertragsstaatenkonfe-
renz in Montreal hat hierzulande eine Euphorie ausgelöst,

die ich, Frau Fischer, nicht teilen kann, obwohl man zu-
geben muss, dass die völkerrechtliche Verankerung des
Vorsorgeprinzips, der Genehmigungsverpflichtung bei
Importen und die abgewendete Unterstellung des Proto-
kolls unter die WTO-Bestimmungen natürlich Verhand-
lungserfolge sind, die Anerkennung verdienen. Doch lan-
ge Verhandlungen über Vertragstexte führen schnell zu ei-
ner Überschätzung des eigenen Verhandlungserfolges.
Schließlich war es Ziel der Verhandlungen, Regelungen
für die sichere Weitergabe und Handhabung von gen-
technisch veränderten Organismen zu finden, die nach-
haltige Auswirkungen auf die Erhaltung der biologischen
Vielfalt haben können.

Ich frage mich, ob der gefundene Kompromiss in der
Präambel, der die Gleichstellung des Protokolls mit dem
Abkommen der WTO sichern soll, angesichts massiver
ökonomischer Interessen lange tragen wird. Widersinnig
ist meines Erachtens auch der Ausschluss von Human-
arzneimitteln aus der Geltung des Protokolls, wenn auf der
anderen Seite gerade der Schutz der menschlichen Ge-
sundheit gefordert wird. Die Entwicklungen im Bereich
der Gentechnologie werden zudem für die Definition des-
sen, was ein Arzneimittel ist, immer mehr Interpreta-
tionsmöglichkeiten eröffnen. Da hätte man, so glaube ich,
genauer sein sollen.

Es ist darüber hinaus inakzeptabel, dass gentechnisch
veränderte Organismen für den Gebrauch im so ge-
nannten geschlossenen System keiner Einfuhrgenehmi-
gung unterliegen. Nehmen wir hier das deutsche Gen-
technikgesetz als Maßstab, so bleibt der unkontrollierte
Austritt von DNAmit nicht abschätzbaren Folgen in den
unteren Sicherheitsstufen möglich. Dabei bin ich noch
nicht einmal davon überzeugt, dass der Begriff „contained
use“ tatsächlich nur die Verwendung im „geschlossenen
System“ bezeichnet. Diese Bestimmung könnte auch auf
experimentelle Freisetzungen mit Barrieren ausgeweitet
werden.

Dieses Biosicherheits-Protokoll ist nicht nur ein Re-
gelwerk für den Schutz und für den Erhalt der biologi-
schen Vielfalt, sondern auch ein Regelwerk für den welt-
weiten Umgang mit den Entwicklungen der Gentech-
nologie. Das Protokoll ignoriert dabei sozioökonomische
Kriterien für den Handel mit gentechnisch veränderten
Organismen als tatsächliche Grundlage der Risikobewer-
tung. Dabei ist gerade die wirtschaftliche und technolo-
gische Macht monopolisierter Unternehmen der „grünen
Gentechnologie“ eine der größten Gefahren für die bio-
logische Vielfalt. Gerade für diese sind kleinräumige, de-
zentrale, tendenziell arbeitsintensivere Strukturen wichtig
und keineswegs ausschließlich die Weltmarktorientie-
rung.


(Beifall bei der PDS)

Zur Stützung dieser Strukturen sind noch ganz andere
Entscheidungen notwendig – zum Beispiel das Verbot der
Biopiraterie und der Patentierung von Genen.

Der politische Druck von Umwelt- und Entwicklungs-
gruppen und der Unwille vieler, die Kreationen der Gen-
technikindustrie anzubauen und zu essen, haben zu den
kleinen Erfolgen in den internationalen Verhandlungen
zum Biosafety-Protokoll geführt. Der Widerspruch bleibt




Ulrike Flach
9150


(C)



(D)



(A)



(B)


dennoch bestehen: Wenn es denn negative Auswirkungen
auf die menschliche Gesundheit und auf die biologische
Vielfalt durch Gentechnik gibt, dann werden diese durch
Einfuhrgenehmigungen und Kennzeichnungen nicht ver-
hindert, egal welchen Kennzeichnungsgrad man wählt.
Fakt ist, dass es negative Auswirkungen geben kann.

Die Position der Bundesregierung ist meines Erachtens
inkonsequent: Denn will man den Vorsorgegedanken
ernst nehmen, muss man eine Freisetzung unterbinden, die
massive Förderung der „grünen Gentechnik“ beenden
und Risikoforschung betreiben.


(Beifall bei der PDS)

Andernfalls dienen Kennzeichnung und Risikoabschät-
zung in erster Linie einer Akzeptanzschaffung für den un-
ter massivem Druck stehenden Markt der „grünen Gen-
technik“. Es sind die Verbraucherinnen und Verbraucher
selber, die in diesem Fall dem Vorsorgegedanken in einer
Weise Rechnung tragen, wie dies kein Protokoll und kein
Abkommen leisten könnte. Auch wenn ich mit diesem
Standpunkt alleine bin:


(Beifall bei der PDS – Dr. Barbara Höll [PDS]: Uns hast du doch noch!)


Der Boykott der „grünen Gentechnik“ ist nach wie vor die
beste Vorsorge.

Danke.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409812100
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Heino Wiese.


Heino Wiese (SPD):
Rede ID: ID1409812200
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Durch die Beiträge von
Frau Marquardt und Frau Flach ist gerade wieder deutlich
geworden, dass man bei diesem Thema über Chancen und
Risiken sprechen und beides berücksichtigen muss. Ich
denke, man muss sich eingestehen: Nachbessern ist immer
gut! Ich halte das nicht für schändlich, sondern für ein
Bemühen um Qualität.


(Zuruf von der SPD: Das ist ein Zeichen von Intelligenz und Lernfähigkeit! – Widerspruch bei der F.D.P.)


In der Tat, das ist ein Zeichen von Intelligenz und Lern-
fähigkeit. Auch nach dem Abkommen zwischen vielen
Staaten hat jeder Staat sicherlich noch einen Wunsch, den
er gerne berücksichtigt hätte. Wir haben mit diesem Ab-
kommen einen Erfolg erzielt, den wir vorher nicht erwar-
tet hatten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Durch den erfolgreichen Abschluss des Biosicherheits-
Protokolls können Umwelt und Verbraucher nun umfas-
send vor den möglichen Risiken des internationalen Han-
dels mit gentechnisch veränderten Organismen geschützt
werden. Das Protokoll regelt den grenzüberschreitenden
Verkehr im Hinblick auf den Schutz der biologischen
Vielfalt und unter Beachtung der möglichen Risiken für
Mensch und Umwelt. Der Erfolg ist ein historischer
Schritt auf dem Weg zu weltweit gültigen Sicherheitsbe-

stimmungen.
Deshalb möchte ich noch einmal ausdrücklich allen Be-

teiligten danken: den Mitgliedern der EU-Verhandlungs-
delegation und insbesondere den Vertretern der Bundes-
regierung. Dank gebührt aber auch allen Nichtregie-
rungsorganisationen und den Ehrenamtlichen für ihr
langjähriges Engagement beim Zustandekommen des
Biosicherheits-Protokolls. Hervorheben möchte ich den
Einsatz der kirchlichen Organisationen, des Verbandes
„Die Naturfreunde“, des Naturschutzbundes Deutsch-
land, des WWF, des Öko-Instituts Freiburg und der Ar-
beitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft.

Wegen seiner völkerrechtlichen Verbindlichkeit hat
das Protokoll nach seiner Ratifizierung eine Vorrangstel-
lung gegenüber der Welthandelsorganisation, WTO. Da-
mit erlaubt es der EU, eigene Gesetze, zum Beispiel die
verbindliche Kennzeichnung von Nahrungsmitteln aus
gentechnisch veränderten Organismen, im Falle einer
WTO-Klage der USAwirkungsvoll zu verteidigen.

Durch den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen
ist die Voraussetzung für sichere und klare Rahmenbe-
dingungen im internationalen Handel geschaffen worden.
Dies liegt gleichermaßen im Interesse der Verbraucher, der
Produzenten, des Handels und des Schutzes der Umwelt.

Lassen Sie mich deshalb zum Abschluss noch einmal
die wesentlichen Inhalte des Protokolls zusammenfassen:
Erstens. Es wird sichergestellt, dass der im Protokoll ver-
wirklichte Gesundheits- und Umweltschutz nicht Han-
delsgesichtspunkten untergeordnet wird.

Zweitens. Der Vorsorgegrundsatz wird als Leitge-
danke auch für die auf der Grundlage des Protokolls zu
treffende Einzelfallentscheidung fest verankert.

Drittens. Grundsätzlich dürfen gentechnisch veränder-
te Organismen nur dann von einem Land in ein anderes
verbracht werden, wenn das Importland – auf der Grund-
lage umfassender Informationen über den Organismus –
seine Zustimmung dazu gegeben hat. Das gilt grundsätz-
lich auch für landwirtschaftliche Massengüter, die nicht
dazu bestimmt sind, in die Umwelt freigesetzt zu werden,
sondern zum Beispiel als Futtermittel verwendet oder
weiter verarbeitet werden sollen.

Zu diesem wichtigen Aspekt möchte ich noch ein Bei-
spiel bringen: Die großen Agrarexporteure wollten ein
Biosafety-Protokoll, in dem nur der Handel mit Saatgut,
nicht aber der Handel mit gentechnisch veränderten Roh-
stoffen geregelt wird. Das hätte bedeutet, eine Tüte Saat-
gut könnte kontrolliert werden, ein Frachter mit gentech-
nisch verändertem Futtermais aber nicht.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Wer kontrolliert eigentlich die Erde, die wir jetzt hier ins Haus schleppen müssen?)


– Ich sehe bei dir nach.
Ein und dasselbe Maiskorn wäre, nur abhängig von sei-

ner Deklaration als Saatgut oder als Futtermittel vom
Biosafety-Protokoll einbezogen oder ausgeschlossen.
Maiskörner, die als Futtermittel oder als Lebensmittel ein-
geführt werden, könnten unabsichtlich oder beabsichtigt
in den Boden geraten, heranwachsen und schließlich




Angela Marquardt

9151


(C)



(D)



(A)



(B)


manipuliertes Erbgut verbreiten. Innerhalb der EU ver-
bieten wir den Import nicht zugelassener, gentechnisch
veränderter Sorten unabhängig davon, ob es sich um Saat-
gut oder um Futtermittel handelt. Wären Futtermittel
nicht in das Biosafety-Protokoll aufgenommen worden,
könnte die entsprechende EU-Freisetzungsrichtlinie bei
der WTO als Handelshemmnis angezeigt werden. Ich hof-
fe deshalb, dass die beteiligten Staaten schnellstmöglich
die Voraussetzungen für die Unterzeichnung des Abkom-
mens schaffen und durch ihre baldige Unterschrift das
Biosicherheits-Protokoll in Kraft treten kann.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409812300
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete René Röspel.


René Röspel (SPD):
Rede ID: ID1409812400
Einen wunderschönen guten
Tag, Frau Präsidentin! Schönen guten Tag, meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren! Ich freue mich, dass wir heu-
te eine relativ harmonische, gute und fundierte Debatte zu
diesem Thema geführt haben. Das verdient es sicherlich.
Ich freue mich auch, dass wir Einigkeit über die Bewer-
tung des Verhandlungsergebnisses erzielen können, das
Frau Fischer präsentiert hat. Ich freue mich besonders,
dass wir eine gemeinsame Auffassung gefunden haben,
was den Regelungsbereich des Biosicherheits-Protokolls
angeht, nämlich den grenzüberschreitenden Handel mit
gentechnisch veränderten Organismen, also Lebensmit-
teln, Nahrungsmitteln und Futtermitteln.

Ich will auf ein paar Beiträge eingehen. Frau Flach, es
hätte Sie sicher gewundert, wenn ich mich jetzt nicht Ih-
nen, die Sie die Probleme der Kennzeichnung angespro-
chen haben, zugewandt hätte. Ich verweise hier auf die
Möglichkeit, im noch über die Novel-Food-Richtlinie in
Europa zu diskutieren, um in nächster Zeit im europäi-
schen Bereich entsprechende Regelungen zu treffen.

Sie haben, Frau Flach, auch auf das Nachbessern an-
gesprochen. Hier muss ich sagen: Wenn man sich die
Historie des Biosicherheits-Protokolls anschaut – der
Prozess begann nicht erst unter unserer Regierung, dann
stellt man fest, dass unter der Regierung, die Sie mit-
getragen haben, die Verhandlungen von über 130 Staaten
völlig ins Stocken geraten waren. Das lag nicht zuletzt
daran, dass sich Deutschland in Europa mit einer Meinung
isoliert hatte, die eher die Meinung der USA war, die
möglichst wenig Handelshemmnisse und Beschränkungen
wollen. Erst mit dem Wechsel zur rot-grünen Regierung
hat sich dies geändert. Wir sind auf eine europäische Li-
nie eingeschwenkt. Infolge der nachgiebigen Verhand-
lungen in Cartagena und Montreal ist es zu diesem Erfolg,
über den wir uns heute einig sind, gekommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich habe mich sehr über den differenzierten Beitrag des
Herrn Kollegen Paziorek gefreut. Ich gratuliere ihm zur
Wahl zum umweltpolitischen Sprecher seiner Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir sollten weiterhin auf diesem Niveau diskutieren, auch
wenn ich nicht alles teile, was Sie gesagt haben.

Ich möchte der Sorge über die Entscheidung zum
Genmaismissbrauch entgegentreten und eine Bemerkung
zum Vorsorgeprinzipmachen. Wir haben darüber schon
einmal im Umweltausschuss diskutiert. Vorsorge heißt,
man muss auch in die Zukunft schauen. Man muss be-
werten, welche Probleme und Kritiken es gibt. Wir haben
im Bereich des Genmaises, der selbsttätig ein Insektizid
gegen einen bestimmten Schädling produziert, seit 1997
eine Menge neuer wissenschaftlicher Entwicklungen, die
darauf hinweisen, dass nicht nur der Monarchfalter, son-
dern auch Nützlinge wie Florfliegen geschädigt werden.
Es gibt Hinweise, dass wir durch das ständige Produzie-
ren des Giftes, das in den Blättern verbleibt, eine dauer-
hafte Exposition des Schädlings mit dem Gift haben, so-
dass wir Resistenzen zu erwarten haben. Das ist sicherlich
ein großer Nachteil.

Wenn der Schädling Resistenzen entwickelt hat, führt
das dazu, dass dieses Gift im ökologischen Landbau, wo
es in etwas veränderter Form zugelassen ist und gezielt
eingesetzt wird, nicht mehr verwendet werden könnte.
Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse und Hinweise hat
Frau Fischer ebenso wie wir im Beschluss des
Umweltausschusses ernst genommen, in dem wir festge-
legt haben, dass man, bevor das nicht geklärt ist, mit dem
Freisetzen dieses Maises sehr sorgfältig und sehr be-
hutsam umgehen muss.

Wenn ein Automobilhändler Hinweise darauf be-
kommt, dass irgendwelche Kabel brüchig werden können,
kann er eine Rückrufaktion starten. Wenn er diese durch-
führt, wird ihm sicherlich keine Technikfeindlichkeit vor-
geworfen. Diese Rückrufaktion ist nämlich eine sinnvol-
le Aktion. Ihm gelingt es in der Regel, alle Autos zurück
zu bekommen. Bei der Freisetzung eines gentechnisch
veränderten Organismus oder einer Pflanze ist das nicht
mehr gewährleistet. Man muss davon ausgehen, dass das,
was einmal freigesetzt wurde, nicht mehr rückholbar ist.
Deshalb macht das Vorsorgeprinzip Sinn. Ich denke, wir
haben damit eine vernünftige Entscheidung getroffen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zum Inhalt des Biosicherheits-Protokolls wurde letzt-
lich alles gesagt. Es wurde auch schon sehr vielen gedankt.
Trotzdem möchte ich stellvertretend für die vielen ehren-
amtlich engagierten Einzelpersonen, die zum Gelingen der
Unterzeichnung beigetragen haben, hier noch einmal
Hartmut Meyer und Christine von Weizsäcker nennen. Sie
sind sicherlich ein gutes Beispiel dafür, dass bür-
gerschaftliches Engagement auch außerhalb politischer
Parteien wichtig ist und Erfolg hat. Ich kann die Bundes-
regierung nur zu weiteren Schritten ermutigen und die Zu-
ständigen auffordern: Sehen Sie zu, dass möglichst viele
Staaten in möglichst kurzer Zeit unterzeichnen! Dann ge-
hen wir, wie ich glaube, einen guten Weg.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Heino Wiese (Hannover)

9152


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409812500
Ich schließe die
Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3071 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungs-
antrag auf Drucksache 14/3098 soll an die gleichen Aus-
schüsse, jedoch nicht an den Rechtssausschuss überwie-
sen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 sowie Zusatzpunkt 5
auf:

8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
Nooke, Dr. Michael Luther, Dr. Angela Merkel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Exportchancen im Ausland nutzen – Absatz-
förderung Ost intensivieren
– Drucksache 14/2911 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss fürAngelegenheiten der neuen Länder (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

ZP 5 Beratung des Antrags Dr. Mathias Schubert,
Christian Müller (Zittau), Dr. Ditmar Staffelt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

(Frankfurt)

und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Stärkung von Absatz und Export der ostdeut-
schen Wirtschaft
– Drucksache 14/3094 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

Interfraktionell ist für die Aussprache eine Stunde vor-
gesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Dr. Paul Krüger.


Dr. Paul Krüger (CDU):
Rede ID: ID1409812600
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich be-
grüße, dass wir hier heute zwei Anträge zum Thema „Ab-
satzförderung Ost“ vorliegen haben. Der Antrag von der
CDU/CSU-Fraktion ist schon einige Wochen alt. In die-
ser Woche ist nun noch ein Antrag von der Koalition da-
zu gekommen.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Zu spät!)

– Etwas spät, aber er ist inhaltlich Gott sei Dank ziemlich
identisch mit unserem Antrag; man könnte fast meinen, er
wäre abgeschrieben worden.

Ich finde es gut, dass wir in dieser Situation die Pro-
bleme offensichtlich ähnlich beurteilen. Ich finde es auch
gut, dass dadurch, dass wir einen ähnlichen Antrag ein-
gebracht haben, in der Tat die Aussicht besteht, für das

angesprochene Problem eine Lösung zu finden und diese
dann auch durchzusetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn wir uns die wirtschaftliche Entwicklung in den

neuen Bundesländern anschauen, sehen wir, dass deren
Wachstumsrate in den letzten Jahren hinter der Wachs-
tumsrate des Westens zurückgeblieben ist. Die Arbeitslo-
sigkeit im Westen ist jüngst gegenüber dem Vorjahr ge-
sunken, in den neuen Bundesländern ist sie leicht gestie-
gen. Es gibt keinen Grund zur Entwarnung. Im Gegenteil:
Der „Tagesspiegel“ titelt heute „Der Aufschwung geht am
Osten vorbei“, die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt: „Der
Osten geht beim Aufschwung leer aus“.

Das Wachstum in Ostdeutschland bleibt – ich sagte es
schon – deutlich hinter dem in Westdeutschland zurück.
Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass der Struk-
turwandel noch Jahre dauern wird. Das Wachstum ist – das
ist besonders im Zusammenhang mit der Debatte, die wir
heute führen, wichtig – nicht allein im ostdeutschen Bin-
nenmarkt zu erzielen. Deshalb sind Wachstumsimpulse
auf Außenmärkten zur Schaffung zusätzlicher Arbeits-
plätze notwendig.

Diese sind nur zu erwarten, wenn es uns gelingt,
zunächst einmal Wachstum aus Intelligenz zu induzieren,
das heißt, neue Produkte und Verfahren durch Innovation
zu entwickeln. Dies sind die wichtigsten Voraussetzungen
für Entwicklung in Ostdeutschland. Aber gleichermaßen
ist es wichtig, durch überregionale, möglichst weltweite
Präsenz der Firmen auf den Märkten – das heißt, die Aus-
weitung der Aktivitäten auf Weltmärkten – eine Steigerung
des Absatzes zu erzielen.

Im Übrigen ist diese weltweite Präsenz nicht nur zur
Absatzsteigerung erforderlich, sondern genauso aus dem
Blickwinkel wichtig, dass man eine Rückkopplung von
den Märkten auf die Produktentwicklung braucht.

Die Innovationsprozesse in den neuen Bundesländern
– das wissen wir alle – sind nach wie vor unzureichend.
Wir müssen uns hier weiter darum kümmern. Aber das ist
nicht der Gegenstand der heutigen Debatte. Wir debattie-
ren heute über die gegenwärtige Exportsituation. Wenn
wir uns diese vor Augen führen, stellen wir fest, dass sich
die anziehende Weltkonjunktur und der niedrige Außen-
wert des Euro im Moment positiv auf die Exportchancen
in Bezug auf deutsche Produkte insgesamt auswirken.

Leider werden ostdeutsche Firmen an diesem Export-
wachstum kaum teilhaben.


(Zuruf von der CDU/CSU: Traurig!)

Die Absatzförderung Ost und die damit verbundenen Hil-
fen sind zwar von den Unternehmen in den letzten Jahren
sehr gut angenommen worden und die Exporte sind ge-
stiegen. Es ist also ein Exportwachstum erzielt worden.
Viele, auch mittelständische Unternehmen in den neuen
Ländern konnten beim Absatz ihrer Produkte in den Vor-
jahren wesentliche Fortschritte erreichen. 1998 erhöhte
sich die Ausfuhr gegenüber dem Vorjahr um insgesamt
knapp 10 Prozent auf über 56 Milliarden DM.

Gleichwohl ist der Anteil der neuen Länder am ge-
samtdeutschen Außenhandelsumsatz mit zirka 6 Prozent






(C)



(D)



(A)



(B)


enorm niedrig. Wenn man Berlin herausrechnet, haben wir
ganze 4 Prozent Exportanteil. Wenn wir das in Relation
zum Bevölkerungsanteil setzen, der etwa 20 Prozent be-
trägt, dann ist das nach wie vor bedenklich.

Der Export aus den neuen Ländern wird vor allem von
wenigen größeren Firmen getragen. Viele kleine und mitt-
lere Unternehmen weisen dagegen im Auslandsgeschäft
gravierende Schwächen auf. Das liegt zum Teil an der feh-
lenden Exportorientierung und Marktpräsenz dieser Fir-
men. Zum Teil sind auch fehlende Marktkenntnisse die
Ursache. Es gibt Probleme bei der Vorfinanzierung von
Auslandsgeschäften und teilweise auch eine unzurei-
chende Pflege von Firmenkontakten. All das erschwert ei-
ne Steigerung des Exportes. Unternehmen aus den neuen
Ländern profitieren also insgesamt ganz wenig von die-
sen aktuellen Exportentwicklungen.

Die ostdeutsche Wirtschaft läuft gegenwärtig sogar
Gefahr, auf Dauer abgehängt zu werden. Besorgniserre-
gend ist in diesem Zusammenhang, dass der Export der
ostdeutschen Flächenländer im letzten Jahr erstmalig
zurückging, nämlich um 6,5 Prozent während er im glei-
chen Zeitraum im Westen um 3,5 Prozent anstieg. Ein
Fakt, der das besonders gravierend deutlich macht, ist,
dass allein das Exportwachstum in Westdeutschland im
letzten Jahr genau so hoch wie der Gesamtexport aller ost-
deutschen Flächenländer zusammen war.

Somit ist festzustellen, dass die Exportentwicklung als
eine der wichtigsten Voraussetzungen für den wirtschaft-
lichen Aufholprozess in Ostdeutschland unter der neuen
Bundesregierung nicht nur stagniert, sondern sogar rück-
läufig ist. Negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt
sind vorprogrammiert und – ich sagte es bereits – einge-
treten.

Umso mehr haben wir die Frage zu beantworten, was
Politik und Staat in diesem Zusammenhang leisten kön-
nen. Der Staat kann und soll nicht die Arbeit der Wirtschaft
leisten. Darüber müssen wir uns im Klaren sein. Aber an-
gesichts der prekären Situation sind wir aufgefordert, da-
rüber nachzudenken, wie wir durch die Gestaltung von
Rahmenbedingungen, durch finanzielle Hilfen und An-
reize, durch die Schaffung von Infrastrukturen und auch
durch geeignete Ausbildungsprogramme dieser fatalen
Entwicklung entgegenwirken können.

Der Bund darf deshalb nicht nachlassen, die neuen
Länder im Rahmen seiner allgemeinen, gesamtdeutschen
Absatzfördermaßnahmen, beispielsweise bei der Aus-
landsmesseförderung oder bei Hermes-Ausfuhrgewähr-
leistungen und auch bei der Kooperationsförderung, wei-
ter zu unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir müssen endlich durchsetzen, dass in diesem Zu-

sammenhang die vorgegebene Quotierung, etwa bei Her-
mes-Bürgschaften, tatsächlich eingehalten wird und nicht
nur ein Lippenbekenntnis bleibt, und dass die Bundesre-
gierung tatsächlich überprüft, inwieweit hier die Mög-
lichkeiten ausgenutzt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Daneben bedarf auch das befristete Sonderprogramm

„Förderung des Absatzes ostdeutscher Produkte“ im

Haushalt des Bundesministers für Wirtschaft und Tech-
nologie weiterer Aufmerksamkeit.
Das relativ niedrige Niveau darf nicht beibehalten werden.
Im Gegenteil: Wir müssen dieses Programm über das Jahr
2000 hinaus verlängern und müssen es qualitativ auswei-
ten.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Ich schlage sogar vor, dass wir es drastisch aufstocken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir müssen uns klar machen, dass wir mit wenigen

Millionen DM viele Milliarden DM Absatz induzieren
können. Damit können wir zum Erfolg der ostdeutschen
Wirtschaft und letztlich zum Wachstum des Arbeitsmarkt-
es durch die Schaffung neuer Arbeitsplätze beitragen.

Gleichzeitig gilt es, neue Schwerpunkte und Wege bei
der Absatzförderung zu prüfen und umzusetzen. Ich den-
ke hier insbesondere an die Fortsetzung der Inlandsmes-
seförderung – als Sprungbrett für internationale Märkte
hat sich dieses Instrument bewährt – und an den Ausbau
von Vertriebskooperationen vieler Firmen, die regional,
branchen- und länderbezogen durchgeführt werden kön-
nen. Ich denke weiterhin an den verstärkten Einsatz der
Mittel für Vermarktungsprojekte im Ausland hinsichtlich
ausgewählter Auslandsmärkte und an die Projektzertifi-
zierungen, die wir gelegentlich als Eintrittskarte in den
Markt bezeichnet haben. Ferner denke ich an eine ver-
stärkte Einbindung der Auslandskammern in eine Koor-
dinierung von Absatzaktivitäten. Wir müssen über die
Förderung der Erstellung von Katalogen und Werbema-
terialien, die vielen jungen Firmen nicht ganz leicht fällt,
bis hin zur Förderung von Sprachübersetzungen nach-
denken.

Besondere Bedeutung wird in diesem Zusammen-
hang den neuen Medien zukommen. Das „business-to-
business“ im elektronischen Geschäftsverkehr nimmt
rasant zu. Das können wir an der aktuellen Entwicklung
im Multimediabereich erkennen. Die Nutzung der neuen
Informations- und Kommunikationstechniken zur Prä-
sentation, zur Kommunikation und zur Vertragsabwick-
lung – auch im Ausland – wird langfristig über den Ge-
schäftserfolg vieler Unternehmen entscheiden. Der Ein-
satz dieser neuen Medien muss besonders gefördert
werden. Hier fordere ich die Bundesregierung auf, tat-
sächlich neue Akzente zu setzen.

Wir brauchen jedoch auch eine inhaltliche Öffnung
von den klassischen industriellen Produkten hin zu im-
materiellen Produkten, die in immer stärkerem Maße die
Entwicklung in Ostdeutschland beeinflussen werden. Mit
Blick auf den Wandel in eine Medien- und Dienstleis-
tungsgesellschaft ist es notwendig, Impulse für Generie-
rung und Handel mit immateriellen Gütern zu geben.
Hierbei geht es um Projektierungsleistungen, aber auch
um Ingenieurdienstleistungen genauso wie um Erfindun-
gen und Software, also all das, was wir unter dem Ober-
begriff Engineering subsumieren können.

Die Vielfalt der hier vorgeschlagenen Instrumente und
Maßnahmen macht bereits deutlich, dass es keine einfa-
che Lösung des Problems gibt. Die Erschließung neuer




Dr.-Ing. Paul Krüger
9154


(C)



(D)



(A)



(B)


internationaler Märkte ist von vielfältigen Bedingungen
abhängig. Wichtigste Voraussetzung ist zunächst die Ent-
wicklung wettbewerbsfähiger, innovativer Produkte bzw.
Dienstleistungen.

Auch darf nicht verkannt werden, dass für die Markt-
einführung neuer Produkte in der Regel beträchtliche
Aufwendungen notwendig sind, die häufig nur über
Fremdkapital finanzierbar sein werden. Wenn wir uns vor
Augen führen, dass die Relation der Kostenanteile von der
Idee über die Entwicklung bis hin zur Markteinführung
eins 1 : 10 : 100 : beträgt, wobei von diesen 100 Anteilen
heute mehr als 50 Prozent für Marketing, Service und Ver-
triebsnetze eingesetzt werden, dann können wir ahnen,
welche Dimensionen hier erforderlich sind. Das kann der
Staat meiner Meinung nach nicht leisten. Wegen dieser ge-
waltigen Summen, die notwendig sind, sind dem staat-
lichen Handeln enge Grenzen gesetzt.

Gleichwohl dürfen wir nichts unversucht lassen, um
neue Ansätze für die Exportsteigerung zu finden. Wir
sollten deshalb im Rahmen der parlamentarischen Bera-
tung konstruktiv nach solchen Lösungen suchen. Dazu
will ich Sie herzlich einladen. Es gibt gute Gründe für die
Zusammenarbeit.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409812700
Ich erteile jetzt das
Wort der Kollegin Barbara Wittig, SPD-Fraktion.


Barbara Wittig (SPD):
Rede ID: ID1409812800
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Gestatten Sie mir zunächst – wie im
Ausschuss – eine kurze Vorbemerkung, bevor ich zum
eigentlichen Thema komme.

Herr Dr. Krüger, das Thema „Wer schreibt von wem
ab?“ bringt uns nicht sehr viel weiter. Ich möchte in die-
sem Zusammenhang daran erinnern, dass wir ein Bünd-
nis für Arbeit haben. Im Rahmen dieses Bündnisses gibt
es sehr viele sehr fleißige Arbeitsgruppen.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

– Da staunen Sie. –
In einer dieser Arbeitsgruppen sind bereits im Juni 1999
sehr konkrete Maßnahmen vorgelegt worden. Ich komme
nachher noch einmal darauf zurück und ich vermute, dass
auch meine Kollegen darauf eingehen werden.

Nun aber zum Thema. Sie haben natürlich Recht: Der
ostdeutsche Export ist äußerst schwach auf der Brust. Ich
möchte nicht alle möglichen Zahlen hier vortragen, son-
dern einen kurzen statistischen Vergleich vornehmen,
denn diese Zahlen sprechen Bände. Statistisch gesehen,
entfallen nämlich auf jeden Westdeutschen immerhin
14 000 DM an Ausfuhren. Im Osten sind es dagegen nur
2 500 DM pro Einwohner. Das ist in der Tat ein Missver-
hältnis; Sie sind bereits ausführlich darauf eingegangen.

Für diese leider immer noch gravierenden Unterschie-
de zwischen Ost und West gibt es natürlich unterschied-

liche Erklärungen. An dieser Stelle möchte ich folgende
nennen: Zum einen hat sich in der ostdeutschen Wirt-
schaft eine ganz andere Produktionsstruktur herausge-
bildet, die sich deutlich von der westdeutschen unter-
scheidet. Zum anderen sind die Staaten des ehemaligen
Ostblocks als Absatzmarkt zum Teil verloren gegangen
bzw. sie nehmen nicht mehr die dominierende Stellung
ein, die sie zu DDR-Zeiten einmal hatten. Deshalb möch-
te ich an dieser Stelle als erfreulich bemerken, dass sich
seit einiger Zeit der Handel mit Polen und Tschechien wie-
der ausgeweitet hat und dass das natürlich auch im Zuge
der Osterweiterung von erheblicher Bedeutung ist.


(Beifall bei der SPD)

– Da können Sie von der rechten Seite ruhig einmal
klatschen, da Sie sonst eigentlich auch immer gerade für
die Aufnahme von Polen und Tschechien in die Europä-
ische Union eintreten. Aber das sind vielleicht nur
Lippenbekenntnisse.


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Was soll denn die Bemerkung?)


Mit diesem kurzen Abriss möchte ich es bewenden las-
sen. Wenn wir die Situation betrachten, heißt das, wir
sind auf dem Wege. Aber wir brauchen natürlich noch Hil-
fen und Unterstützung, auch und gerade zur Stärkung des
Absatzes und Exportes unserer ostdeutschen Produkte
und unserer ostdeutschen Dienstleistungen.

Deshalb war es, wie gesagt, nur logisch, dass sich das
Bündnis für Arbeit in seiner Arbeitsgruppe für den Auf-
bau Ost mit diesem Thema beschäftigt hat. Ich möchte hier
auch noch einmal sagen, dass die Partner in diesem Bünd-
nis – das ist ja nicht die Bundesregierung alleine – sehr ge-
nau wissen, wo der Schuh drückt. Mehr noch: Es wurden,
wie ich bereits sagte, Übereinkünfte getroffen. Insofern
muss ich, Herr Dr. Krüger, betonen: Über die Frage, wie
wir darüber denken, können wir lange diskutieren. Wir
handeln lieber.


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Wo ist denn das Ergebnis?)


Ich möchte noch einmal erwähnen, dass es bereits eine
Vereinbarung zur Förderung des überregionalen Ab-
satzes für die ostdeutschen Produkte gibt.


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Aber das hilft keinem Menschen!)


Wir werden das entsprechend durchsetzen. Unser Antrag
geht auch darauf ein. Ich kann deshalb nicht ganz verste-
hen, warum Sie mehrere Monate später, nämlich am
14. März, einen Antrag gestellt haben, der sich mit diesem
Thema noch einmal ausführlich beschäftigt.


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Sie haben ihn doch abgeschrieben, oder nicht?)


Alle Partner im Bündnis sind sich darin einig, dass die
Förderung des überregionalen Absatzes für ostdeutsche
Produkte und auch ostdeutsche Dienstleistungen ein
wichtiger Beitrag ist für die Entwicklung unserer ost-
deutschen Unternehmen und darüber hinaus auch die
Sicherung von Arbeitsplätzen in den neuen Ländern er-
möglichen wird.




Dr.-Ing. Paul Krüger

9155


(C)



(D)



(A)



(B)



(Beifall bei der SPD)

Es ist erfreulich zu registrieren, dass sich im ost-

deutschen Exportgeschäft in der letzten Zeit ein zarter
statistischer Zuwachs abzeichnet. Es muss an dieser
Stelle aber auch gesagt werden: Für die kleinen Unter-
nehmen ist der Zugang zu internationalen Märkten be-
sonders schwierig. Deshalb müssen hier die Hilfen an-
setzen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch zu er-
wähnen, dass der zarte Zuwachs, von dem ich sprach, nur
von ganz wenigen Unternehmen getragen wird. Es muss
betont werden, dass dieser statistische Trend auf der einen
Seite zwar erfreulich ist, dass er aber aus diesen Gründen
nur die halbe Wahrheit ist.

Das muss sich ändern. Die speziellen Maßnahmen zur
Fortführung der Absatz- und Exportförderung in den
neuen Ländern müssen fortgesetzt werden. Hier sehe ich
sowohl den Bund als auch die Länder, aber auch die Wirt-
schaft in der Pflicht. Ein gut abgestimmtes Vorgehen bei
den Export- und Absatzhilfen und somit bei einer ver-
lässlichen Außenwirtschaftsförderung halte ich deshalb
für unabdingbar. Unser Antrag zielt genau darauf ab.

Ebenso werden die neuen Länder und die Wirtschaft
aufgefordert, in ihren Anstrengungen hinsichtlich der För-
derung des Exports und des Absatzes nicht nachzulassen.
Was den Bund angeht, möchte ich hier mit aller Deutlich-
keit sagen: Wir wollen die Verstetigung der Mittel des
Bundes. So können wir die Außenwirtschaft stärken und
so leisten wir unseren Beitrag zur Entwicklung unserer
ostdeutschen Wirtschaft.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409812900
Das Wort erhält jetzt
der Kollege Jürgen Türk, F.D.P.-Fraktion.


Jürgen Türk (FDP):
Rede ID: ID1409813000
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im CDU/CSU-Antrag
steht leider nur die halbe Wahrheit. Die ostdeutschen Län-
der – wenn man Berlin nicht einbezieht – kommen bei
ihren Ausfuhren nur auf 3,7 Prozent des Umsatzes des ge-
samtdeutschen Außenhandels. Unter dem Strich kann das
nicht befriedigen, zumal Deutschland eigentlich Ex-
portweltmeister ist, das heißt der Löwenanteil des Um-
satzes durch den Export erzielt wird. Außerdem stagniert
der innerdeutsche Handel. Es muss also wirklich etwas
passieren.

Es ist unbedingt notwendig, dass Ostdeutschland mehr
vom „Exportkuchen“ abbekommt. Da sind wir uns einig.
Das ist natürlich nach wie vor schwierig, weil weiterhin
Defizite bestehen. Es ist schon gesagt worden: Wir haben
in Ostdeutschland nur wenige Großbetriebe mit einem ho-
hen Exportanteil und schlagkräftigen Marketingabteilun-
gen. Die kleinen und mittleren Unternehmen können sich
das nicht leisten.

Was kann man gegen diese Nachteile tun? Ich denke,
dass die kleinen und mittleren Unternehmen strategische
Allianzen eingehen müssen. Das ist ein hochtrabendes

Wort, aber nur so wird es funktionieren. Die Unternehmen
müssen sich zusammentun und international, also
grenzüberschreitend, kooperieren. Dabei denke ich auch
an die lange EU-Außengrenze.

In Brandenburg zum Beispiel gibt es so genannte
Marktzugangsinitiativen. Dabei werden – was meiner
Ansicht nach richtig ist – die Entwicklung, die Produkti-
on und die Vermarktung von den Unternehmen teilweise
gemeinsam durchgeführt. Immerhin hat das zu einer Stei-
gerung der Warenausfuhr von 5,9 Prozent in 1995 auf
22,1 Prozent in 1998 geführt. Ich glaube, dass sich dieses
Ergebnis sehen lassen kann. Auch wenn wir, Walter
Hirche, nicht mehr dabei sind, muss man das fairness-
halber sagen.

Der Bund sollte solche Allianzen, also Zweckbündnis-
se, fördern; denn hier ist ein hoher Wirkungsgrad zu er-
warten.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein weiteres Defizit bei der Erschließung von Außen-
märkten liegt in der Nutzung neuer Medien und des
E-Commerce, wie man so schön sagt. Auch hier führe ich
Brandenburg als Beispiel an: Nur 20 Prozent der kleinen
und mittleren Betriebe sind jetzt am Netz. Das ist ein un-
tragbarer Zustand, zumal wenn man bedenkt, dass der
Trend eindeutig zur Warenbestellung über „www“ geht.
Deshalb müssen alle Betriebe im Osten unbedingt ans
Netz. Auch hier kann die Bundesregierung sinnvolle Un-
terstützung geben.


(Sabine Kaspereit [SPD]: Das haben wir ja heute Morgen gehört!)


Ganz wichtig beim Ausgleich noch immer vorhande-
ner struktureller Nachteile ist die Unterstützung der tech-
nischen Dienstleistungen und überhaupt der freien Beru-
fe, weil diese eine Schlüsselfunktion haben werden und
werden haben werden müssen. Veranstaltungen wie der
1. Europäische Ingenieurkammertag im Mai 1998 in
Dresden, das Pilotprojekt „Ingenieur-Dialog in Großbri-
tannien und Irland“ 1998 oder ein erster Dialog in
Kanton, also in China, im April 1998 haben gute Ergeb-
nisse gebracht. Dort waren übrigens auch ostdeutsche
Planungsbüros vertreten; denn die Nachfrage nach
Planungsleistungen für Infrastrukturprojekte ist in den
mittel- und osteuropäischen Staaten sowie in China und
anderswo groß. In dem Bewusstsein, dass solche techni-
schen Dienstleistungen die Nachfrage nach Bauleistungen
und Investitionsgütern nach sich ziehen, sollten wir unse-
ren Schwerpunkt wirklich darauf legen.

Genau dort muss man ansetzen sollte beispielsweise
das Projekt einer privaten Initiative zur Markter-
schließung für die deutsche Baustoffwirtschaft in China
ressortübergreifend gesehen werden und es sollten mög-
lichst viele deutsche Kooperationspartner mit ins Boot ge-
holt werden.


(Beifall bei der F.D.P.)

Der Initiator und Koordinator dieser technischen

Dienstleistungen muss unterstützt werden. Das ist noch
nicht so. Er bekommt keine Förderung. Er ist der Wich-




Barbara Wittig
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(C)



(D)



(A)



(B)


tigste, der das Ganze anschiebt und koordiniert. Hier darf
nicht gekleckert und an der falschen Stelle gespart wer-
den, sondern hier muss geklotzt werden.


(Beifall bei der F.D.P.)

Herr Krüger hat ja die Relation der Kostenanteile ge-
nannt: Sie beträgt 1 : 10 bzw. 1 : 100. Dem sollte man end-
lich Rechnung tragen.

Da die bisherigen Fördermaßnahmen nur begrenzt ge-
griffen haben, müssen wir insgesamt darüber nachdenken,
wo neue Förderschwerpunkte gesetzt werden müssen. Wo
sie aus meiner Sicht liegen sollten, habe ich dargelegt.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409813100
Das Wort hat nun der
Kollege Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen.

Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Krüger, das Bemühen der Union, in der perso-
nellen Erneuerung und möglicherweise auch in der Sach-
politik voranzukommen, ist allenthalben sichtbar. Insofern
habe ich Verständnis dafür, dass Sie in der Sachpolitik wie-
der Tritt fassen wollen.

Doch wenn man sich Ihren Antrag einmal genau an-
schaut, dann stellt man fest, dass Ihre so genannte neue
Sachpolitik keinen wirklich neuen Aspekt enthält und
dass Sie daher bei uns offene Türen eintreten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Insofern ist es müßig, jetzt die beiden vorliegenden
Anträge zu vergleichen und festzustellen, welcher eher
vorlag. Entscheidend ist, welches der Originalantrag ist.


(Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Der, der ihn zuerst gemacht hat! Das ist unser Antrag!)


Ich habe weder Ihrer Rede und noch Ihrem Antrag ei-
nen neuen Aspekt, also Ansatzpunkte, die der Regierung
bisher verborgen geblieben wären, oder Dinge, die sie
nicht tut, entnommen. Ich habe von Ihrer Seite Zweifel da-
hin gehend gehört, ob die Regierung das in unserem An-
trag Geforderte wirklich tun will und tun wird. Ich habe
Skepsis gehört. Ich habe Aufstockungsvorschläge gehört.

Natürlich könnten die Förderungen ein bisschen um-
fangreicher und ein bisschen intensiver sein. Komischer-
weise fällt Ihnen das erst in der Opposition auf; darauf
muss man immer wieder einmal hinweisen.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD)


In der Zeit, in der Sie am Ruder bzw. an der Schiffs-
schraube saßen, habe ich von Ihnen keine derartigen
Vorschläge gehört.


(Abg. Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Mit denen, die Sie gemacht haben, sind Sie regelmäßig
gescheitert – falls Sie diese Zwischenfrage jetzt stellen
wollen.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409813200
Das kommt jetzt.
Herr Kollege, wollen Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Krüger zulassen? – Bitte sehr, Herr Kollege Krüger.


Dr. Paul Krüger (CDU):
Rede ID: ID1409813300
Herr Schulz, sind
Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich in meinem
Beitrag deutlich gemacht habe, dass es bis 1998 eine enor-
me Steigerung der Exportrate der ostdeutschen Wirtschaft
gab – sie lag vor 1998 bei etwa 10 und 1998 präzise bei
10 Prozent –, dass es im Jahre 1999 einen Rückgang um
6,5 Prozent gab – die Quelle ist das Kölner Wirt-
schaftsinstitut – und dass es deshalb besonders wichtig ist,
jetzt, da Sie regieren, noch einmal darüber nachzudenken,
was man über das hinaus, was man in den vergangenen
Jahren getan hat, unternehmen kann, um den Export in den
neuen Bundesländern zu beflügeln?

Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): In der Ansicht, dass die Exportförderung in der Ära
Kohl nicht den Erwartungen entsprochen hat, die wir al-
le hatten, stimme ich Ihnen sofort zu.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Das hat er nur nicht gesagt!)


– Aber in gewisser Weise indirekt. Denn er hat gesagt –
wenn ich Ihnen das einmal übersetzen darf –, dass wir –
auf einem äußerst niedrigen Niveau – zweistellige Ex-
portzuwachsraten hatten.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Aber es war kein Rückgang wie zu Ihrer Regierungszeit!)


– Herr Kollege Hirche, wir müssten uns vielleicht einmal
über die Ursachen dafür unterhalten, warum der Export
überhaupt so zusammengebrochen ist, warum wir in Ost-
deutschland eine derart einzigartige, gespenstische
Deindustrialisierung hatten,


(Zuruf von der CDU/CSU: Aber warum jetzt ein Rückgang?)


warum sich der Export nur auf wenige Großbetriebe,
beispielsweise auf VW, Opel, Siemens usw., erstreckt und
warum wir die vielen kleinen und mittleren Betriebe
damals im Regen haben stehen lassen.

Ich stimme also sofort mit Ihnen darin überein, dass die
Förderungen in Ostdeutschland sowohl unter der Regie-
rung Kohl als auch unter der jetzigen Regierung nicht aus-
reichend waren.


(Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Aber der Export ist jetzt zurückgegangen!)


Ich weiß nicht, was Sie von einer Regierung, die erst
eineinhalb Jahre im Amt ist, erwarten. Als Wirtschafts-
politiker, der Sie ja auch sind, muss ich Ihnen sagen: Das
Jahr 1999 hatte, weltwirtschaftlich gesehen, ein paar
Besonderheiten aufzuweisen. Das ist offensichtlich an
Ostdeutschland nicht vorbeigegangen. Sie können der




Jürgen Türk

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(A)



(B)


rot-grünen Regierung schlecht anlasten, dass es zu einer
Weltwirtschaftskrise kam.


(Jürgen Türk [F.D.P.]: Eine gute konjunkturelle Lage der Weltwirtschaft und trotzdem ein Rückgang! Wie erklären Sie das?)


–Natürlich ist das erklärbar. Ich verweise beispielsweise
auf die Krise in Osteuropa, die sich durch den Wegbruch
der Märkte verstärkt hat. Sie wissen, dass es in Asien Ein-
brüche gegeben hat. Ich glaube nicht, dass es etwas mit der
jetzigen Regierung zu tun hat, dass da etwas eingebrochen
ist.

Dennoch müssen die positiven Aspekte herausgestellt
werden: Die Auftragslage ist optimistisch. Wir hoffen auf
zweistellige Zuwachsraten. – Insofern hat die Bundesre-
gierung diesen Einbruch abgefangen.

Die Kollegin Wittig hat es deutlich gemacht – auch
wenn Ihnen das nicht gefällt –: Das Bündnis für Arbeit,
Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit hat im Juni letzten
Jahres eine Konzeption zur Absatzförderung für die ost-
deutsche Wirtschaft beschlossen. Es mag ja sein, dass an
dieses Bündnis die übertriebene Erwartung geknüpft
wird, das Problem der Arbeitslosigkeit könne sofort, qua-
si im Hauruck-Verfahren, gelöst werden, und dass die
vielen kleinen Schritte, die dort vereinbart wurden, um im
Endeffekt zu helfen, dieses Problem zu lösen, von Ihnen
gar nicht gesehen werden. Hier hat sich die Bundesregie-
rung mit der Wirtschaft darauf verständigt, den Absatz und
die Exportförderung auf ein neues Niveau zu bringen. Im
Grunde genommen sind alle Akteure zusammengebracht
worden: Bund, Länder, Wirtschaft und Gewerkschaften.
Ich finde, Sie hatten jede Chance, dieses Bündnis zustan-
de zu bringen, aber Sie haben es nicht geschafft. Tut mir
Leid, Sie haben die Chance verpasst.


(Jürgen Türk [F.D.P.]: Es muss aber auch etwas herauskommen!)


Ich möchte auf einige Probleme, die ich für wichtiger
halte, und auf Ihren Antrag eingehen. Darin betonen Sie
die Ausweitung der Förderung der Informations- und
Kommunikationstechnologie. Sie weisen zu Recht darauf
hin, dass im Bereich E-Commerce und im „business to
business“ – Bereich Defizite bestehen, dass vor allen Din-
gen die kleinen und mittleren Unternehmen hinterherhin-
ken, weil sie diese Technologie nicht nutzen können. An
Ihnen ist aber offensichtlich die Initiative D 21, die von
dieser Bundesregierung ins Leben gerufen worden ist,
völlig vorbeigegangen. Sie stellt den Aufbruch in das In-
formationszeitalter dar. Ich frage Sie: Wie verträgt sich Ih-
re Erkenntnis, dass dies so wichtig ist, denn mit der
töricht-dreisten Kampagne Ihres ehemaligen Zukunftsmi-
nisters?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das ist doch ein Widerspruch: Auf der einen Seite be-
tonen Sie die Wichtigkeit dieser Förderung; auf der ande-
ren Seite aber wollen Sie uns einreden, dass die Green
Card Arbeitsplätze blockieren oder vernichten werde. Das
Gegenteil ist der Fall: Wir brauchen ausgebildete Spezia-
listen zumindest für eine Übergangszeit, weil wir diese

Arbeitsplätze im Moment gar nicht besetzen können. Zu-
dem stellt die Einstellung von Spezialisten auch für Ost-
deutschland die beste Exportförderung dar.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Diese Aspekte tauchen im Memorandum zur Initiative
D 21 auf; aber darauf gehen Sie viel zu wenig ein. Die
Bundesregierung befindet sich mit ihren Anstrengungen
auf dem richtigen Weg; denn wir wollen nicht, dass es
demnächst einen Know-how-Transfer bzw. grenzüber-
schreitende Dienstleistungen von Ost nach West gibt. Wir
brauchen diese Experten hier, auch um die Basis für die
ostdeutsche Wirtschaft zu verbessern.
Ich will in diesem Zusammenhang auch auf die Messe-
förderung zu sprechen kommen. Damit helfen wir den
kleinen und mittelständischen Unternehmen bei der
Präsentation ihrer Produkte im In- und Ausland. In diesem
Jahr wird es einen Absatzkongress geben. Das ist eine Ini-
tiative, die den Betrieben, die die Präsentation ihrer Pro-
dukte nicht aus eigener Kraft bewerkstelligen können, ent-
gegenkommt. Sie dient beispielsweise dem Er-
fahrungsaustausch und dem Aufbau entsprechender
Absatz- und Lieferbeziehungen.

Wenn wir über die Rahmenbedingungen sprechen,
müssen wir natürlich auch über die großen Projekte der
Bundesregierung reden, zum Beispiel über das Zukunfts-
programm 2000 und die Steuerreform.


(Jürgen Türk [F.D.P.]: Die Steuerreform hätten Sie jetzt nicht nennen sollen!)


Ein konsolidierter Haushalt ist die Rahmenbedingung, um
die entsprechenden Mittel bereitstellen zu können. Ich
denke zum Beispiel an das große Programm, das wir in
diesem und im nächsten Jahr zu bewältigen haben; wir
müssen ein großes Paket schnüren. Ich bin sehr gespannt
darauf, wie sich die großen Bundesländer, auch die von der
Union regierten, verhalten werden, wenn wir darangehen,
das Föderale Konsolidierungsprogramm neu aufzulegen.
Das wird auf uns zukommen. Das wird die große, span-
nende Aufgabe. Das ist das große Thema, wenn wir den
Aufbau Ost als eine komplexe Aufgabe betrachten und
nicht in Scheibchen zerlegen.

Mit dem – da stimme ich Ihnen zu – noch viel zu
schmalen Segment der Absatzförderung und des Exports
sind wir natürlich unzufrieden. Aber ich denke – Herr
Kollege Krüger, da können Sie uns schwerlich widerspre-
chen –, wir sind da auf einem guten Weg.


(Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Rückgang ist kein guter Weg!)


Kritik ist zwar gefragt, aber sie muss wirklich konstruktiv
sein. Sie müssen mit Vorschlägen kommen, die wir auf-
greifen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich sehe in Ihrem Antrag nichts Besonderes. Sie haben
nach dem Motto „Mal schauen, was die Regierung macht,
es umformulieren und dann damit hausieren gehen“




Werner Schulz (Leipzig)

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(C)



(D)



(A)



(B)


vorgetäuscht, etwas Eigenes auf den Weg gebracht zu
haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409813400
Jetzt hat der Kollege
Gerhard Jüttemann, PDS-Fraktion, das Wort.


Gerhard Jüttemann (PDS):
Rede ID: ID1409813500
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Den vorliegenden Antrag der
CDU/CSU-Fraktion abzulehnen käme dem ökonomisch
sinnlosen Aufruf gleich, Exportchancen nicht zu nutzen
und damit wirtschaftliche Möglichkeiten zu vergeben.
Das ist die eine Seite.

Die andere Seite ist, dass der Antrag allein nicht allzu
viel wirtschaftlichen Aufschwung bewirken wird. Denn
der mangelnde ostdeutsche Export, der 1999 um fast
7 Prozent geschrumpft ist, statt zu steigen, ist nicht Ursa-
che, sondern Folge der Hauptprobleme der ostdeutschen
Wirtschaft. Diese Hauptprobleme bestehen im niedrigen
Produktivitäts- und Einkommensniveau, im geringen In-
dustrialisierungsgrad und in einer weit überwiegend
kleinbetrieblichen Unternehmensstruktur. Dazu kommen
eine ungenügende Innovations-, Forschungs- und Ent-
wicklungsintensität sowie eine auf hohem Niveau ver-
festigte Arbeitslosigkeit.

Die in den neuen Bundesländern vorherrschenden
Kleinunternehmen exportieren nicht sehr viel. Das wird
sich auch nicht ändern, wenn die Absatzförderung inten-
siviert wird. Für Siemens und Opel und die wenigen an-
deren Großunternehmen, die im Osten ihre Filialen er-
richtet haben, mag das anders aussehen. Aber sehr viele
sind das bekanntlich nicht.

Was resultiert aus diesem Problem? Daraus resultiert,
dass seit 1997 der Abstand zwischen Ost und West wie-
der größer wird statt kleiner, und zwar hinsichtlich der
wichtigsten wirtschaftlichen Kennziffern und hinsicht-
lich der Lebensverhältnisse. Gerade hat uns die Bundes-
regierung in ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage zur
Situation in Ostdeutschland mitgeteilt, dass die seit zehn
Jahren versprochene Angleichung der Lebensverhält-
nisse den Zeitraum einer ganzen Generation brauchen
wird. Leider hat sie uns immer noch nicht verraten, auf
welchem Wege diese Angleichung erreicht werden soll.
Die von der Regierung beschworene wirtschaftspoliti-
sche Gesamtstrategie, deren Kern das so genannte Zu-
kunftsprogramm 2000 ist, ist dafür jedenfalls gänzlich un-
geeignet.


(Zuruf von der SPD: Warum?)

Dieses Zukunftsprogramm hieß vor einem Jahr noch

Sparpaket

(Sabine Kaspereit [SPD]: Das haben Sie so genannt!)

und sieht die Einsparung von 30MilliardenDM im Staats-
haushalt vor, von denen allein Rentner und Arbeitslose
13 Milliarden DM aufzubringen haben. Berücksichtigt
man in diesem Zusammenhang die für Großunternehmen
vorgesehenen Steuererleichterungsmilliarden, wird klar,

dass es sich um eine gigantische Umverteilung von unten
nach oben handelt.


(Zuruf von der SPD: Lesen lernen!)

Auf diesem Wege aber wird es eine Angleichung der
Lebensverhältnisse auch in Jahrzehnten nicht geben, es sei
denn, die Lebensverhältnisse im Westen gleichen sich de-
nen im Osten an. Ich vermute, eine solche Entwicklung
würde weder hier noch dort bei der großen Mehrheit der
Bevölkerung auf besonders große Gegenliebe stoßen.
Wenn Sie das anstreben, wird es Zeit, dass Sie das den
Menschen klar sagen.


(Sabine Kaspereit [SPD]: Erzählen Sie nicht so was!)


Die PDS hat im vergangenen Jahr einen ausgewogenen
und realistischen Fahrplan zur Angleichung der Lebens-
verhältnisse vorgelegt, der von Ihnen abgelehnt wurde.
Das gleiche Schicksal haben Sie unserem Entschlie-
ßungsantrag zu der erwähnten Großen Anfrage beschert.


(Zuruf von der SPD: Das war auch sehr nötig!)


So weit, so schlecht. Aber wo ist Ihre Alternative? Oder
rechnen Sie damit, dass die Leute auf Dauer nicht merken,
dass Sie etwas anderes tun, als Sie in Ihren Reden ver-
sprechen?


(Dr. Barbara Höll [PDS]: Genau!)

Noch ein Wort zur Förderung des Absatzes ostdeut-

scher Produkte, die uns wichtig erscheint, aber nur in ei-
nem Maßnahmenbündel Chancen hat, die gewünschten
Wirkungen zu entfalten. Ein sehr wirksamer und außer-
dem noch ökologischer Beitrag für eine solche Absatz-
förderung wäre zum Beispiel, wenn die Regierung dafür
sorgen würde, dass ostdeutsche Produkte von den großen
Handelsketten auch gelistet würden. Damit würde in Ost-
deutschland in sehr kurzer Zeit das völlig überflüssige An-
gebot bayerischer Joghurts, holländischer Tomaten, iri-
scher Butter und einiges anderes mehr verschwinden, das
im Osten ebenso gut oder besser hergestellt werden kann.


(Beifall bei der PDS – Sabine Kaspereit [SPD]: Was ist das für eine Wirtschaftspolitik, Herr Jüttemann! Wir haben keinen Minister für heimische Versorgung hier! – Zuruf von der SPD: Aber nur mit einem Fünfjahresplan machen wir das!)


Vom Bischofferöder Kali in meiner Heimatgemeinde
will ich in diesem Zusammenhang nur kurz reden. Die
Grube hätte noch Jahrzehnte produzieren und zu auf dem
Weltmarkt konkurrenzfähigen Preisen exportieren können
– auch ohne Absatzförderung. Aber sie wurde ja zu-
gunsten westdeutscher Konzerne platt gemacht.


(Zuruf von der CDU/CSU: Schwindel!)

Mir geht es um die Schaffung und Förderung regiona-

lerWirtschaftskreisläufe.Diese wären gleichbedeutend
mit der Förderung des Absatzes von Ostprodukten auf
höchstem Niveau. Auf diesem Gebiet gäbe es im Rahmen
Ihrer – leider nur so genannten – Chefsache Ost eine Men-
ge Erfolg versprechender Dinge zu tun. Meine Kalikum-




Werner Schulz (Leizig)


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(C)



(D)



(A)



(B)


pel zu Hause in Bischofferode warten bisher vergebens auf
die ihnen versprochenen 700 bis 1 000 Arbeitsplätze. Vie-
le verlassen resigniert ihre Heimatorte in Richtung alte
Bundesländer. Das kann doch wohl nicht die Lösung sein.
Allein in meinem Heimatort – wir waren einmal knapp
3 000 Einwohner – haben von 1994 an über 600 Einwoh-
ner den Ort verlassen. Über 100 Wohnungen stehen leer.
Das sind die Probleme, die wir vor Ort zu lösen haben.
Und hier wird darüber gestritten, wer das bessere Konzept
hat. Machen Sie doch endlich etwas!


(Beifall bei der PDS – Zuruf von der SPD: Machen wir doch!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409813600
Das Wort hat nun der
Kollege Christian Müller von der SPD-Fraktion.


Christian Müller (SPD):
Rede ID: ID1409813700
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! An Pro-
blembeschreibungen von allen Seiten des Hauses hat es
nicht gemangelt. Sie sind nahezu komplett, dem muss
nichts hinzugefügt werden. Auch Rundumschläge haben
wir eben noch über uns ergehen lassen, sodass ich eher da-
zu kommen möchte, mich mit einigen der hier aufgewor-
fenen Probleme näher auseinander zu setzen.

Zunächst zu dem Problem des Zu-spät-gekommen-
Seins. Da bin ich eher der Meinung von Herrn Schulz, der
sagt: Neue Aspekte sind an dieser Stelle nicht zu erken-
nen. Ich habe mir im Vorfeld dieser heutigen ersten De-
batte zu diesem Thema die Mühe gemacht, zusammenzu-
stellen, was es dazu bisher gegeben hat. Ich kann sagen,
es ist reichlich viel. Das meiste ist allerdings von der da-
maligen Opposition gekommen und nicht von Ihnen. Wir
hatten 1992 eine Gemeinschaftsinitiative der neuen Län-
der,


(Zuruf von der F.D.P.: Das war ja eine Gemeinschaftsinitiative!)


bei der die Förderung des Absatzes ostdeutscher Produk-
te eine sehr wichtige Rolle spielte.


(Zuruf von der F.D.P.: Ihr könnt doch nicht alles für euch verbuchen!)


– Natürlich nicht!
Wir haben 1995 eine Außenwirtschaftskonzeption vor-

gestellt. Wir haben eine interessante Debatte gehabt, die
zu dem Punkt geführt hat – unser Kollege Siegmar
Mosdorf hatte den herausgefunden –, dass nämlich die
damalige Bundesregierung eine Vollblockade bei Hermes
dadurch erzeugt hatte, dass 80 Prozent der Wertschöp-
fungen in Ostdeutschland stattfinden sollten, was nach-
gerade unmöglich war. Wir hatten eine Große Anfrage zur
Globalisierung; wir haben in der 13. Legislaturperiode so-
gar den Versuch unternommen – offenbar sogar eine Zeit
lang gemeinsam –, hier im Hause einen Antrag zustande
zu bekommen, von dem die damalige Koalition dann aber
wieder abgesprungen ist. Interessanterweise ist das heute
in den Datenbanken noch immer falsch enthalten. Das
Ganze steht also mindestens in dieser Tradition, insofern
muss ich dem Thema „zu spät gekommen“ einfach nichts
mehr hinzufügen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir sind uns darüber einig, dass wir Wachstumsim-
pulse brauchen, die im Außenmarkt genauso wichtig sind
wie im Inneren. Wir haben natürlich die Frage zu behan-
deln, ob das Exportwachstum uns letztendlich befriedigt
oder nicht. Es wird uns nicht befriedigen, aber vielleicht
haben auch Sie diese Woche festgestellt, dass die Frühin-
dikatoren, die bisher immer das zunehmende Wachstum
der westdeutschen Wirtschaft auswiesen, eine Wende er-
fahren haben, sodass es sich im Ifo-Geschäftsklimasaldo
in Form einer Zunahme von 6 auf 12 Punkte auswirkt. Das
heißt, das Klima verbessert sich. Nehmen Sie doch an,
dass das ein Ergebnis vernünftiger Regierungspolitik ist.
Ich hoffe, Sie können das akzeptieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Krüger meint, wir müssten Rahmenbedingungen
schaffen und der Bund dürfe nicht nachlassen. Der Bund
lässt nicht nach, das weisen die für die Außenwirtschafts-
förderung vorliegenden Bilanzen, die sehr akribisch er-
stellt werden, aus. Die Regierung Schröder hat die Mittel
für die Exportwirtschaft und die Exportförderung verste-
tigt. Auch dieses Jahr stehen 20 Millionen DM zur Verfü-
gung, und das wird fortgesetzt werden. Was damit ange-
stellt wurde, wissen Sie doch hoffentlich auch: Inlands-
messeförderung als ein wesentliches Element, Besetzung
der Leitmessen. Daran haben sich 2 221 ostdeutsche Mit-
telständler beteiligt.

Es klangen hier schon die Vermarktungsprojekte im
Ausland an, sowohl die Lieferantenforen als auch die Ver-
marktungsunterstützung. Als neues Element gibt es natür-
lich inzwischen auch die Internetpräsentation solcher Pro-
jekte. Das sind doch die entscheidenden und wichtigen
Schritte, die in dieser Zeit nötig sind.

Die Vergabe öffentlicher Aufträge sei erwähnt. 20 Pro-
zent Bundesaufträge sind nach wie vor up to date. Neue
Medien und E-Commerce sind im Aufschwung begriffen.
Dass dort noch zugelegt werden muss, wissen wir alle.

Vergessen Sie bitte nicht die Sonderkonditionen, die
Ostdeutschland auch bei der gesamtdeutschen Absatzför-
derung der Wirtschaft erhält, beispielsweise die Aus-
landsmesseförderung – immerhin 16 bis 17 Prozent der
teilnehmenden Unternehmen kommen aus dem Osten –
und die Kooperationsförderung. Ich habe nichts gegen die
strategischen Allianzen einzuwenden. Dies alles ist si-
cherlich vernünftig.


(Jürgen Türk [F.D.P.]: Bloße Verstetigung reicht doch nicht!)


Die Maßnahmen haben sich bewährt. Zunehmend werden
die jungen Technologieunternehmen des Ostens – dies ist
erkennbar – auf die Außenmärkte drängen.

Damit sind wir beim Thema der Außenhandelskam-
mern und der Kooperationen, die dort natürlich notwen-
dig sind. Das spielt auch im Antrag von SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen eine Rolle. Sie alle erinnern sich noch
an unser altbekanntes Drei-Säulen-Konzept der Außen-
wirtschaftsförderung. Wir müssen bis zum heutigen Tage




Gerhard Jüttemann
9160


(C)



(D)



(A)



(B)


eine interessante Entwicklung konstatieren, nämlich eine
Entwicklung hin zu konkreter Wirtschaftsförderung bei
den deutschen Botschaften, hin zu konkreter Wirtschafts-
förderung bei den Auslandshandelskammern und auch
hin zu konkreter Wirtschaftsförderung durch Information
seitens der BfAI. Das lässt erkennen, dass das damals für
sich stehende Konzept dieser drei Säulen eigentlich über-
reif dafür ist, zu einem koordinierten Konzept zu-
sammengeführt zu werden. Das setzt allerdings voraus,
dass beim BfAI natürlich nach wie vor kundige Korre-
spondenten vor Ort unverzichtbar sind; denn die Sekun-
därinformationen, die man hierzulande aus dem Internet
und sonst woher ziehen kann, werden nicht ausreichen.
Dafür werden wir uns einsetzen.


(Beifall bei der SPD)

Die Schlussfolgerung daraus ist, dass wir im Interesse

der deutschen Wirtschaft und der deutschen Firmen unsere
Bemühungen auf den Außenmärkten tatsächlich innerhalb
dieser drei genannten Bereiche konzentrieren müssen.
Wenn es möglich ist, sollten wir sie demnächst institutio-
nell unter ein Dach bekommen.

Wie Sie wissen, haben wir ja nun alle gelegentlich die
Möglichkeit, uns die Erfahrungen auch von außen anzu-
schauen. Vielleicht kann man in diesem Zusammenhang
auf die jüngste Reise des Bundestagsausschusses für
Wirtschaft und Technologie nach Mexiko verweisen.


(Jürgen Türk [F.D.P.]: Aha!)

Die Mitglieder der dortigen Auslandshandelskammer
haben bei dieser Gelegenheit unterstrichen, dass die
deutschen Bemühungen zur Außenwirtschaftsförderung
richtig sind und sich auf den Mittelstand konzentrieren
sollen, insbesondere auf die ostdeutschen Unternehmen.

In diesem Zusammenhang vielleicht noch ein Wort zu
den bekannten deutschen Häusern. Sie erinnern immer
noch an wirtschaftlich sehr ungleichgewichtige Situatio-
nen in den deutschen Bundesländern. Bayern, Baden-
Württemberg und Nordrhein-Westfalen werden sicher mit
Hilfe ihrer Landesbanken immer in der Lage sein,


(Jürgen Türk [F.D.P.]: NRW bestimmt!)

die Interessen ihrer Firmen, vor allem der mittelständi-
schen, durch die Installation derartiger Häuser zu unter-
stützen. Überall in der Welt gibt es drei oder vier Projek-
te. Es wachsen welche und in Mexiko kommt noch eines
hinzu.

Es lohnt sich vielleicht, einmal darüber zu diskutieren
und darüber nachzudenken, wie es gelingen könnte, dass
die schwachen Länder Deutschlands – das sind nicht nur
die ostdeutschen – ihre Kräfte bündeln, um so ihren
mittelständischen Firmen mehr Unterstützung zu geben,
selbst wenn andere Bundesländer – natürlich auch ost-
deutsche – Firmen aufnehmen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich denke, das wäre ein Ansatz, über den Sie im Rahmen
der Debatte über diesen Antrag nachdenken sollten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich – um dem Ende etwas näher zu kom-
men – auf Folgendes verweisen.


(Beifall des Abg. Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU])


– Es ist nicht mein persönliches Ende, sondern das meines
Redebeitrags. – Die Debatte, die wir hier führen, würde
auf jeden Fall zu kurz greifen, wenn wir sie auf die In-
strumente der Außenwirtschaftsförderung verengen wür-
den. Das liegt wohl auf der Hand.


(Ulrich Klinkert [CDU/CSU]: Das stimmt!)

Entscheidend wird sein, inwieweit es in den nächsten

Jahren gelingt, in Ostdeutschland ein Netz innovativer
Firmen zu installieren, die erst einmal stabil genug sein
müssen, um in den Markt hineinzukommen, und die
natürlich in einem nächsten Schritt den Weg auf die Welt-
märkte suchen müssen, um voranzukommen. Die Sekto-
ren, in denen dieses stattfinden kann, fallen uns allen si-
cherlich relativ schnell ein. Das ist entscheidend dafür, ob
der Wirtschaftsstandort Ostdeutschland stärker oder
schwächer werden wird.

Jetzt sind wir bei dem entscheidenden Punkt: Schauen
Sie sich bitte die Instrumentarien der Technologieförde-
rung des Bundes an. Die Bundesregierung hat den Ansatz,
technologisch interessante Unternehmen voranzubringen,
einen Teil der Kosten für Forschungspersonal zu über-
nehmen. Die Bundesregierung hat auch den Ansatz, die
Vernetzung solcher Firmen voranzubringen. In einer
Welt, in der die Vernetzung von Tag zu Tag zunimmt, ist
ein Überleben auf sich allein gestellter einzelner Unter-
nehmen unmöglich.

In diesem Zusammenhang darf ich sehr wohl an das er-
folgreiche Projektgeschehen um Inno-Regio erinnern, das
überall in Ostdeutschland zu einem Aufbruch geführt hat,
der zu solchen Vernetzungsprojekten führt. Das ist die
Grundlage, auf der die ostdeutsche moderne Wirtschaft in
der nächsten Zeit vorwärts kommen wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409813800
Herr Kollege, denken
Sie an Ihre Redezeit. Es klang so hoffnungsvoll.


Christian Müller (SPD):
Rede ID: ID1409813900
Dann, verehrte Frau
Präsidentin, komme ich zum Abschluss.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409814000
Sehr gut.

(Heiterkeit im ganzen Hause)



Christian Müller (SPD):
Rede ID: ID1409814100
Meine sehr geehrten
Damen und Herren, ich empfehle Ihnen dringend, sich in
den Beratungen, die in den verschiedenen Ausschüssen
stattfinden werden, zu überlegen, ob Sie sich nicht unse-
rer Richtung anschließen, die – wie ich schon sagte – ei-
ne Tradition über die letzten zehn Jahre hinweg hat.

Vielen Dank.




Christian Müller (Zittau)


9161


(C)



(D)



(A)



(B)



(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409814200
Nun hat der Kollege
Ulrich Klinkert, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


Ulrich Klinkert (CDU):
Rede ID: ID1409814300
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Deutschland ist eine der
wichtigsten Exportnationen der Welt.


(Susanne Kastner [SPD]: Wer hätte das gedacht! Und das unter SPD-grüner Regierung mit zunehmender Tendenz!)


1998 hatten wir einen Anteil von immerhin 10 Prozent am
Welthandel oder – anders ausgedrückt – fast 30 Prozent
des Bruttoinlandprodukts gehen in den Export. Produkte
„Made in Germany“ sind weltweit begehrt. Durch die
Globalisierung der Weltwirtschaft wird die Wirtschaft in
der Bundesrepublik weiterhin gute Chancen zum Ex-
pandieren und Exportieren haben.


(Sabine Kaspereit [SPD]: Das habe ich schon einmal irgendwo gelesen!)


Der Export ist seit Jahrzehnten Voraussetzung für wirt-
schaftliche Stabilität, für Wachstum, für Wohlstand und für
Beschäftigung. Leider klafft beim Export nach wie vor ei-
ne große Lücke zwischen Ost und West. Darauf haben
auch meine Vorredner hingewiesen. Die alten Bundeslän-
der exportieren pro Kopf fast sechsmal so viel wie die neu-
en Bundesländer. Hier liegt meines Erachtens eine der
wichtigsten Aufgaben der Ost-West-Angleichung. Ich
wage zu behaupten: Ohne Angleichung der Exportquote
wird es keine Angleichung der Lebensverhältnisse geben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Dies ist zum einen natürlich eine nationale Aufgabe, bei

der die Bundesregierung nicht aus ihrer Verantwortung
entlassen werden kann. Dies ist aber auch und nicht zu-
letzt eine Aufgabe der neuen Bundesländer selbst; denn bei
genauem Hinsehen erkennt man, dass es extreme
Unterschiede innerhalb der neuen Bundesländer gibt.
Während zum Beispiel Sachsen im Jahre 1999 einen Ex-
port von immerhin 13,9 Milliarden DM realisieren konn-
te, exportierte Sachsen-Anhalt gerade einmal für 5,5 Mil-
liarden DM und Mecklenburg-Vorpommern nur für
2,5 Milliarden DM. Anders ausgedrückt: Die Pro-Kopf-
Exportrate, die 1994 in allen neuen Bundesländern in et-
wa gleich war, ist in der Zwischenzeit in Sachsen 50 Pro-
zent höher als in Sachsen-Anhalt und fast doppelt so hoch
wie in Mecklenburg-Vorpommern. Sie entwickelte sich
seit 1994 in Sachsen auf 234 Prozent und in Sachsen-
Anhalt auf 146 Prozent, während Mecklenburg-Vorpom-
mern überhaupt keine Steigerung vorweisen kann.

Dies hängt zum einen damit zusammen, dass Sachsen
eben andere Wege beschreitet als andere Bundesländer. In
Sachsen gilt: Erst investieren, dann konsumieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das ist ein Weg, der in Sachsen erstens zu einer wesentlich
geringeren Staatsverschuldung, zweitens zu mehr freien
Investitionsmitteln führt.


(Susanne Kastner [SPD]: Das sagen die Bayern auch immer! Das stimmt nicht! – Barbara Wittig [SPD]:UnddieKommunenverhungern!)


– Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, Frau Wittig, dass die
Verschuldung der Kommunen in Sachsen höher sei als
beispielsweise in Brandenburg. Die Verschuldung der
Kommunen in Brandenburg ist mindestens genauso hoch
wie in Sachsen, weil es dort unter anderem zum Beispiel
höhere Abwassergebühren als in Sachsen gibt.


(Barbara Wittig [SPD]: Fragen Sie bei den Haushältern der Kommunen nach!)


Wir haben in Sachsen also mehr freie Investitionsmit-
tel, wir haben auf Dauer eine größere Wirtschaftskraft. Das
führt auch dazu, dass wir dort zukunftsfähige Arbeits-
plätze schaffen können. Es ist kein Zufall, dass die Staats-
schulden von Sachsen-Anhalt, von Mecklenburg-Vor-
pommern und von Brandenburg doppelt so hoch sind wie
die Staatsschulden von Sachsen und dafür die Exportrate
in diesen Ländern zum Teil weniger als 50 Prozent beträgt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

Wir alle kennen die schwierige Ausgangssituation:

Nach der Wende ist der Export in den neuen Bundeslän-
dern fast völlig zusammengebrochen; denn die DDR war
nicht wirklich exportfähig, weil sie eben nicht wettbe-
werbsfähig war. Mit der Einführung der D-Mark zeigte
sich: Die DDR verschleuderte ihre Produkte zum Teil zu
weniger als 20 Prozent ihres Herstellungswertes in den
Westen – auf Kosten derer, die sie herstellten. Noch gra-
vierender wirkte sich der wirtschaftliche Zusammenbruch
der Haupthandelspartner im Osten aus. Diese hatten nach
1991/92 kaum noch Geld für Importe, und wenn sie De-
visen hatten, haben sie diese Devisen lieber für einen VW
als für einen Trabbi ausgegeben.

Trotz dieser schwierigen Ausgangslage haben wir seit
1994 ein deutliches Anwachsen des Exportes von damals
17,2 Milliarden DM auf 36,7 Milliarden DM im Jahre
1998. Allerdings – Kollege Krüger hat darauf hingewie-
sen – ist der Export seit 1998 drastisch rückläufig, aber nur
der Export aus den neuen Bundesländern heraus. Deswe-
gen kann das, Herr Kollege Schulz, auch nicht mit der
weltwirtschaftlichen Lage zusammenhängen, denn in den
alten Bundesländern konnte der Exportanteil fast in glei-
cher Höhe gesteigert werden.


(Zuruf von der SPD: Dann muss 1998 etwas falsch gelaufen sein!)


Dies zeigt erstens: Die Schere Ost-West geht seit 1998
wieder auseinander, nicht nur im Bereich des Exportes.
Die letzten Arbeitslosenzahlen sind ein weiterer Beweis
dafür. Zweitens: Die wirtschaftsfeindlichen Beschlüsse
der rot-grünen Bundesregierung


(Susanne Kastner [SPD]: Na, na!)

wirken sich besonders negativ auf die empfindliche
Wirtschaft der neuen Bundesländer und damit auch auf
den Export aus.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Widerspruch bei der SPD)







(C)



(D)



(A)



(B)


Die Maßnahmen der Bundesregierung wie etwa das
Steuerentlastungsgesetz, das eigentlich ein Steuerbe-
lastungsgesetz ist, das Hin und Her bei der Steuerreform,
das Chaos beim 630-Mark-Gesetz und bei der Schein-
selbstständigkeit und besonders die so genannte Öko-
steuer, zertrampeln die zarte Pflanze der wirtschaftlichen
Entwicklung der neuen Bundesländer.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie lähmen die Exportfähigkeit und vergrößern die Ar-
beitslosigkeit. Da nützen auch noch so viele Runden von
Bündnissen für Arbeit nichts. Sie haben bis heute eh zu
keinem substanziellen Ergebnis geführt.

Das hat die Bundesregierung bisher nicht erkannt
oder will es nicht erkennen. Im Gegenteil: Durch finanzi-
elle Kürzungen werden die neuen Bundesländer um Mit-
tel für Investitionen und für Infrastruktur gebracht. Diese
Mittel wären allerdings zwingend notwendig, um über-
haupt exportfähige Produkte herzustellen. Dass seit Be-
ginn der rot-grünen Regierung die Investitionsförderung
in den neuen Bundesländern zurückgeht, ist ein Ausdruck
dafür, was Gerhard Schröder darunter versteht, wenn er
sagt, der Aufschwung Ost werde zur Chefsache erklärt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr.Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Wo ist der Chef?)


– Die Abwesenheit der Bundesregierung hier ist ein
weiterer Beweis dafür.

Lassen Sie mich dies mit einigen Zahlen untermauern:
Die Mittel des für die Wirtschaft so wichtigen Förderin-
struments der Gemeinschaftsaufgabe Ost betrugen im
Jahre 1998 2,75 Milliarden DM, wurden 1999 auf
2,58 Milliarden DM reduziert und werden in diesem Jahr
nur noch 2,3 Milliarden DM betragen. Wir haben seit der
Amtsübernahme der rot-grünen Bundesregierung also ei-
nen Rückgang von 20 Prozent zu beklagen.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409814400
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Thalheim? – Bit-
te sehr.


Dr. Gerald Thalheim (SPD):
Rede ID: ID1409814500
Herr Kollege Klinkert,
Sie haben die Entwicklung der Exportzahlen in Sachsen
eindrucksvoll dargelegt. Mich würde interessieren, wie
sich der Widerspruch erklärt, dass Sachsen trotz der nach
Ihrer Darstellung so schlechten Politik der Bundesregie-
rung für die Zukunft eine so positive Entwicklung der Ex-
portzahlen sieht. Wenn man Ihren Ausführungen folgt,
müsste das umgekehrt sein. Vielleicht können Sie diesen
Widerspruch aufklären.


Ulrich Klinkert (CDU):
Rede ID: ID1409814600
Herr Kollege
Thalheim, zunächst habe ich ganz nüchtern festgestellt,
dass die Exportrate in Sachsen um einiges höher ist als in
den anderen neuen Bundesländern.


(Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Die haben eine bessere Regierung!)


Sie beträgt aber dennoch nur einen Bruchteil der Ex-
portrate, die in den alten Bundesländern üblich ist und die

normalerweise notwendig ist, um einen sich selbsttragen-
den Aufschwung herzustellen. Und wenn ich dann noch an
Ihren Bereich denke, nämlich an die Landwirtschaft, die
Sie zurzeit ruinieren, dann sollten Sie sich etwas zurück-
halten, wenn es um den Aufschwung Ost geht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ich hatte Ihnen anhand von Zahlen belegt, dass die
Infrastrukturförderung von der Bundesregierung
zurückgeführt wird. So wichtige Verkehrsprojekte wie die
Südumfahrung Leipzig, der Ausbau der A 72, eine ganze
Reihe von Ortsumfahrungen und Autobahnzubringern
wurden auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Das
zeigt den Stellenwert des Aufbau Ost bei dieser Bundes-
regierung. Leider ist keine Besserung zu erwarten.


(Susanne Kastner [SPD]: Weil ihr so viele Schulden hinterlassen habt! Das ist eine Unverschämtheit!)


– Ich freue mich, dass Sie das aufregt; das zeigt, dass Sie
zumindest darüber nachdenken. Vielleicht sind Sie ja auch
noch in der Lage, daraus die notwendigen Schlussfol-
gerungen zu ziehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Während der Bund die Ausgaben für das Bundesfern-
straßennetz nach 2002 insgesamt zwar um 23,7 Prozent er-
höhen wird, wird es in den neuen Bundesländern, die
strukturell noch immer wesentlich schlechter ausgestattet
sind, zu einer Kürzung von 26 Prozent kommen. Infra-
struktur als Voraussetzung für Investitionen wird von Rot-
Grün also extrem vernachlässigt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Ein richtiger Skandal ist das!)


Trotzdem wird der Export in den neuen Bundesländern
wachsen. Es gibt hoffnungsvolle Zeichen wie die Inbe-
triebnahme des Interkontinentalflughafens in Leipzig, das
in der Nähe im Aufbau befindliche Montagewerk von
Porsche, die Erweiterung von Infineon in Dresden, die In-
betriebnahme von AMD und viele andere Beispiele mehr.
Dadurch werden Arbeitsplätze geschaffen, die den Export
sehr stark ankurbeln werden.


(Barbara Wittig [SPD]: Leuchtturmpolitik macht Sachsen!)


Ich sagte bereits: Die Wirtschaft und der Export in den
neuen Bundesländern sind noch nicht selbsttragend. Des-
wegen sollte die Bundesregierung ihre Strategie der „Ver-
nachlässigung Ost“ überdenken.


(Susanne Kastner [SPD]: Es ist unglaublich, was er hier erzählt! – Gegenruf der Abg. Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Recht hat er!)


Für mehr Export und für mehr Arbeitsplätze, für die An-
gleichung der Lebensverhältnisse über die Angleichung
der Exportrate brauchen wir erstens eine direkte Export-
förderung, was in unserem und zum Teil auch in Ihrem An-
trag zum Ausdruck kommt, zweitens brauchen wir eine
verbesserte Infrastruktur und vor allen Dingen brauchen
wir mehr Investitionen.

Herzlichen Dank.




Ulrich Klinkert

9163


(C)



(D)



(A)



(B)



(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr.Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Und eine neue Regierung!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409814700
Nun hat der Staats-
minister Rolf Schwanitz das Wort.


Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1409814800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Trotz allem
Pulverdampf möchte ich zunächst einmal herzlichen
Dank an alle Vorredner und an all diejenigen sagen, die
Anträge eingebracht haben.


(Susanne Kastner [SPD]: An den Klinkert nicht!)


Eines eint offensichtlich alle Diskussionsteilnehmer.
Die Förderung des Absatzes ostdeutscher Produkte, des
Exportes ist ein zentraler Punkt, der nicht vernachlässigt
werden darf. Das sieht die Bundesregierung genauso.
Deshalb: Herzlichen Dank!


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Trotzdem muss ich ein paar kritische Bemerkungen mit
Blick auf einige polemische Äußerungen machen. Herr
Klinkert, wir hatten gestern in Dresden zum zweiten Mal
eine gemeinsame Kabinettssitzung mit der Sächsischen
Staatsregierung. Wir haben solche Sitzungen mit allen
Staats- und Landesregierungen im Osten durchgeführt. Ich
habe noch keine solche Sitzung erlebt, in der wir als Bun-
desregierung für unsere Leistungen beim Aufbau Ost so
gelobt worden sind wie in der gestrigen. Das war eine
ordentliche Geschichte.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Susanne Kastner [SPD], an die CDU/CSU gerichtet: Da haben wir den Salat!)


Wir wurden beispielsweise dafür gelobt, dass wir die
A 17 – sie wissen, wie wichtig das für die Sächsische
Staatsregierung war –,


(Barbara Wittig [SPD]: Gerettet haben! Die haben wir gerettet!)


deren Finanzierung völlig ungeklärt war, mit einer
EFRE-Finanzierung abgesichert haben. Das Ganze steht.
Das Gleiche gilt für den zweiten Bauabschnitt der
Südumfahrung Leipzig, die im Anti-Stau-Programm ent-
halten ist. Wir sind mit der Staatsregierung in Verhand-
lungen, die gute Fortschritte machen, darüber, eine so
genannte Pauschalvereinbarung über die Sanierung von
ökologischen Altlasten abzuschließen. Wir verschließen
uns – im Gegensatz zu der Vorgängerregierung, an der Ihre
Partei, Herr Klinkert, beteiligt war – nicht der dringend
notwendigen Sanierung der Wismut-Altstandorte, auch
wenn wir dazu nicht verpflichtet sind. Das sind ordentliche
Sachen. Ich würde Ihnen empfehlen, darüber einmal mit
der Staatsregierung zu reden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



(V o r s i t z : Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409814900
Herr
Staatsminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage?


(Zuruf von der SPD: Der hat genug geredet!)



Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1409815000

Gern.


(Barbara Wittig [SPD]: Aber fassen Sie sich kurz!)



Ulrich Klinkert (CDU):
Rede ID: ID1409815100
Herr Kollege Schwanitz,
wenn Sie schon von so viel Lob seitens der Sächsischen
Staatsregierung berichten können, möchte ich fragen:
Sind Sie denn auch dafür gelobt worden, dass diese Bun-
desregierung das 1997 abgeschlossene Bund-Länder-
Verwaltungsabkommen für die Braunkohle vertrags-
widrig um jährlich 50 Millionen DM kürzt?


(Susanne Kastner [SPD]: Jetzt sucht er was Neues! – Barbara Wittig [SPD]: Die Platte hat schon einen Sprung, Herr Klinkert!)



Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1409815200

Herr Kollege, das ist gestern von der Staatsregierung nicht
angesprochen worden.


(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch zu Ihnen, Herr Krüger, möchte ich eine Bemer-
kung machen: Sie haben etwas gemacht, was im Aus-
schuss für die Angelegenheiten der neuen Länder schon
eine Rolle gespielt hat und was ich nicht unkommentiert
stehen lassen möchte. Sie haben in Ihrer Rede ausgeführt,
der Osten würde konjunkturell abgekoppelt. Ich muss
darum bitten, in diesen schwierigen Fragen in den Argu-
menten sachlich und in der Analyse tiefgründig zu blei-
ben.


(Susanne Kastner [SPD]: Das kann er gar nicht!)


Von den Instituten gibt es unterschiedliche Prognosen.
Danach ist es nicht völlig sicher, ob wir im Jahr 2000 ge-
samtwirtschaftlich – wie in den letzten drei Jahren, für die
wir nicht verantwortlich waren – in den neuen Bundes-
ländern ein etwas schwächeres Wachstum als in den alten
Bundesländern oder ein gleich großes Wachstum in den
neuen und den alten Ländern haben werden. Letzteres hat
uns der Sachverständigenrat im Herbstgutachten prognos-
tiziert. Das Ergebnis ist völlig offen.

Aber, Herr Krüger, das ist anders, als Sie es dargestellt
haben. Ihre Ausführungen waren nostalgisch auf die
WachstumsrateMitte der 90er-Jahre ausgerichtet, wo der
Osten fast 10 Prozent gesamtwirtschaftliches Wachstum
hatte. Die Bundesregierung sagte damals, es handle sich
um die Wachstumsregion Nummer eins in Europa. Ich hö-
re diese Worte heute noch. Die damalige Entwicklung war
ausschließlich hochgezüchtet durch Investitionsförde-
rungsmittel. Es hat – wie Sie wissen – große Fehlalloka-




Ulrich Klinkert
9164


(C)



(D)



(A)



(B)


tionen gegeben. Es handelte sich um ein aus der Bauwirt-
schaft gespeistes Wachstum. Die übrige Industrie lag da-
nieder.

Das hat sich grundlegend geändert. Darüber bin ich
froh. Unser jetziges Wachstum in Ostdeutschland kommt
aus der Industrie und dem industrienahen Dienstleis-
tungsbereich. Dort haben wir seit ungefähr 3 Jahren ein
doppelt so starkes Wachstum wie in den alten Bundeslän-
dern – seit Mitte 1998 ist das übrigens auch mit Arbeits-
platzzuwachs verbunden. Das ist die richtige Richtung und
das darf man nicht verschweigen.


(Beifall bei der SPD)

Auch zum Export möchte ich noch ein paar Zahlen

nennen, wobei ich mich auch auf die von Ihnen in der Ver-
gangenheit herangezogenen Zahlen beziehe, nämlich die
des Statistischen Bundesamtes. Dabei ist für das Jahr
1999 völlig richtig zu konstatieren, dass wir im verarbei-
tenden Gewerbe eine Exportquote von knapp 19 Prozent
hatten. Das ist, an der Ausgangsposition gemessen – vie-
le haben angesprochen, dass wir 1994 eine Exportquote
von etwas über 11 Prozent hatten –, eine positive Ent-
wicklung, die uns aber keinesfalls zufrieden stellen kann.
In den alten Bundesländern liegt der Wert bei über
35 Prozent. Das macht deutlich, welch weiter Weg noch
vor uns liegt und dass wir in der Unterstützung der ost-
deutschen Wirtschaft nicht nachlassen dürfen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Beim Exportgeschäft haben wir in den neuen Bun-
desländern ein Wachstum von 10,5 Prozent. In den alten
Bundesländern lag das Wachstum 1999 bei 5,9 Prozent.
Wir haben also auch beim Exportumsatz eine Wachstums-
quote, die in den neuen Bundesländern doppelt so groß ist
wie in den alten Bundesländern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Mit oder ohne Berlin?)


Meine Damen und Herren, Ähnliches gilt auch für das
Inlandsgeschäft.Nach den Zahlen des Statistischen Bun-
desamtes betrug das Wachstum im Westen circa 1 Prozent,
in den neuen Bundesländern 5 Prozent. Im verarbeitenden
Gewerbe haben wir in den neuen Bundesländern einen we-
sentlich stärkeren Wachstumsimpuls. Das ist eine gute
Entwicklung.

Dass das Exportgeschäft um 10 Prozent wächst,
während das Inlandsgeschäft im Osten um 5 Prozent
wächst, dass also das Exportgeschäft doppelt so stark an-
gestiegen ist, ist eine gute und Mut machende Entwick-
lung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409815300
Herr
Schwanitz, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dehnel? – Herr Dehnel, bitte schön.


Wolfgang Dehnel (CDU):
Rede ID: ID1409815400
Herr Kollege
Schwanitz, Sie haben gerade von Wachstum gesprochen.
Erklären Sie mir bitte, wie es in Ihrem Wahlkreis, dem

vogtländischen Wahlkreis, dazu kommen konnte, dass er
bis 1998 hinsichtlich der Beschäftigungssituation in den
neuen Bundesländern einen Spitzenplatz einnahm, näm-
lich an erster, zweiter oder dritter Stelle, noch vor
Dresden, stand und jetzt auf einen Mittelplatz zurückge-
fallen ist. Da Sie von Wachstum sprechen: Wie konnte das
passieren?


Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1409815500

Herr Dehnel, das liegt daran, dass im Vogtland zwei
grundsätzliche Erscheinungen zu beobachten sind, zum ei-
nen eine hoch leistungsfähige und gute Arbeitsverwaltung,
die mit vielen arbeitsmarktpolitischen Instrumenten un-
terstützt, und zum anderen – das können wir in allen ehe-
maligen Grenzregionen beobachten – eine enorme
Pendlerbewegung, die die Arbeitsmarktstatistik entspre-
chend schönt. Es pendelten in der Vergangenheit aus die-
sem Gebiet dreimal so viel Leute, als es in anderen Ar-
beitsamtsbezirken der Fall ist. Das sieht man natürlich
nicht in der Statistik. Das gehört aber zur Realität. Auch
für meinen Wahlkreis im Vogtland, Herr Dehnel, gilt – da
stelle ich Ihnen gern noch einmal Informationen der In-
dustrie- und Handelskammer zur Verfügung –, dass es ei-
nen Arbeitsplatzzuwachs in der Industrie und im verar-
beitenden Gewerbe gibt. Das ist eine positive Sache.


(Zuruf von der CDU/CSU: Die Frage war aber anders!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409815600
Herr Kol-
lege Schwanitz, Herr Dehnel möchte eine weitere Frage
stellen, wenn Sie erlauben.


Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1409815700

Ich habe jetzt noch eine Redezeit von 1 Minute und 40 Se-
kunden. Ich möchte gern noch zwei grundsätzliche Be-
merkungen machen. Sie können ja eine Kurzintervention
machen. Dann stehe ich Ihnen zur Verfügung.


(Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Das Material der Industrieund Handelskammer habe ich!)


Die erste Bemerkung. Sie von der CDU/CSU-Fraktion
haben in Ihrem Antrag geschrieben, die Dienstleistungs-
förderung müsse in die Absatzförderung integriert wer-
den. Darüber sollten wir im Ausschuss noch einmal reden.
Das ist aus meiner Sicht schon längst – übrigens zu Ihrer
Zeit – erfolgt. Wir haben in den Vermarktungshilfen eine
Öffnung vorgesehen. Selbst reine Dienstleistungen kön-
nen im Vermarktungshilfeprogramm gefördert werden.
Da kennen Sie offensichtlich das eigene Programm nicht
mehr. Damit rennen Sie offene Türen ein. Wir stehen
selbstverständlich für einen Dialog zur Verfügung.

Ich möchte noch eine zweite Bemerkung machen. Es
ist völlig richtig darauf hingewiesen worden, dass das
keine Einzelleistung des Bundes ist, sondern ein Ge-
meinschaftswerk aller. Deswegen ist es ganz wichtig – ich
bin froh darüber –,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

dass sich im Bündnis für Arbeit die Bündnispartner, ins-
besondere die Vertreter der Wirtschaft, verpflichtet haben,




Staatsminister Rolf Schwanitz

9165


(C)



(D)



(A)



(B)


ihr Engagement nicht zurückzunehmen, sondern die ganze
Palette der Maßnahmen für die Unterstützung der ost-
deutschen Wirtschaft und die Unterstützung des Absatzes
einzusetzen. Auch das ist völlig richtig.

Ich möchte zum Schluss noch einmal das aufgreifen,
was Herr Müller sagte. Das gehört natürlich dazu. Das
Problem, das wir haben, ist viel zu komplex, als dass wir
es nur über Absatzförderungen im engeren Sinne lösen
könnten. Es geht um Marktpositionen, es geht um Preis-
strategien. Es geht um die Position in der Wertschöp-
fungskette, ob man vorne in der Kette ist und international
mit den entsprechenden Wertvolumina Preise realisieren
kann oder ob man Niedrigpreisstrategien einsetzen muss.
Das sind die Dinge, die viel mit Innovation und Ähnlichem
zu tun haben. Deswegen gehört in den Gesamt-
zusammenhang das hinein, was wir mit dem Programm
„FUTOUR 2000“, mit dem Programm „Inno-Net“ zur
Verknüpfung von Netzwerken oder beispielsweise mit
„Inno-Regio“ getan haben. In dieser Komplexität gehen
wir die Dinge an. Damit sind wir auf einem guten Weg.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409815800
Ich
schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/2911 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung soll
beim Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
liegen. Die Vorlage auf Drucksache 14/3094 soll an die
gleichen Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkte 9 a bis c auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Un-
terrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung (EG) des Rates
über die freiwillige Beteiligung von Organisa-
tionen an einem Gemeinschaftssystem für das
Umweltmanagement und die Umweltbetriebs-
prüfung
– Drucksachen 14/488 Nr. 2.58, 14/1131 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Marion Caspers-Merk
Bernward Müller (Jena)

Winfried Hermann
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem An-
trag der Abgeordneten Birgit Homburger, Ulrike
Flach, Hildebrecht Braun (Augsburg), weiterer

Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Erhöhung derAttraktivität des freiwilligen
Umweltaudits durch Deregulierung
– Drucksachen 14/570, 14/2030 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Marion Caspers-Merk
Bernward Müller (Jena)

Winfried Hermann
Ulrike Flach
Eva Bulling-Schröter

c) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Umweltcontrolling und Umweltmanagement
in Bundesbehörden und Liegenschaften
– Drucksache 14/2907 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre kei-
nen Widerspruch. – Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Marion Caspers-Merk von der SPD-Fraktion
das Wort.


Marion Caspers-Merk (SPD):
Rede ID: ID1409815900
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heute von den Re-
gierungsfraktionen vorgelegten Antrag zu Umweltcon-
trolling und Umweltmanagementwird das Ziel verfolgt,
dass der Staat das, was er schon lange von seinen Bürge-
rinnen und Bürger verlangt, auch selber macht: Alle staat-
lichen Ebenen sollen in Zukunft nachhaltiger mit unseren
Ressourcen umgehen. Durch ein konsequentes Um-
weltmanagement können nämlich die öffentlichen Ver-
waltungen die Umwelt und die knappen öffentlichen Kas-
sen spürbar entlasten. Es gibt bereits eine ganze Reihe von
Städten und Einrichtungen der Länder, die gezeigt haben,
wie man die Umwelt erfolgreich schützt und dabei bares
Geld spart, das an anderer Stelle sinnvoller eingesetzt
werden kann.

Das Neue an diesem Umweltcontrolling-Instrument
ist, dass es nicht nur in den eng mit dem Umweltministe-
rium verbundenen Bereichen eingesetzt wird, sondern al-
le Ressorts und Bundesbehörden verpflichtet, das Ihrige
zu tun, um einen nachhaltigen Umgang mit Ressourcen
durchzusetzen. Das halten wir für einen Fortschritt im
Hinblick auf eine Nachhaltigkeitsstrategie für Deutsch-
land.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wie groß die Potenziale für mehr Umweltschutz in den
öffentlichen Verwaltungen noch sind und welche Erfolge
bereits erzielt wurden, ist nachlesbar und nachprüfbar. So
werden beispielsweise in den deutschen Städten jährlich
pro Einwohner umgerechnet rund 60 DM für Energie-
kosten der kommunalen Liegenschaften ausgegeben.
Allein durch ein effizientes Energiemanagement ließen
sich von diesem Betrag 10 DM einsparen. Das macht bei
einer Stadt mit 100 000 Einwohnern 1 Million DM pro
Jahr aus. Auf die Stadt Heidelberg zum Beispiel trifft das
genau zu; dort wird dieses Instrument auch schon




Staatsminister Rolf Schwanitz
9166


(C)



(D)



(A)



(B)


angewendet. Aber auch beim Wasserverbrauch kann man
die Kosten um bis zu 45 Prozent reduzieren, beim Abfall
um bis zu 50 Prozent. Diese Beispiele zeigen, dass Um-
weltschutz, ökonomisch sinnvolles Wirtschaften und so-
ziale Verantwortung durchaus zusammengehen können.

Einerseits Einsparpotenziale zu schaffen und anderer-
seits sinnvolle ökologische Investitionen zu tätigen ist
das Ziel des gemeinsam von den Bundestagsfraktionen
Bündnis 90/Die Grünen und SPD erarbeiteten Antrags. So
halten wir es für wichtig zu prüfen, wie im Rahmen der
Flexibilisierung der Haushaltsführung und auf der Basis
der vorhandenen Personalkapazitäten ökonomische An-
reize zu mehr Umweltschutz in den Bundesbehörden ge-
schaffen werden können. So könnte die Einführung eines
Umweltcontrolling im Rahmen der Bewilligung sowie
Verteilung von Haushaltsmitteln berücksichtigt werden.
Nachgewiesene Einsparungen könnten anteilig zur de-
zentralen Ressourcenbewirtschaftung zur Verfügung ge-
stellt werden. Warum sollen, liebe Kolleginnen und
Kollegen, eigentlich immer nur Gratifikationen für die
Erfindung des 99. Formblatts zur angeblichen Effizienz-
steigerung gegeben werden, wo es doch so viel einfacher
ist, konkrete Einsparziele mit Gratifikationen zu beloh-
nen?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt ein erfolgreiches Instrument, das zum Beispiel
schon in einigen Schulen und Städten praktiziert wird.
Dieses Projekt heißt „fifty-fifty“. Ich glaube, es wurde von
Hamburger Schulen erfunden. Dort bekommen die Schu-
len ihr eigenes Budget für Energie. Wenn sie dieses Bud-
get unterschreiten, wird die eingesparte Summe zwischen
der Schule und der Senatsverwaltung geteilt. Das ist ein
ganz konkreter Beitrag, damit auch schon unsere Kinder
lernen, sinnvoll mit Ressourcen umzugehen.

Das spart natürlich auch Bewirtschaftungskosten, die
normalerweise die Kommune zu zahlen hat. Wir alle wis-
sen, dass wir mit öffentlichen Gütern nur dann sparsam
umgehen, wenn wir finanziell dazu einen Anreiz haben.
Das ist die Grundidee, die hinter dem Instrument Um-
weltmanagement und Umweltcontrolling steht.

Ein systematisches Umweltmanagement in allen
Bundesbehörden und Liegenschaften, das sich nicht nur
auf die Beschaffung bezieht, wollen wir mit diesem An-
trag erreichen. Dabei sollten die erzielten Einsparungen
nicht in irgendwelchen Säcken verschwinden, sondern
für ökologische Ziele wieder ausgegeben werden. So
könnte beispielsweise ein Teil der eingesparten Ausgaben
dafür verwendet werden, Strom aus erneuerbaren Energi-
en zu beziehen. Auch sollte publiziert werden, wie groß
die Einsparungen pro Jahr sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Erste Versuche in den Behörden gibt es bereits. Das
Umweltbundesamt baut derzeit ein Umweltmanagement
auf. Aber auch im Bereich des Wirtschafts-, des For-
schungs- und des Sozialministeriums werden bereits ent-
sprechende Projekte durchgeführt. Für mich war beson-
ders interessant zu lernen, dass beispielsweise die Bun-
deswehr ein Energiemanagement in all ihren Standorten

einführen will. Wir erinnern uns: Auch die Bundeswehr ist
mit ihren 700 Standorten ein großer Energieverbraucher.


(Christoph Matschie [SPD]: Dreiliterpanzer!)

Wir wollen mit diesem Antrag unterstreichen, dass dies der
richtige Weg ist.

Entscheidende Hilfe, diese positiven Ansätze zu ver-
stärken, werden wir durch das Handbuch „Umweltcon-
trolling im Bereich der öffentlichen Hand“ erhalten, das
derzeit im Auftrag des Bundesumweltamtes erstellt wird.
Wie ein Leitfaden wird es den öffentlichen Einrichtungen
dabei helfen, ein Umweltcontrolling und, nach einer ent-
sprechenden Novellierung der EMAS-Verordnung, ein
Umweltmanagementsystem systematisch einzuführen.
Damit haben wir einen weiteren wichtigen Baustein zur
Integration des Umweltgedankens in allen Ressorts und ei-
ne hervorragende Möglichkeit zu zeigen, dass Umwelt-
schutz zu mehr Effizienz beitragen kann und eben auch
Kosten spart.

Wir als Bund wollen deshalb ein Stück weit ein Vorbild
sein. Wir wünschen uns – hierbei schaue ich in Richtung
Opposition –, dass Sie vielleicht bei den von Ihnen ge-
führten Ländern dafür sorgen, dass das, was der Bund
macht, auch in den Landesverwaltungen umgesetzt wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich fände es zumindest sehr gut, wenn wir hier einen
gemeinsamen Anlauf machten; denn ich halte es für wich-
tig, dass wir uns bei allem, was uns trennt, in Bezug auf
die Notwendigkeit, Ressourcen zu schonen, doch immer
einig waren. Deswegen ist dieser Antrag im Umweltaus-
schuss von allen Fraktionen begrüßt worden.


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Na endlich!)

Europaweite Unterstützung finden wir für unsere Idee

in EMAS II; denn darin wird der Anwendungsbereich der
EG-Verordnung über die freiwillige Beteiligung von Or-
ganisationen an einem Gemeinschaftssystem für das
Umweltmanagement und das Umweltaudit auf gewerbli-
che Dienstleistungsunternehmen sowie auf die öffentliche
Hand erweitert. Die Zahlen der in Deutschland zertifi-
zierten Betriebe sprechen für sich. Allein 1 900Ökoaudit-
Standorte gibt es in der Bundesrepublik. Das sind 75 Pro-
zent aller Registrierungen in Europa. Damit nimmt
Deutschland eine Vorreiterrolle und auch eine Vorbild-
funktion beim Ökoaudit ein.

Doch das bundesdeutsche und europäische Ökoaudit
kann nur dann wirklich erfolgreich sein, wenn europaweit
einheitliche Kriterien und Maßstäbe geschaffen werden
und wenn das Instrument auch bei den europäischen
Nachbarn mehr Akzeptanz erhält. Das soll nun mit EMAS
II geschehen. Damit werden gleichzeitig mehrere Ziele
verfolgt. Wir wollen zum Beispiel, dass das Verhältnis
zwischen EMAS und den internationalen ISO-Normen
endlich bereinigt wird. Wer zum Beispiel die höherwerti-
ge Anforderung erfüllt hat, erwirbt die ISO-Zertifizierung
automatisch. Wir wollen, dass ein Logo eingeführt wird.
Wir wollen mehr Öffentlichkeitswirksamkeit, mehr
Transparenz, aber auch mehr Kohärenz bei der Umsetzung
in den einzelnen Mitgliedstaaten.




Marion Caspers-Merk

9167


(C)



(D)



(A)



(B)



(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In einer Beschlussempfehlung des Umweltausschusses
haben wir uns dafür ausgesprochen, dass wir diese Ele-
mente bei einer Novellierung auf der europäischen Ebe-
ne durchsetzen wollen. Es bestand in einigen Punkten
Übereinstimmung. In anderen Punkten konnten wir uns
nicht einigen. Frau Kollegin Homburger, es ist klar, dass
der Antrag der F.D.P. natürlich noch weiter gehende For-
derungen stellt, zum Beispiel bei der Absenkung der Stan-
dards bei Genehmigungen und bei der Kontrolle und
Überwachung von Betrieben. Diese sind aber mit den Re-
gelungen und Erfahrungen mit dem Ökoaudit nicht zu be-
gründen und werden deshalb von uns abgelehnt.

Wenn man sich einmal anschaut, was angesichts der ge-
meinsamen Beschlüsse im Umweltausschuss von Ihrem
Antrag übrig bleibt, dann kann man nicht begreifen, war-
um Sie Ihren Antrag noch zur Abstimmung stellen; denn
es handelt sich nur noch um wenige Forderungen, die ei-
gentlich das Einbringen dieses Antrages nicht begründen.


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Es sind die zentralen Forderungen! – Christoph Matschie [SPD]: So ist das mit der F.D.P.! Es bleibt nicht viel! Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das ist ein qualitatives Problem, nicht ein quantitatives!)


Es wäre für uns wichtig gewesen, wenn wir hinsicht-
lich unserer gemeinsamen Forderungen bezüglich Euro-
pa enger zusammengearbeitet hätten; denn alle Parteien
sind bestrebt, die Attraktivität des Ökoaudits zu erhöhen.
Alle haben nämlich erkannt, dass dies eine neue Form des
Public Managements sein wird.

Es gilt, dieses neue Instrument voranzubringen und zu
unterstützen. Zielführend ist dabei sicherlich die gemein-
same Beschlussempfehlung des Ausschusses und der An-
trag der Regierungsfraktionen zum Umweltcontrolling.
Dieses neue Instrument verbessert auch die Akzeptanz bei
den Betrieben dadurch nämlich, dass die öffentliche
Hand im besten Sinne das vormacht, was sie von allen an-
deren – Betrieben, Bürgerinnen und Bürgern – einfordert.
Deswegen haben wir mit dem vorgelegten Antrag und mit
unserer gemeinsamen Entschließung im Umweltaus-
schuss dafür Sorge getragen, dass dieses moderne Ma-
nagementinstrument endlich die Verbreitung erfährt, die
es verdient.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich wünsche mir, dass im Zusammenhang mit dem
Umweltcontrolling und Umweltmanagementsystem der
sperrige Begriff Ökoaudit, über den viele Geschäftsfüh-
rer, aber auch viele andere stolpern, in Deutschland durch
einen besseren Begriff ersetzt wird, damit jedem klar ist,
was damit gemeint ist.

Lassen Sie mich noch eine kritische Bemerkung ma-
chen. Natürlich wendet sich der Antrag zunächst einmal
an Ministerien und Bundesbehörden. Aber auch im Par-
lament und in der Verwaltung ist diesbezüglich einiges zu
tun. Vielleicht haben wir dort einen Anstoß zur Verände-
rung gegeben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409816000
Als
nächster Redner hat der Kollege Bernward Müller von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Bernward Müller (CDU):
Rede ID: ID1409816100
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was lange währt, wird
endlich gut, sagt jedenfalls der Volksmund. Ich kann mir
allerdings nicht vorstellen, dass diese Weisheit auf unser
jetziges Thema, das Ökoaudit, zutrifft. Vielmehr drängt
die Zeit.

Möglichst vielen Unternehmen die Möglichkeit zu
geben, sich am Ökoaudit zu beteiligen, die Attraktivität
dieses freiwilligen Umweltmanagements zu steigern,
seine Effizienz zu erhöhen sind Ziele, die wir fraktions-
übergreifend gemeinsam verfolgen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Debatte, die wir heute endlich führen, hätte ich mir
zu dem Zeitpunkt gewünscht,


(Horst Kubatschka [SPD]: Als Sie noch regiert haben! – Gegenruf des Abg. Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Da haben wir es angestoßen!)


als wir in diesem Hause die Umweltpolitik der Bun-
desregierung debattiert haben. Darf ich daher die Damen
und Herren von der Regierungskoalition, auch wenn es Sie
schmerzt,


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das ist nicht schlimm!)


noch einmal an die Aktuelle Stunde vom 16. März erin-
nern? Damals mussten Sie sich zu Recht den Vorwurf
gefallen lassen, dass die Bilanz Ihrer bisherigen Umwelt-
politik schlichtweg jämmerlich ist.


(Beifall bei der CDU/CSU – Horst Kubatschka [SPD]: Das sehen Sie! Sie sehen das falsch! – Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Und das stimmt!)


Der Umweltsachverständigenrat war in seinem neutralen
Gutachten zu dem Schluss gekommen: „Unter einem
bündnisgrünen Umweltminister bestehen erhebliche Män-
gel beim Naturschutz.“

Auch die jetzige Debatte um EMAS und den Antrag der
F.D.P. zur Steigerung der Attraktivität des freiwilligen
Umweltaudits ist ein passendes Beispiel für die Untätig-
keit ebendieser rot-grünen Regierung.


(Beifall bei der CDU/CSU – Susanne Kastner [SPD]: Ich habe es ja gewusst! Es kommt wieder durch!)


Unstrittig ist: Das Ökoaudit ist ein wichtiges Instru-
ment der freiwilligen betriebsinternen Selbststeuerung
von Unternehmen. Folgt man dem aktuellen Umweltgut-
achten, so könnten wir uns in Deutschland auf die Schul-
tern klopfen. Es wurde gerade schon gesagt: Etwa 75 Pro-




Marion Caspers-Merk
9168


(C)



(D)



(A)



(B)


zent aller in der EU registrierten EMAS-Standorte befin-
den sich in Deutschland. Das sind rund 2 300 Unterneh-
men. Das ist ein Ergebnis, das größtenteils unter der alten
Bundesregierung erreicht wurde.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Genau! Dann sage das doch einmal!)


Doch dieser Befund ist durchaus kein Anlass zum
Schulterklopfen. Vielmehr zeigt er, dass sich EMAS in Eu-
ropa – von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen – nicht
etablieren konnte. Auch in Deutschland nimmt die Zahl
der nach der weniger strengen Norm ISO 14001 regis-
trierten Unternehmen immer weiter zu. Es ist höchste
Zeit, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Darauf zielt
der Antrag der F.D.P. Er wurde, meine Damen und Her-
ren von Rot-Grün, schon im März des vergangenen Jah-
res in Druck gegeben.

Was ist seitdem passiert? Im Juni, drei Monate später,
wurde über den Antrag im Plenum debattiert. Im Novem-
ber wurde der Antrag im Umweltausschuss mit Mehrheit
der Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der
PDS abgelehnt. Nun, ein Jahr später, wird diese Be-
schlussempfehlung hier im Plenum behandelt.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Währenddessen sinken die Zertifizierungen nach EMAS-
Grundsätzen und die weniger anspruchsvolle ISO 14001
setzt sich in Europa durch. Ich frage Sie: Entspricht das
noch den hehren Zielen gerade der Umweltpolitik der
Grünen? Lösen Sie damit Ihren Anspruch ein, die Umwelt-
politik aufzuwerten?


(Marion Caspers-Merk [SPD]: Sagen Sie mal etwas zu unserem Antrag!)


Nein, meine Damen und Herren von den Regierungs-
fraktionen, bei Ihrer Orientierung auf Ökosteuer und ver-
meintlichen Atomausstieg, der irgendwie nicht so recht
stattzufinden scheint,


(Horst Kubatschka [SPD]: Da werden Sie sich wundern! Warten Sie es ab!)


haben Sie viele andere wichtige Aspekte der Umweltpoli-
tik einfach verschlafen.


(Christoph Matschie [SPD]: Eins nach dem anderen!)


Ihr umweltpolitisches Handeln beschränkt sich auf Be-
standsaufnahmen, Ankündigungen und Absichtserklärun-
gen. Regieren heißt aber, Verantwortung zu übernehmen,
heißt handeln und dazu fehlen Ihnen der Mut und gewiss
auch die Kompetenz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Christoph Matschie [SPD]: Das haben wir der alten Regierung auch immer gesagt! – Horst Kubatschka [SPD]: Aber wir haben das Erneuerbare-Energien-Gesetz! Sie haben gar nichts!)


NennenSiemir zumBeispiel einenGrund,warumSie–
entgegen Ihren Ankündigungen in der Beschlussempfeh-
lung zum F.D.P.-Antrag – immer noch nicht die Umset-
zung der IVU-Richtlinie in ein Artikelgesetz vorgenom-
men haben, und das, obwohl Sie wissen, dass die Frist

mittlerweile schon abgelaufen ist. Sie haben auch das
ganz einfach verschlafen.


(Christoph Matschie [SPD]: Das hat die alte Regierung schlecht vorbereitet! – Marion Caspers-Merk [SPD]: Reden Sie doch mal mit Ihren Ländern! – Gegenruf des Abg. Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Ihr müsst es besser machen! Ihr habt bis jetzt gar nichts gemacht!)


– Sie haben es ja aufgenommen. Sie haben sich selbst fest-
gelegt.

Jetzt antworten Sie, man arbeite daran, einschlägige
Fachgesetze seien „baldmöglichst“ zu erwarten. Aber ich
frage Sie: Was ist „baldmöglichst“? Ich denke, in Anleh-
nung an Ihren „sofortigen“ Atomausstieg kann uns bei
Ihrem „baldmöglichst“ vom Tempo her auf jeden Fall
nicht schwindelig werden.


(Horst Kubatschka [SPD]: Haben wir nie gefordert! Da haben Sie etwas Falsches gelesen!)


Übrigens: Auch die Umweltministerkonferenz hat im
Oktober des letzten Jahres auf die Wichtigkeit einer sol-
chen rechtlichen Klärung hingewiesen – die Länder han-
deln ja mittlerweile – und hat die Umsetzung der IVU-
Richtlinie und die damit verbundene Privilegierungsver-
ordnung zum Ökoaudit angemahnt.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wo ist denn die Regierung überhaupt? Ist das Umweltministerium vertreten?)


Ich denke, dass es notwendig ist, auch das Umwelt-
managementsystem weltweit einzuführen und zu unter-
stützen bzw. seine Einführung zu beschleunigen. Deregu-
lierung ist ein entscheidender Schlüssel zur Steigerung der
Attraktivität dieser Systeme. Deregulierung setzt aber
Verantwortung und Vertrauen in das umweltgerechte
Handeln der registrierten Unternehmen voraus. Dazu,
meine Damen und Herren, sind Sie aus ideologischen
Gründen nicht bereit und auch nicht fähig.

Wenn wir an die großen Erfolge von Ökoaudit unter der
letzten Bundesregierung anknüpfen wollen, können wir
mit den notwendigen Veränderungen nicht warten, bis
sich auch das letzte EU-Land am EMAS beteiligt.


(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU])


Verfestigt sich die Stagnation, die wir schon heute bei der
Zertifizierung von Unternehmen zu verzeichnen haben,
wird das ganze Managementsystem gefährdet. Es besteht
erheblicher Handlungsbedarf, und zwar muss das zügig
geschehen.

Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, stimmen dem
Antrag der F.D.P. zu, weil er in die richtige Richtung
weist. Ich nenne drei Punkte:

Erstens. Vernetzung von ISO 14001 und Ökoaudit, so-
dass Aufwendungen für eine doppelte Bearbeitung durch
die Unternehmen entfallen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409816200
Herr Kol-
lege Müller, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Paziorek?




Bernward Müller

9169


(C)



(D)



(A)



(B)



Bernward Müller (CDU):
Rede ID: ID1409816300
Ja.

(Horst Kubatschka [SPD]: Die kennen wir!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409816400
Bitte
schön, Herr Paziorek.


Dr. Peter Paziorek (CDU):
Rede ID: ID1409816500
Lieber Kollege
Müller, stimmen Sie mir zu, dass es ein Zeichen für den
geringen Einsatzwillen der Regierung ist, dass bei diesem
wichtigen Umweltthema kein Vertreter der Bundesregie-
rung anwesend ist, und dass es bedauerlich ist, dass die
Bundesregierung hier dokumentiert, dass dieses Thema
nicht gerade wichtig genommen wird?


(Susanne Kastner [SPD]: Ein Unsinn!)



Bernward Müller (CDU):
Rede ID: ID1409816600
Lieber Kolle-
ge Paziorek, ich stimme Ihnen selbstverständlich zu. Wir
konnten in der letzten Woche bereits feststellen, dass Um-
weltminister Trittin eigentlich nur ein Thema verfolgt,
nämlich den Ausstieg aus der Atomenergie. Bei anderen
Debatten fehlt ihm das nötige Engagement und das merkt
man auch heute hier.


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU] – Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das merkt man wieder! – Horst Kubatschka [SPD]: Die Frage war abgesprochen!)


Ich will den zweiten Punkt nennen, der notwendig ist
– deshalb unterstützen wir den Antrag der F.D.P. –: Es sind
das die Deregulierungsmaßnahmen, natürlich verbunden
mit Entbürokratisierung. Ich kann mich an die Debatte mit
Herrn Kollegen Hermann erinnern, der darauf hingewie-
sen hat, wie wichtig der Unterschied zwischen Deregu-
lierung und Entbürokratisierung ist.
Außerdem brauchen wir Erleichterungen bei den
Genehmigungsverfahren.

Es hat sich auch gezeigt, dass es sich aus umweltpoli-
tischen Gründen empfiehlt, Ökoaudit-Betrieben Voll-
zugserleichterungen zu gewähren. Alles in allem müssen
wir doch hier feststellen: Unsere Unternehmen brauchen
mehr Anreize zur Teilnahme am Ökoaudit.

DieerweitertenForderungenderRegierungskoalition–
deswegen können wir Ihrem Antrag nicht ohne weiteres
zustimmen – zum Beispiel an die Verfügbarkeit der Um-
welterklärung oder die Überprüfungsverschärfung der re-
gistrierten Betriebe sind nicht teilnahmefördernd, son-
dern stellen den Unternehmen neue bürokratische Hürden
in den Weg.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409816700
Herr Kol-
lege Müller, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Loske?


Bernward Müller (CDU):
Rede ID: ID1409816800
Bitte.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409816900
Bitte
schön.


Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409817000

Ich möchte Sie fragen, Herr Abgeordneter Müller, ob Sie
mit mir der Meinung sind, dass die Anwesenheit der
Staatssekretärin Altmann aus dem Umweltministerium
ein deutlicher Ausdruck der Tatsache ist, dass sich das Um-
weltministerium sehr für dieses Thema interessiert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Bernward Müller (CDU):
Rede ID: ID1409817100
Herr Loske,
ich muss feststellen: Als Herr Paziorek auf das Fehlen der
Regierungsvertreter hingewiesen hat, war die Kollegin
Altmann nicht anwesend.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für drei Minuten!)


Kommen wir zurück zum Thema. Unter den Verbesse-
rungswünschen der Teilnehmer am Ökoaudit rangieren
gerade ein verändertes Verhältnis zu den Behörden und die
administrative Entlastung durch die Reduzierung von ge-
setzlichen Mess- und Berichtspflichten ganz vorn. Das
sollte uns ein Alarmzeichen sein, hier endlich tätig zu wer-
den.

Denken Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün,
doch einmal über eine Begünstigung der auditierten Be-
triebe im Rahmen Ihres Lieblingsthemas, der Ökosteuer,
nach. Denken Sie auch über die Behebung eines weiteren
viel bemängelten Defizits nach: des geringen Bekannt-
heitsgrades dieser Zertifizierung in der Öffentlichkeit.
Nach einer repräsentativen Umfrage des Umweltbun-
desamtes im letzten Herbst herrscht hier erheblicher Ver-
besserungsbedarf. Vielleicht eine Empfehlung: Noch bes-
ser wäre es, Sie denken nicht nur, sondern handeln bei die-
ser Gelegenheit auch einmal, am besten zügig und
verantwortungsvoll für die Umwelt, wie Sie es Ihren
Wählern versprochen haben.

Noch etwas zum Schluss: Ich denke, mehr als in einem
kurzen Schlusswort braucht man auf Ihren eingangs so
ausführlich dargestellten Antrag nicht einzugehen. Wenn
ich Ihnen auch Handlungsarmut und Untätigkeit
vorgeworfen habe, so haben Sie es doch geschafft, noch
kurz vor dieser Debatte im März einen Antrag zum The-
ma „Umweltcontrolling und Umweltmanagement in Bun-
desbehörden“ einzubringen. Wir unterstützen diesen An-
trag.


(Christoph Matschie [SPD]: Das hätten Sie doch gleich sagen können, Herr Müller!)


Das haben Sie schon erwähnt und das haben wir auch im
Ausschuss so besprochen. Unverständlich und – das sage
ich ganz deutlich – nicht nachahmenswert ist aber, dass Sie
die Wahl zwischen EMAS II und ISO 14001 offen lassen.
Ich hätte mir da schon gewünscht, dass Sie EMAS auf-
grund seiner Bedeutung definitiv für verbindlich erklärt
hätten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dass Sie das nicht getan haben, kann ich mir nur so
erklären, dass Sie von der europäischen Norm selber nicht
mehr überzeugt sind.






(C)



(D)



(A)



(B)


Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Marion Caspers-Merk [SPD]: Dann haben Sie den Antrag nicht richtig gelesen!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409817200
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Winfried
Hermann vom Bündnis 90/Die Grünen.


Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409817300

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Lieber Herr Müller, ich bin immer wieder aufs Neue über-
rascht, mit welchem Engagement, mit welcher Begeiste-
rung und mit welcher Ungeduld die CDU/CSU – zumin-
dest ein kleiner Kreis – Umweltpolitik macht, seit Sie in
der Opposition sind. Seit Sie nichts mehr tun können,
wollen Sie immer etwas tun.


(Bernward Müller struktive Oppositionspolitik!)


Sie zitieren immer mit großer Freude den Sachver-
ständigenrat fürUmweltfragen. Ich muss sagen: Sie ha-
ben Glück, dass sich der Sachverständigenrat für Um-
weltfragen nie mit der Umweltpolitik der Opposition be-
schäftigt hat, denn dann würden Sie ein sehr kritisches
Urteil bekommen.


(Horst Kubatschka [SPD]: Sie haben den lobenden Teil nicht gelesen!)


Aber nun zur Sache und zu den vorliegenden Anträgen.
Lange Zeit hat man im Umweltschutzbereich davon ge-
sprochen, dass die nachsorgende Technik extrem teuer ist.
Das war oft ein betriebswirtschaftliches Argument gegen
die Verbesserung. Seit einigen Jahren, seit es Umwelt-
managementsysteme, seit es das Ökoaudit gibt, wird in
den Betrieben und auch in den Verwaltungen umgedacht,
weil man erkennt, dass durch ökologisch orientiertes
Management gut gewirtschaftet, ja sogar gespart werden
kann.

Meine Kollegin Caspers-Merk hat darauf hingewiesen,
dass zahlreiche Kommunen zum Beispiel im Rahmen von
lokalen Agendaprozessen deutlich gemacht haben, wie
man durch Investitionen im Energiebereich sparen kann,
wie man aber auch dadurch, dass man untersucht, wie Ma-
terialströme bzw. Beschaffungsvorgänge aussehen, er-
heblich Geld sparen und zugleich ökologisch wirtschaf-
ten kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Privatwirtschaftliche Betriebe haben dadurch, dass sie
ihre Betriebsprozesse analysiert haben, gezeigt, wo übe-
rall Material flöten geht, unnötig verbraucht oder vielleicht
auch falsches Material eingesetzt wird. Nach einem sol-
chen Ökoauditprozess kommen sie unter Umständen
dazu, dass man in dem einen oder anderen Bereich Mate-
rial, Energie oder Rohstoffe sparen kann. Alle diejenigen,
die diese Zertifizierung durchlaufen, stellen fest: Wir
können damit, betriebswirtschaftlich gesehen, Gewinn
machen. Das ist gut so.

Im Moment läuft ja auf EU-Ebene – Herr Müller, jetzt
kommt ein Stück weit die Antwort auf Ihre Frage – der
Prozess EMAS II, in den wir uns eingemischt und zu dem
wir Vorschläge gemacht haben. Es ist überhaupt nicht so,
wie Sie konstruiert haben, dass wir eher auf die ISO-
Norm setzen und EMAS II beiseite lassen. Im Gegenteil:
Wir haben schon immer die Position vertreten, dass das
anspruchsvolle Verfahren der EU erhalten bleiben soll
und das andere zwar dazu passen, aber eben nur ein Teil-
baustein sein soll. Daran hat sich nichts geändert; dazu ste-
hen wir.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Aber Sie wissen auch, dass dies ein komplexes Verfahren
ist und es jetzt wieder an die EU zurückverwiesen worden
ist. Wir müssen nun das endgültige Ergebnis abwarten.

Jetzt zu unserem Antrag hinsichtlich eines Umwelt-
controllings und Umweltmanagements in Gebäuden der
Bundesregierung bzw. in Anlagen des Bundes: Ich mei-
ne, es ist höchst überfällig, dass wir in diesem Feld tätig
werden. Herr Müller, jetzt muss ich doch noch einmal Sie
und damit die CDU/CSU insgesamt und die F.D.P. an-
sprechen: Es ist nicht unser Problem, dass Sie es während
Ihrer 16 Regierungsjahre nie geschafft haben, in den Lie-
genschaften des Bundes eine ordentliche Ökobilanz auf-
zustellen und ein ordentliches Umweltmanagement auf-
zubauen. Das hätten Sie doch 16 Jahre lang tun können.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Die Ökobilanz ist doch erst in den letzten Jahren methodisch entwickelt worden!)


Wir machen jetzt einen Vorschlag. Jammern Sie also nicht
herum, sondern folgen Sie unserem Anschlag


(Heiterkeit)

– ich wollte sagen: Antrag – mit Begeisterung!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Nun zum Antrag der F.D.P. im Hinblick auf ein Öko-
audit.


(Marion Caspers-Merk [SPD]: Das ist wirklich ein Anschlag!)


– Dies ist in Teilen ein Anschlag auf die Umweltpolitik.
Ich sehe das aber nicht so harmlos wie Frau Caspers-

Merk. Es gibt viele Punkte, in denen wir Ihnen von der
F.D.P. zustimmen; das ist keine Frage. Aber es gibt auch
hochproblematische Punkte: Sie schlagen zum Beispiel
vor, dass ökoauditierte Betriebe vom Genehmigungsver-
fahren ausgenommen, also gesondert behandelt werden
sollen. Aus meiner Sicht – andere Experten sehen das ähn-
lich – ist dies absolut unmöglich, weil es zum Kernbereich
der IVU-Richtlinie gehört, dass gerade dies einheitlich
geregelt wird und es keine Ausnahmeregelung gibt. Sie
schlagen ausdrücklich vor, das zu tun. Das wäre ein kata-
strophaler juristischer Fehler.

Sie schlagen ferner zahlreiche Möglichkeiten vor, wie
man die Genehmigungsverfahren erleichtern kann. Wir
stimmen Ihren Vorschlägen da zu, wo das Verfahren ent-




Bernward Müller

9171


(C)



(D)



(A)



(B)


bürokratisiert bzw. vereinfacht werden soll. Aber ich fra-
ge mich: Warum schlagen Sie eigentlich vor, ein ausge-
sprochen einfaches Verfahren, nämlich die elektronische
Fernüberwachung, abzuschaffen? Das ist nun einmal ei-
ne unbürokratische Regelung, zu der ich sagen muss: Das
ist die einfachste Form der hoheitlichen Überwachung von
Betrieben und das ist doch nur recht und billig.


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Wenn die Überwachung nicht notwendig ist, dann ist auch eine einfache Form der Überwachung überflüssig!)


Hieran kann man erkennen: Es geht Ihnen offensichtlich
nicht um eine Qualitätsverbesserung. Sie nehmen im Na-
men der Deregulierung sogar eine Verschlechterung in
Kauf.


(Bernward Müller [Jena] [CDU/CSU]: Nein! Das ist Ideologie!)


Deswegen sage ich es noch einmal: Unser Ziel im Um-
weltbereich ist nicht die Deregulierung, sondern die Ent-
bürokratisierung vieler Punkte in diesem Bereich, die zu
Ihrer Regierungszeit über Jahre hinweg aufgebaut worden
sind. Ich sage Ihnen auch konkret, wo ich mir Erleichte-
rungen vorstellen kann: zum Beispiel bei den Berichtspe-
rioden. Die Abfassung von Berichten muss nicht immer
innerhalb der bisherigen Fristen erfolgen. Ich glaube,
auch die Vielzahl der Messungen ist zum Teil unange-
messen. Ich glaube, dass die bestehenden Parameter oft
viel zu kompliziert sind und dass es einfacher ginge. Ich
glaube auch, dass man bei der Kalibrierung und der Art
des Messens auf die Eigenverantwortung der Betriebe
setzen sollte.
Für uns – um es der F.D.P. einmal klar zu sagen – ist die
Eigenverantwortung von Betrieben im Umweltschutz-
bereich kein Tabu. Ein Tabu besteht allerdings dann, wenn
es um die Standards geht. Diese dürfen über Ökoaudit
nicht unterlaufen werden, und die Steuerung und Kontrolle
durch die öffentliche Verwaltung dürfen nicht über Ökoau-
dit quasi ausgehebelt werden. Das machen wir nicht mit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich komme zum Schluss. Das Ziel sowohl unseres An-
trags zum Umweltcontrolling und Umweltmanagement
als auch unserer Initiativen zum Ökoaudit war, den Um-
weltschutz voranzutreiben und zugleich den Unternehmen
betriebswirtschaftliche Möglichkeiten dafür zu eröffnen.
Das Gleiche gilt für die Verwaltung, für die öffentliche
Hand, im Bereich der Bundesliegenschaften.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Da stimmen wir auch zu!)


Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zu diesem
Hohen Haus sowie zu den Bürogebäuden der Abgeordne-
ten und damit ein persönliches Wort an den Präsidenten,
stellvertretend für unser Haus. Ich empfinde es als ausge-
sprochen peinlich, dass es inzwischen selbstverständlich
ist, dass auf jedem Flughafen und jedem Bahnhof ein Ab-
falleimer steht, der die Möglichkeit bietet, den Abfall
mindestens in vier Kategorien zu trennen, in den Büroge-
bäuden der Bundestagsabgeordneten aber noch Müllei-
merzustände wie vor zehn Jahren herrschen.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Nein, die stehen auf dem Flur! Sie müssen nur rausgehen! Das mache ich jeden Abend!)


– In den meisten Bürogebäuden ist es so, wie ich gesagt
habe, auch hier im Reichstag.

Die Abgeordneten sollten ein Vorbild sein. Sie müssen
aber auch in die Lage versetzt werden, vorbildlich sein zu
können. Dies ist ein Auftrag an die Bundestagsverwaltung
und an die Bundesregierung, auch in diesem Bereich vor-
bildlich zu werden.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Beantragen Sie doch einen zweiten Mülleimer!)


Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409817400
Zu einer
Kurzintervention gebe ich der Kollege Gila Altmann vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Gila Altmann (Aurich) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Herr Kollege Müller, ich möchte mich zunächst
dafür entschuldigen, dass ich ein dringendes Bedürfnis
verspürt habe – wozu, muss ich, so glaube ich, nicht aus-
führen –


(Heiterkeit)

und deshalb den Saal verlassen habe. Gleichzeitig möch-
te ich Sie, Herr Paziorek, dazu beglückwünschen, dass Sie
so aufmerksam waren, dies auch festzustellen.

Es ist allerdings nicht entschuldbar, dass Sie daraufhin
unterstellt haben, dies ließe auf Desinteresse schließen.
Der Bundesregierung, namentlich Herrn Trittin, haben
Sie unterstellt, man habe neben der Atompolitik keine
weiteren Interessen.


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Das stellt auch der Sachverständigenrat fest!)


Ich möchte Ihnen nur zur Kenntnis geben, was Sie ei-
gentlich hätten wissen können – aber Wissenslücken sind
kein Vergehen schwerwiegender Art –,


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Aber bei der Bundesregierung teilweise schon!)


nämlich dass sich HerrMinister Trittin zurzeit dienstlich –
er ist offiziell entschuldigt – in Japan aufhält. Er ist auf
dem G-8-Treffen und kümmert sich um den Klimaschutz.
Zudem ist er auch um den Artenschutz bemüht; denn in
Nairobi hat gerade die Artenschutzkonferenz begonnen.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Dann kann er nicht hier sein! Das stimmt!)


Das, so denke ich, ist Grund genug, ihn hier zu
entschuldigen.

Ich werde mich nun wieder auf die Regierungsbank be-
geben und möchte Sie bitten, mich im Blickfeld zu be-
halten.




Winfried Hermann
9172


(C)



(D)



(A)



(B)


Danke schön.

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409817500
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Birgit Homburger von der F.D.P.-
Fraktion.


(Horst Kubatschka [SPD]: Aber langsam – und atmen, Frau Kollegin! – Susanne Kastner [SPD]: Und nicht zu laut!)



Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1409817600
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Altmann, es wä-
re besser gewesen, der Herr Minister wäre nicht nur nach
Japan gefahren, um an der Konferenz teilzunehmen, son-
dern auch, um einen Vorschlag zur Klimaschutzpolitik zu
machen. Wir haben ihm einen Vorschlag unterbreitet, den
er hätte mitnehmen können. Dies wäre natürlich viel er-
freulicher gewesen als der Umstand, dass er nur dort hin-
gefahren ist, um an der Konferenz teilzunehmen.

Jetzt zu dem Thema, das wir heute im Plenum disku-
tieren, zum Ökoaudit: Liebe Frau Caspers-Merk, Sie ha-
ben 90 Prozent Ihrer Redezeit darauf verwendet, über ei-
nen Antrag zu reden, den Sie noch ganz kurz vor Tores-
schluss eingebracht haben,


(Marion Caspers-Merk [SPD]: Ein revolutionärer Antrag! Nur kein Neid!)


nämlich den Antrag „Umweltcontrolling und Umwelt-
management in Bundesbehörden und Liegenschaften“.
Ich kann nur sagen: Das hat recht lange gedauert.

Wir vonseiten der F.D.P. haben schon im März letzten
Jahres einen Antrag zum Kernpunkt eingebracht. Und der
Kernpunkt ist die Frage: Wie können wir das absolut sinn-
volle Instrument des Ökoaudits in die Lage versetzen, dass
es wieder stärker genutzt wird, dass es wieder an Attrak-
tivität gewinnt? Sie aber, Frau Caspers-Merk, haben
90 Prozent Ihrer Zeit daran vorbeigeredet.


(Beifall bei der F.D.P. – Marion Caspers-Merk [SPD]: Nein, wir fangen immer bei uns an!)


Vor allen Dingen geärgert hat mich, dass Sie sich hier
hingestellt und gesagt haben, der Antrag zum Umwelt-
controlling und Umweltmanagement würde den Fort-
schritt in der Umweltpolitik in Deutschland bedeuten. Wir
haben die Sache über die Ideologie gestellt und, da Sie gen
Schluss keinen gemeinsamen Antrag wollten, dem Antrag
von der SPD und den Grünen zugestimmt.


(Christoph Matschie [SPD]: Weil er vernünftig ist!)


Wir sind schließlich in diesem Punkt mit Ihnen einer Mei-
nung.

Aber es nützt natürlich nichts, wenn wir bei Bundes-
behörden im Umweltbereich etwas erreichen, aber gleich-
zeitig in Kauf nehmen, dass das Ökoaudit im Kernbereich,
nämlich bei den Unternehmen, wo wir wirklich viel er-
reichen können, weniger genutzt wird, weil es überregu-
liert und mit zu viel Bürokratie verbunden ist.

Deswegen ist unser Antrag in keiner Weise veraltet. Es
geht auch nicht nur noch um ein paar übrig gebliebene
Punkte. Nein, unser Antrag ist nach wie vor aktuell, weil
die ISO-Norm 14001 mit ihren geringeren Umwelt-
anforderungen sich im Augenblick hoher Beliebtheit
erfreut und damit das Ökoaudit sozusagen aus dem Ren-
nen schlägt. Das Ökoaudit steht immer mehr unter
Konkurrenzdruck. Deswegen bedarf es neuer Impulse,
um das Ökoaudit zu retten.

Herr Kollege Hermann, nach vielen Gesprächen, die
wir mit auditierten Betrieben geführt haben, muss ich Ih-
nen sagen: Deregulierung ist das einzige Mittel, um dem
Umweltaudit Überlebenschancen zu bieten. Wir fordern
nach wie vor die Erleichterung bei den Genehmigungs-
verfahren sowie Entlastungen bei Berichtspflichten, bei
Nachweisverfahren und bei der Überwachung zertifi-
zierter Betriebe. Jawohl, wir bleiben dabei.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU)


Frau Caspers-Merk, es geht nicht nur um ein paar übrig
gebliebene Punkte. Nein, dies ist der Kernbereich dessen,
was überhaupt helfen könnte, um das Umweltaudit zu ret-
ten.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Das ist der Unterschied: Sie doktern wieder am Rande
herum; wir haben Änderungen im Kernbereich beantragt.

Herr Kollege Hermann, Sie sagen, das sei ein kata-
strophaler juristischer Fehler. Das sehen wir überhaupt
nicht so. Das wäre organisierbar, wenn man das wollte. Es
geht mitnichten darum, Standards zu senken. Die Betrie-
be, die ein Ökoaudit machen, tun dies, um die Umweltsi-
tuation zu verbessern, und nicht, um sie zu verschlechtern.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn im Rahmen eines Ökoaudits nachgewiesen wird,
dass gesetzliche Auflagen eingehalten werden, warum
brauchen wir dann noch staatliche Überwachung?


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Genau das ist der Kern!)


Auch wenn eine staatliche Überwachung ausnahmsweise
einmal einigermaßen effizient organisiert wird, ist sie doch
überflüssig, wenn der Nachweis schon auf anderem Wege
erbracht wurde.


(Zustimmung des Abg. Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU])


Deswegen halten wir daran fest.
Kurz und gut: Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch

aus Ihren eigenen Reihen, beispielsweise von Nieder-
sachsens Umweltminister Jüttner, werden Lockerungen
für so genannte Ökoauditbetriebe verlangt. Wir können
nicht auf EMAS II warten. Wenn wir darauf warten, ist
das Instrument Ökoaudit kaputt. Deswegen fordere ich Sie
auf, unseren Deregulierungsforderungen zuzustimmen.
Wenn Sie das Instrument ernst nehmen, dann müssen Sie
den Antrag der F.D.P. heute beschließen.




Gila Altmann

9173


(C)



(D)



(A)



(B)



(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409817700
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Eva-Maria Bulling-Schröter von
der PDS-Fraktion.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1409817800
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der F.D.P. fordert
umfangreiche Öffnungsklauseln für einzelne Bereiche
des Umweltaudits – wir haben sie bereits gehört – unter
dem Motto: Wer etwas leistet, soll belohnt werden.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: So ist es! – Birgit Homburger [F.D.P.]: Das gefällt Ihnen natürlich nicht!)


Nun wäre erst einmal festzustellen, dass das Umwelt-
audit nun nicht gerade das Instrument ist, welches in den
teilnehmenden Unternehmen die grüne Revolution aus-
brechen lässt. Ich denke, da stimmen wir überein.

Zum einen prüfen die Gutachter nicht, ob sich die Um-
weltverträglichkeit der Produktion, die durch die Instal-
lierung von Umweltmanagementsystemen und Umwelt-
programmen verbessert werden soll, tatsächlich verbessert
hat. Das ist auch nicht ihre Aufgabe. Sie kontrollieren nur,
ob die Umwelterklärungen formal eingehalten werden
und ob die Managementsysteme funktionieren. Das ist ein
kleiner Unterschied. Dass die Beteiligung und Informati-
on der Öffentlichkeit in diesem Verfahren ausgeschlossen
sind, versteht sich von selbst.

Zum anderen geht es nicht darum, ob das Produkt wirk-
lich ein ökologisches ist. So ist es möglich, dass sich zum
Beispiel Großbetriebe mit tonnenschweren, Ressourcen
schluckenden Produkten einen blitzsauberen Umwelt-
auditengel ans Firmenschild pappen dürfen.

Drittens sind die Gutachter wie die Gutachteraufsicht
nicht wirklich unabhängig, sondern letztlich Produkt der
Wirtschaft.


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Ist doch gar nicht wahr! Die Umweltverbände sind doch genauso dabei!)


Im Rahmen des Ökoaudits versprachen sich die betei-
ligten Unternehmen eine Reihe von Erleichterungen bei-
spielsweise in Genehmigungs- und Nachweisverfahren.
Einige haben sie auch bekommen. Doch da durch die
Beschleunigungsgesetze in diesem Bereich ohnehin viel
dereguliert wurde und da das aufwendige Audit viel Pa-
pier produziert, hält sich der Anreiz, bei diesem System
mitzumachen, nun in Grenzen. Deshalb soll jetzt richtig
Butter an die Fische.

Unter anderem sollen nach dem F.D.P.-Antrag Betrie-
be bestimmte obligatorische Messungen und Funktions-
überprüfungen selbst vornehmen können, die vorher
durch die Behörden durchgeführt wurden. Sellafield
lässt grüßen!


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Ohne Sinn und Verstand!)


Auch Prüfungen von Abfallwirtschaftskonzepten und
-bilanzen sollen durch die Verpflichteten selbst durchge-

führt werden können. Die Müllmafia wird sich darüber
nicht ärgern. Emissionsfernüberwachungen sollen bei
registrierten Standorten entfallen. Das ist interessant,
denn gerade die Emissionsfernüberwachung ist selbst im
Musterland der Liberalisierung, in den USA, eines der
wichtigsten Instrumente der Umweltinformation und Um-
weltkontrolle. Darüber hinaus ist sie tatsächlich effizient
und unbürokratisch und – da oft über Internet für jeden zu-
gänglich – ein Element der Bürgerbeteiligung.

Insgesamt, so scheint es, wendet sich die Wirtschaft ge-
gen wirksame Umweltkontrollen, zumindest legt dieser
Antrag den Verdacht nahe. Das lehnen wir ab. So blauäu-
gig wollen und können wir nicht sein. Und das meint im
Übrigen auch der Umweltrat.

Danke.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409817900
Ich
schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung zu einem
Vorschlag für eine Verordnung (EG) des Rates über die
Beteiligung von Organisationen an einem Gemein-
schaftssystem für das Umweltmanagement und die Um-
weltbetriebsprüfung, Drucksache 14/1131. Der Aus-
schuss empfiehlt die Annahme einer Entschließung. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der
Fraktion der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und
F.D.P. angenommen.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu
dem Antrag der Fraktion der F.D.P. zur Erhöhung der At-
traktivität des freiwilligen Umweltaudits durch Deregu-
lierung, Drucksache 14/2030. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 14/570 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da-
gegen? – Wer enthält sich? – Dann ist diese Beschluss-
empfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und den Stimmen der PDS-Fraktion gegen die Stimmen
von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen zum
Umweltcontrolling und Umweltmanagement in Bundes-
behörden und -liegenschaften, Drucksache 14/2907. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Die Gegenprobe! – Enthal-
tungen? – Dieser Antrag ist bei zwei Enthaltungen aus den
Reihen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a) und 10 b) auf:

a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Ulrich Heinrich, Ulrike Flach, Hildebrecht Braun

(Augsburg), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion der F.D.P.
Chancen derGentechnik als Schlüsseltechnolo-
gie des 21. Jahrhunderts
– Drucksachen 14/678, 14/2942 –




Birgit Homburger
9174


(C)



(D)



(A)



(B)


b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)

– zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Entscheidung des Rates über
das vorläufige Verbot des Verkaufs von gene-
tisch verändertem Mais (Zea mays L.) mit kom-
binierter Änderung der Insektizidei-
genschaften aufgrund des BT-Endotoxingens
und erhöhterToleranz gegenüber dem Herbizid
Glufosinatammonium in Österreich
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Entscheidung des Rates über
das vorübergehende Verbot der Verwendung
und des Verkaufs von genetisch verändertem
Mais (Zea mays L.) mit kombinierter Ände-
rung der Insektizideigenschaften aufgrund des
BT-Endotoxingens und erhöhter Toleranz ge-
genüber dem Herbizid Glufosinatammonium
im Großherzogtum Luxemburg
– Drucksachen 14/74 Nr. 2.7, 14/74 2.4, 14/838 –
Berichterstattung:
Abgeordnete René Röspel
Franz Obermeier
Dr. Reinhard Loske
Ulrike Flach
Eva-Maria Bulling-Schröter

Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der
F.D.P. und der Fraktion der PDS vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die
F.D.P. acht Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi-
derspruch; dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Ulrike Flach von der F.D.P.-Fraktion das Wort.


Ulrike Flach (FDP):
Rede ID: ID1409818000
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Es hätte nicht viel gefehlt, und wir hätten die
Antwort auf die Große Anfrage der F.D.P.-Fraktion zu
Chancen der Gentechnik als Schlüsseltechnologie am ers-
ten Jahrestag ihrer Einreichung besprechen müssen. Fast
ein Jahr hat sich diese Regierung mit einer Antwort Zeit
gelassen, die für diese wichtige Branche von großer Be-
deutung ist, weil sich Unternehmen, Wissenschaft und Ar-
beitnehmer endlich Klarheit darüber erhoffen, wie diese
Regierung zur Gentechnologie steht.
Seit Jahren hören wir von SPD und Grünen in Bund und
Ländern mal euphorische Aussagen, mal finstere Kata-
strophenprognosen. Meine Damen und Herren, es wurde
Zeit, dass Sie sich endlich einmal festlegten.

Die Antwort der Bundesregierung findet in vielen Ein-
zelheiten unsere Zustimmung. Auch wir sehen in der Gen-
und Biotechnologie Schlüsselbereiche für künftige Inno-
vationen,


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Richtig!)

halten sie für wichtig für die deutsche Wettbewerbs-
fähigkeit, messen ihr einen großen Stellenwert für den
Umweltschutz bei, freuen uns über die vielen neuen Ar-
beitsplätze gerade in kleinen und mittleren Unternehmen
und stimmen zu, wenn Sie sagen, dass die Ausgaben für
Forschung und Entwicklung unter einem Minister
Rüttgers zu gering waren.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das ist doch wohl ein Ding! Das kann doch wohl nicht sein!)


Meine Damen und Herren, Deutschland steht – auch
das steht in der Antwort – erst am Anfang des Biotechno-
logie-Zeitalters. Wir hoffen mit Ihnen auf einen schnellen
Abschluss der Novellierung der Freisetzungsrichtlinie
90/220 der EU und lehnen Kriterien, die nicht wissen-
schaftlich begründet sind, ab. Wir haben deshalb in unse-
rem Antrag Aussagen der Bundesregierung verwendet
und sind sehr gespannt darauf, ob auch die Koaliti-
onsfraktionen diesen Aussagen zustimmen.

Meine Damen und Herren, wir Liberalen wollen einen
schnellen Ausbau des Bio- und Gentechnologiesektors.
Wir müssen in der Bio- und Gentechnologie die begon-
nene Aufholjagd fortsetzen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Es sind gerade kleine und mittlere Unternehmen, die in
Deutschland in diesem Sektor tätig sind.


(Christoph Matschie [SPD]: Wen wollen Sie denn jagen, Frau Flach?)


– Sie, Herr Matschie.

(Christoph Matschie [SPD]: Darauf freue ich mich schon!)

Wenn wir die Zulieferer und die circa 160 Anbieter von
Beratungsleistungen hinzuzählen, kommen wir – so eine
Studie der BiocomAG – auf 1 337 Biotechnologiefirmen.
Der Gesamtumsatz betrug 4,4 Milliarden DM. Rund die
Hälfte dieser Firmen sind weniger als fünf Jahre alt. Das
ist ein junger, dynamischer Wachstumsmarkt und das
Ergebnis der Arbeit der alten Bundesregierung.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Oh! – Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Lob für Herrn Rüttgers war das!)


Ich freue mich, dass die neue Bundesregierung die Po-
tenziale ähnlich sieht. Sie – ich zitiere – „erhofft sich von
der Bio- und Gentechnik neue zukunftssichere Arbeits-
plätze und damit einen Beitrag zur Linderung der Ar-
beitslosigkeit“. Das erhoffen wir uns selbstverständlich
auch, aber das Prinzip Hoffnung allein macht es eben
noch nicht.

Für die Antwort der Bundesregierung auf unsere An-
frage gilt der berühmte Satz: Die Botschaft hör ich wohl,
allein mir fehlt der Glaube. Denn wenn es konkret wird,
wenn Sie etwas für die Entwicklung der Bio- und Gen-
technologie tun könnten, dann wird behindert, verzögert
und geblockt.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Susanne Kastner [SPD]: Machen Sie mal lang Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms 9175 sam! Das entspricht alles nicht der Wahrheit! Nicht ganz so flott!)





(C)


(D)


(A)


(B)


In Ihrer Beschlussempfehlung zum BT-Mais, die wir
natürlich ablehnen, wenden Sie sich nicht nur gegen den
Kommissionsbeschluss, sondern fordern sogar noch eine
Verschärfung, indem Sie generell von gentechnisch
verändertem Saatgut sprechen und nicht nur von Mais.

Sie behaupten, dass naturbelassene Nahrungsmittel
qualitativ höherwertig seien. Das ist wissenschaftlich
nicht haltbar.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das ist Humbug!)

Der Sachverständigenrat, der TAB-Bericht und andere
Studien haben immer wieder betont, gentechnisch verän-
derte Nahrungsmittel seien nicht schlechter, zeigten
keine negativen Auswirkungen auf die Biodiversität und
seien als Tierfutter gut geeignet.

Beim BT-Mais kann der Landwirt ein Ertragsplus von
circa 5 Prozent erzielen, Kosten für Unkrautvernich-
tungsmittel sparen und damit auch ökonomisch natürlich
erfolgreicher im Wettbewerb sein.

Meine und Damen und Herren, Sie haben in den letz-
ten Monaten der deutschen Landwirtschaft eigentlich
schon genug zugemutet. Erst gestern zerschellte unser
Antrag zum Agrodiesel erneut an Ihrer Entschlossenheit,
diesen Berufszweig in Ihnen genehme Bahnen zu zwin-
gen. Ich hätte mich gefreut, wenn Herr Grill anwesend ge-
wesen wäre, dann wären wir nämlich durchgekommen.
Hier beim Mais hätten Sie Gelegenheit, der deutschen
Landwirtschaft unter die Arme zu greifen, statt in den al-
ten Gräben der ideologischen Vorurteile zu bleiben.

Natürlich sind auch wir nicht taub

(Susanne Kastner [SPD]: Aber wir bald, wenn Sie so weiterreden!)

im Hinblick auf mögliche Risiken. Kritiker befürchten ei-
ne Übertragung von Antibiotikaresistenzen und lehnen
deshalb eine Verwendung von BT-Mais ab. Diese Be-
fürchtung muss man ernst nehmen und selbstverständlich
wissenschaftlich überprüfen.

Die Kommission für biologische Sicherheit des
Robert-Koch-Institutes hat dies getan. Ich zitiere:

Eine zunehmende Verbreitung des Ampicillin-
Resistenzgens in Mikroorganismen durch die Ver-
wendung von gentechnisch veränderten Pflanzen ist
nicht zu erwarten. Es ist keine Gefährdung der
menschlichen Gesundheit, der von Tieren oder der
Umwelt zu befürchten.

Diese Einschätzung wurde im März erneut bestätigt.
Womit rechtfertigen Sie wissenschaftlich die Ablehnung?
Es liegen keine neuen Erkenntnisse vor. Die Vermutung
ist – das ist einfach nicht von der Hand zu weisen –, dass
es sich bei Ihnen nicht um rationale, sondern um rein
emotional-ideologisch geprägte Entscheidungen handelt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wie ist es zum Beispiel mit der Kommission für Bio-
logische Sicherheit? Sie hat die Entscheidung von Frau

Fischer, die Genehmigung für den Anbau von BT-Mais
zurückzunehmen, als in der Sache unbegründet kritisiert.

Immer wenn es darum geht, Wahlkampfpunkte zu ma-
chen, sind Sie voll des Lobes für die Gentechnik. Ihr Ex-
Kollege Schwanhold hat hier im Hause wahrscheinlich an-
ders gestimmt, aber derzeit marschiert er durch Nord-
rhein-Westfalen und schwärmt von den Erfolgen dieser
neuen Technologie und von den Entwicklungspotenzialen
der Gentechnik.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Und stößt auf den Widerstand der grünen Regierungspräsidentin in Ostwestfalen!)


Meine Damen und Herren, immer, wenn es hier im
Hause darum geht, die Weichen zu stellen, um genau die-
se Entwicklung zu fördern, stellen Sie die Signale auf Rot;
und das aus offensichtlich ideologischen Gründen. Je öf-
ter langfristige Planungssicherheit politischer Willkür
zum Opfer fällt, umso mehr werden Investitionen in For-
schung sowie weitere Unternehmenserfolge ausbleiben.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist schon erstaunlich, dass heutzutage Unternehmen
ihr Saatgut sogar auf Landwirtschaftsausstellungen nicht
mehr einbringen können. Wir fangen schon an, darüber
nachzudenken. Sie schaffen eine Atmosphäre, die ganz of-
fensichtlich Innovationen in diesem Land behindert. Die-
se Schaukelstuhltaktik wird der Gentechnik als Schlüs-
seltechnologie nicht gerecht. Das mag gut für den Koali-
tionsfrieden sein. Das mag gut für Herrn Röspel sein. Gut
für zukunftsfähige Arbeitsplätze und den Standort
Deutschland ist es nicht.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Entschließungsantrag der F.D.P. ist eine Chance für
die Gentechnik, aber auch eine Chance für Sie, für dieses
Land gemeinsam etwas zu bewegen. Folgen Sie den Ein-
sichten Ihrer zuständigen Ministerien! Unterstützen Sie
unseren Antrag und verlassen Sie die alten Kampfesgrä-
ben. „Green Card“ allein ist etwas wenig für Innovationen
in diesem Land. Hier können Sie einmal zeigen, was Ih-
nen Innovation wirklich wert ist.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Dr. Ilja Seifert [PDS]: Und die Firma Marlboro hat festgestellt: Zigaretten sind unschädlich!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409818100
Ich ertei-
le jetzt der Kollegin Gudrun Schaich-Walch von der SPD-
Fraktion das Wort.


Gudrun Schaich-Walch (SPD):
Rede ID: ID1409818200
Herr Vizepräsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin von der
FDP, Schnelligkeit allein ist kein Kriterium für Qualität.
Auf keinem vergleichbaren Gebiet kommt es derzeit auf
Qualität so sehr an wie auf diesem Sektor. Wenn wir dort
durch Qualitätsmängel oder Nachlässigkeit Akzeptanz
verspielen, wird es sehr lange und sehr viel länger dauern,
als es Ihnen und anderen lieb ist, die Akzeptanz wieder
herzustellen.




Ulrike Flach
9176


(C)



(D)



(A)



(B)



(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Sie erwarten von dieser Regierung – das nehme ich ein-
fach an – eine umfassende Antwort. Sie konnten die Ant-
wort gar nicht kritisieren. Das Einzige, was Sie kritisie-
ren konnten, ist landespolitisches Handeln in einigen Be-
reichen, aber nicht das, was man Ihnen tatsächlich vorlegt.

Sehen Sie sich die Arbeitsmarktzahlen an, die gerade
veröffentlicht worden sind. Dazu kann ich Ihnen nur sa-
gen: Wir haben nach einer Regierungszeit von etwas mehr
als einem Jahr die niedrigsten Arbeitslosenzahlen des
März seit vier Jahren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die haben wir aufgrund unserer Politik in diesem Bereich
und das werde ich Ihnen auch belegen. Ich werde es Ihnen
nicht anhand von Beispielen aus der Landwirtschaft bele-
gen, sondern ich werde versuchen, es Ihnen anhand von
Beispielen aus der Medizin zu belegen.

Der medizinische Bereich hat eine hohe Akzeptanz
durch die Bevölkerung. Dort hat es in den letzten Jahren
einen gewaltigen Wissenszuwachs gegeben. Die Grund-
lagenforschung hat sich verbessert. Es gibt dort eine
ganze Reihe von Firmengründungen. Auch im letzten Jahr
waren neue Firmengründungen zu verzeichnen. Aber man
muss natürlich wissen, dass dies kein arbeitsplatzintensi-
ver Bereich ist, in dem wir immerzu neue Arbeitsplätze
schaffen. Vielmehr werden wir dort aufgrund der neuen
Technologie sehr viele Arbeitsplätze ersetzen. Auf diesem
Weg sind wir.

Wir haben eine hervorragende Entwicklung im Be-
reich der Arzneimittel. So ist die Gentechnik aus der Be-
handlung chronisch Kranker nicht mehr wegzudenken.
Auch bei der somatischen Gentherapie sind wir trotz vie-
ler Rückschläge an einen Punkt angelangt, an dem es
durchaus berechtigte Hoffnungen auf neue Therapiefor-
men gibt.

Ich hatte schon gesagt, dass es in der Medizin eine ho-
he Akzeptanz der Gentechnik gibt; wir brauchen sie auch.
Die Fortschritte in diesem Bereich zeigen sich unter an-
derem darin, dass etwa 350 Medikamente und Impfstoffe
in der letzten Phase der klinischen Erprobung sind, wenn
auch nicht alle in der Bundesrepublik. Aber es gibt bei uns
keinen abgeschotteten Markt, sondern wir reden hier über
einen globalen Markt.

Dieser rasanten medizinischen Entwicklung liegt
natürlich eine entsprechende wirtschaftliche Dynamik zu-
grunde. Über 80 Prozent der Gentechnikunternehmen ar-
beiten auf dem von mir eben skizzierten kleinen Sektor mit
einer unheimlich großen Beweglichkeit. Ziel sozialde-
mokratischer Politik ist es, dort die Situation – auch mit
weiteren begleitenden Gesetzen – zu verbessern. Dass
wir diesem Ziel näher kommen, belegen die von mir ge-
nannten Zahlen.

Aber wer wie wir an einer langfristigen Entwicklung
der Gentechnik interessiert ist, muss letztendlich auch be-
reit sein, sich der Abwägung von Chancen und Risiken
dieser Technik zu stellen. Für uns stehen nicht die wirt-
schaftlichen Momente an erster Stelle unserer Überle-

gungen, sondern das Vorsorgeprinzip und der Schutz der
Verbraucherinnen und Verbraucher.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409818300
Frau Kol-
legin Schaich-Walch, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Seifert von der PDS?


Gudrun Schaich-Walch (SPD):
Rede ID: ID1409818400
Ja, bitte.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1409818500
Frau Kollegin Schaich-Walch,
macht es Ihnen nicht ein bisschen Angst, dass im Phar-
mabereich so viel gentechnisch verändertes Zeug unter die
Leute kommt, bei dem man nicht weiß, ob es vielleicht in
drei, fünf oder zehn Jahren oder vielleicht noch später Aus-
wirkungen zeigen wird, von denen wir heute noch keine
Ahnung haben, die dann aber nicht mehr zurückzunehmen
sind, weil es sich eben um gentechnische Veränderungen
handelt?


Gudrun Schaich-Walch (SPD):
Rede ID: ID1409818600
Ich sage Ihnen ganz
ehrlich, dass ich da eher im Bereich der grünen Gentech-
nik Bedenken habe. Deshalb begrüße ich die Entscheidung
sehr, die die Gesundheitsministerin Anfang des Jahres ge-
troffen hat. Es gibt keinen vergleichbaren Sektor, auf dem
wir so konsequent wie in der Arzneimittelherstellung gute
klinische Prüfungen haben. Eine Bewertung der Arz-
neimittel, die heute zum Beispiel bei der Diabetikerver-
sorgung zur Verfügung stehen, oder von bestimmten Pro-
dukten, für die wir eine andere Herstellungsform als die
Verwendung von Blut finden können, führt zu dem Er-
gebnis, dass wir oftmals nicht nur wirkungsvollere, son-
dern auch durchaus sicherere Medikamente haben. Zu-
gleich bin ich, wie gesagt, der Überzeugung, dass wir hier
ganz dringend eine Risikobegleitforschung benötigen.
Wir müssen das immer kritisch beurteilen. Bei Arznei-
mitteln tun wir das dadurch, dass sie nach fünf Jahren er-
neut auf den Prüfstand gestellt werden. Daher glaube ich,
dass die Sicherheit auf diesem Sektor sehr groß ist.

Wir benötigen aber eine Verbesserung der Kennzeich-
nungspflicht im grünen Bereich und im Lebensmittelbe-
reich. Nur durch eine umfassende Kennzeichnung wird
auch gewährleistet, dass sich der Verbraucher tatsächlich
auf einer fundierten Basis frei entscheiden kann, ob er zu
einem gentechnisch veränderten Produkt greifen will oder
nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bei der Diagnostik sehe ich besondere Stärken dieser
Technik; mit ihr sind aber auch untrennbar Risiken ver-
bunden. Ich erinnere hier an das, was wir in der vorigen
Woche der Presse entnehmen konnten und was bestätigt
wurde: In Großbritannien möchte offenbar das Gesund-
heitsministerium zulassen, dass Gentests der Versiche-
rungswirtschaft zur Verfügung gestellt werden.


(Ulrike Flach [F.D.P.]: Das hat damit überhaupt nichts zu tun!)





Gudrun Schaich-Walch

9177


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich bin der Überzeugung, dass eine derartige Maßnahme
letztendlich dazu führen wird, dass Menschen, bei denen
vielleicht ein gesundheitliches Risiko besteht


(Ulrike Flach [F.D.P.]: Das ist doch ein ganz anderes Thema!)


– ich bin beim Thema Gesundheit –, aus der privaten
Krankenversicherung ausgegliedert werden. Das bedeu-
tete aber eine Risikoselektion zulasten der gesetzlichen
Krankenversicherung und damit einhergehend eine weit-
gehende Entsolidarisierung der Gesellschaft.


(Zustimmung bei der SPD)

Diese Entwicklung müssen wir, so glaube ich, sehr kri-

tisch und sehr wachsam betrachten und müssen an dieser
Stelle der Gentechnik genau hinsehen. Wir haben dafür
Sorge zu tragen, dass derartige Daten nicht zur Verfügung
gestellt werden. Wir müssen europaweite Übereinkom-
men darüber erzielen, dass solche Dinge bei uns nicht vor-
kommen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Über eine Technologie, die die Menschen so tief
berührt, müssen wir eine offene Diskussion führen, die
philosophische, ethische, medizinische und gesellschaft-
liche Fragen berücksichtigt und nicht nur, wie von der
F.D.P. angesprochen, den reinen Wirtschaftsbereich. Ich
glaube, wenn wir dieses Spektrum der Ansätze verfolgen,
dann werden wir tatsächlich zu einer vernünftigen Be-
wertung von Risiken und Chancen kommen. Einen ganz
wichtigen Beitrag dazu wird die Einsetzung der gebilde-
ten Enquete-Kommission „Recht und Ethik in der mo-
dernen Medizin“ leisten.

Wir müssen im Bereich der Gentechnik allerdings über
den nationalstaatlichen Gesetzesrahmen hinaus zu euro-
paweiten Vereinbarungen kommen. Ansonsten fürchte
ich, dass der Wettbewerb dort Fakten schaffen wird, die
wir gesundheitspolitisch nicht brauchen.

Wer wie Sie, meine Damen und Herren von der Oppo-
sition, gesetzliche Reglementierungen im Wesentlichen
als Restriktion wirtschaftlicher Aktivitäten und als Be-
drohung empfindet, der allerdings, so glaube ich, tut die-
ser Forschung keinen Gefallen und behindert den Fort-
schritt in dieser Richtung. Ich bin davon überzeugt, dass
die Gesetze, die eine möglichst breite gesellschaftliche
Auseinandersetzung mit Fragen der Technikfolgenab-
schätzung widerspiegeln, Gesetze sind, die zur Akzeptanz
und zur Sicherheit beitragen und damit die wirtschaftliche
Entwicklung in diesem Bereich letztendlich befördern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409818700
Als nächs-
te Rednerin hat die Kollegin Vera Lengsfeld von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Vera Wollenberger (CDU):
Rede ID: ID1409818800
Herr Präsident! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! „Grün ist der Wechsel“

teilte uns der Juniorpartner der Regierungskoalition in
seinem Programm zur Bundestagswahl 1998 mit. Ich zi-
tiere: „Das Festhalten an riskanten und unproduktiven
Techniken muss beendet werden.“ Nach den Turbulenzen,
die sich in den letzten Wochen aus dem kühnen Versuch
von Frau Ministerin Fischer, diesen Programmpunkt in
praktische Regierungsarbeit umzusetzen, ergeben haben,
kommt man allerdings zu dem zwingenden Schluss, dass
die riskante, unproduktive Kopflosigkeit dieser Regie-
rung beendet werden muss.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Am 20. Februar verbot Frau Fischer wenige Stunden

vor der endgültigen Zulassung des BT-Maises durch das
Sortenamt den Versuchsanbau aufgrund angeblich neues-
ter Erkenntnisse, die allerdings aus veralteter Literatur des
Freiburger Ökoinstitutes stammten. Es stellte sich übri-
gens nach der Debatte am 24. Februar 2000, in der ich das
Verbot von BT-Mais in diesem Hause erstmals angespro-
chen habe, sehr schnell heraus, dass diese Studie im Ge-
sundheitsministerium gar nicht vorhanden war. Sie mus-
ste erst von Greenpeace in Hamburg beschafft werden. Auf
Anfrage wurde dann von einem Mitarbeiter ihres Büros
mitgeteilt, dass die Ministerin ihre Entscheidung doch
nicht aufgrund dieser Literatur getroffen habe, sondern
dass eine weitere Studie existiere, deren Ergebnisse aber
erst noch geprüft werden müssten.

Bis heute wissen wir nicht, welche neuen Erkenntnis-
se – von wem auch immer gewonnen – zum Schnell-
schuss der Ministerin gegen den Versuchsanbau von
BT-Mais geführt haben. Das Robert-Koch-Institut hatte
schon vor drei Jahren im Einklang mit EU-weiten Test-
verfahren eine Gefährdung von Mensch, Tier und Umwelt
durch BT-Mais ausgeschlossen. Die Gründe der Ministe-
rin liegen also im Dunkeln. So viel zur Glaubwürdigkeit
der Grünen in Bezug auf Transparenz von Regierungs-
entscheidungen.

Ich habe nun mit Erstaunen vernommen, dass Frau
Schaich-Walch davon ausgeht, dass diese Entscheidung
noch immer gültig ist. Diese obskure Entscheidung, Frau
Kollegin, ist inzwischen allerdings stillschweigend revi-
diert worden. Im Büro der Ministerin wusste davon jedoch
niemand etwas. Ebenso konnte niemand auf parlamenta-
rische Anfrage hin darüber Auskunft erteilen. Zum Glück
jedoch gibt es die Pressestelle des Gesundheitsmi-
nisteriums, die zumindest auf Nachfrage von Nichtparla-
mentariern verrät, dass tatsächlich seit Freitag, dem
31. März, der Versuchsanbau von BT-Mais wieder ge-
stattet ist. Dazu gibt es aber keine offizielle Verlautbarung,
weder vonseiten der Regierung noch vonseiten des
Robert-Koch-Instituts. Letzteres hat durch einen neuen
Unbedenklichkeitsbescheid den Anbau von 12 Tonnen
BT-Mais-Saatgut in Deutschland zu Testzwecken ermög-
licht.

Damit ist faktisch wieder alles beim Alten, wenn auch
die juristische Grundlage eine andere ist. War bis Febru-
ar das Sortenrecht der limitierende Faktor, ist es nun das
Gentechnikgesetz. Daneben bleibt die Entscheidung von
Frau Ministerin Fischer unkorrigiert bestehen. So bleibt
mir an dieser Stelle nur, Frau Ministerin Fischer zu wün-
schen, dass Sie den Mut findet, zu erkennen, dass die




Gudrun Schaich-Walch
9178


(C)



(D)



(A)



(B)


Korrektur von Irrtümern ein Zeichen von politischer
Klugheit ist. Die Art von Verdunkelungspolitik, die sie be-
treibt, ist das genaue Gegenteil davon.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Im Zusammenhang mit dem BT-Mais war die grüne

Kopflosigkeit relativ folgenlos. Der Anbau von BT-Mais
war im Winter für einen Monat verboten, in dem er oh-
nehin nicht hätte gesät werden können. Für andere Fälle
gilt das nicht in gleichem Maße.

Die überraschend positive Antwort der Bundesregie-
rung auf die Große Anfrage der F.D.P. und ihre Sorge um
den Arbeitsplatzverlust in der Biotechnologie ändert
nichts daran, dass die permanente Verteufelung der Gen-
technologie heute junge Leute davon abhält, Berufe in die-
ser Branche anzustreben oder ein Studium der Biotech-
nologie aufzunehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Aber vielleicht werden wir Weltmarktführer im Bereich
der Risikobegleitforschung. In wenigen Jahren werden wir
schätzungsweise 30 000 Biotechnologen brauchen, die wir
dann aus Indien anwerben werden, um die selbst er-
zeugten Defizite abdecken zu können. Da bekommt das
Wort Entwicklungshilfe eine ganz neue Bedeutung. Bes-
ser wäre allerdings Selbsthilfe, das heißt: die entschlos-
sene Überwindung der offenen und latenten Techno-
logiefeindlichkeit in Deutschland.

Teil b unserer verbundenen Debatte zeigt, wie schwer
sich Rot-Grün damit tut. Der Beschluss der Koalitions-
mehrheit im Umweltausschuss widerspricht den Lippen-
bekenntnissen des Regierungsentwurfs auf die Anfrage
der F.D.P. Waren eben noch energische Boykottmaßnah-
men gegen Österreich gefragt, ideologische Demonstra-
tionen gegen unsere Nachbarn als der dernier cri der po-
litical correctness, so ist nun die ökologische Unterstüt-
zung für Österreich gefordert, damit dort ein antiquiertes
Verbot von Genprodukten aufrechterhalten werden kann.
Welch eine Zwickmühle!Wie hält es in Zukunft der auf-
rechte Rot-Grüne mit Ferienfahrten nach Kärnten: nein
wegen Haider oder doch lieber ja, weil es sich um eine der
letzten gentechnologiefreien Zonen handelt?


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Buridans Esel hat sich in einer ähnlichen Situation ent-
schlossen, die Welt von seiner Anwesenheit zu erlösen,
weil er nicht in der Lage war, eine Entscheidung zu tref-
fen. Seine philosophische Eselei erscheint geradezu wei-
se im Vergleich zu dem ideologisch-ökologischen Schlin-
gerkurs dieser Koalition.


(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Da haben Sie es uns wieder gegeben! Wir sind ganz beeindruckt!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409818900
Zu einer
Kurzintervention erteile ich der Kollegin Christa Nickels
das Wort.


Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409819000

Schönen Dank, Herr Präsident. – Ich bin, liebe Frau Kol-

legin Lengsfeld, auch kirchenpolitische Sprecherin mei-
ner Fraktion. Die Art und Weise, wie Sie geredet haben,
kennt man sonst bei Konvertiten. Es gibt auch ein Sprich-
wort: Die größten Kritiker der Elche waren früher selber
welche. Daran fühlte ich mich bei Ihrer Rede sehr stark
erinnert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Zum Ersten agiert man in einem solchen Bereich im-
mer in einem Spannungsfeld von Chancen und Risiken.
Das war und ist den Grünen sowohl in der Opposition als
auch jetzt klar. Wir haben einen Koalitionsvertrag, auf des-
sen Grundlage wir mit unserem großen Koalitionspartner
einen vernünftigen Kurs fahren können. Wir sind froh, hier
in der von Frau Schaich-Walch vorgetragenen sorgfältigen
Art und Weise ohne Schnellschüsse ein Stück weiter zu
kommen.

Zum Zweiten haben Sie als eine Überbringerin gehei-
mer neuer Nachrichten agiert. Wären Sie heute Mittag bei
der Debatte, die sich auch mit diesem Thema befasst hat,
im Plenum gewesen, hätten Sie erleben können, dass Frau
Fischer exakt die Informationen, die Sie als große und sen-
sationelle neue Nachrichten verkünden wollen, in aller
Ruhe bereits vorgetragen hat. Somit sind Ihre Aussagen
kalter Kaffee.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409819100
Zu einer
weiteren Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Röspel von der SPD-Fraktion das Wort.


René Röspel (SPD):
Rede ID: ID1409819200
Weil ich vorhin von Frau Flach
namentlich angesprochen worden bin und Frau Lengsfeld
mir nicht die Möglichkeit gab, etwas zu korrigieren, will
ich das jetzt tun. Die einzigen, die in der gesamten Dis-
kussion das Wort Ideologie benutzen, aber keine wissen-
schaftlichen Fakten bringen, sind Sie von der F.D.P. und
der CDU.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Lengsfeld, wenn Sie uns sagen, wir würden ver-
altete wissenschaftliche Arbeiten heranziehen, so haben
Sie die Anfrage und die Antwort nicht gelesen. In der Ant-
wort der Bundesregierung auf Frage 34 werden unter an-
derem erwähnt: Hilbeck 1998, Losey 1999 und Saxena
1999 in „Nature“. Wenn Sie jemals versucht haben, in
„Nature“ etwas zu veröffentlichen, dann wissen Sie, wie
schwer es ist und welche wissenschaftlichen Fakten dies
dann sind. Diese berücksichtigen wir in unserer Beurtei-
lung. Wenn Sie anderer Meinung sind, dann sind Sie ver-
pflichtet, auch einmal wissenschaftliche Publikationen
oder Belege anzubringen und nicht immer das Gespenst
der Ideologie oder der Verteufelung, dass niemand etwas
macht, zu beschwören. So können wir hier nicht disku-
tieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)





Vera Lengsfeld

9179


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409819300
Frau
Lengsfeld, Sie haben das Wort zur Erwiderung. Bitte
schön.


Vera Wollenberger (CDU):
Rede ID: ID1409819400
Ich habe hier nur dar-
gestellt, was ich mit der Koalition erlebt habe. Wenn das
Büro von Frau Ministerin Fischer heute Mittag nicht in der
Lage war, Auskunft zu geben, dann spricht das gegen das
Büro und nicht für ihre Arbeit. Das tut mir Leid. Ich habe
mich auch nur darauf bezogen, dass Frau Schaich-Walch
das offensichtlich nicht gewusst hat.


(Gudrun Schaich-Walch [SPD]: Ich war heute Nachmittag da! Im Gegensatz zu Ihnen!)


– Es wird mir wohl gestattet sein, auf das Bezug zu neh-
men, was ich im Plenum höre.

Herr Kollege, ich habe erwartet, dass Sie diese Studi-
en anführen. Die sind in der Tat wirklich widerlegt. Das
können Sie im „New Scientist“ nachlesen. Ich gebe Ihnen
gern die Verweise und danach können wir diskutieren.
Diese Studien – das habe ich gesagt – stammen aus dem
Jahr 1998. Das sind wahrlich keine neuesten Erkenntnis-
se. Im Übrigen sind sie längst widerlegt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409819500
Ich ertei-
le der Kollegin Ulrike Höfken vom BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN das Wort.


Ulrike Höfken-Deipenbrock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409819600
Sehr
geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Dem Publikum zur Erklärung: Die aufgeregte Dame war
früher bei der Fraktion der Grünen und hat dort das Ge-
genteil vertreten. Insofern gibt es entsprechende Diskus-
sionen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS – Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Man redet nicht zum Publikum!)


Ich plädiere für eine größere Anwesenheit bei gen-
technischen Diskussionen. Dann wäre man nämlich auch
als Mitglied Ihrer Fraktion zum Beispiel beim VCI, beim
parlamentarischen Abend anwesend, wo eine Message
ganz eindeutig war, und zwar die, dass, seitdem es die rot-
grüne Regierung gibt, die Bio- und Gentechnologie einen
verlässlichen Partner hat.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Hier gibt es einen sehr wesentlichen Punkt, auf den Frau
Schaich-Walch auch schon hingewiesen hat. Nachdem
Sie eine blind technikgläubige Politik betrieben haben, die
nach hinten losgegangen ist, die eine Verhinderung der
Entwicklung gewesen ist, geht es jetzt in eine andere
Richtung. Da haben wir einen ganz bestimmten Part. Als
Fraktion der Grünen treten wir dafür ein, die Risiken und
die Probleme der Gentechnik offen zu diskutieren. Nur
eine solche Art und Weise der Diskussion kann eine Ent-
wicklung wirklich nach vorn bringen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409819700
Frau Kol-
legin Höfken, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kol-
legin Lengsfeld? – Bitte schön, Frau Lengsfeld.


Vera Wollenberger (CDU):
Rede ID: ID1409819800
Frau Kollegin Höfken,
wenn es mit der Gentechnologie unter der rot-grünen Ko-
alition so aufwärts geht: Wie erklären Sie sich dann das
Abfallen der Zuwachsraten seit 1998?


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Abfallen der Zuwachsraten?)



Ulrike Höfken-Deipenbrock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409819900
Man
müsste noch fragen: Das Abfallen der Zuwachsraten in
was und in wem? Was ist gemeint?


(Vera Lengsfeld [CDU/CSU]: Die Gründung von Biotechnologieunternehmen!)


Arbeitsplätze oder Firmen? Die Entwicklung eines Neu-
zuwachses gibt es schon seit 1997. Hier liegen Daten vor.


(Vera Lengsfeld [CDU/CSU]: Nein!)

Es gibt eine Entwicklung, die man ganz deutlich an den
neuen Firmenentwicklungen beobachten kann. Darum
sind alle Arbeitsplatzmeldungen sehr wohl zu hinterfra-
gen. Man hat zum Beispiel bei einer Untersuchung im Be-
reich der Wissenschaft jetzt festgestellt, dass aufgrund ver-
schiedener Fragestellungen die Arbeitsplätze im Bereich
der Gentechnik sehr unterschiedlich bewertet werden.
Biocom-Experten kommen in ihrem „Bio-Technologie
Jahr- und Adressbuch 2000“ auf eine Anzahl von 543 Fir-
men; Schitag, Ernst & Young kommt hingegen auf ledig-
lich 222 Firmen, die der Kategorie 1 zuzuordnen sind. Das
Informationssekretariat Biotechnologie ISB kommt wie-
derum auf knapp 400 Unternehmen. Das hängt damit zu-
sammen, dass die Fragestellungen in Bezug auf die Ar-
beitsplätze sehr unterschiedlich ausfallen.

Es spielt aber auch eine andere Entwicklung hinein, die
wir durchaus sehr kritisch betrachten, nämlich zum einen
das Outsourcing und zum anderen die immer wieder vor-
kommende Übernahme dieser neuen Firmen nach einer
projektorientierten Arbeit. Vor dem Hintergrund dieser
Diskussion muss man die Arbeitsplatzangaben in der
Gentechnologie insgesamt je nach den entsprechenden
Fragestellungen vorsichtig hinterfragen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409820000
Frau Kol-
legin Höfken, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kol-
legin Flach?


Ulrike Höfken-Deipenbrock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409820100
Nein,
jetzt nicht, aber gleich.

Die Bundesregierung verfolgt im Hinblick auf die Nut-
zung der Bio- und Gentechnologie einen ausgewogenen
Kurs, der es zulässt, dass sich die verantwortbaren Inno-
vationspotenziale gerade in der Forschung entwickeln,
der gleichzeitig aber dem Aspekt der Risikovorsorge und
der notwendigen Sicherheit von Menschen und Um-
welt Rechnung trägt. Wir lesen in der Antwort auf die
Große Anfrage, dass es hier auf der einen Seite neue






(C)



(D)



(A)



(B)


Möglichkeiten gibt, die es zu nutzen und zu prüfen gilt.
Auf der anderen Seite steht unsere klare Festlegung, dass
der Schutz der menschlichen Gesundheit und die Bewah-
rung des ökologischen Gleichgewichtes oberste Priorität
haben müssen.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Der Kurs der Grünen würde mich interessieren! Reden Sie doch einmal darüber!)


Darin unterscheidet sich diese rot-grüne Bundesregierung
ganz klar von ihrer Vorgängerin, bei der das berechtigte
Interesse von Verbrauchern und Ökologie in erster Linie
als Fortschrittsfeindlichkeit abgetan wurde. Das hat im Er-
gebnis die Entwicklung insgesamt behindert. Genau die-
sen alten Geist hält auch der F.D.P.-Entschließungsantrag
hoch. Aus dem Gesamtzusammenhang einer 50-seitigen
Antwort auf eine Anfrage werden ein paar genehme
gentechnikfreundliche Sätze herauskopiert, und fertig ist
der Antrag. Ich weiß nicht, ob man das als Entschlie-
ßungsantrag bezeichnen kann.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Wir wollten es Ihnen ermöglichen, dass Sie zustimmen! Deshalb haben wir unsere kritischen Anmerkungen weggelassen!)


Richtig ist: Die Bundesregierung wird zur Entwicklung
konkreter Anwendungsbereiche der Bio- und Gentechno-
logie erhebliche Ressourcen einsetzen und Wissenschaft
und Wirtschaft aus öffentlichen Mitteln fördern. Die Bun-
desregierung hat erklärt, auf diesem Niveau die Innovati-
onsstrategien weiter auszubauen; dabei ist es ihr Ziel, die
wirtschaftlichen Chancen der Bio- und Gentechnologie
auch stärker auf ökologische Lösungsansätze auszurich-
ten.

Hier möchte ich einen Exkurs machen. Die ganze Dis-
kussion auf der europäischen Ebene und in den USA
scheint ja an Ihnen, den Kollegen von der Opposition, ein
Stück weit vorbei gegangen zu sein. Herr Paziorek ist ja
heute Morgen sehr viel differenzierter auf das Biosafety-
Abkommen eingegangen. Ich möchte Ihnen etwas vortra-
gen, was das USDA, das amerikanische Landwirtschafts-
ministerium, im letzten Jahr eruiert hat: 400 US-Farmer,
die knapp 200 000 Hektar Ackerfläche bewirtschaften,
wurden befragt. Ihre Planungen für dieses Jahr sehen
folgendermaßen aus: Roundup-Ready Soja minus 15 Pro-
zent, BT-Mais minus 22 Prozent und BT-Baumwolle mi-
nus 26 Prozent, RR-Baumwolle hingegen plus 5 Prozent.
Das heißt, die Entwicklung des Anbaus gentechnischer
Pflanzen ist rückläufig. Sie sagen, Grund dafür sei die
mangelnde Akzeptanz.


(Ulrike Flach [F.D.P.]: Das sagt Ihre Regierung auch!)


Ich sage dazu ganz klar, dass die USA eine ökonomische
Lehre ziehen mussten, die darin bestand, dass sich der
Markt nicht allein nach wissenschaftlichen Daten aus-
richtet, sondern an Nachfrage und Akzeptanz orientiert.

Ich möchte Ihnen auch noch etwas zur Insektenresis-
tenz von BT-Mais sagen: USDA hat festgestellt, dass es
keine Unterschiede in den Pestizidaufwandmengen gibt.
Ich unterstütze zwar den Anspruch, ökologische Kompo-
nenten in der Gentechnik weiterzuentwickeln; das ist in

Ordnung, aber es sind reale Schwierigkeiten vorhanden.
Wer ein wenig Kenntnis von Züchtung und Anbautechnik
hat, dem erklärt sich das ganz leicht. Das heißt, unter dem
Strich gibt es bei Mais keine Unterschiede in den Pesti-
zidaufwandmengen. Es gab bei zwei Regionen Ertrags-
zuwächse und bei einer Region keinen Ertragszuwachs.

Ich komme zur Baumwolle. Sie ist ebenfalls insekten-
resistent. Im Mississippidelta gab es 53 Prozent mehr
Spritzmitteleinsatz. Alle anderen Regionen waren im Ver-
gleich genauso hoch. Bei zwei Regionen gab es Ertrags-
zuwächse, bei einer keinen Ertragszuwachs. Das geht so
weiter. Bei allen anderen gibt es Resistenzen. Das ist
natürlich zu erklären. Man muss daraus einfach den
Schluss ziehen: Dort, wo es einen entsprechend hohen Be-
fall gibt, lohnt sich der Einsatz. Ansonsten ist es wie bei
anderen Pflanzenschutzaufwendungen ganz normal. Es
hängt eben von der aktuellen Situation ab. Das heißt, auch
hier gibt es eine Relativierung. Beim Einsatz ist eine Dif-
ferenzierung nötig und unumgänglich, um hier nicht in
Wolkenkuckucksheime zu verfallen.

Ich will noch einen anderen Punkt aufgreifen: Die Um-
weltbehörde in den USA hat die Auflagen für die Aus-
saat für BT-Mais verschärft. Eine staatliche Anbaupla-
nung ist damit verbunden. Ich meine, die Liebe zur alten
DDR mag bei manchen noch etwas größer sein, aber man
muss doch ganz klar sagen: Resistenzmanagementpla-
nungen schränken die unternehmerische Freiheit in einem
erheblichen Ausmaß ein, sind aber unumgänglich.

Das heißt auch hier: Gentechnischer Anbau kann nur
dann in Frage kommen, wenn es eine bestimmte Pro-
blemlage gibt. Dann muss man noch sehr darüber nach-
denken, wie man denn diese Anbauplanung überhaupt ge-
staltet. Ein Herangehen in dieser Naivität, was Sie hier
vortragen, kann und darf es einfach nicht geben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Hunger in der Dritten Welt: Auch hierzu noch eine
kleine Anmerkung, obwohl heute Morgen vonseiten der
PDS schon einiges gesagt wurde. Der Hunger in der Drit-
ten Welt mag immer erwähnt werden, aber das Lösungs-
potenzial ist nicht vorhanden. Man wartet immer auf die
Nutzpflanzen, die jetzt noch kommen, die dem Verbrau-
cher und den armen Menschen in der Dritten Welt Nutzen
bringen. Man wartet auf die neue Generation. Aber bislang
haben wir das noch nicht.

Zweitens. Die Resistenzprobleme – ich habe gerade
auf die USAverwiesen – ergeben sich in den Ländern der
Dritten Welt natürlich noch sehr viel verschärfter. Es gibt
ein enormes Risiko, dass hier Ernteausfälle auftreten
könnten.

Drittens. Die Millionen von Entwicklungskosten
müssen natürlich irgendwo wieder hereinkommen. Das
heißt, die Kaufkraft muss vorhanden sein, um diese Tech-
nik anzuwenden. Auch hier gibt es ein großes Fragezei-
chen.

Zu der Patentierung brauche ich ihnen nichts weiter
zu sagen. Auch hier gibt es erhebliche Probleme im Be-
reich des Nutzens für die Dritte Welt. Dies bedeutet eher
eine Gefahr.




Ulrike Höfken

9181


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich will noch einen Aspekt, der wichtig ist, einbezie-
hen. Wir haben in Deutschland einen hohen Standard bei
der biologischen Sicherheit und hohe Anforderungen an
die Risiko- und Begleitforschung. Hohe Sicherheits-
standards und größtmögliche Transparenz sind wesent-
liche Voraussetzungen für die Herstellung des Vertrauens
und für die Tragfähigkeit von Forschung und Anwen-
dung. Die hohen Sicherheitsstandards bei der Anwendung
von gentechnischen Verfahren sind daher notwendiger-
weise beizubehalten.

Die heutigen abgestuften Verfahren haben sich be-
währt. Das ist etwas, was ich Ihnen zugute kommen las-
se. Aber unter dem Gesichtspunkt des vorbeugenden Ge-
sundheits- und Verbraucherschutzes ist es unverzichtbar,
dass alle gentechnischen Verfahren und gentechnisch ver-
änderten Organismen dem Gentechnikrecht oder einem
gleichwertigen Recht unterliegen. Ich plädiere sehr dafür,
dass es so bleibt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich habe über dieArbeitsplätze schon einiges gesagt.
Ich will das nicht wiederholen. Ich will nur sagen: Es gibt
hier Möglichkeiten, Arbeitsplätze in neuen Industrien zu
verankern und zu unterstützen. Nur noch eines: Im Bio-
technologiebereich gibt es drei Mal so viele Patent-
anwendungen wie im reinen Bereich der Gentechnik.
Auch hier gibt es noch Nachholbedarf. Ich bin sicher, die-
se Bundesregierung wird sich auch diesem Bereich der
Biotechnologie verstärkt zuwenden.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409820200
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Kersten Naumann von der PDS-
Fraktion.


Kersten Naumann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1409820300
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Die Antworten zur Großen Anfrage und
der Entschließungsantrag der F.D.P. propagieren eine
Gentechnik, die angeblich Vorteile für den Verbraucher,
für die Umwelt, für die Lösung des Welthungerproblems
und zur Arbeitsplatzschaffung mit sich bringt. Genau das
hat Kollegin Flach vorhin noch einmal ausdrücklich be-
tont. Tatsächlich geht es aber um Profite durch die Siche-
rung von Technologievorsprüngen, die Ankurbelung der
Wachstumsspirale und die nachhaltige Sicherung von
Märkten. Die Landwirtschaft und die Verbraucher sollen
zu Werkzeugen multinationaler Konzerne werden und an
deren Risikoprodukten gesunden.

Die kritische Auseinandersetzung mit den ökologi-
schen und gesundheitlichen Risiken der Gentechnik ist
denen ein Dorn im Auge, die dabei das große Geld ver-
dienen wollen. Wechselwirkungen in und zwischen Mi-
kroorganismen, Pflanze, Tier und Mensch sind noch gar
nicht hinreichend identifiziert und erforscht, aber Trans-
gene bereits freigesetzt. Noch vor zwei Jahren haben die
Grünen eine sehr kritische Haltung zu diesen Prozessen
vertreten. Ich habe dies auch den Äußerungen von Kolle-

gin Höfken entnommen. Doch sehr viel von dieser Kritik
ist nicht übrig geblieben.

Die F.D.P. befindet sich in einem besonderen Dilemma;
denn sie ist nicht ehrlich genug, das Kind beim Namen zu
nennen.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Oh!)

Sie muss schon noch erklären, warum sie einerseits
heuchlerisch unter dem Titel „Wahnsinn für den Verbrau-
cher“ im Falle BSE auf Verbraucherschutz setzt und an-
dererseits im Falle von BT-Mais nicht.


(Ulrike Flach [F.D.P.]: Wir differenzieren ausreichend!)


Weder das eine noch das andere ist hinreichend wissen-
schaftlich erklärt. Aber die F.D.P. meint, für „die Ver-
braucher besteht kein Grund zur Sorge“. Sie schlüpft mit
ihrem Entschließungsantrag in die Rolle eines Übervaters,
der die biologische Welt neu erschaffen will.


(Ulrike Flach [F.D.P.]: Wir helfen der Regierung!)


Doch dieses Vorhaben wird in einer Katastrophe enden.
Alle kritischen Sichten und Bewertungen – selbst vom
Umweltbundesamt – werden unter den Teppich gekehrt.
Die seit der Zulassung des BT-Maises neuen wissen-
schaftlichen Befunde und die langsam durchsickernden
Erfahrungen der amerikanischen Bauern, die von Mon-
santo & Co. mit den schillerndsten Versprechungen über
den Tisch gezogen wurden, werden ignoriert. Die PDS-
Fraktion wird ein Gespräch mit dem US-Anwalt Steven
Druker in der nächsten Woche nutzen, um sich über die
Täuschungen der amerikanischen Zulassungsbehörden
für Gennahrung informieren zu lassen. Ich kann allen
Fraktionen das Gleiche nur empfehlen.


(Beifall bei der PDS)

Die Landwirtschaft könnte sich weltweit nach dem

Willen der Gentechnikbefürworter schon bald in einem
tief greifenden Strukturwandel wiederfinden,


(Albert Deß [CDU/CSU]: Den größten Strukturwandel habt ihr gemacht, indem ihr die Bauern enteignet habt!)


an dessen Ende mehr und mehr Nahrungsmittel und Roh-
stoffe in Gewebekulturen, in riesigen Bakterientanks ge-
wonnen werden – zu einem Bruchteil der Kosten, die der
Freilandanbau erfordert. Bei Aromen, Zucker und einer
Vielzahl von Zusatzstoffen sind wir schon fast so weit.

Die Herstellung von Fleisch-, Zitrus- und anderen
Pflanzenersatzstoffen ist nur noch eine Frage der Groß-
technik und der Zeit. Ich sage Ihnen: Nicht die Landwirt-
schaft wird profitieren, sondern sie wird die wirtschaft-
lichen Risiken tragen müssen. Die millionenschweren
Profite der Agro- und Pharmariesen – einst nicht uner-
heblich mit Steuergeldern gefördert – werden nicht der
Landwirtschaft oder dem ländlichen Raum, dem Gemein-
oder Gesundheitswesen zur Verfügung gestellt, sondern
fließen in Privattaschen.

Trotz der vielen Fehlschläge, Misserfolge und neuen
Erkenntnisse der möglichen ökologischen und gesund-




Ulrike Höfken
9182


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(D)



(A)



(B)


heitlichen Risiken sind die führenden Köpfe der wissen-
schaftlichen Gemeinschaft, ein Großteil der Medien, die
Bundesregierung sowie – mit wenigen Ausnahmen – die
Wirtschaft nicht bereit, „sich an einer breiten öffentlichen
Diskussion über das zu beteiligen, was sich mit großer
Wahrscheinlichkeit als das radikalste Experiment erwei-
sen wird, das die Menschheit jemals an der Natur vorge-
nommen hat“. So schätzt es nicht nur der amerikanische
Trendforscher Jeremy Rifkin ein.

Die PDS fordert mit ihrem Entschließungsantrag dazu
auf, die Verantwortung für die Menschen und die Erhal-
tung von Natur und Umwelt für die zukünftigen Genera-
tionen wahrzunehmen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Hilfe für ihre wei-
teren Überlegungen möchte ich Ihnen noch folgenden
Ausspruch von Adorno mit auf den Weg geben: „Nichtig
ist das Denken, welches Gedachtes mit Wirklichem ver-
wechselt.“

Danke schön.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409820400
Als nächs-
ter Redner hat das Wort der Kollege Albert Deß von der
CDU/CSU-Fraktion.


Albert Deß (CSU):
Rede ID: ID1409820500
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Die Gentechnik ist eine Zukunfts-
technologie. In der Industrie spielt die Gentechnik heute
eine bedeutende Rolle; sie ist Hoffnungsträger für viele
Menschen. Unbestritten ist ihr Einsatz in der Medizin. In
der Tier- und Pflanzenzüchtung müssen wir die Chancen
der Gentechnik erkennen und nutzen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Chancen, die die Gentechnik bietet, müssen im

Vordergrund stehen, ohne die Risiken außer Acht zu las-
sen. Veränderungen an Pflanzen und Tieren werden schon
seit vielen Generationen vorgenommen, um damit die
Versorgung mit qualitativ hochwertiger Nahrung sicher-
zustellen. Um ein Beispiel zu nennen: Weizen ist keine Ur-
pflanze, sondern ein Produkt der Pflanzenzüchtung und
damit ein Nahrungsmittel, das in seinen Genen verändert
ist. Wäre Weizen nicht im Wege der konventionellen
Züchtung entstanden, sondern durch moderne Gen- und
Biotechnik, stünde er heute auf der roten Liste fanatischer
Gegner der Gen- und Biotechnologie.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Verrückt! Sehr guter Vergleich!)


Vielleicht wäre er bereits im Freilandversuch zerstört
worden, bevor er seinen weltweiten Siegeszug als eines
der wichtigsten Grundnahrungsmittel angetreten hätte.

Im Gegensatz zur Züchtung eröffnet die Gentechno-
logie, aufbauend auf der Biotechnologie, zahlreiche neue
Möglichkeiten. Bei der konventionellen Züchtung, die
nicht gezielt vorgenommen werden kann, benötigt man oft
Jahrzehnte, um einen Erfolg zu erreichen. Durch den ge-
zielten Eingriff in die Erbsubstanz mithilfe der Gentech-

nik kann ein Erfolg in wesentlich kürzerer Zeit erreicht
werden.

Ein Ziel der Gentechnik ist es, die Lebensgrundlagen
der Menschen auch in Bezug auf ihre Gesundheit zu si-
chern. Wir müssen unsere Verantwortung wahrnehmen,
für eine rasant wachsende Weltbevölkerung ausreichend
Nahrungsmittel zur Verfügung zu haben. Zur Ernährungs-
sicherung müssen die jetzigen Erträge in den nächsten
20 Jahren um mindestens 60 Prozent erhöht werden. Auch
wenn wir zurzeit über Agrarüberschüsse diskutieren, ist
trotzdem dieser Anstieg notwendig, damit die Bevölke-
rung in 20 Jahren ernährt werden kann.


(Beifall des Abg. Ulrich Heinrich [F.D.P.])

Unumstritten ist der Einsatz der Gentechnik im Bereich

der Medizin. Über 40 gentechnisch hergestellte Medika-
mente sind derzeit in Deutschland zugelassen. Dass davon
nur sechs in Deutschland hergestellt werden, zeigt, dass
diese Schlüsseltechnologie bei uns nur schwer Fuß fassen
kann.

Die Anwendung der Gentechnik in der Landwirtschaft
ist zur Lösung der Zukunftsprobleme unerlässlich. Pflan-
zenzüchter haben mir berichtet, dass es mithilfe der Gen-
und Biotechnologie möglich sein wird, bei nachwach-
senden Rohstoffen wesentlich wirtschaftlicher zu wer-
den. Die Pflanzenzüchtung der Vergangenheit war fast
ausschließlich auf die Weiterentwicklung von Pflanzen für
die Ernährung ausgerichtet. Wer die Ziele der Agenda 21
ernst nimmt, muss auch im Rohstoff- und Energiebereich
auf Nachhaltigkeit setzen. Nachwachsende Rohstoffe
bzw. Energien können dazu einen wertvollen Beitrag lei-
sten.

Bei nachwachsenden Rohstoffen, meine sehr verehrten
Damen und Herren, steckt die Pflanzenzüchtung noch in
den Kinderschuhen. Ohne Gen- und Biotechnologie wür-
de es Jahrzehnte dauern, um optimale Pflanzen zur Verfü-
gung zu haben. Gen- und Biotechnologie können mithel-
fen, den Züchtungszeitraum stark zu verkürzen, damit die
Wirtschaftlichkeit bei nachwachsenden Rohstoffen und
Energien wesentlich schneller zu erreichen und auch un-
seren jungen Landwirten damit wieder eine Perspektive
für die Zukunft zu geben.

Mögliche Risiken und Gefahren, die mit der Anwen-
dung von gentechnologischen Methoden zusammenhän-
gen, dürfen dabei nicht außer Acht gelassen werden. Wie
jede andere Technologie bietet die Gentechnik nicht nur
neue Chancen, sondern auch Risiken.Diese sind wissen-
schaftlich erfassbar und durch geeignete Maßnahmen, die
das Gentechnikgesetz vorschreibt, beherrschbar. Durch
angemessene gesetzliche Regelungen muss der Miss-
brauch verhindert werden. Die großen Chancen, die in der
Gentechnik liegen, dürfen aber nicht durch überzogene
Vorgaben behindert oder unnötig eingeschränkt werden.

Mit der Gentechnik verbunden ist eine Vielzahl von
hoch qualifizierten Arbeitsplätzen. Europaweit erwartet
man circa 2 Millionen neue Arbeitsplätze durch die Gen-
und Biotechnologie. In den USA rechnet man mit einer
Versechzehnfachung der Arbeitsplätze in diesem Bereich.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Hört! Hört!)





Kersten Naumann

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(A)



(B)


Sie wird damit ein wichtiges Standbein der Beschäftigung
in der Zukunft darstellen.

Durch politische Rahmenbedingungen haben wir dafür
zu sorgen, dass dieser Industriezweig nicht in das Ausland
getrieben wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Wer Freilandversuche bei uns zerstört, zerstört auch die
Arbeitsplätze.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Rot-Grün hat in der Vergangenheit mit seiner technik-

feindlichen Einstellung viel zum Verlust von Arbeitsplät-
zen in unserem Land beigetragen.


(Gudrun Schaich-Walch [SPD]: Ach ja! Wer hat in den letzten 16 Jahren regiert?)


Die Gen- und Biotechnologie führt ihre Forschung eben
dort durch, wo weniger bürokratische Auflagen zu erfül-
len sind.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Leider Gottes, aber wahr!)


Es war das Verdienst von Horst Seehofer und der
CDU/CSU/F.D.P.-Mehrheit, dass ein Gentechnikgesetz
die Rahmenbedingungen für die Gen- und Biotech-
nologieforschung in Deutschland verbessert hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wer jetzt beim so genannten BT-Mais nur wieder Ängste
schürt, wird seiner Verantwortung nicht gerecht. Bei den
Grünen soll es vor vielen Jahren einen Parteitagsbe-
schluss gegeben haben, bei dem man sich gegen die Ein-
führung der EDV-Technik ausgesprochen hat. Dieser Be-
schluss hat wenig genützt; die Entwicklung hat den Be-
schluss der Grünen überholt.

Genauso geht es mit Beschlüssen gegen die Gentech-
nik. Wenn Rot-Grün bei der Gen- und Biotechnologie die
rote Karte in den Vordergrund stellt, braucht man sich
nicht zu wundern, wenn in einigen Jahren auch in dieser
Schlüsseltechnologie Green Cards benötigt werden. Da-
mit wir in Zukunft weniger Green Cards benötigen, brau-
chen wir möglichst viele rote Karten gegen die rot-grüne
Bundesregierung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das ist auf den Punkt gebracht! – Rainer Brinkmann [Detmold] [SPD]: Meine Güte! Immer noch nicht schlauer geworden!)


Die CDU/CSU-Fraktion setzt sich dafür ein, dass die
Chancen der Gen- und Biotechnologie genutzt werden,
ohne dass dabei die Risiken außer Acht gelassen werden.
Nur so können wir in unserem Land Arbeitsplätze schaf-
fen und erhalten. Deshalb werden wir, die CDU/CSU, dem
Antrag der F.D.P. zustimmen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409820600
Das Wort
hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Wolf-
Michael Catenhusen.

W
Wolf-Michael Catenhusen (SPD):
Rede ID: ID1409820700
Meine
Damen und Herren! Ich höre in einigen Beiträgen der Red-
ner und Rednerinnen der Oppositionsfraktionen, vor allem
von der rechten Seite des Hauses, ein leichtes Bedauern
darüber, dass es heute nicht so einfach ist, wie Sie sich das
vielleicht erhofft haben, die große Abrechnung mit der
Gentechnikpolitik der rot-grünen Koalition zu vollzie-
hen.


(Ulrike Flach [F.D.P.]: Das ist falsch interpretiert! – Albert Deß [CDU/CSU]: Wir rechnen nicht ab, sondern machen konstruktive Opposition!)


Ich glaube, dass sich die gründliche Arbeit zur Beant-
wortung der Großen Anfrage der F.D.P. zu den Perspekti-
ven der Bio- und Gentechnik am Standort Deutschland ge-
lohnt hat. Wir haben in Ausfüllung der Linie, die wir in
der gemeinsamen Koalitionsvereinbarung festgelegt ha-
ben, dokumentiert, dass nicht das Schwarz-Weiß-Malen,
nicht das Beschwören von Utopien oder Horrorszenarien
den angemessenen gesellschaftlichen Umgang mit der
Bio- und Gentechnik darstellt.

Wir haben in unserer Antwort einige Gesichtspunkte in
den Vordergrund gestellt. Wir lassen uns in den verschie-
denen Ressorts in unserer Politik auf diesem Gebiet von
dem Gesichtspunkt leiten, die Chancen für gesellschaft-
lichen und wirtschaftlichen Fortschritt zu nutzen, dabei
allerdings auch unsere Verantwortung für den Schutz von
Mensch und Umwelt durch effektive rechtliche Rahmen-
bedingungen wahrzunehmen. Wir werden weiter daran
arbeiten, auch angesichts neuer Entwicklungen, die
ethisch gebotenen Grenzen in Deutschland so zu ziehen,
dass dadurch Beispiele für internationale Regelungen ge-
schaffen werden.

Es gilt nüchtern festzuhalten, dass die Bio- und Gen-
technologie ihren Erfolg in vielen Bereichen unserer Ge-
sellschaft nur dann feiern wird, wenn der Verbraucher die
von ihr angebotenen und entwickelten Produkte akzep-
tiert.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es ist nicht Aufgabe der Politik, Akzeptanzkrisen, die
gentechnisch erzeugte Lebensmittel heute aus guten
Gründen am Markt erleben, sozusagen durch verstärkte
Propaganda zu ersetzen.


(Ulrike Flach [F.D.P.]: Aber auch nicht umgekehrt!)


Ich denke, wir tun viel, auch in diesem zweiten Jahr un-
serer Regierung, um die Chancen der Gentechnik für un-
sere Entwicklung zu nutzen. Ich will das an zwei Bei-
spielen verdeutlichen.

Wir erhöhen die Ausgaben im Bereich der Bio- und
Gentechnologie in diesem Jahr um etwa 10 Prozent. Wir




Albert Deß
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(A)



(B)


haben sie bereits 1999 um 10 Prozent gesteigert. Sie wa-
ren Weltmeister im Sprücheklopfen auf diesem Gebiet,
aber man muss auch einmal die Akzente Ihrer Politik in
den letzten Jahren überprüfen.

Heute hat Craig Venter zumindest eine erste Version des
menschlichen Genoms der Öffentlichkeit vorgestellt. Da-
bei wird doch die Frage aufgeworfen, die Sie sich viel-
leicht einmal stellen müssten: Wie war denn eigentlich die
Haltung der Vorgängerregierung zu dem Thema Genom-
forschung? Es dürfte Ihnen nicht entgangen sein, dass in
Deutschland sieben Jahre später als in allen anderen In-
dustrieländern, im Jahre 1996, die ersten Projektmittel des
BMBF in den Bereich Genomforschung geflossen sind.


(Zuruf von der SPD: So ist es! Verschlafen!)

Das spricht Bände. Deshalb können Sie sich Ihre Sprüche
sparen, dass Sie auf diesem Gebiete eine erfolgreiche Po-
litik gemacht hätten. Wer so ein wichtiges Forschungsfeld
vernachlässigt,


(Ulrike Flach [F.D.P.]: Aber die Zahlen sprechen doch dagegen!)


hat meiner Ansicht nach kein Recht, der rot-grünen Ko-
alition belehrende Worte über richtige Politik im Bereich
der Bio- und Gentechnik zu sagen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN )


Es geht zu Recht darum, angesichts der Entwicklung
der grünen Gentechnik den Schutz von Mensch und Um-
welt zu sichern. Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass es
mittlerweile einen Konsens zwischen den Mitgliedstaaten
der Europäischen Union in zweierlei Hinsicht gibt:

Erstens. Wir brauchen auf der Basis einer novellierten
Freisetzungsrichtlinie eine neue rechtliche Basis, um
mit erhöhten Sicherheitsanforderungen einen sicheren
Umgang mit durch die Bio- und Gentechnik verändertem
Saatgut und veränderten Lebensmitteln garantieren zu
können. Die Bundesregierung hat es im letzten Jahr ge-
schafft, in diesem Bereich einen gemeinsamen Stand-
punkt des Umweltministerrates zustande zu bringen, der
übrigens sowohl von der Europäischen Vereinigung der
Biotechnologieorganisationen als auch von Umweltver-
bänden als Fortschritt begrüßt worden ist.

Zweitens. Es gibt in fast allen EU-Mitgliedstaaten ei-
nen Konsens darüber, dass wir gegenwärtig den Schwer-
punkt darauf setzen müssen, durch eine Risiko- und Be-
gleitforschung ein vermehrtes Wissen über ökologische
Fragen zu gewinnen, auf die noch keine endgültigen Ant-
worten gefunden worden sind und im Rahmen derer es
Hinweise auf Gefährdungspotenziale gibt, die der sorg-
fältigen Prüfung bedürfen.

Wir in der Bundesrepublik tun also im Endeffekt nichts
anderes als die Labourregierung in Großbritannien, wo –
allerdings mit Zustimmung der Industrie; das hätten auch
wir uns gewünscht – eine Vereinbarung besteht, über zwei
oder drei Jahre hinweg keinen großflächigen kommerzi-
ellen Anbau gentechnisch veränderten Saatguts vorzu-
nehmen, diese Jahre aber für intensive Risiko- und Be-
gleitforschungsprojekte zu nutzen. Das macht auch die jet-
zige Regierung in diesem und im nächsten Jahr hier in
Deutschland.

Lassen Sie mich noch einen letzten Gesichtspunkt an-
schneiden. Zwei Themen kommen bei dem Versuch der
F.D.P., aus einem differenzierten Dokument rot-grüner
Bio- und Gentechnikpolitik das ihr Genehme heraus-
zusortieren, nicht vor: Das ist zum einen die Bedeutung
von Risiko- und Begleitforschung in ökologischen Fragen
und zum anderen die sich vermehrt stellende Notwendig-
keit, wissenschaftliche, ethische, soziale und rechtliche
Fragen der Bio- und Gentechnik vor allem bei der An-
wendung am Menschen aufzuarbeiten. Ich denke, es ist ein
gutes Zeichen, dass nicht zuletzt durch Entscheidungen
des Haushaltsausschusses im vergangenen November die
Mittel für die Risiko- und die Begleitforschung deutlich
gesteigert worden sind, um bessere Antworten auf ökolo-
gische Risiken zu finden.

Letztendlich waren wir es, die ein anständiges Pro-
gramm zur Bearbeitung ethischer, sozialer und rechtlicher
Fragen in der Bio- und Gentechnologie aufgelegt haben.
Die alte Regierung hat den einen oder anderen Kongress
gefördert. Das ist zwar nett, hat aber eher symbolische Be-
deutung. Wir starten gerade in diesen Wochen ein eigenes
Forschungsprogramm zur Bearbeitung dieser ethischen,
sozialen und rechtlichen Fragen. Wir werden damit si-
cherlich einige Vorarbeiten für die Arbeit der soeben be-
schlossenen Enquete-Kommission „Recht und Ethik für
eine moderne Medizin“ leisten.

Bei dem Versuch der polemischen Zuspitzung auf die
Frage des Nachwuchsmangels sollten Sie vorsichtig
sein. Sie wissen, dass die Entscheidung junger Menschen
Mitte der 90er-Jahre, welcher Ausbildung sie sich
unterziehen, eine Grundlage dafür ist, wie viele Absol-
venten wir in diesem Bereich haben. Wenn sich im nächs-
ten oder übernächsten Jahr ein Problem ergeben sollte,
dann muss man Sie genauso wie für den Bereich IT fra-
gen: Was haben Sie eigentlich in den letzten Jahren un-
ternommen, um gezielt dafür zu werben, dass junge Men-
schen einen Beruf auf diesem Gebiet ergreifen? Das
sollte natürlich nicht in der platten Weise erfolgen, dass
gesagt wird, hier sei ein Goldgräberland. Dass in diesem
Bereich 2 Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden
können, glaubt Ihnen in Europa keiner mehr. Aus guten
Gründen haben Sie ja auch vermieden zu sagen, ob diese
in 15, 20 oder 30 Jahren entstehen. Sich hinzustellen und
von 2Millionen Arbeitsplätzen zu sprechen ist sehr wohl-
feil.

Wir brauchen junge Menschen, die in diesem Bereich
als Wissenschaftler oder in der Industrie arbeiten, die aber
gleichzeitig wissen, welche Verantwortung sie mit ihrer
Tätigkeit übernehmen. Ich denke, es geht nicht darum, für
oder gegen die Gentechnik zu sein, sondern darum, in ei-
nem verantwortbaren Rahmen die Chancen dieser Tech-
nik zu nutzen und ihr dort, wo es notwendig ist, Grenzen
zu setzen. Von dieser Politik wird sich die rot-grüne Ko-
alition weiter leiten lassen.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Die meiste grüne Technik ist in Bayern angesiedelt!)


– Lieber Herr Kollege aus Bayern, die grobschlächtige Po-
litik, wie Sie sie im Bayerischen Landtag pflegen, ist hier
im Bundestag bei diesem Thema fehl am Platz.




Parlamentarischer StaatssekretärWolf-Michael Catenhusen

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(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist eine Unverschämtheit!)


Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409820800
Als letzter

Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.


Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU):
Rede ID: ID1409820900
Herr Prä-
sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr
Catenhusen, so einfach ist das nicht.


(Parl. Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen: Doch!)


Wenn Sie mit vielen jungen Wissenschaftlern in dieser
Republik sprechen, dann vertreten diese häufig die Auf-
fassung, dass viele in Ihrer Koalition – nicht Sie per-
sönlich – den Wind säen und sie dann gegen die Wind-
mühlenflügel kämpfen müssen. Dies ist im Grunde ge-
nommen die Frage, die wir hinsichtlich der Gentechnik als
die herausfordernde zu beschreiben haben.


(Christoph Matschie [SPD]: Mühlen haben nichts mit Gentechnik zu tun!)


Viele möchten zwar keine Entwicklung verschlafen,
aber sie träumen nach wie vor – zumindest im Bereich der
grünen Gentechnik – von einer gentechnikfreien Zeit. Es
gibt ja sogar rot-grüne Mehrheiten in Stadträten, die gen-
technikfreie Bezirke beschließen, obwohl sie genau wis-
sen, was in den Apotheken geschieht,


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

dass nämlich dort gentechnisch veränderte Medikamente
verkauft und verschrieben werden.


(Gudrun Schaich-Walch [SPD]: Aber in der Apotheke, nicht im Park!)


Ich möchte Ihnen etwas zur grünen Gentechnik sagen.
Ich habe meine grundsätzlich positive Haltung zur Gen-
technik schon mehrfach deutlich gemacht. Die Gentech-
nik bietet in Kombination mit traditionellen Züchtungs-
methoden die Möglichkeit, höhere Erträge sowie bessere
Qualitäts- und Anbaueigenschaften der Pflanzen gezielter
und schneller zu erreichen. Damit kann sie auch einen Bei-
trag zur Ressourcen schonenden und umweltverträgli-
chen Landwirtschaft leisten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wir sollten auch aus einem anderen Grund nicht leicht-
fertig auf die Gentechnik verzichten. Ich meine die Über-
windung des Hungers in der Welt. Jetzt wundere ich
mich, dass Sie von der Regierungskoalition nicht klat-
schen. Ich habe nämlich eben verlesen, was der Bundes-
landwirtschaftsminister beim Bundessortenamt in Han-
nover verkündet hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Er hat dies beim Bundessortenamt verkündet, weil er
wusste, dass er dort vor Befürwortern der Gentechnik sitzt.
Ich glaube, dass Herr Funke, wenn er vor Kritikern der
Gentechnik sprechen würde, etwas anderes verkünden
würde. So aber gibt jeder jedem Recht.


(V o r s i t z: Präsident Wolfgang Thierse)

Nur findet der kritische Dialog, der über die Gentechnik
geführt werden müsste, nicht statt,


(Parl. Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen: Was?)


wenn man immer zu denen spricht, die man vor sich hat
und im Grunde genommen deren Akzeptanz möchte und
keine Akzeptanz für die andere Seite verbreitet. Dies ist
das eigentliche Problem, das in Bezug auf die Gentechnik
besteht.

Natürlich gibt es bei der Gentechnik Risiken, die wir
abzuschätzen haben. Aber, meine Damen und Herren,
werden denn diese Risiken in Europa wirklich nicht ab-
geschätzt? Hat zum Beispiel in der Frage des gentechnisch
veränderten Mais – Frau Flach hat darauf aufmerksam ge-
macht – keine Risikoabschätzung stattgefunden? Sie hat
doch stattgefunden, und zwar beim Robert-Koch-Institut
sowie beim Bundessortenamt.

Vor dem Bundessortenamt hat ein Mitglied der Bun-
desregierung gerade dessen Kompetenz herausgestellt.
Aber dann, als sich das Bundessortenamt für die Zulas-
sung dieses Maises entscheiden wollte, hat die Bundesre-
gierung genau diese Kompetenz wieder bestritten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Denn man wollte aus politischen Gründen nicht, dass die-
ser Mais zugelassen wird.

Meine Damen und Herren, wozu wenden Sie dann die-
se Anstrengungen auf? Wozu dient das umfassende Re-
gelwerk, das es dort gibt, wenn nachher nicht nach des-
sen Regeln entschieden werden darf? Dies ist doch das
eigentliche Problem.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409821000
Kollege Ronsöhr, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?


Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU):
Rede ID: ID1409821100
Bei Uli
Heinrich immer.


Ulrich Heinrich (FDP):
Rede ID: ID1409821200
Herr Kollege Ronsöhr, wür-
den Sie mir Recht geben, dass die Bundesregierung genau
entgegengesetzt zu dem gehandelt hat, was der Herr
Staatssekretär an diesem Pult gerade verkündet hat?


Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU):
Rede ID: ID1409821300
Natürlich.
Der Staatssekretär hat sich damit herausgeredet, dass die-
ses Regelwerk jetzt verändert werden muss. So redet man
sich immer heraus. Erst schafft man gemeinsam ein Re-
gelwerk und bekennt sich dazu. Wenn dieses Regelwerk
Konsequenzen haben soll, dann zieht man sich zurück.
Denn im Grunde genommen muss man auf die Grünen und




Parlamentarischer StaatssekretärWolf-Michael Catenhusen
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(C)



(D)



(A)



(B)


einige Rot-Grüne Rücksicht nehmen, die die Parteipro-
blematik der Grünen verinnerlicht haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das ist doch das eigentliche Problem in unserem Lande,
nicht nur in diesem Bereich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Hier wäre es vernünftig, Rahmenbedingungen zu be-

schreiben. Sie sind heute im Zusammenhang mit der Bio-
sicherheit in diesem Hause diskutiert worden. Wir haben
nichts dagegen, solche Rahmenbedingungen zu beschrei-
ben. Aber wenn nach den Rahmenbedingungen entschie-
den wird, dann muss man diese Entscheidungen akzep-
tieren und darf sie nicht sofort rückgängig machen oder
schon vorher infrage stellen. Wenn man das doch tut, wird
das viele nicht ermutigen, die sich gerade im Bereich der
Gentechnik einsetzen. Nachher ist es dann wieder so, wie
Albert Deß es beschrieben hat: Erst wollen wir Entwick-
lungen in Deutschland nicht, dann müssen wir sie aus dem
Ausland nach Deutschland zurückholen. Das ist zu kriti-
sieren und zu verändern.

Wenn Sie hier nach der Devise, die der Bundesland-
wirtschaftsminister – an dieser Stelle will ich ihn in der Tat
loben – ausgegeben hat, handeln würden, dann hätten Sie
den gentechnisch veränderten Mais in Deutschland zuge-
lassen. Aber das können Sie nicht, weil dann wieder Rot-
Grüne kommen und diesen Mais zertreten. Damit zertre-
ten sie auch Entwicklungen, die wir in Deutschland un-
bedingt benötigen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Widerspruch bei der SPD)


Vielen Dank, dass auch Sie von der sozialdemokrati-
schen Seite mir so ruhig zugehört haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409821400
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir stimmen über die Entschließungsanträge zur
Großen Anfrage der Fraktion der F.D.P. zu den Chancen
der Gentechnik als Schlüsseltechnologie des 21. Jahr-
hunderts ab, und zwar zunächst über den Entschließungs-
antrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/3103.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs-
antrag ist mit den Stimmen der SPD, der Bündnisgrünen
und der PDS gegen die Stimmen von F.D.P. und
CDU/CSU abgelehnt.

Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Druck-
sache 14/3104. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ent-
schließungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen
die Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt worden.

Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit zu den Unterrichtun-
gen der Bundesregierung zu Vorschlägen für Entschei-
dungen des Rates zum vorläufigen Verbot von genetisch
verändertem Mais in Österreich und Luxemburg, Druck-
sache 14/838. Der Ausschuss empfiehlt die Annahme ei-

ner Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? –Wer stimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD,
von Bündnis 90/Die Grünen und der PDS-Fraktion ange-
nommen worden.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b sowie
Zusatzpunkt 6 auf:
11. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-

Jürgen Hedrich, Dr. Christian Ruck, Dr. Norbert
Blüm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Bemühungen um Agrarreformen in Entwick-
lungsländern verstärken
– Drucksache 14/1663 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Reinhold
Hemker, Adelheid Tröscher, Brigitte Adler, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack,
Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller (Köln),
Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Agrarreform in der Entwicklungszusammen-
arbeit einen höheren Stellenwert geben
– Drucksache 14/1194 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Helmut Haussmann, Joachim Günther (Plauen),
Ulrich Irmer, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der F.D.P.
Agrarpolitische Entwicklungszusammenarbeit
fördern
– Drucksache 14/3102 –

Interfraktionell ist vereinbart, dass die Reden zu Pro-
tokoll gegeben werden*). Sind Sie damit einverstanden?
– Das ist der Fall. Dann wird so verfahren.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/1194 und 14/1663 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die
Vorlage auf Drucksache 14/3102 soll an dieselben Aus-
schüsse wie die Vorlage auf Drucksache 14/1663 über-
wiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten

Eva Bulling-Schröter, Monika Balt, Dr. Dietmar Bartsch,




Heinrich-Wilhelm Ronsöhr

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(C)



(D)



(A)



(B)


weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Atomgesetzes

– Drucksache 14/841 –

(Erste Beratung 61. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

(16. Ausschuss)

– Drucksache 14/2618 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Kubatschka
Kurt-Dieter Grill
Michaele Hustedt
Birgit Homburger
Eva-Maria Bulling-Schröter

Mit Ausnahme des Redebeitrags der PDS sollen alle
Reden zu Protokoll gegeben werden**). Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Eva Bulling-Schröter, PDS-Fraktion.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1409821500
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ihnen liegt heute unser Ge-
setzentwurf vor, der die Bundesregierung und die Frak-
tionen der SPD und des Bündnis 90/Die Grünen an ein
Versprechen erinnern soll: Die rot-grüne Bundesregie-
rung wollte binnen 100Tagen nach Amtsantritt das Atom-
gesetz ändern. Das ist jedoch nicht erfolgt. Stattdessen hat
die Bundesregierung Gespräche mit den Atomkraft-
werksbetreibern aufgenommen. Wenn ich den Verlauf
dieser Gespräche richtig interpretiere, hat sich die Bun-
desregierung so weit über den Tisch ziehen lassen, dass
von einem Ausstieg nicht mehr die Rede sein kann. Die
Bundesregierung verfolgt nicht mehr den Ausstieg, sie
plant ein Atomkraftverstromungsgesetz.

Wenn ich den jüngsten Parteitagsbeschluss der Grünen
richtig lese, dann soll den Atomkraftwerken eine 30-
jährige Laufzeit auf Basis einer durchschnittlich
während dieses Zeitraums erzeugten Strommenge zuge-
standen werden. Wie ist diese Strategie zu bewerten?

Erstens ist die Laufzeit indiskutabel lang.

(Beifall bei der PDS)


Sie liegt weit über den jeweiligen Amortisationszeit-
räumen dieser Kraftwerke.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das ist ein schwieriges Wort!)


– Richtig, das ist ein schwieriges Wort.
Das zweite Problem betrifft das flexible Entgegen-

kommen der Bundesregierung bezüglich einer Restlauf-
zeit, die auf der Grundlage einer Gesamtmenge Atom-
strom ermittelt werden soll. Denn – erstens –: Werden ein
oder zwei Atomkraftwerke früher vom Netz genommen,
sollen andere dafür länger betrieben werden dürfen. Zwei-
tens – und noch schlimmer –: Stillstandszeiten, die sich

aus Auflagen der Atomaufsicht ergeben, würden das zeit-
liche Betriebsende verlängern. DieBetreiber erhoffen sich
von einer solchen Atomkraftverstromungsgarantie einen
gewissen Schutz gegen eine „Politik der Nadelstiche“.

Angesichts dieser Aussichten fordere ich Sie auf, die
Gespräche über Restlaufzeiten ergebnislos abzubrechen.


(Horst Kubatschka [SPD]: Das entscheiden wir!)


– Richtig, das entscheiden Sie, aber ich kann Sie dazu auf-
fordern! – Denn das von Ihnen favorisierte Atomkraft-
verstromungsgesetz ist ein Schritt zurück statt nach vorn.


(Beifall bei der PDS)

Statt weiterhin einen Ausstieg im Konsens zu verfol-

gen, sollte die Zweckbestimmung des Atomgesetzes
schlicht und einfach geändert werden und zwar mit dem
Ziel eines „schnellstmöglichen Ausstiegs“. Unser Ent-
wurf fordert dies. Die Zweckänderung müsste von den Ge-
richten in allen zukünftigen Entscheidungen als unmiss-
verständlicher Auftrag des Gesetzgebers berücksichtigt
werden.

Im zweiten Punkt unseres Entwurfes fordern wir ein
umgehendes Verbot derWiederaufarbeitung.


(Beifall bei der PDS)

Die Wiederaufarbeitung geht nachweislich mit einer un-
zumutbaren radioaktiven Belastung einher. Ich erinnere
Sie an die radioaktiven Tauben, an die erheblichen Ein-
leitungen radioaktiver Abfälle in die Irische See und in den
Atlantik. Ich erinnere an das Problem, das keine hinrei-
chende Vorsorge gegen das Abzweigen von waffentaug-
lichem Material getroffen werden kann. Auch Sellafield
sollte genug Gründe für ein sofortiges Verbot der Wie-
deraufbereitung geben.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen der SPD und der
Grünen,


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das klingt wie eine Fastenrede!)


wenn noch in dieser Legislaturperiode Castor-Transporte
mit verglasten Abfällen aus La Hague nach Gorleben
stattfinden sollten, dann können Sie damit rechnen, dass
der innenpolitische Frieden nachhaltig gestört wird.


(Beifall bei der PDS)

Sie wissen, glaube ich, sehr gut, was da auf Sie zukommt.

Zum dritten und letzten Punkt unserer Initiative: Der
Konflikt mit der Bevölkerung an den Endlagerstand-
orten Gorleben und Salzgitter dauert nun schon viele
Jahre an, ohne dass ein Ende in Aussicht steht. Wir be-
grüßen daher alle Initiativen der Bundesregierung, mittels
eines belastbaren Kriterienkatalogs einen neuen Standort
für alle radioaktiven Abfälle zu suchen.

Der Bericht des Rates der Sachverständigen für Um-
weltfragen legt dar, dass es aufgrund von Gasbildungs-
prozessen niemals ein vollständig dichtes und sicheres




Präsident Wolfgang Thierse
9188


(C)



(D)



(A)



(B)


*) Anlage 2
**)Anlage 3

Endlager geben kann. Er kann lediglich relative Sicherheit
vor gesundheitlichen Beeinträchtigungen versprechen.
Diese Einsicht sollte von allen Beteiligten geteilt werden,
da ansonsten keine sachliche Auseinandersetzung möglich
wird.

Wir brauchen zur Lösung des Endlagerproblems ein po-
litisch faires und von sachlichen Erwägungen getragenes
Verfahren zur Auswahl eines neuen Standortes. Um das
Vertrauen wiederzugewinnen, muss den Betroffenen des-
halb bereits sehr frühzeitig die Gelegenheit gegeben wer-
den, ihre Rechte wahrzunehmen. Die Atomgesetzände-
rung der vorherigen Bundesregierung beinhaltete dagegen
eine Verkürzung dieser Rechte.

Die Aufnahme umfassender Vorrechte für den Bau des
Endlagers Gorleben im Atomgesetz anstelle einer alter-
nativen Nutzung des Grundes und des Bodens durch den
Eigentümer Bernsdorf hat dem Konflikt um ein faires
Auswahlverfahren nur eine neue Spitze gegeben. Es ist da-
her an der Zeit, ein Zeichen des guten Willens zu setzen
und die Änderungen des Atomgesetzes von 1998 in Form
der umfassenden Veränderungssperren des § 9 zurückzu-
nehmen.

Danke.

(Beifall bei der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409821600
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der PDS zur Änderung des Atomgesetzes auf
Drucksache 14/841. Der Ausschuss für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksa-
che 14/2618, den Gesetzentwurf abzulehnen.

Ich lasse jetzt über den Gesetzentwurf der PDS auf
Drucksache 14/841 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung gegen die Stimmen der PDS-Fraktion
abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung
die weitere Beratung.

Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung
angelangt.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Donnerstag, den 13. April 2000, 9 Uhr ein.

Ich wünsche einen heiteren Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.