Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Auf der Ehrentribüne haben der Präsident des
Althings der Republik Island, Herr Halldór Blöndal,
und eine Abgeordnetendelegation Platz genommen. Sehr
geehrter Herr Präsident, liebe Kollegen aus dem Althing,
ich begrüße Sie im Namen der Mitglieder des Deutschen
Bundestages sehr herzlich in diesem Hause. Ihr Aufent-
halt in Deutschland ist ein Zeichen für die außerordentlich
freundschaftlichen, vertrauensvollen und warmherzigen
Beziehungen zwischen unseren Ländern. In Geschichte
und Gegenwart sind wir durch Handel und Wandel, Kul-
tur und Politik auf mannigfaltige Weise miteinander
verbunden und fühlen trotz geographischer Entfernung
einander sehr nahe. Mögen wir uns auf dieser festen
Grundlage gemeinsam und gemeinschaftlich den Heraus-
forderungen unserer Zukunft stellen. Seien Sie versichert,
dass wir deutschen Parlamentarier daran nach besten
Kräften mitwirken wollen! Herzlich willkommen!
Zu Beginn der Plenarsitzung möchte ich dem Bundes-
kanzler a. D. Dr. Helmut Kohl namens des Hauses noch
zu seinem 70. Geburtstag gratulieren und ihm die besten
Glückwünsche aussprechen.
Ebenso gratuliere ich nachträglich dem Kollegen
Gottfried Haschke und dem Kollegen Heinrich Fink
jeweils zum 65. Geburtstag sowie dem Kollegen Erwin
Marschewski zur Vollendung seines 60. Lebensjahres
und wünsche allen dreien herzlich alles Gute.
Sodann teile ich mit, dass für den verstorbenen Kolle-
gen Gert Willner der Kollege Helmut Lamp am 28.März
die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben
hat. Herzlich willkommen, lieber Kollege!
Für den Abgeordneten Klaus Wolfgang Müller ,
der am 31. März auf seine Mitgliedschaft im Deutschen
Bundestag verzichtet hat, hat die Kollegin Grietje Bettin
am 3. April die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag
erworben. Ich begrüße die neue Kollegin sehr herzlich.
Weiterhin teile ich mit, dass der frühere Kollege Ernst
Schwanhold als ordentliches Mitglied aus dem Gemein-
samen Ausschuss gemäß Art. 53 a des Grundgesetzes aus-
scheidet. Die Fraktion der SPD schlägt als Nachfolger den
Kollegen Norbert Wieczorek, der bisher stellvertreten-
des Mitglied war, und als neues stellvertretendes Mitglied
den Kollegen Ditmar Staffelt vor. Sind Sie damit einver-
standen? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann sind der
Kollege Wieczorek als ordentliches und der Kollege Staf-
felt als stellvertretendes Mitglied im Gemeinsamen Aus-
schuss bestimmt.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sollen in der
kommenden Sitzungswoche keine Befragung der Bun-
desregierung und keine Fragestunde stattfinden, da am
Mittwoch wegen der erst am Nachmittag beginnenden
Ausschusssitzungen keine Plenarsitzung möglich ist.
Außerdem ist interfraktionell vereinbart worden, die
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU: Kosovo-
Politik überprüfen und weiterentwicklen – Drucksache
14/3093 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsausschuss
2 Aktuelle Stunde auf der Verlangen der Fraktion der
CDU/CSU: Anweisung des Bundesministers Müller, die
Höhe des Briefportos bis Ende 2002 beizubehalten,
obwohl die Regulierungsbehörde für Telekommunikati-
on und Post eine 15-prozentige Absenkung wollte
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98. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 6. April 2000
Beginn: 9.00 Uhr
3 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Be-
schäftigungspolitischer Aktionsplan der Bundesregie-
rung Deutschland 2000 –Drucksache 14/2950 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
mung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 29. November 1996
aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische
Union betreffend die Auslegung des Übereinkommens über
den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Ge-
meinschaften durch den Gerichtshof der Europäischen Ge-
– Drucksache 14/2120 –
Beschlussempfehlung und
Bericht des Rechtsausschusses
– Drucksache 14/3092 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Winfried Mante
Dr. Susanne Tiemann
Hans-Christian Ströbele
Rainer Funke
5 Beratung des Antrags Dr. Mathias Schubert, Christian
Müller , Dr. Ditmar Staffelt, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Margareta Wolf , Kerstin Müller (Köln), Rezzo
Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Stärkung von Absatz und Export der ostdeutschen Wirt-
schaft –Drucksache 14/3094
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut
gebnisse der Sondertagung des Europäischen Rates
vom 23./24. März 2000 in Lissabon
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
BeschäftigungspolititischerAktionsplan derBundesre-
publik Deutschland
– zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Schnieber-
Jastram, Dr. Maria Böhmer, Karl-Josef Laumann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Ausbildung, Qualifizierung und Arbeit für junge Men-
schen
– Drucksachen 14/1000, 14/1011, 14/2596 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Nahles
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus Grehn,
Ulla Lötzer, Uwe Hiksch, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS
Die Weichen für eine neue Vollbeschäftigung in Euro-
pa stellen
– Drucksache 14/3030 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
ZP 3 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
BeschäftigungspolititischerAktionsplan derBundesre-
publik Deutschland 2000
– Drucksache 14/2950 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie der Fraktion
der CDU/CSU vor. Nach einer interfraktionellen Verein-
barung sind für die Aussprache im Anschluss an die
Regierungserklärung zwei Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch: Dann ist es so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland,
Gerhard Schröder.
Sehr geehrterHerr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Der Europäische Rat von Lissabon setzt die Reihe erfolg-reicher europäischer Gipfeltreffen der letzten Zeit fort.Lissabon hat deutlich gemacht: Die Europäische Union istwillens und imstande, den Wandel von der Industriege-sellschaft zur Wissens- und Informationsgesellschaftwirtschafts- und gesellschaftspolitisch nicht nur hinzu-nehmen, sondern aktiv zu gestalten. Die Chancen, die
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Präsident Wolfgang Thierse9080
dieser Wandel für Wachstum und Beschäftigung eröffnet,werden wir wahrnehmen.Aus der Sicht der Bundesregierung ist besonders er-freulich, dass bei den europäischen Partnern Einigkeit be-steht: Es gibt einen europäischen Weg in die Wissens- undInformationsgesellschaft und dieser Weg ist der Weg ei-ner Teilhabegesellschaft,
also ein Weg, den die gesamte Gesellschaft mitgehenkann. Das ist einer der Gründe dafür, warum wir in Lissa-bon der Auffassung waren, dass die angeblich bestehen-de Kluft von der gelegentlich zu hören war, zwischenökonomischer Effizienz auf der einen Seite und sozialerAusgewogenheit sowie sozialem Zusammenhalt auf deranderen Seite, bei Licht betrachtet nicht besteht, jedenfallsnicht bestehen darf. Darum ist es die gemeinsame Auf-fassung der europäischen Regierungen, man müsse diesenWeg als europäischen Weg, als einen Weg der ökonomi-schen Vernunft und des sozialen Ausgleichs gemeinsamgehen.
In Lissabon hat die Europäische Union ein neues stra-tegisches Ziel formuliert. Wir, die Europäer, wollen imkommenden Jahrzehnt, was die Wettbewerbsfähigkeitund die Dynamik betrifft, unseren Binnenmarkt zumstärksten Wirtschaftsraum der Welt machen. In diesemSinne haben wir in Lissabon beschlossen, uns auf diewichtigsten Handlungsfelder zu konzentrieren.Erstens. Wir wollen und wir werden den Fortschritt, dendie Industriegesellschaft durch Information und Kommu-nikation machen kann, so gestalten, dass er den Men-schen in Europa in ihrer täglichen Existenz, in ihrer Ar-beitswelt zugute kommt. Wir werden dafür sorgen, dassdieser Fortschritt – übrigens genauso wie seinerzeit derFortschritt von der Agrar- zur Industriegesellschaft – zumehr Wohlstand und zu einer besseren Lebensqualität fürdie Menschen in Europa führt.
Auf nationaler Ebene setzt die Bundesregierung in die-sem Sinne das Aktionsprogramm „Innovation undArbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des21. Jahrhunderts“ um und arbeitet mit derWirtschaft inder Initiative D 21 zusammen. Durch dieWirtschafts- undBeschäftigungspolitik der Bundesregierung zusammenmit der InitiativeD21 ist es uns bereits 1999 gelungen, dieAusbildungsplätze für junge Leute im Bereich der Infor-mations- undKommunikationstechnologienvon seinerzeit13 000 auf 30 000 zu steigern. Das ist eine Leistung, dieaus der Gemeinsamkeit zwischenBundesregierung einer-seits und einschlägiger Wirtschaft andererseits resultiert.Das ist imÜbrigen eine Leistung, die wir in unser aller In-teresse, auch im Interesse der ökonomischen Entwick-lung, noch steigern müssen und steigern werden.
Schon in diesem Jahr – so die Festlegungen der ausbil-denden Wirtschaft in diesem Bereich – wird die Zahl dereigentlich erst für 2002 vorgesehenen Ausbildungsplät-ze in einer Größenordnung von 40 000 – ich vermerke: inden Betrieben – erreicht werden können. Aber auch damitkönnen und dürfen wir uns nicht zufrieden geben, und dasist der Grund, warum wir in der Initiative D 21 gemein-sam beschlossen haben, die Zahl der betrieblichen Aus-bildungsplätze bis spätestens 2003 – möglicherweiseschaffen wir es bis zum Ende des Jahres 2002 – auf ins-gesamt 60 000 zu steigern.
Damit schließen wir – oder helfen wir zu schließen – ei-ne Qualifizierungslücke, die ohne Zweifel bestand und be-steht und für die man ohne jeden Zweifel keineswegs nurdie Politik verantwortlich machen kann und darf, sondernfür die man vor allem diejenigen verantwortlich machenmuss, die in der Vergangenheit in den Betrieben zu wenigausgebildet haben.
Dass es da Defizite gegeben hat, kann man ohne falschePolemik feststellen; das wird von der ausbildenden Wirt-schaft genauso gesehen. Deshalb ist es auch die gemein-same Aufgabe, die Zahl der Ausbildungsplätze in diesemBereich in dieser Deutlichkeit und in dieser Schnelligkeitdramatisch zu erhöhen. Wir werden das tun.In diesem Zusammenhang ist es dann wenig hilfreich,wenn aus sehr durchsichtigen Wahlkampfgründen derVersuch gemacht wird, eine zwischenzeitlich bestehendeNotwendigkeit in der Weise, wie das Herr Rüttgers tut, zudiffamieren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie esmich klar sagen: Diese Art des Umgangs mit diesem The-ma ist nicht nur in höchstem Maße unanständig, sie istauch wirtschaftsfeindlich. Das muss man in aller Deut-lichkeit hinzufügen.
Sie ist wirtschaftsfeindlich deshalb – und es wird Sie auchin der Wirtschaft isolieren, wenn Sie so weiter machen –,weil wir wegen der Versäumnisse in der Vergangenheit
diese Menschen für eine gewisse Zeit brauchen und des-halb alles tun werden, um erstklassige Leute her zu be-kommen, weil wir wissen, dass an jedem dieser hochqualifizierten Menschen zwischen drei und fünf weitereArbeitsplätze hängen können, die wir zur Bekämpfung derArbeitslosigkeit in Deutschland dringend brauchen.
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Deshalb ist es – ich sage es noch einmal – nicht nur un-moralisch, sondern auch wirtschaftsfeindlich und ein Ver-stoß gegen das Ziel der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit,wenn in der Art und Weise, wie das geschieht, mit diesemThema umgegangen werden soll.Im Übrigen wird der Entwurf für die einschlägige Ver-ordnung, die wir machen müssen, um – ich sage es nocheinmal – auf Zeit hoch qualifizierte Menschen zu uns zubekommen, in den Ministerien fertig gestellt. Sie wirddann innerhalb der Initiative D 21 besprochen werden,weil wir die bisherigen Erfahrungen, die man in der Wirt-schaft mit der Anwerbung hoch qualifizierter Fachkräfteaus dem Ausland gemacht hat, in die endgültige Fassungder einschlägigen Verordnung einbeziehen wollen undeinbeziehen werden.Ich hoffe deshalb, dass diejenigen, von denen ich jaweiß, dass es sie auch in der Opposition gibt, vor allenDingen in der Union, die Oberhand gewinnen, die genauwissen, dass wir dies auf Zeit brauchen und dass es des-halb gegen die eigenen Interessen verstößt, wenn man der-artige Kampagnen, wie sie dort gemacht worden sind, fort-setzt.
Aus dem, was wir vorzuweisen haben, wird deutlich, dasswir dabei sind, die Qualifizierungslücke zu schließen,übrigens nicht nur auf dem Ausbildungssektor, sondernauch und ausdrücklich auf dem Weiterbildungssektor.Esist völlig klar, dass es gemeinsame Aufgabe von Politikund Wirtschaft ist, diejenigen, die in anderen Berufen kei-ne zureichenden Chancen haben und qualifizierbar sind,auch so zu qualifizieren, dass sie neue Chancen auf demneuen Arbeitsmarkt erwerben und diese auch nutzen kön-nen. Dieser Aspekt wird ebenfalls völlig zu Recht betont.Er wird von uns ins Auge gefasst und realisiert.
Diese Ansätze, die wir in Deutschland machen, sind beiden europäischen Partnern auf großes Interesse gestoßen.Sie finden sich deshalb auch in den Schlussfolgerungendes Rates wieder. Der Europäische Rat hat sich im Übri-gen darauf verständigt, den rechtlichen Rahmen für denelektronischen Geschäftsverkehr rasch, das heißt, noch indiesem Jahr, zu vervollständigen. Die Rechtsakte zu Ur-heberrechten und verwandten Schutzrechten, zumelektronischen Geld und zum Fernabsatz von Finanz-dienstleistungen werden vom Rat vorangebracht und inkürzester Zeit realisiert werden.Im Bereich der Telekommunikation haben wir in Lis-sabon vereinbart, den Wettbewerb auch bei den Ortsan-schlussnetzen zu intensivieren, übrigens nicht nur, damitman billiger telefonieren kann, sondern vor allen Dingen,um zur Kostensenkung bei der Internetnutzung beitragenzu können. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt dessen, wasin Lissabon diskutiert und beschlossen worden ist. Libe-ralisierung und Integration des Telekommunikations-marktes sollen bis Ende des Jahres 2001 in Europa, im Eu-ropa der 15 abgeschlossen sein.Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union habensich das Ziel gesetzt, dass die wichtigsten öffentlichenFunktionen für die Bürgerinnen und Bürger und natürlichauch für die Wirtschaft bis zum Jahre 2003 online ver-fügbar sind. Ich bin sicher, meine Damen und Herren, die-se Initiative wird nicht nur die Effizienz der öffentlichenVerwaltung verbessern, sondern auch ein weiterer, undzwar bürgernaher – wenn Sie so wollen: kundenfreundli-cher –, Ansatz sein, um die Onlinekommunikation nichtnur in Deutschland, sondern auch in Europa überhaupt zunutzen.Zweitens. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Uni-on sind sich darin einig, dass die Wachstums- und Be-schäftigungspotenziale einer Wissensgesellschaft aufDauer dann und nur dann genutzt werden können, wennwir Europäer bei der Forschung und Entwicklung erst-klassig sind. Im Vergleich zu anderen gibt es in Europa De-fizite. Wir werden diese Defizite abbauen. Deshalb wer-den in diesem Bereich die nationalen und europäischenAnstrengungen zu bündeln und auf europäischer Ebene zukoordinieren sein. Auch das ist ein Ergebnis der Diskus-sion von Lissabon.Wir wollen einen großen europäischen Forschungs-raum. Wir wollen hoch qualifizierte Forscher dauerhaftfür Europa gewinnen. Sie sehen, meine Damen und Her-ren, auch auf diesem Sektor sind die Europäer dabei, sichzu öffnen, weil sie wissen, dass wir den weltweiten Aus-tausch der qualifizierten Forscher brauchen, um unsere ei-gene Entwicklung, auch unsere eigene wirtschaftlicheEntwicklung, voranbringen zu können.
Natürlich braucht man dazu eine entsprechende Infra-struktur. Im Bereich der Infrastrukturausstattung wirddeshalb mit Unterstützung der Europäischen Investiti-onsbank ein hochleistungsfähiges Datennetz aufgebautwerden, das wissenschaftliche Einrichtungen in Europamiteinander verbindet, also vernetzt. Gerade Deutsch-land, das mit dem Deutschen Forschungsnetz bereits her-vorragend positioniert ist, hat ein nachhaltiges Interessedaran, die Einbindung dieses Netzes in einen leistungs-starken europäischen Verbund zu schaffen.Zur Förderung der privaten Forschungs- und Entwick-lungsanstrengungen werden wir ein Gemeinschaftspa-tent einführen, dessen rechtliche Voraussetzungen nachden Beschlüssen von Lissabon bis Ende 2001 geschaffenwerden sollen.Wichtig für private Forschungs- und Entwicklungsan-strengungen gerade junger, innovativer Unternehmen istebenso die Bereitstellung von Risiko-, besser: Wagniska-pital. In diesem Zusammenhang begrüße ich ausdrücklichdie Bereitschaft der Europäischen Investitionsbank, eineweitere Milliarde Euro für Wagnisfinanzierung zur Ver-fügung zu stellen.
Drittens. Der Europäische Rat hat noch einmal betont,dass weitere Wirtschaftsreformen notwendig sind, um denBinnenmarkt zu dynamisieren. Er hat dazu aufgerufen, die
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Liberalisierung in den Bereichen Gas, Strom, Postdiensteund Verkehr zu beschleunigen. Ich halte es für eine derganz großen Leistungen der portugiesischen Präsident-schaft, insbesondere von Premierminister Guterres, indiesem zweifellos schwierigen Punkt Einvernehmen je-denfalls über den Grundsatz einer weiteren Liberalisie-rung herbeigeführt zu haben. Wir, die Deutschen, habenin diesem Bereich vor dem Hintergrund dessen, was ge-leistet worden ist, weniger Schwierigkeiten als andere.Aber die Schwierigkeiten anderer sind angesprochen unddurch den Beschluss von Lissabon auch weitgehend über-wunden worden.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang sagen, dassich von den Mitgliedstaaten und auch von der Kommis-sion Verständnis dafür erwarte, dass die Bundesregierungnicht tatenlos zusehen kann, wenn gewachsene und be-währte – ich betone ausdrücklich: bewährte – Strukturenöffentlicher Daseinsvorsorge in Deutschland im Zugeeuropäischer Integration zur Disposition gestellt werden.
Sie wissen, meine sehr verehrten Damen und Herren, dassdie Frage öffentlich-rechtlicher Kreditinstitute und auchdes öffentlich-rechtlichen Rundfunks auf der Tagesord-nung der Europäischen Kommission steht. Es nutzt nunwenig, gegen die Vorstellungen der Kommission zu pole-misieren. Das Einzige, was hilft, ist, der Kommission undübrigens auch den Mitgliedstaaten, die eine andere ver-fassungsrechtliche Situation als wir haben, am Ende deut-lich zu machen, dass und warum wir diese Strukturenbrauchen und warum das Vorhalten öffentlich-rechtlicherStrukturen nichts mit Beihilfepolitik, sondern mit einervernünftigen Versorgung mit Dienstleistungen dieser Artauch und gerade in der Fläche zu tun hat.
Ich habe deshalb die Kommission, die das Verhältnisvon Binnenmarkt und öffentlicher Daseinsvorsorge bereitsin einer Mitteilung von 1996 aufgegriffen hatte, gebeten,diese Mitteilung im Lichte des Amsterdamer Vertrages zuaktualisieren. Der Europäische Rat hat auf meine Bitte hineine entsprechende Aufforderung an die Kommissionzum Ausdruck gebracht. In den jetzt beginnenden Arbei-ten über die Erneuerung dieser Mitteilung werden wirdafür zu sorgen haben, dass die deutsche Position so weitwie irgend möglich eingebracht und verständlich gemachtwird. Wir werden das tun, meine Damen und Herren, weilwir davon überzeugt sind, dass auch und gerade auf demKreditsektor die Mischung aus privatwirtschaftlicher undöffentlich-rechtlicher Versorgung eine vernünftigeMischung ist, die wir nicht zuletzt brauchen, damit auf die-sem Sektor „kleinere“ Kunden und vor allen Dingen diekleinen und mittleren Unternehmen in optimaler Weisemit Finanzdienstleistungen versorgt werden können.
Angesichts der Globalisierung auf den Finanzmärk-ten und entsprechender, nicht immer gelingender Strate-gien der privaten Banken auf diesem Felde
glaube ich, dass es eine Renaissance insbesondere derSparkassen in Deutschland geben kann,
weil sie kundennah agieren und weil sie von alters her dieVersorgung insbesondere der kleinen und mittleren Ge-werbetreibenden, aber auch der kleineren privaten Kun-den in durchaus optimaler Form geleistet haben.
Was für die Sparkassen gilt, gilt ebenso für die Genos-senschaftsbanken.
Diese beiden Einrichtungen werden, so glaube ich, gera-de vor dem Hintergrund der Globalisierung und der Stra-tegien der großen Kreditinstitute, die damit verbundensind, eine immer wichtiger werdende Aufgabe in der Ver-sorgung und vor allem in der flächendeckenden Präsenzin Deutschland erhalten.
Deswegen hoffe ich, dass wir in dieser Frage mit derKommission und mit denen, die andere staatsrechtlicheVerfasstheiten haben und deswegen für diese Problemenicht von vornherein sensibilisierbar sind, eine gemein-same Position entwickeln können. Aber auch innerhalb derPhalanx der Bundesländer müssen wir eine gemeinsamePosition entwickeln, um deutlich zu machen, dass das,worum es hier geht, im gemeinsamen Interesse des Deut-schen Bundestages und des Bundesrates ist. Das würdedie Position der Bundesregierung stärken. Ich bin gutenMutes, dass sich in dieser Frage eine Gemeinsamkeit inder europäischen Politik erzielen lässt.
Viertens. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Unionsind sich einig, dass gerade angesichts guter Wachstums-aussichten eine aktive Politik der Haushaltskonsolidie-rung notwendig und auch möglich ist. Das Zukunfts-programm der Bundesregierung schafft mit der Konsoli-dierung der Staatsfinanzen und mit einer Steuerpolitik, dieFamilien, die Arbeitnehmer und die Wirtschaft entlastet,die Voraussetzungen für ein kräftiges Wirtschaftswachs-tum und damit für neue Arbeitsplätze.
Das ist der Grund, warum das Zukunftsprogramm, erstelltvor allem vom Bundesfinanzminister, im Kreise unserereuropäischen Partner große Unterstützung findet. DieseUnterstützung geht weit über die hinaus, die von derOpposition hier im Hohen Hause zu erwarten ist.
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Fünftens. Im Europäischen Rat ist es gemeinsamesZiel, eine Spaltung der Gesellschaften zu verhindern. Wirwollen kein Europa der zwei Klassen: die eine mit Zugangzu den neuen Informations- und Kommunikationsange-boten und die andere, die diesen Zugang nicht hat. DieseSpaltung nicht nur in Europa, sondern auch in Deutsch-land dürfen wir nicht zulassen. Deshalb müssen wir dieAnstrengungen in Bezug auf Ausbildung und Bildungkontinuierlich verstärken.
Alle Schüler – ich betone das Wort „alle“ –, aber auchandere Personen sollten so früh wie möglich den Umgangmit dem Medium Internet einüben können. Deshalb habenwir in Deutschland gemeinsam mit der Wirtschaft die Ini-tiative „Schulen ans Netz“ auf den Weg gebracht. DerEuropäische Rat hat auch in diesem Punkt die Politik derBundesregierung bestätigt und unterstützt. Die europa-weite Mobilität von Schülern, Studenten und Lehrern sollgefördert werden. Hierzu sind bereits bestehende Ge-meinschaftsprogramme zu nutzen. Daneben geht es aberauch um die Verbesserung bei der Anerkennung von Ab-schlüssen im Studium und in der Ausbildung.Eine weitere Zielsetzung ist es, die Zahl der Jugendli-chen, die nach dem Schulabschluss weder eine Berufs-noch eine weiter führende Schulausbildung durchlaufen,so schnell wie möglich zu halbieren. Insbesondere dankdes für andere Mitgliedstaaten vorbildlichen dualen Aus-bildungssystems kann Deutschland bei der Berufsausbil-dung der Jugendlichen weit überdurchschnittliche Erfol-ge aufweisen.Auch das gilt es noch einmal zu unterstreichen: Die Tat-sache, dass wir – nicht zuletzt durch das Programm derBundesregierung – im letzten Jahr unsere Ausbildungs-anstrengungen so verstetigt und ausgeweitet haben, hat da-zu geführt, dass Deutschland Gott sei Dank den Spitzen-platz bei der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ein-nimmt. Dies ist, wie ich finde, eine Leistung, die sichsehen lassen kann und die es lohnt, hier im Hohen Hauseimmer wieder zu unterstreichen.
Natürlich war mir bei den Beratungen über diesenPunkt in Lissabon immer gegenwärtig, dass die Fragen derSchul- und der weiterführenden Bildung in DeutschlandFragen sind, die im Wesentlichen nicht vom Bund ent-schieden werden. Alle Aufforderungen – natürlich ausFurcht vor den Gewaltigen aus Bayern – wir müssten beiden Beratungen in Lissabon aufpassen, nicht die Kultur-hoheit der Länder zu gefährden, waren mir immer gegen-wärtig. Herr Glos, nicht Sie, aber die denkbaren Auffor-derungen waren mir immer gegenwärtig.Deshalb findet sich in den Schlussfolgerungen des Eu-ropäischen Rates auch der von Deutschland erbetene Hin-weis, dass die Mitgliedstaaten den an sie gerichteten Auf-forderungen in diesem Sektor selbstverständlich nur imRahmen ihrer verfassungsrechtlichen Vorschriften nach-kommen können und sollen. Sagen Sie das also in Mün-chen und anderswo: Sie dürfen es machen, aber Sie müs-sen es auch bezahlen.
Sechstens. Der Europäische Rat hat dazu aufgefordert,wir sollten uns im Rahmen des so genannten Luxemburg-Prozesses auf die Verbesserung der Beschäftigungsfähig-keit, auf lebenslanges Lernen, auf den Ausbau der Be-schäftigung im Dienstleistungsbereich und auf die För-derung der Chancengleichheit konzentrieren.Gemeinsames mittelfristiges Ziel einer Beschäfti-gungspolitik mit exakt diesen Schwerpunkten ist dieErhöhung der Beschäftigungsquote, die nach den Verein-barungen von Lissabon möglichst nahe an 70 Prozent he-rangeführt werden soll. Dabei ist selbstverständlich die je-weilige nationale Ausgangslage zu berücksichtigen. Die-ses sehr ambitionierte Zukunftsprogramm von Lissabonwird der Europäische Rat alljährlich im Frühjahr auf ei-ner gesonderten Tagung zu Wirtschafts- und Sozialfragenüberprüfen und aktualisieren. Das ist, wenn Sie so wollen,ein Beschluss über das notwendige Controlling.Das in Lissabon formulierte strategische Ziel kannnach meiner Auffassung erreicht werden, wenn die An-strengungen auf der europäischen Ebene mit entspre-chenden Anstrengungen auf der Ebene der Mitgliedstaa-ten einhergehen. Wenn wir die Beschlüsse von Lissabonkonsequent umsetzen, schaffen wir die Voraussetzung füreine nachhaltige Steigerung von Wachstum und als Folgedessen selbstverständlich auch von Beschäftigung. Eindurchschnittliches Wachstum in der Europäischen Unionvon etwa 3 Prozent ist dann eine realistische Aussicht fürdie kommenden Jahre.Gewiss ist der Hinweis, man könne Wachstum nichtverordnen, nicht falsch. Aber wir haben deutlich gemacht,dass wir die Handlungsmöglichkeiten und die Hand-lungsnotwendigkeiten der Politik auf europäischer wie aufnationaler Ebene entschlossen an diesem Ziel orientierenwollen. Die Chancen dafür sind gut.Für die Euro-Zone hat der Internationale Währungs-fonds seine Wachstumsschätzung für dieses Jahr von bis-lang 2,8 Prozent bereits auf 3,2 Prozent heraufgesetzt. DerIWF sieht darüber hinaus für Europa gute Möglichkeitenfür eine Phase lang anhaltenden Wirtschaftswachstums.Auch und gerade in Deutschland hat sich die konjunk-turelle Entwicklung verstetigt und an Dynamik gewonnen.Die Prognosen der Forschungsinstitute gehen für diesesJahr von einem Wirtschaftswachstum von bis zu 2,7 Pro-zent aus. Es gibt sogar Institute, die mit einem höherenWachstum rechnen.Besonders wichtig dabei ist: Der konjunkturelle Auf-schwung hat jetzt endlich den Arbeitsmarkt erreicht. ImMärz hat sich die positive Entwicklung der vergangenenfünf Monate fortgesetzt. Wie schon im Februar sind auchim März die Arbeitslosenzahlen auf dem niedrigstenStand seit 1996, meine Damen und Herren.
Mit 4,14 Millionen registrierten Arbeitslosen gab es imMärz 136 000 Arbeitslose weniger als im Februar. DasVorjahresniveau, ist damit um 148 000 deutlich unter-
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schritten. Die Arbeitslosenquote ist auf 10,6 Prozentgefallen. Sie ist in den vergangenen Monaten kontinuier-lich gesunken. Gleichzeitig ist die Erwerbstätigkeit imJanuar 2000 – über neuere Daten verfügen wir nochnicht – saisonbereinigt um 37 000 gestiegen. Die positiveEntwicklung der Vormonate hat sich damit verstärkt.Auch im Vorjahresvergleich gibt es heute 20 000 Er-werbstätige mehr. Dies ist eine Entwicklung, meine sehrverehrten Damen und Herren, die auch die Opposition an-erkennen und nicht kaputtreden sollte.
In Westdeutschland sind die Auswirkungen des Auf-schwungs auf die Beschäftigung schon deutlich zuspüren. Die Zahl der Arbeitslosen wird im Vergleich zumVorjahresmonat um mehr als 200 000 unterschritten undbeträgt damit noch 2 691 000. Ich sage es noch einmal:Das ist seit fünf Jahren der niedrigste März-Wert.
Auf der anderen Seite haben wir zu beklagen, dass sichdiese Entwicklung in Ostdeutschland leider noch nichteingestellt hat. Die Zahl der Arbeitslosen ist im Vergleichzum Februar zwar um 30 000 gesunken, im Vorjahres-vergleich aber um 59 000 gestiegen. Niemand bedauertdas mehr als die Bundesregierung. Es ist aber auch wich-tig, diese Zahl richtig zu bewerten, damit nicht diefalschen Schlüsse daraus gezogen werden.Ich möchte deshalb auf eines hinweisen: Die Zahl derTeilnehmer an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen,ABM, Weiterbildungs- oder Strukturanpassungsmaß-nahmen, in Ostdeutschland ist im März dieses Jahres imVergleich zum März 1999 um mehr als 155 000 gesunken.Man kann die Arbeitslosigkeit – ich sage es noch einmal–, die in Ostdeutschland bedauerlich hoch ist, überhauptnur richtig einschätzen, wenn man sich diese Zahl und dieGründe für diese Entwicklung vor Augen führt.Was ist passiert, meine Damen und Herren? Die Re-gierung meines Vorgängers Herr Kohl hat gegen Ende ih-rer Amtszeit aus für den einen oder anderen durchschau-baren Motiven massiv die Arbeitsbeschäftigungsmaß-nahmen im Osten ausgeweitet. Heute, nachdem dieWahlkampf-ABM ausgelaufen sind
– so ist das gewesen, meine Damen und Herren –,
spüren wir die Nachwirkungen dieser kurzatmigen und imÜbrigen ziellosen Politik.
Die Maßnahmen haben den beteiligten Menschen geradekeine dauerhafte Perspektive eröffnet.
Wir hingegen verstetigen die aktive Arbeitsmarktpolitikauf einem hohen Niveau und werden damit den Men-schen mit wirksamen Maßnahmen auch auf Dauer einePerspektive und eine echte Chance geben.
Die Finanz-, die Wirtschaftspolitik und die Verstetigungin diesem Sektor werden – ich bin da zuversichtlich – da-zu führen, dass die konjunkturelle Aufwärtsentwicklungdie Lage auf dem ersten Arbeitsmarkt, um den es in ersterLinie geht, auch in Ostdeutschland verbessert und dass dieArbeitslosenquote auch in Ostdeutschland sinken wird.Wie sehen die Perspektiven für den weiteren Jahres-verlauf aus? Die konjunkturelle Belebung aus dem letz-ten Quartal 1999 setzt sich zu Beginn dieses Jahres fort.Die Dynamik des Aufschwungs nimmt weiter zu. Daswirtschaftliche Umfeld stimmt. Investoren und Konsu-menten hegen positive Erwartungen. Dass diese Ent-wicklung die Opposition noch nicht ganz erreicht hat, istschade,
aber wohl kurzfristig nicht zu ändern.
Die Tarifpartner in der Chemieindustrie, in der Bau-wirtschaft genauso wie in der Metallindustrie haben übri-gens im Sinne der Vereinbarungen des Bündnisses fürAr-beit Tarifverträge abgeschlossen. Zu dieser Entwicklungein Wort: Aus Ihren Reihen, meine Damen und Herren vonder Opposition, insbesondere von der kleineren Opposi-tionspartei
– nein, ich habe nicht die PDS gemeint, Herr Repnik, son-dern die F.D.P.; die gibt es auch noch –, habe ich, was dieBeratungen des Bündnisses für Arbeit und dessen Funk-tion angeht, ein Jahr lang nur Häme gehört.
Wenn Sie gleichermaßen politischen Verstand und dieBereitschaft zur Selbstkritik hätten, würden Sie sich hiereinmal hinstellen und sagen: Wir haben nicht Rechtgehabt. – Es ist völlig unverkennbar, dass nicht nur, aberdass auch die Beratungen des Bündnisses für Arbeit – sodie Einlassungen aller Beteiligten – mit dazu beigetragenhaben,
dass wir im Bereich der Metallindustrie, der Chemiein-dustrie und der Bauwirtschaft gesamtwirtschaftlich ver-tretbare, vernünftige Tarifabschlüsse bekommen haben,die die Aufschwungtendenzen in Deutschland kräftigenwerden und deshalb positive Wirkungen auf dem Ar-beitsmarkt hervorrufen werden.
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Bundeskanzler Gerhard Schröder9085
Es wäre deshalb ganz im Sinne der weiteren ökonomi-schen und sozialen Entwicklung des Landes, wenn der hä-mische Umgang mit dem Bündnis für Arbeit, Ausbildungund Wettbewerbsfähigkeit jedenfalls in diesem Hauseaufhört, denn die Erfolge sind unverkennbar. Wir werdendaran arbeiten – das wird auch in Zukunft nicht einfachsein, das ist gar keine Frage –, dass dieser Weg inDeutschland fortgegangen wird. Es ist gleichermaßen einWeg der ökonomischen Vernunft und des sozialen Aus-gleichs in Deutschland.
Wir müssen miteinander dafür sorgen und wir werdenauch dafür sorgen, dass in dem beginnenden Auf-schwung, der nach dem Urteil aller einschlägigen Insti-tute ein dauerhafter sein kann und die nächsten Jahre be-stimmen wird, die Beschäftigungsorientierung im Vor-dergrund steht. Die Wirtschaft und die Investoren könnenfür die nächsten zwei Jahre mit verlässlichen Rahmenbe-dingungen rechnen. Ich bin sicher, dass wir unser im Jah-reswirtschaftsbericht 2000 gestecktes Ziel erreichen.Die Zahl der Arbeitslosen wird im Durchschnitt des lau-fenden Jahres um 200 000 Personen zurückgehen. Das istnicht genug, das weiß auch ich. Wenn ich mir aber die Kri-tik aus der Opposition anschaue, die Kritik der Seiendenund der Designierten, dann muss ich doch darauf hinwei-sen: In die Zeit Ihrer Regierung fällt dauerhaft steigendeArbeitslosigkeit,
in die Zeit unserer Regierung fällt dauerhaft sinkende Ar-beitslosigkeit.
– So ist das, meine Damen und Herren.Ich will mich ja nicht auf zu viele Quellen berufen undauch nicht sagen, dass die von mir angeführten Personenimmer Recht haben, aber in einem Punkt hat der Haupt-geschäftsführer des BDI Recht: Wir werden auch nach2002 weiter regieren.
Der Aufschwung in Deutschland, die konjunkturelleEntwicklung in der Europäischen Union und die Ergeb-nisse des Europäischen Rates von Lissabon zeigen einesdeutlich: Die Politik auf europäischer wie auf national-staatlicher Ebene wird Europa auf dem Weg in die Infor-mations- und Wissensgesellschaft voranbringen. Wirwerden gemeinsam dafür sorgen, dass dieser Fortschritt indie Informationsgesellschaft Wohlstand und Beschäfti-gung mehrt, die Lebensqualität in Europa und in Deutsch-land verbessert und auf diese Weise die Zukunft unsererKinder und unserer Enkel sichert.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Ich eröffne die Aus-sprache. Das Wort hat Friedrich Merz, Vorsitzender derFraktion der CDU/CSU.Friedrich Merz (von der CDU/CSU mitBeifall begrüßt): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da-men und Herren! Da dies heute mein erster Beitrag in neu-er Funktion ist, möchte ich zunächst die Gelegenheit nut-zen, den zahlreichen Kolleginnen und Kollegen, die mirgratuliert haben, herzlich zu danken, insbesondere allenKollegen Fraktionsvorsitzenden aus diesem Haus. Ich ha-be mich darüber gefreut. Ich nehme die Einladung gern an,den Deutschen Bundestag auch in Zukunft zum Ort derfairen, aber auch harten parlamentarischen Auseinander-setzung zu machen.
Eines der großen Themen nicht nur unseres Landes –aber besonders unseres Landes – ist die weitere Entwick-lung in der Europäischen Union. Herr Bundeskanzler, Siehaben eine Regierungserklärung zu einem Gipfel der eu-ropäischen Staats- und Regierungschefs abgegeben. Las-sen Sie mich zu diesem Gipfel eine Vorbemerkung ma-chen.In Lissabon hat die Gemeinschaft ihre Politik der Iso-lierung Österreichs fortgesetzt und noch einmal be-stätigt.
Wir konnten gleichzeitig am Dienstagabend Fernsehbil-der einer freundlichen Begegnung von Ihnen, Herr Bun-deskanzler, mit dem libyschen Staatschef Gaddafi sehen.
Wie zu hören und zu lesen ist, bemühen Sie sich of-fenbar um eine Zusage von Fidel Castro, den Sie als Gastzur Weltausstellung EXPO nach Hannover eingeladen ha-ben. Wie können Sie es eigentlich erklären, dass Sie einender letzten kommunistischen Despoten dieser Welt alsStaatsgast nach Deutschland einladen?
Zum selben Zeitpunkt tragen Sie persönlich ganz maß-geblich dazu bei, dass eine demokratisch gewählte Re-gierung eines Mitgliedstaates der Europäischen Unionfortgesetzt ausgegrenzt und in geradezu kindischer – umnicht zu sagen: pubertärer – Art und Weise geschnittenwird. Wie können Sie das erklären?
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Stellen Sie sich einmal vor, die frühere Regierung hät-te den französischen Staatspräsidenten wegen der Betei-ligung der Kommunisten an der Regierung in Frankreichso behandelt und gleichzeitig General Pinochet zur Han-nover-Messe nach Deutschland eingeladen.
Damit keine Missverständnisse entstehen: Niemandvon uns hat etwas mit Haider und der FPÖ gemeinsam.Niemand von uns kann sich über das Wahlergebnis inÖsterreich freuen.Aber dieser ganzeVorgang– er hält an –der Ausgrenzung und Isolierung ist und bleibt ein ekla-tanter Verstoß gegen den EU-Vertrag. Er bleibt eine poli-tische Dummheit ohnegleichen;
denn alles, was Sie sich im Europäischen Rat und in derEuropäischen Union, Herr Bundeskanzler, mit Regie-rungskonferenz und Erweiterung der Gemeinschaft vor-genommen haben, bedarf der einstimmigen Zustimmungaller Mitgliedstaaten und damit eben auch der Zustim-mung der Republik Österreich. Irgendwann müssen Sieaus dieser Sackgasse wieder herauskommen, in die Siesich hineinmanövriert haben.
Lassen Sie mich zum eigentlichen Inhalt des so ge-nannten Beschäftigungsgipfels in Lissabon kommenund zunächst eine grundsätzliche Feststellung treffen. Eshat ja durchaus seinen Sinn, dass in der Europäischen Uni-on – und zwar zuförderst in den Institutionen: im Parla-ment, im Rat und in der Kommission – über die anhaltendeBeschäftigungskrise in der Europäischen Union – ichmuss wohl genauer sagen: in einigen bestimmten Mit-gliedstaaten der Europäischen Union – gesprochen wird.Der Vertrag von Amsterdam enthält dazu ein eigenes Ka-pitel.Die Gemeinschaft ist nur für die Koordinierung derWirtschaftspolitik in den Mitgliedstaaten zuständig, abernicht für politische Entscheidungen im Einzelnen undauch nicht für die operative Politik selbst. Dies muss klarsein und muss im Kern so bleiben. Denn wenn der Ge-meinschaft die Beschäftigungspolitik übertragen würde,müsste sie scheitern, da alle Versuche einer zentralen Lö-sung scheitern müssen.
Herr Bundeskanzler, diese Konsequenz müsste eigent-lich ein deutscher Bundeskanzler mit besonderem Nach-druck vertreten, weil wir in Deutschland mit dezentralerVerantwortung, mit einem ausgeprägt föderalen Staats-aufbau und mit regionaler Zuständigkeit gute Erfahrungengemacht haben.
Die erste Frage, die wir Ihnen daher stellen, lautet: Wie solldenn nach den sehr ehrgeizigen Zielen, die in Lissabonaufgestellt worden sind, die Verteilung der Zuständig-keiten zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaatenin Zukunft konkret aussehen? Soll die Europäische Uni-on wirklich die Verantwortung an sich ziehen, nicht nurWachstums-, sondern auch Beschäftigungsziele zu for-mulieren und diese dann auch durchzusetzen?Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, dies bejahen, dann ent-spricht dies Ihrer Haltung, die Sie auch in Deutschlandzum Thema Föderalismus und Wettbewerb einnehmen.Sie wollen ja auch schon in Deutschland den Wettbewerbzwischen den Ländern möglichst vermeiden. Sie miss-trauen in Wahrheit zutiefst dem Wettbewerb.
Dies wird leider auch in Ihrer Haltung zum Wettbewerbzwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Uniondeutlich.
Herr Bundeskanzler, es war höchst aufschlussreich,dass das Wort Wettbewerb in Ihrer Regierungserklärungnicht ein einziges Mal vorgekommen ist.
Wer aber den Wettbewerb nicht will, wer auf zentralisti-sche Lösungen setzt, erhöht die Fehleranfälligkeit.
– Entschuldigung, das Wort Wettbewerb ist für Sie –bezogen auf den Wettbewerb zwischen den Ländern in derBundesrepublik Deutschland und auch in der Europä-ischen Union – offenkundig mehr und mehr zu einemFremdwort geworden. Wettbewerb ist aber das zentraleOrdnungselement in einer Marktwirtschaft, auch in derEuropäischen Union.
Wer den Wettbewerb nicht will, wer auf zentralistischeLösungen setzt, erhöht die Fehleranfälligkeit, da er dasnotwendige Korrektiv ausschaltet, im Wettbewerb zu be-stehen oder eben nicht zu bestehen. Nur Wettbewerb, auchund gerade zwischen den Mitgliedstaaten der Europä-ischen Union, schafft wirklich Innovation und damitWachstum und Beschäftigung.
Besorgnis erregend ist nicht nur die Sprache,
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sondern mehr noch, was da aufgeschrieben wurde.
Ich will Ihnen deshalb aus den Schlussfolgerungen des Ra-tes von Lissabon eine Passage vortragen, die den Geist derEuropapolitik zu Beginn des Jahres 2000 wie kaum eineandere dokumentiert. Da heißt es:Die Umsetzung der Strategie wird mittels derVerbesserung der bestehenden Prozesse erreicht, wo-bei eine neue offene Methode der Koordinierung aufallen Ebenen, gekoppelt an eine stärkere Leitungs-und Koordinierungsfunktion des Europäischen Rates,eingeführt wird, die eine kohärentere strategischeLeitung und eine effektive Überwachung der Fort-schritte gewährleisten soll.
Es geht weiter:Der Europäische Rat wird auf einer im Frühjahr ei-nes jeden Jahres anzuberaumenden Tagung
die entsprechenden Mandate festlegen und Sorgedafür tragen, dass entsprechende Folgemaßnahmenergriffen werden.
Herr Bundeskanzler, das ist die Sprache europäischerBürokraten und nicht europäischer Politik.
In der Sache selbst kommt in dieser Sprache zum Aus-druck: Sie setzen offenkundig in der Europäischen Unionin Zukunft stärker auf den intergouvernementalen An-satz und weniger auf die Gemeinschaftspolitik.
Dies hat Konsequenzen, die offensichtlich auch Ihnen garnicht so richtig bewusst geworden sind.Die britische Regierung hat sich heute klar und ein-deutig – gerade in dieser Woche war es notwendig – hin-ter den Präsidenten der EU-Kommission gestellt und hatdie Kommission gestärkt. Von Ihnen war in der Regie-rungserklärung zur Kommission und ihrem Präsidentenkein Wort zu hören. Das ist aufschlussreich, Herr Bun-deskanzler.
Aber unterstellen wir, dass dies nun alles richtig wäre.Ich frage Sie einmal aus dem Blickwinkel anderer, auchbenachbarter Staaten: Was sollen beispielsweise Länderwie die Niederlande, Dänemark, Luxemburg, Österreich,Portugal, Irland und auch Großbritannien eigentlich fürein Interesse daran haben, mit der BundesrepublikDeutschland gemeinsam in Europa Beschäftigungspolitikzu machen? In den genannten Ländern liegt die Arbeits-losigkeit nämlich mittlerweile um 4 Prozent, zum Teil bei3 Prozent. Diese Länder haben ihre Beschäftigungspro-bleme im Wesentlichen gelöst,
und zwar nicht europäisch, sondern in nationaler Kraft-anstrengung und weil sie sich dem Wettbewerb gestellt ha-ben.
Weil ich natürlich diese Zwischenrufe erwartet habe,lassen Sie mich zur Entwicklung der Arbeitslosigkeit inDeutschland ein Wort sagen. Es ist schon ein ziemlichdreistes Stück, sich hier hinzustellen und zu sagen,während der gesamten Regierungszeit von Helmut Kohlsei die Arbeitslosigkeit in Deutschland nur gestiegen undwährend Ihrer Regierungszeit nur gesunken. Herr Bun-deskanzler, zur Erinnerung, damit Sie das Gedächtnisnicht völlig trügt und verlässt: In den Jahren zwischen1982 und 1990, also in knapp zehn Jahren, ist die Be-schäftigung in der Bundesrepublik Deutschland um3,2 Millionen gestiegen. Einen solchen Zuwachs an Be-schäftigung hat es in der Bundesrepublik Deutschlandnoch nie zuvor gegeben.
Wie bescheiden Sie mittlerweile geworden sind, konn-te man an Ihrer Rede heute Morgen auch erkennen. Sieverweisen jetzt darauf, dass im ersten Jahr Ihrer Regie-rungstätigkeit die Beschäftigung in der BundesrepublikDeutschland im Jahresdurchschnitt um 20 000 Personengestiegen sei.
Herr Bundeskanzler, wenn Sie bei 4,2 Millionen Arbeits-losen in der Bundesrepublik Deutschland mit einem Be-schäftigungszuwachs von 20 000 Personen zufrieden seinwollen, dann müssen Sie allein zur Halbierung derArbeitslosigkeit in Deutschland 105 Jahre regieren. Daswerden Sie gewiss nicht schaffen.
Genauso unzutreffend – um nicht zu sagen: unwahr –ist Ihre Behauptung im Hinblick auf die so genannteWahlkampf-ABM in den neuen Bundesländern. Auchhierzu ganz einfach und nüchtern die Zahlen:
– Die interessieren Sie nicht,
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aber ich werde sie trotzdem nennen, auch wenn Sie ver-suchen, mich daran zu hindern.
Meine Damen und Herren, im Jahre 1998 – das war dasletzte Regierungsjahr von Helmut Kohl – lagen die Aus-gaben für so genannte aktive Beschäftigungspolitik inDeutschland insgesamt bei 39 Milliarden DM, im erstenJahr Ihrer Regierungstätigkeit, 1999, bei 44,5 Milliar-den DM. Das war eine Steigerung um 5,5Milliarden DM.Im zweiten Jahr Ihrer Regierungstätigkeit, in diesem Jahr2000, steigern Sie die Ausgaben für aktive Beschäfti-gungspolitik weiter auf 46 Milliarden DM. Das sind7 Milliarden DM mehr als im letzten Regierungsjahr deralten Regierung.
Sie können doch wohl nicht im Ernst behaupten, dassSie die Ausgaben für aktive Beschäftigungspolitikzurückgefahren haben, nur weil es im Jahr 1998 Ausga-ben für Beschäftigungspolitik in den neuen Bundesländerngegeben hat.
Sie haben das in den neuen Bundesländern übrigens mitziemlich linker Hand behandelt.
Die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern hat ganzunabhängig davon, dass Sie auch dort die Ausgaben für sogenannte aktive Beschäftigungspolitik gesteigert haben,erneut deutlich zugenommen. Die neuen Bundesländer ge-raten in die Gefahr, selbst vom wirtschaftlichen Auf-schwung, vom konjunkturellen Aufschwung im Westen soweit abgekoppelt zu werden, dass sie auf mittlere und län-gere Sicht keine Perspektive haben, das Beschäftigungs-problem gelöst zu bekommen.
Dies ist das eigentliche Problem, das Sie in Ihrer Regie-rungserklärung mit linker Hand abgehandelt haben.
Nun haben sich auch die Bedingungen für mehr Be-schäftigung in der Bundesrepublik Deutschland nichtunbedingt verbessert. Wahr ist: Wir werden im laufendenJahr ein höheres wirtschaftliches Wachstum haben.
– Das tut uns überhaupt nicht Leid. Wir begrüßen das aus-drücklich. Sie werden aber im Jahr 2000 vermutlich nochnicht einmal ein wirtschaftliches Wachstum in der Höheerreichen, in der es im letzten Jahr der alten Regierunggab.
Da waren es 2,8 Prozent. Sie sprechen jetzt von2,7 Prozent – à la bonne heure! Aber die Bedingungen fürmehr Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschlandhaben sich damit nicht verbessert. Denn Sie haben zuverantworten, dass die Staatsquote in der BundesrepublikDeutschland im Jahre 1999 erneut auf 49 Prozentgestiegen ist. Wir haben mit einer Abgabenquote von43 Prozent im Jahre 1999 einen historischen Höchststanderreicht. Glauben Sie denn im Ernst, dass die Beschäfti-gungsprobleme in Deutschland mit höherer Staatsquoteund höherer Abgabenquote zu lösen sind?
Lassen Sie mich zum Inhalt des so genannten Beschäf-tigungsgipfels zurückkehren,
den Sie zum „Internet-Gipfel“ hochstilisiert haben. Wirbrauchen in Deutschland ohne Zweifel auch und geradebei den neuen Technologien einen kräftigen Schub, ins-besondere bei den Informationstechnologien. Aber IhrVorwurf, den Sie auch heute hier erneuert haben, anunseren Kollegen Jürgen Rüttgers,
dass er das alles verschlafen habe und Sie erst alles erfun-den hätten – –
– Sie klatschen etwas zu früh. Der damalige Bundesmi-nister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Tech-nologie, Dr. Jürgen Rüttgers, hat im Jahre 1997 alleinvier neue IT-Ausbildungsberufe in die Handwerksordnungaufge-nommen. Zum selben Zeitpunkt befanden Sie sich,Herr Bundeskanzler, damals noch als Ministerpräsidentdes Landes Niedersachsen, in einem Rechtsstreit mit derHochschule Hildesheim, an der Sie die Studiengänge fürInformatik und Wirtschaftsmathematik geschlossenhaben. Das ist die historische Wahrheit!
Die Hochschule Hildesheim hat sich gegen diesen Ver-waltungsakt der Regierung Schröder erfolgreich zur Wehrgesetzt. Im Jahre 1999 hat die Universität den Rechts-streit gewonnen. Aber Ihr Nachfolger in Niedersachsen hates bis heute nicht für notwendig befunden, diese Studien-gänge an der Universität Hildesheim wieder zu eröffnen.
Wenn Sie dann wörtlich behaupten: „In Deutschlandhaben wir die Initiative ‚Schulen ans Netz‘ auf den Weggebracht“, ist das wirklich eine Dreistigkeit. Denn diese
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Initiative, Herr Bundeskanzler, hat Dr. Jürgen Rüttgers aufden Weg gebracht und ganz gewiss nicht Sie.
– Auf Ihre Zwischenrufe, Herr Kollege Schmidt, muss ichsagen: Ende des Jahres 1998 sind bereits 10 000 Schulenin Deutschland am Netz gewesen. Da haben Sie noch garnicht regiert.
Sie haben hier auch etwas zu dem Thema ausländischeFachkräfte in der Bundesrepublik Deutschland gesagt. Ichwill aus meiner Sicht noch einmal ausdrücklich betonen:Bevor wir in der Bundesrepublik Deutschland in diesemZusammenhang über Einwanderung und Zuwanderungreden, ist es doch wohl angemessen, einmal darüber zusprechen – und, wenn notwendig, auch zu streiten –, wieeigentlich die Bedingungen sein müssten, damit inDeutschland bei 4,3 Millionen Arbeitslosen freie Arbeits-plätze besetzt werden können. Deswegen lassen wir ein-mal den ganzen Streit um die von Ihnen vorgeschlagenenEinwanderungsregeln außer Betracht, Herr Bundeskanz-ler. Die eigentliche Frage lautet doch: Was sind die Be-dingungen eines Marktes – unabhängig von der Nationa-lität der dort Beschäftigten – damit neue Chancen wirklichwahrgenommen werden können und neuen Unternehmenin jungen Branchen eine Zukunft gegeben werden kann?
Ich will Ihnen Beispiele nennen. In den USA hat ganzohne Zweifel ein weitgehend deregulierter Arbeitsmarktzur schnellen Entwicklung auch und gerade der IT-Branche beigetragen. Ist die Bundesregierung also bereit,das sehr dichte Netz der arbeitsrechtlichen Regeln inDeutschland wenigstens daraufhin zu überprüfen, obdieses Neugründungen von Unternehmen und Einstellun-gen in Unternehmen eher fördert oder eher behindert?Oder stimmen Sie der Analyse zu, Herr Bundeskanzler,dass das deutsche Tarif- und Betriebsverfassungsrecht beidiesen schnell wachsenden Märkten und Unternehmen invielerlei Hinsicht eher einen Hemmschuh als einen Stan-dortvorteil darstellt?
Ich will es ganz konkret machen: Sind Sie bereit,wenigstens das Tarifvertragsrecht in der Weise zu ändern,dass Abweichungen von Tarifverträgen gesetzlich zulässigsind, wenn Belegschaft und Unternehmensführung diesbefürworten, um zum Beispiel einen höheren Beschäfti-gungsstand miteinander zu vereinbaren? Offenkundiglehnen Sie solche wirklich innovativen Schritte zur Flexi-bilisierung unseres Arbeitsmarktes ab,
führen aber ständig Worte wie „makroökonomischer Dia-log“, „Erneuerung des sozialen Modells“, „Innovation“,„Modernisierung“, „Veränderung“, „Aufbruch in das21. Jahrhundert“ und viele andere im Mund.Aber dann bitte konkret: Welche Richtung und welcheInnovation und Modernisierung sind gemeint, HerrBundeskanzler? Worin besteht denn der Aufbruch in das21. Jahrhundert? Sind Sie bereit, so wie die NiederländerAnstöße zu geben, den Bildungssektor grundlegend zu re-formieren, Verantwortung an die Schulen und Hoch-schulen zu delegieren und sie gleichzeitig im Sinne vonBenchmarking dem Wettbewerb auszusetzen?Sind Sie bereit, ein besonders eklatantes Beispiel derganzen Widersprüchlichkeit Ihrer Politik zu beseitigenund zum Beispiel die Verlustverrechnung zwischenverschiedenen Einkunftsarten wieder zuzulassen? DieseRegelung im Einkommensteuergesetz trägt nämlich bisheute und unverändert die Handschrift der orthodox-antikapitalistischen Finanzpolitik von Oskar Lafontaine.
Herr Bundeskanzler, wenn Sie wirklich im Sinne derNew Economy und im Sinne des Beschäftigungsgipfelsvon Lissabon in Deutschland etwas tun wollen, dann soll-ten Sie schleunigst dafür sorgen, dass junge UnternehmenAnlaufverluste in den ersten Jahren wieder voll mit an-deren Einkünften verrechnen können. Wenn Sie dies nichttun, dann bleibt die Beschreibung von Mut und Dynamik,die Sie, Herr Bundeskanzler, gerade jungen Menschen aufdem Weg in die Selbstständigkeit wünschen, allenfallsWunschdenken und in Wahrheit nur floskelhaftes politi-sches Gerede.
Meine Damen und Herren, die Detailbesessenheit ei-ner zentralistisch angelegten Beschäftigungspolitik
verstellt offenkundig den Blick darauf, worum es in Eu-ropa wirklich geht: Die Europäische Union steht vor dergrößten Erweiterung ihrer Geschichte und zuvor in derzwingenden Notwendigkeit, sich darauf vorzubereiten,sich selbst erweiterungsfähig zu machen.Wir unterstützen das Ziel der Erweiterung derEU undwollen, dass sie Erfolg hat. Deshalb werden wir die Ver-
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handlungen auch künftig konstruktiv begleiten. Wir habengleichzeitig klare Vorstellungen darüber, welche Voraus-setzungen erfüllt sein müssen, damit dieses ehrgeizige undwichtige Projekt auch tatsächlich gelingt. Wir warnendavor, die Schwierigkeiten dieser Aufgabe sowohl auf derSeite der Mitgliedstaaten der Europäischen Union als auchauf der Seite der Beitrittskandidaten zu unterschätzen.
In unserem Antrag vom 30. November 1999 zumEuropäischen Rat von Helsinki haben wir ausführlichbeschrieben, wie wir uns die Erweiterungsfähigkeit derEuropäischen Union und die Beitrittsfähigkeit der künfti-gen Mitglieder vorstellen. Ich hielte es für wünschenswert,dass wir auch und gerade im Interesse der Menschen inDeutschland, die wir von manchem Schritt erst nochüberzeugen müssen, die wir für diese Erweiterung erstnoch gewinnen müssen,
über die Erweiterung im Konsens entscheiden.Das Gleiche gilt für die Regierungskonferenz. Wirwollen, dass die Regierungskonferenz erfolgreich ist; dennsie ist die Voraussetzung für die Erweiterung. Deshalbkönnen wir uns auch nicht auf die Vorstellung einlassen,die Regierungskonferenz müsse nur diejenigen Fragenlösen, zu denen es in Amsterdam noch keine Verständi-gung gab. Herr Bundeskanzler, das ist wichtig. Denndie Begrenzung der Anzahl der Kommissare, dieStimmengewichtung im Rat und auch die Frage derAusweitung der Mehrheitsentscheidungen, sind alleswichtige Fragen der institutionellen Reformen. Aber diessind bei weitem nicht die einzigen und aus meiner Sichtauch nicht die wichtigsten.Deshalb stelle ich hier – damit es keinerlei Zweifelgibt – für unsere Fraktion fest: Diese Regierungskonferenzmuss den Einstieg in eine verbindliche Klarstellung imHinblick auf die Kompetenzabgrenzung zwischen Eu-ropäischer Union und Mitgliedstaaten schaffen. DieNotwendigkeit hierfür wird nicht einmal in der EU-Kom-mission selbst infrage gestellt. Diese Frage hat ganz un-mittelbar etwas zu tun mit dem, was Sie in Lissabonbeschlossen haben. Wenn die Europäische Union nämlichweiter voranschreitet auf dem Weg in die Zentralisierung,in die Anmaßung von Zuständigkeiten, die weit besser inden Mitgliedstaaten und in föderal strukturierten Staatenwie der Bundesrepublik Deutschland in den Ländern undauf kommunaler Ebene ausgeübt werden, dann wird dasProjekt Europa die Zustimmung bei den Bürgerinnen undBürgern auch unseres Landes verlieren.Bei allen wohlklingenden Beschlüssen, Forderungenund Formulierungen haben Sie, Herr Bundeskanzler, näm-lich eines – vermutlich ganz unbewusst – sehr deutlichwerden lassen: Die Schlussfolgerungen von Lissabon undIhre Regierungserklärung dazu sprechen unverändert dieSprache moderner Technokraten.
Die politische Perspektive, was aus Europa werden soll –ich sage nur stichwortartig: Regierungskonferenz undOsterweiterung – und wie es eine dauerhafte politischeOrdnung für Europa im Sinne einer gesamteuropäischenFriedens- und Freiheitsordnung geben kann, gerät Ihnen,aber leider auch vielen anderen Regierungen der Mit-gliedstaaten der Europäischen Union immer mehr aus demBlickfeld.
Ich sage Ihnen zum Schluss: Es ist nicht die technischeAnleitung für Computer, die in der zweiten Hälfte desletzten Jahrhunderts aus Europa das gemacht hat, was esheute ist. Es sind der europäische Geist und die europäi-sche Vision von Konrad Adenauer, Charles de Gaulle,Helmut Kohl, Francois Mitterrand und vielen anderen, ausdenen jetzt eine Agenda für die erste Hälfte des neuenJahrhunderts entstehen müsste, und zwar in enger Ko-operation zwischen Deutschland und Frankreich.
Aber von deutsch-französischen Initiativen ist seit demAmtsantritt dieser Regierung genauso wenig zu sehen undzu hören wie von durchdachten langfristigen europä-ischen Strategien.
Die innenpolitische Wirkung, die Wirkung in den Medien,ist Ihnen offenkundig noch immer wichtiger als eineVorstellung davon, was aus Europa im 21. Jahrhundertwerden soll!
Computer aber, so wichtig sie auch sind, meine Damenund Herren – ich persönlich verstehe davon mindestensgenauso viel wie Sie, Herr Bundeskanzler –,
ersetzen auch im 21. Jahrhundert nicht die notwendigenpolitischen Konzepte.
Herzlichen Dank.
Ich erteile dem Vor-sitzenden der SPD-Fraktion, Peter Struck, das Wort.
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Dr. Peter Struck (von Abgeordneten der SPDmit Beifall begrüßt):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Kollege Merz, ich habe Ihnen nach IhrerWahl angeboten, freundlich, fair und konstruktiv zu-sammenzuarbeiten. Dieses Angebot gilt nach wie vor, ob-wohl ich nach dieser Rede von Ihnen leichte Zweifel be-kommen habe. Sie haben nämlich zur Europapolitik einenPopanz nach dem anderen aufgebaut und sie dann umge-hauen, mit der Realität hatte das überhaupt nichts zu tun.
Die Antworten, die Sie gegeben haben, scheinen mir imÜbrigen relativ unklar zu sein.Für uns Sozialdemokraten ist klar, dass es bei jenemKonsens bleibt, der uns alle seit Beginn der Europapolitikin unserem Hause ausgezeichnet hat: Dreh- undAngelpunkt unserer Europapolitik ist die tiefe Überzeu-gung, dass die europäische Integration im ureigenendeutschen Interesse liegt. Ich habe allerdings den Ein-druck, Herr Kollege Merz, dass Sie davon abgehen wollen.Sie wollen, wahrscheinlich auf Weisung der Staatskanzleiin München, einen anderen Weg gehen. Dem „Spiegel“haben Sie kürzlich gesagt:Ich bin mir mit Stoiber völlig einig, dass das Euro-pa-Thema nicht mehr so behandelt werden kann wiein den letzten Jahrzehnten.Damit kündigen Sie unseren Konsens auf. Sie wollen eineneue – wie wir meinen: falsche – Europapolitik.
Es geht Ihnen gar nicht mehr um Europa; es geht Ihnen nurnoch darum, Brüssel in deutsche Wahlkämpfe hinein-zuziehen.Ich sehe mit hohem Interesse Altbundeskanzler HelmutKohl hier sitzen. Herzlich willkommen im Plenarsaal,Herr Kollege Kohl! Wir haben Sie lange vermisst.
Ich würde mich freuen, Herr Kollege Kohl, da Sie schoneinmal mehrere Zwischenfragen bei einer Rede von mirgestellt haben, wenn Sie sich dazu auch jetzt entschließenkönnten,
etwa in der Weise, dass Sie fragen, ob ich mit Ihnen einerMeinung bin, dass die Europapolitik der letzten Jahre undJahrzehnte richtig war und dass der Kollege Merz dieUnion und die Unionsfraktion auf einen falschen Wegbringen will.
Natürlich lässt es sich nicht vermeiden – das kann ichverstehen –, dass die Opposition an dem Gipfel vonLissabon herumkritisiert. Es allerdings so darzustellen,als habe Schröder das alles ganz alleine beschlossen, wasda aufgeschrieben ist, würde die Kraft des Bundeskanz-lers, die ich, wie er weiß, sehr hoch schätze, doch deutlichüberschätzen.
Es sind einstimmige Beschlüsse gewesen, an denen auchKonservative mitgewirkt haben. Ihre Kritik geht also ab-solut fehl.
– Wenn Sie die Sprache kritisiert haben – Sie haben dasgetan –: Glauben Sie, dass es unter Kohl und den anderen,die Europapolitik und -gipfel gemacht haben, eine andereSprache gegeben hätte? Das ist nun wirklich ein künst-licher Gegensatz, den ich überhaupt nicht nachvollziehenkann – nach dem Motto: Ich muss irgendetwas finden, wasich bemeckern kann. Diese Sprache gab es vorher auch.Die Ergebnisse von Lissabon können sich sehen lassen.Sie bringen Europa näher zusammen und nach vorne. Dievereinbarten wirtschaftspolitischen Zielvorgaben von3 Prozent Wachstum und 70 Prozent Erwerbstätigenquotesind richtig gewählt. Die Beschäftigungspolitik rückt inden Vordergrund. Die Vollbeschäftigung als langfristigesZiel der Europäischen Union zu formulieren war und istrichtig und ist auch unsere Politik hier in Deutschland.
Herr Merz, Sie haben diese Zielvorgaben mit der Be-merkung kritisiert, dass sich Wachstum nicht verordnenlasse. Das ist klar; das hat auch der Bundeskanzler gesagt.Aber die Politik kann Rahmenbedingungen für Wachstumschaffen. Genau das haben wir in Deutschland in dieserKoalition getan: mit der Steuerreform 2000, mit der Un-ternehmensteuerreform, mit dem Zukunftsprogramm, mitder Haushaltskonsolidierung. Das ist der richtige Weg.Die europäischen Staaten folgen uns auf diesem Weg. Dassollten Sie anerkennen.
Die gestern veröffentlichten Zahlen der Bundesanstaltfür Arbeit geben uns eindeutig Recht. Herr Bundeskanzlerhat darüber gesprochen. Wachstum wird in den Beschlüs-sen von Lissabon nicht angeordnet. Vielmehr werden diegesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen definiert,unter denen ein Wachstum von 3 Prozent möglich wird.Dafür ist die Frage des Internets, die Sie, Herr KollegeMerz, so heruntergespielt haben, ganz zweifellos vonbesonderer Bedeutung.
Wir sind heute in Deutschland und Europa weit hinter derEntwicklung in den USAzurück. Dass hier der Gipfel vonLissabon ein Zeichen gesetzt hat – auch auf Initiative derBundesregierung –, war dringend nötig.
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Günstige Zugangsmöglichkeiten zum Internet für alle undInternetzugänge für alle Schulen bis 2001: Das sindwichtige Ziele, die uns helfen werden, diesen dringendenNachholbedarf zu decken.
Die Ergebnisse von Lissabon bestätigen den Kurs derBundesregierung mit dem Sofortprogramm zur Deckungdes Bedarfs an IT-Fachkräften. Die Fehler derRegierung unter Kohl müssen wir jetzt aufarbeiten. Er-lauben Sie, dass ich dazu etwas ausführlichere Aus-führungen mache.Die Regierung Kohl hat jahrelang geschlafen. Wennman dann so unsanft geweckt wird, hat man erst einmalkeine Orientierung, weiß nicht, wo links und rechts, wooben und unten ist
und wie es weitergehen soll. Dieses Bild bieten Sie hier:Jeder sagt etwas anderes, und manche wissen gar nicht,wovon sie reden.
Wenn ich dann auch noch höre, dass Sie heute Abendim Fernsehen und heute Morgen in der Zeitung „DieWoche“ ein Interview Ihres AltfraktionsvorsitzendenSchäuble hören bzw. und lesen können, der von „krimi-nellen Energien“ in Ihrer Fraktion gesprochen hat, derdavon gesprochen hat, dass Beteiligte aus seiner Fraktionihn „umbringen“ wollten – wörtliches Zitat –, dann wun-dert mich das Durcheinander in diesem Verein ganz undgar nicht.
Das Durcheinander gilt übrigens auch – das sei nur einekurze Anmerkung, Herr Kollege Merz – für Äußerungenüber die Rente. Ich will Ihnen klar sagen: Man kann sichals Fraktionsvorsitzender am Anfang schon einmal ver-galoppieren. Auch mir ist das passiert; das will ich gernzugeben.
– Am Anfang. Aber, Herr Kollege Merz, wer den Leutensagt, sie sollen bis 70 arbeiten und ihnen dann auch nochsagt: „Du musst deine Rente versteuern“ der muss nunganz und gar nicht dicht sein. Das will ich Ihnen einmalehrlich sagen.
Zurück zu den IT-Fachkräften. Es ist völlig klar: Esfehlen in Deutschland 75 000 bis 100 000 Fachkräfte.Diese Zahl wächst jedes Jahr an. Lediglich 2 400 der cir-ca 30 000 arbeitslos gemeldeten Datenverarbeitungsfach-leute sind Informatiker mit Hochschulabschluss. Besten-falls ist in diesem Jahr mit 8 000 Hochschulabsolventenaus IT-Studieneinrichtungen zu rechnen. Gebraucht wer-den aber 30 000.Herr Kollege Merz, ich habe mir gedacht, dass Sie mitSicherheit über Hildesheim und Niedersachsen redenwerden. Das ist ja klar. – Sie müssen dann aber auch einbisschen bei der Wahrheit bleiben – nicht nur ein bisschen,eigentlich muss man immer bei der Wahrheit bleiben.
Nach einer Presseveröffentlichung des niedersächs-ischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur vom17. März 2000 beträgt die Zahl der Informatik Stu-dierenden im Wintersemester 1999/2000 5 700, davon60 Prozent an Universitäten und 40 Prozent an Fach-hochschulen; im Wintersemester 1995/1996 waren es5 168 – mit Hildesheim. Sie haben aber vergessen zu er-wähnen, Herr Kollege Merz, dass die niedersächsischeLandesregierung – die alte unter Schröder und die neueunter Gabriel – den Studiengang Informatik aus gutenGründen von den Universitäten an die Fachhochschulenverlagert hat.
Bei den Fachhochschulen gibt es eine Steigerung von127 Prozent. Das ist dann nämlich die Wahrheit, Herr Kol-lege Merz.
Kollege Struck,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von
Klaeden?
Bitte.
Herr KollegeStruck, ist Ihnen bekannt, dass das Oberverwaltungsge-richt Lüneburg in einer Entscheidung festgestellt hat, dassder Verwaltungsakt, mit dem die Studiengänge in Hildes-heim abgezogen worden sind, nichtig ist, weil es geradean sachlichenGründen – die Sie gerade angeführt haben –gefehlt hat? Deshalb sei es dazu gekommen, dass nochnicht einmal das nötige Ermessen ausgeübt worden sei. Siewissen selber, dass ein Verwaltungsakt rechtswidrig seinkann, dass aber der Grad der Rechtswidrigkeit besondershoch ist,
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Dr. Peter Struck9093
wenn ein Oberverwaltungsgericht dazu kommt, einensolchen Vorgang als nichtig zu bezeichnen.
Herr Kollege von Klaeden,ich weiß nicht, ob Sie Jurist sind, aber ich vermute es ein-mal.
– Na langsam, über Prädikatsexamen können wir reden,Herr Repnik. Ich weiß nicht, welches Sie haben. Damitkönnen wir schon einmal anfangen.
Ihnen müsste eigentlich klar sein, Herr von Klaeden,dass das Oberverwaltungsgericht nicht in der Sache gegendie Landesregierung entschieden hat, sondern wegen einesFormfehlers. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Dasmüssen wir festhalten.Zurück zu dem Thema IT-Fachkräfte. Die Verantwor-tung für diesen Mangel an IT-Fachkräften in Deutsch-land liegt bei der alten Regierung, sie liegt aber auch beider Wirtschaft. Das darf hier überhaupt nicht ver-schwiegen werden.
Es ist versäumt worden, junge Leute rechtzeitig gezieltzu fördern und auszubilden. Bereits zu Beginn der 90er-Jahre ist die Misere abzusehen gewesen. In der Wirtschafthat man darauf unzureichend reagiert. Ingenieurstellensind abgebaut, Forschungsaufträge sind ins Auslandvergeben und Ausbildung ist, wenn überhaupt, nur ofthalbherzig betrieben worden. Es gab auch Zeiten, in denendie Wirtschaft Studenten an Fachhochschulen und Uni-versitäten dringend davor warnte, ein Ingenieursstudiumzu beginnen.Viele haben zu spät begriffen, dass allein das Etikett„Made in Germany“ überhaupt nicht mehr ausreichenddafür ist, dass man innovativ und erfolgreich ist. Werjetzt den fehlenden Nachwuchs beklagt, obwohl er selbstnicht ausgebildet hat, hat selbst sehr kurzfristig gedacht.Dafür muss er sich auch deutlich kritisieren lassen.Auch wir hätten uns ein höheres Engagement derWirtschaft gewünscht. Als Politik müssen wir jetzt das inOrdnung bringen, was sie in der Vergangenheit versäumtund auch mit zu verantworten hat.
Die Krux in der Vergangenheit ist aber gewesen – dawende ich mich wieder dem Altbundeskanzler Kohl zu –,dass den Arbeitnehmern und auch der Wirtschaft dieOrientierung durch die Bundesregierung – eine Bundes-regierung, die ihren Zukunftsauftrag in Sachen Bildungund Forschung überhaupt nicht ernst genommen hat –,wohin denn die Reise gehen soll, gefehlt hat. Sie habenkeine langfristige Orientierung gegeben, Herr KollegeKohl.Die neue Regierung dagegen handelt. Das Bündnis für Ar-beit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit, die InitiativeD 21 und der EU-Gipfel in Lissabon belegen dies ein-drucksvoll.Da ich gerade bei Ihnen bin, Herr Kollege Kohl, fälltmir doch noch etwas ein. Als die neue Bundesregierung1998 ins Kanzleramt einzog, gab es in dieser Behördezwei – ich wiederhole: zwei, an Fingern: zwei – Laptops,ansonsten funktionierte die Kommunikation in der Be-hörde über Rohrpost.
Das muss man einmal sagen. Sie schütteln den Kopf, HerrAltkanzler, aber mit Rohrpost kann man heute nicht mehrviel werden. Die Bundesregierung arbeitet jetzt viel mo-derner.
Die Ausbildungsplätze im IT-Bereich werden auf 60 000erhöht, die Weiterbildungsmaßnahmen der Bundesanstaltfür Arbeit werden auf 40 000 gesteigert, und für das Pro-gramm zur Förderung von Bildungssoftware stehen400 Millionen DM bereit. Alle Schulen werden Internet-Anschlüsse erhalten, die notwendige Hardware an denSchulen wird bereitgestellt.Die Anzahl der Hochschulabsolventen im IT-Bereichwird gesteigert und zusätzlich – aber eben nur zusätzlich:nun komme ich auf das Thema Green Card zu sprechen –werden 10 000 Green Cards in diesem Jahr und 10 000 imnächsten Jahr im Bedarfsfall ausgegeben; die auf fünfJahre befristet sind. Dass man über die Bürokratie, diedamit vielleicht verbunden ist, noch reden muss, verstehtsich von selbst. Die Maßnahme ist aber absolut richtig.Das ist eine Lösung für ein akutes Problem – durch einebefristete Maßnahme und kombiniert mit strukturellenMaßnahmen. Es ist eine gute und wirksame Kombination.Ich höre aus den Reihen der Union in diesemZusammenhang, dass über Asylrecht und Verfassungsän-derung gefaselt wird. Hätte Herr Rüttgers als damaliger sogenannter Zukunftsminister seine Hausaufgaben gemacht,hätten wir dieses Problem heute nicht.
Herr Kollege Merz, glauben Sie eigentlich wirklich,dass Sie in Deutschland verantwortungsvoll Politikmachen können, wenn Sie die Wirtschaft, immerhin Ihrehemals wichtigster Verbündeter, in Sachen Steuerreformzu erpressen versuchen? Oder wenn Sie die Unternehmenjetzt bei dem Thema Green Card als Opportunistenbeschimpfen? So kann man vielleicht in der CDU etwaswerden, Herr Merz, aber ein Bündnis für Arbeit, an demGerhard Schröder intensiv arbeitet, würden Sie so über-haupt nicht hinkriegen. Das will ich Ihnen deutlich sagen.
Damit das allen klar ist, allen Zuhörerinnen, allenGästen auf den Tribünen und allen Fernsehzuschauern:
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2000
Eckart von Klaeden9094
Die politisch Hauptverantwortlichen für DeutschlandsMangel an Informationstechnologie-Fachkräften sindheute alle hier. Sie sitzen auf der rechten Seite dieses Hau-ses, auf den Oppositionsbänken.
Wer grob fahrlässig die Zukunft unseres Landes verpenntund aufs Spiel gesetzt hat, hat nicht das geringste Recht,eine Regierung zu kritisieren, die handelt, und das auchnoch mit einer unglaublichen Postkartenaktion.Fragen Sie doch einmal, Herr Merz, was Ihr Lands-mann Rüttgers eigentlich so den lieben, langen Tag alsZukunftsminister getrieben hat. Vielleicht kann Ihnen dader „Stern“ vom 23. März weiterhelfen. Ich zitiere:Es war ein schöner Tag, richtig zum Wohlfühlen, alsder Politiker sich auf seinem Chefsessel entspannteund gut gelaunt die Fragen des Mannes vom „Ham-burger Abendblatt“ beantwortete. Erstaunt blickteder Reporter auf den blank gefegten Schreibtischund fragte, ob man denn als Politiker keinen Com-puter brauche. Der Befragte antwortete: „Wahr-scheinlich bin ich mit 45 Jahren zu alt für einen Com-puter.“
Das war im Jahre 1997, und der Politiker hießJürgen Rüttgers. Sein Job: Zukunftsminister.
[SPD]: Und der will Ministerpräsident werdenim Hochtechnologieland!)Er war wohl nicht nur für den Computer zu alt, er konnteseinen Job einfach nicht machen. Zukunftstechnologienund Ausbildung hat er nicht gefördert. Ich will das an dreikurzen Beispielen deutlich machen.Von 1982 bis 1998 ist der Anteil der Ausgaben für Bil-dung und Forschung im Haushalt von 4,7 auf 3,2 Prozentzusammengestrichen worden. Beim Anteil der öffent-lichen Bildungsausgaben lag Deutschland unter Zu-kunftsminister Rüttgers auf dem letzten Platz in derOECD. Die Gesamtzahl der Ingenieurstudenten ist zwis-chen 1992 und 1998 um 23 Prozent zurückgegangen. HerrRüttgers hat damit nicht nur seine eigene innovativeZukunft verpennt,
sondern auch dazu beigetragen, dass unser Land in einemder wichtigsten und arbeitsplatzintensivsten Innovations-bereiche aus eigener Kraft nicht mehr in der Lage ist,weltweit mithalten zu können. Er und die alte Bun-desregierung Kohl tragen die Verantwortung.
Die Union sucht verzweifelt nach einem Ausweg, wiesie sich zu diesem Thema „Green Card“ stellen soll.
Wie kann man der eigenen Konzeptionslosigkeit und demSchatten der Vergangenheit entrinnen? Sie greifen bekann-te Rezepte aus der Mottenkiste auf: Mit polemischen undunsauberen Parolen wollen Sie Angst schüren und hoffendarauf, dass die Bevölkerung darauf hereinfällt.Auch hierzu muss man sich einfach einige Fakten vorAugen halten: Im Jahre 1997 wurden unter dem uns allenaus verschiedenen Anlässen gut bekannten InnenministerKanther über 450 000 Arbeitserlaubnisse für in Deutsch-land erstmalig beschäftigte ausländische Mitbürger aus-gestellt. Damals haben Sie nicht davon gesprochen, dassdies unseren Arbeitsmarkt kaputt macht. Aber jetzt, da esum die Arbeitserlaubnis für nur 10 000 IT-Spezialisten indiesem Jahr geht, schlagen Sie die populistische Alarm-glocke. Das ist unanständig, meine Damen und Herren.
Ich halte es da lieber mit dem früheren Chef derDeutschen Bank, Hilmar Kopper, einem Mann, der völligunverdächtig ist, uns nahe zu stehen. Er sagte bei der Kon-rad-Adenauer-Stiftung zu Jürgen Rüttgers´ Erzählungen:„Kompletter Müll!“
Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.Aber auch die eigentlich CDU-nahe Wirtschaft wirddeutlich: „Undurchdacht und erbärmlich populistisch“,sagt Arbeitgeberpräsident Hundt. „Deutschland kann sicheinen solchen Provinzialismus nicht leisten“, sagt BDI-Präsident Henkel. Ich könnte jetzt endlos aus dem disso-nanten Chor der Unionskollegen zitieren. Ich erspare Ih-nen das.
– Das habe ich die ganze Zeit gemacht, Herr Kollege. Siehaben überhaupt nicht aufgepasst.
Ich rede über IT-Technologie, über den Weg ins 21. Jahr-hundert. Herr Repnik, das ist Ihnen vielleicht ein bisschenfremd, aber ich habe wirklich darüber gesprochen.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Siemüssen sich jetzt entscheiden, wie Sie zu der Rüttgers-nummer stehen: Mal auf Distanz gehen, mal unterstützen,heute so, morgen so, das geht nicht. Frau Merkel – nun istsie leider nicht mehr da –, das ist nicht die Klarheit, die SieIhrer Basis versprochen haben.
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2000
Dr. Peter Struck9095
Viele in der Union haben – wie man sieht – bis heutenicht kapiert, worum es eigentlich geht. Es geht nicht umAsylbewerber und es geht auch nicht um die Einwan-derung von Ausländern. Es geht lediglich um eine kleineGruppe von hoch bezahlten Spitzenkräften, die lieber inunserem Land als in den USA oder anderswo ihre Ideenverwirklichen sollten und die uns helfen sollten.
Auch die CDU/CSU muss doch irgendwann einmalkapieren, dass hier ein Standortproblem gelöst wird unddass alle von ihr aufgeworfenen Parolen mit diesem Pro-blem überhaupt nichts zu tun haben.Das Pikante an der Angelegenheit Rüttgers ist übrigens,dass seine Postkartenaktion natürlich auch über Com-puter abgewickelt werden muss. Nun will ich dem HohenHause nicht vorenthalten, dass Herr Rüttgers, während erdagegen polemisiert, dass ausländische Computerexpertenden Deutschen Arbeit wegnehmen, für seine Kampagneindische – ich wiederhole: indische! – Hilfe braucht. Dennfür die Auswertung der Postkartenaktion bedient er sicheiner Datenbank, die von einem Inder namens UmangGupta aus Bangalore entwickelt worden ist.
– So viel, meine Damen und Herren, zum Thema Glaub-würdigkeit. Das zeigt, wohin bei Ihnen die Reise geht.Demgegenüber geht die Reise so, wie wir sie gestaltenwollen, in die richtige Richtung. Die Bundesregierung hatdie Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion auf demweiteren Weg nach Europa.
Ich erteile dem Kol-
legen Helmut Haussmann, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bun-deskanzler hat in Lissabon einer Erklärung zugestimmt,in der es heißt, Europa solle sich zu einem der modernsten,dynamischsten Räume des Wissens und Fortschritts ent-wickeln und sogar zum stärksten Wirtschaftsraum derWelt werden.Die heutige Diskussion über einen europäischen Gipfelist eigentlich die erste, in der zu den großen Krisen in Eu-ropa kein Wort gesagt wurde:
Wir haben einen angeschlagenen EU-Präsidenten Prodi,der seinerzeit von Herrn Schröder in Berlin als „Wunder-waffe“ gepriesen wurde, wir haben nach wie vor keinenBeitrittstermin für die Osterweiterung, wir haben Still-stand bei den wichtigen institutionellen Reformen und esfiel hier kein Wort über das skandalöse Verhaltengegenüber Österreich. Demgegenüber streiten wir heuteüber Green Cards und Inder. Ich kann mir richtigvorstellen, wie diese Diskussion die Vereinigten Staatenvon Amerika im Hinblick auf die zukünftige Wettbewerbs-situation beeindruckt.Wer sich mit den Vereinigten Staaten von Amerikamessen will, der muss drei Voraussetzungen erfüllen: Er-stens muss er sich auch in Deutschland zu einer modernen,flexiblen, internetgestützten, dynamischen – Sie könnenauch sagen: liberalen – Wirtschaft bekennen. Deshalb bitteich die Grünen und die SPD, bei dem Begriff „liberal“ ide-ologisch abzurüsten. In allen wirtschaftswissenschaft-lichen Diskussionen ist „liberal“ der Sinnbegriff für offen,wettbewerbsfähig, innovativ und dynamisch.
Sie sollten also einmal Ihr Verhältnis zum Begriff „libe-ral“ klären.Zweitens brauchen wir eine starke europäischeWährung, die wir im Moment nicht haben. Drittensbrauchen wir ein vereinigtes Europa; damit meine ichkeine Vereinigten Staaten von Europa. Die VereinigtenStaaten von Amerika nehmen nur ein Europa ernst, dassich vereinigt hat. Ein solches vereinigtes Europa umfasstnicht nur Westeuropa, sondern das gesamte Europa.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit dem er-sten Punkt, der neuen Wissensgesellschaft, beginnen.Hier kann man sich sicherlich an Herrn Rüttgers reiben. Esist ja interessant, dass Präsident Clinton in Neu-Delhi aneinem amerikanisch-indischen Gipfel mit dem Thema „In-dien – USA: eine Vision für das 21. Jahrhundert“ teilge-nommen hat, während zugleich der frühere Zukunftsmini-ster den auch aus meiner Sicht unsäglichen Slogan„Kinder statt Inder“ geprägt hat. Angesichts der globali-sierten Wirtschaft brauchen wir in Deutschland beides: gutausgebildete Kinder und hervorragende internationaleWissenschaftler und Fachleute.
Nur kann der jetzt von Herrn Riester vorgelegte „An-werbestoppausnahmeverordnungsentwurf“ auch nicht dieWunderwaffe sein. Dieses Wort ist zunächst einmal garnicht ins Englische übertragbar. Das ist vielleicht auchbesser, weil sonst der Abschreckungscharakter fürSpezialisten noch stärker zum Ausdruck käme, meineDamen und Herren.
Es ist falsch – das ist typisch sozialdemokratisch-grün –, dass die Voraussetzung für eine Zulassung inDeutschland nicht die bisherige berufliche Leistung ist,sondern Zeugnisse sind.
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Dr. Peter Struck9096
Es ist falsch, dass der Familiennachzug und vor allem dieBerufstätigkeit der Frau nicht geregelt ist. Es ist falsch,dass die Frage der Selbstständigkeit nicht geklärt ist;
denn viele werden als Arbeitnehmer bei Firmen, zumBeispiel bei SAP in Baden-Württemberg oder anderen, be-ginnen und werden sich dann, was wir sehr wünschen,selbstständig machen. Es ist falsch, dass die Personen nachdrei Jahren zurückkehren müssen und dass nur in einemerneuten Prüfungsverfahren über eine Verlängerungentschieden werden kann.
In den USA dagegen besteht bei der Green Card vonAnfang an die Perspektive, dort auf Dauer arbeiten undleben zu können, und zwar einschließlich der Familie. Nurdiese Perspektive wird hervorragend qualifizierte Men-schen nach Deutschland ziehen.Wenn Sie mit den Fachleuten reden, dann bekommenSie von ihnen als Reihenfolge der bevorzugten Ländergenannt: USA, Kanada, Australien, Singapur, Nieder-lande, andere Länder und unter ferner liefen Deutschland.Es kommt nämlich nicht nur auf ein neues Gesetz an, auchdas gesellschaftliche Klima ist für kreative Menschenwichtig. Ohne mehr Liberalität, ohne mehr Toleranzgegenüber anderen, ohne mehr Offenheit, ohne Anerken-nung von Leistungen in einer Gesellschaft, die nach wievor von Neid und Wettbewerbsschwäche geprägt ist, wer-den Sie die besten Leute der Welt nicht in Deutschland ver-sammeln können.Auf Dauer wird es nicht möglich sein, das Thema ohneein Einwanderungsbegrenzungsgesetz,wie es die F.D.P.vorgelegt hat, zu regeln.
Wie soll ich der mittelständischen Maschinenbauindustriein meinem Wahlkreis, die ebenfalls einen Mangel anFachkräften – allerdings nicht im IT-, sondern imSteuerungsbereich, im Maschinenbau – zu verzeichnenhat, erklären, warum sie sich keiner Kräfte aus dem Aus-land bedienen darf? Warum darf das nur eine Branche, dieglänzt und die beim Bundeskanzler zu Tische sitzt? Ichglaube, dass es auf Dauer rechtlich nicht gehen wird, be-stimmte Branchen auszuschließen. Früher oder späterwerden Sie beim Gesetzentwurf der F.D.P. landen. Siebrauchen ein Einwanderungssteuerungsgesetz. Das ist fürdie Wirtschaft von entscheidender Bedeutung.
Zweitens. Herr Bundeskanzler, wer global mit den USAgleichziehen will, dem darf der Außenwert der europäi-schen Währung nicht gleichgültig sein. Der Innenwert desEuro ist nach wie vor stabil, was für die Sparer und für die„kleinen Leute“ sehr wichtig ist. Wir haben die gleicheGeldentwertung wie unter D-Mark-Bedingungen. AlleDiskussionen in Amerika zeigen allerdings, dass sich der-jenige, der langfristig eine zweite Leitwährung, eine Re-servewährung bilden will, entschiedener um den Au-ßenkurs des Euro kümmern muss. Seit Einführung des Eu-ro hat dieser gegenüber dem Dollar 19 Prozent an Wertverloren und gegenüber dem Yen sogar 23 Prozent. Nurder Vergleich „Die USAsind dynamisch – wir nicht“ ziehtalso nicht. Der Euro ist weltweit auch gegenüber dem Yennach wie vor eine Schwachwährung.Die Euroschwäche ist die Quittung der Märkte für un-terlassene liberale Reformen in Kontinentaleuropa. Dassüße Gift einer geduldeten Weichwährung wirkt auf Daueräußerst negativ auf unsere Wirtschaft und besonders aufden Mittelstand.
Eine Weichwährung spiegelt mangelnde Wettbewerbs-fähigkeit vor. Unter derzeitigen Bedingungen sind dieUSA trotz hartem Dollar noch wettbewerbsfähiger. Dortgibt es Vollbeschäftigung. Es gibt dort nicht einenBeschäftigungszuwachs von 20 000 Stellen pro Jahr, son-dern einen durchschnittlichen Zuwachs von 250 000 neuenArbeitsplätzen pro Monat. Diese Entwicklung findetschon im achten Jahr statt. Das heißt, mit der amerikani-schen Wirtschaftsdynamik wäre die Arbeitslosigkeit inDeutschland in sechs Jahren beseitigt. Im letzten Quartalgab es in den USA ein Wirtschaftwachstum von7,3 Prozent.Eine weitere Gefahr einer weichen Währung ist, dasssich auf Dauer die importierte Inflation entwickelt. Dannmüsste die Europäische Zentralbank die Zinsen erhöhen.Letztlich müssten wieder der Mittelstand und die Sparerdie Zeche bezahlen.Die Euroschwäche ist meines Erachtens in Wirklichkeitdas Ergebnis eines Systemvergleiches. Auf der einen Seitesteht das angelsächsische, flexible, offene, man kannsagen: liberale Wirtschafts- und Gesellschaftssystem.Dem gegenüber steht das mehr bürokratische, kontinen-taleuropäische und wenig flexible Wirtschaftssystem.Bevor Sie sich nicht im Steuer-, Arbeits- und Tarifrechtzu echten Reformen entschließen, werden wir den Euroauf Dauer nicht härter bekommen.
Das ist auf Dauer, insbesondere für die „kleinen Men-schen“, von größtem Nachteil.Der dritte für ein wirtschaftliches Kräftemessen mit denVereinigten Staaten wichtige Punkt ist die kontinentale Or-ganisation Europas. Allein Westeuropa ist auf Dauer zuklein. Deshalb kommt der Osterweiterung auch unterglobalen Gesichtspunkten eine enorme Bedeutung zu. DieOsterweiterung ist im besten Sinne Sicherheitspolitik fürganz Europa. Sie liegt im strategischen Interesse unseresLandes. Die Liberalen werden nicht ruhen, die Ost-erweiterung pünktlich einzufordern.
Es war die Regierung Brandt/Scheel, die im Jahre 1973die Ostverträge gegen den Widerstand der Uniondurchgesetzt hat. Die Ostverträge waren der Anfang derÖffnung und zugleich das Ende des „Eisernen Vorhangs“.Die Regierung Kohl/Genscher hat die Zwei-plus-Vier-
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Dr. Helmut Haussmann9097
Verträge und den Maastricht-Vertrag ohne Verzögerungratifiziert und den Euro pünktlich eingeführt. Unter derRegierung Kohl/Kinkel ist die Erweiterung um Österreich,Finnland und Schweden im Jahre 1995 exakt zum voraus-gesagten Zeitpunkt durchgeführt worden. Deshalb werdenSie in Osteuropa auch intern keine Stabilität erreichen,wenn Sie sich nicht entscheiden, einen Termin zu nennen.
Vor kurzem hat uns der frühere MinisterpräsidentMazowiecki besucht, der heute Vorsitzender des Auswär-tigen Ausschusses in Warschau ist. Er ist zutiefst von derZögerlichkeit der jetzigen Bundesregierung enttäuscht.
Die Agenda 2000 reicht nicht aus und die Agrarpolitikstockt. Wir haben eine Koalition der Verzögerer. Die Bun-desrepublik als wichtigstes Land in Europa unternimmtkeine entscheidenden Initiativen, um die Voraussetzungenfür die Osterweiterung zu schaffen. Wir haben das vorkurzem im Europaausschuss erlebt: Der Außenministerkann nicht anwesend sein. Er setzt sich gegenüber demAgrarminister nicht durch. Es gibt keinen Beschluss überMehrheitsentscheidungen. Es gibt keine deutsch-franzö-sische Initiative für institutionelle Reformen.
Mein Gefühl ist – ich sage das sehr offen –, dass sowohlHerr Schröder als auch Herr Stoiber aus wahlkampftakti-schen Gründen keine pünktliche Osterweiterung wün-schen, weil eine solche genau mit den nationalendeutschen und französischen Wahlen zusammenfallenwürde. Das ist der Unterschied zur früheren RegierungKohl/Kinkel.
Die Euro-Einführung im Wahljahr war ein äußerstschwieriges Thema. Aber Osterweiterung und europäischeWährung sind Fragen der politischen Überzeugung derEliten. Auch wenn man anfänglich Widerstand spürt, mussman auf Dauer führen und sich durchsetzen. Diese Durch-setzungsfähigkeit vermisse ich bei der jetzigen Bun-desregierung.
Letztlich wird sich Europa weltweit dauerhaft nicht alsWirtschaftsgroßmacht mit Gemeinsamer Währung be-haupten können. Europa braucht die politische und kul-turelle Dimension. Die politische Union mit einerGemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist auf demWege. Allerdings wird uns der jetzige Verteidigungs-beitrag der Bundesregierung dem Ziel einer ernsthaftenVerteidigungs- und Sicherheitspolitik nicht näher bringen.Europa braucht auch einen einheitlichen Raum fürRecht und Freiheit. Jetzt geht es um eine europäischeGrundrechtscharta als erstem Schritt zu einer Verfas-sung für Europäer.Letztlich wird die Zustimmung zu Europa dannzunehmen, wenn wir die Menschen politisch davon über-zeugen, dass europäische Lösungen die wirkliche Antwortsind, um mit der Globalisierung fertig zu werden. DerNationalstaat allein kann es nicht schaffen.Die F.D.P. wird jede Initiative zu einer pünktlichen Ost-erweiterung, zu schnellen institutionellen Reformen undzur raschen Einführung einer Grundrechtscharta unter-stützen. Hier gibt es und bleibt es bei Gemeinsamkeiten.Die Bundesregierung muss aber als wichtigstes, alsgrößtes Land in Europa eine Führungsrolle übernehmenund darf sich nicht hinter anderen Staaten verstecken.Vielen Dank.
Ich erteile der Kolle-gin Kerstin Müller, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! JederMensch muss Zugang zu den neuen Medien bekommen.Jeder Mensch muss die Chance haben, die neue Kultur-technik, den Umgang mit Computern und Internet zu ler-nen. Das haben die Regierungen der EU erkannt. Und siehaben sich mit der Erklärung von Lissabon vorge-nommen, die Entwicklungschancen, die in der Informati-onstechnologie liegen, die Chancen für Ausbildung undBeschäftigung, die Chancen für Forschung und Innovati-on endlich zu nutzen. Das, meine Damen und Herren, istnachdrücklich zu unterstützen.
Denn viele Länder Europas haben in den letzten zehnJahren den Anschluss an diese wirtschaftlichen und tech-nologischen Entwicklungen verpasst. Das gilt leider auchfür Deutschland.Mit dem Regierungswechsel haben wir auf vielenFeldern angefangen umzusteuern. Wir haben mit demWirtschaften auf Kosten zukünftiger Generationen endlichSchluss gemacht, indem wir eine nachhaltige Haushalt-spolitik eingeleitet haben. Wir haben eine Steuerreformauf den Weg gebracht, mit der wir systematisch die Nach-frage stärken: durch eine Entlastung der kleinen und mit-tleren Einkommen und vor allem durch eine massive Ent-lastung der Familien. Wir haben gleichzeitig durch einedeutliche Entlastung des Mittelstandes die Angebotsbe-dingungen verbessert. Wir werden diesen Kurs konse-quent fortsetzen.Wir verbinden die soziale und ökologische Erneuerungmit wirtschaftlichen Reformen. Das führt auch zu Erfol-gen bei der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. Ichhalte es für einen Erfolg, wenn wir heute, also im März2000, immerhin fast eine halbe Million weniger Arbeits-lose haben als im März der Kohl-Regierung 1998.
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Dr. Helmut Haussmann9098
Darauf können wir uns nicht ausruhen. Das ist völlig klar.Es ist aber ein wichtiger Schritt nach vorn. Die Ergebnissedes EU-Gipfels von Lissabon fügen sich in diese Politiknahtlos ein.Wir sind auf dem Weg in die so genannte Informa-tionsgesellschaft. Wir haben aber bisher in Deutschlandnoch nicht die notwendigen Konsequenzen gezogen. Dasheißt vor allem: deutlich mehr Investitionen in Bildung.Das ist sowohl eine Frage sozialer Verantwortung als auchVoraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg unsererGesellschaft.Dabei geht es nicht nur um die Frage, ob ich möglichstschnell im Netz drin bin, sondern auch darum: Was istsinnvoll und was nicht? Welche Informationen braucheich, welche nicht? Es geht um den mündigen Umgang mitden neuen Medien, den wir und die Schülerinnen undSchüler erlernen müssen.
Es geht um qualifizierte und ausreichende berufliche Bil-dung.Genau diese Herausforderungen, diese neuen Entwick-lungen, meine Damen und Herren von der Opposition,haben Sie in Ihrer Regierungszeit völlig verschlafen.
Sie haben den Anteil von Bildung, Wissenschaft undForschung am Bundeshaushalt um über 30 Prozent herun-tergewirtschaftet. Allein in der letzten Legislaturperiodeunter dem Zukunftsminister Rüttgers sind die Bil-dungsausgaben um fast eine halbe Milliarde DM zusam-mengestrichen worden. Da kann man nur sagen: Die alteRegierung, vor allem der Zukunftsminister, hat die Zu-kunftschancen der jungen Menschen nicht gesichert, son-dern vertan.
Herr Rüttgers, der behauptet, dass er für diesen Bereichgar nicht zuständig gewesen sei, war als Bildungsministerbis 1998 gerade für die Berufsbildung zuständig. Er hatden Bedarf an Fachkräften auch in der IT-Branche totalverschlafen.So liegt Deutschland – Herr Merz, weil Sie es ange-sprochen haben – bei den Privatanschlüssen an das Inter-net in Europa auf dem 9. Platz. Ich frage mich: Wie konn-te das passieren? Wie konnte aus 80 Millionen Deutschenein Volk ohne Anschluss werden? Wie konnte es passieren,dass ausgerechnet wir gerade einmal 6 Prozent unseresBruttoinlandprodukts in diesen Zukunftsbereich in-vestieren? Damit liegen wir laut OECD auf dem 29. Platz.Die Antwort darauf ist einfach: Unter Kohl undRüttgers hat Deutschland digital stillgestanden. Deutsch-land war offline.
– Ich würde über diesen Punkt nicht lachen. Ich halte dasfür absolut entscheidend.Ausgerechnet Herr Rüttgers, der für diese Misere ver-antwortlich ist, polemisiert jetzt mit dumpfen Parolen wie„Kinder statt Inder“ gegen die Green-Card-Initiative.Der Grund dafür ist ziemlich schlicht: Sie wollen mitdieser schäbigen Kampagne einfach nur von Ihren eigenenVersäumnissen ablenken,
indem Sie wieder einmal – Herr Koch aus Hessen lässt dagrüßen – Wahlkampf auf Kosten von Ausländern machen.Das ist nicht nur peinlich, das ist wirklich verantwor-tungslos.
Meine Damen und Herren von der CDU, Deutschlandkann sich einen solchen Provinzialismus nicht leisten.Diese Aussage stammt nicht von uns, sondern das sagtekein anderer als der BDI-Vorsitzende Hans-Olaf Henkel.Kollege Struck hat das heute schon erwähnt.
Erwin Staudt von IBM Deutschland sagte:Was Rüttgers macht, ist die unnötigste Aktion, seitder römische Kaiser Caligula sein Pferd zum Konsulernannt hat.Auch das ist ein schöner Spruch.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Kampagne ist undurchdacht und erbärmlich po-pulistisch.Eigentlich könnte ich uns ja nur gratulieren, denn Siehaben fast die gesamte Wirtschaft gegen die CDU aufge-bracht. An sich könnte uns das ja recht sein, nur leiderbeschädigen Sie nicht nur den Ruf der CDU, sondern auchden Ruf Deutschlands im Ausland.
Das ist das Problem. Wenn nämlich die einflussreiche in-dische Zeitung „Asian Age“ titelt „Der deutsche Haidernimmt IT-Spezialisten aus Indien aufs Korn“, dann heißtdas doch, dass die Kampagne nicht nur erbärmlich frem-denfeindlich ist, sondern Herr Rüttgers inzwischen auchschon zum Standortrisiko für unser Land geworden ist.
Das merken auch die Menschen; Sie werden das am14. Mai bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalenerleben, meine Damen und Herren von der CDU; da binich mir ziemlich sicher.
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Kerstin Müller9099
Ich will natürlich nicht verschweigen, dass auch dieWirtschaft ein gerütteltes Maß an Verantwortung für diederzeitigen Probleme hat. Natürlich ist eine Ursache diemangelnde Ausbildung von Fachkräften. Natürlich hat dieZurückhaltung bei der Einstellung durch die Unternehmenden Rückgang bei den Studienanfängern in der Informatikverursacht. 1994 waren es nur noch knapp 4 000. Undgenau diese schwachen Jahrgänge verlassen jetzt dieHochschulen.Aber umso wichtiger ist es doch jetzt, durch einegemeinsame Anstrengung den Rückstand in Europa undim globalen Wettbewerb so schnell wie möglich aufzu-holen. Die Wirtschaft hat insgesamt bis 2003 60 000 neueAusbildungsplätze im IT-Bereich zugesagt. Wir redennicht nur, wir investieren in Bildung und sorgen für mehrAusbildung: Wir haben 1Milliarde DM zusätzlich für Bil-dung, Wissenschaft und Forschung zur Verfügung gestellt.Bei uns steigt der Anteil der Bildungsausgaben amGesamthaushalt endlich wieder.1999 haben wieder weit mehr als 10 000 junge Men-schen mit dem Informatikstudium begonnen. Die Bundes-anstalt für Arbeit erhält nochmals 200 Millionen DMzusätzlich, insgesamt stehen 1,2Milliarden DM für Quali-fizierungsmaßnahmen im IT-Bereich zur Verfügung. Bis2001 sollen alle Schulen in der Europäischen Union amNetz hängen. Aber all das ist eben – das ist das Problem –noch keine Lösung, um den kurzfristigen Bedarf von rund70 000 Fachkräften sowie den bis 2003 auf 250 000 Fach-kräfte ansteigenden Bedarf zu decken. Deshalb – das sageich für meine Fraktion sehr klar – begrüßen wir ausdrück-lich die Initiative des Bundeskanzlers, durch eine un-bürokratische Green Card zunächst einmal die Zuwan-derung von IT-Fachkräften zu erleichtern.
Aber lassen Sie mich auch das ganz klar und deutlichan dieser Stelle sagen: Wir wollen ein wirklich attraktivesAngebot an die hoch qualifizierten Fachkräfte. Wir wollenwirklich eine unbürokratische Lösung. Sonst werden wirnämlich erleben, dass die Menschen nicht kommen, weilsie in anderen Ländern, zum Beispiel in den USA, bessereAngebote bekommen. Dort bekommt nämlich auch derPartner eine Arbeitserlaubnis, dort kann man sich selbst-ständig machen und dort gibt es eine langfristigeLebensperspektive, weil man nicht schon nach drei Jahrenwieder in die bürokratischen Mühlen gerät. Deshalb, HerrBundeskanzler, machen Sie Nägel mit Köpfen! SorgenSie dafür, dass aus der Green Card keine Red Card wird.Unsere Unterstützung dafür haben Sie.
Die Entwicklung der Informationstechnologie, die Ent-wicklung zu einer Wissens- und Informationsge-sellschaft, die im Mittelpunkt des EU-Gipfels vonLissabon stand, ist keine leichte Aufgabe, sondern für alleLänder eine große Herausforderung. Die Regierungen derEuropäischen Union haben sich dieser Herausforderungnicht nur mit der Erklärung von Lissabon gestellt. Das istgut so; denn, meine Damen und Herren von CDU undCSU, Globalisierung heißt doch nicht: freier Handel,freier Warenverkehr in aller Welt, wir Deutschen fahren,wohin wir wollen,
aber für Menschen aus anderen Ländern machen wir dieSchotten dicht. Globalisierung und nationale Borniertheitvertragen sich nun einmal nicht.
Deutsche Unternehmen, die weltweit agieren, sind aufmultinationale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ange-wiesen, sonst können sie auf Dauer nicht mithalten. Glo-balisierung muss eben auch heißen: Deutsche Studierendelernen im Ausland, junge Menschen aus der ganzen Weltstudieren an deutschen Hochschulen.
Das muss eben auch heißen: Deutsche Fachkräfte arbei-ten im Ausland; dafür kommen Fachleute aus anderenLändern zu uns.
Sicher ist es so: Globalisierung löst bei vielen Men-schen auch Ängste aus. Doch ich bin fest davon überzeugt:Wir werden die Herausforderungen nicht bewältigen,wenn wir die Ängste der Menschen für Wahlkämpfe miss-brauchen und ansonsten den Kopf in den Sand stecken.
Wir müssen die Globalisierung sozial und ökologischgestalten. Wir müssen den Menschen die Chancen deutlichmachen, die darin stecken. Jede IT-Fachfrau, jeder IT-Fachmann, der jetzt nach Deutschland kommt, schafftauch für uns neue Perspektiven, schafft neue Arbeits-plätze, neue Ausbildungsplätze, auch für die Menschen inDeutschland. Aber jede Firma, die ins Ausland geht, weilsie eben hier keine Entwicklungschancen mehr hat, nimmtihre Arbeits- und Ausbildungsplätze mit.Deshalb sage ich für meine Fraktion sehr klar: Die Bun-desrepublik ist gerade vor dem Hintergrund der Globali-sierung ein Einwanderungsland. Aus diesem Grundesind wir der Meinung: Wir können uns auf Dauer einerDebatte um die Gestaltung der Einwanderung nicht ver-schließen. Ich bin überzeugt: Mittelfristig brauchen wir einEinwanderungsgesetz, das die Zuwanderung planvollsteuert.
Aber Ihnen, Herr Merz, fällt dazu wieder einmal nureines ein: Einwanderung ja, aber Sie wollen dann gleichdas Asylrecht abschaffen. Herr Merz, ich weiß, aller An-fang ist schwer. Aber ich finde, dieser Missgriff ist umkeinen Deut besser als die fremdenfeindlichen Parolen desKollegen Rüttgers.
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Kerstin Müller9100
Sie verabschieden sich damit von der gemeinsamen eu-ropäischen Flüchtlingspolitik und auch von der GenferFlüchtlingskonvention. Sie wollen demnächst also wirk-lich sagen: Tut mir Leid, lieber Flüchtling, wenn Sie ver-folgt werden, wenn Sie gefoltert wurden, aber wir habenin diesem Jahr leider schon 100 000 Computerspezialistenins Land gelassen, da können nicht auch Sie noch hinein.– Das kann ich mir kaum vorstellen. Wenn Sie das wirk-lich wollen, dann sollten Sie besser nicht mehr über die EUals Wertegemeinschaft reden.
Aber dass Sie mit der EU als WertegemeinschaftProbleme haben, haben Sie meines Erachtens schon inIhrer Bemerkung über einen möglichen Türkei-Beitrittund über die EU als Religionsgemeinschaft gezeigt. Daswiderspricht diametral dem Grundkonsens der Europäi-schen Union. Die EU ist keine Religionsgemeinschaft.Die EU ist eben eine Wertegemeinschaft.
– Eben! Das heißt,
wir stehen gemeinsam für Demokratie, für Rechtsstaat-lichkeit und für die Wahrung der Menschenrechte ein. Wirstehen für den Schutz der Verfolgten ein, so wie dies aufdem Gipfel in Tampere vereinbart worden ist. Diese Wertesind die gemeinsame Grundlage, nicht irgendwelche Re-ligionszugehörigkeiten.
Nur auf dieser Grundlage wird der Gipfel von Lissabonmit seiner vereinbarten Strategie zum gemeinsamen Auf-bau einer europäischen Wissens- und Informationsge-sellschaft, für eine aktive Beschäftigungspolitik und fürReformen zum Erhalt und eben nicht zum Abbau desSozialstaates auf Dauer erfolgreich sein. Nur auf dieserGrundlage kann es auch eine Gemeinsame Außen- undSicherheitspolitik in Europa geben.Herr Merz und Frau Merkel – Frau Merkel ist leidernicht mehr anwesend –, die neue CDU sollte sicherlichmanches anders machen als in den Jahren unter HelmutKohl. Dieser Meinung sind auch wir. Wenn es aber einesgibt, was Sie bewahren sollten, dann ist es die Absage anNationalismus und die klare Orientierung auf eindemokratisches und rechtsstaatliches Europa. Wir jeden-falls werden diesen Weg konsequent gehen.Danke schön.
Es spricht nun
die Abgeordnete Dr. Knake-Werner, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lissabon, gern als In-ternetgipfel gefeiert und als zukunftsfähiger Weg in dieWissensgesellschaft gelobt, erweist sich, wenn man genauhinschaut – wir von der PDS haben das getan –, als Gip-fel der Deregulierung.Der Verzicht auf soziale und öko-logische Gestaltung hat sich leider durchgesetzt.
Statt der vielversprechenden Ankündigung eines Eu-ropas der Beschäftigung und des sozialen Zusammen-haltes – darauf warten die Menschen, die ohne Arbeit sindund unter sozialer Ausgrenzung leiden – droht ein Europader Börse, der Finanzmärkte und einer undifferenziertenHigh-Tech-Euphorie. Lieber Kollege Struck, es ist wohlso, dass sich die Konservativen in Lissabon durchgesetzthaben, leider Hand in Hand mit unserem BundeskanzlerSchröder und Tony Blair.
Natürlich ist es gut, dass endlich wieder einmal der Be-griff Vollbeschäftigung in der europäischen Debatte auf-taucht. Es muss der Bundesregierung aber schon zudenken geben, dass ausgerechnet Portugal es schafft,diesen Begriff wieder in die Diskussion zu bringen.
Wie soll denn diese Vollbeschäftigung aussehen? Gehtes tatsächlich um existenzsichernde Arbeit für alle mitsozialen und tariflichen Schutz- und Mitbestim-mungsrechten? Oder geht es vielleicht doch eher umVollbeschäftigung um jeden Preis, ohne jeden sozialenund emanzipatorischen Anspruch? Wenn Sie von Chan-cengleichheit reden, muss ich fragen: Sollte es jetzt nichtendlich zu einer gerechten Aufteilung von bezahlter undunbezahlter Arbeit zwischen Männern und Frauen kom-men? Ich fürchte, das wird nicht geschehen. Ich fürchte,Sie, Herr Bundeskanzler, bauen ein Europa für hochquali-fizierte und gut bezahlte Eliten und ein Europa der Mini-jobs für die große Masse. Dieses Europa wollen wir nicht.
Mit den Beschlüssen von Lissabon ist man endgültig dazuübergegangen, die Beschäftigungspolitik sowie die Wett-bewerbs- und Technologiepolitik in eins zu setzen.Die Europäische Union will an die Weltspitze. Das wardoch die zentrale Botschaft von Lissabon. Deshalb geht esim Abschlussdokument vor allem um die Steigerung derökonomischen Wettbewerbsfähigkeit, um den Sieg imStandortkrieg und um ehrgeizige Wachstumsraten, diedann aber wieder so bescheiden sind, dass durch sie die20 Millionen neuen Arbeitsplätze, die nötig sind, ganz si-cher nicht geschaffen werden können.Letztlich hat sich in Lissabon der fatale Irrtum durchge-setzt, dass ausgerechnet die größten Jobkiller der vergan-genen beiden Jahrzehnte die sicherste Gewähr bieten, inder Europäischen Union mit der Arbeitslosigkeit fertig zuwerden. Das Gegenteil ist doch der Fall: Dem Einsatzneuer Technologien und der Erhöhung der Wettbewerbs-fähigkeit fallen nach wie vor die meisten Arbeitsplätzezum Opfer. Bis heute kommen auf jeden Arbeitsplatz inder IT-Branche zwei bis drei Beschäftigte, die in der übri-gen Wirtschaft ihren Arbeitsplatz verlieren.
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Kerstin Müller9101
Was bedeutet die Erhöhung der Wettbewerbs-fähigkeit unter den Bedingungen begrenzter Märkte an-deres, als die Beschäftigtenzahl zu verringern? Wenn esimmer noch so ist, dass die Aktienwerte dann am meistensteigen, wenn Massenentlassungen angekündigt werden,dann wissen wir doch, was die größere Wettbewerbs-fähigkeit in Bezug auf Arbeitsplätze heißt. Kein Unter-nehmen geht heute an die Börse, ohne zuvor einen rigidenBeschäftigungsabbau zu verkünden.Man muss doch gerade im Hinblick auf die Bundesre-publik die Frage stellen, wieso ausgerechnet das Land mitdem größten Exportüberschuss und folglich offensichtlichmit den besten Wettbewerbspositionen auf den Welt-märkten gleichzeitig die geringsten Fortschritte bei derSchaffung neuer Arbeitsplätze aufweist. In Ostdeutsch-land – das räumen Sie freundlicherweise ein – haben Siein dieser Frage komplett versagt.
Wettbewerbsfähigkeit ist zu einem Fetisch geworden,dem alle sozialen, humanen und ökologischen Ziele undnicht nur die Sicherung der Beschäftigung untergeordnetwerden und wo zudem völlig ausgeblendet wird, mit wel-chen gesellschaftlichen Kosten das Anheizen der Stand-ortkonkurrenz verbunden ist. Ihr werden nicht nurArbeitsplätze geopfert, sondern durch Steuersenkungspro-gramme werden der öffentlichen Hand genau die Mittelentzogen, die für eine zukunftsfähige Entwicklung hierund anderswo in Europa notwendig sind.
Es fehlt dann eben das Geld für den Ausbau des Bil-dungswesens oder der Wissenschaftsentwicklung und derPflege sozialer Strukturen. Woher soll zum Beispiel der inLissabon geforderte soziale Zusammenhalt der Gesell-schaft kommen, wenn nicht aus öffentlichen Investitionen,durch öffentlich geförderte Arbeitsplätze und zusätzlicheAnstrengungen in einer öffentlichen Daseinsvorsorge, diesich wirklich dem Ziel widmet, die soziale Ausgrenzungzu bekämpfen, wie es offensichtlich nicht nur die PDSwill?Es ist sicher verdienstvoll, wenn in Lissabon zurÜberwindung des Analphabetismus aufgerufen wird. Im-merhin gibt es selbst in der angeblichen Wissensge-sellschaft Bundesrepublik drei bis vier Millionen Men-schen, die weder lesen noch schreiben können. Aber hierwie in allen anderen Punkten, die nicht unmittelbar zurtechnologischen und ökonomischen Weltspitze führen,fehlt es an konkreten Maßnahmen und vor allem an derschlichten Einsicht, dass die viel beschworenen Investi-tionen in die Menschen ohne Verbesserung der öf-fentlichen Einnahmen wohl kaum zu bewerkstelligen sind.Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von derRegierungskoalition, machen da genau das Gegenteil.Was zum Beispiel nutzt eine Selbstverpflichtung, biszum Ende des nächsten Jahres alle Schulen ans Internetzu bringen, wenn es in den Schulen an Lehrern mangelt –von Sozialarbeitern, Schulpsychologen und Berufsberate-rinnen gar nicht zu reden? Wie steht es um die Wissens-und Informationsgesellschaft, wenn der Stundenausfall inden Schulen bundesweit fast 10 Prozent beträgt und dieKlassengrößen ständig zunehmen?Frau Kollegin Müller, ich muss mich schon über IhreEuphorie wundern, wenn ich gleichzeitig lese, dass dieangebliche Wissensgesellschaft nicht nur versäumt hat,genügend Computerspezialisten, sondern auch ausrei-chend Lehrerinnen und Lehrer auszubilden.
Allein im berufsbildenden Schulwesen werden imlaufenden Jahrzehnt jedes Jahr 1 400 bis 2 000 Stellenfehlen. Diesen Mangel wird weder die Green Card nochder Internetzugang beseitigen.Alles, was in Lissabon unter der wichtigen Überschrift„Bildung und Ausbildung für das Leben und Arbeiten inder Wissensgesellschaft“ zusammengefasst wurde, bleibtauf der Ebene der guten Wünsche und Hoffnungen undsteht zudem in tiefem Widerspruch zu einer rigidenHaushaltspolitik, wie sie auch hierzulande betrieben wird.An Letzterem wird sich leider auch wenig ändern, wennman sich den Entschließungsantrag von SPD und Bünd-nisgrünen anschaut. Sie bleiben damit tatsächlich nochhinter dem beschäftigungspolitischen Aktionsprogrammder Bundesregierung für das Jahr 2000 zurück.Das Kapitel der Beschäftigungspolitik von Lissabonenthält – bei aller Kritik – viele wichtige Punkte, die drin-gend in nationale Politikkonzepte umgesetzt werdenmüssten. Dazu würde zum Beispiel gehören, ernsthafteSchritte zur Eröffnung einer Qualifizierungsoffensiveaufzunehmen, statt gering Qualifizierte in Niedriglohnsek-toren zu entsorgen.
Dazu gehören auch Überlegungen, wie die bestehendenBildungsbarrieren abgebaut und die größte von ihnen, dieArmut, endlich beseitigt werden und die zunehmendeSpaltung der Gesellschaft aufgebrochen wird. Schließlichmüsste dazu gehören, die Instrumente der Arbeits-förderung endlich so zu novellieren, dass der im Doku-ment von Lissabon ausdrücklich erwähnte und von derPDS seit langem geforderte dritte Sektor endlich verwirk-licht werden kann,
nicht nur – das sage ich auch ausdrücklich – als Feld zu-sätzlicher Beschäftigung, sondern als Beitrag zum Aufbaudes auch in Lissabon geforderten aktiven Wohlfahrts-staates. Das verlangt auch endlich Konzepte zur radikalenArbeitszeitverkürzung, zum Überstundenabbau, für sinn-volle Teilzeitmodelle, wie wir von der PDS sie seit langemfordern. Auch hier bei Ihnen Leerstellen!Zur Widersprüchlichkeit der in Lissabon nieder-geschriebenen Schlussfolgerungen gehört schließlichauch, dass die kleinen und mittelständischen Un-ternehmen zwar als Aktivposten der Beschäftigungspoli-tik erwähnt werden – das ist auch gut und richtig so –, dasssie aber durch die Dominanz der globalen Wettbewerbs-orientierung und das Gerangel um den Spitzenplatz alsWirtschaftsmacht wieder an den Rand gedrängt werden.Wer die kleinen und mittelständischen Betriebe fördernwill, der muss die Binnennachfrage stärken – das genau
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Dr. Heidi Knake-Werner9102
aber tun Sie nicht –, der darf die Wirtschaftsstruktur nichtallein dem Markt überlassen – das genau tun Sie –, dermuss regionale Kreisläufe fördern – das wiederum tun Sienicht – und der darf vor allem nicht übersehen, dass dieversprochene Ausstattung dieses Wirtschaftsbereichs mitRisikokapital umso schlechter gelingt, je mehr dieFinanzmärkte dereguliert werden; und genau das ist Ihroberstes Prinzip.Lassen Sie mich abschließend eine Bemerkung zumAntrag der Unionsfraktion machen. Man kann Ihnenschon das Kompliment machen, dass Sie den in Lissabonformulierten Widerspruch des Jonglierens zwischen über-mäßiger Wettbewerbsfixierung und gleichzeitigemBekenntnis zum aktiven Wohlfahrtsstaat wirklich auf denPunkt gebracht haben. Sie fordern ein Zurückbleiben deröffentlichen Haushalte hinter der allgemeinen Wachs-tumsrate, was natürlich die Wettbewerbsfähigkeit des Eu-ro auf den Finanzmärkten erhöhen dürfte. Aber denWohlfahrtsstaat können Sie endgültig vergessen, wenn Siedie staatlichen Haushalte weiter austrocknen, wie Sie esdamit beabsichtigen.Sie scheinen sich endgültig einen Spitzenplatz imBremserhäuschen der europäischen Integration erobern zuwollen. Wenn man Europa will, Kollege Merz, wenn maneine europäische Beschäftigungspolitik will, dann mussman auch europäische Standards wollen, soziale und öko-logische.
Wer sich mit dem Hinweis auf das Subsidiaritätsprinzipdieser Verantwortung entzieht und diese Standardsverneint, verneint auch eine gemeinsame Beschäfti-gungspolitik. Dazu aber gibt es bei aller Kritik, die wir anLissabon haben, keine Alternative.Die PDS hat heute dazu einen Antrag für die weitereBeratung eingebracht, in dem viele wichtige Anregungenformuliert sind, die wirklich zu einem gemeinsamensozialen und ökologischen Europa führen können.
Es spricht jetztFrau Bundesministerin Edelgard Bulmahn.Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen! Liebe Kollegen! In Deutschland bewegt sichwieder etwas. Wir haben mit dem SofortprogrammHunderttausenden von Jugendlichen eine Chance gege-ben, indem wir sie in berufliche Maßnahmen und Ausbil-dung gebracht haben. Wir modernisieren Berufe schnel-ler und wir schaffen neue Berufe. Die Zahl der Ausbil-dungsplätze in den informationstechnischen Berufen wirdin diesem Jahr auf 40 000 steigen, gegenüber 14 000 imJahre 1998. Erstmals seit der deutschen Einheit werden inden neuen Bundesländern in den Betrieben wieder mehrMenschen ausgebildet.
Das alles haben wir nicht allein geschafft, sondern gemein-sam mit den Gewerkschaften und mit der Wirtschaft, undzwar in einem Rekordtempo.Die Zeiten des Stillstandes sind vorbei. Von unswird – im Gegensatz zu der Vorgängerregierung – dieZukunft nicht verschlafen.
Wer heute die Zukunft gestalten will, muss dabei interna-tional denken und handeln. Wir müssen weg vom pro-vinziellen Abschotten, wie es sich in den wirklich dummenSprüchen von Herrn Rüttgers widerspiegelt.
Denn die Zukunft Deutschlands liegt im Fortschritt und inder Innovation. Beides erreicht man nicht, wenn manängstlich in alten Denkmustern verharrt. Denn mit Angstund Angstmacherei ist kein Staat zu machen.
Meine Herren und Damen, die Zeit des Stillstandes istauch bei der Entwicklung und Nutzung der Informations-und Kommunikationstechnologie vorbei. Herr Merz,Sie haben nicht Recht, wenn Sie die Informations- undKommunikationstechnologie so betrachten wie jede an-dere Technik. Denn das ist sie nicht. Sie ist eine Schlüs-seltechnologie, die in einem hohen Maße darüberentscheidet, ob wir auch in Zukunft zum Beispiel imMaschinenbau, in der Biotechnologie, in der chemischenBranche und in der Lasertechnik wettbewerbsfähig seinwerden. Denn Steuerung, Sensorik und Datenverarbeitungsind Schlüsseltechnologien, die sich auf die Wettbewerbs-fähigkeit unserer gesamten Volkswirtschaft auswirken.
Es war dringend notwendig, dass die Bundesregierung indiesem Bereich eine Offensive gestartet hat, um nichtabgehängt zu werden und um nicht Arbeitsplätze zu ver-spielen.Wir brauchen klare und strategische Ziele in einemhandlungsfähigen und sozialen Europa, in einem Europa,das zur Verbesserung unserer wirtschaftlichen Wett-bewerbsfähigkeit und unserer Lebensqualität beiträgt, vorallem aber in einem Europa, das hilft, Arbeitslosigkeit zuüberwinden und jungen Menschen Perspektiven zu bieten.Deshalb verstehe ich es nicht, wenn hier ein Widerspruchzwischen nationalen Anstrengungen, das heißt denAnstrengungen der Länder, und europäischen Anstreng-ungen hergestellt wird.
Natürlich gehören die wirtschaftliche Entwicklung, diekulturelle Entwicklung und die Entwicklung des Arbeits-marktes zusammen. Es ist ein völliger Unsinn, wenn manso tut, als ob das nichts miteinander zu tun hätte.
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Dr. Heidi Knake-Werner9103
Erfolgreich kann ich Politik nur dann gestalten, wenn ichnicht borniert nur auf ein Ressort schaue, sondern wennich einen Querschnitt herstelle und einen Gesamtblickhabe.Bildung und Qualifizierung spielen in einer Welt, inder Wissen immer mehr zu dem entscheidenden Wettbe-werbsfaktor wird, eine wichtige Rolle. Sie spielen nichtnur für die Entwicklungsfähigkeit unserer Wirtschaft, son-dern auch für die individuellen Lebenschancen eines Men-schen und für die Chancen, am gesellschaftlichenFortschritt teilzuhaben, eine entscheidende Rolle.
Deshalb war es richtig, dass die Staats- und Regierungs-chefs der Europäischen Union in Lissabon im März diesesJahres diese Themen ganz nach oben auf die Agenda ge-setzt haben und beschlossen haben, wichtige Schritte nachvorne zu machen und die Investitionen zu erhöhen, aberauch in einer gemeinsamen Anstrengung die Infrastrukturund die Voraussetzungen dafür zu verbessern.Die Bundesregierung hat dies in Deutschland gleichnach ihrem Amtsantritt angepackt. Deshalb verstehe ichdie von der PDS geäußerte Kritik nicht. Wir haben bereits1999 die Ausgaben für Bildung und Forschung um1 Milliarde DM erhöht.
Das hat es in den ganzen 20 Jahren zuvor nicht gegeben.Und wir werden damit fortfahren! Wir werden die Aus-gaben für Bildung und Forschung nicht kürzen, so wie dasmein Vorgänger bzw. die alte Bundesregierung getan hat.Wir werden vielmehr den Zukunftsgedanken ernstnehmen und Investitionen in diesem Bereich weiter ver-stärken.Wir haben im letzten Jahr 2 Milliarden DM für das So-fortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeiteingesetzt und haben damit einen sehr großen Erfolgerzielt.Wir haben erstmals in Deutschland einen Ausbil-dungskonsens geschaffen. Auch das hat es unter IhrerRegierung, meine Herren und Damen von der Opposition,nicht gegeben. Gemeinsam mit Wirtschaft und Ge-werkschaften haben wir hier einen erheblichen Fortschritterreicht. Zum ersten Mal haben wir in den neuen Bun-desländern wieder mehr betriebliche Ausbildungsplätze.Das zeigt: Es klappt, es geht, wenn man zusammenwirkt.Wir haben mit unseren Beschlüssen und Vereinbarungenein Gesamtkonzept erarbeitet und ersetzen damit dieFlickschusterei während Ihrer Regierungszeit, meine Her-ren und Damen von der Opposition.
Was ist neu? Wir modernisieren die Ausbildungsberufe,zum Beispiel die Laborberufe, aber auch die Ausbildungzum Maschinenbaumechaniker, in der es in der Vergan-genheit über 200 detaillierte Lerninhalte gab. So etwaswird es in Zukunft nicht mehr geben. Denn wir wollen,dass die Berufe immer so gestaltet sind, dass sie den beste-henden Arbeitsanforderungen tatsächlich entsprechen.Nur so können wir erreichen, dass unsere Jugendlicheneine dauerhafte Berufschance haben.
Wir geben allen Jugendlichen eine berufliche Chance.Das bedeutet, auch lernschwächeren jungen Menscheneine Perspektive zu bieten. Sie zu motivieren und ihneneine richtige Berufsausbildung zu geben, das ist unsereAufgabe. Deshalb sage ich Ihnen ganz klar: Eine „Ausbil-dung light“ halten wir für falsch und lehnen wir ab. DasProblem der Jugendarbeitslosigkeit kann man nicht durchabgesenkte Bildungsstandards und eine verkürzte Dauerder Ausbildung lösen. Das wäre der falsche Weg.
Wir haben uns deshalb im Bündnis für Arbeit mit allenSozialpartnern darauf verständigt, dass auch Jugendlichemit schlechteren Startchancen eine vollwertige Berufs-ausbildung erhalten sollen. Dies stößt im Übrigen bei denUnternehmen auf eine sehr gute Resonanz. Sie müssensich einmal die Mühe machen, sich vor Ort zu informieren.
Ich habe das gemacht und in der letzten Woche einige Un-ternehmen in Nordrhein-Westfalen besucht. Ein Un-ternehmen in Ostwestfalen hat sich in Absprache mit denSchulen verpflichtet, lernschwachen Jugendlichen, auchJugendlichen, die aller Wahrscheinlichkeit nach keinenHauptschulabschluss erhalten werden, eine Ausbildunganzubieten.
Das halte ich für eine tolle Sache. Ich wünsche mir, dassviele Unternehmen diesem Beispiel folgen werden. Durchunsere Verabredung im Rahmen des Bündnisses für Arbeithaben wir die Voraussetzungen dafür geschaffen, lern-schwachen, benachteiligten Jugendlichen diese Chance zugeben.
Die Bundesregierung und die SPD-geführten Bundeslän-der reden also nicht nur über Ausbildung und Quali-fizierung, wir handeln.Noch ein Wort zu der Ausbildung in den informations-technischen Berufen, zu dem Thema „PCs in Schulenund in derAusbildung“.Wenn Sie sagen, der Computerersetze nicht das Denken und das Lernen, so ist das sicher-lich völlig richtig. Aber genauso richtig ist es, dass das Ar-beiten am PC eine erhebliche Motivationsunterstützungsein kann, eine bessere Lehre und auch eine Verbesserungder Qualität des Unterrichts ermöglicht. Deshalb ist esrichtig, dass zum Beispiel im Land Nordrhein-Westfaleninzwischen knapp 7 000 Schulen ans Netz angeschlossenwurden. Nordrhein-Westfalen und Baden-Württembergliegen damit in dieser Hinsicht an der Spitze allerbundesdeutschen Länder.
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Edelgard Bulmahn9104
Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass Sie all das, waswir in den letzten anderthalb Jahren auf den Weg gebrachthaben, schon vor einigen Jahren gestartet hätten. Dannnämlich müssten wir heute nicht über mangelnde Quali-fikation und Nachwuchsprobleme miteinander disku-tieren.
Frau Ministerin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Ja, gerne.
Frau Ministerin, Sie haben
gerade gesagt, wie viele Schulen in Nordrhein-Westfalen
ans Netz gegangen sind. Ich frage Sie, warum in Nord-
rhein-Westfalen noch nicht der Standard anderer Bundes-
länder erreicht worden ist. In Bayern sind 97 Prozent der
Gymnasien, 88 Prozent der Realschulen und etwa 70 Pro-
zent der Hauptschulen ans Netz angeschlossen.
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Zunächst einmal: Nordrhein-Westfalen
weist ein besseres Ergebnis auf; dort sind mehr Schulen
ans Netz angeschlossen als zum Beispiel in Bayern.
– Sie müssen die Zahl der Schulen addieren. Es geht nicht
nur um die Gymnasien, sondern auch um die
Hauptschulen, die Berufsschulen, die Realschulen und die
Grundschulen. Darauf kommt es an.
– Es geht doch gerade um die Hauptschulen, Herr Glos.
Insbesondere den Jugendlichen an diesen Schulen müssen
wir das Arbeiten am PC anbieten, damit auch in dieser
Schulform eine bessere Ausbildung ermöglicht werden
kann.
Zum anderen: Gerade Sie von der Opposition haben es
in den vielen Jahren Ihrer Regierungszeit versäumt, mit
den Ländern und den Netzbetreibern eine Offensive zu
starten.
Wir haben es gemeinsam mit den Netzbetreibern erreicht,
dass in den kommenden zwei Jahren alle Schulen kosten-
los an das Netz angeschlossen werden.
Wir haben im Rahmen der Initiative D 21 mit den Un-
ternehmen verabredet, die Hardware-Ausstattung in einer
„public private partnership“ so zu erhöhen, dass es in
Zukunft in jedem Klassenraum PCs gibt. Wir haben vor
einem Monat ein Programm zur Entwicklung von Bil-
dungssoftware gestartet, weil es nicht ausreicht, wenn nur
in einem Fach oder in zwei Fächern mit dem PC gearbei-
tet wird. Das Arbeiten mit dem PC muss genauso selbst-
verständlich sein wie das Arbeiten mit einem Arbeitsbuch.
All das haben wir in anderthalb Jahren geschafft. Hät-
ten Sie das schon Anfang oder Mitte der 90er-Jahre in An-
griff genommen, ständen wir heute wesentlich besser da.
Gestatten Sie
eine zweite Zwischenfrage der Kollegin?
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Ja, gerne.
Frau Ministerin, ich kon-kretisiere: Ich wollte eigentlich nicht die absoluten Zah-len wissen, weil Nordrhein-Westfalen bekanntlich etwasgrößer ist als Bayern. Mich hätten die Prozentzahleninteressiert.Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung: Wenn Sie in einer Studie nachschauen, dieden Zustand Ende 1998 zeigt – sie ist veröffentlicht wor-den –, werden Sie feststellen, dass Nordrhein-Westfalenauch bei der prozentualen Verteilung sehr gut dasteht.
– Entschuldigung, Sie müssen alle Schulen gemeinsam be-trachten. Dann kommen Sie zu anderen Ergebnissen.Ich will nur darauf hinweisen, dass das Land Nord-rhein-Westfalen nicht nur beim Anschluss der Schulen ansNetz sehr gut dasteht, sondern zum Beispiel auch bei derEntwicklung der Informatikstudiengänge, was genau-so wichtig ist, wenn wir hier über Spitzenfachkräfte reden.
– Doch. Da müssen Sie einmal Fakten zur Kenntnisnehmen.
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Edelgard Bulmahn9105
In Nordrhein-Westfalen hat sich die Zahl der Studienan-fänger von 3 211 im Jahre 1995/96 auf 5 419 erhöht. In-zwischen hat jeder vierte in Deutschland ausgebildeteInformatiker seinen Abschluss an einer Hochschule inNordrhein-Westfalen erhalten. Die Zahl der IT-Absolven-ten ist in NRW zehnmal schneller gestiegen als imBundesdurchschnitt. Das sind Fakten, meine Damen undHerren. Hier wird also eine ganze Menge gemacht, insozialdemokratisch regierten Ländern genauso wie aufBundesebene.
Frau Ministerin,
gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, diesmal des
Kollegen Goldmann?
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Ja.
Mehr lasse ich
aber an dieser Stelle nicht zu.
Frau Ministerin,Sie haben sicher in vielen Punkten Recht. Aber ich fragemich, warum in dem Land, in dem Sie die Landesvorsit-zende sind und aus dem der heutige Bundeskanzlerkommt, nämlich Niedersachsen, 1996 der Informatikstu-diengang an der Universität Hildesheim,
der sich in besonderer Weise mit Hochtechnologie imGesundheitsbereich beschäftigte, geschlossen wurde, ob-wohl die Universität sich sehr dagegen gewehrt hat. Wieerklären Sie es sich, dass erst im Jahr 2000 der jetzigeMinisterpräsident von Niedersachsen immerhin den revo-lutionären Vorschlag macht, die Lehrerzimmer ans Netzanzuschließen?Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung: Das erkläre ich Ihnen sehr gerne.Nur zur Information: Das Land Niedersachsen wird daserste Bundesland sein, das gemeinsam mit der Telekomalle Schulen ans Netz anschließt. Das ist vereinbart wor-den. Auch da bitte ich Fakten zur Kenntnis zu nehmen undnicht Vorurteile zu pflegen.Zweitens. Ich wiederhole – zum Lernen gehört dieWiederholung, wie man auch hier feststellt –: Im Jahre1995/96 betrug die Zahl der Informatik Studierenden inNiedersachsen 5 168. In diesem Jahre beträgt die Zahl5 700.
Wir haben das Fachhochschulangebot an Informatikstu-diengängen – wir haben heute gerade an den Fach-hochschulen einen eklatanten Mangel an Studienplätzen inInformatik und in Kombinationen mit Informatik wieWirtschaftsinformatik etc., den Sie einmal zur Kenntnisnehmen müssen – um 127 Prozent erhöht.
Das ist eine Entwicklung, die sich wirklich sehen lassenkann.
– Nein, die Professoren sind nicht nach Dortmund gegan-gen. Vielmehr sind sie teilweise an andere Hochschulengegangen und teilweise an der Hochschule geblieben.
Alle Fachleute sind sich einig, dass es darauf ankommt,dass unsere Hochschulen ein Profil entwickeln, dass sie inder Region ihre Aufgaben vernünftig verteilen. Ich kannvon Ihnen nicht verlangen, dass Sie detaillierte Geo-graphiekenntnisse haben,
obwohl ich denke, dass es zur Allgemeinbildung gehört,zu wissen, wie nahe zum Beispiel Hildesheim bei Han-nover, bei Braunschweig oder bei Clausthal-Zellerfeldliegt. Das sind Universitäten, an denen die Informatikstu-diengänge ausgebaut worden sind.
Es ist sinnvoll, das Profil so zu entwickeln, dass man zumBeispiel technische oder naturwissenschaftliche Stu-diengänge mit Informatik kombiniert. Genau das istgemacht worden: eine sinnvolle Profilbildung der Hoch-schulen. Das ist genau das, was in Zukunft notwendig ist.
Meine Herren und Damen, Sie haben in IhrerRegierungszeit jahrelang sträflich versäumt, Wirtschaftund Gesellschaft auf die Anforderungen der Informations-gesellschaft vorzubereiten.
Sie haben zwar Zeit genug gehabt, aber es ist nichtsgeschehen. Ich meine, das ist auch kein Wunder bei einemExbundeskanzler, der die Datenautobahn noch demVerkehrsbereich zuordnete.Wir haben deshalb gesagt: Jetzt ist Schluss damit, wirpacken die Probleme an. Das haben wir mit einer Ausbil-dungs- und Qualifizierungsoffensive, die wir bereits imletzten Sommer gestartet haben, getan. Wir haben die Aus-bildungsplätze in der informationstechnischen Brancheerheblich gesteigert – 40 000. Wir haben aber auch die
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Edelgard Bulmahn9106
Ausbildung und Umschulung erheblich gesteigert. Das istder Unterschied zu Ihnen. Sie machen eine „Wahlkampf-ABM“, wir setzen auf Beschäftigung, Weiterqualifizie-rung und Umschulung, weil nur so die Leute die Chancebekommen, in den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren.Das ist genau der Unterschied.
Wir haben wichtige Verabredungen getroffen, um einedeutliche Steigerung der Zahl der Hochschulabsolventenzu erreichen. Auch dabei sind wir auf einem guten Weg,weil sich die Zahl der Studienabgänger gegenüber Ihremletzten Regierungsjahr verdoppelt hat.
Wir haben mit den Ländern gemeinsam ein Programm„Neue Medien“ gestartet, wir haben die „be.Ing“-Kam-pagne gestartet, um auch besonders Frauen für die neuenBerufe zu motivieren
und das ist – wie schon gesagt – bei weitem nicht alles.Lassen Sie mich noch ein Wort zur Green Card fürSpitzenkräfte sagen.
Die informationstechnische Branche ist – so wie ich dasam Anfang gesagt habe – die wichtigste Schlüsseltech-nologie in den kommenden Jahren. Sie ist eine derwichtigsten Wirtschaftszweige für Wachstum undBeschäftigung. Dieses Wachstum stößt zurzeit in der Bun-desrepublik an seine Grenzen, weil es uns an Spitzen-fachkräften mangelt. Ich habe überhaupt kein Verständnisdafür, dass sich die gleichen Leute, die in einem hohenMaße die Verantwortung dafür tragen, dass wir einen ekla-tanten Mangel an Spitzenfachkräften haben, nicht zuschade sind, mit dümmlichen Sprüchen von ihrem eigenenVersagen abzulenken.
Wie borniert das ist, was Herr Rüttgers hier macht, das hatsich an dem Beispiel, das Peter Struck hier genannt hat,gezeigt. Wie kann man eigentlich so borniert sein, so einenSpruch in die Welt zu setzen und gleichzeitig die Software,die von einem Inder entwickelt worden ist, einsetzen? Wiekann man eigentlich so borniert sein? Wie kann man soverantwortungslos sein?
Wenn wir wollen, dass sich unsere Wirtschaft so ent-wickeln kann, dass Arbeitsplätze geschaffen werden,brauchen wir Spitzenfachkräfte. Wir wissen, dass imZuge eines jeden Spitzenfachkraftarbeitsplatzes drei bisfünf Arbeitsplätze in der Bundesrepublik geschaffen wer-den. Und wir wollen die Arbeitsplätze hier halten. Ichmöchte eben nicht, dass sie ins Ausland abwandern. Wennwir wollen, dass die Arbeitsplätze hier bleiben, müssen wirdie Ausbildungs- und Qualifizierungsanstrengungen, diewir richtig kräftig gestartet haben, fortsetzen. Das werdenwir tun. Wir brauchen zur Überbrückung dieses akutenSpitzenfachkraftmangels die Möglichkeit, ausländischenSpitzenkräften hier eine Arbeit anzubieten. Deshalb ist esrichtig, dass wir diese Entscheidung getroffen haben, weildurch jeden dieser Spezialisten hier in der Bundesrepu-blik Deutschland Arbeitsplätze geschaffen werden.Diese Bundesregierung wird es nicht zulassen, dassdiese Chancen verspielt werden, weil wir Arbeitsplätze inder Bundesrepublik sichern wollen.Vielen Dank.
Für den Bun-
desrat erhält nun der Herr Staatsminister Reinhold
Bocklet das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Die europäischenStaats- und Regierungschefs feiern den Aufbruch, den derGipfel von Lissabon verordnet hat. Die Erklärung desBundeskanzlers hat dies noch einmal deutlich gemacht.Hohes Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung, Mod-ernisierung des Sozialschutzsystems, Verringerung der Ar-mut und die Anpassung der Ausbildungssysteme an die Er-fordernisse der modernen Wissensgesellschaft lauten diestolz verkündeten Ziele. Wer könnte da nicht zustimmen?Neu sind diese Ziele allerdings nicht, auch nicht besondersoriginell.Wer wünscht sich denn nicht ein hohes Wirtschafts-wachstum und Vollbeschäftigung oder die verstärkteNutzung von Computertechnologie und Internet?Was ist also das Besondere an Lissabon? Die Antwortgibt der Ratspräsident, der portugiesische PremierministerGuterres selber. Das Revolutionäre dieses Gipfels, verkün-det er, sei die neue Methode, auf die man sich verständigthabe. Davon findet sich in Ihrer Erklärung, Herr Bun-deskanzler, leider kein Wort.Die Einigung auf eine neue Methode europäischer Poli-tikgestaltung ist in der Tat der zentrale Aspekt des Gipfels.„Offene Koordinierung“ heißt das Zauberwort. Nach demVorbild der europäischen Beschäftigungsstrategie könnenkünftig vom Europäischen Rat in praktisch allen Politik-bereichen konkrete Vorgaben gesetzt werden, die von denMitgliedstaaten umgesetzt werden müssen. Die jeweiligenFortschritte bei der Umsetzung werden dann regelmäßigauf EU-Ebene kontrolliert und bewertet.
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Edelgard Bulmahn9107
Hier geht es um eine fundamentale Systemänderung in derEuropäischen Union. Ratspräsident Guterres nennt diesstolz eine „wahre Revolution“ und der britische Premier-minister Blair spricht von einer „Gezeitenwende“. Mankann also nicht behaupten, dass hier nicht aufgeklärt wor-den wäre. Nur bei unserer Regierung ist das offensichtlichnicht angekommen.
Doch was verbirgt sich hinter diesem „völlig frischenund neuen Politikansatz“, um noch einmal RatspräsidentGuterres zu zitieren? Bleibt es bei der Formulierungschöner Ziele und hehrer Absichtserklärungen? – Beileibenicht. Neben abstrakten Zielbestimmungen macht der Eu-ropäische Rat im Wege der so genannten offenen Koor-dinierung auch ganz konkrete Vorgaben für die Politik derMitgliedstaaten. Vorgesehen sind – ich zitiere aus denSchlussfolgerungen –: Festlegung von Leitlinien miteinem jeweils genauen Zeitplan für die Umsetzung;gegebenenfalls Festlegung quantitativer und qualitativerIndikatoren und Benchmarks im Vergleich zu den Bestender Welt; Umsetzung dieser europäischen Leitlinien in dienationale und regionale Politik durch Vorgabe konkreterZiele und den Erlass entsprechender Maßnahmen undregelmäßige Überwachung, Bewertung und gegenseitigePrüfung.Das ist es, was vielen für Europa vorschwebt. Der Eu-ropäische Rat als Taktgeber, die Mitgliedstaaten als Voll-zugsorgane und die Kommission allenfalls als Kontrolleur– und das vorbei an den vertraglichen Zuständigkeits-regelungen und am Strukturgefüge der Verträge. Das istdie staatspolitische Gefahr, die vom Lissaboner Gipfelausgeht.
Die Parlamente in Bund und Ländern werden ins Ab-seits gedrängt, die politischen Verantwortlichkeiten wer-den verwischt. Die wesentlichen politischen Entschei-dungen fallen nicht mehr hier in diesem Haus, sondernbeim Europäischen Rat. Nicht nur grundlegende politischeWeichenstellungen werden dort vorgenommen, es werdenhöchst konkrete präzise Vorgaben für die Politik in denMitgliedstaaten gemacht.Die Parlamente sind beim Zustandekommen dieserBeschlüsse in keiner Weise beteiligt, wohl aber bei derUmsetzung nachher daran gebunden. Sie werden folglichin immer stärkerem Maße zu bloßen ausführenden Orga-nen für Politiken, die praktisch ohne öffentliche Diskus-sion und jedenfalls ohne Beteiligung der nationalen Par-lamente festgelegt worden sind. In letzter Konsequenzführt diese so genannte neue Methode der offenen Koor-dinierung zur Entmachtung der Parlamente und damit zurEntparlamentarisierung und zur Entdemokratisierung derPolitik.Das gilt übrigens für die Parlamente in den Mitglied-staaten ebenso wie für das Europäische Parlament. Auchder EG-Ministerrat und die Europäische Kommission ver-lieren an Einfluss zugunsten des Europäischen Rates. Für-wahr eine fundamentale Weichenstellung! Nicht ohneGrund spricht Christian Wernicke in der „Zeit“ deshalbvon einem „Putsch von oben“.Damit nicht genug. Mit der so harmlos klingenden„offenen Koordinierung“ kann sich der Europäische Rat inZukunft leicht über die vertraglich vereinbarte Kompe-tenzordnung hinwegsetzen. Er kann den Mitgliedstaatenauch in solchen Politikfeldern konkrete quantitative Vor-gaben machen, in denen die EU keine Zuständigkeiten be-sitzt. Davon wurde in Lissabon bereits intensiv Gebrauchgemacht. So gibt der Europäische Rat beispielsweise alsZiel die Weiterentwicklung von Schulen und Ausbil-dungszentren zu „lokalen Mehrzwecklernzentren“ vor.
Diese sollen allen offen stehen und ein möglichst breitesSpektrum von Zielgruppen erreichen. Was soll man sichdarunter vorstellen?
Etwa eine europäische Gesamtschule?Ebenso wird die europaweite Absolventenquote füreinzelne Schulabschlüsse festgelegt. So soll die Zahl der18- bis 24-Jährigen mit einem Abschluss der Sekun-darstufe I halbiert werden. Europa will also festlegen, wieviele Abiturienten, wie viele Mittlere Reifen und wie vieleHauptschulabschlüsse es geben soll. Das geht Europa –mit Verlaub gesagt – überhaupt nichts an und es wäre auchnicht sachgerecht.
Die politische Verantwortung dafür tragen in Deutschlanddie Landesregierungen und Länderparlamente. Diese kannund soll ihnen weder der Bundeskanzler noch Europa ab-nehmen.Weiter wird ein „europäischer Rahmen“ für die zu ver-mittelnden neuen Grundfertigkeiten angestrebt. Darüberhinaus wird dem EG-Ministerrat der Auftrag erteilt, allge-meine Überlegungen über die konkreten künftigen Zieleder Bildungssysteme anzustellen.Ich wiederhole: Bei alledem handelt es sich nicht umeuropäische Aufgaben. In Deutschland fallen diese An-gelegenheiten in die Zuständigkeit der Länder. DerBundesrat hat daher im Vorfeld von Lissabon ausdrücklichvor Festlegungen in diesen Bereichen gewarnt. Das kamnicht nur von Bayern, Herr Bundeskanzler, sondern ist einAnliegen aller deutschen Länder.
Doch der Bundeskanzler hat sich in Lissabon über dieklare einstimmige Stellungnahme des Bundesrates hin-weggesetzt
und damit seine verfassungsrechtlichen Pflichten aus Art.23 des Grundgesetzes grob verletzt.
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Staatsminister Reinhold Bocklet9108
Daran ändert auch Ihr – jedenfalls bislang – erfolgloserEinsatz für den Bestand öffentlicher Daseinsvorsorgenichts.Der Satz in den Schlussfolgerungen des Gipfels: DerEuropäische Rat ersucht die Kommission, ihre Mitteilungvon 1996 in Einklang mit dem Vertrag zu überarbeiten,führt nicht weiter, weil es nicht darauf ankommt, eineweitere Interpretation des Vertrages zu liefern, sondern da-rauf, die Daseinsvorsorge im Vertrag selbst abzusichern.Dieses notwendige Ziel hat der Herr Bundeskanzler ganzoffensichtlich bereits aufgegeben.Doch es geht nicht nur um Eingriffe der EuropäischenUnion in Länderhoheitsrechte. Es drohen auch massiveEinschnitte in Bundeszuständigkeiten, so etwa in derSozialpolitik. So heißt es etwa im Beschlusstext, dieSozialschutzsysteme müssten angepasst werden. Dabeihat der Gipfel besonders die Tragfähigkeit der Altersver-sorgungssysteme im Blick. Ich frage Sie: Wollen Sie dieNeuordnung der Rentenversicherung jetzt europäischregeln?Bezeichnenderweise erklärte KommissionspräsidentProdi am 17. Februar im Ausschuss der Regionen:Wir sollten aufhören, in Kategorien wie Kompetenzund Subsidiarität zu denken. Das sind veraltete Kon-zepte.Stattdessen müsse über ein „Netzwerk Europa“ nach-gedacht werden. Bei einer solchen Denkweise brauchenwir auf Regierungskonferenzen gar nicht mehr über Ver-tragsänderungen zu verhandeln und sie dann in Bundestagund Bundesrat zu ratifizieren. Vertragliche Regelungensind bei diesem Politik- und Rechtsverständnis ohnehinMakulatur.Mindestens genauso schlimm ist, dass der gewählteAnsatz für die Erreichung des eigentlichen Ziels, nämlichdie Stärkung Europas im globalen Wettbewerb, völlig kon-traproduktiv ist. Hier kehrt sie wieder, die alte Planungs-gläubigkeit, die sich doch längst als untauglich erwiesenhat.
Der Gipfel lebt in der Illusion, man könne einen riesi-gen Wirtschaftsraum planwirtschaftlich steuern. Er lähmtmit dieser Planungsgläubigkeit die Eigeninitiative in denMitgliedstaaten und Regionen sowie den fruchtbarenWettbewerb untereinander.Ziel des Gipfels war es, die USA einzuholen und zuüberholen. Doch genau das Mittel, das die USA starkgemacht hat, der innere Wettbewerb, wird nicht ange-wandt. Stattdessen vertraut man auf planwirtschaftlicheVorgaben und zentrale Konzepte, die den Wettbewerbunter den Mitgliedstaaten begrenzen und behindern.
Folgerichtig fehlt das Wort „Wettbewerb“ auch in derRegierungserklärung des Bundeskanzlers. Darüber hin-aus werden die Planvorgaben bei den schwächeren Staa-ten zum Ruf nach zusätzlicher finanzieller Förderungführen, die wiederum zulasten des HauptnettozahlersDeutschland geht.Statt einer wettbewerbsorientierten Standortpolitik, wiesie Länder wie zum Beispiel Bayern mit der „OffensiveZukunft Bayern“ und der High-Tech-Offensive betreiben,droht jetzt unter Berufung auf die Lissabon-Quoten mas-siver Druck auf die Europäische Zentralbank mitGefahren für den Euro-Stabilitäts-Pakt.Herr Bundeskanzler, mit der Methode des Gipfels vonLissabon degradieren Sie die nationalen Parlamente zubloßen Umsetzungsorganen des Europäischen Rates,stellen Sie zentralistische Bevormundung vor nationaleund regionale Eigenveranwortung und Wettbewerb undsetzen Sie generelle europäische Allzuständigkeit an dieStelle subsidiärer Aufgabenerledigung. Mit dieser Me-thode verraten Sie die Vision von Europa.
Sie verlassen den Weg der Europapolitik der letztenJahrzehnte und kündigen den europapolitischen Konsensvon Ihrer Seite aus auf.
Mit dieser Methode werden Sie Europa nicht an die Spitze,sondern in eine Krise führen.
Dies ist das gefährliche Fazit von Lissabon.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Sterzing.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Eigentlich wollten wir heute vor allen Dingen über Lis-sabon diskutieren.
Aber Green Cards und die fremdenfeindlichenPostkartenaktionen sind sehr stark in den Vordergrundder Debatte gerückt. Insofern stellt sich natürlich dieFrage, welcher Zusammenhang zwischen der europä-ischen Dimension und dem besteht, was derzeit in Nord-rhein-Westfalen von der Opposition im Wahlkampfbetrieben wird. Gestern habe ich in den Tickermeldungeneinen solchen Zusammenhang feststellen können. In ei-ner Meldung heißt es:Die Europäische Stelle zur Beobachtung von Ras-sismus und Fremdenfeindlichkeit hat sichbesorgt über den Wahlkampf der nordrhein-westfä-lischen CDU geäußert.
Mit Parolen wie „Kinder statt Inder“ habe CDU-Spitzenkandidat Jürgen Rüttgers die politische De-batte in Deutschland auf einen neuen Tiefpunkt ge-bracht, erklärte der EUMC-Verwaltungsratsvor-sit-zende.
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Weiter heißt es:Dadurch würden Fremde zu Sündenböcken gestem-pelt und Minderheiten bedroht.Die EUMC griff ebenfalls die österreichische Re-gierungskoalition aus konservativer ÖVP und denrechtspopulistischen Freiheitlichen an. ... EinSchlüsselelement im Kampf gegen Rassismus undFremdenfeindlichkeit sei es, keine Koalitionen mitder extremen Rechten einzugehen.So weit ist es also gekommen, dass Haider undRüttgers in einem Atemzug genannt werden!
Das sollte uns alle sehr nachdenklich stimmen.Der Zusammenhang zwischen Österreich, Haider undder EU war offensichtlich der Opposition so wichtig, dassder Kollege Merz glaubte, damit seine Einstandsrede alsFraktionsvorsitzender eröffnen zu müssen. Das scheintnun wohl zu einem Dauerthema der Opposition zu werden.Wir haben in Lissabon beobachtet, dass Schüssel zwarsein „Mascherl“ abgelegt und eine Krawatte umgebundenhat.
Aber diese Einordnung in die europäische Klei-deretikette reicht nicht aus, damit man wieder Business asusual treiben kann.
An dieser Stelle muss noch einmal deutlich gesagt werden,dass es keine Sanktionen der EU gegen Österreich gibt.Es gibt lediglich ein abgestimmtes Verhalten der 14 an-deren Mitgliedstaaten.Die entsprechenden Passagen in Ihrem Antrag zumheutigen Tage sind leider falsch und irreführend. Sie wer-fen dort der Bundesregierung vor, sie mische sichparteipolitisch motiviert in die inneren AngelegenheitenÖsterreichs ein. Dies ist eine Äußerung wider besserenWissens. Sie brauchen nur in die Meldungen der Agen-turen zu schauen. Dort steht:Der Vorstand der Europäischen Volkspartei imEuropaparlament stimmt am Donnerstag über einenzeitweiligen Ausschluss der Österreichischen Volks-partei ab. Der ÖVP wird von mehreren kon-servativen Gruppen die Koalition mit den rechtspo-litischen Freiheitlichen von Jörg Haider vor-gehalten.Was also ist mit der parteipolitisch motivierten Einmi-schung? Es scheint offensichtlich auch innerhalb der kon-servativen Parteien Österreichs ein Problem zu geben. Esist aber gerade die CDU/CSU, die ihre schützende Handnicht nur über die ÖVP, sondern damit auch indirekt überHaider legt.
Es ist darauf hinzuweisen, dass hinsichtlich dieser Po-sition eine weitere Übereinstimmung in den übrigen 14Mitgliedstaaten in Europa herrscht. Der Ausschuss derRegionen – Herr Haider ist dort Mitglied – hat am 17. Feb-ruar beschlossen, dass er bedauert, dass an der öster-reichischen Regierung eine Partei beteiligt ist, die sich fürIntoleranz, Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus und Un-gleichheit ausspricht.
Außerdem befürchtet er, dass solche Ideen in der Zukunftverharmlost werden könnten. „Verharmlosung“ ist dasStichwort in diesem Zusammenhang. Die Rüge an dieAdresse der ÖVPrichtet sich natürlich auch an Sie von derOpposition, denn Sie leisten dieser VerharmlosungVorschub.
Die Diskussion in der ÖVP und im Ausschuss der Re-gionen zeigt deutlich, dass die Kritik an der Bun-desregierung, die Sie üben, sehr unaufrichtig ist. Die Hal-tung der übrigen 14 EU-Mitgliedstaaten zu dieser Koali-tion ist kein Problem der sozialdemokratischen Parteien inEuropa, es ist vielmehr ein Problem der Konservativenin Europa und besonders eines von der CDU und derCSU.
Insofern ist nicht die Solidarität mit der ÖVP gefragt,sondern die Distanzierung von ihr. Damit würden Sie derWertegemeinschaft in der Europäischen Union einenbesseren Dienst leisten, als Sie das mit den Solidaritäts-bekundungen tun.
Ich höre immer die Sprüche, dass man von Haider undder FPÖ natürlich nichts halte. Lassen Sie mich auf einenZeitungsartikel zu sprechen kommen, den ich entdeckthabe. Er stand im Jahre 1991 im „Münchner Merkur“.Dort wird geschrieben:Er hatte ihnen aus der Seele gesprochen. ZufriedenesKopfnicken bei Bayerns Innenminister EdmundStoiber und langanhaltender Beifall von Umweltmi-nister Peter Gauweiler, der dem Redner freudig vie-le Gemeinsamkeiten mit der CSU bescheinigte. KeinWunder: Jörg Haider, Landeshauptmann von Kärn-ten ...– das war er damals ja auch schon –,zeigte sich beim fünften „Münchner Gespräch“ desCSU-Bezirksverbandes so recht nach dem Ge-
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Christian Sterzing9110
schmack der Christsozialen als leidenschaftlicherFöderalist und Europäer.Edmund Stoiber blieb am Ende nur die undankbareRolle des Co-Referenten, hatte doch der Gast, „daseinzige liberale Oberhaupt eines europäischen Lan-des“ , mit seinem Referat zum Thema„Österreich und Bayern ...“ schon alles vorwegge-nommen.Angesichts so vieler Gemeinsamkeiten, die im Jahre1991 bekundet wurden, denke ich, überrascht natürlichnicht, warum Herr Stoiber der ÖVP kurz nach den öster-reichischen Wahlen die Koalition mit der FPÖ empfohlenhat.
Herr Abgeord-
neter, es besteht der Wunsch nach einer Zwischenfrage.
Ich suche nur den Namen des Kollegen.
– Herr Dr. Müller, bitte schön.
Frau Präsidentin, es ist
nicht unbedingt notwendig, dass Sie meinen Namen ken-
nen.
Wie bewerten Sie die Tatsache, dass nach den Wahlen in
Österreich im Herbst 1999 der damalige SPÖ-Bun-
deskanzler zunächst der Partei von Jörg Haider ein Ange-
bot zum Eintritt in die Regierung gemacht hatte und die
jetzige Entwicklung erst einsetzte, als Jörg Haider erklärte:
„Mit dem nicht“?
Wie bewerten Sie darüber hinaus die Tatsache, dass die
SPÖ, die sozialistischen Brüder der SPD, mit der FPÖ bis
heute in fünf Landesregierungen Österreichs sitzt?
Sie können mich nicht für das Verhalten von Sozialde-
mokraten in Österreich in die Verantwortung nehmen. Sie
wissen, dass wir dieses Problem hier schon mehrfach an-
gesprochen haben. Ich denke, es geht um die politische
Gemeinsamkeit, die hier zwischen CSU, ÖVP und auch
FPÖ zum Ausdruck gekommen ist.
Das ist der entscheidende politische Punkt, den es hier
festzuhalten gilt und der auch Ihr Verhalten und Ihr ständi-
ges Betonen erklärt, es gehe Ihnen um dem Schutz Öster-
reichs. Das ist in diesem Zusammenhang das politische
Problem: die Behandlung Österreichs innerhalb der Eu-
ropäischen Union.
Die Gemeinschaft hat in Lissabon sehr deutlich
gesagt – Präsident Guterres hat es betont –, es gehe nicht
um eine Strafaktion gegen Österreich, gegen die öster-
reichische Bevölkerung, sondern darum, dass man mit
einer solchen Regierung nicht einfach wieder zu einem
„business as usual“ zurückkehren kann. Das ist der Punkt.
Ich glaube, vor dieser Auseinandersetzung – auch mit der
ÖVP – können Sie sich nicht drücken.
Sie versuchen – das ist natürlich Ihr Recht – immer
wieder, Haare in der europapolitischen Suppe zu entdeck-
en. Das tun Sie auch im Zusammenhang mit dem
Lissabonner Gipfel. Auch hier ist darauf hinzuweisen, dass
es nicht die Konzeptionslosigkeit der Bundesregierung ist,
sondern dass es die Widersprüchlichkeit und die Konzep-
tionslosigkeit der Europapolitik der CDU/CSU sind, die
hier zu sehr merkwürdigen Einschätzungen führen.
Da wurde von Herrn Merz der zunehmende Einfluss
des EuropäischenRates zulasten der Mitgliedstaaten kri-
tisiert. Die Gewichtsverlagerung von der Kommission
zum Europäischen Rat ist nach meiner Meinung eine
durchaus bedenkliche Entwicklung. Aber, meine Damen
und Herren von der Opposition, Sie müssen sehen, dass
diese Form der Gewichtsverlagerung innerhalb des Insti-
tutionengefüges der EU durch den Amsterdamer Vertrag
eingeleitet worden ist. Sie laborieren insofern an den Fol-
gen einer Politik herum, die Sie ganz entscheidend mit auf
den Weg gebracht haben.
Ich glaube, Ihre Widersprüchlichkeit ist auch heute
besonders deutlich geworden. Herr Merz hat dem Bun-
deskanzler vorgeworfen, er habe das Wort „Wettbewerb“
kein einziges Mal erwähnt. Hinsichtlich der Einstellung
von Herrn Stoiber zitiere ich aus der „Berliner Zeitung“
von gestern:
Schröder hat mit dem Kapitalismus seinen Frieden
geschlossen.
Dies sei ein Wandel, als ob die Union plötzlich für die
Abtreibung einträte.
Herr Kollege
Sterzing, denken Sie bitte an Ihre Zeit.
Ich komme zum letzten Satz.Angesichts dieser Widersprüchlichkeit in der Analyseder Europapolitik der Bundesregierung durch die Oppo-sition wird es niemanden von uns überraschen, dass dieOpposition selbst in der Europapolitik äußerst konzepti-onslos ist und bei solchen Debatten immer wieder den Ver-such macht, auf politische Nebenkriegsschauplätze aus-zuweichen. Dies werden wir auf Dauer nicht hinzuneh-men.Vielen Dank.
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Christian Sterzing9111
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Martina Krogmann.
Frau Präsiden-
tin! Sehr geehrte Damen und Herren! Natürlich stimmen
wir den Zielen von Lissabon zur Entwicklung des Inter-
nets ausdrücklich zu. Es kommt aber entscheidend auf die
Maßnahmen und ihre Umsetzung an.
Was Sie, Frau Bulmahn, heute abgeliefert haben, ist
einer Bildungsministerin unwürdig.
Ich will Ihnen ein einfaches Beispiel aus der Wirklichkeit
rot-grüner Politik geben: Zurzeit wird in Nordrhein-West-
falen ein neues Dreiländerhochschulprojekt für den Stu-
diengang Informatik durch die Unfähigkeit von Rot-Grün
blockiert. Die jeweilige belgische und die holländische
Hochschule haben den Studiengang bereits eingerichtet,
die Studenten stehen Schlange. Nur das Wissenschafts-
ministerium in Düsseldorf schafft es nicht, die notwendi-
gen Fristen einzuhalten. Deshalb droht jetzt das gesamte
Projekt zu scheitern. Ich darf aus einem Brief des nieder-
ländischen Projektkoordinators Willem Uitterhoeve zi-
tieren:
Der deutsche Bundeskanzler setzt auf Multimedia
und Internet und möchte in Indien Spezialisten an-
werben. Gleichzeitig bekommen deutsche Studenten
nicht die Chance, an einem innovativen Studiengang
teilzunehmen, der sich gerade auf die Themen Mul-
timedia und Internet stützt.
Das ist ein Skandal, meine Damen und Herren!
Hören Sie einmal, was der Bundesverband der Freien
Berufe zu den Auswirkungen des 630-DM-Gesetzes und
des Gesetzes zur Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit
gesagt hat. Ich zitiere:
Im Bereich der Informatik haben 40 Prozent der be-
fragten Freiberufler Auftragsverluste beklagt.
Weiter heißt es, „... die Zahl der Neugründungen..., ins-
besondere im EDV-Bereich,“ ist durch die beiden Geset-
ze erheblich zurückgegangen. Dieses Beispiel macht lei-
der deutlich, wie Sie Politik machen. Sie geben Lippen-
bekenntnisse für eine moderne Politik ab, doch die Realität
zeigt: Der alte Mief von gestern kennzeichnet noch immer
rot-grüne Politik.
Ich finde es schade, dass Sie von der Wirklichkeit so weit
entfernt sind; dadurch
verpassen wir enorme Chancen, Herr Kollege. Vergessen
Sie bitte nicht:
Wir leben in einer Zeit des ungeheure schnellen Wandels.
Herr Kollege
Tauss, ein bisschen zurückhaltender, bitte.
Wir stehen mit-ten in einer Revolution unseres gesamten Wirtschaftsle-bens, was Sie immer noch nicht begriffen haben. Noch niezuvor hat sich ein Medium so schnell entwickelt wie dasInternet. Noch nie zuvor waren die Auswirkungen einerneuen Technik so weit reichend. Das Zeitalter der Inter-netwirtschaft hat begonnen – mit ungeheuren Chancen fürunsere Arbeitsplätze. Die USAhaben uns Europäern vor-gemacht, wie das geht. Sie haben seit 1993 20 Millionenneue Arbeitsplätze geschaffen, davon 80 Prozent imDienstleistungsbereich und hier wiederum zum überwie-genden Teil im Bereich der neuen Medien.Es ist natürlich richtig, dass auch Europa, wie inLissabon geschehen, endlich die Chancen der New Econ-omy nutzen will, dass wir auf europäischer Ebene denordnungspolitischen Rahmen verbessern und weiterliberalisieren. Denn wie in Europa und gerade wir inDeutschland haben große Chancen: Wir haben weltweitdie modernsten und leistungsfähigsten Telekommunika-tionsnetze. Wir sind in der Verbreitung von ISDN-An-schlüssen international führend.
Aber trotz dieser guten Voraussetzungen müssen wir fest-stellen, dass wir bei der Schaffung von neuen Arbeit-splätzen in diesem Bereich hinterherhinken. Seit Rot-Grünan der Regierung ist, ist die Zahl der Arbeitslosen ummehr als 175 000 gestiegen.Andere Länder sind bei der Schaffung neuer Arbeits-plätze erfolgreicher gewesen als wir. Ich denke hier an dieNiederlande, Dänemark, Großbritannien und Irland, mitBlick auf das vergangene Jahr sind hier auch Spanien undFrankreich zu nennen. Nur Sie schaffen es nicht. DerGrund dafür ist Ihre vollkommen verfehlte Wirtschafts-und Finanzpolitik.
Neue Arbeitsplätze schaffen Sie nur durch strukturelle Re-formen, durch eine Senkung der Steuer- und Abgabenlast,durch eine Senkung der Staatsquote und vor allem durcheine Liberalisierung der Arbeitsmärkte. Andere Ländermachen uns doch vor, wie das geht.Natürlich hat jedes Land gemäß seiner Kultur seineeigenen Instrumentarien genutzt. Aber dennoch gibt eszwei Gemeinsamkeiten, die alle diese erfolgreichen Län-der haben: Das eine ist eine niedrige Staatsquote und dasandere sind liberalisierte Arbeitsmärkte. Bei uns geht dieStaatsquote hoch. Sie versuchen, unsere Arbeitsmärkteimmer noch in das Korsett der 70er-Jahre zu pressen. Siesind auch nicht bereit, über den Tellerrand zu schauen undvon erfolgreichen Ländern in Europa, von denen wirumgeben sind, zu lernen. Aber gerade in dem Prozess desVoneinander Lernens steckt die große Chance der EU beider Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 20009112
Gerade bei der wichtigen Frage der Beschäfti-gungspolitik müssen wir die Frage nach der Kompetenz-abgrenzung stellen:Was kann, was muss Europa leisten? Was kann, was mussbei den Nationalstaaten und bei den Bundesländernverbleiben? Wir haben über 15 Millionen Arbeitslose inEuropa. Wenn wir, nur um Verantwortung abzuschieben,immer mehr Aufgaben auf die europäische Ebene über-tragen, wecken wir Erwartungen, die die EU nicht erfüllenkann. Genau dies tun Sie aber: Sie schieben Verantwor-tung ab, um von den eigenen Problemen abzulenken.Damit schaden Sie Europa und dem europäischen Inte-grationsprozess.
Es ist vollkommen absurd zu glauben, mit verbind-lichen quantitativen Zielvorgaben und immer mehrbürokratischen Koordinierungsprozessen auf europäisch-er Ebene Arbeitsplätze schaffen zu können. Die Ursachenund damit auch die Lösungen zur Bekämpfung der Ar-beitslosigkeit sind in Europa viel zu unterschiedlich. InAndalusien hat die Arbeitslosigkeit andere Ursachen alsim Bayerischen Wald und im Bayerischen Wald wiederumandere als im Emsland oder in der Lausitz. Direkt vor Ortgibt es die beste Sachkenntnis bezüglich der Arbeitsmarkt-lage und der Anforderungen der örtlichen Wirtschaft.
Die Lösung der Probleme haben Sie bisher nicht in An-griff genommen. Stattdessen haben Sie in Lissabon eineCharta für Kleinstunternehmer in Auftrag gegeben. DerBundeskanzler hat vorhin in seiner Regierungserklärungdas Wort online entdeckt. Ich stelle fest, dass er in derSache ziemlich offline ist.
Ich würde Ihnen vorschlagen, doch mal mit jungen Exis-tenzgründern aus dem IT-Bereich und mit Software-Entwicklern zu reden. Die sagen Ihnen: Wir brauchenkeine Charta, sondern vernünftige wirtschaftliche Rah-menbedingungen.
Reden Sie einmal mit jungen Existenzgründern aus der IT-Branche über EU-Förderprogramme. Die sagen Ihnen,dass die Prozedur, bis sie das Geld bekommen, so langedauert, dass in der Zwischenzeit die Idee veraltet.Wir wollen vernünftige Rahmenbedingungen.
Stattdessen haben Sie während Ihrer Ratspräsidentschaftden makroökonomischen Dialog auf EU-Ebene ins Lebengerufen. Dieses bürokratische Ungeheuer allein beweistschon, dass Sie von der Wirklichkeit der New Economy,des E-Commerce, des E-Learning und des Internets Licht-jahre entfernt sind.
Frau Kollegin,
Herr Tauss kann scheinbar gleichzeitig telefonieren und
sich zu einer Zwischenfrage melden. Lassen Sie diese zu?
Nein, jetzt
nicht, er ist wieder einmal zu spät dran.
Dann muss ich
Sie darauf hinweisen, dass Ihre Redezeit schon über-
schritten ist. Sie können noch einen Schlusssatz sprechen.
Frau Präsiden-
tin, ich komme zum Schluss. Hören Sie auf, die Verant-
wortung auf Europa abzuschieben. Schaffen Sie endlich
hier neue Arbeitsplätze und machen Sie endlich eine mo-
derne Wirtschafts- und Finanzpolitik!
Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Günter Gloser.
Frau Präsidentin! Meine liebenKolleginnen und Kollegen! Wenn man die Debatte ver-folgt, muss man sich manchmal fragen, in welcher Welteigentlich die Christlich Demokratische Union und auchdie Christlich-Soziale Union leben.
Frau Dr. Krogmann, ich möchte an Ihre Ausführungenanknüpfen: Diese Bundesregierung macht eine moderneWirtschafts- und Bildungspolitik und damit Zukunftspoli-tik.
Das ist auch das Ergebnis des Lissabonner Gipfels.
Ich möchte einmal in der Geschichte zurückgehen: Eswar die Sozialdemokratie, die während ihrer Oppositions-zeit darauf gedrungen hat, dass in den Amsterdamer Ver-trag ein Beschäftigungskapitel aufgenommen wird.
Sie haben weit gefehlt, meine lieben Kolleginnen und Kol-legen von der Opposition: Wir wollten keine zentralisti-sche europäische Beschäftigungspolitik, sondern wolltenin der Tat eine Abstimmung auf europäischer Ebene. Dagibt es auch keinen Widerspruch zwischen uns. Auch Siehaben gesagt, dass in bestimmten Bereichen ein Schauenüber den Gartenzaun stattfinden muss und man vom an-deren lernen soll. Genau das ist unsere Devise. Nichts an-deres machen wir.
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Dr. Martina Krogmann9113
Herr Staatsminister Bocklet, wenn man aus derTrutzburg der Bayerischen Staatsregierung kommt, dannist klar, dass man sich eine virtuelle Welt aufbauen muss.Dabei kommt man dann zu solchen Ergebnissen, wie sieheute in Ihrer Rede zu hören waren, aber auch in IhrerPresseveröffentlichung nachzulesen sind.Wenn Sie von planwirtschaftlichen und sonstigen zentra-listischen Elementen sprechen, frage ich mich mittler-weile: Wo lebt Ihr Ministerpräsident? Wo leben Sie?Haben Sie eigentlich begriffen, dass auf dem LissabonnerGipfel nicht nur sozialdemokratisch geführte, sondernkonservativ geführte Regierungen vertreten waren?Jean-Claude Juncker, Christdemokrat aus Luxemburg,sagte schon vor vielen Jahren. Wir müssen uns gerade imBereich der Beschäftigungspolitik klare Ziele setzen.Auch hier müssen wir das erreichen, was wir beim Euroerreicht haben. Nach dem Gipfel in Lissabon hat er gesagt.Endlich einmal ein Ergebnis, das von anderen Gipfel-ergebnissen abweicht, endlich, nicht die übliche Lyrik,sondern ganz konkrete Verabredungen! Ich denke, dazuhat auch diese Bundesregierung einen wesentlichenBeitrag geleistet.
Der neue Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU hat unsin seiner so genannten Einstandsrede vorgeworfen, es gebekeine Visionen keine visionären Vorstellungen dieserBundesregierung in Sachen Europapolitik. Doch washelfen alle wunderschönen Sonntagsreden, die wir allehalten können, wenn wir nicht gerade im Bereich des Ab-baus von Arbeitslosigkeit, des Zuwachses von Beschäfti-gung in den nächsten Jahren vorankommen – natürlich beiklaren europäischen Zielvorgaben? Darum geht es, nichtum das Klein-Klein, wie uns die Rednerinnen und Rednerder Opposition heute ständig weismachen wollten.
Diese Bundesregierung hat diese Perspektive aufge-griffen. Wenn wir heute über Zukunft sprechen, dannsprechen wir auch junge Menschen an: Sie wollen ar-beiten. Sie brauchen eine Ausbildung. Sie möchten eineentsprechende schulische Qualifikation haben. Sie möch-ten nicht mit Aussagen eines Mannes konfrontiert werden,der sich noch vor wenigen Jahren mit dem Etikett desZukunftsministers geschmückt hat. Dieser Mann gehörtder Vergangenheit an. Er ist der Erste, der in eine Quali-fizierungsoffensive hinein müsste.
Lassen Sie mich noch – die Opposition macht diesgerne zum Thema – die Frage der Vertrauenswürdigkeitdieser Bundesregierung ansprechen, auch im Hinblick aufdie Osterweiterung – . der Kollege Dr. Haussmann kannnicht mehr hier sein, weil er sich beim verbalen Austauschvermutlich den Fuß verletzt hat;
deshalb jetzt an die Adresse der – Union: Wir wollen dieBürgerinnen und Bürger bei diesem europäischen Er-weiterungsprozess mitnehmen; das ist völlig klar. Dem,der bei sämtlichen europäischen Debatten pausenlos sagt,nun müsse ein Termin her, antworte ich: Was hat es füreinen Sinn, jetzt konkret Termine zu nennen, wenn geradedie bayerische CSU ständig verlangt, die Osterweiterungnicht zu schnell durchzuführen? Es müssen sich alsoProzesse entwickeln.Wir können, Herr Bocklet, in diesem Punkt möglicher-weise eine Übereinstimmung erreichen. Aber dannmüssten Sie – Ihrem Ministerpräsidenten werden Sie esnicht sagen können, das werde ich machen müssen –endlich Ihre chamäleonhafte Politik aufgeben. Sie könnennicht auf der einen Seite einem Gast aus Osteuropa, dessenLand zu den Beitrittskandidaten gehört, sagen: Natürlich,wir wollen den raschesten und schnellstmöglichen Beitritt.Kaum ist er wieder weg, wird auf der anderen Seite –typisch Stammtischpolitik in Bayern – auf die Bremsegedrückt. Ich meine, Sie sollten diese Doppelmoralendlich aufgeben.
Natürlich, wir wissen, welche Anpassungsprozesse dieOsterweiterung mit sich bringen wird, gerade auch imHinblick auf den Arbeitsmarkt. Wir als SPD nehmen dieÄngste und Befürchtungen, die vielleicht in unmittelbar anden Grenzen liegenden Regionen vorhanden sind, geradeauch was die Freizügigkeit angeht, ernst. Aber unsere Auf-gabe als Politikerinnen und Politiker ist es, den Leutennicht ständig die Angst zu bestätigen, sondern wir solltenversuchen, gerade auch im Bereich der Arbeitsplätze, un-sere Verantwortung wahrzunehmen, indem wir die Risikenminimieren, und nicht noch Ängste schüren.
Fazit: Europäische Beschäftigungspolitik ist ein typischsozialdemokratisches Projekt. Wir haben das initiiert undumgesetzt. Ein anderes Projekt ist die europäische Grund-rechtscharta, zu der wir gestern eine sehr interessante An-hörung hatten.Die Union wollte das Beschäftigungskapitel und auch dieGrundrechtscharta nicht. Davon spricht aber in der Unionkeiner mehr. Heute wollen alle diese Weiterentwicklun-gen. Ich habe diesen Punkt ganz bewusst erwähnt, weilHerr Kollege Dr. Haussmann vorhin den ehemaligen Mi-nisterpräsidenten aus Polen genannt hat.Ich bitte Sie von der Union: Lassen Sie uns den Grund-konsens gerade in der europäischen Politik, der über vieleJahrzehnte bestanden hat, fortsetzen! Es hat keinen Sinn,jeden Tag nur Erbsenzählerei zu betreiben. Lassen Sie unsvielmehr diese europäische Idee in vielen Bereichen um-setzen!Herr Fraktionsvorsitzender Merz, bringen Sie dengrößeren Teil Ihrer Fraktion wieder auf den europäischenWeg! Es gibt bei Ihnen doch die überzeugten Europäer, dieviele Dinge anpacken wollen. Aber sie sind momentan inder Minderheit. Bei Besuchen im Ausland können sie zwarviele hehre Worte sagen, aber in der Fraktion haben siemomentan kein Gewicht mehr.
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2000
Günter Gloser9114
Wir haben als SPD-Bundestagfraktion der Bun-desregierung für ihre Initiativen auf diesem Beschäfti-gungsgipfel zu danken. Wir sind uns sicher, dass die Bun-desregierung in den Bereichen Wirtschaft, Bildung undBeschäftigung die Zukunft gestalten wird. Das ist ein guterWeg für Europa. Lissabon brachte ein gutes Ergebnis fürdiese Bundesregierung.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Franz Thönnes.
Frau Präsidentin! Meine sehrgeehrten Damen und Herren!Die neue Bundesregierung wird die Bekämpfung derArbeitslosigkeit in den Mittelpunkt der europäischenPolitik stellen. Ihr Ziel ist ein europäischer Beschäf-tigungspakt. In die beschäftigungspolitischen Leitli-nien sollen verbindliche und nachprüfbare Ziele vorallem zum Abbau der Jugend- und Langzeitarbeits-losigkeit sowie zur Überwindung der Diskriminie-rung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt, aufgenom-men werden.So steht es im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien.Das haben wir versprochen; das haben wir gehalten. Es istgut, dass es in Deutschland wieder eine Regierung gibt, diedie Bekämpfung der Arbeitslosigkeit auch auf europäi-scher Ebene in den Mittelpunkt stellt. Es ist auch gut, dasses einen Kanzler gibt, der nicht nur redet, sondern gemein-sam mit den anderen Ländern in Europa handelt.
Die beiden Tage des Sondergipfels am 23. und 24.Märzdieses Jahres waren gute Tage für Europa und für Deutsch-land. Sie haben gezeigt: Europa wird menschlicher. DasMaß aller Dinge ist eben nicht der Shareholder-Value.Jetzt wird endlich über den Menschen gesprochen.Der Titel des Gipfels „Beschäftigung, Wirtschaftsre-formen und sozialer Zusammenhalt – für ein Europa derInnovation und des Wissens“ und die getroffenen Ve-rabredungen sind die Antworten Europas auf die Heraus-forderungen auf unserem Kontinent und auf die Heraus-forderungen der Globalisierung. Es sind die Antworten aufdie Zahl von über 15 Millionen Arbeitslosen. Es sind dieAntworten auf die ökonomischen und sozialen Heraus-forderungen. Es wird höchste Zeit, dass diese Antwortenjetzt gegeben werden; denn wir brauchen endlich ein Eu-ropa der fairen Verteilung und der Teilhabe, ein Europa derLeistung, der Verantwortung und der Solidarität unter-einander.
In den nächsten Jahren wird der Wandel in Wirtschaft,Technik und Politik noch rasanter vorangehen. In 10Jahren werden wir Produkte und Dienstleistungen kaufenbzw. nachfragen, an die wir heute noch gar nicht denken.Wir werden bald in Fabriken und Büros mit Techniken ar-beiten, die heute noch nicht entwickelt sind. Es wirdBerufe geben, die wir heute noch gar nicht kennen. Aberentscheidend für eine gute Zukunft und für diesen Wandelist, dass die Balance zwischen Fortschritt und Sicherheitsowie zwischen Innovation und Gerechtigkeit gewahrtwird. Wir wollen, dass in Europa dabei keiner auf derStrecke bleibt.
Deshalb begrüßen wir sehr, dass die Staats- undRegierungschefs in Lissabon eine konkrete Vision wiederauf Platz eins der europäischen Politik gesetzt haben, näm-lich die Vision der Vollbeschäftigung. Wirtschaftswachs-tum wird nicht alleine um des Wachstums willen forciert.Es wird vielmehr ein qualitatives Wachstum postuliert, dasmit einer 3-prozentigen Steigerungsrate binnen 10 Jahrenwieder zur Vollbeschäftigung führen soll. Damit wird einwichtiger Beitrag zur Demokratisierung Europas geleistet.Was wäre denn ein Europa des freien Verkehrs der Waren,der Dienstleistungen, der Niederlassung und des Kapitalsohne die Vision einer Gesellschaft, die Menschen, die Ar-beit haben wollen, auch Arbeit gibt?
Deswegen setzt der Zusammenhalt in der Gesellschaftvoraus, dass die Menschen eine Perspektive haben: einePerspektive auf Arbeit, eine Perspektive auf Ausbildungfür ihre Kinder, ein Mindestmaß an Integration, an Sicher-heit und an Zukunft.Die beschlossenen Strategien, die Wissens- undInformationsgesellschaft voranzubringen, strukturelle Re-formen weiterzuentwicklen, das europäische Sozialmo-dell zu modernisieren und die solide makroökonomischePolitik fortzusetzen –, das sind Strategien auf einem richti-gen Weg.Es ist gut, dass der Rat die Investitionen in die Men-schen jetzt als einen wesentlichen Schwerpunkt seiner Ar-beit bestimmt hat. Die Umsetzung der vom Rat be-schlossenen umfangreichen Qualifizierungsoffensive istdabei ein wesentlicher Schritt. Es ist gut, dass man sichgemeinsam Ziele setzt, – die nach den unterschiedlichenBedingungen in den Ländern und, wie ich ausdrücklichhinzufüge, nach deren verfassungsrechtlichen Gegeben-heiten – von den einzelnen Ländern in eigener Verantwor-tung umgesetzt werden. Es ist gut, dass es dafür einenLeistungsvergleich, ein Benchmarking, untereinandergibt.
Deswegen unterstützen wir die Absicht, innerhalb vonzehn Jahren die Beschäftigungsquote von 61 auf70 Prozent anzuheben und bei den Frauen eine Anhebungvon 51 auf 60 Prozent zu erreichen. Hier ist die Bundes-regierung genauso auf dem richtigen Weg, wie sie es war,als wir die Investitionen in die aktive Arbeitsmarktpolitik
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Günter Gloser9115
mit gut 44,5 Milliarden DM im Jahr 1999 vorgenommenhaben, die wir sie jetzt, im Jahr 2000, mit 46 Milliar-den DM fortsetzen wollen.Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bun-desregierung zeigen konkrete Erfolge. Die konjunkturelleBelebung hat den Arbeitsmarkt erreicht. Mit 535 000 of-fenen Stellen bei den Arbeitsämtern ist der höchste Standseit zehn Jahren erreicht worden.
Da Sie so gerne Vergleiche ziehen: Immerhin sind482 000 Menschen weniger arbeitslos als im März 1998.Das zeigt: Die Politik greift. Die gemeinsamen Kraftan-strengungen, die im Bündnis für Arbeit unternommenwurden, zeigen Erfolge.Das Gleiche gilt für die Situation auf demAusbildungsstellenmarkt: Ende Dezember konnten wirdank der gemeinsamen Kraftanstrengung fast 25 000 mehrAusbildungsverträge als vor einem Jahr verzeichnen. Dassind 4 Prozent mehr. Das sind gute Investitionen in dieZukunft unserer Kinder und alle sind aufgefordert mitdazu beizutragen, dass die Brücke von der Schule in dasBeschäftigungssystem eine gangbare Brücke für dieSchülerinnen und Schüler wird und dass ihnen nicht dieTür vor der Nase zugeschlagen wird.
Ein wesentliches Element hierbei – das werden wir fort-setzen – ist das Zwei-Milliarden-Programm für die jun-gen Menschen. Wir haben mit 100 000 Plätzen angefan-gen und am Ende konnten wir selbst erfreut feststellen:220 000 junge Menschen in Deutschland habe eine neuePerspektive bekommen und gut 11 000 Arbeitsplätze sindbeim JUMP-Programm entstanden. Dieses Geld ist gut in-vestiert worden. Es war besser, es in diesen Bereich zu in-vestieren als in die nachsorgende Jugendarbeit und spätermöglicherweise noch in Jugendstrafanstalten.
Jetzt gilt es, diese Politik fortzusetzen mit einer Reformdes SGB III, mit einer Reform der Arbeitsmarktförderung,die die Vermittlung in die Arbeit noch stärker beschleunigt,die Arbeitslosigkeit nicht weiter finanziert, sondern die In-vestitionen in Arbeit umlenkt; denn Investitionen und dieZurverfügungstellung von Geld für die Schaffung von Ar-beitsmöglichkeiten, von Qualifizierungsmöglichkeitensind allemal besser als die Finanzierung von Ar-beitslosigkeit. Das nützt am Ende keinem.
Der Gipfel von Lissabon hat deutlich gemacht, dass dieMenschen das wichtigste Gut in der Gemeinschaft sind.Die Verabredung des Rates auf die Modernisierung dessozialen Schutzes und der Förderung der sozialen Integra-tion beschreibt nach der Montan-, der Zoll-, derWirtschafts- und der Währungsunion nun endlich auchden so dringend notwendigen Schritt in die Sozialunion.
Die Absicht, sich im Dezember in Nizza auf eine eu-ropäische Sozialagenda zu einigen, unterstreicht dies.Wir lassen uns auch hier nicht, nachdem wir nun das er-folgreiche Bündnis für Arbeit auf den Weg gebracht haben,in der Tarifpolitik die Erfolge zu sehen sind, in der Alters-teilzeitregelung die Erfolge zu sehen sind, die anderenwichtigen Elemente, Herr Merz, wie das deutsche Ta-rifvertragsrechtswesen, wie die deutsche Betriebsverfas-sung, die Elemente der guten Beziehungen der Sozial-partner sind, von Ihnen zerreden. Wir lassen nicht zu, dasssie zu Dumping-Entwicklungen im Arbeitsmarkt herange-zogen werden.
Wir wollen, dass es gute Sozialbeziehungen zwischen denArbeitgebern und den Gewerkschaften gibt.
Herr Kollege,
denken Sie an die Redezeit.
Ja. – Der Gipfel von Lissa-
bon ist dem Ziel eines innovativen und menschlichen Eu-
ropas in einer sich rasant verändernden Welt ein erhebli-
ches Stück näher gekommen. – Das ist das eine Ergebnis
der heutigen Debatte.
Das zweite Ergebnis ist leider, dass uns die Opposition
nach dem Scheitern und dem Versagen in der Sozialpoli-
tik, der Finanzpolitik und der Steuerpolitik heute gezeigt
hat, dass auch in der Europapolitik ihre Internetadresse in
den nächsten Jahren lauten wird: http://www.cdu-csu.ade.
Ich schließe dieAussprache.Wir kommen zur Abstimmung.Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit undSozialordnung zu dem beschäftigungspolitischen Aktions-plan der Bundesregierung, Drucksache 14/2596 unterBuchstabe a. Der Ausschuss empfiehlt, die Unterrichtungauf Drucksache 14/1000 zur Kenntnis zu nehmen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses?– Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Das ist nichtder Fall. Die Beschlussempfehlung ist einstimmigangenommen worden.Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit undSozialordnung zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSUmit dem Titel „Ausbildung, Qualifizierung und Arbeit fürjunge Menschen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antragauf Drucksache 14/1011 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung des Ausschusses? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegendie Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommenworden.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/3030 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Feder-führung abweichend von der Tagesordnung beim Aus-schuss für Arbeit und Sozialordnung liegen soll. Einver-standen? – Ja. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
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Franz Thönnes9116
Weiterhin wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Druck-sache 14/2950 zur federführenden Beratung an den Aus-schuss für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatungan – jetzt neu – den Finanzausschuss, den Ausschuss fürWirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Familie,Senioren, Frauen und Jugend, den Ausschuss für Angele-genheiten der neuen Länder und den Ausschuss fürTourismus zu überweisen. Gibt es weitere Vorschläge? –Das ist nicht der Fall. Dann ist auch diese Überweisung sobeschlossen.Die Entschließungsanträge zur Regierungserklärungauf den Drucksachen 14/3099 und 14/3101 sollen nacheinem interfraktionellen Vorschlag zur federführendenBeratung an den Ausschuss für die Angelegenheiten derEuropäischen Union und zur Mitberatung an den Auswär-tigen Ausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Tech-nologie, den Ausschuss für Bildung, Forschung und Tech-nikfolgenabschätzung, den Ausschuss für Arbeit undSozialordnung sowie den Finanzausschuss überwiesenwerden. Der Entschließungsantrag auf Drucksache14/3099 soll zusätzlich an den Haushaltsausschuss über-wiesen werden. Gibt es weitere Vorschläge? – Das ist nichtder Fall. Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:Beratung der Unterrichtung durch die Wehrbeauf-tragteJahresbericht 1999
– Drucksache 14/2900 –Überweisungsvorschlag:VerteidigungsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das auch so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst dieWehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, ClaireMarienfeld.Claire Marienfeld, Wehrbeauftragte des Deutschen
men und Herren! Am 21. Januar dieses Jahres habe ich vondieser Stelle aus Abschied genommen, in der sicheren Er-wartung, nicht mehr im Plenum zu sprechen. Ich habemich bei Ihnen allen für die große Unterstützung meinerArbeit bedankt. Nun kommt es für Sie und mich zu einemDéjà-vu-Erlebnis besonderer Art. Ich nehme erneut Ab-schied von Ihnen und werde Ihnen am Ende meiner Aus-führungen auch erneut danken, obwohl natürlich meindamaliger Dank keine Halbwertszeit hat.Mit der heutigen Debatte geben wir den Soldaten in derBundeswehr gleich zweierlei: parlamentarische Aufmerk-samkeit und politische Orientierung. Beides wird – dessenbin ich mir ganz sicher – in der Truppe sehr genau re-gistriert und hochwillkommen sein.Mitte März habe ich dem Herrn Bundestagspräsidentenmeinen letzten Jahresbericht übergeben. Mit diesemBericht erfülle ich meine Chronistenpflicht für das Jahr1999. Aber Seelenlagen und Stimmungen halten sich nichtan den Kalender. Und so gilt vieles von dem, was 1998galt, unverändert auch für 1999 und für dieses Jahr.Geblieben sind viele der geschilderten Probleme, Miss-stände und Unzulänglichkeiten.Ich will mich in der Darstellung meiner Erkenntnisseaus 5 800 Eingaben und zahlreichen Truppenbesuchendeshalb auf das wichtigste Thema beschränken, auf dieUnsicherheit. Die Klagen vieler Soldaten und auch höher-er Vorgesetzter über die Materialsituation und die Mängelin der Ersatzteilversorgung sind Ihnen bekannt. Altes Ma-terial und Versorgungsengpässe erschweren den Dienstseit langem. Seit langem behelfen sich die Soldaten mitimprovisierten Zwischenlösungen. Aber die Freude andieser Improvisation nimmt spürbar ab. Die Klagen zurPersonalplanung und -führung sind ebenfalls bekannt.Auch hier wechselt die Tonlage jetzt häufiger auf Moll.
Zu viele Soldaten klingen mir enttäuscht und frustriert.Lassen Sie mich an dieser Stelle hinzufügen: Es gibtzwar nur eine Wirklichkeit, aber sicher mehrere Wahrneh-mungen dieser Wirklichkeit. Das, was ich Ihnen schildere,ist meine Wirklichkeit.Neben den vielen kleinen und großen Mängeln, die sehrhäufig in fehlenden Haushaltsmitteln ihre handfeste Ur-sache haben, gibt es den wenig greifbaren Virus der Verun-sicherung. Dieser Virus ist für die Einsatzbereitschaft derTruppe nachteilig. Vielen aktiven Zeit- und Berufssolda-ten fehlt heute die Aussicht auf eine Verbesserung derLage oder zumindest eine klare Perspektive für die nächs-ten Jahre. Viele potenzielle Bewerber wollen aus diesemGrund erst gar keine Zeit- oder Berufssoldaten werden.
Man ahnt so einiges und man weiß zu wenig. Manahnt, dass noch viele Kontingente in der Krisenregion aufdem Balkan Dienst leisten müssen und dass nicht genü-gend qualifiziertes Personal vorhanden sein wird, dass dieversprochene Pause von zwei Jahren zwischen den Ein-sätzen nicht eingehalten werden kann, dass sich die Be-förderungsstaus in vielen Dienstgradgruppen nicht auflö-sen werden, dass die Truppe erheblich verkleinert wirdund die Nachwuchsprobleme zunehmen und dass esvielleicht irgendwann keine Wehrpflicht mehr geben wird.Man ahnt es; aber man möchte es gerne genau wissen.Es gibt große Erwartungen an die Wehrstrukturkom-mission. Die größte Erwartung ist, dass sie mehr Pla-nungssicherheit bringt, und die allergrößte Erwartung ist,dass der Verteidigungshaushalt es zulässt, diese Planungenzu verwirklichen. Das Ziel der Reform soll die Aufrechter-haltung und Verbesserung der Einsatzbereitschaft sein.Deshalb darf bei dieser Reform die Befindlichkeit der Sol-daten nicht vergessen werden. Denn die Menschen sinddas größte Kapital der Bundeswehr.Mit klaren, nachvollziehbaren und praktikablenEntscheidungen von Parlament und politischer Führungder Bundeswehr kann und wird die Unsicherheit be-endet. Erst dann kehrt das Vertrauen zurück, das für ein
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Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer9117
motiviertes und engagiertes Dienen in der Bundeswehr un-verzichtbar ist. Erst dann kehrt die Motivation zurück, dienicht nur Voraussetzung für eine Reform der Streitkräfteist, sondern auch der Garant für deren Erfolg. Denn nureine Bundeswehr mit einer klaren Perspektive ist attraktivund wirkt attraktiv genug, um den qualifizierten Nach-wuchs anwerben zu können, den sie dringend braucht.Ich will aber auch die Soldaten auf etwas hinweisen: InZeiten eines tief greifenden Wandels haben sie nicht nurdas Recht, sie haben geradezu die Pflicht zu konstrukti-ver Kritik. Diese konstruktive Kritik ist kein Angriff aufdie Gehorsamspflicht. Ich habe in allen meinen Jahres-berichten gerade auf diesen Punkt hingewiesen. Sie ist un-verzichtbar, um der militärischen und politischen Führungder Bundeswehr ein vollständiges und korrektes Bild desBundeswehralltages zu vermitteln. Sie ist das, was dieTruppe zum Erfolg der Strukturreform selbst beitragenkann.Ich schließe, wie versprochen, mit einem erneutenDank an Sie alle. Ich habe das Vertrauen, dass es Ihnengemeinsam gelingt, die Interessen unseres Landes, derBundeswehr und der Soldaten in Einklang zu bringen;denn ich glaube, dass die Interessen deckungsgleichersind, als es auf den ersten Blick aussieht.Herzlichen Dank.
Frau Kollegin
Marienfeld, da Sie Ihr Mandat direkt vom Deutschen
Bundestag erhalten haben, möchte ich Ihnen an dieser
Stelle noch einmal für Ihre Arbeit danken. Es wird uns
auch nicht zu viel, wenn wir dies nun zum zweiten Mal
tun.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Uwe Göllner.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Die Wehrbeauftragte hat es gesagt: Es ist erstwenige Wochen her, dass wir über den Jahresbericht 1998diskutiert haben. Sie hat in diesem Rahmen den damalsvermeintlich letzten Dank an uns ausgesprochen. FrauMarienfeld, ich gebe diesen ehrlichen Herzens zurück: Ichbedanke mich für die vertrauensvolle Zusammenarbeit.Lassen Sie mich an dieser Stelle noch sagen: Eine ver-trauensvolle Zusammenarbeit bieten wir selbstver-ständlich auch dem Nachfolger an. Ich bin sicher, dass dieKontinuität in diesem Amt gewahrt bleiben wird.
Meine Damen und Herren, ich habe daraufhingewiesen, dass es ungewöhnlich ist, in einem so kurzenZeitraum über zwei Jahresberichte zu diskutieren. Nor-malerweise wäre dieser Bericht ohne Aussprache an denVerteidigungsausschuss überwiesen worden, um dort vor-ab darüber zu beraten und ihn dann dem Plenum zuzulei-ten.
Aber manche – so pflegen wir im Rheinland zu sagen –können das Wasser nicht halten. Jeder will über die Zu-kunft der Bundeswehr diskutieren, jeder will mitreden.
Dass dies vor Ablauf der verabredeten Zeit nur spekula-tiven Charakter haben kann, Herr Nolting, stört fast nie-manden. Ich finde, es ist wenig verantwortungsvoll,darüber zur Unzeit eine öffentliche Debatte zu führen.
Der Kollege Breuer nimmt den Bericht der Wehrbeauf-tragten für das Jahr 1999 zum Anlass, dem Bundesminis-ter der Verteidigung, Rudolf Scharping, ein Scheitern anseiner Aufgabe vorzuwerfen.
Statt der versprochenen Perspektiven herrschten Mangel-wirtschaft, Zukunftsangst und Perspektivlosigkeit in derBundeswehr. Herr Breuer, Sie müssten dem erstauntenPublikum schon erklären, wie wir im Laufe einer nureinjährigen Regierungszeit den von Ihnen beschriebenenZustand hätten herstellen können.
Schon im Bericht der Wehrbeauftragten für das Jahr1996 heißt es in Kapitel 5.5:Wie schwierig die Lage ist, zeigt der Umstand, dassvon 150 für den Einsatz im ehemaligen Jugoslawienabzugebenden Kfz 140 die vorgeschaltete Überprü-fung aufgrund von Mängeln nicht bestanden haben.Ihr Kollege Kossendey wird in der „SüddeutschenZeitung“ vom 20. Juni 1997 folgendermaßen zitiert:Immer mehr soll mit immer weniger Geld geleistetwerden. Diese Rechnung geht nicht auf. Da helfenauch keine Denkverbote, wie der Verteidigungsmi-nister ... sie gerne verkündet.Der Verteidigungsminister hieß damals Rühe, nichtScharping.
In der Debatte über den Jahresbericht 1996 habe ichdamals für die SPD-Fraktion erklärt:... die Folgen fehlender Kontinuität in der Finanz-planung ziehen sich wie ein roter Faden durch denvorliegenden Bericht. Es ist die nur schwer zu ver-antwortende Haushaltskürzung des Bundesministersder Finanzen, die den inneren Zustand der Bundes-wehr beeinträchtigt.Wo man hinschaut, stimmen die finanziellen Mittelnicht mehr mit Auftrag, Struktur, Umfang und Aus-rüstung überein ...
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Claire Marienfeld9118
Wir Sozialdemokraten setzen uns daher für eine par-teiübergreifende Wehrstrukturkommission ein, dieneue und für alle tragbare Lösungen entwickelnkönnte.Meine Damen und Herren, hätten Sie damals der Einrich-tung dieser Kommission zugestimmt, wären wir heute eingutes Stück weiter.Die in allen Berichten der Wehrbeauftragten ange-führten Materialmängel haben uns veranlasst, die In-vestitionsmittel 1999 und 2000 um über 2 Milliarden DMzu erhöhen. Der Verteidigungshaushalt weist damit diehöchste Investitionsquote seit 1991 auf. Wir sindentschlossen, diesen Weg fortzusetzen.
Meine Damen und Herren aus der CDU/CSU-Fraktion,Sie können meinen Ausführungen zum Bericht derWehrbeauftragten für 1996 entnehmen, dass ich schondamals mehr den Bundesminister der Finanzen als den derVerteidigung im Visier hatte. Nicht, dass mir die Sorgender Finanzminister fremd wären! Nein, ich wollte schondamals mögliches Streitpotenzial aus unserem Arbeitsge-biet heraushalten. In den letzten Jahren Ihrer Regierunghaben wir als Opposition geholfen, möglichst Konsens inSicherheitsfragen zu fördern. Manche Wortmeldungen ausIhren Reihen haben mich in den letzten Wochen zweifelnlassen, ob dieser breite Konsens von Ihnen noch ge-wünscht ist. Damit mich niemand falsch versteht: Konsensheißt nicht Kritiklosigkeit. Aber wer eingedenk der eige-nen Schwierigkeiten in seiner Regierungszeit das eingangsZitierte vertritt, der trägt nicht zur Klimaverbesserung indiesem Bereich bei.
Auch von dem, was nach der Vorstellung des Berichtes1999 durch die Frau Wehrbeauftragte in den Zeitungenstand, habe ich vieles nicht nachvollziehen können. DasAusscheiden der Frau Wehrbeauftragten hat wohl man-chen Journalisten bewogen, erstmals einen Bericht derWehrbeauftragten zu lesen. Denn nichts von dem, was daveröffentlicht wurde, war neu. Das allermeiste war infrüheren Jahresberichten nachzulesen.An einer Stelle heißt es im Bericht der Wehrbeauf-tragten:Auch im militärischen Einsatz hat der Soldat seinVerhalten an den Menschenrechten ... auszurichten.... Ich habe ... mit großer Erleichterung zur Kenntnisgenommen, dass unsere Soldaten gut ausgebildetund beispielhaft vorbereitet in den Einsatz gegangensind.Die Soldaten, von denen Frau Marienfeld da spricht, sindunsere Soldaten. Ich denke, diese Feststellung derWehrbeauftragten wäre ein Grund für die gesamte Nation,auf diese Truppe stolz zu sein.
Aber die Journalisten nehmen dieses Positive durchausnicht zur Kenntnis. Stattdessen wird folgender Satz undif-ferenziert aufgegriffen und breit ausgewalzt: Bei den Sol-daten und ihren Familien „treffe ich ... vermehrt ... aufUnsicherheit und Motivationsverlust“. Hätte man dennächsten Satz dazu gelesen, hätte man vielleicht nachge-fragt. Denn dort wird beschrieben, dass die sich abzeich-nende strukturelle Veränderung, Innovationsstau undFragen nach der eigenen künftigen Verwendung dabei eineRolle spielen. Dass dies die Menschen in der Bundeswehrinteressiert und bewegt, ist eine schlichte Selbstver-ständlichkeit. Daraus Motivationsverlust für den derzeiti-gen Dienst abzuleiten, halte ich allerdings für eine falscheSchlussfolgerung. Sie ist mir so auch noch nicht begegnet.
Die Soldaten wissen nur zu gut, dass – bei allerUngeduld, die verständlich ist – die Kommission Zeit fürihre Arbeit braucht. Das Ende ist ja nun abzusehen. Werden Minister in den 17 Monaten seiner Amtszeit einiger-maßen objektiv beobachtet hat, der kann sicher sein, dassdie notwendigen Konsequenzen zügig auf den Tischkommen.
Meine Damen und Herren, was die sicher notwendigeKenntnisnahme von ärgerlichen Sachverhalten undVorkommnissen betrifft, verweise ich auf die Debatte vomJanuar. Ausdrücklich erwähnen will ich allerdings dendrastischen Rückgang der gemeldeten Verdachtsfälle mitrechtsextremem Hintergrund. Die besonderen Be-mühungen von militärischer und politischer Führungscheinen hier zu wirken. Dafür will ich allen Beteiligtenausdrücklich danken.
Obwohl die Debatte über den Bericht 1998 erst wenigeWochen her ist, will ich die darin enthaltenenDankadressen wiederholen. Da waren die Militärseel-sorge, die Evangelische und die Katholische Arbeitsge-meinschaft für Soldatenbetreuung und die Familienbe-treuungszentren zu erwähnen. Ausdrücklich will ich inden Dank alle einschließen, die zum Ansehen der Bundes-wehr im In- und Ausland beigetragen haben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, in wenigen Wochenbeginnt für die meisten von uns das Verfahren zur Auf-stellung des Bundeshaushalts 2001. Die Begehrlichkeitensind in allen Bereichen groß. Allzu viele in diesem Parla-ment und in der Gesellschaft sehen den Verteidigungs-haushalt immer noch als Deckungsreserve für anderes,vermeintlich Wichtigeres. Gesellschaftliche und parla-mentarische Gestaltung in Frieden und Freiheit wäre ohneSicherheit nicht denkbar. Diese Sicherheit kostet natürlichGeld. Für dieses Geld zu streiten und seine Verwendungbreiter gesellschaftlicher Akzeptanz zuzuführen, das istunsere Aufgabe. In diesem Sinne sollten wir alle in un-seren Parteien und darüber hinaus keinem Streit aus demWege gehen.Danke schön.
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Uwe Göllner9119
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Paul Breuer.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Auch ich möchte am Anfang meinerAusführungen der Wehrbeauftragten Claire Marienfeld fürihre Arbeit ein herzliches Dankeschön sagen. Ich darf fürmeine Fraktion formulieren, dass wir eine sehr gute undfruchtbare Zusammenarbeit hatten.
Ich schließe die Mitarbeiter in diesen Dank mit ein. Wirwerden bei der Verabschiedung der WehrbeauftragtenGelegenheit haben, auf ihre Arbeit intensiver einzugehen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist hiereben in der Debatte sowohl von Frau Marienfeld als auchvom Kollegen Göllner als eine Besonderheit dargestelltworden, dass die erste Beratung des Berichts derWehrbeauftragten für das Jahr 1999 so schnell erfolgte.Herr Kollege Göllner, Sie haben aus der Sicht der SPDdazu Ausführungen gemacht. Lassen Sie mich jetzt aus derSicht meiner Fraktion formulieren.Der Bericht der Wehrbeauftragten auf das Jahr 1999 be-zogen ist kein normaler Bericht. Dieser Bericht stellt fest,dass die Bundeswehr in der Gefahr steht, in eine tiefeKrise zu geraten. Wenn diesem Parlament seitens derWehrbeauftragten des Deutschen Bundestages deutlichgemacht wird, die Armee drohe in eine tiefe Krise zustürzen, dann muss sich der Bundestag damit umgehendbeschäftigen.
Schauen wir genau hin, um welche Art Krise es sichhandelt. Es ist eine Krise, herbeigeführt durch Irritationund Desorientierung und auch eine Krise bei der Nach-wuchsgewinnung. Man muss sich über die Verant-wortlichkeiten sehr genau Gedanken machen. Ich bin festdavon überzeugt, dass die 17 Monate Ihrer Amtszeit andieser Krise durch Irritation und Desorientierung ein er-hebliches Stück mitgewirkt haben und dass MinisterScharping die Hauptverantwortung dafür trägt.
Schauen wir uns einmal genau an, was im Einzelnengemacht worden ist. Minister Scharping ist ins Amt ge-kommenundhat gesagt: Ich tue das nur deshalb – er hat dasja nicht unbedingt aus eigenemWillen heraus gemacht –,weil ich Garantien besitze. Ich besitze Garantien seitensdes Bundeskanzlers, ich besitze Garantien seitens desBundesfinanzministers. Er hat davon gesprochen, er be-sitze Garantien, die noch kein Verteidigungsminister vorihm besessen habe. – Das stimmt. Solche schlechtenGarantien hat niemand vor ihm besessen.
Dann schauen Sie sich doch die Koalitionsverein-barung, die Sie von Rot und Grün getroffen haben, genauan. In der Koalitionsvereinbarung steht etwas, was ichwörtlich zitieren kann.
– Ich hoffe, dass Sie die Koalitionsvereinbarung noch imEinzelnen interessiert. Ich weiß, einige von Ihnen habensie längst vergessen. Dort steht:Vor Abschluss der Arbeit der Wehrstrukturkommis-sion werden ... keine Sach- und Haushaltsentschei-dungen getroffen, die die zu untersuchenden Berei-che wesentlich verändern oder neue Fakten schaffen.
– Das ist so geschehn? Herr Zumkley, der Finanzministerhat im Vergleich zum Verteidigungsetat 1998 in denHaushalten 1999 und 2000 Fakten geschaffen, die dieGrundlagen um 4 Milliarden DM verändert haben.
Das ist eine ganz entscheidende Zahl, um die es hier geht.
Dann beschäftigen wir uns etwas mit der Wehrstruk-turkommission und der Art, wie sie arbeitet. Herr Minis-ter Scharping, Sie haben gesagt, Sie wollten mit dieserWehrstrukturkommission sichern, dass alle Teile dieserGesellschaft in eine Diskussion über die Zukunft der Bun-deswehr einbezogen werden.
Es ist löblich, so etwas zu versuchen. Aber glauben Sieetwa, dass die Art, wie die Kommission arbeitet – die Arthat nicht die Kommission gewählt, sondern Sie –, dasshinter verschlossenen Türen gearbeitet wird, dass Ergeb-nisse oder Nichtergebnisse herausgespielt werden, dassspekuliert werden kann,
dass Sie parallel zur Wehrstrukturkommission den Gene-ralinspekteur beauftragen, eine eigene Planung zu erar-beiten,
dass all das das Vertrauen in diese Kommission stärkt? Dasführt zu Spekulationen,
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Uwe Göllner9120
und diese Spekulationen führen genau zu den Irritationen,von denen die Wehrbeauftragte spricht.
Schauen Sie sich, Herr Minister Scharping, doch nurdie letzten Tage an. Schauen Sie sich an, was Sie selbst indiesen letzten Tagen gemacht haben. Insgesamt ist es ja so,dass viele der Forderungen, die Sie erheben, von uns un-terstützt und geteilt werden können.
Ich stelle auch fest, dass wir diese Forderungen, ins-besondere im Hinblick auf die haushaltspolitischen Fol-gen, stärker unterstützen als diejenigen in der SPD-Frak-tion, in der Fraktion der Grünen oder im Finanzministe-rium, die für den Haushalt zuständig sind. Das ist doch einWiderspruch. Sie stellen Forderungen, die Forderungenwerden nicht erfüllt. Das wirkt irritierend, das öffnetSpekulationen Tür und Tor. Und dann meinen Sie, das seieine Veranstaltung, die mehr Vertrauen erwecken kann?Das begünstigt das Misstrauen. Das wirft Ihnen dieWehrbeauftragte zu Recht vor, meine Damen und Herren.
– Das ist bemerkenswert.Schauen Sie doch, wie Sie in den letzten Tagengesprochen haben. Sie sind zunächst vor die Kameras ge-treten und haben gesagt, Sie wollten den Wehrdienstverkürzen, nannten eine Zahl von sechs Monaten und an-schließend Wehrübungen. Heute lese ich in derTageszeitung „Die Welt“, Sie wollten es mitnichten; Siewollten eine Wehrdienstdauer von neun Monaten.Früher haben Sie gesagt: Die Wehrstrukturkommissionwird die Grundlagen für die Entscheidungen bringen,warten wir es ab. Dann haben Sie den Generalinspekteureingesetzt, der sollte eigene Planungen machen. Nun kön-nen Sie das Wasser nicht halten und spekulieren jeden Tagüber neue Zahlen. Das soll Vertrauen schaffen? Das wirktirritierend und verunsichernd auf jeden, der sich damitbeschäftigt.
Nun zu den Zahlen im Haushalt: Es ist sicher richtig,Herr Zumkley und Herr Göllner, dass auch in der zweitenHälfte der 90er-Jahre der Verteidigungsetat von der dama-ligen Mehrheit im Deutschen Bundestag nicht großzügiggestaltet worden ist. Volker Rühe wäre der Letzte, der dasbestreiten würde.
Aber eines will ich Ihnen sagen. Wenn man sich dieHaushaltsentwicklung am Ende der Legislaturperiode unddie mittelfristige Finanzplanung, die sich daraus bis zumJahre 2003 entwickelt hat, anschaut, kommt man zu derErkenntnis: Die Haushaltsentwicklung wurde verstetigtund berechenbar und die mittelfristige Finanzplanungführte zu einer moderaten Erhöhung und damit zur Ver-stetigung und Berechenbarkeit des Verteidigungs-haushaltes.
Ganz im Gegenteil dazu, Herr Kollege Zumkley, stehtdie mittelfristige Finanzplanung der rot-grünen Koalition.Diese mittelfristige Finanzplanung vergeht sich doch ander eigenen Koalitionsvereinbarung. Sie wollen innerhalbeines Vier-Jahres-Zeitraums den Verteidigungsetat so weitnach unten fahren, dass der Bundeswehr dabei fast 20Mil-liardenDM entzogen werden. Glauben Sie, damit könntenSie Vertrauen innerhalb der Bundeswehr schaffen? Damitführen Sie zu Desorientierung, zu Irritation, zu Zukunfts-angst, und Sie vergrößern damit die Schwierigkeiten beider Nachwuchswerbung, die von der Wehrbeauftragtenbeschrieben worden sind.Es ist zum großen Teil auch von den jetzt realisiertenHaushaltszahlen her gar nicht möglich, das dann alles indas Spielfeld der ehemaligen Mehrheit zu führen. Ich willSie darauf hinweisen, dass Sie, die Mehrheit dieses Hau-ses, im jetzt gültigen Haushalt 2000 im Kapitel „Materi-alerhaltung und Betrieb“– ein wichtiges Kapitel imBericht der Wehrbeauftragten – bei der Materialerhal-tung von Fahrzeugen ein Minus von 14 Prozent her-beigeführt haben, eine Kürzung von 1,032Milliarden DMauf 890 Millionen DM.Der Verteidigungsminister tritt an und spricht davon,die Fahrzeuge seien älter als die Soldaten, was stimmt.Aber das moralische Recht, das gegenüber der Vergan-genheit zu kritisieren, hätte er doch nur, wenn dieHaushaltszahlen heute verbessert worden wären.Sie werden nicht verbessert, sondern sie werden bei dieserPosition um 14 Prozent gesenkt. Ist das vertrauener-weckend? Der Haushalt für die Erhaltung von Fern-meldematerial – Verbindung und Information, ein wich-tiges Thema, das der Verteidigungsminister immeranspricht – reduziert sich um 10 Prozent von 235 Millio-nen DM auf 211 Millionen DM. Ich frage Sie: Ist das ver-trauenerweckend? Das ist absolut irritierend.
Sie sind aufgefordert, durch eine konsistente Planungund nicht durch Verzögerungstaktik und alles auf dieWehrstrukturkommission abschiebend dazu beizutragen –Sie haben die politische Verantwortung –, dass die Zu-kunft der Bundeswehr sicher ist, dass Berechenbarkeit,Vertrauen und Planungssicherheit entstehen. MeineDamen und Herren, momentan sind Sie davon meilenweitentfernt.
Herr Kollege, denkenSie bitte an die Redezeit.
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Paul Breuer9121
Ich fordere Sie dringend
auf, die Grundlage für diese Sicherheit zu schaffen. Ich
halte es für notwendig, dass dieses Parlament, dem ge-
genüber die Bundeswehr zur Loyalität verpflichtet ist –
daran hat niemand Zweifel –, im Hinblick auf die deut-
schen Sicherheitsinteressen, aber auch im Hinblick auf un-
sere Verpflichtungen gegenüber der Bundeswehr tätig
wird.
Schaffen wir eine Zukunft für die Bundeswehr, die den
deutschen Sicherheitsinteressen innerhalb Europas und in-
nerhalb des NATO-Bündnisses gerecht wird und die den
Menschen in der Bundeswehr, den jungen Wehrpflichtigen
und der Gesellschaft signalisiert, dass wir es mit der
deutschen Sicherheit und den Belangen der Bundeswehr
ernst meinen.
Hören Sie auf damit, jedes Jahr erneut darüber zu disku-
tieren, welche Kürzungen vorgenommen werden sollen
und wie die Bundeswehr verkleinert werden soll. Das kann
sie auf Dauer nicht ertragen. Das war die Grundlage des
Berichtes von Claire Marienfeld.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat jetzt
Bundesminister Rudolf Scharping.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Ich möchte zunächst einmal Ihnen, Frau Marienfeld,sehr herzlich für das danken, was Sie für die Bundeswehr,für die Soldaten und deren Belange getan haben. Die Be-richte der Wehrbeauftragten müssen auf Unzulänglich-keiten und Mängel hinweisen. Insofern sind sie hilfreich.Es ist eine ganz andere Frage der politischen Verant-wortung, wie man mit diesen Mängeln umgeht. Dafürhaben wir gerade ein sehr interessantes Beispiel erlebt:Herr Kollege Breuer, ich habe hier ein Interview von Ih-nen vom 8. Februar 2000 vorliegen. Dieses spiegelt eineganz eigenartige Vertrautheit mit den Fakten wider. Darinbehaupten Sie, dass eine Brigade 5 000 Soldaten hätte, wasnicht stimmt.
– Das steht alles in dem Interview.
– Ich kann Ihnen das auch alles vorlesen. Sie behaupten,der Haushalt habe 48,3Milliarden DM betragen, was auchnicht stimmt. Dann sagen Sie, der Wehrdienst könne zwi-schen sechs und 23 Monaten schwanken, um mir hinter-her Verunsicherung vorzuwerfen,
wobei Sie nichts anderes getan haben, als einen Prü-fungsauftrag an den Führungsstab der Streitkräfte zurKenntnis zu nehmen, als eigenen Vorschlag an die Öf-fentlichkeit zu bringen und dann hinterher Verunsicherungzu beklagen.
Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Die Bundeswehr hat1999 700 Millionen DM mehr zur Verfügung gehabt als1998. Das waren zusammen mit den internationalen Ein-sätzen insgesamt 47,4 Milliarden DM.
Die Bundeswehr hat im Jahre 2000 einschließlich der in-ternationalen Einsätze 47,3Milliarden DM zur Verfügung.In die Ausrüstung der Bundeswehr werden in den Jahren1999 und 2000 2,5 Milliarden DM mehr als in den Jahren1997 und 1998 investiert.Sie tragen die Verantwortung dafür, dass die Investitio-nen in die Ausrüstung der Bundeswehr im Jahre 1997 auf5,3 Milliarden DM – ein unverantwortlich niedrigesNiveau – zurückgegangen waren.
Sie können doch nicht der Bundesregierung und demVerteidigungsminister vorhalten, dass die Bundeswehr esmit Gerät zu tun hat, das zum Teil 30 oder 40 Jahre alt ist,und dass allein in die Nutzungsdauerverlängerung vonMannschaftstransportfahrzeugen 500 Millionen DM in-vestiert werden müssen, weil Sie die Kraft nicht hatten,rechtzeitig zu investieren. Die Betriebskosten sind dochdeswegen so hoch, weil Sie über Jahre hinweg die In-vestitionen in kostengünstigeres und leistungsfähigeresGerät schlicht versäumt haben.
Im Übrigen: Der Haushalt 1999 war der erste seit 1992,in den mit globalen Minderausgaben nicht eingegriffenwurde, was für Verlässlichkeit der Haushaltsführung undübrigens auch für Vertrauensbildung in der Bundeswehrrichtig und notwendig gewesen ist. Sie haben doch zuvertreten, dass in den 90er-Jahren allein mit globalen Min-derausgaben in Höhe von über 5 Milliarden DM in dielaufenden Haushalte des Verteidigungsministeriumseingegriffen worden ist. Und dann tun Sie hier so, als kön-nte man an all diesem vorbeisehen. In den 90er-Jahren isteine Investitionslücke von über 15 Milliarden DM ent-standen. Wir haben begonnen, sie abzubauen. Wir werdendas konsequent fortsetzen, und zwar auch in den kom-menden Haushaltsjahren. Das ist der eine Teil.Der zweite Teil betrifft das Personal. Sie haben zuverantworten, dass es einen Beförderungsstau gibt unddass in der Bundeswehr 8 000 Menschen unterwertigbesoldet werden.
Sie haben zu verantworten, dass die Besoldungs- und Per-sonalstruktur so ist, wie sie ist. Die Bundeswehr ist zurzeit
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der einzige Bereich des öffentlichen Dienstes, der noch ineinem nennenswerten Umfang nach A 1, A 2 oder A 3besoldet wird. Sie haben zu verantworten, dass im Zugeder Halbierung der Bundeswehr in der Mitte der 90er-Jahre nicht nur viel Verunsicherung, sondern auch ein Fehlvon über 6 000 Unteroffizieren entstanden ist. Ich wehremich dagegen – und zwar ganz engagiert –, dass Sie wei-tere Verunsicherung der Bundeswehr betreiben. In derjetzigen Situation gibt es klarere und für die Zukunft derBundeswehr wesentlich nützlichere Entscheidungen alsalles, was Sie in den 90er-Jahren hier im Parlamentbeschlossen haben.
– Ich komme gleich auch noch zur mittelfristigen Finanz-planung, aber Sie werden schon die Geduld aufbringenmüssen, sich mit den Konsequenzen Ihrer Entscheidungenauseinander zu setzen.Sie haben zu verantworten, dass das fliegende Per-sonal in der Bundeswehr durch Ihre Entscheidungen15 Prozent Nettoeinkommensverlust hinnehmen musste.Die daraus entstehenden Schwierigkeiten in der Nach-wuchsgewinnung, ja sogar im Halten der Leute müssenbereinigt werden. Es wird Sie interessieren, dass der Bun-desinnenminister und ich bereits dabei sind. Sie haben zuverantworten, dass nur 8 Prozent der Dienstposteninha-ber in der Bundeswehr in der mittleren und gehobenenLaufbahn – Unteroffiziere und Feldwebel – die Spitzen-positionen erreichen können, während das beispielsweisein der Polizei 50 Prozent sind. Sie haben sich doch nie ge-traut, die Personal- und Besoldungsstruktur zu verändern.
Was wir als Folge Ihrer Politik auf der Kompanieebene er-lebt haben, war ein Ausdünnen der Leistungsfähigkeit aufbeiden Seiten: auf der Seite des Personals und auf derSeite der Ausrüstung.
Ich werde nicht anstehen, das nüchtern zu beschreiben,und im Übrigen werde ich alles tun, um das zu ändern.Das heißt, die Investitionen in die Ausrüstung der Bun-deswehr werden steigen und sie müssen auch steigen. Dasbedeutet: Die Zahl der Berufs- und Zeitsoldaten wirdsteigen; sie darf im Interesse der Leistungsfähigkeit derBundeswehr nicht fallen. Das bedeutet auch, dass wir unsin Fragen der Wehrpflicht intelligentere Konzepte über-legen müssen. Da ist ja mit der freiwilligen Verlängerungdes Wehrdienstes schon etwas getan. Allerdings kann ichmir mehr Flexibilität vorstellen.Damit bin ich bei der Wehrpflicht. Das Folgende sageich mehr an die Adresse der Öffentlichkeit, weniger an dieAdresse des Parlamentes, weil ich weiß, dass das hier einebreite Übereinstimmung findet. Wir sollten uns davon ver-abschieden, eine Gesellschaft allein so zu definieren, dasssie nach dem Motto funktioniert: Wenn jeder an sich denkt,ist an alle gedacht. Das geht nicht. Jeder Freiheit steht eineVerantwortung, jedem Recht auch eine Verpflichtunggegenüber. Die gemeinsame Verpflichtung, die Freiheitund die Sicherheit unseres Landes und seiner Bündnis-partner zu gewährleisten, wird am besten in der Wehr-pflicht ausgedrückt. Im Übrigen hat das auch etwas mitdem zivilen, dem inneren Gefüge der Streitkräfte selbst zutun; denn mit jedem Wehrpflichtigen gibt es auch Elternund Großeltern, die sehr genau hinschauen, was in derBundeswehr wirklich passiert.
– Entschuldigung, man wird doch in der Lage sein, HerrKollege Nolting, das eine oder andere noch einmal zubekräftigen, ohne dass das als Ansprache an irgendjeman-den, auch nicht an unseren Koalitionspartner, missver-standen werden muss. Ich bin jedenfalls dagegen, diesegemeinsame Sicherheit wie eine gewerbliche Dienstleis-tungsagentur zu betrachten. Das wird nicht weiterhelfen.Der Dank an die Soldaten wird sichtbarer und deut-licher, wenn man darauf aufmerksam macht, dass trotzdieser Mängel und trotz der Fehlentwicklung der 90er-Jahre die Bundeswehr ein sehr hohes Maß an Leistung er-bringt. Das hat mit einem systematischen und gründlichenEntscheidungsprozess zu tun. Ich habe veranlasst, dasseine Bestandsaufnahme gemacht wird. Ich weiß, dassmanche diese nicht lesen wollen oder im Mai 1999 dazuvielleicht keine Zeit gefunden haben. Diese Bestands-aufnahme ist Ergebnis einer sehr systematischen Arbeit inden Streitkräften, durchgeführt vom Generalinspekteursowie von den Führungsstäben, und einer sehr sorgfältigenBestandsaufnahme in über 15 Tagungen mit Angehörigender Bundeswehr.Meine Führung ist ausdrücklich für die Leistungs-fähigkeit der Bundeswehr und somit auch für die Mit-sprache der Angehörigen der Bundeswehr. Man hat näm-lich nichts von Soldaten, die bloße Befehlsempfänger sind.Aber man hat auch nichts von Verteidigungsministern, dieVorlagen durch die Gegend werfen nach dem Motto: Ichwill überhaupt nicht wissen, was die Oberstleutnantsdenken. Ich möchte das wissen. Ich möchte die Angehöri-gen einbeziehen, nicht nur die Oberstleutnants.
Wir erarbeiten nun systematisch Arbeitsgrundlagen.Dies tun wir in der Kommission.Wie Sie sich verhalten,ist – auch angesichts der vielen, die Ihrer Partei angehörenund in dieser Kommission mitarbeiten – in hohem Maßeerstaunlich. Sie sollten einfach das Normalste der Welt tunund sagen: Gott sei Dank gibt es in diesem Land nochMenschen, die sich Stunden, Tage und Wochen um dieOhren schlagen, ohne irgendetwas dabei zu verdienen, diesich den einen oder anderen Ärger einhandeln und diesachkundig und qualifiziert im Interesse des Landes undseiner sicheren Zukunft arbeiten.
Herr Minister, gestat-ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Breuer?
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Bundesminister Rudolf Scharping9123
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich möchte diesen Gedanken erst zu Ende bringen.
Diese Kommission hat Respekt verdient. Dass die
Streitkräfte Vorschläge auf den Tisch legen, ist ausdrück-
lich mein Wunsch. Es gehört zum guten Recht der
Streitkräfte, an diesem Prozess beteiligt zu sein.
Es kommen nun Zwi-
schenfragen der Kollegen Breuer und Nolting. Herr Kol-
lege Breuer, bitte sehr.
Herr Minister Scharping,
darf ich Sie darauf hinweisen, dass ich nicht Kritik an der
Arbeit der Kommission geäußert habe, sondern an den
Umständen, unter denen diese Kommission arbeitet?
– Die Frage ist, ob ich Herrn Scharping darauf hinweisen
darf. Aber gut, ich nehme Ihren freundlichen Rat auf und
werde meine Ausführungen deutlicher als Fragen for-
mulieren.
Erinnern Sie sich daran, dass Sie gegenüber dem
Verteidigungsausschuss zugesagt haben, dass über die Ar-
beit der Kommission kontinuierlich und fortlaufend in-
formiert werde? Können Sie sich daran erinnern, dass Sie
sich an diese Zusage irgendwann nicht mehr erinnern
mochten? Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
ich eben darauf hingewiesen habe, dass ich es für falsch
halte, dass die Kommission hinter verschlossenen Türen
arbeitet? Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es
andere Kommissionen in Europa gibt, die ihre Verhand-
lungen öffentlich gemacht haben, sodass mehr Trans-
parenz entsteht? Das ist die eigentliche Kritik.
Herr Minister, bitte
sehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Breuer, ich beantworte Ihre Fragen mit ei-
nem kurzen Hinweis. Ich will mich mit Ihnen nicht über
Erinnerungen streiten, sondern will Sie nur auf Folgendes
aufmerksam machen: Ich habe Sie und einige Ihrer Frak-
tionskollegen im späten Herbst des letzten Jahres über ei-
ne ganze Reihe von Fragen im Zusammenhang mit der
Bundeswehr der Zukunft informiert. Danach habe ich in
den Zeitungen völlig haltlose Spekulationen gelesen. Ich
stehe nicht an zu sagen, Vertraulichkeit ist nur in einer
„Zweibahnstraße“ möglich. Ich bin aber nicht bereit,
mich noch einmal dem Umstand auszusetzen, dass Sie
bzw. Ihre Fraktionskollegen auf eine so erbärmliche Wei-
se vertrauliche Informationen verfälschen, wie das ge-
schehen ist. Ich habe mich – mit dem vollen Verständnis
Ihrer Fraktionsführung – korrekt verhalten und habe sie
informiert. Wenn Kollegen Ihrer Fraktion ein solches Ge-
spräch missbrauchen, um im Vorfeld eines Parteitages der
Sozialdemokraten Mist in die Welt zu setzen, führe ich
keine vertraulichen Gespräche mehr. Das ist ganz einfach.
Eine zweite Frage des
Kollegen Breuer. Bitte schön.
Herr Minister, darf ich
darauf hinweisen, dass bezüglich dieses Gespräches in der
Öffentlichkeit kein sachlicher Inhalt zum Ausdruck kam,
sondern dass die von Ihnen genährte Erwartung, den
Bundeskanzler zu beerben, Gegenstand dessen war, was
Sie hier kritisieren?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das war Gegenstand Ihrer öffentlichen Berichterstattung,
obwohl dies in unserem Gespräch keine Rolle gespielt hat
und auch keine Rolle spielen konnte, weil ich diese Ab-
sicht weder hatte noch habe noch in Zukunft haben wer-
de.
Im Übrigen will ich Sie im Zusammenhang mit Ihrer
Frage nach der Kommission auf eines aufmerksam ma-
chen: Ich habe es einfach satt, dass einige in der Union –
Gott sei Dank nicht alle – regelmäßig den Versuch
machen, Fragen über die Zukunft der Bundeswehr, die ei-
ner gründlichen Diskussion bedürfen, weil sie Entschei-
dungen fordern, die für zehn bis 20 Jahre Bestand haben
müssen, zum Gegenstand eines ganz billigen parteipoli-
tischen Spiels zu machen.
Ich könnte Ihnen Dutzende von Interviews als Beispiel
nennen. Das läuft mit mir nicht. Das hat die Bundeswehr
nicht verdient und das ist im Übrigen ein Stil der politi-
schen Auseinandersetzung, den ich nicht sonderlich
schätze.
Herr Minister, gestat-
ten Sie nun eine Zwischenfrage des Kollegen Nolting? Ich
möchte darauf hinweisen, dass wir uns beim Tagesord-
nungspunkt 6, der Beratung des Berichts der Wehrbeauf-
tragten, befinden. Wir sollten uns etwas an die Inhalte der
Tagesordnung halten.
Herr Kollege Nolting, bitte.
Herr MinisterScharping, könnten Sie uns erklären, welchen Sinn eineZukunftskommission macht, die ja von Ihnen eingesetztwurde und auf deren Ergebnisse wir warten, wenn Siegleichzeitig den Generalinspekteur beauftragen, eigenePlanungen vorzunehmen, die offensichtlich in Wider-spruch zu dem stehen, was die Zukunftskommission vor-legen wird? Glauben Sie nicht, dass dies insgesamt – wiehier schon diskutiert wurde – zur Verunsicherung in derTruppe führt? Darf ich Sie im Zusammenhang mit der mit-telfristigen Finanzplanung auch daran erinnern, dass wei-tere Kürzungen in Höhe von circa 18Milliarden DM vor-genommen werden sollen und dies in absolutem Wider-spruch zu dem steht, was Sie fordern: nämlich zusätzliche15 Milliarden DM?
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Nolting, erstens: Ich habe auf eine Investi-
tionslücke aus den 90er-Jahren hingewiesen. Ich müsste
dies mit dem Hinweis ergänzen, dass diese Investitionslü-
cke nicht all das erfasst, was angesichts einer gemeinsa-
men europäischen Sicherheitspolitik und wegen der von
der NATO gemeinsam beschlossenen Strategie an künfti-
gen Fähigkeiten für die Bundeswehr erworben werden
muss.
Zweitens. Ich muss Sie darauf hinweisen – wir haben
das mehrfach diskutiert –, dass die Zahlen der mittelfristi-
gen Finanzplanung unter einem – dem Parlament im Übri-
gen mitgeteilt – Vorbehalt stehen, sodass Sie ebenso wie
ich darauf warten müssen, was im Juni 2000 wirklich
entschieden werden wird.
Ich bin ziemlich sicher, dass Sie von den Umständen et-
was überrascht sein werden.
Drittens. Mit Blick auf Ihre Frage nach der Arbeit der
Kommission muss ich Sie darauf hinweisen, dass nach un-
seren Regeln und den Ihnen bekannten Vorschriften der
Generalinspekteur der Bundeswehr als oberster si-
cherheitspolitischer Berater der Bundesregierung ver-
pflichtet ist, konzeptionelle Eckwerte für die Bundeswehr
zu entwickeln. Ich sage es einmal etwas polemisch: Wenn
es bei Ihnen üblich sein sollte, dass niemand denken darf,
weil ein anderer denkt, würde ich das für sehr unsinnig hal-
ten. Dies hat aber auch einen sehr begründeten, sachlichen
Umstand, nämlich die klare Tatsache, dass Sie die Bun-
deswehr in einen Zustand gebracht haben, der einen lan-
gen Entscheidungsprozess nicht duldet.
Deswegen bin ich der Kommission dafür dankbar, dass
sie ihre Ergebnisse im Mai vorlegt; deswegen habe ich
veranlasst, dass parallel gearbeitet wird, um vor den Som-
merferien zu Entscheidungen über diese Eckpfeiler zu
kommen. Denn alles andere hätte dazu geführt, dass einige
Kollegen in diesem Haus ihre Taktik der Verunsicherung
hätten weiter betreiben können, die Entscheidung erst im
Jahre 2001 statt jetzt im Sommer 2000 gefallen wäre und
der Zustand der Bundeswehr nicht nach vorne hätte
verbessert werden können. Dies wäre angesichts des Zu-
standes, den die Bundeswehr erreicht hat, nicht verant-
wortbar. Deswegen bin ich gemeinsam mit dem Bun-
deskanzler fest entschlossen, diese Eckpfeiler im Sommer
entschieden zu haben. Sie haben mit dem Umfang der
Bundeswehr, mit der Wehrform, mit der Beseitigung der
Personal- und Besoldungsmängel und mit einer klaren
Perspektive der Beseitigung der Ausrüstungsmängel zu
tun. Wenn Sie nach dem Vorliegen dieser Entscheidung
dann die Kraft haben, Ihre Spekulationen als so haltlos zu
bezeichnen, wie sie heute schon sind, dann wird mein
Respekt wieder etwas wachsen.
Im Übrigen möchte ich abschließend, Frau Präsidentin,
darauf hinweisen, dass der Bericht der Wehrbeauftragten
eine Fülle von sehr beachtlichen – –
– Ja, natürlich. Sie können doch keine Motivationsmängel
und Verunsicherungen innerhalb der Truppe beklagen,
ohne dass wir beginnen, über die Ursachen zu reden. Wo
kommen wir denn da hin? Das geht doch nicht nach der
Methode: Ich beklage den Zustand, frage nicht nach den
Ursachen und verliere deswegen die Fähigkeit, sie zu be-
seitigen. Mit Verlaub: Das ist nicht nur politisch, sondern
auch intellektuell unredlich.
Deswegen will ich Sie noch auf einen Umstand
aufmerksam machen. Ihre unüberlegte Reduzierung der
Bundeswehr – personell wie finanziell wurde die Bun-
deswehr in den 90er-Jahren halbiert – hat dazu geführt,
dass allein in einem einzigen Jahr über 50 000 zusätzliche
Umzüge bewältigt werden mussten. Sie dürfen sicher sein:
Ich orientiere mich an sehr klaren Leitlinien der plane-
rischen und sozialen Sicherheit für die Soldaten als Vo-
raussetzung für Motivation und Leistungswillen, für die
Dauerhaftigkeit dieses Willens, die Erhöhung der
wirtschaftlichen Effizienz innerhalb der Bundeswehr, was
dringend erforderlich ist, und die Rücksichtnahme auf das
familiäre Umfeld der Soldaten und der zivilen Angehöri-
gen der Bundeswehr. Denn 50 000 ohne Not provozierte
Umzüge waren 50 000 Eingriffe in das Leben von Fami-
lien, in die Berufstätigkeit von Frauen, in das schulische
Umfeld von Kindern usw. Wer jetzt Mängel in der Moti-
vation, schwere Mängel in der Ausrüstung beklagt, beklagt
das zu Recht. Das befreit uns nicht davon, nach den Ur-
sachen zu fragen und sie konsequent auszumerzen. Das
wird auch geschehen.
Das Wort hat jetzt der
Kollege Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Frau Marienfeld! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Herr Breuer, Sie haben gerade sobedeutungsschwer festgestellt, der Bericht der Wehrbe-auftragten sei kein normaler Bericht, sondern er sei ein Be-richt zur Krise der Bundeswehr. Sie haben dabei eineKleinigkeit vergessen, nämlich, dass das der Bericht zumJahr 1999 war. Das Jahr 1999 war, abgesehen von schonerheblichen Veränderungen für die Bundeswehr in den90er-Jahren, das einschneidende Jahr der Veränderungen.Immerhin war die Bundeswehr und das demokratischeDeutschland zum ersten Mal an einem Krieg beteiligt. Diepersonelle und materielle Belastung spitzte sich durchden gesamten Einsatz im letzten Jahr zu. Die Rahmenbe-dingungen für die innere Führung, für das Verhältnis derStreitkräfte zur Gesellschaft haben sich dadurch verändert.Ich glaube, die Anforderungen an den Primat der Politiksind dabei gewachsen.Zum ersten Punkt. Die Wehrbeauftragte stellt fest, siehabe die Bundeswehrsoldaten im Einsatzgebiet auf demBalkan als gut ausgebildet und bestens vorbereitet erlebt.Diejenigen, die die Bundeswehrsoldaten besucht haben,können dieses Urteil voll und ganz bestätigen.
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Bei SFOR und KFOR erweist sich die Bundeswehr alsvoll bündnisfähig – ich sage das einmal ausdrücklich so –,als fähig zum Zusammenwirken mit Armeen, die nicht derNATO angehören, zum Beispiel den russischen Batail-lonen, und schließlich mit zivilen Kräften, was gerade beiKriseneinsätzen von entscheidender Bedeutung ist. Erst-malig nahmen Bundeswehrsoldaten an einem Kriegsein-satz teil. Wir haben dabei nichts von einer Art befreiendemAufatmen gespürt, dass man endlich „voll dabei“ war. Esgibt auch keinerlei Bedürfnis, möglichst schnell ein nächs-tes Mal zu erleben und vielleicht auch das Heer ein-zubeziehen. Nein, unverändert – das ist jedenfalls meinfester Eindruck – und sogar noch stärker als früher gehendie Bundeswehrangehörigen von der Grundhaltung aus,dass der Frieden weiterhin der Ernstfall ist und die Bun-deswehr ganz entscheidend vor allem etwas zur Frie-densbewahrung, zur Friedensunterstützung und zurKriegsverhütung beitragen soll.
Ich habe darüber hinaus die Erfahrung gemacht, dassSoldaten und Offiziere mit Balkanerfahrung inzwischenzu den stärksten und überzeugtesten Befürwortern vonKrisenprävention, umfassender Krisenbewältigung undFriedenskonsolidierung gehören. In diesem Zusammen-hang, Herr Minister Scharping, danke ich Ihnen für IhreAnregung, ein Friedenskorps aufzustellen. Das zielt jagenau in die Richtung, die zivile Eingreiffähigkeitentsprechend zu stärken. Diese Anregung sollte nicht ein-fach in einem Interview verschwinden, sondern von unsfür die weitere Arbeit wirklich aufgenommen werden.
Der Bericht der Wehrbeauftragten zeigt, dass das Jahr1999 eine enorme Steigerung der personellen und ma-teriellen Belastung der Bundeswehr brachte, der Auftaktzu einer erheblich höheren Dauerbelastung als in den Vor-jahren war. Bewältigt wurde die rapide gewachseneAufgabenbelastung durch einen zum Teil ungeregeltenAbbau der Teile der Bundeswehr, die noch für ihre tradi-tionellen Hauptaufgaben wie die Landesverteidigung vor-gehalten werden. Das Jahr 1999 bestätigte aber vor allemdie Entscheidung der rot-grünen Koalition vom Herbst1998, schnell eine umfassende Bundeswehrreformanzugehen.
Sie müssten sich eigentlich noch sehr deutlich daran erin-nern, dass gerade die Kolleginnen und Kollegen von derCDU/CSU zum damaligen Zeitpunkt keinerlei nachhalti-gen Reformbedarf gesehen haben. Wo die Bundeswehrstände, wenn Ihrer Devise gefolgt worden wäre, kann sichjeder ausmalen: Sie wäre noch in ganz andere Krisenhineingerutscht.
Das Jahr 1999 unterstreicht, wie notwendig eine durch-greifende Reform ist, die lange trägt. Jede kurzschrittigeReform, wie sie sich zum Beispiel im CDU-Vorschlagfindet, ist zwangsläufig auch eine kurzlebige Reform undwürde die jetzige Planungsunsicherheit fortschreiben. Vo-raussetzung für eine langfristig ausgelegte Bun-deswehrreform ist neben einer nüchternen Bestandsauf-nahme auch eine breite Debatte mit Beiträgen der einzel-nen Parteien. Diese Debattenbeiträge dienen derEntwicklung von Urteilsfähigkeit und der Meinungsbil-dung, ohne dabei in irgendeiner Weise den Ergebnissender Kommission vorzugreifen.
Deshalb ist zurzeit natürlich eine gewisse Unsicherheitüber den weiteren Weg der Bundeswehr unvermeidbar.Das Entscheidende ist allerdings, trotz aller unvermeid-baren Unsicherheit nicht mutwillig und zum Teil böswilligVerunsicherung zu schüren, wie es soeben von der Oppo-sition geschieht.
Zurzeit befinden sich mehr als 8 000 Bundeswehrsol-daten im Auslandseinsatz und weitere 16 000 entweder inder Vor- oder Nachbereitungsphase. Damit leben sie ge-trennt von ihren Familien und ihrem sozialen Umfeldsowie von ihren Heimatstandorten überwiegend unterihresgleichen, sind zumeist in Militärlagern untergebrachtund stecken sieben Tage die Woche in Uniform. Das sindinzwischen ganz andere Rahmenbedingungen für denBürger in Uniform und sein Verhältnis zur Zivilge-sellschaft. Deshalb ist es vor dem Hintergrund dieserveränderten Rahmenbedingungen umso wichtiger, auf dieStärkung und Weiterentwicklung der inneren Führung zuachten, die sich eben nicht auf schlichtes, ordentlichesVorgesetztenverhalten und Sozialtechnik beschränken sollund darf. Die Wehrbeauftragte hat ja in diesem und in denletzten Berichten darauf hingewiesen, wie wichtig geradedie Bereitschaft und die Fähigkeit von Vorgesetzten zurZivilcourage ist, also dass jeder Kritik einbringen kann,ohne damit seine Karriere aufs Spiel zu setzen. Ich glaube,in dem Bereich müssen wir genau hinschauen und Solda-ten unterstützen.
Die Auslandseinsätze ändern auch die Rahmenbedin-gungen der Kontrolle. Wir erfahren schon einiges durchunsere parlamentarischen Kurzbesuche vor Ort. Diesesind sehr hilfreich. Noch viel nützlicher und umfassendersind natürlich die Berichte der Wehrbeauftragten. Aber ichglaube, gerade um längerfristige und eher geräuschloseVeränderungen in den Streitkräften und in ihrem Verhält-nis zur Gesellschaft wahrnehmen zu können, brauchenwir ein noch weiter verfeinertes Wahrnehmungsinstru-mentarium.Die Bundesrepublik weist in diesem Bereich bishereine große Forschungslücke auf. Wir verfügen wohlüber das Sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut
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Winfried Nachtwei9126
der Bundeswehr, das nützliche und hilfreiche Arbeit leis-tet. Aber was uns ganz im Gegensatz zu angelsächsischenLändern fehlt, ist das breite Feld der militärbezogenenSozialwissenschaft, der Militärsoziologie. Ich glaube,dass die Stärkung dieses Forschungsbereiches auchdazugehört, wenn wir jetzt die Friedens- und Konflikt-forschung fördern. Man sollte sich auch um dieses The-menfeld kümmern.
Die Entscheidung von Bundestag und Bundesregierungim letzten Jahr stellte die Bundeswehrangehörigen vorhöchste Anforderungen. Auf der anderen Seite – dasschreiben Sie, Frau Marienfeld, in Ihrem Bericht – habendie Bundeswehrangehörigen völlig zu Recht hohe Er-wartungen an ihre politischen Auftraggeber, also an uns.Der Einsatzauftrag musste und muss deshalb nicht nurmoralisch legitim sein, er muss nicht nur rechtlich be-gründet; werden können er muss selbstverständlich auchvölkerrechtlich legal sein.Hier müssen wir feststellen, dass wir aus Gründen derNothilfe, zu der es keine Alternative gab, den Luftwaffen-soldaten der Bundeswehr im letzten Jahr zumutenmussten, dass sie sich nicht an das völkerrechtlicheGewaltverbot hielten. Die ganze Koalition ist der festenÜberzeugung, dass diese Vorgehensweise im letzten Jahreben die Ausnahme in einer Extremsituation war, dasssich daraus die positive Verpflichtung auf UN-Mandate inZukunft ergibt. Jedes Gerede von einem UN-Mandat alsKönigsweg, wie es im letzten und vorletzten Jahr von derCDU/CSU zu hören war, ist nur noch als verantwortungs-los zu bezeichnen.Die Soldaten erwarten aber auch verantwortbareAufträge. Dazu gehört, dass Ziele, Risiken und Fähigkei-ten nüchtern abgewogen werden, dass vor allem auchrückblickend die Ergebnisse des Kosovo-Krieges, diegewollten Wirkungen und Ergebnisse, die Teilerfolge,aber auch die Opfer und die Zerstörungen umfassend undoffen bilanziert werden. Hier hat mir die gestrige Debattegezeigt, dass wir, als Koalition und auch unsere Bun-desregierung in dem Punkt der umfassenden Bilanzierungnoch Nachholbedarf haben.
Herr Kollege, denken
Sie bitte an Ihre Redezeit.
Liebe Frau Marienfeld, das war Ihr letzter Jahresbericht.
Es ist kein Ritual, wenn ich Ihnen im Namen meiner Frak-
tion für Ihre und Ihrer Mitarbeiter vorzügliche Arbeit
herzlich danke, insbesondere für Ihre sehr genaue Beo-
bachtung des menschlichen Klimas in der Bundeswehr.
Sie haben sich um eine Bundeswehr, die fest in Demo-
kratie und Rechtsstaat verankert ist, verdient gemacht.
Danke schön.
Das Wort hat nun der
Kollege Hildebrecht Braun, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsi-dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!Zunächst ein Wort an den Verteidigungsminister: HerrScharping, ich bedaure die Rede, die Sie vorhin gehaltenhaben, sehr.
Wir sprechen hier über den Bericht der Wehrbeauftragtenund versuchen gemeinsam, die richtigen Konsequenzenaus diesem Bericht und der geschilderten Situation zuziehen.
Sie aber nutzen heute Ihren Auftritt für eine polemischeund polarisierende Rede,
: Wenden Sie sich ein-
mal an die richtige Adresse!)in der Sie nach dem Motto „Angriff ist die beste Verteidi-gung“ auf die unbestreitbaren Schwächen der Haushalts-finanzierung in den 90er-Jahren verweisen, statt einfach zusagen, dass Sie es bedauern, dass Sie sich nicht gegenüberIhren Kollegen durchsetzen konnten und deswegen in dennächsten Jahren eine deutliche Einschränkung Ihrer Hand-lungsfähigkeit als Verteidigungsminister hinnehmenmüssen. Das wäre richtig gewesen und hätte Ihnen Res-pekt bei allen Beteiligten verschafft.
Ich möchte mich nun mit dem Bericht der Wehrbeauf-tragten befassen und dazu einige Anmerkungen machen.Im letzten Jahr hatten wir die Gelegenheit, das 50-jährigeBestehen der NATO zu feiern. Die Bundeswehr ist einegroße Stütze des NATO-Bündnisses, das unserem Land50 Jahre Freiheit gebracht hat und weiterhin die Freiheiterhält.Wir haben im letzten Jahr zugleich das 40-jährigeBestehen der Institution des bzw. der Wehrbeauftragtengefeiert. Darauf will ich jetzt zu sprechen kommen. Es isteine wunderbare Sache, dass die Bundeswehr, die in un-serer Gesellschaft integriert ist – auf diesen Punkt werdeich noch zu sprechen kommen – eine Wehrbeauftragte desParlaments hat, die jedes Jahr in einem Bericht alle Män-gel der Bundeswehr ungeschönt auflistet und diese der Öf-fentlichkeit mitteilt, sodass wir darüber diskutieren kön-nen.Es gibt wohl kaum eine Armee auf dieser Welt, die indieser Form im Auftrag des Parlaments von einerWehrbeauftragten beobachtet wird und die weiß, dass ihreNöte und Probleme im Parlament offen diskutiert werden.Es gibt auch kaum eine andere Armee, über die trotz derschonungslosen Offenlegung aller Mängel insgesamt einBericht zustande käme, von dem wir sagen könnten:Natürlich gibt es viele Mängel und viele Defizite; aber siehalten sich in einem gewissen Rahmen. Ich denke indiesem Zusammenhang an die Soldaten beispielsweise in
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Winfried Nachtwei9127
Russland, in der Ukraine und in China, aber auch an dieSoldaten in etlichen Berufsarmeen, die dankbar wären,wenn die Situation in ihrer Armee so wäre, wie sie in demBericht bezüglich der Bundeswehr dargestellt wird.
Das Wichtigste an dem Bericht ist, dass es ihn gibt, dasser hier diskutiert wird, dass er in großer Auflage verbrei-tet wird und dass auch die Presse ihn erwähnt. Auf dieseWeise wird sichergestellt, dass jeder in der Bundeswehr,der sich gegen die Prinzipien der inneren Führung undgegen das Prinzip der Kameradschaft unter Soldaten wen-det, Gefahr läuft, dass die Wehrbeauftragte davon Kennt-nis erlangt und dass dieser Einzelfall dann in dem Berichterwähnt wird. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass dieExistenz dieses Berichtes dazu beiträgt, dass Vorkomm-nisse, die wir in der Bundeswehr nicht wollen, erst garnicht geschehen.Unsere Bundeswehr kann nicht besser sein als dieGesamtgesellschaft. Deswegen ist es gut, wenn wir nichtunerfüllbare Erwartungen an die Bundeswehr stellen. Daswäre nicht hilfreich. Wir müssen uns immer wieder vorAugen halten: Die Bundeswehr ist nicht die Schule derNation; die Schule der Nation ist die Schule. Was das El-ternhaus, der Kindergarten und die Schule nicht zu leistenvermögen, das kann die Bundeswehr in den wenigenMonaten, in denen junge Männer in ihr als Wehrpflichtigedienen, nicht nachholen.Wenn wir uns dessen bewusst sind, dass unsere jungenMenschen tagtäglich unter anderem der Berieselung durchGewaltsendungen im Fernsehen ausgesetzt sind und dassdas die Seelen und das Denken junger Menschen prägt,dann dürfen wir uns nicht darüber wundern, dass wir dieeinen oder anderen Übergriffe in der Bundeswehr erleben,die wir natürlich beklagen und gegen die wir gemeinsamangehen müssen.Natürlich müssen wir alles tun, um die pädagogischenMöglichkeiten der Vorgesetzten in der Bundeswehr zuverbessern. Aber wir sollten nicht erwarten, dass wir je-dem jungen Mann, dem wir eine Uniform verpassen, zu-gleich einen guten Charakter mitgeben könnten. Damitwürden die Bundeswehr überfordern.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen und auf dieMöglichkeiten des positiven Einflusses der Bundeswehrauf junge Leute hinweisen; denn es gibt viele junge Leute,die in ihrem Leben zum ersten Mal erleben, in der GruppeVerantwortung für sich, aber auch für andere zu über-nehmen. Das ist eine wichtige Erfahrung, die rundherumals förderlich bezeichnet werden kann. Sie bietet eineChance für viele Menschen, die in ihrem privaten Bereich,zumindest in diesem Alter, Derartiges noch nicht erlebenkönnen.Ich erwähne dies speziell vor dem Hintergrund der im-mer wieder aufflackernden Diskussion über die Wehr-pflicht und möchte bei dieser Gelegenheit sehr deutlichmachen: Die F.D.P. steht mit ganz großer Mehrheit nach-haltig hinter der Wehrpflicht und das wird sich auch in dennächsten Jahren nicht ändern.
Ich möchte zu einigen Einschätzungen von Ihnen, liebeFrau Marienfeld, kommen, die Sie in diesem Berichtgebracht haben. Den meisten stimme ich zu; sie muss ichhier nicht wiederholen. Ich möchte aber drei Punktenennen, bei denen ich von Ihrer Einschätzung abweiche.Der erste Punkt betrifft die Familienbetreuung. Siehaben für diesen Bereich gerade zehneinhalb Zeilen inIhrem Bericht reserviert. Das war mir schon vom Ausmaßher, aber auch inhaltlich viel zu wenig. Denn wir müssenuns eines vor Augen halten: Wir schicken nicht nur dieSoldaten über einen gewissen Zeitraum in den Kosovo,nach Bosnien, nach Mazedonien oder nach Osttimor, son-dern wir belasten auch die Familienangehörigen mitdiesen Auslandseinsätzen sehr stark.In der Öffentlichkeit wird viel zu wenig wahrgenom-men, dass die Angehörigen, auch die Kinder, von Solda-ten ohnehin sehr belastet sind – durch sich wiederholendeUmzüge in kurzer Zeit, infolge derer sie zum Beispielwieder in neue Schulen müssen und damit nicht an dasanknüpfen können, was sie davor erlebt haben. Das ist eineschwere Last, die Familien mittragen.Aber jetzt, wo die Männer zum Teil in Kampfeinsätzenim Ausland tätig sind, kommt noch ein neues Momenthinzu, nämlich die tägliche Angst um den Mann, aber auchum den Freund, den Lebensgefährten, den Vater. Das sindBelastungen neuer Qualität und wir müssen natürlich auchin neuer Form darauf eingehen. Ich glaube, dass das, waswir bisher an Familienbetreuung leisten, schlicht zu wenigist.Zweiter Punkt: Mütter in der Bundeswehr. Da habenSie sich sehr deutlich und sehr klar für die Interessen desDienstes und gegen die Interessen der Mütter ausge-sprochen. Ich kann dem so nicht folgen. Ich glaube, wirsollten die Botschaft vermeiden, dass eine junge Frau, dieden Dienst in der Bundeswehr anstrebt, damit zugleichmehr oder weniger auf die Rolle als Mutter verzichtenmuss. Das kann es nicht sein. Das war früher beiStewardessen der Lufthansa der Fall. Das ist durch dieGerichte untersagt worden.Ich bin der Meinung, dass eine Mutter, die bei der Bun-deswehr Dienst tut, die also eine Uniform trägt, immernoch Mutter ist und sie Rechte haben muss, die Mütterauch in allen anderen Bereichen der Gesellschaft haben.
Wir müssen in der Zukunft flexibler sein und auchTeilzeitarbeit ermöglichen. Das wird auf die Bundeswehrzukommen und ich halte das auch für richtig.
Drittens. Die Dauerdes Einsatzes im Ausland, die vonvier auf sechs Monate angehoben wurde, haben wir immerfür falsch gehalten. Ich wiederhole das hier. Die Belastungfür die Soldaten und für die Familien ist dadurch ungleichgrößer geworden. Wir halten das für falsch. Ich möchte dashier nochmals betonen.
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Nun zu unseren Soldaten, speziell im Kosovo:Wir Ab-geordnete des Bundestages haben allen Anlass, den Diensttuenden Soldaten, aber auch der Bundeswehrführungdafür zu danken, dass dieser Dienst im Kosovo in hervor-ragender, ja in beispielhafter Weise geleistet wurde,
dass Ergebnisse erreicht wurden, die uns stolz machenkönnen, nämlich dass die Situation im deutschen min-destens so gut ist wie in den anderen Sektoren, in Teil-bereichen sicherlich sogar besser.Ich möchte aber auch darauf hinweisen, dass die vonDeutschland entsandten Polizisten einen oft noch schwie-rigeren Job machen, dass sie nämlich, ohne die großeGruppe der Bundeswehr hinter sich zu haben, vor OrtProbleme lösen müssen, in einem Umfeld von Menschen,deren Sprache sie nicht sprechen. Auch das möchte ich beidieser Gelegenheit einmal ansprechen.
Es ist gut, dass bei den Auslandseinsätzen das Einkom-men der Soldaten aus Deutschland Ost und DeutschlandWest gleich hoch ist. Es ist aber nicht gut, dass nach derRückkehr nach Deutschland diejenigen, die im Osten sta-tioniert sind, wieder nur 86,5 Prozent des Einkommensderer bekommen, die im Westen Soldaten sind. Wir sindder Meinung, dass sich dies bald ändern muss. Ich ver-weise auch hier darauf.
Der Bericht spricht auch von den Reservisten undihrem wichtigen Auftrag zur Aufgabenerfüllung im Koso-vo, aber auch hier zu Hause. Das ist eine Botschaft, diedurch das Ministerium immer wieder an die Öffentlichkeitgebracht werden sollte: Unsere Bundeswehr kann ihrenAuftrag nicht ohne die Unterstützung von hoch quali-fizierten Reservisten erfüllen. Das ist wichtig zu wissen.Ich möchte auf einen Punkt zu sprechen kommen, dermir besonders am Herzen liegt.
Aber denken Sie auch
an Ihre Redezeit.
Gut, ich
denke an meine Redezeit und mache es ganz kurz. –
Die Bundeswehr hat eine Integrationsaufgabe, die
nicht nur von unschätzbarem Wert ist, weil junge Men-
schen aus Ost und West gemeinsam erleben, welche Sor-
gen, Ängste, Erwartungen, Hoffnungen die anderen je-
weils haben, sondern ebenso, weil sie mit jungen Deut-
schen, deren Eltern hier noch als Ausländer gelebt haben,
zusammen den Dienst erleben. Ich meine hier auch die
Russlanddeutschen, junge Mensche, die oft ganz schlecht
Deutsch sprechen und sich in unser Land noch gar nicht
richtig eingefunden haben. Hier wird eine gewaltige Leis-
tung für alle erbracht.
Erlauben Sie mir einen letzten Gedanken. Der Bericht
konnte zum Thema Homosexuelle in der Bundeswehr
natürlich noch nicht das aufgreifen, was wir vor einer
Woche im Parlament angesprochen haben. Ich danke ganz
herzlich dem Bundesverteidigungsminister für seine geän-
derte Haltung in diesem Bereich,
besonders aber auch der CDU/CSU, die hier eine neue
Entwicklung mitträgt und dafür sorgt, dass es in der Bun-
deswehr keine Diskriminierung mehr gibt, ganz gleich,
aus welchem Grund sie entstehen mag. Das ist gut so; ich
freue mich darüber.
Nun erteilte ich das
Wort der Kollegin Heidi Lippmann, PDS-Fraktion.
Meine Damen und Herren!Sehr geehrte Frau Marienfeld! Wie ein roter Faden durch-zieht die neue Rolle der Bundeswehr als aktiverKriegsteilhaber den vorliegenden Bericht der Wehrbe-auftragten. Dass der von Ihnen, liebe Kolleginnen undKollegen, politisch gewollte Umbau der Bundeswehr voneiner Manöverarmee zu einer Interventionsarmee nichtohne tief greifende Veränderung in der Struktur vonstat-ten gehen kann, zeigt nicht nur die Debatte um die zukünf-tige Wehrstruktur, sondern insbesondere der vorliegendeBericht.Zu Recht wird festgestellt, dass die Soldaten möglichstrasch Planungssicherheit bräuchten. Doch die Rezepte,die hier gehandelt werden, um den Problemen begegnenzu können, greifen zu kurz und gehen in die falsche Rich-tung. Nachdem der Kollege Breuer eben schon fast eineKrisenreaktionstruppe zur Rettung der Bundeswehrgefordert hat, möchte ich einmal darauf hinweisen, dass inden meisten Bereichen bei den vier Fraktionen, die mirgegenübersitzen, doch ziemlich große Einigkeit herrschtund die Unterschiede doch häufig nur in Nuancen beste-hen, wie zum Beispiel bei der Aufstockung der Krisen-reaktionskräfte, bei der Verbesserung der Betreuungskon-zepte und bei der finanziellen Ausstattung. Von daher soll-ten wir versuchen, die Debatte etwas ruhiger zu führen.Was mir in der Diskussion zu kurz kommt, ist diegrundsätzliche Frage, ob und wozu die Bundesrepublikeine große, starke, schlagkräftige Armee braucht.
Es wird überhaupt nicht mehr infrage gestellt, dass sich dieBundeswehr künftig an internationalen Kampfeinsätzenbeteiligen wird,
es wird nicht über den originären, im Grundgesetz fest-gelegten Auftrag der Bundeswehr debattiert und es wirdauch nicht die Frage gestellt: Wollen wir überhaupt, dasssich deutsche Soldaten an Kriegseinsätzen außerhalb desVerteidigungsauftrages beteiligen?
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Dies sind Fragen, die nicht nur wir hier verstärkt disku-tieren müssen, sondern die ebenso ganz massiv die Sol-daten bewegen. Das geht auch aus dem Bericht von FrauMarienfeld hervor. Diese Fragen stellten sich nicht, wennsich die Bundesrepublik der neuen NATO-Strategie ent-gegenstellen würde, wenn sie sich nicht länger an völker-rechtswidrigen Kriegen beteiligen würde und wenn mansich davon abkehren würde, die Bundeswehr künftig nurnoch als Interventionsarmee zu sehen. Diese Unsicher-heiten spielen bei den Soldaten eine sehr viel größere Rolleals hier im Parlament. Diese Probleme gilt es ernst zunehmen. Deswegen fordern wir Sie auf: Geben Sie denSoldaten – auf der Grundlage einer erheblichen Re-duzierung der Bundeswehr und auf der Grundlage desGrundgesetzes – Planungssicherheit.
Die Wehrbeauftragte hat in der Truppe vermehrt Un-sicherheit, Frustration und Motivationslosigkeit fest-gestellt, was durch die derzeitige Übergangssituation undmaterielle Engpässe noch verstärkt werde. Ein Beispieldafür ist – Kollege Braun sprach es bereits an – die Un-gleichbehandlung bei der Besoldung zwischen Ost undWest. Zehn Jahre nach Vollendung der deutschen Einheitist es niemandem mehr zu vermitteln, dass Soldaten ausden neuen Bundesländern, die beim Auslandseinsatz diegleichen Bezüge erhalten wie ihre Westkollegen, zu Hausenur rund 85 Prozent der Westbesoldung erhalten.
Diese soziale Ungerechtigkeit muss umgehend abge-schafft werden, und zwar nicht nur bei der Bundeswehr,sondern auch im gesamten Tarifgefüge.
– Das habe ich.
– Doch.Wenn wir über eine neue Struktur sprechen, darf nichtausgeblendet werden, dass die gesunkene Zahl dergemeldeten rechtsextremen Vorfälle nicht als Signal zurEntwarnung verstanden werden darf. Angesichts derdrastischen Zunahme von rechtsextremistischer Gewaltbei Jugendlichen muss sich auch und gerade die Bun-deswehr weiterhin damit beschäftigen.Dies betrifft nicht nur die Soldaten im aktiven Dienst,sondern insbesondere auch die Reservistenstruktur. Erstvor wenigen Tagen erhielten wir die Antwort auf eine indiesem Zusammenhang gestellte Kleine Anfrage, wonachdie Auswertung der Verbandszeitschrift „Soldat im Volk“,die über den Verband der Reservisten der Deutschen Bun-deswehr indirekt mit Bundesmitteln unterstützt wird, tat-sächlich einen „rechtsextremen Hintergrund“ ergeben hat.Diese Auskunft der Bundesregierung überrascht und er-schreckt zugleich. Denn obwohl PDS, engagierte Gruppenund auch die Grünen immer wieder darauf hingewiesenhaben, dass im Milieu der soldatischen Traditionsver-bände rechtsradikales und neonazistisches Gedankengutweit verbreitet ist,
wurde dies bisher immer geleugnet, abgestritten und ver-drängt, Herr Nolting. Selbst im Untersuchungsausschuss„Rechtsextremismus in der Bundeswehr“ war die Ein-beziehung dieser Problematik tabu. Es gab keine Unter-suchung der vielfältigen Querverbindungen zwischen Tra-ditionsverbänden, dem Reservistenverband und Einheitender Bundeswehr.Diese Fragen müssen dringend geklärt werden. Wirfordern Sie, Herr Verteidigungsminister, auf, in eine kri-tische Diskussion mit den Reservisten zu treten, damitdort nicht länger falsche Kameradschaften gepflegt wer-den. Wer den Holocaust leugnet oder Verbrechen derWehrmacht prinzipiell in Abrede stellt, hat in der Bun-deswehr nichts zu suchen.Neben den materiellen Schwierigkeiten in Bezug aufAusrüstung und Ausstattung, finanzielle Absicherung,Zuschläge und Ähnliches ist die Liste der Probleme, dieFrau Marienfeld erstellt hat, lang: angefangen von dengroßen psychischen und physischen Belastungen im Aus-landseinsatz über den Missbrauch von Alkohol und Dro-gen in der Truppe bis hin zu der Frage, welcher Schmuckbei Soldatinnen und Soldaten im Zuge der Gleichberech-tigung angemessen ist.Ein ernsthaftes Problem ist nach wie vor die unzu-reichende Beförderungspraxis bei schwulen Soldaten.Auch Kollege Braun hat darauf soeben hingewiesen. Ichdenke, die Debatte in der vergangenen Woche hat gezeigt,dass das amerikanische Prinzip „Don´t ask, don´t tell“nicht mehr länger Gültigkeit in der Bundeswehr habendarf.Angesichts des politischen Willens der Regierungs-fraktionen, Frauen den Dienst mit der Waffe künftig zugestatten, wird die Liste der Probleme in Zukunft nochlänger werden. Denn es kommen verstärkt zum BeispielFragen im Hinblick auf Erziehungsurlaub und Teil-zeitbeschäftigungsmöglichkeiten, aber auch das Thema„sexuelle Belästigungen“ hinzu.Bei der Anhörung des Rechtsausschusses zum Thema„Waffendienst für Frauen“ sagte einer der Experten derUniversität der Bundeswehr: Soldaten sind immer nur fürden Ernstfall da. – Dieser Gedanke, der viele Soldaten derBundeswehr bewegt, sollte ebenso wie das Grundgesetzdie Grundlage aller Überlegungen über den Zustand derBundeswehr und die künftige Struktur sein.Nehmen Sie Abschied von Ihren bisherigen Vorstellun-gen, dass die Bundeswehr überall auf dieser Welt inKampfeinsätzen und sonstigen Einsätzen dabei sein muss.Wir fordern Sie auf: Denken Sie über eine Bundeswehr inabgespeckter Form nach, die ausschließlich den imGrundgesetz verankerten Verteidigungsauftrag erfüllt undgegebenenfalls ihrer Pflicht im Bündnisfall nachkommt!Schaffen Sie die Wehrpflicht ab! Streiten Sie gemeinsammit uns dafür, dass es im Rahmen der jetzigen Bestände
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der Bundeswehr und darüber hinaus zivile Krisenreak-tionskräfte gibt, die humanitäre Hilfe bzw. Katastrophen-schutzdienste leisten und die künftig vor allen DingenOSZE-Missionen zur Verfügung stehen!Ich denke, wenn man wirklich für eine friedlicheAußen- und Sicherheitspolitik streitet, wäre diese Visionsehr viel wirkungsvoller als eine weitere Aufrüstung, alsdas Bemühen, mit allen Mitteln die neue NATO-Strategieumsetzen zu wollen, auch wirkungsvoller als eine Beteili-gung an der europäischen Militärunion.
Sehr verehrte Frau Marienfeld, ich bedanke mich imNamen der gesamten Fraktion der PDS im Nachhinein beiIhnen und wünsche Ihnen für Ihren weiteren Lebensweg,für Ihre politische und berufliche Zukunft alles Gute.
Das Wort hat nun der
Kollege Albrecht Papenroth, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Bei der Betrachtung des Berichts der
Wehrbeauftragten fällt auf, dass sich gegenüber den Be-
richten der vergangenen Jahre die Schwerpunkte nur
unwesentlich verändert haben. Das betrifft in erster Linie
die Kritik an Einzelfällen von subjektivem Fehlverhalten
Bundeswehrangehöriger verschiedener Dienstgrade. Die
im Bericht einzeln aufgeführten Sachverhalte sind aber
weder verallgemeinerungsfähig noch auf die Bundeswehr
insgesamt zu beziehen. Sie dürfen demnach auch nicht
überbewertet werden.
Damit will ich keine Art von Fehlverhalten beschönigen
oder gar tolerieren. Ich will nur darauf hinweisen, dass ein
besonderes Vorkommnis nicht hochgespielt werden darf.
Wichtig ist allerdings, dass auf jedes Fehlverhalten
angemessen reagiert wird: Die Ursachen müssen erforscht
und grobe Verstöße unnachgiebig geahndet werden.
Mit größerer Sorge sind die Ausführungen von Frau
Marienfeld zu den zunehmenden Mängeln an Ausrüs-
tung, Ausstattung und Unterbringung zu betrachten.
Hier macht sich außerordentlich drastisch bemerkbar, was
durch die Vorgängerregierung in mehr als einem Jahrzehnt
vernachlässigt wurde. Für unsere Bundeswehrangehöri-
gen ist nicht nachvollziehbar, dass zum Beispiel die der-
zeit genutzte Wehrtechnik älter ist, als sie selbst es sind,
und dass die Unterbringung unserer Soldaten teilweise in
sanierungsbedürftigen Gebäuden erfolgt; unser Minister
hat bereits darauf hingewiesen. Diese Umstände erfordern
zwar von unseren Soldaten Kreativität und Improvisa-
tionsvermögen, die jeweilige Situation zu meistern. Ich
bin allerdings der Auffassung, dass diese Art der Mängel-
bewältigung dem Image der Bundeswehr schadet. Die
Bundeswehr muss wirtschaftlicher und effektiver werden.
Das geht aber nicht ohne die gleichzeitige Modernisierung
der Ausrüstung und Ausstattung, auch nicht ohne die
entsprechende Ersatzteilbeschaffung.
Wir wissen – das haben unsere Soldaten in der Vergan-
genheit für alle sichtbar bewiesen –, dass sie hoch mo-
tiviert und diszipliniert ihre oftmals sehr schwierigen Auf-
gaben auch unter widrigen Bedingungen gelöst haben und
weiterhin lösen. Dafür möchten wir uns bei ihnen aus-
drücklich bedanken.
Meine Damen und Herren, ich komme nun zu einem
Punkt, der im Bericht der Wehrbeauftragten nicht ausrei-
chend bewertet worden ist: die Bezahlung der Bun-
deswehrangehörigen und die Auswirkungen auf die
Attraktivität des Dienstes. In dieser Hinsicht wird es nun
darauf ankommen, die von der Vorgängerregierung ange-
häuften Missstände schrittweise abzubauen.
Zu Recht weist unser Verteidigungsminister darauf hin,
dass zurzeit mehr als 8 000 Soldaten, gemessen an den von
ihnen wahrgenommenen Dienstposten, unterwertig besol-
det werden. So entspricht die Bewertung und Bezahlung
vieler Dienstposten nicht mehr der jeweiligen Verantwor-
tung. Beispielsweise erhält ein Kompaniechef nach sieben
Jahren intensiver ziviler und militärischer Ausbildung bei
einer Verantwortung für bis zu 200 Soldaten und für Gerät
in einem Wert bis zu 1Milliarde DM eine Besoldung nach
A11. Das ist weniger, als beispielsweise eine Lehrkraft an
einer Hauptschule bekommt. Dies ist unzumutbar.
Noch drastischer wirkt sich die Vergütung in den neuen
Bundesländern aus, da sie hier um 13,5 Prozent niedriger
ist. Es ist für mich nicht akzeptabel, dass Soldaten in den
Ostländern bei gleicher Leistung nur 86,5 Prozent der
Westbezüge erhalten.
Ich stimme Herrn Braun zu: Man kann eigentlich nicht oft
genug erwähnen, dass es recht kurios ist, dass Ostsolda-
ten, die zum Auslandseinsatz antreten, zwar 100 Prozent
erhalten, ihre Vergütung aber, sobald sie wieder nach
Hause kommen und sie Schulter an Schulter mit ihren
Westkollegen ihren Dienst tun, wieder um 13,5 Prozent
abgesenkt wird. Das kann kein Dank sein.
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nolting?
Für die paar Minutenlohnt das nicht.
Meine Damen und Herren, nun werden sicherlicheinige sagen, die Angleichung des Wehrsoldes sei eben-so unbezahlbar wie die Angleichung der Vergütungen dessonstigen öffentlichen Dienstes oder der Löhne undGehälter in der Wirtschaft. Sie werden mir aber zustim-men, dass diese drei Komponenten untereinander nichtvergleichbar und damit auch nicht gleichzusetzen sind.
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Wir müssen uns darüber klar sein, welchen Stellenwertdie Bundeswehr zur Gewährleistung der veränderten An-forderungen der eigenen Sicherheit, der Bündnisver-pflichtungen sowie der Krisen- und Konfliktbewältigungeinschließlich der humanitären Hilfe jetzt und in Zukunfthat. Nur das kann Maßstab für die Bereitstellung ange-messener finanzieller Mittel sein.Wir müssen gewährleisten, dass unsere Bundeswehr-angehörigen nicht durch fortgesetzte Ungleichbehandlungund eine fast durchgängige Unterbezahlung demotiviertwerden. Unsere Soldaten haben Verständnis dafür, dassnicht alles auf einmal geht. Sie müssen aber konkreteSchritte der Anpassung und Erhöhung erkennen können.Laufbahnperspektiven müssen in West und Ost in gleich-er Weise mit den Realitäten künftiger Bundeswehr übere-instimmen.
Herr Kollege, nun
müssen Sie doch an die Redezeit denken.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja. Ich bin gleich fertig. –
Unsere Bundeswehrangehörigen brauchen ein persönli-
ches Ziel, das sie anvisieren können.
Ein weiteres aktuelles Problem betrifft insbesondere
ostdeutsche Wehrdienstwillige. Es besteht darin, dass die
Nichtgewährung einer befristeten Zurückstellung vom
Wehrdienst wegen begonnener Lehrausbildung zum Ver-
lust des Ausbildungsplatzes führt. Nach dem Ende des
Wehrdienstes ist die Ausbildungsfortführung infolge der
oftmals schwierigen Wirtschaftslage der Unternehmen
und der bestehenden Lehrstellenknappheit leider nur theo-
retisch einklagbar. Hier ist eine flexible Herangehensweise
notwendig, damit Wehrdienstwillige nicht zu Wehrdien-
stunwilligen werden.
Danke schön.
Sie können einen Au-
genblick stehen bleiben, Herr Kollege. Der Kollege Nol-
ting möchte jetzt eine Kurzintervention machen, auf die
Sie noch antworten können.
Herr Kollege Nolting.
Herr Kollege
Papenroth, ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie hier
Missstände wie die Unterschiede zwischen West und Ost
in der Besoldung beklagen, wie es auch der Minister ge-
tan hat, dass Sie sich aber in der Realität ganz anders ver-
halten. Sie haben die Mehrheit. Sie haben zum Beispiel ei-
nem Antrag der Freien Demokratischen Partei im Vertei-
digungsausschuss nicht zugestimmt.
Wir hatten einen Stufenplan aufgezeigt, um die Unter-
schiede in der Besoldung zwischen Ost und West auszu-
gleichen.
Dem haben Sie nicht zugestimmt, obwohl Sie die
Möglichkeit und die Mehrheit dazu gehabt hätten. Sie ver-
fahren heute nach dem Motto: Alles versprechen, aber
nichts halten. Daran müssen Sie sich auch in Zukunft
messen lassen.
Herr Kollege
Papenroth, wollen Sie antworten? – Bitte.
Herr Kollege Nolting,
Sie wissen ganz genau, dass nicht alles auf einmal geht,
wie ich es schon beschrieben habe.
– Das ist richtig. Aber der Stufenplan war nicht realisier-
bar.
Danke.
Zu einer weiteren
Zwischenbemerkung erteile ich dem Kollegen Göllner
das Wort. Dann lasse ich aber keine mehr zu, weil wir uns
sonst im Verlauf des Tages den Zorn des ganzen Hauses
einhandeln.
Herr Kollege, bitte.
Frau Präsidentin! Die Kollegen
Braun und Papenroth haben auf die 86,5-Prozent-Rege-
lung hingewiesen, die niemand für gerecht hält. Ich möch-
te in diesem Zusammenhang aber darauf hinweisen, dass
es die Kollegen Schäuble und Krause waren, die im Eini-
gungsvertrag durch die Einfügung von zwei Wörtern –
„und Soldaten“ – die Soldaten mit dem öffentlichen
Dienst gleichgestellt haben. Herr Nolting, dies geschah
nicht unter unserer Verantwortung. Man hätte auf diese
beiden Wörter verzichten können. Dann hätten wir heute
eine Menge Ärger weniger.
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Werner Siemann, CDU/CSU-Frakti-
on.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! HerrKollege Papenroth, mit ein bisschen Verwunderung habeich Ihre Ausführungen zu den Missständen zur Kenntnisnehmen müssen.
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Albrecht Papenroth9132
Ich war zumindest bei den letzten Haushaltsberatungendabei und habe erleben müssen, dass vonseiten der Koali-tion im Verteidigungsausschuss mit seltener Einmütigkeitalle unsere Anträge für eine bessere Besoldung und zurBeseitigung dieser Missstände, die man auch erkannt hat,abgelehnt worden sind.
Eine sachliche Analyse der Wehrbeauftragtenberichteder letzten fünf Jahre anhand des Berichts für das Jahr1999 lautet für mich: Noch nie war die Bundeswehr ineinem besorgniserregenderen und dramatischeren Zustandals heute. Der innere Zustand der Bundeswehr entsprichtlängst nicht mehr den äußeren Anforderungen. Dasbestätigt auch der Herr Verteidigungsminister bei jedersich bietenden Gelegenheit, zuletzt am Dienstag auf einerTagung vor 140 Brigade- und Regimentskommandeuren,wenn er der Bundeswehr – man höre und staune – dieBündnis- und Europafähigkeit abspricht.Die Wehrbeauftragte stellt in ihrem Bericht nachdrück-lich fest, dass sich die Bundeswehr mit ihren derzeitigenStrukturen an den Grenzen ihrer materiellen und perso-nellen Belastbarkeit befindet.
Mit ihren radikalen Einschnitten in den Verteidigungs-haushalt hat die rot-grüne Bundesregierung maßgeblichenAnteil an der heutigen Situation.
Zwar hätte ich es – damals als Betrachter von außen –als wünschenswert empfunden, wenn in den 90er-Jahrender Bundeswehr ein größerer Spielraum zugestanden wor-den wäre. Es ist jedoch irreführend und falsch, in diesemZusammenhang gebetsmühlenartig allein von einem In-vestitionsstau von 15 Milliarden DM zu sprechen, ohneauch zu sagen, dass es die SPD und niemand anderes war,die in den Jahren 1990 bis 1996 zusätzliche Kürzungsan-träge zum Verteidigungshaushalt in Höhe von rund 15Mil-liarden DM eingebracht hat.
– Die Zahlen kann ich Ihnen geben, Herr Zumkley.
Heute ist die Regierung nicht nur nicht geneigt, die von ihrfestgestellte Investitionslücke zu schließen, sondern siewill darüber hinaus in den nächsten Jahren bei der Bun-deswehr zusätzlich 18,6MilliardenDM kürzen. Es ist des-halb scheinheilig, nun der Union vorzuhalten, eine In-vestitionsruine hinterlassen zu haben.
Die unzureichende finanzielle Ausstattung der Bun-deswehr – durchgesetzt im Rahmen eines Eichel’schenSpardiktats in Rasenmähermanier – ist Ursache vieler derim Bericht der Wehrbeauftragten aufgeführten Mängelund Defizite. Sie wirkt sich nachhaltig auf die Motivationund die Nachwuchsgewinnung aus.Besonders die Material- und Ersatzteillage hat sich in1999 erheblich verschlechtert. So kommt die Wehrbeauf-tragte zu dem Ergebnis, dass der Dienstbetrieb im Be-richtsjahr in den Teilstreitkräften durch Defizite in derMaterial- und Ersatzteillage geprägt wurde. In der vonBundesminister Scharping zu verantwortenden Stellung-nahme des Ministeriums zum Wehrbeauftragtenbericht1998 heißt es – und ich darf das einmal zitieren –:Durch die Verstärkung der Haushaltsmittel für dieMaterialerhaltung 1997/98 ist eine ausreichendeVerfügbarkeit des Wehrmaterials zur Durchführungeiner auftragsorientierten Ausbildung erreicht. DieTruppe wurde mit ausreichenden Haushaltsmittelnfür die Materialerhaltung ausgestattet.Daher trägt die jetzige Bundesregierung und keine an-dere die volle Verantwortung für die konkrete, reale, an dieSubstanz gehende katastrophale Material- und Ersatzteil-lage.
Eineinhalb Jahre Regierungsverantwortung haben aus-gereicht, um diese „katastrophale Situation“ – Originaltonder Wehrbeauftragten – herbeizuführen.Konkret wirkt sich das wie folgt aus: Ein Bataillonkonnte über einen Zeitraum von 18 Monaten drei Panzer-fahrzeuge nicht nutzen, weil die erforderlichen Getriebenicht lieferbar waren. In einem anderen Fall warenFahrzeugreifen nicht zu beschaffen. Bei einem Lufttrans-portgeschwader waren von den 23 der Verfügungsbereit-schaft zugeteilten Flugzeugen tatsächlich nur fünf nutzbar.Nur durch gesteuerten Ausbau, also das gezielte Aus-schlachten funktionsfähiger Geräte, kann in vielen Ein-heiten der Bundeswehr der Dienst- und Ausbildungs-betrieb noch aufrechterhalten werden. Das ist Kannibalis-mus in Reinkultur. Die eigentlich sinnlose Tätigkeit bindetin steigendem Maße qualifiziertes Fachpersonal und wirktsich verheerend auf die Motivation aus.
Einen weiteren Schwerpunkt des Berichts stellen dieAuswirkungen der Auslandseinsätze auf den Ausbil-dungsbetrieb dar. Insbesondere das Heer wurde seit demFrühjahr 1999 durch die Auslandseinsätze vor schwer zubewältigende personelle und materielle Probleme gestellt.Zwar müssen unsere Soldaten im Einsatz selbstver-ständlich auf das beste Material der Bundeswehr zurück-greifen können, jedoch darf der Betrieb im Inland deshalbnicht zum Erliegen kommen. Der gestern im Verteidi-gungsausschuss beratene Bericht des Inspekteurs desHeeres „Auswirkungen der Auslandseinsätze auf den Be-trieb der Bundeswehr im Inland“ spricht Bände. Ich ratejedem, diesen zur Kenntnis zu nehmen.Hinzu kommt: Zwei Drittel der sich zurzeit im Einsatzbefindlichen KFOR- und SFOR-Kontingente gehörenHVK-Einheiten an, ohne dass erfreulicherweise die Quali-tät der Einsatzkräfte darunter gelitten hätte. Folgerichtighat die Union in ihrer Konzeption „Sicherheit 2010 –
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Zukunft der Bundeswehr“ die Beendigung dieser fakti-schen Zweiklassenarmee gefordert.Diese Vermischung von HVK- und KRK-Einheitenführte aber auch dazu, dass bei den HVK-Einheiten Führerabgezogen wurden, die Auftragslage und die Ausbil-dungsaufträge jedoch unverändert weiter erfüllt werdenmussten. Gerade bei den Berufs- und Zeitsoldaten mussteerhebliche Mehrarbeit auf wenige Schultern verteilt wer-den. An dieser Stelle möchte ich deshalb ausdrücklich denSoldaten danken, die den Auslandseinsatz ihrer Kame-raden von Deutschland aus überhaupt ermöglichen unddie entstehenden Mehrbelastungen bei allen Unzuträg-lichkeiten mit Bravour schultern.
Als äußerst problematisch hat sich die Verlängerungder Einsatzdauer von vier Monaten auf sechs Monate er-wiesen. Die Wehrbeauftragte hat immer wieder daraufhingewiesen. Diese Verlängerung stößt bei den Soldatenund ihren Angehörigen überwiegend auf Ablehnung, zu-mal oftmals auch die anvisierte zweijährige Verweildauerim Inland nicht wird eingehalten werden können.Der in der Truppe von der Regierungspolitik in unver-antwortlicher Weise hervorgerufene „Virus der Unsicher-heit“ – so von der Wehrbeauftragten bezeichnet – kann nurbekämpft werden, wenn den Soldaten Planungssicherheitund Verlässlichkeit zurückgegeben werden. Die leidigeDebatte um die noch ausstehende Strukturreform der Bun-deswehr hat bereits mehr als genug Schaden angerichtet.Sichtbarer Ausdruck dieses Schadens ist das besorgniser-regend hohe Niveau der Anträge auf Kriegsdienstver-weigerung. Neben persönlichen Nützlichkeitserwägun-gen macht die Wehrbeauftragte zu Recht die Diskussionum den Bestand der allgemeinen Wehrpflicht dafür ver-antwortlich.Durch die Einsetzung der Wehrstrukturkommissionwurden die außen- und sicherheitspolitischen Gegensätzeund Widersprüche der rot-grünen Koalition bislang not-dürftig kaschiert.
Auf Kosten der Soldaten wurde so der Koalitionsfriedenhergestellt bzw. gewahrt. Nun, kurz bevor die Kommissionihre Ergebnisse vorstellt, treten diese Gegensätze undWidersprüche offen und in atemberaubender Geschwin-digkeit hervor.Während sich der Verteidigungsminister und die Jus-tizministerin für die Beibehaltung der Wehrpflicht ein-setzen, fordert der Außenminister – anscheinend kennt-nisfrei – eine Berufsarmee, um diese freudig weltweit fürinternationale Aktionen einsetzen zu können. Währendder Minister der Verteidigung eine Entscheidung über diezukünftige Wehrstruktur noch vor der Sommerpause nach-drücklich ankündigt, sollen nach dem Willen des SPD-Fraktionsvorsitzenden Struck die Eckpunkte der Wehr-strukturkommission erst für das Jahr 2002 oder sogar erst2003 Berücksichtigung finden. Dies wäre gleichbedeu-tend mit der Manifestierung des Stillstandes. Weitere kost-bare Jahre gingen verloren. Ein Schelm, wer Böses dabeidenkt; bekanntlich wird 2002 gewählt.Während der Verteidigungsminister wiederholt zuge-sagt hat, sich für eine Angleichung des Soldes ostdeut-scher Soldaten an westdeutsches Niveau zu verwenden,wiegelt sein Kabinettskollege Eichel kategorisch ab. Hierbleibt die Regierung nach wie vor aufgefordert, einKonzept vorzulegen, das die kurzfristige Nivellierung derDienstbezüge zum Inhalt hat. Es gilt – auch diese Mei-nung muss man vertreten –, eine bestehende Gerech-tigkeitslücke zu schließen.All diese Widersprüche innerhalb der Koalition belegenderen fortgesetzte Konzeptionslosigkeit in Sachen Bun-deswehr. Die – noch dazu hoffnungsvolle – Erwartung desVerteidigungsministers, dass nach kontroverser Diskus-sion alles auf seine Linie einschwenke und der Wehretatnun erhöht werde, nehme ich – durchaus im Interesse un-serer Bundeswehr – zur Kenntnis. Allein, mir fehlt derGlaube, wenn ich mir die Äußerungen der Verant-wortlichen auf Koalitionsseite anhöre.Festzuhalten ist, Herr Minister – bei all den aufge-führten Differenzen im Regierungslager –, dass sich Ihreeigenen Vorstellungen in großen Teilbereichen unserenVorstellungen nähern bzw. sie sich mit diesen decken. Mitanderen Worten: Sie erheben Forderungen, welche unse-rer Konzeption „Sicherheit 2010“ entsprechen. Konsens-möglichkeiten mit Ihnen bestehen also, man muss sie nurnutzen, man muss sie nur wollen.Die Begründung des Außenministers, die Einführungeiner Berufsarmee in Frankreich müsse als Präjudiz auchfür Deutschland verstanden werden, ist im Übrigen ab-wegig und absurd. Die französischen Erfahrungen zeigen,dass mit dem Übergang zu einer Berufsarmee die Verklei-nerung der Armee um 25 Prozent mit einer Erhöhung derKosten um 30 Prozent einher geht.
Darüber hinaus scheinen die Gegner der Wehrpflichtund Befürworter der Berufsarmee – damit komme ichnoch einmal zur Wehrpflicht – zu vergessen, dass diesicherheitspolitische Lage unseres Erachtens auch inZukunft die Wehrpflicht bedingt, dass nur eine Wehr-pflichtarmee die Möglichkeit der Aufwuchsfähigkeit bie-tet, dass rund 50 Prozent der Berufs- und Zeitsoldaten ausGrundwehrdienstleistenden rekrutiert werden, dass dieUSA allein 1999 1,8 Milliarden Dollar für die Rekru-tierung von Freiwilligen ausgeben mussten, dass inSpanien der zur Aufnahme in die Berufsarmee notwendi-ge Intelligenzquotient abgesenkt werden musste, umgenügend Nachwuchs zu bekommen, und dass in Großbri-tannien straffälligen jungen Männern angeboten wird, stattins Gefängnis zur Armee zu gehen.Diese Liste ließe sich ohne weiteres fortsetzen. Ichempfehle insoweit die Kenntnisnahme des Berichts desMinisteriums über die Situation der Nachwuchswerbungund Nachwuchsgewinnung vom 3. April 2000. In diesemZusammenhang hat die Hardthöhe darauf hingewiesen,dass sich mehr als zwei Drittel aller Grundwehrdienstleis-tenden zwischen dem sechsten und dem neunten Monatentscheiden, ihren Dienst freiwillig zu verlängern. Das istein Umstand, der dafür sorgen sollte, die Wehrdienstzeit
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Werner Siemann9134
nicht auf eine unzumutbare Kürze zu verringern. In diesemZusammenhang sollte ich auch noch darauf hinweisen,dass Paul Breuer in dem angesprochenen Interviewselbstverständlich nicht gesagt hat, dass er für eine obli-gatorische Wehrdienstzeit von sechs Monaten sei.Eine Erhöhung des Wehretats – das wurde heute auchschon angesprochen – löst zwar nicht alle im Bericht derWehrbeauftragten enthaltenen Probleme, jedoch hilft einebessere finanzielle Ausstattung der Bundeswehr bei derVerbesserung dreier Problemfelder: Die adäquate ma-terielle Ausstattung verbessert die Motivation der Soldat-en. Eine gut motivierte Truppe hat keine Nachwuchspro-bleme.Sie, Frau Marienfeld, haben mit Ihrem letzten Berichtdem Deutschen Bundestag mit aller Eindringlichkeitklargemacht, wie es tatsächlich um unsere Bundeswehrsteht und welche drohenden negativen Folgen vermiedenwerden müssen. Ihnen wurde bereits mehrfach zu Rechtgedankt. In meiner Eigenschaft als Berichterstatter fürIhren Bereich möchte auch ich es nicht unterlassen, michbei Ihnen und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern fürdie außerordentlich konstruktive und gute Zusammenar-beit zu bedanken.
Die Bundeswehr der Zukunft – so Verteidigungsmini-ster Scharping Anfang des Jahres – wird für Männer undFrauen ein attraktiver Arbeitsplatz sein. Sollten sich seineKritiker mit ihren finanzpolitischen Vorstellungen durch-setzen, werden wir diese Perspektiven verspielen. LassenSie es nicht so weit kommen!
Jetzt hat die Kollegin
Angelika Beer, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
FrauPräsidentin! Verehrte Kollegen und Kolleginnen! Sehrgeehrte Frau Wehrbeauftragte, auch ich möchte mich ganzherzlich bei Ihnen bedanken. Die Debatte geht in der Tatein Stück an Ihrem Bericht vorbei. Ich erinnere aber da-ran, dass Sie heute von der Politik auch eingefordert ha-ben, unserer Bundeswehr eine klare Perspektive zu geben.Ich erinnere mich an Ihre letzte Rede, in der Sie be-gründeten, warum Sie für eine zweite Amtszeit nicht zurVerfügung stehen, was ich persönlich bedauere. Ich finde,eine Frau hat diesen Platz gut ausgefüllt. Sie haben IhreEntscheidung damit begründet, dass Sie die zukünftigeStrukturreform der Bundeswehr nicht verantworten kön-nen. Insofern ist ganz klar, dass sich die heutige Debatteauch mit dieser Frage auseinander zu setzen hat.Ich möchte insbesondere auf die CDU eingehen,und zwar im ersten Teil auf den Kollegen Breuer, denSprecher der AG Sicherheit, und im zweiten Teil auf diePartei selbst.Herr Kollege Breuer, Sie haben hier behauptet, die Bun-deswehr sei in einer tiefen Krise der Irritation und der Des-orientierung,
und Rot-Grün habe diese Krise herbeigeführt.Ihr Kollege Volker Rühe hat als Verteidigungsminister ein-mal in einer sehr wichtigen Debatte gesagt: Wir müssenGarant dafür sein, dass wir nicht Teil des Problems wer-den; wir müssen vielmehr immer Teil der Lösung sein. Ichkann nur sagen: Solange Sie Debatten führen wie heute,sind Sie Teil des Problems und nicht Bestandteil der Lö-sung.
Ich will gern erläutern, wie ich zu diesem Schlusskomme: Herr Kollege Breuer, Sie haben zunächst kri-tisiert, dass diskutiert wird, haben aber dann in diesem Jahrein Papier vorgelegt und darin eine Scheinreformskizziert: 300 000 Mann, neun Monate Wehrpflicht undansonsten ein paar Milliarden drauf.
Sie haben das Verbleiben in den Denkkategorien desKalten Krieges und den Weg des damaligen Verteidi-gungsministers Rühe skizziert,
der die Debatte über unsere Bundeswehr, über die Einsätzeund die innere Situation gefürchtet hat wie der Teufel dasWeihwasser. Sie haben das in diesem Jahr noch einmalfestgeschrieben. Das ist ein schlechter Start ins Jahr 2000und auch schlecht für die Jahre darüber hinaus.
Was ich ganz spannend finde: Es gibt ein zweites Pa-pier von der CDU/CSU, allerdings von der Partei selbst,vorgestellt von Frau Angelika Merkel. Ich möchte hiereinen Satz zitieren, Herr Kollege Breuer, und ich empfehleIhnen, auch den Rest des Papiers irgendwann zu lesen – eskommt ja von Ihrer Partei. Dort steht:Angesichts der veränderten Sicherheitslage zählenaber traditionelle Vorteile der Bundeswehr – wie ho-he personelle Aufwuchsfähigkeit, Luftverteidigungauf eigenem Boden oder große Panzerkräfte – imBündniskontext immer weniger. Demgegenüberfehlt es an ausreichender strategischer Mobilität undFlexibilität – die derzeitige mehrjährige Entsendungvon etwa 10 000 Soldaten auf den Balkan führt dieBundeswehr an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit.Ich halte dies für eine reale Einschätzung.
Ich zitiere noch einen weiteren Satz:Die langjährige Unterfinanzierung der Bundeswehr
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hat einen Investitions- und Modernisierungsstau auf-laufen lassen, der auf etwa 30 Milliarden DM ge-schätzt wird.Ich will mich jetzt nicht über die Zahl streiten, aber IhrePartei, die offensichtlich im Wandel begriffen ist –zumindest die Partei, nicht Sie –, ist bereit, sich endlichvon der sicherheitspolitischen Blockade, die über Jahre ihrDenken eingegrenzt hat, zu verabschieden und sich posi-tiv in eine Diskussion über die Zukunft der SicherheitDeutschlands und der Reform der Bundeswehr einzu-lassen. Das finde ich durchaus begrüßenswert.Ich möchte zum Schluss noch darauf hinweisen, dasswir es für notwendig halten, die Unabhängigkeit derWehrstrukturkommission immer wieder in den Vorder-grund zu stellen, sie zu unterstützen und auf das Ergebniszu warten. Genauso notwendig ist es aber auch, dass nichtnur Parteien auf Grundlage unterschiedlicher Parteiposi-tionen diskutieren, sondern dass auch die Gesellschaftdiskutiert. Insofern treten wir als Grüne – das ist keinKoalitionskonflikt, sondern eine Debatte, die auch in derGesellschaft und bei den Jugendlichen geführt wird – nichtnur für eine drastische, klare Reform, sondern auch für dieAbschaffung der Wehrpflicht ein. Ich glaube, dass dieJugend ein Recht hat – nachdem Frauen das Recht bekom-men haben, in allen Laufbahnen der Bundeswehr ihrenDienst zu tun –, zu diskutieren oder auch zu verlangen,dass diese Freiwilligkeit zukünftig auch für sie gilt.Ich glaube, dass wir auch verpflichtet sind, sicherheit-spolitische Rahmenbedingungen zu diskutieren – wie dieCDU/CSU oder auchTeile der F.D.P. es hier vormachen –,wobei man zu dem Schluss kommen kann, dass dieWehrpflicht als Zwangsdienst sicherheitspolitisch nichtmehr legitimiert ist.
Wie auch immer dann ein möglichst breiter Konsens fürdie Zukunft der Bundeswehr aussehen wird – er mussmöglichst breit sein, das ist keine Frage von Parteien undvon Koalitionen, das ist eine gesellschaftliche und gesamt-politische Aufgabe –, Sie brauchen angesichts desgesellschaftlichen und sicherheitspolitischen Wandelsgute, sehr gute Argumente, um zu begründen, womit einZwangsdienst für Jugendliche noch gerechtfertigt werdenkann. Die Argumente haben wir vorher auszutauschen unddürfen nicht hinterher im Hauruckverfahren beschließen.
– Nein, das ist der Mut zur Diskussion.
Jetzt erteile ich das
Wort dem Kollegen Hans Raidel, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Der Bericht der Wehr-beauftragten zeigt wie gewohnt ganz präzise und im De-tail auf, was Sache ist, woran es fehlt, wie der Truppen-alltag ausschaut, wie die Auslandseinsätze zu bewertensind und wie es an der so genannten Heimatfront zugeht.Was mir an diesem Bericht imponiert, ist, dass er scho-nungslos, ohne Polemik und ohne falsches Pathos objek-tiv darstellt, was wirklich Sache ist, wo Plus und Minusliegen, und dass dieser Bericht nicht nur Kritik enthält,sondern dass er sich auch bemüht, Wege zur Beseitigungvon Mängeln aufzuzeigen, dass er Defizite klarstellt, aberauch Perspektiven andeutet und teilweise eröffnet. Dasmacht diesen Bericht für mich persönlich wertvoll. Wir alsAbgeordnete sollten meiner Auffassung nach darauf ach-ten, dass dieser Bericht eben nicht wie so vieles einfachverschwindet, sondern dass er eine ständige Arbeits-grundlage auch für uns im Ausschuss darstellt.Wir müssen nun gemeinsam versuchen, das zu beseiti-gen, was in diesem Bericht bemängelt wird. Unsere Sol-daten müssen spüren, dass es unser Anliegen ist, für sie dazu sein, dass wir sie ernst nehmen, dass das Petitionsrecht,das sie haben, und die Fürsorge bei uns gut aufgehobensind.Es sind verschiedene Punkte genannt worden, diewichtig für die Akzeptanz sind, zum Beispiel die Betreu-ung im Ausland, die damit einhergehende Familienfür-sorge und die Militärseelsorge. Wenn ich Sie richtig ver-stehe, dann ergeben sich daraus für die Zukunft folgendeFragen: Haben wir im Betreuungsbereich genug Fach-leute? Haben wir genügend Sprachenvermittler?Neben all dem Streit, den wir hier sachlich führen –Polemik würzt manchmal die Debatte –, müssen wir alsParlament gemeinsam bereit sein, für die Akzeptanz dieserBundeswehr in der Gesellschaft auf allen Ebenen zu wer-ben.Sie, Frau Marienfeld, haben sich mit diesem Berichtviel Lob, auch Kritik, aber vor allem Respekt von allenSeiten verschafft. Sie werden häufig als „Mutter Courage“bezeichnet, weil Sie ohne Scheu und ohne Angst vor ir-gendwelchen Königsthronen Ihr aufgetragenes Wächter-amt voll ausschöpfen. Sie waren und sind eben keinFeigenblatt für irgendeine Regierung. Ich danke Ihnensehr herzlich für Ihre Arbeit.Wir von der CSU danken Ihnen ganz besonders, weilSie ursprünglich aus den Reihen der CSU kamen, dannaber zur CDU wechseln mussten. Sie haben sich bei unsaber immer gut aufgehoben gefühlt.
– Das wollte ich gerade sagen: Sie wurden von uns, vomParlament, gewählt; und wir als Parlament sind auf IhreArbeit stolz, weil sie ein Stück auch unsere Arbeit ist undunsere Arbeit entsprechend dokumentiert.
Dieser Bericht ist ein Alarmsignal. Das wurde in deneinzelnen Redebeiträgen schon besonders herausgestellt,weswegen ich das alles nicht wiederholen werde. Ichmöchte nur noch einmal den Mut von Ihnen, FrauWehrbeauftragte, betonen, dass Sie sich bewusst in einen
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Angelika Beer9136
offenen Widerspruch zum Bundesminister der Verteidi-gung gesetzt haben: Sie haben festgestellt, dass die Moti-vation in der Truppe in einem gefährlichen Maße sinkt,dass der Dienst in der Bundeswehr nicht mehr als attrak-tiv angesehen wird und dass die Soldaten zwar bereit sind,vieles zu ertragen, dass sie aber unter dem Virus der Un-sicherheit leiden.Meine Damen und Herren, Sie sind seit eineinhalbJahren an der Regierung. Sie können das drehen und wen-den, wie Sie wollen: Es ist Ihr Baby. Für all das, was in derBundeswehr passiert bzw. nicht passiert, ist dieseRegierung direkt verantwortlich. Wer denn sonst?Umgekehrt würden Sie das doch auch in unseren Verant-wortungsbereich schieben, wenn wir noch regieren wür-den. Wir beklagen, dass es anders gekommen ist. So hatauch dieses Jahr zu Schäden bei der Bundeswehr geführt.
Wenn sich der Herr Minister nun aufregt, dass er in derÖffentlichkeit angegangen wird, dann muss er immerdaran denken: Wer in der Öffentlichkeit steht, der hat keinRecht auf Rücksichtnahme. Er darf ein solches Recht auchnicht fordern.Er hat sich der Verantwortung zu stellen. Er ist es, derProblemlösungen vorzuschlagen hat und der sie zusam-men mit seiner Koalition dann auch zu verantworten hat.Ich will eine von der öffentlichen Meinung zum Aus-druck gebrachte Kritik zitieren, also eine Kritik, die nichtvon uns kommt. „Die Woche“ berichtet:Scharping sitzt zwischen allen Stühlen. Er bekommtseinen Job nicht in den Griff. Aber wie sollte er auch?Er ist zunächst einmal Opfer eines gravierenden De-fizits dieser Bundesregierung. Sie hat kein zusam-menhängendes Konzept zur Außen- und Sicher-heitspolitik. Jeder wurstelt irgendwie vor sich hin.
– Natürlich, Herr Kollege Zumkley: Immer dann, wenn esunangenehm wird und man die Wahrheit nicht hören will,bezeichnet man es als „alten Hut“.
Das kennen wir. Dies ist das Übliche und ich bin überhauptnichts anderes gewöhnt.
Selbstverständlich kann es nicht wie bisher weiterge-hen. Die Bundeswehr muss sofort an Haupt und Gliedernreformiert werden. Wir müssen – darüber sind wir uns alleeinig – von einer Ausbildungs- zu einer Einsatzarmee aufder Grundlage der Wehrpflicht und eines guten Reservis-tenkonzeptes, das daraus abgeleitet werden muss, kom-men.Dabei wäre ich dankbar, wenn sich auch die jetzigeKoalition darüber klar würde, was sie eigentlich will. Ichmöchte nicht auf Konzeptionelles eingehen, sondern nurwiederholen, was schon gesagt worden ist. Lesen Sie ein-mal die Parteiprogramme der SPD und von Bündnis90/Die Grünen. Dann werden Sie sehr viel Widersprüch-liches und Gegensätzliches zu dem Positiven finden, dashier gesagt wird. In den beiden Parteien ist eine völlig an-dere Stimmung und eine andere Erwartungshaltunganzutreffen. Korrigieren Sie einmal diese Dinge, dannwerden Sie auch hier im Parlament in Ihren Aussagenglaubwürdiger. Von der PDS möchte ich in diesem Zusam-menhang nicht reden, da sie nach meiner Auffassung indiesen Fragen sowieso eine indiskutable Meinung hat.Natürlich geht es immer ums Geld. Der Auftrag derBundeswehr muss mit den Finanzen in Einklang gebrachtwerden. Dafür stellen die anstehenden Haushaltsberatun-gen eine Nagelprobe dar, in denen Sie über Wohl und We-he einer ernsthaften Außen- und Sicherheitspolitik dieserBundesregierung Auskunft geben müssen. Sie behauptenimmer, die Vergangenheit habe diese Defizite gebracht.Aber wer hat Sie zu dem Zeitpunkt Ihrer Regierungsüber-nahme daran gehindert, sofort zu Gunsten der Bundeswehrnachzulegen? Sie haben immer gesagt, es sei alles unter-finanziert. Sie hätten das bereits für das vergangene Jahr,spätestens aber für 2000 ändern und der Bundeswehr einenzukunftsorientierten Finanzrahmen geben können, damitdiese ihre internationalen Verpflichtungen in der UN,NATO, EU, WEU und OSZE einhalten kann.Sie haben überall Versprechungen gemacht. BeendenSie doch endlich die bestehende Verunsicherung in derTruppe mit einer neuen Haushaltsdarstellung, die einefeste und zukunftsorientierte Planung ermöglicht. Schaf-fen Sie diesen Finanzrahmen! Wer hindert Sie denn daran?
Sie haben die Mehrheit.Der Gegensatz zwischen Eichel und Scharping ist nichtkünstlich konstruiert, sondern tatsächlich vorhanden.
Ich gehe so weit zu sagen: „Die Geister, die ich rief, werdich jetzt nicht los.“ Scharping würde nie mehr eine solcheKommission einsetzen, die sich – Gott sei Dank – nichtvon ihm beeinflussen und in irgendeine Richtung drängenlässt, und deren Ergebnisse man jetzt am liebsten nichthätte.
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist überschritten.
Hätten Sie sich damals an
unsere Finanzplanung gehalten, würde sich Scharping
heute als Krösus fühlen, der viele der bestehenden Pro-
bleme nicht hätte.
Herr Kollege, darf ich
Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Ich komme zum letztenSatz.
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Hans Raidel9137
Wir müssen jetzt den Kanzler entscheiden lassen. Er hatgesagt: Wir machen vieles nicht anders, aber vieles bes-ser. Für die Bundeswehr ist er den Nachweis noch schuldiggeblieben.
Ich erteile der Kolle-
gin Ulrike Merten, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrteKolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Frau Marien-feld, Sie haben einmal mehr einen sehr detaillierten Be-richt vorgelegt.Das können Sie tun,
weil Sie die Sorgen und Nöte der Bundeswehrangehörigennur zu gut kennen. Sie haben sich in den vergangenenJahren besonders für sie eingesetzt. Dafür danke ich Ihnenganz herzlich.
Sie haben die Mängel auch in den Berichten der zurück-liegenden Jahre immer wieder benannt. Deshalb, HerrKollege Breuer und Herr Kollege Siemann, finde ich esschon ärgerlich, wenn Sie heute so tun, als sei die der-zeitige Situation der Bundeswehr gleich einer Naturkata-strophe innerhalb weniger Tage über uns gekommen. Sieverschweigen, dass dies auch ein Ausfluss IhresRegierungshandelns war.
Und, Herr Kollege Raidel, es geht hier nicht um Rück-sichtnahme, die der Minister einfordert. Es geht hier aberum Tatsachen und Seriosität. Das, was Sie eben gemachthaben, ist alles andere als seriös, und es ist auch nicht wahr.
Ich finde es daher bemerkenswert, dass die Bundeswehrbei allen Problemen, die sie hat und die wir gar nicht ver-schweigen wollen, ihre Aufgabe bei Auslandseinsätzenwahrnimmt. Das gilt insbesondere für die noch immerschwierige Situation im Kosovo. Unsere Soldaten ge-nießen dort hohes Ansehen. Hoch motiviert, engagiert undgut ausgebildet, leisten sie Beachtliches. Wir verlangen ih-nen ja auch einiges ab, nämlich ein hohes Maß an Flexi-bilität und Einsatzbereitschaft. Dazu kommen erheblicheAnforderungen an ihre soziale Kompetenz, die sie jedenTag im Einsatz aufs Neue unter Beweis stellen müssen.Während meiner Reise in den Kosovo hatte ich Gele-genheit, mit den jungen Männern und Frauen vor Ort zusprechen. Ich muss Ihnen sagen, liebe Kolleginnen undKollegen: Ich war tief beeindruckt von ihrer Haltung, mitden Widrigkeiten, die unvermeidbar sind, umzugehen. Ichhatte auch den Eindruck, dass die jungen Männer undFrauen sehr wohl die Verlängerung der Einsatzzeit vonvier auf sechs Monate als notwendig anerkennen.
Kurzfristig – das gehört zur Ehrlichkeit dazu – werdenwir die Einsatzdauer nicht verkürzen können. Wir solltendeshalb die Ergebnisse der anstehenden Untersuchung desSozialwissenschaftlichen Institutes der Bundeswehr ab-warten, um dann noch einmal darüber zu reden, ob es beiden sechs Monaten wirklich bleiben muss.Bis dahin – das finde ich wichtig – sollten wir im Hin-blick auf die Häufigkeit der Einsätze sehr wohl aufVerlässlichkeit achten. Ich sage aber auch ganz deutlich:Wir werden nicht immer gewährleisten können, dass inallen Verwendungen eine erneute Heranziehung erst nachzweijähriger Verweildauer im Inland erfolgt. Deshalbmüssen wir unsere Anstrengungen verstärken, in diesenBereichen zusätzliche Soldaten auszubilden. Ich glaube,wir sind uns darin einig. Wenn wir, wie wohl zu Recht, un-terstellen, dass das Engagement der Bundeswehr in dieserBalkanregion noch auf Jahre hin notwendig sein wird,dann müssen wir die Bedingungen so ausgestalten, dasswir unserer Verantwortung, die wir übernommen haben,indem wir die Soldaten der Bundeswehr in solche Einsätzeschicken, auch an jeder Stelle gerecht werden. Wenn wirvon Verantwortung reden, dann gehört es auch dazu, wiewir mit Äußerungen in der Öffentlichkeit umgehen. ImNachhinein den Einsatz der Bundeswehr in einerunglaublichen Weise in Frage zu stellen, ist alles andere alsverantwortlich. Dies ist in höchstem Maße unverant-wortlich.
Wenn wir über Verantwortung reden, dann gehört auchdazu, dass wir nicht nachlassen dürfen, die einsatzorien-tierte Ausbildung für friedenssichernde und frieden-schaffende Missionen so optimal wie möglich zu gestal-ten. Wir wissen: Dies ist der beste Schutz der Soldaten imEinsatz.Aber ebenso gehört zum Reden über Verantwortung,dass wir den jungen Leuten die Möglichkeit geben, ihreFreizeit wirklich sinnvoll zu gestalten. Als ich Ende letztenJahres in Prizren war, durften die jungen Männerund Frauen das Kasernengelände nur zu dienstlichenZwecken verlassen, weil die Sicherheitslage noch so in-stabil war. Das heißt, sie waren in ihrer Freizeit daraufangewiesen, ausschließlich die Möglichkeiten innerhalbdes Geländes zu nutzen. Was das für junge Leute bedeutet,die häufig nicht älter als 22 oder 23 Jahre sind, kann sichwohl jeder vorstellen. Umso wichtiger ist es, dass sie un-kompliziert regelmäßigen Kontakt mit ihren Familienhalten können. Ich bin sehr froh, dass die Anlauf-schwierigkeiten im Bereich des Postaustausches über-wunden sind. Ich habe immer wieder erlebt, dass mir diejungen Soldaten in Gesprächen sagten: Wir können diesenDienst nur verantwortlich und konzentriert tun, wenn wiruns keine Sorgen über das machen müssen, was zu Hauseabläuft. Eine Erkenntnis ist mir dabei noch einmal deutlichgeworden: Die Trennung von den Angehörigen belastet
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Hans Raidel9138
die jungen Leute sehr, vor allem – das ist ja nicht selten –wenn sie selbst schon Verantwortung für eine Familie tra-gen.
Frau Kollegin, Ihre
Redezeit ist abgelaufen.
Ja, ich komme zum Ende.
Ich finde, eine Menge an Sorgen können wir ihnen ab-
nehmen, wenn sie sicher sein können, dass ihre Familien
in den Betreuungszentren der Bundeswehr, auf die wir gar
nicht genügend Wert legen können, ein offenes Ohr fin-
den und dort mit ihren Alltagssorgen nicht allein bleiben.
Wir müssen in den kommenden Jahren noch einmal hier-
auf das Gewicht legen und dafür ausreichend Mittel und
Fachpersonal zur Verfügung stellen. Insofern ist mir die
betreffende Passage im Bericht der Wehrbeauftragten –
das sage ich ganz ehrlich, auch wenn ich mich an der
Stelle noch einmal ausdrücklich bei ihr bedanken möchte –
ein wenig kurz geraten.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Als letztem Redner in
dieser Aussprache erteile ich das Wort dem Kollegen
Rainer Arnold, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolle-ginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Wehrbeauftrag-te! Es ist natürlich eine Binsenweisheit, dass Zeitengroßen Wandels immer beides in sich bergen, Chancenund Risiken. Die Bundeswehr steht vor der größten Re-form seit ihrem Bestehen. Insofern verwundert es natür-lich nicht, wenn die Wehrbeauftragte in ihrem Bericht fest-stellt, dass sie unter den Soldaten auch Unsicherheit undFrustration angesichts neuer Herausforderungen ausge-macht hat. Wer aber wie die CDU, vor allen Dingen Sie,Herr Breuer, und heute auch Herr Siemann, dies seit Wo-chen wie auch heute zum Anlass nimmt, die Zu-kunftsängste, die natürlich in jeder Firma vorhanden sind,in der Umbrüche anstehen, weiter zu schüren, statt unse-re Soldaten für ihre Zukunftsaufgaben zu motivieren, derhandelt wirklich ganz grob fahrlässig.
Wer unserer Truppe generell mangelnde Motivationeinzureden versucht, verspielt zum Schluss dasunglaublich große Potenzial an Kreativität und Leis-tungswillen vieler hochmotivierter Soldaten und Sol-datinnen, die wir für diesen Wandel ganz dringendbrauchen.Der Bericht der Wehrbeauftragten ist naturgemäß einMängelbericht. Zweifelsohne spürt die Bundeswehr dieerheblichen Mängel insbesondere bei der Ausrüstung undbeim Material. Dass die Wehrbeauftragte dies in allenBerichten der letzten Jahre immer wieder anmahnenmusste, hat doch seinen Grund – das müssen wir immerwieder sagen – in einer seit Jahren verfehlten Investitions-politik.Diese ist die Folge Ihrer Halbherzigkeit, meine Damenund Herren von der Opposition,
mit der Sie in den letzten Jahren an den Missständen in derBundeswehr herumgedoktert haben, anstatt sie zu besei-tigen.
Jetzt gibt es etwas Neues: Seitdem der Verteidigungs-minister Scharping heißt, werden die vorhandenenDefizite zum ersten Mal offen benannt. Dies ist dieentscheidende Voraussetzung dafür, überhaupt etwas zuverbessern.
Vor dem Hintergrund dieses offenen Benennens haben wirnatürlich das Anliegen, dass Zahlen korrekt wieder-gegeben werden. Herr Siemann – der Minister hat es jaheute wiederholt gesagt –, es ist nicht wahr, dass radikaleEinschnitte in den Haushalt vorgenommen wurden. Ichwill die genannten Zahlen nicht wiederholen, aber eine an-dere, die nicht stimmt, noch einmal korrigieren. Sie habenzwischen 1994 und 1998 im Verteidigungsetat 5,6 Mil-liarden DM gestrichen und einfach weggenommen, ohneüber eine neue Struktur nachzudenken. Sie haben vorhinbehauptet, die SPD habe einen viel höheren Antrag zurStreichung gestellt.
– Dies ist falsch. Kaufen Sie sich einen Rechenschieberoder einen Taschenrechner und rechnen Sie nach.
Die Zahlen, die die damalige Opposition beantragt hat,lauten in diesem genannten Zeitraum 1,88Milliarden DMan Kürzung.
Wären Sie dem gefolgt, stünden wir heute an einem ganzanderen Punkt.
Eines ist schon interessant: Sie färben jahrelang schönund jetzt sitzen Sie in der Opposition und machen eineradikale Kehrtwende. Ohne Differenzierung malen Siejetzt tiefschwarz.
Die moderne, den neuen Aufgaben gerecht werdendeBundeswehr der Zukunft hat erst unter Rudolf Scharpingan Kontur gewonnen.
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Ulrike Merten9139
Es ist schon ein bisschen verwunderlich, Herr Raidel,wenn Sie sagen, wir wüssten nicht, dass wir jetzt Verant-wortung tragen. Wir stehen mitten in diesem Prozess.Haben Sie doch noch ein paar Wochen Geduld! Es ist eineLeistung, wenn in weniger als zwei Jahren neue wichtigeEckpunkte offen und breit diskutiert werden, und zwar inunseren Reihen, und wir diese Diskussion auch nachaußen mit der Gesellschaft haben wollen. Das ist eineGrundvoraussetzung dafür, dass die Gesellschaft diesenWandel in den Streitkräften mitträgt.Insofern, Herr Raidel, brauchen wir keine Belehrungen,wenn es um interne Diskussionen geht. Schauen Sie ersteinmal in Ihren eigenen Reihen nach, was war, als Sie IhrPapier „Zukunft 2010“ vorgelegt haben. Fragen Sie ein-mal bei CDU und CSU nach, ob das überhaupt abgestimmtist. Wenn Sie das geschafft haben, sind Sie vielleicht in derLage, mit uns seriös und gründlich über die Zukunft zudebattieren.
Der Verteidigungsminister hat viel in Gang gebracht.Ich nenne von diesen vielen Dingen nur ein Beispiel, denRahmenvertrag mit der Wirtschaft. Frau Marienfeld sagtzu Recht, dass dies zu den großen Zukunftsaufgaben derBundeswehr gehören wird. Die Soldatinnen und Soldatendraußen haben nicht Ängste, sondern setzen Hoffnung indiesen Rahmenvertrag und in diesen Modernisierungs-prozess.
Ich bin sicher, diese Hoffnungen sind begründet. Sie er-warten sich davon nämlich schnellere Entscheidungen,mehr Flexibilität und besseren, effizienteren Einsatz desGeldes.Ich hoffe sehr, dass das Beharrungsvermögen vonmanchen in Ihren Reihen, vielleicht auch auf derHardthöhe und in Koblenz, zum Schluss nicht größer alsdie Motivation und der Wille zur Veränderung ist auf denich bei den Soldaten in der Truppe, nämlich jeden Tag,wenn ich sie besuche, in dieser Frage treffe.
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist abgelaufen.
Ich komme zum Schluss.
Durch dieses Projekt – das war nur ein Beispiel; es gibt
viele – würde der Wehrdienst in der Tat attraktiver. Es
eröffnen sich neue Perspektiven für Soldatinnen und Sol-
daten.
Der entscheidende Punkt ist: Sie haben es nicht
geschafft, neue, andere berufliche Perspektiven bei verän-
derten Herausforderungen zu öffnen und aufzuzeigen. Ich
bin sicher, dass auch der oder die Wehrbeauftragte der
Zukunft noch wichtiger sein wird, um diesen Reform-
prozess in den nächsten Monaten und Jahren zu begleiten.
Er ist für die Soldaten nach innen wichtig.
Er ist aber auch für uns als Parlament wichtig. Er wird
erst dann eine richtige Grundlage sein, wenn die Opposi-
tion der Versuchung widersteht, den Bericht, in dem vieles
steht, von dem wir lernen können, parteipolitisch zu in-
strumentalisieren.
Die Soldatinnen und Soldaten haben es verdient, dass
wir uns ernsthaft und seriös mit den Problemen in den
Streitkräften auseinander setzen.
Herzlichen Dank.
Ich danke noch einmal
im Namen des Deutschen Bundestages der Wehrbeauf-
tragten des Deutschen Bundestages, Frau Marienfeld, für
ihre geleistete Arbeit.
Ich kann die Aussprache noch nicht schließen, denn ich
gebe hiermit dem Kollegen Rauber das Wort zu einer
Kurzintervention.
Frau Präsidentin! Lie-be Kolleginnen und Kollegen! Sechs Punkte zur Klar-stellung:Erstens. Richtig ist – wenn man die 2 Milliarden DMaus dem Einzelplan 60 dazu zählt –, dass der Verteidi-gungshaushalt 2000 nominal höher liegt als 1998. AberUmsatz ist nicht gleich Gewinn. 1998 standen auf demBalkan 2 700 Soldaten. Zwischenzeitlich wurde dort einKrieg geführt. Ende 1999 waren es 9 000 Soldaten.Zweitens. Es ist schlicht und einfach falsch, zu be-haupten, dass sich in den letzten Jahren innerhalb der Bun-deswehr nichts verändert hätte. Wir hatten 1995 unter derRegierung Kohl die Wehrstrukturreform eingeleitet, nichtaus Lust an der Veränderung, sondern weil die sicherheits-politische Lage es erforderte. Sie waren es, die höhereFriedensdividenden eingefordert haben. Wir haben sie er-möglicht. Es muss die Tatsache beachtet werden, dass esden Warschauer Pakt nicht mehr gibt, dass die deutscheEinheit in Frieden und Freiheit realisiert wurde und dasswir nicht mehr an der Grenze, sondern in der Mitte desBündnisses liegen.Drittens. Richtig ist, dass die Bundeswehr zu unsererZeit unterfinanziert war. Richtig ist aber auch, dass Sie inder Vergangenheit Anträge nicht auf Erhöhung, sondernauf Senkung des Haushaltes gestellt haben.Viertens. Wer die Zeitungsberichte über den Berichtder Wehrbeauftragten gelesen hat, der konnte dieSchlagzeile „Zwischen Zynismus und Resignation“ lesen.Wir müssen diese Feststellung ernst nehmen. Wer ver-drängt, löst keine Probleme. Auch gegenseitigeSchuldzuweisungen führen nicht zum Ziel.
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RainerArnold9140
Fünftens. Frau Kollegin Lippmann, ich weise mit allerEntschiedenheit Ihre Vorwürfe zurück, dass die Reservis-ten nationalistisch eingestellt seien. Wir haben in unseremVerband 138 000 Mitglieder. Wir gehen jedem Vorwurfnach. Wann immer es ein Fehlverhalten gegeben hat, wirdes abgestellt. Ich weise Ihre Vorwürfe zurück, die Sie inschändlicher Form verallgemeinert vorgetragen haben.
Sechstens. Wir als CDU/CSU-Fraktion sind für einkonstruktives Miteinander. Es geht um unser aller Sicher-heit. Es mag für den einen oder anderen wie eine Phraseklingen, wenn gesagt wird: Frieden und Freiheit ist nichtalles, aber ohne Frieden und Freiheit ist alles nichts.Wir als CDU/CSU-Fraktion sind für einen konstrukti-ven Dialog, was wir im Zusammenhang mit der Diskus-sion über den Bericht der Wehrstrukturkommission unterBeweis stellen werden.
Ich schließe nunmehrdie Aussprache und danke Frau Marienfeld noch einmalsehr herzlich. Es ist sicherlich richtig, dass man sie garnicht genug loben kann.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/2900 an den in der Tagesordnung aufge-führten Ausschuss vorgeschlagen. Gibt es anderweitigeVorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Über-weisung so beschlossen.Wir kommen zu den Überweisungen im vereinfachtenVerfahren ohne Debatte.Ich rufe zunächst die Tagesordnungspunkte 13 a und13 b auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurSenkung der Steuersätze und zur Reform derUnternehmensbesteuerung
– Drucksache 14/3074 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOb) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu derVierten Änderung des Übereinkommensüber den Internationalen Währungsfonds
–Drucksachen 14/3075 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklungInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu über-weisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen jetzt zu Beschlussfassungen über weitereVorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 a auf:Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll von1996 zur Änderung des Übereinkommensvon 1976 über die Beschränkung der Haf-tung für Seeforderungen– Drucksache 14/2696 –
Zweite Beratung und dritte Beratung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Ausführungesetzes zu dem Protokollvon 1996 zur Änderung des Übereinkom-mens von 1976 über die Beschränkung derHaftung für Seeforderungen– Drucksache 14/2697 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechts-ausschusses
– Drucksache 14/3051–Berichterstattung:Abgeordnete Joachim StünkerDr. Wolfgang Freiherr von StettenVolker Beck
Rainer FunkeWir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderungdes Übereinkommens von 1976 über die Beschränkungder Haftung für Seeforderungen auf Drucksache 14/2696.Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/3051unter Buchstabe a, den Gesetzentwurf unverändert anzu-nehmen. Wer dem zustimmen will, den bitte ich um dasHandzeichen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Damit istdie Beschlussempfehlung einstimmig angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Ausführungs-gesetzes zur Änderung des Übereinkommens von 1976über die Beschränkung der Haftung für Seeforderungenauf Drucksache 14/2697. Der Rechtsausschuss empfiehltauf Drucksache 14/3051 unter Buchstabe b, den Geset-zentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
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Helmut Rauber9141
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratungangenommen.Wir kommen zur,dritten Beratungund Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werdagegen stimmen möchte, darf sich jetzt erheben. – Werenthält sich? – Auch dieser Gesetzentwurf ist einstimmigangenommen.Tagesordnungspunkt 14 b:Beratung und Beschlussempfehlung und desBerichts des Ausschusses für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit
zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-rungVorschlag für eine Richtlinie des Euro-päischen Parlamentes und des Rates übernationale Emissionshöchstgrenzen für be-stimmte LuftschadstoffeVorschlag für eine Richtlinie des euro-päischen Parlamentes und des Rates überden Ozongehalt der Luft– Drucksachen 14/1936 Nr. 1.4, 14/2987 –Berichterstattung:Abgeordnete Rainer Brinkmann
Dr. Paul LaufsWinfried HermannUlrike FlachEva-Maria Bulling-SchröterDer Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seinerBeschlussempfehlung, die Vorschläge der genannten EU-Richtlinien zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 14 c:Beratung und Beschlussempfehlung und desBerichts des Ausschusses für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit
zu der Verordnung der BundesregierungErste Verordnung zur Änderung der Ver-packungsverordnung– Drucksachen 14/2810, 14/2947 Nr. 2.1,14/3064 –Berichterstattung:Abgeordnete Marion Caspers-MerkWerner WittlichWinfried HermannBirgit HomburgerEva-Maria Bulling-SchröterDer Ausschuss empfiehlt, der Verordnung zuzustim-men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenprobe! –Enthaltungen? – Bei Enthaltung der PDS istdie Beschlussempfehlung angenommen.Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Peti-tionsausschusses:Tagesordnungspunkt 14 d:Beratung und Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 140 zu Petitionen– Drucksachen 14/2998 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Bei Enthaltung der PDS ist Sammelüber-sicht 140 angenommen.Tagesordnungspunkt 14 e:Beratung und Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 141 zu Petitionen– Drucksachen 14/2999 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Bei Enthaltung der PDS ist Sammelüber-sicht 141 angenommen.Tagesordnungspunkt 14 f:Beratung und Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 142 zu Petitionen– Drucksachen 14/3000 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Sam-melübersicht 142 ist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 14 g:Beratung und Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 143 zu Petitionen– Drucksachen 14/3001 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Gegen dieStimmen der PDS ist Sammelübersicht 143 angenommen.Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf:Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 29.November 1996 aufgrund von Artikel K.3 desVertrages über die Europäische Union betref-fend die Auslegung des Übereinkommens überden Schutz der finanziellen Interessen der Eu-ropäischen Gemeinschaften durch den Ge-richtshof der Europäischen Gemeinschaften imWege der Vorabentscheidung
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Vizepräsidentin Anke Fuchs9142
– Drucksachen 14/2120 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechts-ausschusses
Berichterstattung:Abgeordnete Winfried ManteDr. Susanne TiemannHans-Christian StröbeleRainer FunkeWas immer das auch sein mag, der Rechtsausschussempfiehlt auf Drucksache 14/3092, den Gesetzentwurfunverändert anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-men wollen, um das Handzeichen. – Gegenprobe! – DerGesetzentwurf ist damit einstimmig in zweiter Lesungangenommen.Wir kommen zur Schlussabstimmung: Ich bitte diejeni-gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu er-heben. – Wer stimmt dagegen? – Auch dieser Gesetzen-twurf ist einstimmig angenommen worden.Ich habe Sie vorhin bei Tagesordnungspunkt 14 bvergessen zu fragen, ob Sie der Ausschussempfehlungunter Nr. 2 zustimmen wollen. Wer mir darin folgen mag,den bitte ich um das Handzeichen. – Gegenprobe! – DieBeschlussempfehlung ist angenommen. Ich glaube, daskönnen wir so machen. Damit habe ich das berichtigt. Ichbitte um Entschuldigung.Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 7 auf:Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungBericht der Bundesregierung über die Er-gebnisse derVerhandlungen zum Biosicher-heits-Protokoll– Drucksachen 14/3071 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
RechtsausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten-Ausschuss für Umweltschutz, Naturschutz und Reaktor-sicherheitDazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen vonSPD und Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer inter-fraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eineDreiviertelstunde vorgesehen. – Das ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin An-drea Fischer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Titel die-ses Protokolls ist nicht ganz so schwierig wie das Gesetz,das wir gerade verabschiedet haben; gleichwohl hat es bis-lang nicht ganz die Aufmerksamkeit gefunden, die ich ihmwünschen würde.
Wir haben in Montreal das Ende eines acht Jahrewährenden Prozesses erlebt und endlich die Verständi-gung auf das Protokoll über die biologische Vielfalt er-reicht, was ich nicht nur für einen Meilenstein in derinternationalen Politik in Sachen Gen- und Biotechnolo-gie halte, sondern auch für einen Meilenstein in der inter-nationalen Politik, über Mindeststandards eine Verallge-meinerung von Verbraucherschutz und Gesundheits-schutz herzustellen.Das war ein großer Erfolg, der viele Väter und Mütter hatund der auf jeden Fall eine entsprechende Würdigung ver-dient.
Apropos Väter und Mütter: Es war sehr bedeutsam,dass der kolumbianische Umweltminister engagiertdafür gearbeitet hat. Aber es war auch ein wesentlichesMoment des Erfolges, dass die EU-Minister, die dortwaren, also die Umweltminister bzw. im Fall der Bun-desrepublik Deutschland die Gesundheitsministerin, sehrstark zusammengearbeitet haben und damit eine starkeVerhandlungsposition hatten. Ich habe das als eine prak-tizierte Form der gemeinsamen europäischen Politik erlebtund das war eine sehr gute Erfahrung.Das Protokoll – ich habe es gerade gesagt – hat einelange Vorgeschichte, die 1992 in Rio begonnen und sichdann in vielen einzelnen Konferenzen fortgesetzt hat. Ichglaube, es war, auch mit Blick auf die Diskussionen, diees im Vorfeld zur Seattle-Konferenz gegeben hat, eine er-mutigende Entwicklung, die gezeigt hat, dass wir mit-einander sprechen können und gemeinsame Verabre-dungen treffen können.Ich will kurz auf den Gegenstand dieses Protokolls zusprechen kommen. Einerseits besteht die Verabredung,dass der Export gentechnisch veränderter Organismen, mitAusnahme von Humanarzneimitteln, einer vorherigenAnkündigung und der Zustimmung des Importlandes be-darf. Das heißt, dass diese gentechnisch veränderten Or-ganismen nicht ohne Wissen des Landes, in das sie ex-portiert werden sollen, bewegt werden können. Es müsseneine Information und eine Prüfung erfolgen und es wirddie aktive Zustimmung benötigt.Andererseits haben wir für gentechnisch hergestellteOrganismen, die als Lebensmittel, Futtermittel oder für dieWeiterverarbeitung bestimmt sind, eine von dem Er-fordernis der aktiven Zustimmung abweichendeRegelung. Die Vorschriften sind weicher.Wir haben eine Kennzeichnungsregelung verabredet.Das war das, was in den nicht ganz einfachen Verhand-lungen, vor allem mit der Miami-Gruppe, USAund Kana-da, machbar war. Ich will ausdrücklich noch einmal sagen:Die EU-Standards in Sachen Kennzeichnung sind höherund von diesem Protokoll unberührt. Wir haben dafürgekämpft, unsere hohen Standards allgemein durchzuset-zen, aber das haben wir nicht ganz erreicht. Wir müssenjetzt innerhalb von zwei Jahren eine Entscheidung über die
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Vizepräsidentin Anke Fuchs9143
detaillierten Kennzeichnungsanforderungen treffen.Deutschland wird dabei eine ausgesprochen verbraucher-schutzfreundliche Position einnehmen.
Ich habe eben schon auf Seattle verwiesen. Ein zen-traler Punkt neben dem nicht einfach zu verhandelndenPunkt, das Vorsorgeprinzip zum Gegenstand dieser in-ternationalen Vereinbarung zu machen, ist die Verabre-dung, dass dieses Protokoll gleichrangig mit anderen in-ternationalen Vereinbarungen betreffend den Welthandelist. Das war ein echter Durchbruch, der hart erkämpft wer-den musste. Damit haben wir verhindert, dass das Pro-tokoll nur eine sehr begrenzte Wirkung entfaltet, was derFall gewesen wäre, wenn es nachrangig zum Beispielgegenüber den WTO-Bestimmungen gewesen wäre. Ichbin sehr froh, dass dieser Durchbruch gelungen ist.
Wir werden weiter daran arbeiten müssen, das Protokollumzusetzen. Es muss erstens ratifiziert werden, wofür sichdie Bundesregierung einsetzen wird. Das heißt, sie wird esnicht nur selbst ratifizieren, sondern auch bei anderenStaaten für die Ratifizierungwerben. Zum Zweiten mussdarüber nachgedacht werden, wie die Umsetzung in dieRealität des internationalen Handels gelingen kann. Dasbedeutet vor allen Dingen eine Unterstützung der betref-fenden Länder bei der Kennzeichnung, Überprüfung, In-formation und Wissensgewinnung.Wir haben hier eine internationale Vereinbarung überden Handel mit gentechnisch veränderten Organismen unddamit über eine Materie, die nicht zuletzt in unserem Landhäufig Gegenstand sehr kontroverser Debatten ist, wasman, wie ich meine, auch an den zu einer späteren Debat-te vorliegenden Entschließungsanträgen sehen kann. Ichglaube, das Protokoll sollte uns auch in dieser HinsichtVorbild und Aufforderung sein.Ich denke, es ist trotz derKontroverse, die wir in diesem Bereich haben, möglich,die Biotechnik und Gentechnik sowohl als eine Schlüs-seltechnologie als auch eine Risikotechnologie zu betra-chten. Bei einer Verfolgung neuer Technologien ist esnotwendig – dies entspricht dem modernen Standard auchin anderen Industriezweigen –, eine Technologiefolgen-abschätzung vorzunehmen. Vor allem in diesem Bereichmüssen wir weiterkommen.
Wenn man die öffentliche Diskussion in diesem Bere-ich betrachtet, stellt man fest, dass es in der öffentlichenWahrnehmung einen deutlichen Unterschied zwischen derso genannten roten und der grünen Gentechnik gibt. Wennes zum Beispiel um die Entwicklung von Medikamentengeht, gibt es in der Bevölkerung eine sehr große Akzep-tanz, weil ein Nutzen gesehen wird. Das ist für uns aberkein Freifahrtschein, nicht auch die in diesem Zusam-menhang aufgeworfenen schwierigen ethischen Fragenund die Problematik, welche langfristigen Folgen dieseEingriffe, die wir am menschlichen Erbgut vornehmen,haben werden, zu berücksichtigen. Diese Fragen müssenimmer wieder auf die Agenda gesetzt werden.
Ich halte es für einen gewaltigen Fehler, wenn diese kri-tischen Fragen und auch Überlegungen über die Grenzendessen, was wir tun dürfen, einfach als wirtschafts- bzw.technologiefeindlich abgetan werden. Ich halte esvielmehr für geboten, dass sie berücksichtigt werden. Dassind wir übrigens auch den Menschen schuldig, die, wieich meine zu Recht, mit einer gewissen Skepsis fragen:Wie weit gehen wir da eigentlich? Wollen wir überhauptso weit gehen?
Ich glaube übrigens auch, dass diejenigen, die die Chan-cen dieser neuen Technologien in den Vordergrund stellen,sich selber einen Bärendienst erweisen. Das kann man vorallen Dingen bei der grünen Gentechnik sehen. Dort stehtdie Frage, was uns das nützt, ganz oben auf der Tagesord-nung.Für die Verfechter dieser Technologien ist es nicht im-mer einfach, eine entsprechende Antwort zu geben. Wennman den Wettbewerb und die Vorstellung von souveränenVerbraucherinnen und Verbrauchern ernst nimmt,dann muss man auf diese Fragen gute Antworten finden.Diese Antworten werden weitergehen müssen, als nur ab-strakt auf die Möglichkeit, damit den Hunger in der sogenannten Dritten Welt bekämpfen zu wollen, zu ver-weisen, wenn es in Wirklichkeit darum geht, dass dieseTechnologie für die Lebensmittelindustrie ein einfacheresund günstigeres Produktionsverfahren darstellt. So ein-fach wird eine Akzeptanz dieser Technologie nicht zuhaben sein. Dafür fragen die Verbraucherinnen und Ver-braucher zu genau nach und ich halte es für richtig, dasssie so genau nachfragen.
Gerade auch die Freunde des Wettbewerbs werden sichder inzwischen neu entstandenen Dimension stellenmüssen, dass wir es mit sehr kritischen Verbraucherinnenund Verbrauchern zu tun haben und dass sie von uns ver-langen, Bedingungen zu schaffen, damit sie die Informa-tionen, die sie haben wollen, einholen können, um, aufdiese Weise aufgeklärt, eine angemessene Entscheidungtreffen zu können. Deshalb halte ich es weder für geboten,diese Technologie in Bausch und Bogen abzulehnen, nochfür richtig, zu glauben, jeder, der kritische Nachfragennicht nur unterstützt, sondern sie geradezu herausfordert,sei ein Ewiggestriger.In diesem Sinne werden wir seitens der Bun-desregierung unsere Politik, die auf informierte undaufgeklärte Verbraucherinnen und Verbraucher setzt, fort-setzen. Ich meine, dass wir – neben den verhältnismäßigstrengen EU-Standards – in dem Bio-Safety-Protocol, indas diese kritische Debatte über die Gentechnologie einge-flossen ist, die Länder der so genannten Dritten Welt, indenen es um Fragen der Entwicklung geht, sehr stark un-terstützt haben. Das ist – so groß der Erfolg auch ist, dasswir das Bio-Safety-Protocol verabredet haben – eine
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Bundesministerin Andrea Fischer9144
Arbeit, die jetzt erst so richtig beginnt. Es geht dabei umdie Durchführung und die Etablierung der erforderlichenInstitutionen, damit dieses Protokoll mit Leben erfülltwerden kann. Wir als eine Regierung, die sich gerade ein-er kritischen Unterstützung dieser Technologien ver-pflichtet fühlt, wollen dies tun. Wir werden auch in denLändern dafür werben, die dem Biosicherheits-Protokollbislang ausgesprochen distanziert gegenüberstehen.Ich glaube, das sollte uns ein Beispiel geben, wie manauch in Deutschland über diese heiß umstrittenen Tech-nologien debattieren kann. Es ist möglich, in diesem Be-reich Verbraucherstandards festzuschreiben, und zwarsogar in internationalem Maßstab. Dies wiederum weistüber die Debatte um die Gentechnik hinaus.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Peter Paziorek.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Die Bio- und Gentechnologieist neben der Informationstechnologie eine der Schlüs-seltechnologien des 21. Jahrhunderts. Deutschland, das beider Entwicklung und Erforschung in diesem Bereich bis-lang zurücklag, hat eine bemerkenswerte Aufholjagd ge-startet und zu den Biotechnologienationen USA undGroßbritannien aufgeschlossen.Nach dem Bericht von Frau Ministerin Fischer sage ichganz deutlich: Wir, die CDU/CSU-Fraktion, begrüßen denBericht der Bundesregierung über die Ergebnisse der Ver-handlungen zum Biosicherheits-Protokoll.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist der Ansicht, dassdieses Sicherheitsprotokoll eine hervorragende Grundlageabgeben kann, weltweite Rahmenbedingungen und Stan-dards für den Umgang mit der Bio- und Gentechnologiezu setzen. Für die Bürgerinnen und Bürger der Europä-ischen Union ändert sich aufgrund der europarechtlichenSituation konkret nichts; das haben Sie schon ausgeführt.Zum ersten Mal aber wird durch dieses internationaleAbkommen der Ex- und Import solcher Produkteverbindlich geregelt. Damit wird eine wesentliche Lückedes internationalen Rechts geschlossen.Das Biosicherheits-Protokoll soll Menschen undUmwelt in den Unterzeichnerländern – die Unterzeich-nung muss noch erfolgen – vor Schäden durch Lebens-mittel, Saatgut, Tiere und Tierfutter sowie Bakterien, diegentechnisch manipuliert sind, schützen. Das Abkommenerlaubt allen Ländern, den Import gentechnologischer Pro-dukte im begründeten Zweifelsfall abzulehnen. Esschreibt den Exportländern vor, die Informationen über dieProdukte offen zu legen und die Produkte entsprechend zukennzeichnen. Diese Zielsetzung unterstützen wir aus-drücklich.Dies sage ich ganz deutlich, weil ich heute meine ersteRede als neuer umweltpolitischer Sprecher unserer Frak-tion halte: Es ist nicht unser Anliegen, bei solch wichtigenFragen, die unsere Zukunft und eine Zukunftstechnologieberühren, reflexhaft Oppositionspolitik zu betreiben nachdem Motto: Wir müssen immer eine andere Positionvertreten als die Bundesregierung.
Eine kleine Spitze muss ich dem aber aufsetzen.
Wir haben natürlich aus den Problemen, die Sie gerade inder internationalen Umweltpolitik haben, gelernt. Siehaben über Jahre hinweg die Politik von Professor Töpferund Frau Merkel in Sachen internationaler Klimaschutz imBundestag massiv bekämpft und gesagt, das sei zu wenig,es müsse mehr unternommen werden. Nun rühmen Siesich in internationalen Konferenzen damit, den einge-schlagenen Kurs fortzusetzen, und haben Schwierig-keiten, sich von Ihrer damaligen Oppositionsrhetorik zuentfernen. Aus diesem Fehler haben wir gelernt. Wenn wirim Jahr 2002 an die Regierung kommen, wollen wir einesaubere Oppositionspolitik nachweisen können. Ich sagedies aber auch in tiefer Überzeugung von der Sache, FrauMinisterin Fischer.
Dieser Aspekt ist wichtig, weil er über den Gesund-heits- und Umweltaspekt hinausgeht; er berührt diegesamte deutsche Forschungslandschaft. Deshalb mussdieses Thema im Diskurs mit allen Beteiligten und allengesellschaftlichen Gruppen erörtert werden. Wir begrüßenauch ausdrücklich – Sie haben es gerade dargestellt, FrauMinisterin – die Verankerung des Vorsorgeprinzips imProtokoll. Dies spiegelt ein gutes Stück deutscher Um-welt- und Gesundheitspolitik wider, die wir seit Jahrzehn-ten gepflegt haben. Aus diesem Grunde besteht unserer-seits kein Anlass, uns von einer Politik, die dies niederlegt,abzuwenden.Gleichwohl erfüllt es uns mit Sorge, wenn die Bun-desregierung dann in der nationalen Politik die Freiset-zung von Genmais ver- oder behindert. Ich denke dabeian die Entscheidung, die Sie Mitte Februar vor Eröffnungdes Landtagswahlkampfes in Schleswig-Holstein getrof-fen haben. Dieses Handeln nährt auf nationaler Ebene dieBefürchtung, dass die positiven Einzelerklärungen derBundesregierung – ich denke auch an Äußerungen vonBundeslandwirtschaftsminister Funke – bloße Rhetoriksind.Das Vorsorgeprinzip darf aber nicht missbraucht wer-den; das sage ich sehr deutlich. Leider wird bezüglichIhrer Entscheidung im Februar dieses Jahres, den Anbauvon BT-Mais im Freilandversuch auszusetzen, angesichtsdes Wahlkampfes in Schleswig-Holstein gemutmaßt, eskönne hier ein Missbrauch des Vorsorgegedankens vor-liegen. Wir müssen aufpassen, dass solch wichtige
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Bundesministerin Andrea Fischer9145
Prinzipien auf nationaler Ebene im konkreten Einzelfallnicht so eingesetzt werden, dass eine sinnvolle Prüfung derGentechnologie verhindert wird. Wir werden also immerwieder prüfen, ob Reden und Handeln seitens der Regie-rung übereinstimmen, und die Öffentlichkeit darüber in-formieren, wenn wir der Meinung sind, dass sich Ihr Han-deln anders darstellt, als Sie es politisch formuliert haben.Deshalb sage ich für die CDU/CSU-Bundestagsfrak-tion ganz deutlich: Die Biotechnologie muss sich kritis-chen Fragen stellen. Sie muss sich auch der Forschungstellen. Sie muss sich den Einwänden stellen. Sie darf abernicht dem parteipolitischen Kalkül geopfert werden. Wirmüssen darauf achten, dass ein sorgfältiger, wis-senschaftlicher Prozess durchgeführt wird, der belastbareEntscheidungsgrundlagen abgibt.In der Medizin, in der Pharmazie und im Bereich dernachwachsenden Rohstoffe, aber insbesondere auch beider Ernährung wird – da unterscheiden wir uns in Nuan-cen bei der Beurteilung, Frau Ministerin Fischer – aus un-serer Sicht die Bio- und Gentechnologie in den nächstenJahrzehnten eine bedeutende Rolle spielen – nicht nur inTeilbereichen, wie Sie es angesprochen haben.Der Hunger in der Welt kennt heute viele Ursachen.Bei einem von vielen Experten vorausgesagten Bevöl-kerungswachstum und der weiteren Reduzierung der land-wirtschaftlichen Nutzfläche könnte jedoch der Tag kom-men, an dem die Menschheit ohne den Einsatz der mo-dernen Gen- und Biotechnologie nicht mehr ernährt wer-den kann. Deshalb wird daran gearbeitet, durch dieEntwicklung hitze-, kälte- und salzresistenter Pflanzenauch Problemzonen wie zum Beispiel die Sahelzonewieder nutzbar zu machen.Darüber hinaus kann die Bio- und Gentechnologiewertvolle Hilfe im Umweltschutz leisten. Der Einsatzgentechnisch veränderter Pflanzen kann zum Beispiel denEinsatz umweltbelastender chemischer Pflanzen-schutzmittel, also den Einsatz der Herbizide, reduzierenund eines Tages vielleicht sogar ganz entbehrlich machen.Während die Anwendung der Gen- und Biotechnologiebei der Herstellung von Medikamenten heute weitgehendakzeptiert ist, gibt es im Bereich der Pflanzen, insbeson-dere im Bereich der Lebensmitteltechnologie, weltweit –das ist zu Recht gesagt worden – eine Akzeptanzkrise.Zum Teil ist diese Akzeptanzkrise durch – auch das sageich deutlich – übertriebene Panikmache verschiedener Or-ganisationen hervorgerufen worden. Zum Teil trägt diebetreffende Industrie – da stimme ich Ihnen, Frau Minis-terin, ausdrücklich zu – einen Teil der Verantwortung, dasie zunächst, gerade aus dem amerikanischen Bereichkommend, versucht hat, diese Technologie ohnegründliche Information des Verbrauchers einzuführen.Das musste scheitern, und das war auch kein richtigerWeg.Mittlerweile haben sich auch in den USA die Einstel-lungen gewandelt. Die Industrie hat erkannt, dass sie dieBiotechnologie den Verbrauchern nicht aufzwingen kann.Den Gegnern der neuen Technologie ist andererseits klargeworden, dass auch ein Verbot und damit die Ablehnungeiner solchen Technologie einer belastbaren und nach-weisbaren Begründung bedarf. Die Tatsache, dass dieamerikanischen Farmer die Entscheidung für oder gegenden Anbau genetisch veränderter Getreidesorten von derAkzeptanz ihrer Produkte auf dem Weltmarkt abhängigmachen – sie wollen ihre Produkte verkaufen; das istnachvollziehbar –, hat für eine Sensibilisierung deramerikanischen Agrarindustrie gesorgt. Ich glaube, dassind gemeinsame Erfahrungen, die wir, mehrere Abge-ordnete, im Herbst des vergangenen Jahres gemachthaben, als wir uns bei einem USA-Aufenthalt mit dieserThematik befasst haben.Diese veränderten Einstellungen können die Grundlageeines konstruktiven Dialogs zwischen den Beteiligtenwerden. Befürworter wie Gegner der grünen Gentech-nologie haben jeweils im Einzelfall gute Argumente fürihre Positionen. Je nach Art und Richtung des Technolo-gieeinsatzes können erwünschte und unerwünschte Folgenauftreten. Die Vorteile zu maximieren und die Nachteile zuminimieren, das ist die Aufgabe der Forschung, der Poli-tik des Bundestages und natürlich der Gesellschaft.Schwarzweißmalerei, wie sie bis vor einigen Jahren nochhier bei uns vorkam, ist völlig fehl am Platze. Benötigtwird ein konstruktiver Dialog zwischen Wissenschaft,Wirtschaft, Nichtregierungsorganisationen und Politik mitder Bereitschaft zu Zugeständnissen bei allen Beteiligten.Dass Risiken nicht gänzlich auszuschließen sind, liegtauf der Hand. Von Pflanze zu Pflanze, von Anwendung zuAnwendung können sich die angeführten Risikendurchaus unterschiedlich darstellen. Über die meisten ver-muteten Risiken liegen zurzeit noch keine gesichertenErkenntnisse vor. Es wird der Bereich der Allergien ange-sprochen. Deshalb ist es richtig, dass die EU sagt, dass im-mer auf Allergenität getestet werden muss. „Anti-biotikaresistenzen“ ist ein Reizwort. Aber es muss gefragtwerden, ob nicht auch in anderen Bereichen Antibiotika zustark eingesetzt werden und ob das Problem tatsächlich indiesem Bereich liegt.Wir müssen die Möglichkeit sehen, dass gentechnischveränderte Pflanzen andere Lebewesen in der Natur beein-trächtigen. Die Diskussion über den Schmetterling„Monarch“, der – so sagt eine Studie – geschädigt wor-den ist, ist uns allen bestens bekannt. Aber es muss unter-sucht werden, ob diese Studie belastbar ist und ob dieProbleme, die dieser Schmetterling beim Überleben ineinem Freilandfeld hat, auf diesen Mais zurückzuführensind oder ob andere biologische Rahmendaten zu diesemProblem geführt haben. Ich sage das mit aller Vorsicht,weil das Problem bekannt ist. Wir müssen dieser Pro-blematik nachgehen.Bei all diesen Problemen im mehr biologisch-umwelt-politischen Bereich muss ein Gesichtspunkt ganz deutlichangesprochen werden: das Leitbild des selbstverant-wortlichen Verbrauchers. Der Verbraucher muss in dieLage versetzt werden, eine Einzelfallentscheidung treffenzu können. Das heißt, es muss eine saubere Kennzeich-nung verlangt werden. Jeder von uns, der sich mit demThema befasst, weiß, dass die Kennzeichnung im 1-Prozent-Bereich problematisch sein kann. Die Frage ist al-so, ab wann und in welcher Größenordnung muss etwasvorliegen, damit auch gekennzeichnet werden muss. Der
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Dr. Peter Paziorek9146
Grundsatz muss aber klar sein. Wir haben das Leitbild desselbstverantwortlichen Verbrauchers. Der Verbrauchermuss alle Informationen bekommen, um eine selbstver-antwortliche Entscheidung treffen zu können. All dieÜberlegungen, die es einmal in ausländischen Indus-triezweigen gab – es gibt kein gesundheitliches Problem,der Verbraucher braucht keine Entscheidung zu treffenund deshalb brauchen wir das nicht zu kennzeichnen –,halten wir für falsch. Die Kennzeichnungspflicht bedeutetgrößtmögliche Transparenz, deshalb sprechen wir unsauch für eine solche Politik aus.Wir brauchen natürlich die Freisetzung, also den Frei-landversuch.Damit korrespondierend brauchen wir auchdie kritische Begleitung von Freisetzungen, das ist ganzklar. Aber ich warne davor, hier mit verhärteten Fronten,wie wir sie in der Umweltpolitik zum Beispiel in SachenGorleben haben, zu diskutieren. Man weiß heute schon,obwohl die Versuche noch gar nicht zuende sind, dass derSalzstock in Gorleben nicht geeignet ist – so sagt es eineRichtung. Wir sind aber der Ansicht, die Versuche sindnoch gar nicht zuende gefahren. Genau den Fehler darfman hier nicht machen.
– Ja, Herr Hirche. Da haben Sie Recht.Es kann aber auch nicht angehen, dass man – weil zumBeispiel ein Institut Bedenken in einem Gutachtengeäußert hat – sagt: Die ganze Entwicklung in diesemBereich kann nicht stattfinden und wir verzichten aufFreilandversuche. Die Konsequenz muss sein, dass geradediese Freilandversuche sehr sauber und mit einem stren-gen Monitoring begleitet werden. Man muss aber auch denMut haben zu sagen, wir probieren es aus, weil wir nichtwissen, ob die Risiken tatsächlich vorhanden sind. Wirmachen die Freilandversuche ja gerade deshalb, umErgebnisse für eine Risikobeurteilung zu bekommen.Deshalb halte ich es manchmal für bedenklich, so einfachvon vornherein Freilandversuche zu bekämpfen.Das bedeutet also, das Biosicherheits-Protokoll stellteine hervorragende Grundlage zur Weiterentwicklungdieses technologischen Bereichs dar. Es wird aber daraufankommen, ob wir in der praktischen Umsetzung tatsäch-lich all die Chancen nutzen, die gegeben sind. Wenn wireinerseits international ein solches Protokoll loben und inder praktischen Umsetzung hier in Deutschland anderer-seits Barrikaden, Barrieren und Hindernisse aufbauen,dann ist das hohle Rhetorik. Ich sage deshalb noch einmal,wir hatten die Vermutung, dass es hier zu einer Doppel-strategie kommt: Die Regierung lobt die internationalenAktivitäten und vor der schleswig-holsteinischen Land-tagswahl wird die Freisetzung von BT-Mais hier inDeutschland gestoppt, nur um vielleicht eine parteipo-litische Klientel zufrieden zu stellen.Es gibt Informationen darüber, Frau Ministerin, dasssich seit dem letzten Wochenende ihre Stopp-Politik etwasaufgeweicht hat und dass in Sachen BT-Mais eine neueSituation eingetreten ist. Es wäre interessant, gleich zuhören, ob tatsächlich eine neue Situation eingetreten istund ob Sie Ihre Reserviertheit vom Februar dieses Jahresaufgegeben haben. Die interessierte Öffentlichkeit wirdsehr gespannt darauf sein, diese Informationen zu erhalten.Ich bin auch der Ansicht – das ist auch die Forderungder CDU/CSU-Bundestagsfraktion –, dass die Europä-ische Union von einem überzogenen Moratorium bei derZulassung von gentechnisch veränderten Organismen Ab-stand nehmen sollte. Aus politischen Gründen ist geradeein breites Zulassungsverfahren auf der europäischenEbene gestoppt worden. Die fachlichen Zweifel, die dasind, rechtfertigen nicht den derzeitigen Zustand, dentotalen Stopp bei Freisetzungsverfahren auf europäischerEbene. Hier muss einiges geschehen, damit wir auch wis-senschaftlich im Vergleich mit den Konkurrenten in Japanund Nordamerika nicht verlieren.Hier bleibt die Bundesregierung aufgefordert zu han-deln, um nicht ein Stück deutscher Zukunft zu verspielen.Die CDU/CSU-Fraktion plädiert für eine ideologiefreie,aber kritisch begleitete Förderung der Bio- und Gentech-nik. Das Biosicherheits-Protokoll muss als Chance für dieSchaffung wirksamer Rahmenbedingung zur Erforschungund Entwicklung der Gentechnologie genutzt werden.Eine verantwortliche Technologiepolitik aus der Sicht derCDU/CSU muss daher für folgende Punkte eintreten:erstens für die umfassende Aufklärung der Bevölkerungund der Verbraucher, zweitens für eine strenge Kenn-zeichnung der gentechnisch veränderten Lebensmittel,drittens für eine umfassende Prüfung von Freisetzung undderen kritische Begleitung, viertens für eine Aufhebungdes bestehenden De-facto-Moratoriums der EU, fünftensfür die Schaffung von Investitionssicherheit bei Verfahren,die nur befristet zugelassen sind und sechstens sollte manden Mut haben zu prüfen, ob nicht in Teilbereichenverkürzte und vereinfachte Verfahren eingeführt werdenkönnen.Zusammenfassend möchte ich für meine Fraktion er-klären: Die Bio- und Gentechnik ist eine der wichtigstenZukunftsentwicklungen. Sie eröffnet zahlreiche Chancen,das Leben menschenwürdiger zu gestalten, aber ins-besondere auch Ansätze im Bereich Gesundheit,Ernährung und Umweltschutz. Wer diese Technikpauschal ablehnt, verweigert sich der Verpflichtung,Krankheiten zu lindern, Hunger zu bekämpfen undUmweltzerstörung entgegenzuwirken.Weltweit leiden 800 Millionen Menschen an Mangel-ernährung, und jedes Jahr sterben 7 Millionen Kinder denHungertod. Hier kann die Biotechnologie wesentlichhelfen. Diese Chance gilt es zu nutzen. Hier gilt es für alleFraktionen, eine gemeinsame positive Position zu for-mulieren und sie in Deutschland auch umzusetzen.Vielen Dank.
Zu einer Kurz-intervention erhält die Abgeordnete Andrea Fischer dasWort.Andrea Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Herr Kollege, weil Sie gerade diese Frage aufge-
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worfen haben, würde ich gern klarstellen: Das Verbot derInverkehrbringung von BT-Mais bezog sich auf eine un-begrenzte Inverkehrbringung. Die Mengen wären über-haupt nicht mehr kontrollierbar gewesen – dafür gibt esin der Tat viele Indizien –, sodass es außerordentlich ge-fährlich wäre. Sie haben selber auf die diversen kritischenStudien verwiesen.Der Änderungsbescheid, auf den Sie, wenn ich Sierichtig verstanden habe, vorhin angespielt haben,
erfolgte zu Zwecken der Sicherheitsforschung. Man kanndas auch anders nennen. Es geht genau um die Frage:Welche Wirkungen gehen davon aus, dass wir für 12 Ton-nen BT-Mais eine Genehmigung zur Inverkehrbringunggegeben haben? Da diese Menge so gering ist, können wirdavon ausgehen, dass die befürchteten Sicherheitsrisiken,die damals zum Verbot geführt haben, nicht eintreten wer-den. Gerade angesichts der Tatsache, dass seit Jahren zwarvon der Industrie gesagt wurde, sie unterstütze uns bei derForderung nach Sicherheitsforschung, sie dann de factoaber wenig gemacht hat, ist es richtig, dass jetzt nicht wirdiejenigen sind, die sagen, die Sicherheitsforschung sollenicht stattfinden. Wir wollen sie, um die Debatte über dieRisiken der Gentechnik auf eine solidere Grundlage zustellen.Vor diesem Hintergrund haben wir uns nach längerenVerhandlungen – auch mit dem Hersteller – für diesen Än-derungsbescheid entschieden. Ich glaube, dass das auchdem gerecht wird, was ich vorhin sagte. Wir müssen dieRisiken kennen, wir brauchen mehr wissenschaftlicheGrundlagen für die Beurteilung dieser Risiken. Das ist derSinn dieser Änderungsmitteilung.
Herr Paziorek,
bitte.
Frau Ministerin, Ih-
re Entscheidung, die Sie jetzt gerade genannt haben, ist zu
begrüßen. Ich glaube, dass sie ein Schritt in die richtige
Richtung ist. Ich will jetzt auch nicht nachkarten, wenn ich
sage: Ich persönlich hätte mir sehr gewünscht, dass Sie ei-
ne solche Entscheidung sofort im Januar oder Februar ge-
troffen hätten, ohne diesen großen propagandistischen
Auftritt. Ich hätte mir gewünscht, dass in Deutschland sol-
che Entwicklungen nicht zunächst gestoppt werden und es
dann nach einer Landtagswahl in die richtige Richtung
weitergeht. Das soll kein Nachkarten sein, nur noch ein
Hinweis auf eine gewisse zeitliche Abfolge. Von der Sa-
che her ist das sicherlich ein Schritt in die richtige Rich-
tung. Ich hoffe, dass Sie so weitermachen
und dass Sie tatsächlich auch den Mut haben, in diesen
Fragen den Anschluss an die internationale Entwicklung
nicht zu verlieren. Ich wäre froh, wenn diese Erkenntnis
auch in Ihrem Regierungslager immer stärker Platz greifen
würde.
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Marga Elser.
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Paziorek, herz-lichen Glückwunsch zu Ihrer Sprecherrolle. Aber denkenSie doch bitte über die Zeitschiene noch einmal nach.
Nach der Enttäuschung von Cartagena im Februar 1999haben wir nun einen guten Grund zur Freude. Nach tage-und nächtelangen Verhandlungen haben sich 133 Staatenin Montreal auf den Text zu einem Bio-Safety-Protocolgeeinigt.Die Verabschiedung des Protokolls geht nicht zuletztauf die geschickte Verhandlungsführung des kolumbi-anischen Umweltministers zurück – aber auch die Einig-keit der anwesenden EU-Minister ist hier zu nennen.Wir bedanken uns ausdrücklich bei der deutschenDelegation, angeführt von unserer Gesundheitsministerin,Andrea Fischer, aber ebenso bei den NGOs und allen, diedurch jahrelanges Bemühen und Aufklärungsarbeit zumZustandekommen dieses Protokolls beigetragen haben.
Der positive Ausgang ist eine Kompromisslösung, weilnatürlich jede Seite gern ihre eigenen Wünsche undVorstellungen untergebracht hätte. Dennoch haben sichRegierungsvertreter, Umweltschutzverbände und Indus-trieverbände ebenso wie UNEP-Direktor Töpfer zufriedengeäußert.Wir leben in einer Zeit, in der sich viele Menschen umdie Zukunft der biologischen Vielfalt sorgen. Vielemachen sich Sorgen um die Auswirkungen der Gentech-nik. Die ungeheure Geschwindigkeit, mit der sie sich seitden 70er-Jahren entwickelt hat, hat nicht nur Blüten-träume – manchmal kann man sich fragen, ob das viel-leicht auch Albträume sein können – von optimiertenMenschen aus der Retorte und vom Sattwerden der Weltdurch „grüne Gentechnik“ reifen lassen. Nein, sie machtden Menschen auch Angst, Angst um ihre Gesundheit,weil man eben nicht weiß, inwieweit Nahrungsmittel ausgentechnischer Produktion Allergien hervorrufen können.Ebenso gibt es ernst zu nehmende Warnungen vor derAusbreitung von Antibiotikaresistenzgenen. Bei trans-genen Pflanzen könnten Antibiotika, die in der Human-und Tiermedizin verwendet werden, ihre Wirkung ver-lieren. Beispielsweise gibt es – das haben sich nicht ir-gendwelche altmodischen Gentechnikgegner ausgedacht,sondern das steht im Umweltgutachten 1998 des Sachver-ständigenrates – Resistenzgene in transgenen Pflanzengegen das Antibiotikum Kanamycin, das in der Augen-heilkunde eine wichtige Rolle spielt. Ebenso bewirkt dasAmpicillinresistenzgen neben der Resistenz gegen Ampi-cillin auch eine Resistenz gegen andere Penicillinderivate.Bei der Entwicklung von gentechnisch erzeugtenVirusresistenzen werden inzwischen eine Reihe von
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Andrea Fischer
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Risikofaktoren für unerwünschte Konsequenzen disku-tiert. Sicher, Laien schätzen Risikofaktoren anders ein alsExperten. Dennoch hat beispielsweise die Reaktion derVerbraucher auf die „Butterfinger“ ein hohes Ver-braucherbewusstsein gezeigt. Dies gilt ebenso mit Blickauf die massiven Absatzschwierigkeiten der amerikani-schen Farmer im vergangenen Jahr hinsichtlich ihrer –sehr teuer erzeugten – gesamten Jahresernte Genmais.Wir müssen auch die Sorgen der Entwicklungsländerernst nehmen. Sie haben die Furcht, von einigen wenigenLieferanten für Saatgut abhängig zu werden, das sich dieKleinbauern dort dann gar nicht mehr leisten könnten.Hier haben die Hochtechnologieländer eine sehr großeVerantwortung den armen Ländern gegenüber.
Im Weltagrarhandel besteht die Gefahr, dass sich dieWettbewerbssituation durch die Gentechnik zuungunstender Entwicklungsländer verschiebt. Wenn gentechnolo-gische Fortschritte die landwirtschaftliche Produktivitätstark steigen lassen, darf den Ländern des Südens dieTechnologie nicht aus Kostengründen verschlossenbleiben.Die Unterzeichnung des Biosicherheits-Protokolls istdeshalb ein wichtiger Schritt in Richtung internationalerVerbraucherschutz, Gesundheitsschutz und Schutz unser-er natürlichen Ressourcen, eben ein Schritt zur Biosicher-heit. Erstmals wird das Vorsorgeprinzip als Leitgedankefür den Handel mit gentechnisch veränderten Organismenverankert.Eine Gefahr, dass wichtige Entwicklungen in der Hu-manmedizin behindert werden, besteht nicht. Human-arzneimittel sind vom Anwendungsbereich des Biosafety-Protokolls grundsätzlich ausgenommen.Vor dem erstmaligen Verbringen eines gentechnischveränderten Organismus in ein anderes Land wird es einGenehmigungsverfahren geben. Dabei geht es vor allemdarum, durch die Etablierung von Verfahren sicher-zustellen, dass der Schutz der biologischen Vielfalt, aberauch und vor allem der Schutz der menschlichen Gesund-heit gewährleistet ist.Für Lebensmittel und Futtermittel ist die Weiterverar-beitung von gentechnisch veränderten Organismen klargeregelt. Es gibt eine Kennzeichnungspflicht, die aller-dings durch ein „may contain“ – also „kann beinhalten“ –verwässert worden ist. Die Vertragsstaatenkonferenzmuss deshalb innerhalb von zwei Jahren nach In-Kraft-Treten detaillierte Anforderungen festlegen.Unsere Aufgabe wird es nun sein, zusammen mit derBundesregierung eine verbraucherfreundliche und ein-deutige Kennzeichnung im Rahmen der Ausführungsvor-schriften zu formulieren. Wir brauchen weltweit die Ein-richtung von Institutionen, Kontrollinstrumenten und In-formationsstrukturen. Wir werben dafür und unterstützendie Bundesregierung in ihrem Bestreben, möglichst vieleStaaten für die Zeichnung des Protokolls zu gewinnen.
Ebenso begrüßen wir das Angebot, zur Unterstützung derEntwicklungsländer eine Liste von Fachleuten zu erstel-len.Ich bitte Sie, unserem Entschließungsantrag, der un-sere Forderungen zusammenfasst, zuzustimmen.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ulrike Flach.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Frau Fischer, Sie haben zu Recht angeführt:Die F.D.P. steht zur Gentechnik als Schlüsseltechnologiedieses Jahrtausends – und zwar ohne Wahlkampfgeplän-kel –, unter Abwägung der Risiken, aber selbstverständ-lich auch mit Blick auf die Chancen dieser Technologie.Wir reden heute erst um 17 Uhr im Detail über diesesThema; insofern möchte ich mich auf das beschränken,was hier jetzt ansteht, auf das Protokoll über die biologi-sche Sicherheit. Dieses soll durch Kontrolle undKennzeichnungsvorschriften beim grenzüberschreiten-den Handel gentechnisch veränderter Organismen da-zu beitragen, die biologische Vielfalt zu schützen. Wennein Staat oder ein Unternehmen zukünftig gentechnischveränderte Organismen in ein anderes Land exportierenwill, muss das Zielland über den beabsichtigten Transportinformiert und die Zustimmung beantragt werden.Für Organismen, die direkt zur Weiterverarbeitung,zum Beispiel in der Lebensmittelproduktion vorgesehensind, gelten vereinfachte Vorschriften. Die F.D.P. findetdas selbstverständlich gut. Aber Ihre Begeisterung, FrauFischer, die Sie eben erneut geäußert haben, können wirnicht teilen. Sie haben die Verabschiedung des Biosafety-Protokolls offiziell zu einem „wichtigen umweltpoliti-schen und umweltrechtlichen Schritt“ erklärt und es als ein„global gültiges, rechtsverbindliches Instrument zum si-cheren Umgang mit dieser wichtigen neuen Technologie“bezeichnet. Das sehen wir schon deutlich kritischer.Sie mussten nach dem Misserfolg von Cartagena inMontreal ein greifbares Ergebnis hervorbringen. Da kamnun die eben von Frau Elser schon erwähnte Kompro-misslösung zur Kennzeichnung zustande. In den Begleit-dokumenten werden wir zukünftig den Begriff „may con-tain“ lesen können. Das heißt: Die Ware – das kann sichjeder vorstellen, der täglich einkauft – könnte gentech-nisch veränderte Organismen enthalten. Und da fangen dieProbleme doch an: Für den Verbraucher entsteht die Un-sicherheit, ob – und wenn ja, in welchem Anteil – zum Bei-spiel gentechnisch veränderter Mais oder Soja enthaltenist; denn die Begleitdokumente sind ja auch Grundlage füreine spätere Kennzeichnung des weiterverarbeiteten Pro-dukts im Geschäft. Das dient definitiv nicht der Transpa-renz.
Ab welchem Anteil soll eine Kennzeichnung ver-pflichtend sein: ab 1 Prozent, ab 0,1 Prozent oder ab der
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Nachweisgrenze? Eine Ausführungsbestimmung soll in-nerhalb von zwei Jahren nach In-Kraft-Treten des Proto-kolls nachgeliefert werden. Das Protokoll soll 90 Tagenach der 50. Ratifizierung in Kraft treten. Das heißt – fürdie, die sich damit nicht auskennen –: 50 Länder müssenunterzeichnen und 50 Parlamente müssen ratifizieren. Siewissen ebenso wie ich, wie lange das dauern kann, FrauFischer. Das heißt, wir werden jahrelang auf eine Präzi-sierung warten müssen. Die Bundesregierung sollte denMut haben, zu erklären, dass das Protokoll für den Ver-braucher sehr wichtige Fragen offen lässt.
Wir wollen den Verbrauchern eine klare Entscheidungfür oder gegen gentechnisch veränderte Produkte ermög-lichen. Ich füge hinzu: Wir sehen die Chancen der Gen-technik, gerade auch ihre guten Marktchancen.Ein weiterer Schwachpunkt, Frau Fischer, ist die un-klare Stellung des Biosafety-Protokolls gegenüber denWTO-Regeln. Die Bundesregierung betont in ihrer Stel-lungnahme die Gleichrangigkeit beider völkerrechtlicherAbkommen. Diese Gleichrangigkeit soll zum Beispieldurch eine Anlehnung an Formulierungen in der Präam-bel der PIC-Konvention über gefährliche Chemikalienund Pestizide sichergestellt werden. Aber auch hier blei-ben Fragen offen: Nach welchen Streitschlichtungsme-chanismen soll zum Beispiel entschieden werden, wennes zu Konflikten kommt? Trifft es zu, dass dem Wirt-schaftsministerium inzwischen ein Papier der EU-Kom-mission vorliegt, in dem die Widersprüche zwischen Bio-safety-Protokoll, WTO und EU-Recht thematisiert wer-den? Das geltende europäische Recht ist – das haben Sieeben angeführt – schärfer als das Biosafety-Protokoll.Was folgt daraus für unsere europäischen Standards? Hiermuss – um ein geflügeltes Wort der Regierung Schröderzu gebrauchen – wirklich nachgebessert werden.
Die Unterrichtung der Bundesregierung enthält denschönen Satz: „Allerdings steht die Bewährung der ge-fundenen Regelungen in der Praxis noch aus.“
– Sehr wahr, Herr Kollege Niebel. – Der Teufel steckt imDetail. Besondere Freude an der Detailarbeit haben wiraber bei der Regierung Schröder bisher nicht entdeckenkönnen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Angela Marquardt.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die Einigung auf den Text ei-nes Biosafety-Protokolls bei der Vertragsstaatenkonfe-renz in Montreal hat hierzulande eine Euphorie ausgelöst,die ich, Frau Fischer, nicht teilen kann, obwohl man zu-geben muss, dass die völkerrechtliche Verankerung desVorsorgeprinzips, der Genehmigungsverpflichtung beiImporten und die abgewendete Unterstellung des Proto-kolls unter die WTO-Bestimmungen natürlich Verhand-lungserfolge sind, die Anerkennung verdienen. Doch lan-ge Verhandlungen über Vertragstexte führen schnell zu ei-ner Überschätzung des eigenen Verhandlungserfolges.Schließlich war es Ziel der Verhandlungen, Regelungenfür die sichere Weitergabe und Handhabung von gen-technisch veränderten Organismen zu finden, die nach-haltige Auswirkungen auf die Erhaltung der biologischenVielfalt haben können.Ich frage mich, ob der gefundene Kompromiss in derPräambel, der die Gleichstellung des Protokolls mit demAbkommen der WTO sichern soll, angesichts massiverökonomischer Interessen lange tragen wird. Widersinnigist meines Erachtens auch der Ausschluss von Human-arzneimitteln aus der Geltung des Protokolls, wenn auf deranderen Seite gerade der Schutz der menschlichen Ge-sundheit gefordert wird. Die Entwicklungen im Bereichder Gentechnologie werden zudem für die Definition des-sen, was ein Arzneimittel ist, immer mehr Interpreta-tionsmöglichkeiten eröffnen. Da hätte man, so glaube ich,genauer sein sollen.Es ist darüber hinaus inakzeptabel, dass gentechnischveränderte Organismen für den Gebrauch im so ge-nannten geschlossenen System keiner Einfuhrgenehmi-gung unterliegen. Nehmen wir hier das deutsche Gen-technikgesetz als Maßstab, so bleibt der unkontrollierteAustritt von DNAmit nicht abschätzbaren Folgen in denunteren Sicherheitsstufen möglich. Dabei bin ich nochnicht einmal davon überzeugt, dass der Begriff „containeduse“ tatsächlich nur die Verwendung im „geschlossenenSystem“ bezeichnet. Diese Bestimmung könnte auch aufexperimentelle Freisetzungen mit Barrieren ausgeweitetwerden.Dieses Biosicherheits-Protokoll ist nicht nur ein Re-gelwerk für den Schutz und für den Erhalt der biologi-schen Vielfalt, sondern auch ein Regelwerk für den welt-weiten Umgang mit den Entwicklungen der Gentech-nologie. Das Protokoll ignoriert dabei sozioökonomischeKriterien für den Handel mit gentechnisch verändertenOrganismen als tatsächliche Grundlage der Risikobewer-tung. Dabei ist gerade die wirtschaftliche und technolo-gische Macht monopolisierter Unternehmen der „grünenGentechnologie“ eine der größten Gefahren für die bio-logische Vielfalt. Gerade für diese sind kleinräumige, de-zentrale, tendenziell arbeitsintensivere Strukturen wichtigund keineswegs ausschließlich die Weltmarktorientie-rung.
Zur Stützung dieser Strukturen sind noch ganz andereEntscheidungen notwendig – zum Beispiel das Verbot derBiopiraterie und der Patentierung von Genen.Der politische Druck von Umwelt- und Entwicklungs-gruppen und der Unwille vieler, die Kreationen der Gen-technikindustrie anzubauen und zu essen, haben zu denkleinen Erfolgen in den internationalen Verhandlungenzum Biosafety-Protokoll geführt. Der Widerspruch bleibt
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Ulrike Flach9150
dennoch bestehen: Wenn es denn negative Auswirkungenauf die menschliche Gesundheit und auf die biologischeVielfalt durch Gentechnik gibt, dann werden diese durchEinfuhrgenehmigungen und Kennzeichnungen nicht ver-hindert, egal welchen Kennzeichnungsgrad man wählt.Fakt ist, dass es negative Auswirkungen geben kann.Die Position der Bundesregierung ist meines Erachtensinkonsequent: Denn will man den Vorsorgegedankenernst nehmen, muss man eine Freisetzung unterbinden, diemassive Förderung der „grünen Gentechnik“ beendenund Risikoforschung betreiben.
Andernfalls dienen Kennzeichnung und Risikoabschät-zung in erster Linie einer Akzeptanzschaffung für den un-ter massivem Druck stehenden Markt der „grünen Gen-technik“. Es sind die Verbraucherinnen und Verbraucherselber, die in diesem Fall dem Vorsorgegedanken in einerWeise Rechnung tragen, wie dies kein Protokoll und keinAbkommen leisten könnte. Auch wenn ich mit diesemStandpunkt alleine bin:
Der Boykott der „grünen Gentechnik“ ist nach wie vor diebeste Vorsorge.Danke.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Heino Wiese.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Durch die Beiträge vonFrau Marquardt und Frau Flach ist gerade wieder deutlichgeworden, dass man bei diesem Thema über Chancen undRisiken sprechen und beides berücksichtigen muss. Ichdenke, man muss sich eingestehen: Nachbessern ist immergut! Ich halte das nicht für schändlich, sondern für einBemühen um Qualität.
In der Tat, das ist ein Zeichen von Intelligenz und Lern-fähigkeit. Auch nach dem Abkommen zwischen vielenStaaten hat jeder Staat sicherlich noch einen Wunsch, dener gerne berücksichtigt hätte. Wir haben mit diesem Ab-kommen einen Erfolg erzielt, den wir vorher nicht erwar-tet hatten.
Durch den erfolgreichen Abschluss des Biosicherheits-Protokolls können Umwelt und Verbraucher nun umfas-send vor den möglichen Risiken des internationalen Han-dels mit gentechnisch veränderten Organismen geschütztwerden. Das Protokoll regelt den grenzüberschreitendenVerkehr im Hinblick auf den Schutz der biologischenVielfalt und unter Beachtung der möglichen Risiken fürMensch und Umwelt. Der Erfolg ist ein historischerSchritt auf dem Weg zu weltweit gültigen Sicherheitsbe-stimmungen.Deshalb möchte ich noch einmal ausdrücklich allen Be-teiligten danken: den Mitgliedern der EU-Verhandlungs-delegation und insbesondere den Vertretern der Bundes-regierung. Dank gebührt aber auch allen Nichtregie-rungsorganisationen und den Ehrenamtlichen für ihrlangjähriges Engagement beim Zustandekommen desBiosicherheits-Protokolls. Hervorheben möchte ich denEinsatz der kirchlichen Organisationen, des Verbandes„Die Naturfreunde“, des Naturschutzbundes Deutsch-land, des WWF, des Öko-Instituts Freiburg und der Ar-beitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft.Wegen seiner völkerrechtlichen Verbindlichkeit hatdas Protokoll nach seiner Ratifizierung eine Vorrangstel-lung gegenüber der Welthandelsorganisation, WTO. Da-mit erlaubt es der EU, eigene Gesetze, zum Beispiel dieverbindliche Kennzeichnung von Nahrungsmitteln ausgentechnisch veränderten Organismen, im Falle einerWTO-Klage der USAwirkungsvoll zu verteidigen.Durch den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungenist die Voraussetzung für sichere und klare Rahmenbe-dingungen im internationalen Handel geschaffen worden.Dies liegt gleichermaßen im Interesse der Verbraucher, derProduzenten, des Handels und des Schutzes der Umwelt.Lassen Sie mich deshalb zum Abschluss noch einmaldie wesentlichen Inhalte des Protokolls zusammenfassen:Erstens. Es wird sichergestellt, dass der im Protokoll ver-wirklichte Gesundheits- und Umweltschutz nicht Han-delsgesichtspunkten untergeordnet wird.Zweitens. Der Vorsorgegrundsatz wird als Leitge-danke auch für die auf der Grundlage des Protokolls zutreffende Einzelfallentscheidung fest verankert.Drittens. Grundsätzlich dürfen gentechnisch veränder-te Organismen nur dann von einem Land in ein anderesverbracht werden, wenn das Importland – auf der Grund-lage umfassender Informationen über den Organismus –seine Zustimmung dazu gegeben hat. Das gilt grundsätz-lich auch für landwirtschaftliche Massengüter, die nichtdazu bestimmt sind, in die Umwelt freigesetzt zu werden,sondern zum Beispiel als Futtermittel verwendet oderweiter verarbeitet werden sollen.Zu diesem wichtigen Aspekt möchte ich noch ein Bei-spiel bringen: Die großen Agrarexporteure wollten einBiosafety-Protokoll, in dem nur der Handel mit Saatgut,nicht aber der Handel mit gentechnisch veränderten Roh-stoffen geregelt wird. Das hätte bedeutet, eine Tüte Saat-gut könnte kontrolliert werden, ein Frachter mit gentech-nisch verändertem Futtermais aber nicht.
– Ich sehe bei dir nach.Ein und dasselbe Maiskorn wäre, nur abhängig von sei-ner Deklaration als Saatgut oder als Futtermittel vomBiosafety-Protokoll einbezogen oder ausgeschlossen.Maiskörner, die als Futtermittel oder als Lebensmittel ein-geführt werden, könnten unabsichtlich oder beabsichtigtin den Boden geraten, heranwachsen und schließlich
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Angela Marquardt9151
manipuliertes Erbgut verbreiten. Innerhalb der EU ver-bieten wir den Import nicht zugelassener, gentechnischveränderter Sorten unabhängig davon, ob es sich um Saat-gut oder um Futtermittel handelt. Wären Futtermittelnicht in das Biosafety-Protokoll aufgenommen worden,könnte die entsprechende EU-Freisetzungsrichtlinie beider WTO als Handelshemmnis angezeigt werden. Ich hof-fe deshalb, dass die beteiligten Staaten schnellstmöglichdie Voraussetzungen für die Unterzeichnung des Abkom-mens schaffen und durch ihre baldige Unterschrift dasBiosicherheits-Protokoll in Kraft treten kann.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete René Röspel.
Einen wunderschönen gutenTag, Frau Präsidentin! Schönen guten Tag, meine sehr ver-ehrten Damen und Herren! Ich freue mich, dass wir heu-te eine relativ harmonische, gute und fundierte Debatte zudiesem Thema geführt haben. Das verdient es sicherlich.Ich freue mich auch, dass wir Einigkeit über die Bewer-tung des Verhandlungsergebnisses erzielen können, dasFrau Fischer präsentiert hat. Ich freue mich besonders,dass wir eine gemeinsame Auffassung gefunden haben,was den Regelungsbereich des Biosicherheits-Protokollsangeht, nämlich den grenzüberschreitenden Handel mitgentechnisch veränderten Organismen, also Lebensmit-teln, Nahrungsmitteln und Futtermitteln.Ich will auf ein paar Beiträge eingehen. Frau Flach, eshätte Sie sicher gewundert, wenn ich mich jetzt nicht Ih-nen, die Sie die Probleme der Kennzeichnung angespro-chen haben, zugewandt hätte. Ich verweise hier auf dieMöglichkeit, im noch über die Novel-Food-Richtlinie inEuropa zu diskutieren, um in nächster Zeit im europäi-schen Bereich entsprechende Regelungen zu treffen.Sie haben, Frau Flach, auch auf das Nachbessern an-gesprochen. Hier muss ich sagen: Wenn man sich dieHistorie des Biosicherheits-Protokolls anschaut – derProzess begann nicht erst unter unserer Regierung, dannstellt man fest, dass unter der Regierung, die Sie mit-getragen haben, die Verhandlungen von über 130 Staatenvöllig ins Stocken geraten waren. Das lag nicht zuletztdaran, dass sich Deutschland in Europa mit einer Meinungisoliert hatte, die eher die Meinung der USA war, diemöglichst wenig Handelshemmnisse und Beschränkungenwollen. Erst mit dem Wechsel zur rot-grünen Regierunghat sich dies geändert. Wir sind auf eine europäische Li-nie eingeschwenkt. Infolge der nachgiebigen Verhand-lungen in Cartagena und Montreal ist es zu diesem Erfolg,über den wir uns heute einig sind, gekommen.
Ich habe mich sehr über den differenzierten Beitrag desHerrn Kollegen Paziorek gefreut. Ich gratuliere ihm zurWahl zum umweltpolitischen Sprecher seiner Fraktion.
Wir sollten weiterhin auf diesem Niveau diskutieren, auchwenn ich nicht alles teile, was Sie gesagt haben.Ich möchte der Sorge über die Entscheidung zumGenmaismissbrauch entgegentreten und eine Bemerkungzum Vorsorgeprinzipmachen. Wir haben darüber schoneinmal im Umweltausschuss diskutiert. Vorsorge heißt,man muss auch in die Zukunft schauen. Man muss be-werten, welche Probleme und Kritiken es gibt. Wir habenim Bereich des Genmaises, der selbsttätig ein Insektizidgegen einen bestimmten Schädling produziert, seit 1997eine Menge neuer wissenschaftlicher Entwicklungen, diedarauf hinweisen, dass nicht nur der Monarchfalter, son-dern auch Nützlinge wie Florfliegen geschädigt werden.Es gibt Hinweise, dass wir durch das ständige Produzie-ren des Giftes, das in den Blättern verbleibt, eine dauer-hafte Exposition des Schädlings mit dem Gift haben, so-dass wir Resistenzen zu erwarten haben. Das ist sicherlichein großer Nachteil.Wenn der Schädling Resistenzen entwickelt hat, führtdas dazu, dass dieses Gift im ökologischen Landbau, woes in etwas veränderter Form zugelassen ist und gezielteingesetzt wird, nicht mehr verwendet werden könnte.Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse und Hinweise hatFrau Fischer ebenso wie wir im Beschluss desUmweltausschusses ernst genommen, in dem wir festge-legt haben, dass man, bevor das nicht geklärt ist, mit demFreisetzen dieses Maises sehr sorgfältig und sehr be-hutsam umgehen muss.Wenn ein Automobilhändler Hinweise darauf be-kommt, dass irgendwelche Kabel brüchig werden können,kann er eine Rückrufaktion starten. Wenn er diese durch-führt, wird ihm sicherlich keine Technikfeindlichkeit vor-geworfen. Diese Rückrufaktion ist nämlich eine sinnvol-le Aktion. Ihm gelingt es in der Regel, alle Autos zurückzu bekommen. Bei der Freisetzung eines gentechnischveränderten Organismus oder einer Pflanze ist das nichtmehr gewährleistet. Man muss davon ausgehen, dass das,was einmal freigesetzt wurde, nicht mehr rückholbar ist.Deshalb macht das Vorsorgeprinzip Sinn. Ich denke, wirhaben damit eine vernünftige Entscheidung getroffen.
Zum Inhalt des Biosicherheits-Protokolls wurde letzt-lich alles gesagt. Es wurde auch schon sehr vielen gedankt.Trotzdem möchte ich stellvertretend für die vielen ehren-amtlich engagierten Einzelpersonen, die zum Gelingen derUnterzeichnung beigetragen haben, hier noch einmalHartmut Meyer und Christine von Weizsäcker nennen. Siesind sicherlich ein gutes Beispiel dafür, dass bür-gerschaftliches Engagement auch außerhalb politischerParteien wichtig ist und Erfolg hat. Ich kann die Bundes-regierung nur zu weiteren Schritten ermutigen und die Zu-ständigen auffordern: Sehen Sie zu, dass möglichst vieleStaaten in möglichst kurzer Zeit unterzeichnen! Dann ge-hen wir, wie ich glaube, einen guten Weg.Vielen Dank.
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Heino Wiese
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Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3071 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungs-
antrag auf Drucksache 14/3098 soll an die gleichen Aus-
schüsse, jedoch nicht an den Rechtssausschuss überwie-
sen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 sowie Zusatzpunkt 5
auf:
8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
Nooke, Dr. Michael Luther, Dr. Angela Merkel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Exportchancen im Ausland nutzen – Absatz-
förderung Ost intensivieren
– Drucksache 14/2911 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss fürAngelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags Dr. Mathias Schubert,
Christian Müller , Dr. Ditmar Staffelt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Stärkung von Absatz und Export der ostdeut-
schen Wirtschaft
– Drucksache 14/3094 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Interfraktionell ist für die Aussprache eine Stunde vor-
gesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be-
schlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Dr. Paul Krüger.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich be-grüße, dass wir hier heute zwei Anträge zum Thema „Ab-satzförderung Ost“ vorliegen haben. Der Antrag von derCDU/CSU-Fraktion ist schon einige Wochen alt. In die-ser Woche ist nun noch ein Antrag von der Koalition da-zu gekommen.
– Etwas spät, aber er ist inhaltlich Gott sei Dank ziemlichidentisch mit unserem Antrag; man könnte fast meinen, erwäre abgeschrieben worden.Ich finde es gut, dass wir in dieser Situation die Pro-bleme offensichtlich ähnlich beurteilen. Ich finde es auchgut, dass dadurch, dass wir einen ähnlichen Antrag ein-gebracht haben, in der Tat die Aussicht besteht, für dasangesprochene Problem eine Lösung zu finden und diesedann auch durchzusetzen.
Wenn wir uns die wirtschaftliche Entwicklung in denneuen Bundesländern anschauen, sehen wir, dass derenWachstumsrate in den letzten Jahren hinter der Wachs-tumsrate des Westens zurückgeblieben ist. Die Arbeitslo-sigkeit im Westen ist jüngst gegenüber dem Vorjahr ge-sunken, in den neuen Bundesländern ist sie leicht gestie-gen. Es gibt keinen Grund zur Entwarnung. Im Gegenteil:Der „Tagesspiegel“ titelt heute „Der Aufschwung geht amOsten vorbei“, die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt: „DerOsten geht beim Aufschwung leer aus“.Das Wachstum in Ostdeutschland bleibt – ich sagte esschon – deutlich hinter dem in Westdeutschland zurück.Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass der Struk-turwandel noch Jahre dauern wird. Das Wachstum ist – dasist besonders im Zusammenhang mit der Debatte, die wirheute führen, wichtig – nicht allein im ostdeutschen Bin-nenmarkt zu erzielen. Deshalb sind Wachstumsimpulseauf Außenmärkten zur Schaffung zusätzlicher Arbeits-plätze notwendig.Diese sind nur zu erwarten, wenn es uns gelingt,zunächst einmal Wachstum aus Intelligenz zu induzieren,das heißt, neue Produkte und Verfahren durch Innovationzu entwickeln. Dies sind die wichtigsten Voraussetzungenfür Entwicklung in Ostdeutschland. Aber gleichermaßenist es wichtig, durch überregionale, möglichst weltweitePräsenz der Firmen auf den Märkten – das heißt, die Aus-weitung der Aktivitäten auf Weltmärkten – eine Steigerungdes Absatzes zu erzielen.Im Übrigen ist diese weltweite Präsenz nicht nur zurAbsatzsteigerung erforderlich, sondern genauso aus demBlickwinkel wichtig, dass man eine Rückkopplung vonden Märkten auf die Produktentwicklung braucht.Die Innovationsprozesse in den neuen Bundesländern– das wissen wir alle – sind nach wie vor unzureichend.Wir müssen uns hier weiter darum kümmern. Aber das istnicht der Gegenstand der heutigen Debatte. Wir debattie-ren heute über die gegenwärtige Exportsituation. Wennwir uns diese vor Augen führen, stellen wir fest, dass sichdie anziehende Weltkonjunktur und der niedrige Außen-wert des Euro im Moment positiv auf die Exportchancenin Bezug auf deutsche Produkte insgesamt auswirken.Leider werden ostdeutsche Firmen an diesem Export-wachstum kaum teilhaben.
Die Absatzförderung Ost und die damit verbundenen Hil-fen sind zwar von den Unternehmen in den letzten Jahrensehr gut angenommen worden und die Exporte sind ge-stiegen. Es ist also ein Exportwachstum erzielt worden.Viele, auch mittelständische Unternehmen in den neuenLändern konnten beim Absatz ihrer Produkte in den Vor-jahren wesentliche Fortschritte erreichen. 1998 erhöhtesich die Ausfuhr gegenüber dem Vorjahr um insgesamtknapp 10 Prozent auf über 56 Milliarden DM.Gleichwohl ist der Anteil der neuen Länder am ge-samtdeutschen Außenhandelsumsatz mit zirka 6 Prozent
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enorm niedrig. Wenn man Berlin herausrechnet, haben wirganze 4 Prozent Exportanteil. Wenn wir das in Relationzum Bevölkerungsanteil setzen, der etwa 20 Prozent be-trägt, dann ist das nach wie vor bedenklich.Der Export aus den neuen Ländern wird vor allem vonwenigen größeren Firmen getragen. Viele kleine und mitt-lere Unternehmen weisen dagegen im Auslandsgeschäftgravierende Schwächen auf. Das liegt zum Teil an der feh-lenden Exportorientierung und Marktpräsenz dieser Fir-men. Zum Teil sind auch fehlende Marktkenntnisse dieUrsache. Es gibt Probleme bei der Vorfinanzierung vonAuslandsgeschäften und teilweise auch eine unzurei-chende Pflege von Firmenkontakten. All das erschwert ei-ne Steigerung des Exportes. Unternehmen aus den neuenLändern profitieren also insgesamt ganz wenig von die-sen aktuellen Exportentwicklungen.Die ostdeutsche Wirtschaft läuft gegenwärtig sogarGefahr, auf Dauer abgehängt zu werden. Besorgniserre-gend ist in diesem Zusammenhang, dass der Export derostdeutschen Flächenländer im letzten Jahr erstmaligzurückging, nämlich um 6,5 Prozent während er im glei-chen Zeitraum im Westen um 3,5 Prozent anstieg. EinFakt, der das besonders gravierend deutlich macht, ist,dass allein das Exportwachstum in Westdeutschland imletzten Jahr genau so hoch wie der Gesamtexport aller ost-deutschen Flächenländer zusammen war.Somit ist festzustellen, dass die Exportentwicklung alseine der wichtigsten Voraussetzungen für den wirtschaft-lichen Aufholprozess in Ostdeutschland unter der neuenBundesregierung nicht nur stagniert, sondern sogar rück-läufig ist. Negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarktsind vorprogrammiert und – ich sagte es bereits – einge-treten.Umso mehr haben wir die Frage zu beantworten, wasPolitik und Staat in diesem Zusammenhang leisten kön-nen. Der Staat kann und soll nicht die Arbeit der Wirtschaftleisten. Darüber müssen wir uns im Klaren sein. Aber an-gesichts der prekären Situation sind wir aufgefordert, da-rüber nachzudenken, wie wir durch die Gestaltung vonRahmenbedingungen, durch finanzielle Hilfen und An-reize, durch die Schaffung von Infrastrukturen und auchdurch geeignete Ausbildungsprogramme dieser fatalenEntwicklung entgegenwirken können.Der Bund darf deshalb nicht nachlassen, die neuenLänder im Rahmen seiner allgemeinen, gesamtdeutschenAbsatzfördermaßnahmen, beispielsweise bei der Aus-landsmesseförderung oder bei Hermes-Ausfuhrgewähr-leistungen und auch bei der Kooperationsförderung, wei-ter zu unterstützen.
Wir müssen endlich durchsetzen, dass in diesem Zu-sammenhang die vorgegebene Quotierung, etwa bei Her-mes-Bürgschaften, tatsächlich eingehalten wird und nichtnur ein Lippenbekenntnis bleibt, und dass die Bundesre-gierung tatsächlich überprüft, inwieweit hier die Mög-lichkeiten ausgenutzt werden.
Daneben bedarf auch das befristete Sonderprogramm„Förderung des Absatzes ostdeutscher Produkte“ imHaushalt des Bundesministers für Wirtschaft und Tech-nologie weiterer Aufmerksamkeit.Das relativ niedrige Niveau darf nicht beibehalten werden.Im Gegenteil: Wir müssen dieses Programm über das Jahr2000 hinaus verlängern und müssen es qualitativ auswei-ten.
Ich schlage sogar vor, dass wir es drastisch aufstocken.
Wir müssen uns klar machen, dass wir mit wenigenMillionen DM viele Milliarden DM Absatz induzierenkönnen. Damit können wir zum Erfolg der ostdeutschenWirtschaft und letztlich zum Wachstum des Arbeitsmarkt-es durch die Schaffung neuer Arbeitsplätze beitragen.Gleichzeitig gilt es, neue Schwerpunkte und Wege beider Absatzförderung zu prüfen und umzusetzen. Ich den-ke hier insbesondere an die Fortsetzung der Inlandsmes-seförderung – als Sprungbrett für internationale Märktehat sich dieses Instrument bewährt – und an den Ausbauvon Vertriebskooperationen vieler Firmen, die regional,branchen- und länderbezogen durchgeführt werden kön-nen. Ich denke weiterhin an den verstärkten Einsatz derMittel für Vermarktungsprojekte im Ausland hinsichtlichausgewählter Auslandsmärkte und an die Projektzertifi-zierungen, die wir gelegentlich als Eintrittskarte in denMarkt bezeichnet haben. Ferner denke ich an eine ver-stärkte Einbindung der Auslandskammern in eine Koor-dinierung von Absatzaktivitäten. Wir müssen über dieFörderung der Erstellung von Katalogen und Werbema-terialien, die vielen jungen Firmen nicht ganz leicht fällt,bis hin zur Förderung von Sprachübersetzungen nach-denken.Besondere Bedeutung wird in diesem Zusammen-hang den neuen Medien zukommen. Das „business-to-business“ im elektronischen Geschäftsverkehr nimmtrasant zu. Das können wir an der aktuellen Entwicklungim Multimediabereich erkennen. Die Nutzung der neuenInformations- und Kommunikationstechniken zur Prä-sentation, zur Kommunikation und zur Vertragsabwick-lung – auch im Ausland – wird langfristig über den Ge-schäftserfolg vieler Unternehmen entscheiden. Der Ein-satz dieser neuen Medien muss besonders gefördertwerden. Hier fordere ich die Bundesregierung auf, tat-sächlich neue Akzente zu setzen.Wir brauchen jedoch auch eine inhaltliche Öffnungvon den klassischen industriellen Produkten hin zu im-materiellen Produkten, die in immer stärkerem Maße dieEntwicklung in Ostdeutschland beeinflussen werden. MitBlick auf den Wandel in eine Medien- und Dienstleis-tungsgesellschaft ist es notwendig, Impulse für Generie-rung und Handel mit immateriellen Gütern zu geben.Hierbei geht es um Projektierungsleistungen, aber auchum Ingenieurdienstleistungen genauso wie um Erfindun-gen und Software, also all das, was wir unter dem Ober-begriff Engineering subsumieren können.Die Vielfalt der hier vorgeschlagenen Instrumente undMaßnahmen macht bereits deutlich, dass es keine einfa-che Lösung des Problems gibt. Die Erschließung neuer
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internationaler Märkte ist von vielfältigen Bedingungenabhängig. Wichtigste Voraussetzung ist zunächst die Ent-wicklung wettbewerbsfähiger, innovativer Produkte bzw.Dienstleistungen.Auch darf nicht verkannt werden, dass für die Markt-einführung neuer Produkte in der Regel beträchtlicheAufwendungen notwendig sind, die häufig nur überFremdkapital finanzierbar sein werden. Wenn wir uns vorAugen führen, dass die Relation der Kostenanteile von derIdee über die Entwicklung bis hin zur Markteinführungeins 1 : 10 : 100 : beträgt, wobei von diesen 100 Anteilenheute mehr als 50 Prozent für Marketing, Service und Ver-triebsnetze eingesetzt werden, dann können wir ahnen,welche Dimensionen hier erforderlich sind. Das kann derStaat meiner Meinung nach nicht leisten. Wegen dieser ge-waltigen Summen, die notwendig sind, sind dem staat-lichen Handeln enge Grenzen gesetzt.Gleichwohl dürfen wir nichts unversucht lassen, umneue Ansätze für die Exportsteigerung zu finden. Wirsollten deshalb im Rahmen der parlamentarischen Bera-tung konstruktiv nach solchen Lösungen suchen. Dazuwill ich Sie herzlich einladen. Es gibt gute Gründe für dieZusammenarbeit.Herzlichen Dank.
Ich erteile jetzt das
Wort der Kollegin Barbara Wittig, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Gestatten Sie mir zunächst – wie imAusschuss – eine kurze Vorbemerkung, bevor ich zumeigentlichen Thema komme.Herr Dr. Krüger, das Thema „Wer schreibt von wemab?“ bringt uns nicht sehr viel weiter. Ich möchte in die-sem Zusammenhang daran erinnern, dass wir ein Bünd-nis für Arbeit haben. Im Rahmen dieses Bündnisses gibtes sehr viele sehr fleißige Arbeitsgruppen.
– Da staunen Sie. –In einer dieser Arbeitsgruppen sind bereits im Juni 1999sehr konkrete Maßnahmen vorgelegt worden. Ich kommenachher noch einmal darauf zurück und ich vermute, dassauch meine Kollegen darauf eingehen werden.Nun aber zum Thema. Sie haben natürlich Recht: Derostdeutsche Export ist äußerst schwach auf der Brust. Ichmöchte nicht alle möglichen Zahlen hier vortragen, son-dern einen kurzen statistischen Vergleich vornehmen,denn diese Zahlen sprechen Bände. Statistisch gesehen,entfallen nämlich auf jeden Westdeutschen immerhin14 000 DM an Ausfuhren. Im Osten sind es dagegen nur2 500 DM pro Einwohner. Das ist in der Tat ein Missver-hältnis; Sie sind bereits ausführlich darauf eingegangen.Für diese leider immer noch gravierenden Unterschie-de zwischen Ost und West gibt es natürlich unterschied-liche Erklärungen. An dieser Stelle möchte ich folgendenennen: Zum einen hat sich in der ostdeutschen Wirt-schaft eine ganz andere Produktionsstruktur herausge-bildet, die sich deutlich von der westdeutschen unter-scheidet. Zum anderen sind die Staaten des ehemaligenOstblocks als Absatzmarkt zum Teil verloren gegangenbzw. sie nehmen nicht mehr die dominierende Stellungein, die sie zu DDR-Zeiten einmal hatten. Deshalb möch-te ich an dieser Stelle als erfreulich bemerken, dass sichseit einiger Zeit der Handel mit Polen und Tschechien wie-der ausgeweitet hat und dass das natürlich auch im Zugeder Osterweiterung von erheblicher Bedeutung ist.
– Da können Sie von der rechten Seite ruhig einmalklatschen, da Sie sonst eigentlich auch immer gerade fürdie Aufnahme von Polen und Tschechien in die Europä-ische Union eintreten. Aber das sind vielleicht nurLippenbekenntnisse.
Mit diesem kurzen Abriss möchte ich es bewenden las-sen. Wenn wir die Situation betrachten, heißt das, wirsind auf dem Wege. Aber wir brauchen natürlich noch Hil-fen und Unterstützung, auch und gerade zur Stärkung desAbsatzes und Exportes unserer ostdeutschen Produkteund unserer ostdeutschen Dienstleistungen.Deshalb war es, wie gesagt, nur logisch, dass sich dasBündnis für Arbeit in seiner Arbeitsgruppe für den Auf-bau Ost mit diesem Thema beschäftigt hat. Ich möchte hierauch noch einmal sagen, dass die Partner in diesem Bünd-nis – das ist ja nicht die Bundesregierung alleine – sehr ge-nau wissen, wo der Schuh drückt. Mehr noch: Es wurden,wie ich bereits sagte, Übereinkünfte getroffen. Insofernmuss ich, Herr Dr. Krüger, betonen: Über die Frage, wiewir darüber denken, können wir lange diskutieren. Wirhandeln lieber.
Ich möchte noch einmal erwähnen, dass es bereits eineVereinbarung zur Förderung des überregionalen Ab-satzes für die ostdeutschen Produkte gibt.
Wir werden das entsprechend durchsetzen. Unser Antraggeht auch darauf ein. Ich kann deshalb nicht ganz verste-hen, warum Sie mehrere Monate später, nämlich am14. März, einen Antrag gestellt haben, der sich mit diesemThema noch einmal ausführlich beschäftigt.
Alle Partner im Bündnis sind sich darin einig, dass dieFörderung des überregionalen Absatzes für ostdeutscheProdukte und auch ostdeutsche Dienstleistungen einwichtiger Beitrag ist für die Entwicklung unserer ost-deutschen Unternehmen und darüber hinaus auch dieSicherung von Arbeitsplätzen in den neuen Ländern er-möglichen wird.
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Es ist erfreulich zu registrieren, dass sich im ost-deutschen Exportgeschäft in der letzten Zeit ein zarterstatistischer Zuwachs abzeichnet. Es muss an dieserStelle aber auch gesagt werden: Für die kleinen Unter-nehmen ist der Zugang zu internationalen Märkten be-sonders schwierig. Deshalb müssen hier die Hilfen an-setzen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch zu er-wähnen, dass der zarte Zuwachs, von dem ich sprach, nurvon ganz wenigen Unternehmen getragen wird. Es mussbetont werden, dass dieser statistische Trend auf der einenSeite zwar erfreulich ist, dass er aber aus diesen Gründennur die halbe Wahrheit ist.Das muss sich ändern. Die speziellen Maßnahmen zurFortführung der Absatz- und Exportförderung in denneuen Ländern müssen fortgesetzt werden. Hier sehe ichsowohl den Bund als auch die Länder, aber auch die Wirt-schaft in der Pflicht. Ein gut abgestimmtes Vorgehen beiden Export- und Absatzhilfen und somit bei einer ver-lässlichen Außenwirtschaftsförderung halte ich deshalbfür unabdingbar. Unser Antrag zielt genau darauf ab.Ebenso werden die neuen Länder und die Wirtschaftaufgefordert, in ihren Anstrengungen hinsichtlich der För-derung des Exports und des Absatzes nicht nachzulassen.Was den Bund angeht, möchte ich hier mit aller Deutlich-keit sagen: Wir wollen die Verstetigung der Mittel desBundes. So können wir die Außenwirtschaft stärken undso leisten wir unseren Beitrag zur Entwicklung unsererostdeutschen Wirtschaft.Ich danke Ihnen.
Das Wort erhält jetzt
der Kollege Jürgen Türk, F.D.P.-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im CDU/CSU-Antragsteht leider nur die halbe Wahrheit. Die ostdeutschen Län-der – wenn man Berlin nicht einbezieht – kommen beiihren Ausfuhren nur auf 3,7 Prozent des Umsatzes des ge-samtdeutschen Außenhandels. Unter dem Strich kann dasnicht befriedigen, zumal Deutschland eigentlich Ex-portweltmeister ist, das heißt der Löwenanteil des Um-satzes durch den Export erzielt wird. Außerdem stagniertder innerdeutsche Handel. Es muss also wirklich etwaspassieren.Es ist unbedingt notwendig, dass Ostdeutschland mehrvom „Exportkuchen“ abbekommt. Da sind wir uns einig.Das ist natürlich nach wie vor schwierig, weil weiterhinDefizite bestehen. Es ist schon gesagt worden: Wir habenin Ostdeutschland nur wenige Großbetriebe mit einem ho-hen Exportanteil und schlagkräftigen Marketingabteilun-gen. Die kleinen und mittleren Unternehmen können sichdas nicht leisten.Was kann man gegen diese Nachteile tun? Ich denke,dass die kleinen und mittleren Unternehmen strategischeAllianzen eingehen müssen. Das ist ein hochtrabendesWort, aber nur so wird es funktionieren. Die Unternehmenmüssen sich zusammentun und international, alsogrenzüberschreitend, kooperieren. Dabei denke ich auchan die lange EU-Außengrenze.In Brandenburg zum Beispiel gibt es so genannteMarktzugangsinitiativen. Dabei werden – was meinerAnsicht nach richtig ist – die Entwicklung, die Produkti-on und die Vermarktung von den Unternehmen teilweisegemeinsam durchgeführt. Immerhin hat das zu einer Stei-gerung der Warenausfuhr von 5,9 Prozent in 1995 auf22,1 Prozent in 1998 geführt. Ich glaube, dass sich diesesErgebnis sehen lassen kann. Auch wenn wir, WalterHirche, nicht mehr dabei sind, muss man das fairness-halber sagen.Der Bund sollte solche Allianzen, also Zweckbündnis-se, fördern; denn hier ist ein hoher Wirkungsgrad zu er-warten.
Ein weiteres Defizit bei der Erschließung von Außen-märkten liegt in der Nutzung neuer Medien und desE-Commerce, wie man so schön sagt. Auch hier führe ichBrandenburg als Beispiel an: Nur 20 Prozent der kleinenund mittleren Betriebe sind jetzt am Netz. Das ist ein un-tragbarer Zustand, zumal wenn man bedenkt, dass derTrend eindeutig zur Warenbestellung über „www“ geht.Deshalb müssen alle Betriebe im Osten unbedingt ansNetz. Auch hier kann die Bundesregierung sinnvolle Un-terstützung geben.
Ganz wichtig beim Ausgleich noch immer vorhande-ner struktureller Nachteile ist die Unterstützung der tech-nischen Dienstleistungen und überhaupt der freien Beru-fe, weil diese eine Schlüsselfunktion haben werden undwerden haben werden müssen. Veranstaltungen wie der1. Europäische Ingenieurkammertag im Mai 1998 inDresden, das Pilotprojekt „Ingenieur-Dialog in Großbri-tannien und Irland“ 1998 oder ein erster Dialog inKanton, also in China, im April 1998 haben gute Ergeb-nisse gebracht. Dort waren übrigens auch ostdeutschePlanungsbüros vertreten; denn die Nachfrage nachPlanungsleistungen für Infrastrukturprojekte ist in denmittel- und osteuropäischen Staaten sowie in China undanderswo groß. In dem Bewusstsein, dass solche techni-schen Dienstleistungen die Nachfrage nach Bauleistungenund Investitionsgütern nach sich ziehen, sollten wir unse-ren Schwerpunkt wirklich darauf legen.Genau dort muss man ansetzen sollte beispielsweisedas Projekt einer privaten Initiative zur Markter-schließung für die deutsche Baustoffwirtschaft in Chinaressortübergreifend gesehen werden und es sollten mög-lichst viele deutsche Kooperationspartner mit ins Boot ge-holt werden.
Der Initiator und Koordinator dieser technischenDienstleistungen muss unterstützt werden. Das ist nochnicht so. Er bekommt keine Förderung. Er ist der Wich-
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tigste, der das Ganze anschiebt und koordiniert. Hier darfnicht gekleckert und an der falschen Stelle gespart wer-den, sondern hier muss geklotzt werden.
Herr Krüger hat ja die Relation der Kostenanteile ge-nannt: Sie beträgt 1 : 10 bzw. 1 : 100. Dem sollte man end-lich Rechnung tragen.Da die bisherigen Fördermaßnahmen nur begrenzt ge-griffen haben, müssen wir insgesamt darüber nachdenken,wo neue Förderschwerpunkte gesetzt werden müssen. Wosie aus meiner Sicht liegen sollten, habe ich dargelegt.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun der
Kollege Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen.
Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Krüger, das Bemühen der Union, in der perso-
nellen Erneuerung und möglicherweise auch in der Sach-
politik voranzukommen, ist allenthalben sichtbar. Insofern
habe ich Verständnis dafür, dass Sie in der Sachpolitik wie-
der Tritt fassen wollen.
Doch wenn man sich Ihren Antrag einmal genau an-
schaut, dann stellt man fest, dass Ihre so genannte neue
Sachpolitik keinen wirklich neuen Aspekt enthält und
dass Sie daher bei uns offene Türen eintreten.
Insofern ist es müßig, jetzt die beiden vorliegenden
Anträge zu vergleichen und festzustellen, welcher eher
vorlag. Entscheidend ist, welches der Originalantrag ist.
Ich habe weder Ihrer Rede und noch Ihrem Antrag ei-
nen neuen Aspekt, also Ansatzpunkte, die der Regierung
bisher verborgen geblieben wären, oder Dinge, die sie
nicht tut, entnommen. Ich habe von Ihrer Seite Zweifel da-
hin gehend gehört, ob die Regierung das in unserem An-
trag Geforderte wirklich tun will und tun wird. Ich habe
Skepsis gehört. Ich habe Aufstockungsvorschläge gehört.
Natürlich könnten die Förderungen ein bisschen um-
fangreicher und ein bisschen intensiver sein. Komischer-
weise fällt Ihnen das erst in der Opposition auf; darauf
muss man immer wieder einmal hinweisen.
In der Zeit, in der Sie am Ruder bzw. an der Schiffs-
schraube saßen, habe ich von Ihnen keine derartigen
Vorschläge gehört.
Mit denen, die Sie gemacht haben, sind Sie regelmäßig
gescheitert – falls Sie diese Zwischenfrage jetzt stellen
wollen.
Das kommt jetzt.
Herr Kollege, wollen Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Krüger zulassen? – Bitte sehr, Herr Kollege Krüger.
Herr Schulz, sindSie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich in meinemBeitrag deutlich gemacht habe, dass es bis 1998 eine enor-me Steigerung der Exportrate der ostdeutschen Wirtschaftgab – sie lag vor 1998 bei etwa 10 und 1998 präzise bei10 Prozent –, dass es im Jahre 1999 einen Rückgang um6,5 Prozent gab – die Quelle ist das Kölner Wirt-schaftsinstitut – und dass es deshalb besonders wichtig ist,jetzt, da Sie regieren, noch einmal darüber nachzudenken,was man über das hinaus, was man in den vergangenenJahren getan hat, unternehmen kann, um den Export in denneuen Bundesländern zu beflügeln?Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): In der Ansicht, dass die Exportförderung in der ÄraKohl nicht den Erwartungen entsprochen hat, die wir al-le hatten, stimme ich Ihnen sofort zu.
– Aber in gewisser Weise indirekt. Denn er hat gesagt –wenn ich Ihnen das einmal übersetzen darf –, dass wir –auf einem äußerst niedrigen Niveau – zweistellige Ex-portzuwachsraten hatten.
– Herr Kollege Hirche, wir müssten uns vielleicht einmalüber die Ursachen dafür unterhalten, warum der Exportüberhaupt so zusammengebrochen ist, warum wir in Ost-deutschland eine derart einzigartige, gespenstischeDeindustrialisierung hatten,
warum sich der Export nur auf wenige Großbetriebe,beispielsweise auf VW, Opel, Siemens usw., erstreckt undwarum wir die vielen kleinen und mittleren Betriebedamals im Regen haben stehen lassen.Ich stimme also sofort mit Ihnen darin überein, dass dieFörderungen in Ostdeutschland sowohl unter der Regie-rung Kohl als auch unter der jetzigen Regierung nicht aus-reichend waren.
Ich weiß nicht, was Sie von einer Regierung, die ersteineinhalb Jahre im Amt ist, erwarten. Als Wirtschafts-politiker, der Sie ja auch sind, muss ich Ihnen sagen: DasJahr 1999 hatte, weltwirtschaftlich gesehen, ein paarBesonderheiten aufzuweisen. Das ist offensichtlich anOstdeutschland nicht vorbeigegangen. Sie können der
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rot-grünen Regierung schlecht anlasten, dass es zu einerWeltwirtschaftskrise kam.
–Natürlich ist das erklärbar. Ich verweise beispielsweiseauf die Krise in Osteuropa, die sich durch den Wegbruchder Märkte verstärkt hat. Sie wissen, dass es in Asien Ein-brüche gegeben hat. Ich glaube nicht, dass es etwas mit derjetzigen Regierung zu tun hat, dass da etwas eingebrochenist.Dennoch müssen die positiven Aspekte herausgestelltwerden: Die Auftragslage ist optimistisch. Wir hoffen aufzweistellige Zuwachsraten. – Insofern hat die Bundesre-gierung diesen Einbruch abgefangen.Die Kollegin Wittig hat es deutlich gemacht – auchwenn Ihnen das nicht gefällt –: Das Bündnis für Arbeit,Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit hat im Juni letztenJahres eine Konzeption zur Absatzförderung für die ost-deutsche Wirtschaft beschlossen. Es mag ja sein, dass andieses Bündnis die übertriebene Erwartung geknüpftwird, das Problem der Arbeitslosigkeit könne sofort, qua-si im Hauruck-Verfahren, gelöst werden, und dass dievielen kleinen Schritte, die dort vereinbart wurden, um imEndeffekt zu helfen, dieses Problem zu lösen, von Ihnengar nicht gesehen werden. Hier hat sich die Bundesregie-rung mit der Wirtschaft darauf verständigt, den Absatz unddie Exportförderung auf ein neues Niveau zu bringen. ImGrunde genommen sind alle Akteure zusammengebrachtworden: Bund, Länder, Wirtschaft und Gewerkschaften.Ich finde, Sie hatten jede Chance, dieses Bündnis zustan-de zu bringen, aber Sie haben es nicht geschafft. Tut mirLeid, Sie haben die Chance verpasst.
Ich möchte auf einige Probleme, die ich für wichtigerhalte, und auf Ihren Antrag eingehen. Darin betonen Siedie Ausweitung der Förderung der Informations- undKommunikationstechnologie. Sie weisen zu Recht daraufhin, dass im Bereich E-Commerce und im „business tobusiness“ – Bereich Defizite bestehen, dass vor allen Din-gen die kleinen und mittleren Unternehmen hinterherhin-ken, weil sie diese Technologie nicht nutzen können. AnIhnen ist aber offensichtlich die Initiative D 21, die vondieser Bundesregierung ins Leben gerufen worden ist,völlig vorbeigegangen. Sie stellt den Aufbruch in das In-formationszeitalter dar. Ich frage Sie: Wie verträgt sich Ih-re Erkenntnis, dass dies so wichtig ist, denn mit dertöricht-dreisten Kampagne Ihres ehemaligen Zukunftsmi-nisters?
Das ist doch ein Widerspruch: Auf der einen Seite be-tonen Sie die Wichtigkeit dieser Förderung; auf der ande-ren Seite aber wollen Sie uns einreden, dass die GreenCard Arbeitsplätze blockieren oder vernichten werde. DasGegenteil ist der Fall: Wir brauchen ausgebildete Spezia-listen zumindest für eine Übergangszeit, weil wir dieseArbeitsplätze im Moment gar nicht besetzen können. Zu-dem stellt die Einstellung von Spezialisten auch für Ost-deutschland die beste Exportförderung dar.
Diese Aspekte tauchen im Memorandum zur InitiativeD 21 auf; aber darauf gehen Sie viel zu wenig ein. DieBundesregierung befindet sich mit ihren Anstrengungenauf dem richtigen Weg; denn wir wollen nicht, dass esdemnächst einen Know-how-Transfer bzw. grenzüber-schreitende Dienstleistungen von Ost nach West gibt. Wirbrauchen diese Experten hier, auch um die Basis für dieostdeutsche Wirtschaft zu verbessern.Ich will in diesem Zusammenhang auch auf die Messe-förderung zu sprechen kommen. Damit helfen wir denkleinen und mittelständischen Unternehmen bei derPräsentation ihrer Produkte im In- und Ausland. In diesemJahr wird es einen Absatzkongress geben. Das ist eine Ini-tiative, die den Betrieben, die die Präsentation ihrer Pro-dukte nicht aus eigener Kraft bewerkstelligen können, ent-gegenkommt. Sie dient beispielsweise dem Er-fahrungsaustausch und dem Aufbau entsprechenderAbsatz- und Lieferbeziehungen.Wenn wir über die Rahmenbedingungen sprechen,müssen wir natürlich auch über die großen Projekte derBundesregierung reden, zum Beispiel über das Zukunfts-programm 2000 und die Steuerreform.
Ein konsolidierter Haushalt ist die Rahmenbedingung, umdie entsprechenden Mittel bereitstellen zu können. Ichdenke zum Beispiel an das große Programm, das wir indiesem und im nächsten Jahr zu bewältigen haben; wirmüssen ein großes Paket schnüren. Ich bin sehr gespanntdarauf, wie sich die großen Bundesländer, auch die von derUnion regierten, verhalten werden, wenn wir darangehen,das Föderale Konsolidierungsprogramm neu aufzulegen.Das wird auf uns zukommen. Das wird die große, span-nende Aufgabe. Das ist das große Thema, wenn wir denAufbau Ost als eine komplexe Aufgabe betrachten undnicht in Scheibchen zerlegen.Mit dem – da stimme ich Ihnen zu – noch viel zuschmalen Segment der Absatzförderung und des Exportssind wir natürlich unzufrieden. Aber ich denke – HerrKollege Krüger, da können Sie uns schwerlich widerspre-chen –, wir sind da auf einem guten Weg.
Kritik ist zwar gefragt, aber sie muss wirklich konstruktivsein. Sie müssen mit Vorschlägen kommen, die wir auf-greifen können.
Ich sehe in Ihrem Antrag nichts Besonderes. Sie habennach dem Motto „Mal schauen, was die Regierung macht,es umformulieren und dann damit hausieren gehen“
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vorgetäuscht, etwas Eigenes auf den Weg gebracht zuhaben.
Jetzt hat der Kollege
Gerhard Jüttemann, PDS-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Den vorliegenden Antrag derCDU/CSU-Fraktion abzulehnen käme dem ökonomischsinnlosen Aufruf gleich, Exportchancen nicht zu nutzenund damit wirtschaftliche Möglichkeiten zu vergeben.Das ist die eine Seite.Die andere Seite ist, dass der Antrag allein nicht allzuviel wirtschaftlichen Aufschwung bewirken wird. Dennder mangelnde ostdeutsche Export, der 1999 um fast7 Prozent geschrumpft ist, statt zu steigen, ist nicht Ursa-che, sondern Folge der Hauptprobleme der ostdeutschenWirtschaft. Diese Hauptprobleme bestehen im niedrigenProduktivitäts- und Einkommensniveau, im geringen In-dustrialisierungsgrad und in einer weit überwiegendkleinbetrieblichen Unternehmensstruktur. Dazu kommeneine ungenügende Innovations-, Forschungs- und Ent-wicklungsintensität sowie eine auf hohem Niveau ver-festigte Arbeitslosigkeit.Die in den neuen Bundesländern vorherrschendenKleinunternehmen exportieren nicht sehr viel. Das wirdsich auch nicht ändern, wenn die Absatzförderung inten-siviert wird. Für Siemens und Opel und die wenigen an-deren Großunternehmen, die im Osten ihre Filialen er-richtet haben, mag das anders aussehen. Aber sehr vielesind das bekanntlich nicht.Was resultiert aus diesem Problem? Daraus resultiert,dass seit 1997 der Abstand zwischen Ost und West wie-der größer wird statt kleiner, und zwar hinsichtlich derwichtigsten wirtschaftlichen Kennziffern und hinsicht-lich der Lebensverhältnisse. Gerade hat uns die Bundes-regierung in ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage zurSituation in Ostdeutschland mitgeteilt, dass die seit zehnJahren versprochene Angleichung der Lebensverhält-nisse den Zeitraum einer ganzen Generation brauchenwird. Leider hat sie uns immer noch nicht verraten, aufwelchem Wege diese Angleichung erreicht werden soll.Die von der Regierung beschworene wirtschaftspoliti-sche Gesamtstrategie, deren Kern das so genannte Zu-kunftsprogramm 2000 ist, ist dafür jedenfalls gänzlich un-geeignet.
Dieses Zukunftsprogramm hieß vor einem Jahr nochSparpaket
und sieht die Einsparung von 30MilliardenDM im Staats-haushalt vor, von denen allein Rentner und Arbeitslose13 Milliarden DM aufzubringen haben. Berücksichtigtman in diesem Zusammenhang die für Großunternehmenvorgesehenen Steuererleichterungsmilliarden, wird klar,dass es sich um eine gigantische Umverteilung von untennach oben handelt.
Auf diesem Wege aber wird es eine Angleichung derLebensverhältnisse auch in Jahrzehnten nicht geben, es seidenn, die Lebensverhältnisse im Westen gleichen sich de-nen im Osten an. Ich vermute, eine solche Entwicklungwürde weder hier noch dort bei der großen Mehrheit derBevölkerung auf besonders große Gegenliebe stoßen.Wenn Sie das anstreben, wird es Zeit, dass Sie das denMenschen klar sagen.
Die PDS hat im vergangenen Jahr einen ausgewogenenund realistischen Fahrplan zur Angleichung der Lebens-verhältnisse vorgelegt, der von Ihnen abgelehnt wurde.Das gleiche Schicksal haben Sie unserem Entschlie-ßungsantrag zu der erwähnten Großen Anfrage beschert.
So weit, so schlecht. Aber wo ist Ihre Alternative? Oderrechnen Sie damit, dass die Leute auf Dauer nicht merken,dass Sie etwas anderes tun, als Sie in Ihren Reden ver-sprechen?
Noch ein Wort zur Förderung des Absatzes ostdeut-scher Produkte, die uns wichtig erscheint, aber nur in ei-nem Maßnahmenbündel Chancen hat, die gewünschtenWirkungen zu entfalten. Ein sehr wirksamer und außer-dem noch ökologischer Beitrag für eine solche Absatz-förderung wäre zum Beispiel, wenn die Regierung dafürsorgen würde, dass ostdeutsche Produkte von den großenHandelsketten auch gelistet würden. Damit würde in Ost-deutschland in sehr kurzer Zeit das völlig überflüssige An-gebot bayerischer Joghurts, holländischer Tomaten, iri-scher Butter und einiges anderes mehr verschwinden, dasim Osten ebenso gut oder besser hergestellt werden kann.
Vom Bischofferöder Kali in meiner Heimatgemeindewill ich in diesem Zusammenhang nur kurz reden. DieGrube hätte noch Jahrzehnte produzieren und zu auf demWeltmarkt konkurrenzfähigen Preisen exportieren können– auch ohne Absatzförderung. Aber sie wurde ja zu-gunsten westdeutscher Konzerne platt gemacht.
Mir geht es um die Schaffung und Förderung regiona-lerWirtschaftskreisläufe.Diese wären gleichbedeutendmit der Förderung des Absatzes von Ostprodukten aufhöchstem Niveau. Auf diesem Gebiet gäbe es im RahmenIhrer – leider nur so genannten – Chefsache Ost eine Men-ge Erfolg versprechender Dinge zu tun. Meine Kalikum-
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2000
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pel zu Hause in Bischofferode warten bisher vergebens aufdie ihnen versprochenen 700 bis 1 000 Arbeitsplätze. Vie-le verlassen resigniert ihre Heimatorte in Richtung alteBundesländer. Das kann doch wohl nicht die Lösung sein.Allein in meinem Heimatort – wir waren einmal knapp3 000 Einwohner – haben von 1994 an über 600 Einwoh-ner den Ort verlassen. Über 100 Wohnungen stehen leer.Das sind die Probleme, die wir vor Ort zu lösen haben.Und hier wird darüber gestritten, wer das bessere Konzepthat. Machen Sie doch endlich etwas!
Das Wort hat nun der
Kollege Christian Müller von der SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! An Pro-blembeschreibungen von allen Seiten des Hauses hat esnicht gemangelt. Sie sind nahezu komplett, dem mussnichts hinzugefügt werden. Auch Rundumschläge habenwir eben noch über uns ergehen lassen, sodass ich eher da-zu kommen möchte, mich mit einigen der hier aufgewor-fenen Probleme näher auseinander zu setzen.Zunächst zu dem Problem des Zu-spät-gekommen-Seins. Da bin ich eher der Meinung von Herrn Schulz, dersagt: Neue Aspekte sind an dieser Stelle nicht zu erken-nen. Ich habe mir im Vorfeld dieser heutigen ersten De-batte zu diesem Thema die Mühe gemacht, zusammenzu-stellen, was es dazu bisher gegeben hat. Ich kann sagen,es ist reichlich viel. Das meiste ist allerdings von der da-maligen Opposition gekommen und nicht von Ihnen. Wirhatten 1992 eine Gemeinschaftsinitiative der neuen Län-der,
bei der die Förderung des Absatzes ostdeutscher Produk-te eine sehr wichtige Rolle spielte.
– Natürlich nicht!Wir haben 1995 eine Außenwirtschaftskonzeption vor-gestellt. Wir haben eine interessante Debatte gehabt, diezu dem Punkt geführt hat – unser Kollege SiegmarMosdorf hatte den herausgefunden –, dass nämlich diedamalige Bundesregierung eine Vollblockade bei Hermesdadurch erzeugt hatte, dass 80 Prozent der Wertschöp-fungen in Ostdeutschland stattfinden sollten, was nach-gerade unmöglich war. Wir hatten eine Große Anfrage zurGlobalisierung; wir haben in der 13. Legislaturperiode so-gar den Versuch unternommen – offenbar sogar eine Zeitlang gemeinsam –, hier im Hause einen Antrag zustandezu bekommen, von dem die damalige Koalition dann aberwieder abgesprungen ist. Interessanterweise ist das heutein den Datenbanken noch immer falsch enthalten. DasGanze steht also mindestens in dieser Tradition, insofernmuss ich dem Thema „zu spät gekommen“ einfach nichtsmehr hinzufügen.
Wir sind uns darüber einig, dass wir Wachstumsim-pulse brauchen, die im Außenmarkt genauso wichtig sindwie im Inneren. Wir haben natürlich die Frage zu behan-deln, ob das Exportwachstum uns letztendlich befriedigtoder nicht. Es wird uns nicht befriedigen, aber vielleichthaben auch Sie diese Woche festgestellt, dass die Frühin-dikatoren, die bisher immer das zunehmende Wachstumder westdeutschen Wirtschaft auswiesen, eine Wende er-fahren haben, sodass es sich im Ifo-Geschäftsklimasaldoin Form einer Zunahme von 6 auf 12 Punkte auswirkt. Dasheißt, das Klima verbessert sich. Nehmen Sie doch an,dass das ein Ergebnis vernünftiger Regierungspolitik ist.Ich hoffe, Sie können das akzeptieren.
Herr Krüger meint, wir müssten Rahmenbedingungenschaffen und der Bund dürfe nicht nachlassen. Der Bundlässt nicht nach, das weisen die für die Außenwirtschafts-förderung vorliegenden Bilanzen, die sehr akribisch er-stellt werden, aus. Die Regierung Schröder hat die Mittelfür die Exportwirtschaft und die Exportförderung verste-tigt. Auch dieses Jahr stehen 20 Millionen DM zur Verfü-gung, und das wird fortgesetzt werden. Was damit ange-stellt wurde, wissen Sie doch hoffentlich auch: Inlands-messeförderung als ein wesentliches Element, Besetzungder Leitmessen. Daran haben sich 2 221 ostdeutsche Mit-telständler beteiligt.Es klangen hier schon die Vermarktungsprojekte imAusland an, sowohl die Lieferantenforen als auch die Ver-marktungsunterstützung. Als neues Element gibt es natür-lich inzwischen auch die Internetpräsentation solcher Pro-jekte. Das sind doch die entscheidenden und wichtigenSchritte, die in dieser Zeit nötig sind.Die Vergabe öffentlicher Aufträge sei erwähnt. 20 Pro-zent Bundesaufträge sind nach wie vor up to date. NeueMedien und E-Commerce sind im Aufschwung begriffen.Dass dort noch zugelegt werden muss, wissen wir alle.Vergessen Sie bitte nicht die Sonderkonditionen, dieOstdeutschland auch bei der gesamtdeutschen Absatzför-derung der Wirtschaft erhält, beispielsweise die Aus-landsmesseförderung – immerhin 16 bis 17 Prozent derteilnehmenden Unternehmen kommen aus dem Osten –und die Kooperationsförderung. Ich habe nichts gegen diestrategischen Allianzen einzuwenden. Dies alles ist si-cherlich vernünftig.
Die Maßnahmen haben sich bewährt. Zunehmend werdendie jungen Technologieunternehmen des Ostens – dies isterkennbar – auf die Außenmärkte drängen.Damit sind wir beim Thema der Außenhandelskam-mern und der Kooperationen, die dort natürlich notwen-dig sind. Das spielt auch im Antrag von SPD und Bünd-nis 90/Die Grünen eine Rolle. Sie alle erinnern sich nochan unser altbekanntes Drei-Säulen-Konzept der Außen-wirtschaftsförderung. Wir müssen bis zum heutigen Tage
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Gerhard Jüttemann9160
eine interessante Entwicklung konstatieren, nämlich eineEntwicklung hin zu konkreter Wirtschaftsförderung beiden deutschen Botschaften, hin zu konkreter Wirtschafts-förderung bei den Auslandshandelskammern und auchhin zu konkreter Wirtschaftsförderung durch Informationseitens der BfAI. Das lässt erkennen, dass das damals fürsich stehende Konzept dieser drei Säulen eigentlich über-reif dafür ist, zu einem koordinierten Konzept zu-sammengeführt zu werden. Das setzt allerdings voraus,dass beim BfAI natürlich nach wie vor kundige Korre-spondenten vor Ort unverzichtbar sind; denn die Sekun-därinformationen, die man hierzulande aus dem Internetund sonst woher ziehen kann, werden nicht ausreichen.Dafür werden wir uns einsetzen.
Die Schlussfolgerung daraus ist, dass wir im Interesseder deutschen Wirtschaft und der deutschen Firmen unsereBemühungen auf den Außenmärkten tatsächlich innerhalbdieser drei genannten Bereiche konzentrieren müssen.Wenn es möglich ist, sollten wir sie demnächst institutio-nell unter ein Dach bekommen.Wie Sie wissen, haben wir ja nun alle gelegentlich dieMöglichkeit, uns die Erfahrungen auch von außen anzu-schauen. Vielleicht kann man in diesem Zusammenhangauf die jüngste Reise des Bundestagsausschusses fürWirtschaft und Technologie nach Mexiko verweisen.
Die Mitglieder der dortigen Auslandshandelskammerhaben bei dieser Gelegenheit unterstrichen, dass diedeutschen Bemühungen zur Außenwirtschaftsförderungrichtig sind und sich auf den Mittelstand konzentrierensollen, insbesondere auf die ostdeutschen Unternehmen.In diesem Zusammenhang vielleicht noch ein Wort zuden bekannten deutschen Häusern. Sie erinnern immernoch an wirtschaftlich sehr ungleichgewichtige Situatio-nen in den deutschen Bundesländern. Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen werden sicher mitHilfe ihrer Landesbanken immer in der Lage sein,
die Interessen ihrer Firmen, vor allem der mittelständi-schen, durch die Installation derartiger Häuser zu unter-stützen. Überall in der Welt gibt es drei oder vier Projek-te. Es wachsen welche und in Mexiko kommt noch eineshinzu.Es lohnt sich vielleicht, einmal darüber zu diskutierenund darüber nachzudenken, wie es gelingen könnte, dassdie schwachen Länder Deutschlands – das sind nicht nurdie ostdeutschen – ihre Kräfte bündeln, um so ihrenmittelständischen Firmen mehr Unterstützung zu geben,selbst wenn andere Bundesländer – natürlich auch ost-deutsche – Firmen aufnehmen.
Ich denke, das wäre ein Ansatz, über den Sie im Rahmender Debatte über diesen Antrag nachdenken sollten.
Lassen Sie mich – um dem Ende etwas näher zu kom-men – auf Folgendes verweisen.
– Es ist nicht mein persönliches Ende, sondern das meinesRedebeitrags. – Die Debatte, die wir hier führen, würdeauf jeden Fall zu kurz greifen, wenn wir sie auf die In-strumente der Außenwirtschaftsförderung verengen wür-den. Das liegt wohl auf der Hand.
Entscheidend wird sein, inwieweit es in den nächstenJahren gelingt, in Ostdeutschland ein Netz innovativerFirmen zu installieren, die erst einmal stabil genug seinmüssen, um in den Markt hineinzukommen, und dienatürlich in einem nächsten Schritt den Weg auf die Welt-märkte suchen müssen, um voranzukommen. Die Sekto-ren, in denen dieses stattfinden kann, fallen uns allen si-cherlich relativ schnell ein. Das ist entscheidend dafür, obder Wirtschaftsstandort Ostdeutschland stärker oderschwächer werden wird.Jetzt sind wir bei dem entscheidenden Punkt: SchauenSie sich bitte die Instrumentarien der Technologieförde-rung des Bundes an. Die Bundesregierung hat den Ansatz,technologisch interessante Unternehmen voranzubringen,einen Teil der Kosten für Forschungspersonal zu über-nehmen. Die Bundesregierung hat auch den Ansatz, dieVernetzung solcher Firmen voranzubringen. In einerWelt, in der die Vernetzung von Tag zu Tag zunimmt, istein Überleben auf sich allein gestellter einzelner Unter-nehmen unmöglich.In diesem Zusammenhang darf ich sehr wohl an das er-folgreiche Projektgeschehen um Inno-Regio erinnern, dasüberall in Ostdeutschland zu einem Aufbruch geführt hat,der zu solchen Vernetzungsprojekten führt. Das ist dieGrundlage, auf der die ostdeutsche moderne Wirtschaft inder nächsten Zeit vorwärts kommen wird.
Herr Kollege, denken
Sie an Ihre Redezeit. Es klang so hoffnungsvoll.
Dann, verehrte Frau
Präsidentin, komme ich zum Abschluss.
Sehr gut.
Meine sehr geehrtenDamen und Herren, ich empfehle Ihnen dringend, sich inden Beratungen, die in den verschiedenen Ausschüssenstattfinden werden, zu überlegen, ob Sie sich nicht unse-rer Richtung anschließen, die – wie ich schon sagte – ei-ne Tradition über die letzten zehn Jahre hinweg hat.Vielen Dank.
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Christian Müller
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Nun hat der Kollege
Ulrich Klinkert, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Deutschland ist eine derwichtigsten Exportnationen der Welt.
1998 hatten wir einen Anteil von immerhin 10 Prozent amWelthandel oder – anders ausgedrückt – fast 30 Prozentdes Bruttoinlandprodukts gehen in den Export. Produkte„Made in Germany“ sind weltweit begehrt. Durch dieGlobalisierung der Weltwirtschaft wird die Wirtschaft inder Bundesrepublik weiterhin gute Chancen zum Ex-pandieren und Exportieren haben.
Der Export ist seit Jahrzehnten Voraussetzung für wirt-schaftliche Stabilität, für Wachstum, für Wohlstand und fürBeschäftigung. Leider klafft beim Export nach wie vor ei-ne große Lücke zwischen Ost und West. Darauf habenauch meine Vorredner hingewiesen. Die alten Bundeslän-der exportieren pro Kopf fast sechsmal so viel wie die neu-en Bundesländer. Hier liegt meines Erachtens eine derwichtigsten Aufgaben der Ost-West-Angleichung. Ichwage zu behaupten: Ohne Angleichung der Exportquotewird es keine Angleichung der Lebensverhältnisse geben.
Dies ist zum einen natürlich eine nationale Aufgabe, beider die Bundesregierung nicht aus ihrer Verantwortungentlassen werden kann. Dies ist aber auch und nicht zu-letzt eine Aufgabe der neuen Bundesländer selbst; denn beigenauem Hinsehen erkennt man, dass es extremeUnterschiede innerhalb der neuen Bundesländer gibt.Während zum Beispiel Sachsen im Jahre 1999 einen Ex-port von immerhin 13,9 Milliarden DM realisieren konn-te, exportierte Sachsen-Anhalt gerade einmal für 5,5 Mil-liarden DM und Mecklenburg-Vorpommern nur für2,5 Milliarden DM. Anders ausgedrückt: Die Pro-Kopf-Exportrate, die 1994 in allen neuen Bundesländern in et-wa gleich war, ist in der Zwischenzeit in Sachsen 50 Pro-zent höher als in Sachsen-Anhalt und fast doppelt so hochwie in Mecklenburg-Vorpommern. Sie entwickelte sichseit 1994 in Sachsen auf 234 Prozent und in Sachsen-Anhalt auf 146 Prozent, während Mecklenburg-Vorpom-mern überhaupt keine Steigerung vorweisen kann.Dies hängt zum einen damit zusammen, dass Sachseneben andere Wege beschreitet als andere Bundesländer. InSachsen gilt: Erst investieren, dann konsumieren.
Das ist ein Weg, der in Sachsen erstens zu einer wesentlichgeringeren Staatsverschuldung, zweitens zu mehr freienInvestitionsmitteln führt.
– Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, Frau Wittig, dass dieVerschuldung der Kommunen in Sachsen höher sei alsbeispielsweise in Brandenburg. Die Verschuldung derKommunen in Brandenburg ist mindestens genauso hochwie in Sachsen, weil es dort unter anderem zum Beispielhöhere Abwassergebühren als in Sachsen gibt.
Wir haben in Sachsen also mehr freie Investitionsmit-tel, wir haben auf Dauer eine größere Wirtschaftskraft. Dasführt auch dazu, dass wir dort zukunftsfähige Arbeits-plätze schaffen können. Es ist kein Zufall, dass die Staats-schulden von Sachsen-Anhalt, von Mecklenburg-Vor-pommern und von Brandenburg doppelt so hoch sind wiedie Staatsschulden von Sachsen und dafür die Exportratein diesen Ländern zum Teil weniger als 50 Prozent beträgt.
Wir alle kennen die schwierige Ausgangssituation:Nach der Wende ist der Export in den neuen Bundeslän-dern fast völlig zusammengebrochen; denn die DDR warnicht wirklich exportfähig, weil sie eben nicht wettbe-werbsfähig war. Mit der Einführung der D-Mark zeigtesich: Die DDR verschleuderte ihre Produkte zum Teil zuweniger als 20 Prozent ihres Herstellungswertes in denWesten – auf Kosten derer, die sie herstellten. Noch gra-vierender wirkte sich der wirtschaftliche Zusammenbruchder Haupthandelspartner im Osten aus. Diese hatten nach1991/92 kaum noch Geld für Importe, und wenn sie De-visen hatten, haben sie diese Devisen lieber für einen VWals für einen Trabbi ausgegeben.Trotz dieser schwierigen Ausgangslage haben wir seit1994 ein deutliches Anwachsen des Exportes von damals17,2 Milliarden DM auf 36,7 Milliarden DM im Jahre1998. Allerdings – Kollege Krüger hat darauf hingewie-sen – ist der Export seit 1998 drastisch rückläufig, aber nurder Export aus den neuen Bundesländern heraus. Deswe-gen kann das, Herr Kollege Schulz, auch nicht mit derweltwirtschaftlichen Lage zusammenhängen, denn in denalten Bundesländern konnte der Exportanteil fast in glei-cher Höhe gesteigert werden.
Dies zeigt erstens: Die Schere Ost-West geht seit 1998wieder auseinander, nicht nur im Bereich des Exportes.Die letzten Arbeitslosenzahlen sind ein weiterer Beweisdafür. Zweitens: Die wirtschaftsfeindlichen Beschlüsseder rot-grünen Bundesregierung
wirken sich besonders negativ auf die empfindlicheWirtschaft der neuen Bundesländer und damit auch aufden Export aus.
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Die Maßnahmen der Bundesregierung wie etwa dasSteuerentlastungsgesetz, das eigentlich ein Steuerbe-lastungsgesetz ist, das Hin und Her bei der Steuerreform,das Chaos beim 630-Mark-Gesetz und bei der Schein-selbstständigkeit und besonders die so genannte Öko-steuer, zertrampeln die zarte Pflanze der wirtschaftlichenEntwicklung der neuen Bundesländer.
Sie lähmen die Exportfähigkeit und vergrößern die Ar-beitslosigkeit. Da nützen auch noch so viele Runden vonBündnissen für Arbeit nichts. Sie haben bis heute eh zukeinem substanziellen Ergebnis geführt.Das hat die Bundesregierung bisher nicht erkanntoder will es nicht erkennen. Im Gegenteil: Durch finanzi-elle Kürzungen werden die neuen Bundesländer um Mit-tel für Investitionen und für Infrastruktur gebracht. DieseMittel wären allerdings zwingend notwendig, um über-haupt exportfähige Produkte herzustellen. Dass seit Be-ginn der rot-grünen Regierung die Investitionsförderungin den neuen Bundesländern zurückgeht, ist ein Ausdruckdafür, was Gerhard Schröder darunter versteht, wenn ersagt, der Aufschwung Ost werde zur Chefsache erklärt.
– Die Abwesenheit der Bundesregierung hier ist einweiterer Beweis dafür.Lassen Sie mich dies mit einigen Zahlen untermauern:Die Mittel des für die Wirtschaft so wichtigen Förderin-struments der Gemeinschaftsaufgabe Ost betrugen imJahre 1998 2,75 Milliarden DM, wurden 1999 auf2,58 Milliarden DM reduziert und werden in diesem Jahrnur noch 2,3 Milliarden DM betragen. Wir haben seit derAmtsübernahme der rot-grünen Bundesregierung also ei-nen Rückgang von 20 Prozent zu beklagen.
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Thalheim? – Bit-
te sehr.
Herr Kollege Klinkert,
Sie haben die Entwicklung der Exportzahlen in Sachsen
eindrucksvoll dargelegt. Mich würde interessieren, wie
sich der Widerspruch erklärt, dass Sachsen trotz der nach
Ihrer Darstellung so schlechten Politik der Bundesregie-
rung für die Zukunft eine so positive Entwicklung der Ex-
portzahlen sieht. Wenn man Ihren Ausführungen folgt,
müsste das umgekehrt sein. Vielleicht können Sie diesen
Widerspruch aufklären.
Herr KollegeThalheim, zunächst habe ich ganz nüchtern festgestellt,dass die Exportrate in Sachsen um einiges höher ist als inden anderen neuen Bundesländern.
Sie beträgt aber dennoch nur einen Bruchteil der Ex-portrate, die in den alten Bundesländern üblich ist und dienormalerweise notwendig ist, um einen sich selbsttragen-den Aufschwung herzustellen. Und wenn ich dann noch anIhren Bereich denke, nämlich an die Landwirtschaft, dieSie zurzeit ruinieren, dann sollten Sie sich etwas zurück-halten, wenn es um den Aufschwung Ost geht.
Ich hatte Ihnen anhand von Zahlen belegt, dass dieInfrastrukturförderung von der Bundesregierungzurückgeführt wird. So wichtige Verkehrsprojekte wie dieSüdumfahrung Leipzig, der Ausbau der A 72, eine ganzeReihe von Ortsumfahrungen und Autobahnzubringernwurden auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Daszeigt den Stellenwert des Aufbau Ost bei dieser Bundes-regierung. Leider ist keine Besserung zu erwarten.
– Ich freue mich, dass Sie das aufregt; das zeigt, dass Siezumindest darüber nachdenken. Vielleicht sind Sie ja auchnoch in der Lage, daraus die notwendigen Schlussfol-gerungen zu ziehen.
Während der Bund die Ausgaben für das Bundesfern-straßennetz nach 2002 insgesamt zwar um 23,7 Prozent er-höhen wird, wird es in den neuen Bundesländern, diestrukturell noch immer wesentlich schlechter ausgestattetsind, zu einer Kürzung von 26 Prozent kommen. Infra-struktur als Voraussetzung für Investitionen wird von Rot-Grün also extrem vernachlässigt.
Trotzdem wird der Export in den neuen Bundesländernwachsen. Es gibt hoffnungsvolle Zeichen wie die Inbe-triebnahme des Interkontinentalflughafens in Leipzig, dasin der Nähe im Aufbau befindliche Montagewerk vonPorsche, die Erweiterung von Infineon in Dresden, die In-betriebnahme von AMD und viele andere Beispiele mehr.Dadurch werden Arbeitsplätze geschaffen, die den Exportsehr stark ankurbeln werden.
Ich sagte bereits: Die Wirtschaft und der Export in denneuen Bundesländern sind noch nicht selbsttragend. Des-wegen sollte die Bundesregierung ihre Strategie der „Ver-nachlässigung Ost“ überdenken.
Für mehr Export und für mehr Arbeitsplätze, für die An-gleichung der Lebensverhältnisse über die Angleichungder Exportrate brauchen wir erstens eine direkte Export-förderung, was in unserem und zum Teil auch in Ihrem An-trag zum Ausdruck kommt, zweitens brauchen wir eineverbesserte Infrastruktur und vor allen Dingen brauchenwir mehr Investitionen.Herzlichen Dank.
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Ulrich Klinkert9163
Nun hat der Staats-
minister Rolf Schwanitz das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Trotz allem
Pulverdampf möchte ich zunächst einmal herzlichen
Dank an alle Vorredner und an all diejenigen sagen, die
Anträge eingebracht haben.
Eines eint offensichtlich alle Diskussionsteilnehmer.
Die Förderung des Absatzes ostdeutscher Produkte, des
Exportes ist ein zentraler Punkt, der nicht vernachlässigt
werden darf. Das sieht die Bundesregierung genauso.
Deshalb: Herzlichen Dank!
Trotzdem muss ich ein paar kritische Bemerkungen mit
Blick auf einige polemische Äußerungen machen. Herr
Klinkert, wir hatten gestern in Dresden zum zweiten Mal
eine gemeinsame Kabinettssitzung mit der Sächsischen
Staatsregierung. Wir haben solche Sitzungen mit allen
Staats- und Landesregierungen im Osten durchgeführt. Ich
habe noch keine solche Sitzung erlebt, in der wir als Bun-
desregierung für unsere Leistungen beim Aufbau Ost so
gelobt worden sind wie in der gestrigen. Das war eine
ordentliche Geschichte.
Wir wurden beispielsweise dafür gelobt, dass wir die
A 17 – sie wissen, wie wichtig das für die Sächsische
Staatsregierung war –,
deren Finanzierung völlig ungeklärt war, mit einer
EFRE-Finanzierung abgesichert haben. Das Ganze steht.
Das Gleiche gilt für den zweiten Bauabschnitt der
Südumfahrung Leipzig, die im Anti-Stau-Programm ent-
halten ist. Wir sind mit der Staatsregierung in Verhand-
lungen, die gute Fortschritte machen, darüber, eine so
genannte Pauschalvereinbarung über die Sanierung von
ökologischen Altlasten abzuschließen. Wir verschließen
uns – im Gegensatz zu der Vorgängerregierung, an der Ihre
Partei, Herr Klinkert, beteiligt war – nicht der dringend
notwendigen Sanierung der Wismut-Altstandorte, auch
wenn wir dazu nicht verpflichtet sind. Das sind ordentliche
Sachen. Ich würde Ihnen empfehlen, darüber einmal mit
der Staatsregierung zu reden.
Herr
Staatsminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Gern.
Herr Kollege Schwanitz,
wenn Sie schon von so viel Lob seitens der Sächsischen
Staatsregierung berichten können, möchte ich fragen:
Sind Sie denn auch dafür gelobt worden, dass diese Bun-
desregierung das 1997 abgeschlossene Bund-Länder-
Verwaltungsabkommen für die Braunkohle vertrags-
widrig um jährlich 50 Millionen DM kürzt?
Herr Kollege, das ist gestern von der Staatsregierung nichtangesprochen worden.
Auch zu Ihnen, Herr Krüger, möchte ich eine Bemer-kung machen: Sie haben etwas gemacht, was im Aus-schuss für die Angelegenheiten der neuen Länder schoneine Rolle gespielt hat und was ich nicht unkommentiertstehen lassen möchte. Sie haben in Ihrer Rede ausgeführt,der Osten würde konjunkturell abgekoppelt. Ich mussdarum bitten, in diesen schwierigen Fragen in den Argu-menten sachlich und in der Analyse tiefgründig zu blei-ben.
Von den Instituten gibt es unterschiedliche Prognosen.Danach ist es nicht völlig sicher, ob wir im Jahr 2000 ge-samtwirtschaftlich – wie in den letzten drei Jahren, für diewir nicht verantwortlich waren – in den neuen Bundes-ländern ein etwas schwächeres Wachstum als in den altenBundesländern oder ein gleich großes Wachstum in denneuen und den alten Ländern haben werden. Letzteres hatuns der Sachverständigenrat im Herbstgutachten prognos-tiziert. Das Ergebnis ist völlig offen.Aber, Herr Krüger, das ist anders, als Sie es dargestellthaben. Ihre Ausführungen waren nostalgisch auf dieWachstumsrateMitte der 90er-Jahre ausgerichtet, wo derOsten fast 10 Prozent gesamtwirtschaftliches Wachstumhatte. Die Bundesregierung sagte damals, es handle sichum die Wachstumsregion Nummer eins in Europa. Ich hö-re diese Worte heute noch. Die damalige Entwicklung warausschließlich hochgezüchtet durch Investitionsförde-rungsmittel. Es hat – wie Sie wissen – große Fehlalloka-
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Ulrich Klinkert9164
tionen gegeben. Es handelte sich um ein aus der Bauwirt-schaft gespeistes Wachstum. Die übrige Industrie lag da-nieder.Das hat sich grundlegend geändert. Darüber bin ichfroh. Unser jetziges Wachstum in Ostdeutschland kommtaus der Industrie und dem industrienahen Dienstleis-tungsbereich. Dort haben wir seit ungefähr 3 Jahren eindoppelt so starkes Wachstum wie in den alten Bundeslän-dern – seit Mitte 1998 ist das übrigens auch mit Arbeits-platzzuwachs verbunden. Das ist die richtige Richtung unddas darf man nicht verschweigen.
Auch zum Export möchte ich noch ein paar Zahlennennen, wobei ich mich auch auf die von Ihnen in der Ver-gangenheit herangezogenen Zahlen beziehe, nämlich diedes Statistischen Bundesamtes. Dabei ist für das Jahr1999 völlig richtig zu konstatieren, dass wir im verarbei-tenden Gewerbe eine Exportquote von knapp 19 Prozenthatten. Das ist, an der Ausgangsposition gemessen – vie-le haben angesprochen, dass wir 1994 eine Exportquotevon etwas über 11 Prozent hatten –, eine positive Ent-wicklung, die uns aber keinesfalls zufrieden stellen kann.In den alten Bundesländern liegt der Wert bei über35 Prozent. Das macht deutlich, welch weiter Weg nochvor uns liegt und dass wir in der Unterstützung der ost-deutschen Wirtschaft nicht nachlassen dürfen.
Beim Exportgeschäft haben wir in den neuen Bun-desländern ein Wachstum von 10,5 Prozent. In den altenBundesländern lag das Wachstum 1999 bei 5,9 Prozent.Wir haben also auch beim Exportumsatz eine Wachstums-quote, die in den neuen Bundesländern doppelt so groß istwie in den alten Bundesländern.
Meine Damen und Herren, Ähnliches gilt auch für dasInlandsgeschäft.Nach den Zahlen des Statistischen Bun-desamtes betrug das Wachstum im Westen circa 1 Prozent,in den neuen Bundesländern 5 Prozent. Im verarbeitendenGewerbe haben wir in den neuen Bundesländern einen we-sentlich stärkeren Wachstumsimpuls. Das ist eine guteEntwicklung.Dass das Exportgeschäft um 10 Prozent wächst,während das Inlandsgeschäft im Osten um 5 Prozentwächst, dass also das Exportgeschäft doppelt so stark an-gestiegen ist, ist eine gute und Mut machende Entwick-lung.
Herr
Schwanitz, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dehnel? – Herr Dehnel, bitte schön.
Herr Kollege
Schwanitz, Sie haben gerade von Wachstum gesprochen.
Erklären Sie mir bitte, wie es in Ihrem Wahlkreis, dem
vogtländischen Wahlkreis, dazu kommen konnte, dass er
bis 1998 hinsichtlich der Beschäftigungssituation in den
neuen Bundesländern einen Spitzenplatz einnahm, näm-
lich an erster, zweiter oder dritter Stelle, noch vor
Dresden, stand und jetzt auf einen Mittelplatz zurückge-
fallen ist. Da Sie von Wachstum sprechen: Wie konnte das
passieren?
Herr Dehnel, das liegt daran, dass im Vogtland zwei
grundsätzliche Erscheinungen zu beobachten sind, zum ei-
nen eine hoch leistungsfähige und gute Arbeitsverwaltung,
die mit vielen arbeitsmarktpolitischen Instrumenten un-
terstützt, und zum anderen – das können wir in allen ehe-
maligen Grenzregionen beobachten – eine enorme
Pendlerbewegung, die die Arbeitsmarktstatistik entspre-
chend schönt. Es pendelten in der Vergangenheit aus die-
sem Gebiet dreimal so viel Leute, als es in anderen Ar-
beitsamtsbezirken der Fall ist. Das sieht man natürlich
nicht in der Statistik. Das gehört aber zur Realität. Auch
für meinen Wahlkreis im Vogtland, Herr Dehnel, gilt – da
stelle ich Ihnen gern noch einmal Informationen der In-
dustrie- und Handelskammer zur Verfügung –, dass es ei-
nen Arbeitsplatzzuwachs in der Industrie und im verar-
beitenden Gewerbe gibt. Das ist eine positive Sache.
Herr Kol-
lege Schwanitz, Herr Dehnel möchte eine weitere Frage
stellen, wenn Sie erlauben.
Ich habe jetzt noch eine Redezeit von 1 Minute und 40 Se-kunden. Ich möchte gern noch zwei grundsätzliche Be-merkungen machen. Sie können ja eine Kurzinterventionmachen. Dann stehe ich Ihnen zur Verfügung.
Die erste Bemerkung. Sie von der CDU/CSU-Fraktionhaben in Ihrem Antrag geschrieben, die Dienstleistungs-förderung müsse in die Absatzförderung integriert wer-den. Darüber sollten wir im Ausschuss noch einmal reden.Das ist aus meiner Sicht schon längst – übrigens zu IhrerZeit – erfolgt. Wir haben in den Vermarktungshilfen eineÖffnung vorgesehen. Selbst reine Dienstleistungen kön-nen im Vermarktungshilfeprogramm gefördert werden.Da kennen Sie offensichtlich das eigene Programm nichtmehr. Damit rennen Sie offene Türen ein. Wir stehenselbstverständlich für einen Dialog zur Verfügung.Ich möchte noch eine zweite Bemerkung machen. Esist völlig richtig darauf hingewiesen worden, dass daskeine Einzelleistung des Bundes ist, sondern ein Ge-meinschaftswerk aller. Deswegen ist es ganz wichtig – ichbin froh darüber –,
dass sich im Bündnis für Arbeit die Bündnispartner, ins-besondere die Vertreter der Wirtschaft, verpflichtet haben,
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2000
Staatsminister Rolf Schwanitz9165
ihr Engagement nicht zurückzunehmen, sondern die ganzePalette der Maßnahmen für die Unterstützung der ost-deutschen Wirtschaft und die Unterstützung des Absatzeseinzusetzen. Auch das ist völlig richtig.Ich möchte zum Schluss noch einmal das aufgreifen,was Herr Müller sagte. Das gehört natürlich dazu. DasProblem, das wir haben, ist viel zu komplex, als dass wires nur über Absatzförderungen im engeren Sinne lösenkönnten. Es geht um Marktpositionen, es geht um Preis-strategien. Es geht um die Position in der Wertschöp-fungskette, ob man vorne in der Kette ist und internationalmit den entsprechenden Wertvolumina Preise realisierenkann oder ob man Niedrigpreisstrategien einsetzen muss.Das sind die Dinge, die viel mit Innovation und Ähnlichemzu tun haben. Deswegen gehört in den Gesamt-zusammenhang das hinein, was wir mit dem Programm„FUTOUR 2000“, mit dem Programm „Inno-Net“ zurVerknüpfung von Netzwerken oder beispielsweise mit„Inno-Regio“ getan haben. In dieser Komplexität gehenwir die Dinge an. Damit sind wir auf einem guten Weg.Schönen Dank.
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/2911 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung soll
beim Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
liegen. Die Vorlage auf Drucksache 14/3094 soll an die
gleichen Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkte 9 a bis c auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zu der Un-
terrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Rates
über die freiwillige Beteiligung von Organisa-
tionen an einem Gemeinschaftssystem für das
Umweltmanagement und die Umweltbetriebs-
prüfung
– Drucksachen 14/488 Nr. 2.58, 14/1131 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Marion Caspers-Merk
Bernward Müller
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zu dem An-
trag der Abgeordneten Birgit Homburger, Ulrike
Flach, Hildebrecht Braun , weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Erhöhung derAttraktivität des freiwilligen
Umweltaudits durch Deregulierung
– Drucksachen 14/570, 14/2030 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Marion Caspers-Merk
Bernward Müller
Winfried Hermann
Ulrike Flach
Eva Bulling-Schröter
c) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Umweltcontrolling und Umweltmanagement
in Bundesbehörden und Liegenschaften
– Drucksache 14/2907 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre kei-
nen Widerspruch. – Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Marion Caspers-Merk von der SPD-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Mit dem heute von den Re-gierungsfraktionen vorgelegten Antrag zu Umweltcon-trolling und Umweltmanagementwird das Ziel verfolgt,dass der Staat das, was er schon lange von seinen Bürge-rinnen und Bürger verlangt, auch selber macht: Alle staat-lichen Ebenen sollen in Zukunft nachhaltiger mit unserenRessourcen umgehen. Durch ein konsequentes Um-weltmanagement können nämlich die öffentlichen Ver-waltungen die Umwelt und die knappen öffentlichen Kas-sen spürbar entlasten. Es gibt bereits eine ganze Reihe vonStädten und Einrichtungen der Länder, die gezeigt haben,wie man die Umwelt erfolgreich schützt und dabei baresGeld spart, das an anderer Stelle sinnvoller eingesetztwerden kann.Das Neue an diesem Umweltcontrolling-Instrumentist, dass es nicht nur in den eng mit dem Umweltministe-rium verbundenen Bereichen eingesetzt wird, sondern al-le Ressorts und Bundesbehörden verpflichtet, das Ihrigezu tun, um einen nachhaltigen Umgang mit Ressourcendurchzusetzen. Das halten wir für einen Fortschritt imHinblick auf eine Nachhaltigkeitsstrategie für Deutsch-land.
Wie groß die Potenziale für mehr Umweltschutz in denöffentlichen Verwaltungen noch sind und welche Erfolgebereits erzielt wurden, ist nachlesbar und nachprüfbar. Sowerden beispielsweise in den deutschen Städten jährlichpro Einwohner umgerechnet rund 60 DM für Energie-kosten der kommunalen Liegenschaften ausgegeben.Allein durch ein effizientes Energiemanagement ließensich von diesem Betrag 10 DM einsparen. Das macht beieiner Stadt mit 100 000 Einwohnern 1 Million DM proJahr aus. Auf die Stadt Heidelberg zum Beispiel trifft dasgenau zu; dort wird dieses Instrument auch schon
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Staatsminister Rolf Schwanitz9166
angewendet. Aber auch beim Wasserverbrauch kann mandie Kosten um bis zu 45 Prozent reduzieren, beim Abfallum bis zu 50 Prozent. Diese Beispiele zeigen, dass Um-weltschutz, ökonomisch sinnvolles Wirtschaften und so-ziale Verantwortung durchaus zusammengehen können.Einerseits Einsparpotenziale zu schaffen und anderer-seits sinnvolle ökologische Investitionen zu tätigen istdas Ziel des gemeinsam von den BundestagsfraktionenBündnis 90/Die Grünen und SPD erarbeiteten Antrags. Sohalten wir es für wichtig zu prüfen, wie im Rahmen derFlexibilisierung der Haushaltsführung und auf der Basisder vorhandenen Personalkapazitäten ökonomische An-reize zu mehr Umweltschutz in den Bundesbehörden ge-schaffen werden können. So könnte die Einführung einesUmweltcontrolling im Rahmen der Bewilligung sowieVerteilung von Haushaltsmitteln berücksichtigt werden.Nachgewiesene Einsparungen könnten anteilig zur de-zentralen Ressourcenbewirtschaftung zur Verfügung ge-stellt werden. Warum sollen, liebe Kolleginnen undKollegen, eigentlich immer nur Gratifikationen für dieErfindung des 99. Formblatts zur angeblichen Effizienz-steigerung gegeben werden, wo es doch so viel einfacherist, konkrete Einsparziele mit Gratifikationen zu beloh-nen?
Es gibt ein erfolgreiches Instrument, das zum Beispielschon in einigen Schulen und Städten praktiziert wird.Dieses Projekt heißt „fifty-fifty“. Ich glaube, es wurde vonHamburger Schulen erfunden. Dort bekommen die Schu-len ihr eigenes Budget für Energie. Wenn sie dieses Bud-get unterschreiten, wird die eingesparte Summe zwischender Schule und der Senatsverwaltung geteilt. Das ist einganz konkreter Beitrag, damit auch schon unsere Kinderlernen, sinnvoll mit Ressourcen umzugehen.Das spart natürlich auch Bewirtschaftungskosten, dienormalerweise die Kommune zu zahlen hat. Wir alle wis-sen, dass wir mit öffentlichen Gütern nur dann sparsamumgehen, wenn wir finanziell dazu einen Anreiz haben.Das ist die Grundidee, die hinter dem Instrument Um-weltmanagement und Umweltcontrolling steht.Ein systematisches Umweltmanagement in allenBundesbehörden und Liegenschaften, das sich nicht nurauf die Beschaffung bezieht, wollen wir mit diesem An-trag erreichen. Dabei sollten die erzielten Einsparungennicht in irgendwelchen Säcken verschwinden, sondernfür ökologische Ziele wieder ausgegeben werden. Sokönnte beispielsweise ein Teil der eingesparten Ausgabendafür verwendet werden, Strom aus erneuerbaren Energi-en zu beziehen. Auch sollte publiziert werden, wie großdie Einsparungen pro Jahr sind.
Erste Versuche in den Behörden gibt es bereits. DasUmweltbundesamt baut derzeit ein Umweltmanagementauf. Aber auch im Bereich des Wirtschafts-, des For-schungs- und des Sozialministeriums werden bereits ent-sprechende Projekte durchgeführt. Für mich war beson-ders interessant zu lernen, dass beispielsweise die Bun-deswehr ein Energiemanagement in all ihren Standorteneinführen will. Wir erinnern uns: Auch die Bundeswehr istmit ihren 700 Standorten ein großer Energieverbraucher.
Wir wollen mit diesem Antrag unterstreichen, dass dies derrichtige Weg ist.Entscheidende Hilfe, diese positiven Ansätze zu ver-stärken, werden wir durch das Handbuch „Umweltcon-trolling im Bereich der öffentlichen Hand“ erhalten, dasderzeit im Auftrag des Bundesumweltamtes erstellt wird.Wie ein Leitfaden wird es den öffentlichen Einrichtungendabei helfen, ein Umweltcontrolling und, nach einer ent-sprechenden Novellierung der EMAS-Verordnung, einUmweltmanagementsystem systematisch einzuführen.Damit haben wir einen weiteren wichtigen Baustein zurIntegration des Umweltgedankens in allen Ressorts und ei-ne hervorragende Möglichkeit zu zeigen, dass Umwelt-schutz zu mehr Effizienz beitragen kann und eben auchKosten spart.Wir als Bund wollen deshalb ein Stück weit ein Vorbildsein. Wir wünschen uns – hierbei schaue ich in RichtungOpposition –, dass Sie vielleicht bei den von Ihnen ge-führten Ländern dafür sorgen, dass das, was der Bundmacht, auch in den Landesverwaltungen umgesetzt wird.
Ich fände es zumindest sehr gut, wenn wir hier einengemeinsamen Anlauf machten; denn ich halte es für wich-tig, dass wir uns bei allem, was uns trennt, in Bezug aufdie Notwendigkeit, Ressourcen zu schonen, doch immereinig waren. Deswegen ist dieser Antrag im Umweltaus-schuss von allen Fraktionen begrüßt worden.
Europaweite Unterstützung finden wir für unsere Ideein EMAS II; denn darin wird der Anwendungsbereich derEG-Verordnung über die freiwillige Beteiligung von Or-ganisationen an einem Gemeinschaftssystem für dasUmweltmanagement und das Umweltaudit auf gewerbli-che Dienstleistungsunternehmen sowie auf die öffentlicheHand erweitert. Die Zahlen der in Deutschland zertifi-zierten Betriebe sprechen für sich. Allein 1 900Ökoaudit-Standorte gibt es in der Bundesrepublik. Das sind 75 Pro-zent aller Registrierungen in Europa. Damit nimmtDeutschland eine Vorreiterrolle und auch eine Vorbild-funktion beim Ökoaudit ein.Doch das bundesdeutsche und europäische Ökoauditkann nur dann wirklich erfolgreich sein, wenn europaweiteinheitliche Kriterien und Maßstäbe geschaffen werdenund wenn das Instrument auch bei den europäischenNachbarn mehr Akzeptanz erhält. Das soll nun mit EMASII geschehen. Damit werden gleichzeitig mehrere Zieleverfolgt. Wir wollen zum Beispiel, dass das Verhältniszwischen EMAS und den internationalen ISO-Normenendlich bereinigt wird. Wer zum Beispiel die höherwerti-ge Anforderung erfüllt hat, erwirbt die ISO-Zertifizierungautomatisch. Wir wollen, dass ein Logo eingeführt wird.Wir wollen mehr Öffentlichkeitswirksamkeit, mehrTransparenz, aber auch mehr Kohärenz bei der Umsetzungin den einzelnen Mitgliedstaaten.
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Marion Caspers-Merk9167
In einer Beschlussempfehlung des Umweltausschusseshaben wir uns dafür ausgesprochen, dass wir diese Ele-mente bei einer Novellierung auf der europäischen Ebe-ne durchsetzen wollen. Es bestand in einigen PunktenÜbereinstimmung. In anderen Punkten konnten wir unsnicht einigen. Frau Kollegin Homburger, es ist klar, dassder Antrag der F.D.P. natürlich noch weiter gehende For-derungen stellt, zum Beispiel bei der Absenkung der Stan-dards bei Genehmigungen und bei der Kontrolle undÜberwachung von Betrieben. Diese sind aber mit den Re-gelungen und Erfahrungen mit dem Ökoaudit nicht zu be-gründen und werden deshalb von uns abgelehnt.Wenn man sich einmal anschaut, was angesichts der ge-meinsamen Beschlüsse im Umweltausschuss von IhremAntrag übrig bleibt, dann kann man nicht begreifen, war-um Sie Ihren Antrag noch zur Abstimmung stellen; dennes handelt sich nur noch um wenige Forderungen, die ei-gentlich das Einbringen dieses Antrages nicht begründen.
Es wäre für uns wichtig gewesen, wenn wir hinsicht-lich unserer gemeinsamen Forderungen bezüglich Euro-pa enger zusammengearbeitet hätten; denn alle Parteiensind bestrebt, die Attraktivität des Ökoaudits zu erhöhen.Alle haben nämlich erkannt, dass dies eine neue Form desPublic Managements sein wird.Es gilt, dieses neue Instrument voranzubringen und zuunterstützen. Zielführend ist dabei sicherlich die gemein-same Beschlussempfehlung des Ausschusses und der An-trag der Regierungsfraktionen zum Umweltcontrolling.Dieses neue Instrument verbessert auch die Akzeptanz beiden Betrieben dadurch nämlich, dass die öffentlicheHand im besten Sinne das vormacht, was sie von allen an-deren – Betrieben, Bürgerinnen und Bürgern – einfordert.Deswegen haben wir mit dem vorgelegten Antrag und mitunserer gemeinsamen Entschließung im Umweltaus-schuss dafür Sorge getragen, dass dieses moderne Ma-nagementinstrument endlich die Verbreitung erfährt, diees verdient.
Ich wünsche mir, dass im Zusammenhang mit demUmweltcontrolling und Umweltmanagementsystem dersperrige Begriff Ökoaudit, über den viele Geschäftsfüh-rer, aber auch viele andere stolpern, in Deutschland durcheinen besseren Begriff ersetzt wird, damit jedem klar ist,was damit gemeint ist.Lassen Sie mich noch eine kritische Bemerkung ma-chen. Natürlich wendet sich der Antrag zunächst einmalan Ministerien und Bundesbehörden. Aber auch im Par-lament und in der Verwaltung ist diesbezüglich einiges zutun. Vielleicht haben wir dort einen Anstoß zur Verände-rung gegeben.Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Bernward Müller von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was lange währt, wirdendlich gut, sagt jedenfalls der Volksmund. Ich kann mirallerdings nicht vorstellen, dass diese Weisheit auf unserjetziges Thema, das Ökoaudit, zutrifft. Vielmehr drängtdie Zeit.Möglichst vielen Unternehmen die Möglichkeit zugeben, sich am Ökoaudit zu beteiligen, die Attraktivitätdieses freiwilligen Umweltmanagements zu steigern,seine Effizienz zu erhöhen sind Ziele, die wir fraktions-übergreifend gemeinsam verfolgen.
Die Debatte, die wir heute endlich führen, hätte ich mirzu dem Zeitpunkt gewünscht,
als wir in diesem Hause die Umweltpolitik der Bun-desregierung debattiert haben. Darf ich daher die Damenund Herren von der Regierungskoalition, auch wenn es Sieschmerzt,
noch einmal an die Aktuelle Stunde vom 16. März erin-nern? Damals mussten Sie sich zu Recht den Vorwurfgefallen lassen, dass die Bilanz Ihrer bisherigen Umwelt-politik schlichtweg jämmerlich ist.
Der Umweltsachverständigenrat war in seinem neutralenGutachten zu dem Schluss gekommen: „Unter einembündnisgrünen Umweltminister bestehen erhebliche Män-gel beim Naturschutz.“Auch die jetzige Debatte um EMAS und den Antrag derF.D.P. zur Steigerung der Attraktivität des freiwilligenUmweltaudits ist ein passendes Beispiel für die Untätig-keit ebendieser rot-grünen Regierung.
Unstrittig ist: Das Ökoaudit ist ein wichtiges Instru-ment der freiwilligen betriebsinternen Selbststeuerungvon Unternehmen. Folgt man dem aktuellen Umweltgut-achten, so könnten wir uns in Deutschland auf die Schul-tern klopfen. Es wurde gerade schon gesagt: Etwa 75 Pro-
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Marion Caspers-Merk9168
zent aller in der EU registrierten EMAS-Standorte befin-den sich in Deutschland. Das sind rund 2 300 Unterneh-men. Das ist ein Ergebnis, das größtenteils unter der altenBundesregierung erreicht wurde.
Doch dieser Befund ist durchaus kein Anlass zumSchulterklopfen. Vielmehr zeigt er, dass sich EMAS in Eu-ropa – von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen – nichtetablieren konnte. Auch in Deutschland nimmt die Zahlder nach der weniger strengen Norm ISO 14001 regis-trierten Unternehmen immer weiter zu. Es ist höchsteZeit, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Darauf zieltder Antrag der F.D.P. Er wurde, meine Damen und Her-ren von Rot-Grün, schon im März des vergangenen Jah-res in Druck gegeben.Was ist seitdem passiert? Im Juni, drei Monate später,wurde über den Antrag im Plenum debattiert. Im Novem-ber wurde der Antrag im Umweltausschuss mit Mehrheitder Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und derPDS abgelehnt. Nun, ein Jahr später, wird diese Be-schlussempfehlung hier im Plenum behandelt.
Währenddessen sinken die Zertifizierungen nach EMAS-Grundsätzen und die weniger anspruchsvolle ISO 14001setzt sich in Europa durch. Ich frage Sie: Entspricht dasnoch den hehren Zielen gerade der Umweltpolitik derGrünen? Lösen Sie damit Ihren Anspruch ein, die Umwelt-politik aufzuwerten?
Nein, meine Damen und Herren von den Regierungs-fraktionen, bei Ihrer Orientierung auf Ökosteuer und ver-meintlichen Atomausstieg, der irgendwie nicht so rechtstattzufinden scheint,
haben Sie viele andere wichtige Aspekte der Umweltpoli-tik einfach verschlafen.
Ihr umweltpolitisches Handeln beschränkt sich auf Be-standsaufnahmen, Ankündigungen und Absichtserklärun-gen. Regieren heißt aber, Verantwortung zu übernehmen,heißt handeln und dazu fehlen Ihnen der Mut und gewissauch die Kompetenz.
NennenSiemir zumBeispiel einenGrund,warumSie–entgegen Ihren Ankündigungen in der Beschlussempfeh-lung zum F.D.P.-Antrag – immer noch nicht die Umset-zung der IVU-Richtlinie in ein Artikelgesetz vorgenom-men haben, und das, obwohl Sie wissen, dass die Fristmittlerweile schon abgelaufen ist. Sie haben auch dasganz einfach verschlafen.
– Sie haben es ja aufgenommen. Sie haben sich selbst fest-gelegt.Jetzt antworten Sie, man arbeite daran, einschlägigeFachgesetze seien „baldmöglichst“ zu erwarten. Aber ichfrage Sie: Was ist „baldmöglichst“? Ich denke, in Anleh-nung an Ihren „sofortigen“ Atomausstieg kann uns beiIhrem „baldmöglichst“ vom Tempo her auf jeden Fallnicht schwindelig werden.
Übrigens: Auch die Umweltministerkonferenz hat imOktober des letzten Jahres auf die Wichtigkeit einer sol-chen rechtlichen Klärung hingewiesen – die Länder han-deln ja mittlerweile – und hat die Umsetzung der IVU-Richtlinie und die damit verbundene Privilegierungsver-ordnung zum Ökoaudit angemahnt.
Ich denke, dass es notwendig ist, auch das Umwelt-managementsystem weltweit einzuführen und zu unter-stützen bzw. seine Einführung zu beschleunigen. Deregu-lierung ist ein entscheidender Schlüssel zur Steigerung derAttraktivität dieser Systeme. Deregulierung setzt aberVerantwortung und Vertrauen in das umweltgerechteHandeln der registrierten Unternehmen voraus. Dazu,meine Damen und Herren, sind Sie aus ideologischenGründen nicht bereit und auch nicht fähig.Wenn wir an die großen Erfolge von Ökoaudit unter derletzten Bundesregierung anknüpfen wollen, können wirmit den notwendigen Veränderungen nicht warten, bissich auch das letzte EU-Land am EMAS beteiligt.
Verfestigt sich die Stagnation, die wir schon heute bei derZertifizierung von Unternehmen zu verzeichnen haben,wird das ganze Managementsystem gefährdet. Es bestehterheblicher Handlungsbedarf, und zwar muss das zügiggeschehen.Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, stimmen demAntrag der F.D.P. zu, weil er in die richtige Richtungweist. Ich nenne drei Punkte:Erstens. Vernetzung von ISO 14001 und Ökoaudit, so-dass Aufwendungen für eine doppelte Bearbeitung durchdie Unternehmen entfallen.
Herr Kol-lege Müller, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kolle-gen Paziorek?
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Bernward Müller9169
Ja.
Bitte
schön, Herr Paziorek.
Lieber Kollege
Müller, stimmen Sie mir zu, dass es ein Zeichen für den
geringen Einsatzwillen der Regierung ist, dass bei diesem
wichtigen Umweltthema kein Vertreter der Bundesregie-
rung anwesend ist, und dass es bedauerlich ist, dass die
Bundesregierung hier dokumentiert, dass dieses Thema
nicht gerade wichtig genommen wird?
Lieber Kolle-
ge Paziorek, ich stimme Ihnen selbstverständlich zu. Wir
konnten in der letzten Woche bereits feststellen, dass Um-
weltminister Trittin eigentlich nur ein Thema verfolgt,
nämlich den Ausstieg aus der Atomenergie. Bei anderen
Debatten fehlt ihm das nötige Engagement und das merkt
man auch heute hier.
Ich will den zweiten Punkt nennen, der notwendig ist
– deshalb unterstützen wir den Antrag der F.D.P. –: Es sind
das die Deregulierungsmaßnahmen, natürlich verbunden
mit Entbürokratisierung. Ich kann mich an die Debatte mit
Herrn Kollegen Hermann erinnern, der darauf hingewie-
sen hat, wie wichtig der Unterschied zwischen Deregu-
lierung und Entbürokratisierung ist.
Außerdem brauchen wir Erleichterungen bei den
Genehmigungsverfahren.
Es hat sich auch gezeigt, dass es sich aus umweltpoli-
tischen Gründen empfiehlt, Ökoaudit-Betrieben Voll-
zugserleichterungen zu gewähren. Alles in allem müssen
wir doch hier feststellen: Unsere Unternehmen brauchen
mehr Anreize zur Teilnahme am Ökoaudit.
DieerweitertenForderungenderRegierungskoalition–
deswegen können wir Ihrem Antrag nicht ohne weiteres
zustimmen – zum Beispiel an die Verfügbarkeit der Um-
welterklärung oder die Überprüfungsverschärfung der re-
gistrierten Betriebe sind nicht teilnahmefördernd, son-
dern stellen den Unternehmen neue bürokratische Hürden
in den Weg.
Herr Kol-
lege Müller, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Loske?
Bitte.
Bitte
schön.
Ich möchte Sie fragen, Herr Abgeordneter Müller, ob Sie
mit mir der Meinung sind, dass die Anwesenheit der
Staatssekretärin Altmann aus dem Umweltministerium
ein deutlicher Ausdruck der Tatsache ist, dass sich das Um-
weltministerium sehr für dieses Thema interessiert.
Herr Loske,ich muss feststellen: Als Herr Paziorek auf das Fehlen derRegierungsvertreter hingewiesen hat, war die KolleginAltmann nicht anwesend.
Kommen wir zurück zum Thema. Unter den Verbesse-rungswünschen der Teilnehmer am Ökoaudit rangierengerade ein verändertes Verhältnis zu den Behörden und dieadministrative Entlastung durch die Reduzierung von ge-setzlichen Mess- und Berichtspflichten ganz vorn. Dassollte uns ein Alarmzeichen sein, hier endlich tätig zu wer-den.Denken Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün,doch einmal über eine Begünstigung der auditierten Be-triebe im Rahmen Ihres Lieblingsthemas, der Ökosteuer,nach. Denken Sie auch über die Behebung eines weiterenviel bemängelten Defizits nach: des geringen Bekannt-heitsgrades dieser Zertifizierung in der Öffentlichkeit.Nach einer repräsentativen Umfrage des Umweltbun-desamtes im letzten Herbst herrscht hier erheblicher Ver-besserungsbedarf. Vielleicht eine Empfehlung: Noch bes-ser wäre es, Sie denken nicht nur, sondern handeln bei die-ser Gelegenheit auch einmal, am besten zügig undverantwortungsvoll für die Umwelt, wie Sie es IhrenWählern versprochen haben.Noch etwas zum Schluss: Ich denke, mehr als in einemkurzen Schlusswort braucht man auf Ihren eingangs soausführlich dargestellten Antrag nicht einzugehen. Wennich Ihnen auch Handlungsarmut und Untätigkeitvorgeworfen habe, so haben Sie es doch geschafft, nochkurz vor dieser Debatte im März einen Antrag zum The-ma „Umweltcontrolling und Umweltmanagement in Bun-desbehörden“ einzubringen. Wir unterstützen diesen An-trag.
Das haben Sie schon erwähnt und das haben wir auch imAusschuss so besprochen. Unverständlich und – das sageich ganz deutlich – nicht nachahmenswert ist aber, dass Siedie Wahl zwischen EMAS II und ISO 14001 offen lassen.Ich hätte mir da schon gewünscht, dass Sie EMAS auf-grund seiner Bedeutung definitiv für verbindlich erklärthätten.
Dass Sie das nicht getan haben, kann ich mir nur soerklären, dass Sie von der europäischen Norm selber nichtmehr überzeugt sind.
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Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Winfried
Hermann vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Lieber Herr Müller, ich bin immer wieder aufs Neue über-rascht, mit welchem Engagement, mit welcher Begeiste-rung und mit welcher Ungeduld die CDU/CSU – zumin-dest ein kleiner Kreis – Umweltpolitik macht, seit Sie inder Opposition sind. Seit Sie nichts mehr tun können,wollen Sie immer etwas tun.
Sie zitieren immer mit großer Freude den Sachver-ständigenrat fürUmweltfragen. Ich muss sagen: Sie ha-ben Glück, dass sich der Sachverständigenrat für Um-weltfragen nie mit der Umweltpolitik der Opposition be-schäftigt hat, denn dann würden Sie ein sehr kritischesUrteil bekommen.
Aber nun zur Sache und zu den vorliegenden Anträgen.Lange Zeit hat man im Umweltschutzbereich davon ge-sprochen, dass die nachsorgende Technik extrem teuer ist.Das war oft ein betriebswirtschaftliches Argument gegendie Verbesserung. Seit einigen Jahren, seit es Umwelt-managementsysteme, seit es das Ökoaudit gibt, wird inden Betrieben und auch in den Verwaltungen umgedacht,weil man erkennt, dass durch ökologisch orientiertesManagement gut gewirtschaftet, ja sogar gespart werdenkann.Meine Kollegin Caspers-Merk hat darauf hingewiesen,dass zahlreiche Kommunen zum Beispiel im Rahmen vonlokalen Agendaprozessen deutlich gemacht haben, wieman durch Investitionen im Energiebereich sparen kann,wie man aber auch dadurch, dass man untersucht, wie Ma-terialströme bzw. Beschaffungsvorgänge aussehen, er-heblich Geld sparen und zugleich ökologisch wirtschaf-ten kann.
Privatwirtschaftliche Betriebe haben dadurch, dass sieihre Betriebsprozesse analysiert haben, gezeigt, wo übe-rall Material flöten geht, unnötig verbraucht oder vielleichtauch falsches Material eingesetzt wird. Nach einem sol-chen Ökoauditprozess kommen sie unter Umständendazu, dass man in dem einen oder anderen Bereich Mate-rial, Energie oder Rohstoffe sparen kann. Alle diejenigen,die diese Zertifizierung durchlaufen, stellen fest: Wirkönnen damit, betriebswirtschaftlich gesehen, Gewinnmachen. Das ist gut so.Im Moment läuft ja auf EU-Ebene – Herr Müller, jetztkommt ein Stück weit die Antwort auf Ihre Frage – derProzess EMAS II, in den wir uns eingemischt und zu demwir Vorschläge gemacht haben. Es ist überhaupt nicht so,wie Sie konstruiert haben, dass wir eher auf die ISO-Norm setzen und EMAS II beiseite lassen. Im Gegenteil:Wir haben schon immer die Position vertreten, dass dasanspruchsvolle Verfahren der EU erhalten bleiben sollund das andere zwar dazu passen, aber eben nur ein Teil-baustein sein soll. Daran hat sich nichts geändert; dazu ste-hen wir.
Aber Sie wissen auch, dass dies ein komplexes Verfahrenist und es jetzt wieder an die EU zurückverwiesen wordenist. Wir müssen nun das endgültige Ergebnis abwarten.Jetzt zu unserem Antrag hinsichtlich eines Umwelt-controllings und Umweltmanagements in Gebäuden derBundesregierung bzw. in Anlagen des Bundes: Ich mei-ne, es ist höchst überfällig, dass wir in diesem Feld tätigwerden. Herr Müller, jetzt muss ich doch noch einmal Sieund damit die CDU/CSU insgesamt und die F.D.P. an-sprechen: Es ist nicht unser Problem, dass Sie es währendIhrer 16 Regierungsjahre nie geschafft haben, in den Lie-genschaften des Bundes eine ordentliche Ökobilanz auf-zustellen und ein ordentliches Umweltmanagement auf-zubauen. Das hätten Sie doch 16 Jahre lang tun können.
Wir machen jetzt einen Vorschlag. Jammern Sie also nichtherum, sondern folgen Sie unserem Anschlag
– ich wollte sagen: Antrag – mit Begeisterung!
Nun zum Antrag der F.D.P. im Hinblick auf ein Öko-audit.
– Dies ist in Teilen ein Anschlag auf die Umweltpolitik.Ich sehe das aber nicht so harmlos wie Frau Caspers-Merk. Es gibt viele Punkte, in denen wir Ihnen von derF.D.P. zustimmen; das ist keine Frage. Aber es gibt auchhochproblematische Punkte: Sie schlagen zum Beispielvor, dass ökoauditierte Betriebe vom Genehmigungsver-fahren ausgenommen, also gesondert behandelt werdensollen. Aus meiner Sicht – andere Experten sehen das ähn-lich – ist dies absolut unmöglich, weil es zum Kernbereichder IVU-Richtlinie gehört, dass gerade dies einheitlichgeregelt wird und es keine Ausnahmeregelung gibt. Sieschlagen ausdrücklich vor, das zu tun. Das wäre ein kata-strophaler juristischer Fehler.Sie schlagen ferner zahlreiche Möglichkeiten vor, wieman die Genehmigungsverfahren erleichtern kann. Wirstimmen Ihren Vorschlägen da zu, wo das Verfahren ent-
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Bernward Müller9171
bürokratisiert bzw. vereinfacht werden soll. Aber ich fra-ge mich: Warum schlagen Sie eigentlich vor, ein ausge-sprochen einfaches Verfahren, nämlich die elektronischeFernüberwachung, abzuschaffen? Das ist nun einmal ei-ne unbürokratische Regelung, zu der ich sagen muss: Dasist die einfachste Form der hoheitlichen Überwachung vonBetrieben und das ist doch nur recht und billig.
Hieran kann man erkennen: Es geht Ihnen offensichtlichnicht um eine Qualitätsverbesserung. Sie nehmen im Na-men der Deregulierung sogar eine Verschlechterung inKauf.
Deswegen sage ich es noch einmal: Unser Ziel im Um-weltbereich ist nicht die Deregulierung, sondern die Ent-bürokratisierung vieler Punkte in diesem Bereich, die zuIhrer Regierungszeit über Jahre hinweg aufgebaut wordensind. Ich sage Ihnen auch konkret, wo ich mir Erleichte-rungen vorstellen kann: zum Beispiel bei den Berichtspe-rioden. Die Abfassung von Berichten muss nicht immerinnerhalb der bisherigen Fristen erfolgen. Ich glaube,auch die Vielzahl der Messungen ist zum Teil unange-messen. Ich glaube, dass die bestehenden Parameter oftviel zu kompliziert sind und dass es einfacher ginge. Ichglaube auch, dass man bei der Kalibrierung und der Artdes Messens auf die Eigenverantwortung der Betriebesetzen sollte.Für uns – um es der F.D.P. einmal klar zu sagen – ist dieEigenverantwortung von Betrieben im Umweltschutz-bereich kein Tabu. Ein Tabu besteht allerdings dann, wennes um die Standards geht. Diese dürfen über Ökoauditnicht unterlaufen werden, und die Steuerung und Kontrolledurch die öffentliche Verwaltung dürfen nicht über Ökoau-dit quasi ausgehebelt werden. Das machen wir nicht mit.
Ich komme zum Schluss. Das Ziel sowohl unseres An-trags zum Umweltcontrolling und Umweltmanagementals auch unserer Initiativen zum Ökoaudit war, den Um-weltschutz voranzutreiben und zugleich den Unternehmenbetriebswirtschaftliche Möglichkeiten dafür zu eröffnen.Das Gleiche gilt für die Verwaltung, für die öffentlicheHand, im Bereich der Bundesliegenschaften.
Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zu diesemHohen Haus sowie zu den Bürogebäuden der Abgeordne-ten und damit ein persönliches Wort an den Präsidenten,stellvertretend für unser Haus. Ich empfinde es als ausge-sprochen peinlich, dass es inzwischen selbstverständlichist, dass auf jedem Flughafen und jedem Bahnhof ein Ab-falleimer steht, der die Möglichkeit bietet, den Abfallmindestens in vier Kategorien zu trennen, in den Büroge-bäuden der Bundestagsabgeordneten aber noch Müllei-merzustände wie vor zehn Jahren herrschen.
– In den meisten Bürogebäuden ist es so, wie ich gesagthabe, auch hier im Reichstag.Die Abgeordneten sollten ein Vorbild sein. Sie müssenaber auch in die Lage versetzt werden, vorbildlich sein zukönnen. Dies ist ein Auftrag an die Bundestagsverwaltungund an die Bundesregierung, auch in diesem Bereich vor-bildlich zu werden.
Vielen Dank.
Zu einerKurzintervention gebe ich der Kollege Gila Altmann vomBündnis 90/Die Grünen das Wort.Gila Altmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Herr Kollege Müller, ich möchte mich zunächstdafür entschuldigen, dass ich ein dringendes Bedürfnisverspürt habe – wozu, muss ich, so glaube ich, nicht aus-führen –
und deshalb den Saal verlassen habe. Gleichzeitig möch-te ich Sie, Herr Paziorek, dazu beglückwünschen, dass Sieso aufmerksam waren, dies auch festzustellen.Es ist allerdings nicht entschuldbar, dass Sie daraufhinunterstellt haben, dies ließe auf Desinteresse schließen.Der Bundesregierung, namentlich Herrn Trittin, habenSie unterstellt, man habe neben der Atompolitik keineweiteren Interessen.
Ich möchte Ihnen nur zur Kenntnis geben, was Sie ei-gentlich hätten wissen können – aber Wissenslücken sindkein Vergehen schwerwiegender Art –,
nämlich dass sich HerrMinister Trittin zurzeit dienstlich –er ist offiziell entschuldigt – in Japan aufhält. Er ist aufdem G-8-Treffen und kümmert sich um den Klimaschutz.Zudem ist er auch um den Artenschutz bemüht; denn inNairobi hat gerade die Artenschutzkonferenz begonnen.
Das, so denke ich, ist Grund genug, ihn hier zuentschuldigen.Ich werde mich nun wieder auf die Regierungsbank be-geben und möchte Sie bitten, mich im Blickfeld zu be-halten.
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Winfried Hermann9172
Danke schön.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Birgit Homburger von der F.D.P.-
Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Altmann, es wä-re besser gewesen, der Herr Minister wäre nicht nur nachJapan gefahren, um an der Konferenz teilzunehmen, son-dern auch, um einen Vorschlag zur Klimaschutzpolitik zumachen. Wir haben ihm einen Vorschlag unterbreitet, dener hätte mitnehmen können. Dies wäre natürlich viel er-freulicher gewesen als der Umstand, dass er nur dort hin-gefahren ist, um an der Konferenz teilzunehmen.Jetzt zu dem Thema, das wir heute im Plenum disku-tieren, zum Ökoaudit: Liebe Frau Caspers-Merk, Sie ha-ben 90 Prozent Ihrer Redezeit darauf verwendet, über ei-nen Antrag zu reden, den Sie noch ganz kurz vor Tores-schluss eingebracht haben,
nämlich den Antrag „Umweltcontrolling und Umwelt-management in Bundesbehörden und Liegenschaften“.Ich kann nur sagen: Das hat recht lange gedauert.Wir vonseiten der F.D.P. haben schon im März letztenJahres einen Antrag zum Kernpunkt eingebracht. Und derKernpunkt ist die Frage: Wie können wir das absolut sinn-volle Instrument des Ökoaudits in die Lage versetzen, dasses wieder stärker genutzt wird, dass es wieder an Attrak-tivität gewinnt? Sie aber, Frau Caspers-Merk, haben90 Prozent Ihrer Zeit daran vorbeigeredet.
Vor allen Dingen geärgert hat mich, dass Sie sich hierhingestellt und gesagt haben, der Antrag zum Umwelt-controlling und Umweltmanagement würde den Fort-schritt in der Umweltpolitik in Deutschland bedeuten. Wirhaben die Sache über die Ideologie gestellt und, da Sie genSchluss keinen gemeinsamen Antrag wollten, dem Antragvon der SPD und den Grünen zugestimmt.
Wir sind schließlich in diesem Punkt mit Ihnen einer Mei-nung.Aber es nützt natürlich nichts, wenn wir bei Bundes-behörden im Umweltbereich etwas erreichen, aber gleich-zeitig in Kauf nehmen, dass das Ökoaudit im Kernbereich,nämlich bei den Unternehmen, wo wir wirklich viel er-reichen können, weniger genutzt wird, weil es überregu-liert und mit zu viel Bürokratie verbunden ist.Deswegen ist unser Antrag in keiner Weise veraltet. Esgeht auch nicht nur noch um ein paar übrig gebliebenePunkte. Nein, unser Antrag ist nach wie vor aktuell, weildie ISO-Norm 14001 mit ihren geringeren Umwelt-anforderungen sich im Augenblick hoher Beliebtheiterfreut und damit das Ökoaudit sozusagen aus dem Ren-nen schlägt. Das Ökoaudit steht immer mehr unterKonkurrenzdruck. Deswegen bedarf es neuer Impulse,um das Ökoaudit zu retten.Herr Kollege Hermann, nach vielen Gesprächen, diewir mit auditierten Betrieben geführt haben, muss ich Ih-nen sagen: Deregulierung ist das einzige Mittel, um demUmweltaudit Überlebenschancen zu bieten. Wir fordernnach wie vor die Erleichterung bei den Genehmigungs-verfahren sowie Entlastungen bei Berichtspflichten, beiNachweisverfahren und bei der Überwachung zertifi-zierter Betriebe. Jawohl, wir bleiben dabei.
Frau Caspers-Merk, es geht nicht nur um ein paar übriggebliebene Punkte. Nein, dies ist der Kernbereich dessen,was überhaupt helfen könnte, um das Umweltaudit zu ret-ten.
Das ist der Unterschied: Sie doktern wieder am Randeherum; wir haben Änderungen im Kernbereich beantragt.Herr Kollege Hermann, Sie sagen, das sei ein kata-strophaler juristischer Fehler. Das sehen wir überhauptnicht so. Das wäre organisierbar, wenn man das wollte. Esgeht mitnichten darum, Standards zu senken. Die Betrie-be, die ein Ökoaudit machen, tun dies, um die Umweltsi-tuation zu verbessern, und nicht, um sie zu verschlechtern.
Wenn im Rahmen eines Ökoaudits nachgewiesen wird,dass gesetzliche Auflagen eingehalten werden, warumbrauchen wir dann noch staatliche Überwachung?
Auch wenn eine staatliche Überwachung ausnahmsweiseeinmal einigermaßen effizient organisiert wird, ist sie dochüberflüssig, wenn der Nachweis schon auf anderem Wegeerbracht wurde.
Deswegen halten wir daran fest.Kurz und gut: Liebe Kolleginnen und Kollegen, auchaus Ihren eigenen Reihen, beispielsweise von Nieder-sachsens Umweltminister Jüttner, werden Lockerungenfür so genannte Ökoauditbetriebe verlangt. Wir könnennicht auf EMAS II warten. Wenn wir darauf warten, istdas Instrument Ökoaudit kaputt. Deswegen fordere ich Sieauf, unseren Deregulierungsforderungen zuzustimmen.Wenn Sie das Instrument ernst nehmen, dann müssen Sieden Antrag der F.D.P. heute beschließen.
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Gila Altmann9173
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Eva-Maria Bulling-Schröter von
der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der F.D.P. fordert
umfangreiche Öffnungsklauseln für einzelne Bereiche
des Umweltaudits – wir haben sie bereits gehört – unter
dem Motto: Wer etwas leistet, soll belohnt werden.
Nun wäre erst einmal festzustellen, dass das Umwelt-
audit nun nicht gerade das Instrument ist, welches in den
teilnehmenden Unternehmen die grüne Revolution aus-
brechen lässt. Ich denke, da stimmen wir überein.
Zum einen prüfen die Gutachter nicht, ob sich die Um-
weltverträglichkeit der Produktion, die durch die Instal-
lierung von Umweltmanagementsystemen und Umwelt-
programmen verbessert werden soll, tatsächlich verbessert
hat. Das ist auch nicht ihre Aufgabe. Sie kontrollieren nur,
ob die Umwelterklärungen formal eingehalten werden
und ob die Managementsysteme funktionieren. Das ist ein
kleiner Unterschied. Dass die Beteiligung und Informati-
on der Öffentlichkeit in diesem Verfahren ausgeschlossen
sind, versteht sich von selbst.
Zum anderen geht es nicht darum, ob das Produkt wirk-
lich ein ökologisches ist. So ist es möglich, dass sich zum
Beispiel Großbetriebe mit tonnenschweren, Ressourcen
schluckenden Produkten einen blitzsauberen Umwelt-
auditengel ans Firmenschild pappen dürfen.
Drittens sind die Gutachter wie die Gutachteraufsicht
nicht wirklich unabhängig, sondern letztlich Produkt der
Wirtschaft.
Im Rahmen des Ökoaudits versprachen sich die betei-
ligten Unternehmen eine Reihe von Erleichterungen bei-
spielsweise in Genehmigungs- und Nachweisverfahren.
Einige haben sie auch bekommen. Doch da durch die
Beschleunigungsgesetze in diesem Bereich ohnehin viel
dereguliert wurde und da das aufwendige Audit viel Pa-
pier produziert, hält sich der Anreiz, bei diesem System
mitzumachen, nun in Grenzen. Deshalb soll jetzt richtig
Butter an die Fische.
Unter anderem sollen nach dem F.D.P.-Antrag Betrie-
be bestimmte obligatorische Messungen und Funktions-
überprüfungen selbst vornehmen können, die vorher
durch die Behörden durchgeführt wurden. Sellafield
lässt grüßen!
Auch Prüfungen von Abfallwirtschaftskonzepten und
-bilanzen sollen durch die Verpflichteten selbst durchge-
führt werden können. Die Müllmafia wird sich darüber
nicht ärgern. Emissionsfernüberwachungen sollen bei
registrierten Standorten entfallen. Das ist interessant,
denn gerade die Emissionsfernüberwachung ist selbst im
Musterland der Liberalisierung, in den USA, eines der
wichtigsten Instrumente der Umweltinformation und Um-
weltkontrolle. Darüber hinaus ist sie tatsächlich effizient
und unbürokratisch und – da oft über Internet für jeden zu-
gänglich – ein Element der Bürgerbeteiligung.
Insgesamt, so scheint es, wendet sich die Wirtschaft ge-
gen wirksame Umweltkontrollen, zumindest legt dieser
Antrag den Verdacht nahe. Das lehnen wir ab. So blauäu-
gig wollen und können wir nicht sein. Und das meint im
Übrigen auch der Umweltrat.
Danke.
Ichschließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zuder Unterrichtung durch die Bundesregierung zu einemVorschlag für eine Verordnung des Rates über dieBeteiligung von Organisationen an einem Gemein-schaftssystem für das Umweltmanagement und die Um-weltbetriebsprüfung, Drucksache 14/1131. Der Aus-schuss empfiehlt die Annahme einer Entschließung. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –Enthaltungen? – Dann ist die Beschlussempfehlung mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung derFraktion der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU undF.D.P. angenommen.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zudem Antrag der Fraktion der F.D.P. zur Erhöhung der At-traktivität des freiwilligen Umweltaudits durch Deregu-lierung, Drucksache 14/2030. Der Ausschuss empfiehlt,den Antrag auf Drucksache 14/570 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da-gegen? – Wer enthält sich? – Dann ist diese Beschluss-empfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenund den Stimmen der PDS-Fraktion gegen die Stimmenvon CDU/CSU und F.D.P. angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen zumUmweltcontrolling und Umweltmanagement in Bundes-behörden und -liegenschaften, Drucksache 14/2907. Werstimmt für diesen Antrag? – Die Gegenprobe! – Enthal-tungen? – Dieser Antrag ist bei zwei Enthaltungen aus denReihen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a) und 10 b) auf:a) Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenUlrich Heinrich, Ulrike Flach, Hildebrecht Braun
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der F.D.P.Chancen derGentechnik als Schlüsseltechnolo-gie des 21. Jahrhunderts– Drucksachen 14/678, 14/2942 –
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Birgit Homburger9174
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit
– zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Entscheidung des Rates überdas vorläufige Verbot des Verkaufs von gene-tisch verändertem Mais mit kom-binierter Änderung der Insektizidei-genschaften aufgrund des BT-Endotoxingensund erhöhterToleranz gegenüber dem HerbizidGlufosinatammonium in Österreich– zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Entscheidung des Rates überdas vorübergehende Verbot der Verwendungund des Verkaufs von genetisch verändertemMais mit kombinierter Ände-rung der Insektizideigenschaften aufgrund desBT-Endotoxingens und erhöhter Toleranz ge-genüber dem Herbizid Glufosinatammoniumim Großherzogtum Luxemburg– Drucksachen 14/74 Nr. 2.7, 14/74 2.4, 14/838 –Berichterstattung:Abgeordnete René RöspelFranz ObermeierDr. Reinhard LoskeUlrike FlachEva-Maria Bulling-SchröterEs liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion derF.D.P. und der Fraktion der PDS vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei dieF.D.P. acht Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi-derspruch; dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat dieKollegin Ulrike Flach von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Es hätte nicht viel gefehlt, und wir hätten dieAntwort auf die Große Anfrage der F.D.P.-Fraktion zuChancen der Gentechnik als Schlüsseltechnologie am ers-ten Jahrestag ihrer Einreichung besprechen müssen. Fastein Jahr hat sich diese Regierung mit einer Antwort Zeitgelassen, die für diese wichtige Branche von großer Be-deutung ist, weil sich Unternehmen, Wissenschaft und Ar-beitnehmer endlich Klarheit darüber erhoffen, wie dieseRegierung zur Gentechnologie steht.Seit Jahren hören wir von SPD und Grünen in Bund undLändern mal euphorische Aussagen, mal finstere Kata-strophenprognosen. Meine Damen und Herren, es wurdeZeit, dass Sie sich endlich einmal festlegten.Die Antwort der Bundesregierung findet in vielen Ein-zelheiten unsere Zustimmung. Auch wir sehen in der Gen-und Biotechnologie Schlüsselbereiche für künftige Inno-vationen,
halten sie für wichtig für die deutsche Wettbewerbs-fähigkeit, messen ihr einen großen Stellenwert für denUmweltschutz bei, freuen uns über die vielen neuen Ar-beitsplätze gerade in kleinen und mittleren Unternehmenund stimmen zu, wenn Sie sagen, dass die Ausgaben fürForschung und Entwicklung unter einem MinisterRüttgers zu gering waren.
Meine Damen und Herren, Deutschland steht – auchdas steht in der Antwort – erst am Anfang des Biotechno-logie-Zeitalters. Wir hoffen mit Ihnen auf einen schnellenAbschluss der Novellierung der Freisetzungsrichtlinie90/220 der EU und lehnen Kriterien, die nicht wissen-schaftlich begründet sind, ab. Wir haben deshalb in unse-rem Antrag Aussagen der Bundesregierung verwendetund sind sehr gespannt darauf, ob auch die Koaliti-onsfraktionen diesen Aussagen zustimmen.Meine Damen und Herren, wir Liberalen wollen einenschnellen Ausbau des Bio- und Gentechnologiesektors.Wir müssen in der Bio- und Gentechnologie die begon-nene Aufholjagd fortsetzen.
Es sind gerade kleine und mittlere Unternehmen, die inDeutschland in diesem Sektor tätig sind.
– Sie, Herr Matschie.
Wenn wir die Zulieferer und die circa 160 Anbieter vonBeratungsleistungen hinzuzählen, kommen wir – so eineStudie der BiocomAG – auf 1 337 Biotechnologiefirmen.Der Gesamtumsatz betrug 4,4 Milliarden DM. Rund dieHälfte dieser Firmen sind weniger als fünf Jahre alt. Dasist ein junger, dynamischer Wachstumsmarkt und dasErgebnis der Arbeit der alten Bundesregierung.
Ich freue mich, dass die neue Bundesregierung die Po-tenziale ähnlich sieht. Sie – ich zitiere – „erhofft sich vonder Bio- und Gentechnik neue zukunftssichere Arbeits-plätze und damit einen Beitrag zur Linderung der Ar-beitslosigkeit“. Das erhoffen wir uns selbstverständlichauch, aber das Prinzip Hoffnung allein macht es ebennoch nicht.Für die Antwort der Bundesregierung auf unsere An-frage gilt der berühmte Satz: Die Botschaft hör ich wohl,allein mir fehlt der Glaube. Denn wenn es konkret wird,wenn Sie etwas für die Entwicklung der Bio- und Gen-technologie tun könnten, dann wird behindert, verzögertund geblockt.
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In Ihrer Beschlussempfehlung zum BT-Mais, die wirnatürlich ablehnen, wenden Sie sich nicht nur gegen denKommissionsbeschluss, sondern fordern sogar noch eineVerschärfung, indem Sie generell von gentechnischverändertem Saatgut sprechen und nicht nur von Mais.Sie behaupten, dass naturbelassene Nahrungsmittelqualitativ höherwertig seien. Das ist wissenschaftlichnicht haltbar.
Der Sachverständigenrat, der TAB-Bericht und andereStudien haben immer wieder betont, gentechnisch verän-derte Nahrungsmittel seien nicht schlechter, zeigtenkeine negativen Auswirkungen auf die Biodiversität undseien als Tierfutter gut geeignet.Beim BT-Mais kann der Landwirt ein Ertragsplus voncirca 5 Prozent erzielen, Kosten für Unkrautvernich-tungsmittel sparen und damit auch ökonomisch natürlicherfolgreicher im Wettbewerb sein.Meine und Damen und Herren, Sie haben in den letz-ten Monaten der deutschen Landwirtschaft eigentlichschon genug zugemutet. Erst gestern zerschellte unserAntrag zum Agrodiesel erneut an Ihrer Entschlossenheit,diesen Berufszweig in Ihnen genehme Bahnen zu zwin-gen. Ich hätte mich gefreut, wenn Herr Grill anwesend ge-wesen wäre, dann wären wir nämlich durchgekommen.Hier beim Mais hätten Sie Gelegenheit, der deutschenLandwirtschaft unter die Arme zu greifen, statt in den al-ten Gräben der ideologischen Vorurteile zu bleiben.Natürlich sind auch wir nicht taub
im Hinblick auf mögliche Risiken. Kritiker befürchten ei-ne Übertragung von Antibiotikaresistenzen und lehnendeshalb eine Verwendung von BT-Mais ab. Diese Be-fürchtung muss man ernst nehmen und selbstverständlichwissenschaftlich überprüfen.Die Kommission für biologische Sicherheit desRobert-Koch-Institutes hat dies getan. Ich zitiere:Eine zunehmende Verbreitung des Ampicillin-Resistenzgens in Mikroorganismen durch die Ver-wendung von gentechnisch veränderten Pflanzen istnicht zu erwarten. Es ist keine Gefährdung dermenschlichen Gesundheit, der von Tieren oder derUmwelt zu befürchten.Diese Einschätzung wurde im März erneut bestätigt.Womit rechtfertigen Sie wissenschaftlich die Ablehnung?Es liegen keine neuen Erkenntnisse vor. Die Vermutungist – das ist einfach nicht von der Hand zu weisen –, dasses sich bei Ihnen nicht um rationale, sondern um reinemotional-ideologisch geprägte Entscheidungen handelt.
Wie ist es zum Beispiel mit der Kommission für Bio-logische Sicherheit? Sie hat die Entscheidung von FrauFischer, die Genehmigung für den Anbau von BT-Maiszurückzunehmen, als in der Sache unbegründet kritisiert.Immer wenn es darum geht, Wahlkampfpunkte zu ma-chen, sind Sie voll des Lobes für die Gentechnik. Ihr Ex-Kollege Schwanhold hat hier im Hause wahrscheinlich an-ders gestimmt, aber derzeit marschiert er durch Nord-rhein-Westfalen und schwärmt von den Erfolgen dieserneuen Technologie und von den Entwicklungspotenzialender Gentechnik.
Meine Damen und Herren, immer, wenn es hier imHause darum geht, die Weichen zu stellen, um genau die-se Entwicklung zu fördern, stellen Sie die Signale auf Rot;und das aus offensichtlich ideologischen Gründen. Je öf-ter langfristige Planungssicherheit politischer Willkürzum Opfer fällt, umso mehr werden Investitionen in For-schung sowie weitere Unternehmenserfolge ausbleiben.
Es ist schon erstaunlich, dass heutzutage Unternehmenihr Saatgut sogar auf Landwirtschaftsausstellungen nichtmehr einbringen können. Wir fangen schon an, darübernachzudenken. Sie schaffen eine Atmosphäre, die ganz of-fensichtlich Innovationen in diesem Land behindert. Die-se Schaukelstuhltaktik wird der Gentechnik als Schlüs-seltechnologie nicht gerecht. Das mag gut für den Koali-tionsfrieden sein. Das mag gut für Herrn Röspel sein. Gutfür zukunftsfähige Arbeitsplätze und den StandortDeutschland ist es nicht.
Der Entschließungsantrag der F.D.P. ist eine Chance fürdie Gentechnik, aber auch eine Chance für Sie, für diesesLand gemeinsam etwas zu bewegen. Folgen Sie den Ein-sichten Ihrer zuständigen Ministerien! Unterstützen Sieunseren Antrag und verlassen Sie die alten Kampfesgrä-ben. „Green Card“ allein ist etwas wenig für Innovationenin diesem Land. Hier können Sie einmal zeigen, was Ih-nen Innovation wirklich wert ist.
Ich ertei-
le jetzt der Kollegin Gudrun Schaich-Walch von der SPD-
Fraktion das Wort.
Herr Vizepräsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin von derFDP, Schnelligkeit allein ist kein Kriterium für Qualität.Auf keinem vergleichbaren Gebiet kommt es derzeit aufQualität so sehr an wie auf diesem Sektor. Wenn wir dortdurch Qualitätsmängel oder Nachlässigkeit Akzeptanzverspielen, wird es sehr lange und sehr viel länger dauern,als es Ihnen und anderen lieb ist, die Akzeptanz wiederherzustellen.
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Ulrike Flach9176
Sie erwarten von dieser Regierung – das nehme ich ein-fach an – eine umfassende Antwort. Sie konnten die Ant-wort gar nicht kritisieren. Das Einzige, was Sie kritisie-ren konnten, ist landespolitisches Handeln in einigen Be-reichen, aber nicht das, was man Ihnen tatsächlich vorlegt.Sehen Sie sich die Arbeitsmarktzahlen an, die geradeveröffentlicht worden sind. Dazu kann ich Ihnen nur sa-gen: Wir haben nach einer Regierungszeit von etwas mehrals einem Jahr die niedrigsten Arbeitslosenzahlen desMärz seit vier Jahren.
Die haben wir aufgrund unserer Politik in diesem Bereichund das werde ich Ihnen auch belegen. Ich werde es Ihnennicht anhand von Beispielen aus der Landwirtschaft bele-gen, sondern ich werde versuchen, es Ihnen anhand vonBeispielen aus der Medizin zu belegen.Der medizinische Bereich hat eine hohe Akzeptanzdurch die Bevölkerung. Dort hat es in den letzten Jahreneinen gewaltigen Wissenszuwachs gegeben. Die Grund-lagenforschung hat sich verbessert. Es gibt dort eineganze Reihe von Firmengründungen. Auch im letzten Jahrwaren neue Firmengründungen zu verzeichnen. Aber manmuss natürlich wissen, dass dies kein arbeitsplatzintensi-ver Bereich ist, in dem wir immerzu neue Arbeitsplätzeschaffen. Vielmehr werden wir dort aufgrund der neuenTechnologie sehr viele Arbeitsplätze ersetzen. Auf diesemWeg sind wir.Wir haben eine hervorragende Entwicklung im Be-reich der Arzneimittel. So ist die Gentechnik aus der Be-handlung chronisch Kranker nicht mehr wegzudenken.Auch bei der somatischen Gentherapie sind wir trotz vie-ler Rückschläge an einen Punkt angelangt, an dem esdurchaus berechtigte Hoffnungen auf neue Therapiefor-men gibt.Ich hatte schon gesagt, dass es in der Medizin eine ho-he Akzeptanz der Gentechnik gibt; wir brauchen sie auch.Die Fortschritte in diesem Bereich zeigen sich unter an-derem darin, dass etwa 350 Medikamente und Impfstoffein der letzten Phase der klinischen Erprobung sind, wennauch nicht alle in der Bundesrepublik. Aber es gibt bei unskeinen abgeschotteten Markt, sondern wir reden hier übereinen globalen Markt.Dieser rasanten medizinischen Entwicklung liegtnatürlich eine entsprechende wirtschaftliche Dynamik zu-grunde. Über 80 Prozent der Gentechnikunternehmen ar-beiten auf dem von mir eben skizzierten kleinen Sektor miteiner unheimlich großen Beweglichkeit. Ziel sozialde-mokratischer Politik ist es, dort die Situation – auch mitweiteren begleitenden Gesetzen – zu verbessern. Dasswir diesem Ziel näher kommen, belegen die von mir ge-nannten Zahlen.Aber wer wie wir an einer langfristigen Entwicklungder Gentechnik interessiert ist, muss letztendlich auch be-reit sein, sich der Abwägung von Chancen und Risikendieser Technik zu stellen. Für uns stehen nicht die wirt-schaftlichen Momente an erster Stelle unserer Überle-gungen, sondern das Vorsorgeprinzip und der Schutz derVerbraucherinnen und Verbraucher.
Frau Kol-
legin Schaich-Walch, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Seifert von der PDS?
Ja, bitte.
Frau Kollegin Schaich-Walch,
macht es Ihnen nicht ein bisschen Angst, dass im Phar-
mabereich so viel gentechnisch verändertes Zeug unter die
Leute kommt, bei dem man nicht weiß, ob es vielleicht in
drei, fünf oder zehn Jahren oder vielleicht noch später Aus-
wirkungen zeigen wird, von denen wir heute noch keine
Ahnung haben, die dann aber nicht mehr zurückzunehmen
sind, weil es sich eben um gentechnische Veränderungen
handelt?
Ich sage Ihnen ganzehrlich, dass ich da eher im Bereich der grünen Gentech-nik Bedenken habe. Deshalb begrüße ich die Entscheidungsehr, die die Gesundheitsministerin Anfang des Jahres ge-troffen hat. Es gibt keinen vergleichbaren Sektor, auf demwir so konsequent wie in der Arzneimittelherstellung guteklinische Prüfungen haben. Eine Bewertung der Arz-neimittel, die heute zum Beispiel bei der Diabetikerver-sorgung zur Verfügung stehen, oder von bestimmten Pro-dukten, für die wir eine andere Herstellungsform als dieVerwendung von Blut finden können, führt zu dem Er-gebnis, dass wir oftmals nicht nur wirkungsvollere, son-dern auch durchaus sicherere Medikamente haben. Zu-gleich bin ich, wie gesagt, der Überzeugung, dass wir hierganz dringend eine Risikobegleitforschung benötigen.Wir müssen das immer kritisch beurteilen. Bei Arznei-mitteln tun wir das dadurch, dass sie nach fünf Jahren er-neut auf den Prüfstand gestellt werden. Daher glaube ich,dass die Sicherheit auf diesem Sektor sehr groß ist.Wir benötigen aber eine Verbesserung der Kennzeich-nungspflicht im grünen Bereich und im Lebensmittelbe-reich. Nur durch eine umfassende Kennzeichnung wirdauch gewährleistet, dass sich der Verbraucher tatsächlichauf einer fundierten Basis frei entscheiden kann, ob er zueinem gentechnisch veränderten Produkt greifen will odernicht.
Bei der Diagnostik sehe ich besondere Stärken dieserTechnik; mit ihr sind aber auch untrennbar Risiken ver-bunden. Ich erinnere hier an das, was wir in der vorigenWoche der Presse entnehmen konnten und was bestätigtwurde: In Großbritannien möchte offenbar das Gesund-heitsministerium zulassen, dass Gentests der Versiche-rungswirtschaft zur Verfügung gestellt werden.
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Gudrun Schaich-Walch9177
Ich bin der Überzeugung, dass eine derartige Maßnahmeletztendlich dazu führen wird, dass Menschen, bei denenvielleicht ein gesundheitliches Risiko besteht
– ich bin beim Thema Gesundheit –, aus der privatenKrankenversicherung ausgegliedert werden. Das bedeu-tete aber eine Risikoselektion zulasten der gesetzlichenKrankenversicherung und damit einhergehend eine weit-gehende Entsolidarisierung der Gesellschaft.
Diese Entwicklung müssen wir, so glaube ich, sehr kri-tisch und sehr wachsam betrachten und müssen an dieserStelle der Gentechnik genau hinsehen. Wir haben dafürSorge zu tragen, dass derartige Daten nicht zur Verfügunggestellt werden. Wir müssen europaweite Übereinkom-men darüber erzielen, dass solche Dinge bei uns nicht vor-kommen.
Über eine Technologie, die die Menschen so tiefberührt, müssen wir eine offene Diskussion führen, diephilosophische, ethische, medizinische und gesellschaft-liche Fragen berücksichtigt und nicht nur, wie von derF.D.P. angesprochen, den reinen Wirtschaftsbereich. Ichglaube, wenn wir dieses Spektrum der Ansätze verfolgen,dann werden wir tatsächlich zu einer vernünftigen Be-wertung von Risiken und Chancen kommen. Einen ganzwichtigen Beitrag dazu wird die Einsetzung der gebilde-ten Enquete-Kommission „Recht und Ethik in der mo-dernen Medizin“ leisten.Wir müssen im Bereich der Gentechnik allerdings überden nationalstaatlichen Gesetzesrahmen hinaus zu euro-paweiten Vereinbarungen kommen. Ansonsten fürchteich, dass der Wettbewerb dort Fakten schaffen wird, diewir gesundheitspolitisch nicht brauchen.Wer wie Sie, meine Damen und Herren von der Oppo-sition, gesetzliche Reglementierungen im Wesentlichenals Restriktion wirtschaftlicher Aktivitäten und als Be-drohung empfindet, der allerdings, so glaube ich, tut die-ser Forschung keinen Gefallen und behindert den Fort-schritt in dieser Richtung. Ich bin davon überzeugt, dassdie Gesetze, die eine möglichst breite gesellschaftlicheAuseinandersetzung mit Fragen der Technikfolgenab-schätzung widerspiegeln, Gesetze sind, die zur Akzeptanzund zur Sicherheit beitragen und damit die wirtschaftlicheEntwicklung in diesem Bereich letztendlich befördern.
Als nächs-
te Rednerin hat die Kollegin Vera Lengsfeld von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meinelieben Kolleginnen und Kollegen! „Grün ist der Wechsel“teilte uns der Juniorpartner der Regierungskoalition inseinem Programm zur Bundestagswahl 1998 mit. Ich zi-tiere: „Das Festhalten an riskanten und unproduktivenTechniken muss beendet werden.“ Nach den Turbulenzen,die sich in den letzten Wochen aus dem kühnen Versuchvon Frau Ministerin Fischer, diesen Programmpunkt inpraktische Regierungsarbeit umzusetzen, ergeben haben,kommt man allerdings zu dem zwingenden Schluss, dassdie riskante, unproduktive Kopflosigkeit dieser Regie-rung beendet werden muss.
Am 20. Februar verbot Frau Fischer wenige Stundenvor der endgültigen Zulassung des BT-Maises durch dasSortenamt den Versuchsanbau aufgrund angeblich neues-ter Erkenntnisse, die allerdings aus veralteter Literatur desFreiburger Ökoinstitutes stammten. Es stellte sich übri-gens nach der Debatte am 24. Februar 2000, in der ich dasVerbot von BT-Mais in diesem Hause erstmals angespro-chen habe, sehr schnell heraus, dass diese Studie im Ge-sundheitsministerium gar nicht vorhanden war. Sie mus-ste erst von Greenpeace in Hamburg beschafft werden. AufAnfrage wurde dann von einem Mitarbeiter ihres Bürosmitgeteilt, dass die Ministerin ihre Entscheidung dochnicht aufgrund dieser Literatur getroffen habe, sonderndass eine weitere Studie existiere, deren Ergebnisse abererst noch geprüft werden müssten.Bis heute wissen wir nicht, welche neuen Erkenntnis-se – von wem auch immer gewonnen – zum Schnell-schuss der Ministerin gegen den Versuchsanbau vonBT-Mais geführt haben. Das Robert-Koch-Institut hatteschon vor drei Jahren im Einklang mit EU-weiten Test-verfahren eine Gefährdung von Mensch, Tier und Umweltdurch BT-Mais ausgeschlossen. Die Gründe der Ministe-rin liegen also im Dunkeln. So viel zur Glaubwürdigkeitder Grünen in Bezug auf Transparenz von Regierungs-entscheidungen.Ich habe nun mit Erstaunen vernommen, dass FrauSchaich-Walch davon ausgeht, dass diese Entscheidungnoch immer gültig ist. Diese obskure Entscheidung, FrauKollegin, ist inzwischen allerdings stillschweigend revi-diert worden. Im Büro der Ministerin wusste davon jedochniemand etwas. Ebenso konnte niemand auf parlamenta-rische Anfrage hin darüber Auskunft erteilen. Zum Glückjedoch gibt es die Pressestelle des Gesundheitsmi-nisteriums, die zumindest auf Nachfrage von Nichtparla-mentariern verrät, dass tatsächlich seit Freitag, dem31. März, der Versuchsanbau von BT-Mais wieder ge-stattet ist. Dazu gibt es aber keine offizielle Verlautbarung,weder vonseiten der Regierung noch vonseiten desRobert-Koch-Instituts. Letzteres hat durch einen neuenUnbedenklichkeitsbescheid den Anbau von 12 TonnenBT-Mais-Saatgut in Deutschland zu Testzwecken ermög-licht.Damit ist faktisch wieder alles beim Alten, wenn auchdie juristische Grundlage eine andere ist. War bis Febru-ar das Sortenrecht der limitierende Faktor, ist es nun dasGentechnikgesetz. Daneben bleibt die Entscheidung vonFrau Ministerin Fischer unkorrigiert bestehen. So bleibtmir an dieser Stelle nur, Frau Ministerin Fischer zu wün-schen, dass Sie den Mut findet, zu erkennen, dass die
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Gudrun Schaich-Walch9178
Korrektur von Irrtümern ein Zeichen von politischerKlugheit ist. Die Art von Verdunkelungspolitik, die sie be-treibt, ist das genaue Gegenteil davon.
Im Zusammenhang mit dem BT-Mais war die grüneKopflosigkeit relativ folgenlos. Der Anbau von BT-Maiswar im Winter für einen Monat verboten, in dem er oh-nehin nicht hätte gesät werden können. Für andere Fällegilt das nicht in gleichem Maße.Die überraschend positive Antwort der Bundesregie-rung auf die Große Anfrage der F.D.P. und ihre Sorge umden Arbeitsplatzverlust in der Biotechnologie ändertnichts daran, dass die permanente Verteufelung der Gen-technologie heute junge Leute davon abhält, Berufe in die-ser Branche anzustreben oder ein Studium der Biotech-nologie aufzunehmen.
Aber vielleicht werden wir Weltmarktführer im Bereichder Risikobegleitforschung. In wenigen Jahren werden wirschätzungsweise 30 000 Biotechnologen brauchen, die wirdann aus Indien anwerben werden, um die selbst er-zeugten Defizite abdecken zu können. Da bekommt dasWort Entwicklungshilfe eine ganz neue Bedeutung. Bes-ser wäre allerdings Selbsthilfe, das heißt: die entschlos-sene Überwindung der offenen und latenten Techno-logiefeindlichkeit in Deutschland.Teil b unserer verbundenen Debatte zeigt, wie schwersich Rot-Grün damit tut. Der Beschluss der Koalitions-mehrheit im Umweltausschuss widerspricht den Lippen-bekenntnissen des Regierungsentwurfs auf die Anfrageder F.D.P. Waren eben noch energische Boykottmaßnah-men gegen Österreich gefragt, ideologische Demonstra-tionen gegen unsere Nachbarn als der dernier cri der po-litical correctness, so ist nun die ökologische Unterstüt-zung für Österreich gefordert, damit dort ein antiquiertesVerbot von Genprodukten aufrechterhalten werden kann.Welch eine Zwickmühle!Wie hält es in Zukunft der auf-rechte Rot-Grüne mit Ferienfahrten nach Kärnten: neinwegen Haider oder doch lieber ja, weil es sich um eine derletzten gentechnologiefreien Zonen handelt?
Buridans Esel hat sich in einer ähnlichen Situation ent-schlossen, die Welt von seiner Anwesenheit zu erlösen,weil er nicht in der Lage war, eine Entscheidung zu tref-fen. Seine philosophische Eselei erscheint geradezu wei-se im Vergleich zu dem ideologisch-ökologischen Schlin-gerkurs dieser Koalition.
Zu einer
Kurzintervention erteile ich der Kollegin Christa Nickels
das Wort.
Schönen Dank, Herr Präsident. – Ich bin, liebe Frau Kol-
legin Lengsfeld, auch kirchenpolitische Sprecherin mei-
ner Fraktion. Die Art und Weise, wie Sie geredet haben,
kennt man sonst bei Konvertiten. Es gibt auch ein Sprich-
wort: Die größten Kritiker der Elche waren früher selber
welche. Daran fühlte ich mich bei Ihrer Rede sehr stark
erinnert.
Zum Ersten agiert man in einem solchen Bereich im-
mer in einem Spannungsfeld von Chancen und Risiken.
Das war und ist den Grünen sowohl in der Opposition als
auch jetzt klar. Wir haben einen Koalitionsvertrag, auf des-
sen Grundlage wir mit unserem großen Koalitionspartner
einen vernünftigen Kurs fahren können. Wir sind froh, hier
in der von Frau Schaich-Walch vorgetragenen sorgfältigen
Art und Weise ohne Schnellschüsse ein Stück weiter zu
kommen.
Zum Zweiten haben Sie als eine Überbringerin gehei-
mer neuer Nachrichten agiert. Wären Sie heute Mittag bei
der Debatte, die sich auch mit diesem Thema befasst hat,
im Plenum gewesen, hätten Sie erleben können, dass Frau
Fischer exakt die Informationen, die Sie als große und sen-
sationelle neue Nachrichten verkünden wollen, in aller
Ruhe bereits vorgetragen hat. Somit sind Ihre Aussagen
kalter Kaffee.
Zu einer
weiteren Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Röspel von der SPD-Fraktion das Wort.
Weil ich vorhin von Frau Flachnamentlich angesprochen worden bin und Frau Lengsfeldmir nicht die Möglichkeit gab, etwas zu korrigieren, willich das jetzt tun. Die einzigen, die in der gesamten Dis-kussion das Wort Ideologie benutzen, aber keine wissen-schaftlichen Fakten bringen, sind Sie von der F.D.P. undder CDU.
Frau Lengsfeld, wenn Sie uns sagen, wir würden ver-altete wissenschaftliche Arbeiten heranziehen, so habenSie die Anfrage und die Antwort nicht gelesen. In der Ant-wort der Bundesregierung auf Frage 34 werden unter an-derem erwähnt: Hilbeck 1998, Losey 1999 und Saxena1999 in „Nature“. Wenn Sie jemals versucht haben, in„Nature“ etwas zu veröffentlichen, dann wissen Sie, wieschwer es ist und welche wissenschaftlichen Fakten diesdann sind. Diese berücksichtigen wir in unserer Beurtei-lung. Wenn Sie anderer Meinung sind, dann sind Sie ver-pflichtet, auch einmal wissenschaftliche Publikationenoder Belege anzubringen und nicht immer das Gespenstder Ideologie oder der Verteufelung, dass niemand etwasmacht, zu beschwören. So können wir hier nicht disku-tieren.
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Vera Lengsfeld9179
Frau
Lengsfeld, Sie haben das Wort zur Erwiderung. Bitte
schön.
Ich habe hier nur dar-
gestellt, was ich mit der Koalition erlebt habe. Wenn das
Büro von Frau Ministerin Fischer heute Mittag nicht in der
Lage war, Auskunft zu geben, dann spricht das gegen das
Büro und nicht für ihre Arbeit. Das tut mir Leid. Ich habe
mich auch nur darauf bezogen, dass Frau Schaich-Walch
das offensichtlich nicht gewusst hat.
– Es wird mir wohl gestattet sein, auf das Bezug zu neh-
men, was ich im Plenum höre.
Herr Kollege, ich habe erwartet, dass Sie diese Studi-
en anführen. Die sind in der Tat wirklich widerlegt. Das
können Sie im „New Scientist“ nachlesen. Ich gebe Ihnen
gern die Verweise und danach können wir diskutieren.
Diese Studien – das habe ich gesagt – stammen aus dem
Jahr 1998. Das sind wahrlich keine neuesten Erkenntnis-
se. Im Übrigen sind sie längst widerlegt.
Ich ertei-
le der Kollegin Ulrike Höfken vom BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN das Wort.
Sehr
geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Dem Publikum zur Erklärung: Die aufgeregte Dame war
früher bei der Fraktion der Grünen und hat dort das Ge-
genteil vertreten. Insofern gibt es entsprechende Diskus-
sionen.
Ich plädiere für eine größere Anwesenheit bei gen-
technischen Diskussionen. Dann wäre man nämlich auch
als Mitglied Ihrer Fraktion zum Beispiel beim VCI, beim
parlamentarischen Abend anwesend, wo eine Message
ganz eindeutig war, und zwar die, dass, seitdem es die rot-
grüne Regierung gibt, die Bio- und Gentechnologie einen
verlässlichen Partner hat.
Hier gibt es einen sehr wesentlichen Punkt, auf den Frau
Schaich-Walch auch schon hingewiesen hat. Nachdem
Sie eine blind technikgläubige Politik betrieben haben, die
nach hinten losgegangen ist, die eine Verhinderung der
Entwicklung gewesen ist, geht es jetzt in eine andere
Richtung. Da haben wir einen ganz bestimmten Part. Als
Fraktion der Grünen treten wir dafür ein, die Risiken und
die Probleme der Gentechnik offen zu diskutieren. Nur
eine solche Art und Weise der Diskussion kann eine Ent-
wicklung wirklich nach vorn bringen.
Frau Kol-
legin Höfken, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kol-
legin Lengsfeld? – Bitte schön, Frau Lengsfeld.
Frau Kollegin Höfken,
wenn es mit der Gentechnologie unter der rot-grünen Ko-
alition so aufwärts geht: Wie erklären Sie sich dann das
Abfallen der Zuwachsraten seit 1998?
Man
müsste noch fragen: Das Abfallen der Zuwachsraten in
was und in wem? Was ist gemeint?
Arbeitsplätze oder Firmen? Die Entwicklung eines Neu-
zuwachses gibt es schon seit 1997. Hier liegen Daten vor.
Es gibt eine Entwicklung, die man ganz deutlich an den
neuen Firmenentwicklungen beobachten kann. Darum
sind alle Arbeitsplatzmeldungen sehr wohl zu hinterfra-
gen. Man hat zum Beispiel bei einer Untersuchung im Be-
reich der Wissenschaft jetzt festgestellt, dass aufgrund ver-
schiedener Fragestellungen die Arbeitsplätze im Bereich
der Gentechnik sehr unterschiedlich bewertet werden.
Biocom-Experten kommen in ihrem „Bio-Technologie
Jahr- und Adressbuch 2000“ auf eine Anzahl von 543 Fir-
men; Schitag, Ernst & Young kommt hingegen auf ledig-
lich 222 Firmen, die der Kategorie 1 zuzuordnen sind. Das
Informationssekretariat Biotechnologie ISB kommt wie-
derum auf knapp 400 Unternehmen. Das hängt damit zu-
sammen, dass die Fragestellungen in Bezug auf die Ar-
beitsplätze sehr unterschiedlich ausfallen.
Es spielt aber auch eine andere Entwicklung hinein, die
wir durchaus sehr kritisch betrachten, nämlich zum einen
das Outsourcing und zum anderen die immer wieder vor-
kommende Übernahme dieser neuen Firmen nach einer
projektorientierten Arbeit. Vor dem Hintergrund dieser
Diskussion muss man die Arbeitsplatzangaben in der
Gentechnologie insgesamt je nach den entsprechenden
Fragestellungen vorsichtig hinterfragen.
Frau Kol-
legin Höfken, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kol-
legin Flach?
Nein,jetzt nicht, aber gleich.Die Bundesregierung verfolgt im Hinblick auf die Nut-zung der Bio- und Gentechnologie einen ausgewogenenKurs, der es zulässt, dass sich die verantwortbaren Inno-vationspotenziale gerade in der Forschung entwickeln,der gleichzeitig aber dem Aspekt der Risikovorsorge undder notwendigen Sicherheit von Menschen und Um-welt Rechnung trägt. Wir lesen in der Antwort auf dieGroße Anfrage, dass es hier auf der einen Seite neue
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Möglichkeiten gibt, die es zu nutzen und zu prüfen gilt.Auf der anderen Seite steht unsere klare Festlegung, dassder Schutz der menschlichen Gesundheit und die Bewah-rung des ökologischen Gleichgewichtes oberste Prioritäthaben müssen.
Darin unterscheidet sich diese rot-grüne Bundesregierungganz klar von ihrer Vorgängerin, bei der das berechtigteInteresse von Verbrauchern und Ökologie in erster Linieals Fortschrittsfeindlichkeit abgetan wurde. Das hat im Er-gebnis die Entwicklung insgesamt behindert. Genau die-sen alten Geist hält auch der F.D.P.-Entschließungsantraghoch. Aus dem Gesamtzusammenhang einer 50-seitigenAntwort auf eine Anfrage werden ein paar genehmegentechnikfreundliche Sätze herauskopiert, und fertig istder Antrag. Ich weiß nicht, ob man das als Entschlie-ßungsantrag bezeichnen kann.
Richtig ist: Die Bundesregierung wird zur Entwicklungkonkreter Anwendungsbereiche der Bio- und Gentechno-logie erhebliche Ressourcen einsetzen und Wissenschaftund Wirtschaft aus öffentlichen Mitteln fördern. Die Bun-desregierung hat erklärt, auf diesem Niveau die Innovati-onsstrategien weiter auszubauen; dabei ist es ihr Ziel, diewirtschaftlichen Chancen der Bio- und Gentechnologieauch stärker auf ökologische Lösungsansätze auszurich-ten.Hier möchte ich einen Exkurs machen. Die ganze Dis-kussion auf der europäischen Ebene und in den USAscheint ja an Ihnen, den Kollegen von der Opposition, einStück weit vorbei gegangen zu sein. Herr Paziorek ist jaheute Morgen sehr viel differenzierter auf das Biosafety-Abkommen eingegangen. Ich möchte Ihnen etwas vortra-gen, was das USDA, das amerikanische Landwirtschafts-ministerium, im letzten Jahr eruiert hat: 400 US-Farmer,die knapp 200 000 Hektar Ackerfläche bewirtschaften,wurden befragt. Ihre Planungen für dieses Jahr sehenfolgendermaßen aus: Roundup-Ready Soja minus 15 Pro-zent, BT-Mais minus 22 Prozent und BT-Baumwolle mi-nus 26 Prozent, RR-Baumwolle hingegen plus 5 Prozent.Das heißt, die Entwicklung des Anbaus gentechnischerPflanzen ist rückläufig. Sie sagen, Grund dafür sei diemangelnde Akzeptanz.
Ich sage dazu ganz klar, dass die USA eine ökonomischeLehre ziehen mussten, die darin bestand, dass sich derMarkt nicht allein nach wissenschaftlichen Daten aus-richtet, sondern an Nachfrage und Akzeptanz orientiert.Ich möchte Ihnen auch noch etwas zur Insektenresis-tenz von BT-Mais sagen: USDA hat festgestellt, dass eskeine Unterschiede in den Pestizidaufwandmengen gibt.Ich unterstütze zwar den Anspruch, ökologische Kompo-nenten in der Gentechnik weiterzuentwickeln; das ist inOrdnung, aber es sind reale Schwierigkeiten vorhanden.Wer ein wenig Kenntnis von Züchtung und Anbautechnikhat, dem erklärt sich das ganz leicht. Das heißt, unter demStrich gibt es bei Mais keine Unterschiede in den Pesti-zidaufwandmengen. Es gab bei zwei Regionen Ertrags-zuwächse und bei einer Region keinen Ertragszuwachs.Ich komme zur Baumwolle. Sie ist ebenfalls insekten-resistent. Im Mississippidelta gab es 53 Prozent mehrSpritzmitteleinsatz. Alle anderen Regionen waren im Ver-gleich genauso hoch. Bei zwei Regionen gab es Ertrags-zuwächse, bei einer keinen Ertragszuwachs. Das geht soweiter. Bei allen anderen gibt es Resistenzen. Das istnatürlich zu erklären. Man muss daraus einfach denSchluss ziehen: Dort, wo es einen entsprechend hohen Be-fall gibt, lohnt sich der Einsatz. Ansonsten ist es wie beianderen Pflanzenschutzaufwendungen ganz normal. Eshängt eben von der aktuellen Situation ab. Das heißt, auchhier gibt es eine Relativierung. Beim Einsatz ist eine Dif-ferenzierung nötig und unumgänglich, um hier nicht inWolkenkuckucksheime zu verfallen.Ich will noch einen anderen Punkt aufgreifen: Die Um-weltbehörde in den USA hat die Auflagen für die Aus-saat für BT-Mais verschärft. Eine staatliche Anbaupla-nung ist damit verbunden. Ich meine, die Liebe zur altenDDR mag bei manchen noch etwas größer sein, aber manmuss doch ganz klar sagen: Resistenzmanagementpla-nungen schränken die unternehmerische Freiheit in einemerheblichen Ausmaß ein, sind aber unumgänglich.Das heißt auch hier: Gentechnischer Anbau kann nurdann in Frage kommen, wenn es eine bestimmte Pro-blemlage gibt. Dann muss man noch sehr darüber nach-denken, wie man denn diese Anbauplanung überhaupt ge-staltet. Ein Herangehen in dieser Naivität, was Sie hiervortragen, kann und darf es einfach nicht geben.
Hunger in der Dritten Welt: Auch hierzu noch einekleine Anmerkung, obwohl heute Morgen vonseiten derPDS schon einiges gesagt wurde. Der Hunger in der Drit-ten Welt mag immer erwähnt werden, aber das Lösungs-potenzial ist nicht vorhanden. Man wartet immer auf dieNutzpflanzen, die jetzt noch kommen, die dem Verbrau-cher und den armen Menschen in der Dritten Welt Nutzenbringen. Man wartet auf die neue Generation. Aber bislanghaben wir das noch nicht.Zweitens. Die Resistenzprobleme – ich habe geradeauf die USAverwiesen – ergeben sich in den Ländern derDritten Welt natürlich noch sehr viel verschärfter. Es gibtein enormes Risiko, dass hier Ernteausfälle auftretenkönnten.Drittens. Die Millionen von Entwicklungskostenmüssen natürlich irgendwo wieder hereinkommen. Dasheißt, die Kaufkraft muss vorhanden sein, um diese Tech-nik anzuwenden. Auch hier gibt es ein großes Fragezei-chen.Zu der Patentierung brauche ich ihnen nichts weiterzu sagen. Auch hier gibt es erhebliche Probleme im Be-reich des Nutzens für die Dritte Welt. Dies bedeutet ehereine Gefahr.
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Ulrike Höfken9181
Ich will noch einen Aspekt, der wichtig ist, einbezie-hen. Wir haben in Deutschland einen hohen Standard beider biologischen Sicherheit und hohe Anforderungen andie Risiko- und Begleitforschung. Hohe Sicherheits-standards und größtmögliche Transparenz sind wesent-liche Voraussetzungen für die Herstellung des Vertrauensund für die Tragfähigkeit von Forschung und Anwen-dung. Die hohen Sicherheitsstandards bei der Anwendungvon gentechnischen Verfahren sind daher notwendiger-weise beizubehalten.Die heutigen abgestuften Verfahren haben sich be-währt. Das ist etwas, was ich Ihnen zugute kommen las-se. Aber unter dem Gesichtspunkt des vorbeugenden Ge-sundheits- und Verbraucherschutzes ist es unverzichtbar,dass alle gentechnischen Verfahren und gentechnisch ver-änderten Organismen dem Gentechnikrecht oder einemgleichwertigen Recht unterliegen. Ich plädiere sehr dafür,dass es so bleibt.
Ich habe über dieArbeitsplätze schon einiges gesagt.Ich will das nicht wiederholen. Ich will nur sagen: Es gibthier Möglichkeiten, Arbeitsplätze in neuen Industrien zuverankern und zu unterstützen. Nur noch eines: Im Bio-technologiebereich gibt es drei Mal so viele Patent-anwendungen wie im reinen Bereich der Gentechnik.Auch hier gibt es noch Nachholbedarf. Ich bin sicher, die-se Bundesregierung wird sich auch diesem Bereich derBiotechnologie verstärkt zuwenden.Vielen Dank.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Kersten Naumann von der PDS-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Die Antworten zur Großen Anfrage undder Entschließungsantrag der F.D.P. propagieren eineGentechnik, die angeblich Vorteile für den Verbraucher,für die Umwelt, für die Lösung des Welthungerproblemsund zur Arbeitsplatzschaffung mit sich bringt. Genau dashat Kollegin Flach vorhin noch einmal ausdrücklich be-tont. Tatsächlich geht es aber um Profite durch die Siche-rung von Technologievorsprüngen, die Ankurbelung derWachstumsspirale und die nachhaltige Sicherung vonMärkten. Die Landwirtschaft und die Verbraucher sollenzu Werkzeugen multinationaler Konzerne werden und anderen Risikoprodukten gesunden.Die kritische Auseinandersetzung mit den ökologi-schen und gesundheitlichen Risiken der Gentechnik istdenen ein Dorn im Auge, die dabei das große Geld ver-dienen wollen. Wechselwirkungen in und zwischen Mi-kroorganismen, Pflanze, Tier und Mensch sind noch garnicht hinreichend identifiziert und erforscht, aber Trans-gene bereits freigesetzt. Noch vor zwei Jahren haben dieGrünen eine sehr kritische Haltung zu diesen Prozessenvertreten. Ich habe dies auch den Äußerungen von Kolle-gin Höfken entnommen. Doch sehr viel von dieser Kritikist nicht übrig geblieben.Die F.D.P. befindet sich in einem besonderen Dilemma;denn sie ist nicht ehrlich genug, das Kind beim Namen zunennen.
Sie muss schon noch erklären, warum sie einerseitsheuchlerisch unter dem Titel „Wahnsinn für den Verbrau-cher“ im Falle BSE auf Verbraucherschutz setzt und an-dererseits im Falle von BT-Mais nicht.
Weder das eine noch das andere ist hinreichend wissen-schaftlich erklärt. Aber die F.D.P. meint, für „die Ver-braucher besteht kein Grund zur Sorge“. Sie schlüpft mitihrem Entschließungsantrag in die Rolle eines Übervaters,der die biologische Welt neu erschaffen will.
Doch dieses Vorhaben wird in einer Katastrophe enden.Alle kritischen Sichten und Bewertungen – selbst vomUmweltbundesamt – werden unter den Teppich gekehrt.Die seit der Zulassung des BT-Maises neuen wissen-schaftlichen Befunde und die langsam durchsickerndenErfahrungen der amerikanischen Bauern, die von Mon-santo & Co. mit den schillerndsten Versprechungen überden Tisch gezogen wurden, werden ignoriert. Die PDS-Fraktion wird ein Gespräch mit dem US-Anwalt StevenDruker in der nächsten Woche nutzen, um sich über dieTäuschungen der amerikanischen Zulassungsbehördenfür Gennahrung informieren zu lassen. Ich kann allenFraktionen das Gleiche nur empfehlen.
Die Landwirtschaft könnte sich weltweit nach demWillen der Gentechnikbefürworter schon bald in einemtief greifenden Strukturwandel wiederfinden,
an dessen Ende mehr und mehr Nahrungsmittel und Roh-stoffe in Gewebekulturen, in riesigen Bakterientanks ge-wonnen werden – zu einem Bruchteil der Kosten, die derFreilandanbau erfordert. Bei Aromen, Zucker und einerVielzahl von Zusatzstoffen sind wir schon fast so weit.Die Herstellung von Fleisch-, Zitrus- und anderenPflanzenersatzstoffen ist nur noch eine Frage der Groß-technik und der Zeit. Ich sage Ihnen: Nicht die Landwirt-schaft wird profitieren, sondern sie wird die wirtschaft-lichen Risiken tragen müssen. Die millionenschwerenProfite der Agro- und Pharmariesen – einst nicht uner-heblich mit Steuergeldern gefördert – werden nicht derLandwirtschaft oder dem ländlichen Raum, dem Gemein-oder Gesundheitswesen zur Verfügung gestellt, sondernfließen in Privattaschen.Trotz der vielen Fehlschläge, Misserfolge und neuenErkenntnisse der möglichen ökologischen und gesund-
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Ulrike Höfken9182
heitlichen Risiken sind die führenden Köpfe der wissen-schaftlichen Gemeinschaft, ein Großteil der Medien, dieBundesregierung sowie – mit wenigen Ausnahmen – dieWirtschaft nicht bereit, „sich an einer breiten öffentlichenDiskussion über das zu beteiligen, was sich mit großerWahrscheinlichkeit als das radikalste Experiment erwei-sen wird, das die Menschheit jemals an der Natur vorge-nommen hat“. So schätzt es nicht nur der amerikanischeTrendforscher Jeremy Rifkin ein.Die PDS fordert mit ihrem Entschließungsantrag dazuauf, die Verantwortung für die Menschen und die Erhal-tung von Natur und Umwelt für die zukünftigen Genera-tionen wahrzunehmen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Hilfe für ihre wei-teren Überlegungen möchte ich Ihnen noch folgendenAusspruch von Adorno mit auf den Weg geben: „Nichtigist das Denken, welches Gedachtes mit Wirklichem ver-wechselt.“Danke schön.
Als nächs-
ter Redner hat das Wort der Kollege Albert Deß von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Die Gentechnik ist eine Zukunfts-technologie. In der Industrie spielt die Gentechnik heuteeine bedeutende Rolle; sie ist Hoffnungsträger für vieleMenschen. Unbestritten ist ihr Einsatz in der Medizin. Inder Tier- und Pflanzenzüchtung müssen wir die Chancender Gentechnik erkennen und nutzen.
Die Chancen, die die Gentechnik bietet, müssen imVordergrund stehen, ohne die Risiken außer Acht zu las-sen. Veränderungen an Pflanzen und Tieren werden schonseit vielen Generationen vorgenommen, um damit dieVersorgung mit qualitativ hochwertiger Nahrung sicher-zustellen. Um ein Beispiel zu nennen: Weizen ist keine Ur-pflanze, sondern ein Produkt der Pflanzenzüchtung unddamit ein Nahrungsmittel, das in seinen Genen verändertist. Wäre Weizen nicht im Wege der konventionellenZüchtung entstanden, sondern durch moderne Gen- undBiotechnik, stünde er heute auf der roten Liste fanatischerGegner der Gen- und Biotechnologie.
Vielleicht wäre er bereits im Freilandversuch zerstörtworden, bevor er seinen weltweiten Siegeszug als einesder wichtigsten Grundnahrungsmittel angetreten hätte.Im Gegensatz zur Züchtung eröffnet die Gentechno-logie, aufbauend auf der Biotechnologie, zahlreiche neueMöglichkeiten. Bei der konventionellen Züchtung, dienicht gezielt vorgenommen werden kann, benötigt man oftJahrzehnte, um einen Erfolg zu erreichen. Durch den ge-zielten Eingriff in die Erbsubstanz mithilfe der Gentech-nik kann ein Erfolg in wesentlich kürzerer Zeit erreichtwerden.Ein Ziel der Gentechnik ist es, die Lebensgrundlagender Menschen auch in Bezug auf ihre Gesundheit zu si-chern. Wir müssen unsere Verantwortung wahrnehmen,für eine rasant wachsende Weltbevölkerung ausreichendNahrungsmittel zur Verfügung zu haben. Zur Ernährungs-sicherung müssen die jetzigen Erträge in den nächsten20 Jahren um mindestens 60 Prozent erhöht werden. Auchwenn wir zurzeit über Agrarüberschüsse diskutieren, isttrotzdem dieser Anstieg notwendig, damit die Bevölke-rung in 20 Jahren ernährt werden kann.
Unumstritten ist der Einsatz der Gentechnik im Bereichder Medizin. Über 40 gentechnisch hergestellte Medika-mente sind derzeit in Deutschland zugelassen. Dass davonnur sechs in Deutschland hergestellt werden, zeigt, dassdiese Schlüsseltechnologie bei uns nur schwer Fuß fassenkann.Die Anwendung der Gentechnik in der Landwirtschaftist zur Lösung der Zukunftsprobleme unerlässlich. Pflan-zenzüchter haben mir berichtet, dass es mithilfe der Gen-und Biotechnologie möglich sein wird, bei nachwach-senden Rohstoffen wesentlich wirtschaftlicher zu wer-den. Die Pflanzenzüchtung der Vergangenheit war fastausschließlich auf die Weiterentwicklung von Pflanzen fürdie Ernährung ausgerichtet. Wer die Ziele der Agenda 21ernst nimmt, muss auch im Rohstoff- und Energiebereichauf Nachhaltigkeit setzen. Nachwachsende Rohstoffebzw. Energien können dazu einen wertvollen Beitrag lei-sten.Bei nachwachsenden Rohstoffen, meine sehr verehrtenDamen und Herren, steckt die Pflanzenzüchtung noch inden Kinderschuhen. Ohne Gen- und Biotechnologie wür-de es Jahrzehnte dauern, um optimale Pflanzen zur Verfü-gung zu haben. Gen- und Biotechnologie können mithel-fen, den Züchtungszeitraum stark zu verkürzen, damit dieWirtschaftlichkeit bei nachwachsenden Rohstoffen undEnergien wesentlich schneller zu erreichen und auch un-seren jungen Landwirten damit wieder eine Perspektivefür die Zukunft zu geben.Mögliche Risiken und Gefahren, die mit der Anwen-dung von gentechnologischen Methoden zusammenhän-gen, dürfen dabei nicht außer Acht gelassen werden. Wiejede andere Technologie bietet die Gentechnik nicht nurneue Chancen, sondern auch Risiken.Diese sind wissen-schaftlich erfassbar und durch geeignete Maßnahmen, diedas Gentechnikgesetz vorschreibt, beherrschbar. Durchangemessene gesetzliche Regelungen muss der Miss-brauch verhindert werden. Die großen Chancen, die in derGentechnik liegen, dürfen aber nicht durch überzogeneVorgaben behindert oder unnötig eingeschränkt werden.Mit der Gentechnik verbunden ist eine Vielzahl vonhoch qualifizierten Arbeitsplätzen. Europaweit erwartetman circa 2 Millionen neue Arbeitsplätze durch die Gen-und Biotechnologie. In den USA rechnet man mit einerVersechzehnfachung der Arbeitsplätze in diesem Bereich.
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Kersten Naumann9183
Sie wird damit ein wichtiges Standbein der Beschäftigungin der Zukunft darstellen.Durch politische Rahmenbedingungen haben wir dafürzu sorgen, dass dieser Industriezweig nicht in das Auslandgetrieben wird.
Wer Freilandversuche bei uns zerstört, zerstört auch dieArbeitsplätze.
Rot-Grün hat in der Vergangenheit mit seiner technik-feindlichen Einstellung viel zum Verlust von Arbeitsplät-zen in unserem Land beigetragen.
Die Gen- und Biotechnologie führt ihre Forschung ebendort durch, wo weniger bürokratische Auflagen zu erfül-len sind.
Es war das Verdienst von Horst Seehofer und derCDU/CSU/F.D.P.-Mehrheit, dass ein Gentechnikgesetzdie Rahmenbedingungen für die Gen- und Biotech-nologieforschung in Deutschland verbessert hat.
Wer jetzt beim so genannten BT-Mais nur wieder Ängsteschürt, wird seiner Verantwortung nicht gerecht. Bei denGrünen soll es vor vielen Jahren einen Parteitagsbe-schluss gegeben haben, bei dem man sich gegen die Ein-führung der EDV-Technik ausgesprochen hat. Dieser Be-schluss hat wenig genützt; die Entwicklung hat den Be-schluss der Grünen überholt.Genauso geht es mit Beschlüssen gegen die Gentech-nik. Wenn Rot-Grün bei der Gen- und Biotechnologie dierote Karte in den Vordergrund stellt, braucht man sichnicht zu wundern, wenn in einigen Jahren auch in dieserSchlüsseltechnologie Green Cards benötigt werden. Da-mit wir in Zukunft weniger Green Cards benötigen, brau-chen wir möglichst viele rote Karten gegen die rot-grüneBundesregierung.
Die CDU/CSU-Fraktion setzt sich dafür ein, dass dieChancen der Gen- und Biotechnologie genutzt werden,ohne dass dabei die Risiken außer Acht gelassen werden.Nur so können wir in unserem Land Arbeitsplätze schaf-fen und erhalten. Deshalb werden wir, die CDU/CSU, demAntrag der F.D.P. zustimmen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort
hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Wolf-
Michael Catenhusen.
W
MeineDamen und Herren! Ich höre in einigen Beiträgen der Red-ner und Rednerinnen der Oppositionsfraktionen, vor allemvon der rechten Seite des Hauses, ein leichtes Bedauerndarüber, dass es heute nicht so einfach ist, wie Sie sich dasvielleicht erhofft haben, die große Abrechnung mit derGentechnikpolitik der rot-grünen Koalition zu vollzie-hen.
Ich glaube, dass sich die gründliche Arbeit zur Beant-wortung der Großen Anfrage der F.D.P. zu den Perspekti-ven der Bio- und Gentechnik am Standort Deutschland ge-lohnt hat. Wir haben in Ausfüllung der Linie, die wir inder gemeinsamen Koalitionsvereinbarung festgelegt ha-ben, dokumentiert, dass nicht das Schwarz-Weiß-Malen,nicht das Beschwören von Utopien oder Horrorszenarienden angemessenen gesellschaftlichen Umgang mit derBio- und Gentechnik darstellt.Wir haben in unserer Antwort einige Gesichtspunkte inden Vordergrund gestellt. Wir lassen uns in den verschie-denen Ressorts in unserer Politik auf diesem Gebiet vondem Gesichtspunkt leiten, die Chancen für gesellschaft-lichen und wirtschaftlichen Fortschritt zu nutzen, dabeiallerdings auch unsere Verantwortung für den Schutz vonMensch und Umwelt durch effektive rechtliche Rahmen-bedingungen wahrzunehmen. Wir werden weiter daranarbeiten, auch angesichts neuer Entwicklungen, dieethisch gebotenen Grenzen in Deutschland so zu ziehen,dass dadurch Beispiele für internationale Regelungen ge-schaffen werden.Es gilt nüchtern festzuhalten, dass die Bio- und Gen-technologie ihren Erfolg in vielen Bereichen unserer Ge-sellschaft nur dann feiern wird, wenn der Verbraucher dievon ihr angebotenen und entwickelten Produkte akzep-tiert.
Es ist nicht Aufgabe der Politik, Akzeptanzkrisen, diegentechnisch erzeugte Lebensmittel heute aus gutenGründen am Markt erleben, sozusagen durch verstärktePropaganda zu ersetzen.
Ich denke, wir tun viel, auch in diesem zweiten Jahr un-serer Regierung, um die Chancen der Gentechnik für un-sere Entwicklung zu nutzen. Ich will das an zwei Bei-spielen verdeutlichen.Wir erhöhen die Ausgaben im Bereich der Bio- undGentechnologie in diesem Jahr um etwa 10 Prozent. Wir
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Albert Deß9184
haben sie bereits 1999 um 10 Prozent gesteigert. Sie wa-ren Weltmeister im Sprücheklopfen auf diesem Gebiet,aber man muss auch einmal die Akzente Ihrer Politik inden letzten Jahren überprüfen.Heute hat Craig Venter zumindest eine erste Version desmenschlichen Genoms der Öffentlichkeit vorgestellt. Da-bei wird doch die Frage aufgeworfen, die Sie sich viel-leicht einmal stellen müssten: Wie war denn eigentlich dieHaltung der Vorgängerregierung zu dem Thema Genom-forschung? Es dürfte Ihnen nicht entgangen sein, dass inDeutschland sieben Jahre später als in allen anderen In-dustrieländern, im Jahre 1996, die ersten Projektmittel desBMBF in den Bereich Genomforschung geflossen sind.
Das spricht Bände. Deshalb können Sie sich Ihre Sprüchesparen, dass Sie auf diesem Gebiete eine erfolgreiche Po-litik gemacht hätten. Wer so ein wichtiges Forschungsfeldvernachlässigt,
hat meiner Ansicht nach kein Recht, der rot-grünen Ko-alition belehrende Worte über richtige Politik im Bereichder Bio- und Gentechnik zu sagen.
Es geht zu Recht darum, angesichts der Entwicklungder grünen Gentechnik den Schutz von Mensch und Um-welt zu sichern. Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass esmittlerweile einen Konsens zwischen den Mitgliedstaatender Europäischen Union in zweierlei Hinsicht gibt:Erstens. Wir brauchen auf der Basis einer novelliertenFreisetzungsrichtlinie eine neue rechtliche Basis, ummit erhöhten Sicherheitsanforderungen einen sicherenUmgang mit durch die Bio- und Gentechnik verändertemSaatgut und veränderten Lebensmitteln garantieren zukönnen. Die Bundesregierung hat es im letzten Jahr ge-schafft, in diesem Bereich einen gemeinsamen Stand-punkt des Umweltministerrates zustande zu bringen, derübrigens sowohl von der Europäischen Vereinigung derBiotechnologieorganisationen als auch von Umweltver-bänden als Fortschritt begrüßt worden ist.Zweitens. Es gibt in fast allen EU-Mitgliedstaaten ei-nen Konsens darüber, dass wir gegenwärtig den Schwer-punkt darauf setzen müssen, durch eine Risiko- und Be-gleitforschung ein vermehrtes Wissen über ökologischeFragen zu gewinnen, auf die noch keine endgültigen Ant-worten gefunden worden sind und im Rahmen derer esHinweise auf Gefährdungspotenziale gibt, die der sorg-fältigen Prüfung bedürfen.Wir in der Bundesrepublik tun also im Endeffekt nichtsanderes als die Labourregierung in Großbritannien, wo –allerdings mit Zustimmung der Industrie; das hätten auchwir uns gewünscht – eine Vereinbarung besteht, über zweioder drei Jahre hinweg keinen großflächigen kommerzi-ellen Anbau gentechnisch veränderten Saatguts vorzu-nehmen, diese Jahre aber für intensive Risiko- und Be-gleitforschungsprojekte zu nutzen. Das macht auch die jet-zige Regierung in diesem und im nächsten Jahr hier inDeutschland.Lassen Sie mich noch einen letzten Gesichtspunkt an-schneiden. Zwei Themen kommen bei dem Versuch derF.D.P., aus einem differenzierten Dokument rot-grünerBio- und Gentechnikpolitik das ihr Genehme heraus-zusortieren, nicht vor: Das ist zum einen die Bedeutungvon Risiko- und Begleitforschung in ökologischen Fragenund zum anderen die sich vermehrt stellende Notwendig-keit, wissenschaftliche, ethische, soziale und rechtlicheFragen der Bio- und Gentechnik vor allem bei der An-wendung am Menschen aufzuarbeiten. Ich denke, es ist eingutes Zeichen, dass nicht zuletzt durch Entscheidungendes Haushaltsausschusses im vergangenen November dieMittel für die Risiko- und die Begleitforschung deutlichgesteigert worden sind, um bessere Antworten auf ökolo-gische Risiken zu finden.Letztendlich waren wir es, die ein anständiges Pro-gramm zur Bearbeitung ethischer, sozialer und rechtlicherFragen in der Bio- und Gentechnologie aufgelegt haben.Die alte Regierung hat den einen oder anderen Kongressgefördert. Das ist zwar nett, hat aber eher symbolische Be-deutung. Wir starten gerade in diesen Wochen ein eigenesForschungsprogramm zur Bearbeitung dieser ethischen,sozialen und rechtlichen Fragen. Wir werden damit si-cherlich einige Vorarbeiten für die Arbeit der soeben be-schlossenen Enquete-Kommission „Recht und Ethik füreine moderne Medizin“ leisten.Bei dem Versuch der polemischen Zuspitzung auf dieFrage des Nachwuchsmangels sollten Sie vorsichtigsein. Sie wissen, dass die Entscheidung junger MenschenMitte der 90er-Jahre, welcher Ausbildung sie sichunterziehen, eine Grundlage dafür ist, wie viele Absol-venten wir in diesem Bereich haben. Wenn sich im nächs-ten oder übernächsten Jahr ein Problem ergeben sollte,dann muss man Sie genauso wie für den Bereich IT fra-gen: Was haben Sie eigentlich in den letzten Jahren un-ternommen, um gezielt dafür zu werben, dass junge Men-schen einen Beruf auf diesem Gebiet ergreifen? Dassollte natürlich nicht in der platten Weise erfolgen, dassgesagt wird, hier sei ein Goldgräberland. Dass in diesemBereich 2 Millionen Arbeitsplätze geschaffen werdenkönnen, glaubt Ihnen in Europa keiner mehr. Aus gutenGründen haben Sie ja auch vermieden zu sagen, ob diesein 15, 20 oder 30 Jahren entstehen. Sich hinzustellen undvon 2Millionen Arbeitsplätzen zu sprechen ist sehr wohl-feil.Wir brauchen junge Menschen, die in diesem Bereichals Wissenschaftler oder in der Industrie arbeiten, die abergleichzeitig wissen, welche Verantwortung sie mit ihrerTätigkeit übernehmen. Ich denke, es geht nicht darum, füroder gegen die Gentechnik zu sein, sondern darum, in ei-nem verantwortbaren Rahmen die Chancen dieser Tech-nik zu nutzen und ihr dort, wo es notwendig ist, Grenzenzu setzen. Von dieser Politik wird sich die rot-grüne Ko-alition weiter leiten lassen.
– Lieber Herr Kollege aus Bayern, die grobschlächtige Po-litik, wie Sie sie im Bayerischen Landtag pflegen, ist hierim Bundestag bei diesem Thema fehl am Platz.
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Parlamentarischer StaatssekretärWolf-Michael Catenhusen9185
Schönen Dank.
Als letzter
Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Herr Prä-
sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr
Catenhusen, so einfach ist das nicht.
Wenn Sie mit vielen jungen Wissenschaftlern in dieser
Republik sprechen, dann vertreten diese häufig die Auf-
fassung, dass viele in Ihrer Koalition – nicht Sie per-
sönlich – den Wind säen und sie dann gegen die Wind-
mühlenflügel kämpfen müssen. Dies ist im Grunde ge-
nommen die Frage, die wir hinsichtlich der Gentechnik als
die herausfordernde zu beschreiben haben.
Viele möchten zwar keine Entwicklung verschlafen,
aber sie träumen nach wie vor – zumindest im Bereich der
grünen Gentechnik – von einer gentechnikfreien Zeit. Es
gibt ja sogar rot-grüne Mehrheiten in Stadträten, die gen-
technikfreie Bezirke beschließen, obwohl sie genau wis-
sen, was in den Apotheken geschieht,
dass nämlich dort gentechnisch veränderte Medikamente
verkauft und verschrieben werden.
Ich möchte Ihnen etwas zur grünen Gentechnik sagen.
Ich habe meine grundsätzlich positive Haltung zur Gen-
technik schon mehrfach deutlich gemacht. Die Gentech-
nik bietet in Kombination mit traditionellen Züchtungs-
methoden die Möglichkeit, höhere Erträge sowie bessere
Qualitäts- und Anbaueigenschaften der Pflanzen gezielter
und schneller zu erreichen. Damit kann sie auch einen Bei-
trag zur Ressourcen schonenden und umweltverträgli-
chen Landwirtschaft leisten.
Wir sollten auch aus einem anderen Grund nicht leicht-
fertig auf die Gentechnik verzichten. Ich meine die Über-
windung des Hungers in der Welt. Jetzt wundere ich
mich, dass Sie von der Regierungskoalition nicht klat-
schen. Ich habe nämlich eben verlesen, was der Bundes-
landwirtschaftsminister beim Bundessortenamt in Han-
nover verkündet hat.
Er hat dies beim Bundessortenamt verkündet, weil er
wusste, dass er dort vor Befürwortern der Gentechnik sitzt.
Ich glaube, dass Herr Funke, wenn er vor Kritikern der
Gentechnik sprechen würde, etwas anderes verkünden
würde. So aber gibt jeder jedem Recht.
Nur findet der kritische Dialog, der über die Gentechnik
geführt werden müsste, nicht statt,
wenn man immer zu denen spricht, die man vor sich hat
und im Grunde genommen deren Akzeptanz möchte und
keine Akzeptanz für die andere Seite verbreitet. Dies ist
das eigentliche Problem, das in Bezug auf die Gentechnik
besteht.
Natürlich gibt es bei der Gentechnik Risiken, die wir
abzuschätzen haben. Aber, meine Damen und Herren,
werden denn diese Risiken in Europa wirklich nicht ab-
geschätzt? Hat zum Beispiel in der Frage des gentechnisch
veränderten Mais – Frau Flach hat darauf aufmerksam ge-
macht – keine Risikoabschätzung stattgefunden? Sie hat
doch stattgefunden, und zwar beim Robert-Koch-Institut
sowie beim Bundessortenamt.
Vor dem Bundessortenamt hat ein Mitglied der Bun-
desregierung gerade dessen Kompetenz herausgestellt.
Aber dann, als sich das Bundessortenamt für die Zulas-
sung dieses Maises entscheiden wollte, hat die Bundesre-
gierung genau diese Kompetenz wieder bestritten.
Denn man wollte aus politischen Gründen nicht, dass die-
ser Mais zugelassen wird.
Meine Damen und Herren, wozu wenden Sie dann die-
se Anstrengungen auf? Wozu dient das umfassende Re-
gelwerk, das es dort gibt, wenn nachher nicht nach des-
sen Regeln entschieden werden darf? Dies ist doch das
eigentliche Problem.
Kollege Ronsöhr, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?
Bei Uli
Heinrich immer.
Herr Kollege Ronsöhr, wür-
den Sie mir Recht geben, dass die Bundesregierung genau
entgegengesetzt zu dem gehandelt hat, was der Herr
Staatssekretär an diesem Pult gerade verkündet hat?
Natürlich.Der Staatssekretär hat sich damit herausgeredet, dass die-ses Regelwerk jetzt verändert werden muss. So redet mansich immer heraus. Erst schafft man gemeinsam ein Re-gelwerk und bekennt sich dazu. Wenn dieses RegelwerkKonsequenzen haben soll, dann zieht man sich zurück.Denn im Grunde genommen muss man auf die Grünen und
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Parlamentarischer StaatssekretärWolf-Michael Catenhusen9186
einige Rot-Grüne Rücksicht nehmen, die die Parteipro-blematik der Grünen verinnerlicht haben.
Das ist doch das eigentliche Problem in unserem Lande,nicht nur in diesem Bereich.
Hier wäre es vernünftig, Rahmenbedingungen zu be-schreiben. Sie sind heute im Zusammenhang mit der Bio-sicherheit in diesem Hause diskutiert worden. Wir habennichts dagegen, solche Rahmenbedingungen zu beschrei-ben. Aber wenn nach den Rahmenbedingungen entschie-den wird, dann muss man diese Entscheidungen akzep-tieren und darf sie nicht sofort rückgängig machen oderschon vorher infrage stellen. Wenn man das doch tut, wirddas viele nicht ermutigen, die sich gerade im Bereich derGentechnik einsetzen. Nachher ist es dann wieder so, wieAlbert Deß es beschrieben hat: Erst wollen wir Entwick-lungen in Deutschland nicht, dann müssen wir sie aus demAusland nach Deutschland zurückholen. Das ist zu kriti-sieren und zu verändern.Wenn Sie hier nach der Devise, die der Bundesland-wirtschaftsminister – an dieser Stelle will ich ihn in der Tatloben – ausgegeben hat, handeln würden, dann hätten Sieden gentechnisch veränderten Mais in Deutschland zuge-lassen. Aber das können Sie nicht, weil dann wieder Rot-Grüne kommen und diesen Mais zertreten. Damit zertre-ten sie auch Entwicklungen, die wir in Deutschland un-bedingt benötigen.
Vielen Dank, dass auch Sie von der sozialdemokrati-schen Seite mir so ruhig zugehört haben.
Ich schließe die Aus-sprache.Wir stimmen über die Entschließungsanträge zurGroßen Anfrage der Fraktion der F.D.P. zu den Chancender Gentechnik als Schlüsseltechnologie des 21. Jahr-hunderts ab, und zwar zunächst über den Entschließungs-antrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/3103.Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs-antrag ist mit den Stimmen der SPD, der Bündnisgrünenund der PDS gegen die Stimmen von F.D.P. undCDU/CSU abgelehnt.Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Druck-sache 14/3104. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ent-schließungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegendie Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt worden.Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt,Naturschutz und Reaktorsicherheit zu den Unterrichtun-gen der Bundesregierung zu Vorschlägen für Entschei-dungen des Rates zum vorläufigen Verbot von genetischverändertem Mais in Österreich und Luxemburg, Druck-sache 14/838. Der Ausschuss empfiehlt die Annahme ei-ner Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussemp-fehlung? –Wer stimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD,von Bündnis 90/Die Grünen und der PDS-Fraktion ange-nommen worden.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b sowieZusatzpunkt 6 auf:11. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-Jürgen Hedrich, Dr. Christian Ruck, Dr. NorbertBlüm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUBemühungen um Agrarreformen in Entwick-lungsländern verstärken– Drucksache 14/1663 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung
Auswärtiger AusschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forstenb) Beratung des Antrags der Abgeordneten ReinholdHemker, Adelheid Tröscher, Brigitte Adler, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowieder Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack,Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller ,Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENAgrarreform in der Entwicklungszusammen-arbeit einen höheren Stellenwert geben– Drucksache 14/1194 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.Helmut Haussmann, Joachim Günther ,Ulrich Irmer, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der F.D.P.Agrarpolitische Entwicklungszusammenarbeitfördern– Drucksache 14/3102 –Interfraktionell ist vereinbart, dass die Reden zu Pro-tokoll gegeben werden*). Sind Sie damit einverstanden?– Das ist der Fall. Dann wird so verfahren.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 14/1194 und 14/1663 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. DieVorlage auf Drucksache 14/3102 soll an dieselben Aus-schüsse wie die Vorlage auf Drucksache 14/1663 über-wiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das istder Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:Zweite und dritte Beratung des von den AbgeordnetenEva Bulling-Schröter, Monika Balt, Dr. Dietmar Bartsch,
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 98. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2000
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr9187
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung desAtomgesetzes– Drucksache 14/841 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
– Drucksache 14/2618 –Berichterstattung:Abgeordnete Horst KubatschkaKurt-Dieter GrillMichaele HustedtBirgit HomburgerEva-Maria Bulling-SchröterMit Ausnahme des Redebeitrags der PDS sollen alleReden zu Protokoll gegeben werden**). Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist der Fall.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die KolleginEva Bulling-Schröter, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ihnen liegt heute unser Ge-setzentwurf vor, der die Bundesregierung und die Frak-tionen der SPD und des Bündnis 90/Die Grünen an einVersprechen erinnern soll: Die rot-grüne Bundesregie-rung wollte binnen 100Tagen nach Amtsantritt das Atom-gesetz ändern. Das ist jedoch nicht erfolgt. Stattdessen hatdie Bundesregierung Gespräche mit den Atomkraft-werksbetreibern aufgenommen. Wenn ich den Verlaufdieser Gespräche richtig interpretiere, hat sich die Bun-desregierung so weit über den Tisch ziehen lassen, dassvon einem Ausstieg nicht mehr die Rede sein kann. DieBundesregierung verfolgt nicht mehr den Ausstieg, sieplant ein Atomkraftverstromungsgesetz.Wenn ich den jüngsten Parteitagsbeschluss der Grünenrichtig lese, dann soll den Atomkraftwerken eine 30-jährige Laufzeit auf Basis einer durchschnittlichwährend dieses Zeitraums erzeugten Strommenge zuge-standen werden. Wie ist diese Strategie zu bewerten?Erstens ist die Laufzeit indiskutabel lang.
Sie liegt weit über den jeweiligen Amortisationszeit-räumen dieser Kraftwerke.
– Richtig, das ist ein schwieriges Wort.Das zweite Problem betrifft das flexible Entgegen-kommen der Bundesregierung bezüglich einer Restlauf-zeit, die auf der Grundlage einer Gesamtmenge Atom-strom ermittelt werden soll. Denn – erstens –: Werden einoder zwei Atomkraftwerke früher vom Netz genommen,sollen andere dafür länger betrieben werden dürfen. Zwei-tens – und noch schlimmer –: Stillstandszeiten, die sichaus Auflagen der Atomaufsicht ergeben, würden das zeit-liche Betriebsende verlängern. DieBetreiber erhoffen sichvon einer solchen Atomkraftverstromungsgarantie einengewissen Schutz gegen eine „Politik der Nadelstiche“.Angesichts dieser Aussichten fordere ich Sie auf, dieGespräche über Restlaufzeiten ergebnislos abzubrechen.
– Richtig, das entscheiden Sie, aber ich kann Sie dazu auf-fordern! – Denn das von Ihnen favorisierte Atomkraft-verstromungsgesetz ist ein Schritt zurück statt nach vorn.
Statt weiterhin einen Ausstieg im Konsens zu verfol-gen, sollte die Zweckbestimmung des Atomgesetzesschlicht und einfach geändert werden und zwar mit demZiel eines „schnellstmöglichen Ausstiegs“. Unser Ent-wurf fordert dies. Die Zweckänderung müsste von den Ge-richten in allen zukünftigen Entscheidungen als unmiss-verständlicher Auftrag des Gesetzgebers berücksichtigtwerden.Im zweiten Punkt unseres Entwurfes fordern wir einumgehendes Verbot derWiederaufarbeitung.
Die Wiederaufarbeitung geht nachweislich mit einer un-zumutbaren radioaktiven Belastung einher. Ich erinnereSie an die radioaktiven Tauben, an die erheblichen Ein-leitungen radioaktiver Abfälle in die Irische See und in denAtlantik. Ich erinnere an das Problem, das keine hinrei-chende Vorsorge gegen das Abzweigen von waffentaug-lichem Material getroffen werden kann. Auch Sellafieldsollte genug Gründe für ein sofortiges Verbot der Wie-deraufbereitung geben.Verehrte Kolleginnen und Kollegen der SPD und derGrünen,
wenn noch in dieser Legislaturperiode Castor-Transportemit verglasten Abfällen aus La Hague nach Gorlebenstattfinden sollten, dann können Sie damit rechnen, dassder innenpolitische Frieden nachhaltig gestört wird.
Sie wissen, glaube ich, sehr gut, was da auf Sie zukommt.Zum dritten und letzten Punkt unserer Initiative: DerKonflikt mit der Bevölkerung an den Endlagerstand-orten Gorleben und Salzgitter dauert nun schon vieleJahre an, ohne dass ein Ende in Aussicht steht. Wir be-grüßen daher alle Initiativen der Bundesregierung, mittelseines belastbaren Kriterienkatalogs einen neuen Standortfür alle radioaktiven Abfälle zu suchen.Der Bericht des Rates der Sachverständigen für Um-weltfragen legt dar, dass es aufgrund von Gasbildungs-prozessen niemals ein vollständig dichtes und sicheres
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Präsident Wolfgang Thierse9188
*) Anlage 2**)Anlage 3Endlager geben kann. Er kann lediglich relative Sicherheitvor gesundheitlichen Beeinträchtigungen versprechen.Diese Einsicht sollte von allen Beteiligten geteilt werden,da ansonsten keine sachliche Auseinandersetzung möglichwird.Wir brauchen zur Lösung des Endlagerproblems ein po-litisch faires und von sachlichen Erwägungen getragenesVerfahren zur Auswahl eines neuen Standortes. Um dasVertrauen wiederzugewinnen, muss den Betroffenen des-halb bereits sehr frühzeitig die Gelegenheit gegeben wer-den, ihre Rechte wahrzunehmen. Die Atomgesetzände-rung der vorherigen Bundesregierung beinhaltete dagegeneine Verkürzung dieser Rechte.Die Aufnahme umfassender Vorrechte für den Bau desEndlagers Gorleben im Atomgesetz anstelle einer alter-nativen Nutzung des Grundes und des Bodens durch denEigentümer Bernsdorf hat dem Konflikt um ein fairesAuswahlverfahren nur eine neue Spitze gegeben. Es ist da-her an der Zeit, ein Zeichen des guten Willens zu setzenund die Änderungen des Atomgesetzes von 1998 in Formder umfassenden Veränderungssperren des § 9 zurückzu-nehmen.Danke.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der PDS zur Änderung des Atomgesetzes auf
Drucksache 14/841. Der Ausschuss für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksa-
che 14/2618, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich lasse jetzt über den Gesetzentwurf der PDS auf
Drucksache 14/841 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung gegen die Stimmen der PDS-Fraktion
abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung
die weitere Beratung.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung
angelangt.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Donnerstag, den 13. April 2000, 9 Uhr ein.
Ich wünsche einen heiteren Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.