Gesamtes Protokol
Verehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Ich begrüße Sie. Die Sitzung ist er-
öffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-
binettssitzung den Entwurf eines Gesetzes zur Errich-
tung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung
und Zukunft“ mitgeteilt. Das Wort für den einleitenden
fünfminütigen Bericht hat der Parlamentarische Staats-
sekretär beim Bundesminister der Finanzen, Karl Diller.
K
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kol-leginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat heuteden Gesetzentwurf zur Errichtung der Stiftung „Erinne-rung, Verantwortung und Zukunft“ beschlossen. Damitwird ein Vorhaben zugunsten von Zwangsarbeitern undanderen NS-Opfern umgesetzt, das bereits im Koaliti-onsvertrag vorgesehen ist und durch Initiativen deut-scher Unternehmen sowie multilaterale Gespräche unterLeitung von Graf Lambsdorff und dem stellvertretendenamerikanischen Finanzminister Eizenstat vorbereitetworden ist.Ausgangspunkt des Gesetzentwurfes ist das vielfälti-ge und große Unrecht, das in der NS-Zeit von Deutscheninsbesondere den jüdischen Bürgerinnen und Bürgern inDeutschland und seinen Nachbarstaaten zugefügt wor-den ist. Zahlreiche Bürgerinnen und Bürger vor allemder besetzten Gebiete in Osteuropa wurden überdies zurZwangsarbeit herangezogen. In vielfältiger Hinsicht wa-ren deutsche Unternehmen in die Zufügung verfol-gungsbedingter Vermögensschäden durch das NS-Re-gime verstrickt.Zum Ausgleich dieser Schäden hat in der Vergangen-heit eine Reihe deutscher Unternehmen Ausgleichsleis-tungen in Höhe von rund 100 Millionen DM geleistet.Der Hauptanteil an Wiedergutmachungsleistungen wur-de aus staatlichen Mitteln finanziert: bislang 104 Mil-liarden DM. Mit der Stiftung wollen die deutschen Un-ternehmen und die Bundesregierung ein zusätzliches, fürdie beteiligten Unternehmen in finanzieller Hinsicht ab-schließendes Zeichen moralischer Verantwortung set-zen.Lassen Sie mich kurz zu dem Inhalt des Gesetzent-wurfes Folgendes sagen: Die Stiftung wird mit 10 Mil-liarden DM ausgestattet, davon je 5 Milliarden DM sei-tens der öffentlichen Hand und der Unternehmen. Da-raus sollen Leistungen insbesondere an ehemaligeZwangsarbeiter und an Personen, die nationalsozialis-tisch bedingt sonstige Personenschäden erlitten haben,zum Beispiel Opfer pseudomedizinischer Versuche, oder zum Ausgleich von Schäden, die Kinder vonZwangsarbeitern durch Unterbringung in den so genann-ten Kinderheimen erlitten haben, gezahlt werden. Soweitverfolgungsbedingte Vermögensschäden nicht bereitsdurch das Bundesentschädigungsgesetz oder das Bun-desrückerstattungsgesetz erfasst wurden, soll jetzt einAusgleich dieser Vermögensschäden ermöglicht werden.Die Stiftung ist auch für sonstige Vermögensschädenaus der Zeit des NS-Regimes geöffnet, sofern an derenZufügung deutsche Unternehmen direkt und schadensur-sächlich beteiligt waren.Das Gesetz legt die Organe und die Organisation derStiftung fest. Die Verteilung der Mittel soll mithilfe vonPartnerorganisationen erfolgen. Unabhängige Beschwer-deausschüsse bei diesen Partnerorganisationen sollen dieRechtmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Leistungen si-cherstellen.Der Gesetzentwurf musste jetzt im Kabinett beschlos-sen werden, um eine Verabschiedung des Gesetzes nochvor der Sommerpause dieses Jahres möglich zu machen.Ich gehe davon aus, dass der Gesetzentwurf parallel überdie Fraktionen dieses Hohen Hauses eingebracht werdenwird. Er soll eine zeitlich weniger gedrängte intensiveBeratung ermöglichen. Eine parallele Einbringung desGesetzentwurfes halte ich aber auch im Hinblick auf denInhalt der Regelungen für besonders wünschenswert.Wir streben Einvernehmen über den Gesetzentwurf mitallen Fraktionen diesen Hohen Hauses an; gestern hattenwir dazu ein weiteres Gespräch. Es wäre schön, wennwie bei den Fragen der Wiedergutmachung – da ist es
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die Regel – der breite Konsens unseres Parlaments die-ses wichtige Vorhaben tragen würde.Der Gesetzentwurf gibt den derzeitigen Stand der in-ternationalen Gespräche mit den Opfergruppen und denRegierungen der USA und der osteuropäischen Staatenwieder. Graf Lambsdorff hat diese Verhandlungen imAuftrag des Bundeskanzlers geführt und der Bundes-kanzler hat ihm im Kabinett in seiner Anwesenheit aus-drücklich für seine verdienstvollen Bemühungen undseine verantwortungsvolle Verhandlungsführung ge-dankt.
Graf Lambsdorffs Verhandlungen haben hinsichtlichwichtiger Fragen bisher noch kein abschließendes Er-gebnis erzielen können. Im Zuge der parlamentarischenBeratungen werden daher noch einzelne Ergänzungenerfolgen können und müssen. Dies gilt zuvörderst für dieVerteilung der Mittel, das Hauptthema der Verhandlun-gen, die Graf Lambsdorff heute und morgen bestreitenwird.An den Verhandlungen sind Abgeordnete aller Frak-tionen dieses Hauses seit langem beteiligt. Dies warnicht nur wichtig, um alle Fraktionen am Informations-fluss und Entscheidungsprozess teilhaben zu lassen,sondern auch als Demonstration des Einvernehmens über die Bedeutung dieses Vorhabens und unseres Um-gangs mit Schuld und Verantwortungsbewusstsein fürdiese Aufgabe. Wir wollen und müssen zu schnellen,fairen und angemessenen Leistungen der Stiftungen fürdie sehr betagten Opfer, die Adressaten von NS-Un-recht, gelangen.
Ich danke Ihnen,
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, für den Bericht.
Ich eröffne die Befragung. Ich bitte, zunächst Fragen
zu dem Themenbereich zu stellen, über den soeben be-
richtet wurde. Liegt der Wunsch nach einer Befragung
der Bundesregierung vor? – Herr Kollege Seifert.
Herr Präsident, mit Ihrer Er-
laubnis würde ich gern zwei Fragen hintereinander stel-
len.
Herr Staatssekretär Diller, Sie sagten einleitend, dass
es der Bundesregierung darum geht, ein abschließendes
Zeichen gegen das Unrecht, das an Millionen Menschen
verübt wurde, zu setzen. Ich gehe davon aus, dass das
auch im Einvernehmen mit den osteuropäischen Län-
dern geregelt wird. Liegt Ihnen mehr an dem Zeichen
oder mehr an dem Abschluss?
Ich kann nicht verhehlen, dass mich die Debatte der
letzten Zeit deshalb gelegentlich unangenehm berührte,
weil ich den Eindruck haben musste, dass es der Bun-
desregierung und insbesondere der deutschen Wirtschaft
eher darum geht, einen Schlussstrich zu ziehen und Ru-
he zu haben. Das fände ich nicht so gut. Wo liegen die
Akzente der Bundesregierung in Bezug auf ein abschlie-
ßendes Zeichen?
K
Herr Kollege, beides ist wichtig. Es ist
wichtig, dass wir jetzt, nach so langer Zeit, dieses mora-
lische Zeichen setzen, und es ist wichtig, dass wir zu ei-
nem Abschluss kommen, damit auch die noch Lebenden
nicht nur das moralische Anliegen empfinden, sondern
auch die Leistungen empfangen können, die wir in die-
sem Stiftungsgesetz vorsehen.
Eine weitere Frage
des Kollegen Seifert.
Herr Staatssekretär, vielen
Dank, dass Sie noch einmal die moralische Verpflich-
tung deutlich betont haben.
Ich habe noch eine andere Frage. Sie sprachen davon,
dass auch Opfer pseudomedizinischer Versuche von die-
ser Stiftung bedacht werden sollen. Darf ich das dahin
gehend verstehen, dass Sie jetzt auch den so genannten
Euthanasieopfern und Zwangssterilisierten die ihnen
meines Erachtens mehr als zustehende Entschädigung
möglichst rasch auszahlen wollen? Oder bedarf es noch
weiterer Anstrengungen seitens des Parlamentes und der
Regierung, damit auch diese Menschen möglichst bald –
sie sind schließlich schon in hohem Alter; Sie sagten es
eben – wenigstens eine geringfügige geldliche Entschä-
digung für das ihnen zugefügte Leid bekommen?
K
Der Gesetzentwurf sieht bezüglich derStiftungsmittel eine Aufteilung der Opfer in Gruppenentsprechend der Schwere des zugefügten Leids vor.Die erste Gruppe besteht beispielsweise aus denjeni-gen, die sowohl KZ-Haft als auch Zwangsarbeit erleidenmussten. Deshalb besteht die Frage, in welche Gruppie-rung die von Ihnen angesprochenen Betroffenen einge-stuft werden. Nach § 11 des Gesetzentwurfes wird imRahmen der Leistungsberechtigung auf diejenigen abge-hoben, die in einem Konzentrationslager, einer anderenHaftstätte oder in einem Getto unter vergleichbaren Be-dingungen inhaftiert waren und zur Arbeit gezwungenwurden. Die zweite Gruppe besteht aus denjenigen, die aus ih-rem Heimatstaat in das Gebiet des Deutschen Reiches inden Grenzen von 1937 oder in ein vom Deutschen Reichbesetztes Gebiet deportiert wurden, zu einem Ar-beitseinsatz in einem gewerblichen Unternehmen oderim öffentlichen Bereich gezwungen wurden und unteranderen Bedingungen als zu den unter Punkt 1 genann-ten inhaftiert oder haftähnlichen Bedingungen bzw. ver-gleichbaren besonders schlechten Lebensbedingungenunterworfen waren. Diese Regelung gilt nicht für Perso-nen, die nach Österreich deportiert worden sind. Die dritte Gruppe besteht aus denjenigen, die im Zuge rassischer Verfolgung unter wesentlicher undschadensursächlicher Beteiligung deutscher Unterneh-men Vermögensschäden im Sinne der Wiedergutma-chungsgesetze erlitten haben und mangels Erfüllung derWohnsitzvoraussetzung des Bundesentschädigungsge-Parl. Staatssekretär Karl Diller
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000 8673
setzes hierfür keine Leistungen erhalten konnten oderaufgrund ihres Wohnsitzes oder dauernden Aufenthaltesin einem Gebiet, mit dessen Regierung die Bundesrepu-blik Deutschland keine diplomatischen Beziehungen un-terhielt, nicht imstande waren, fristgerecht Rückerstat-tungsansprüche geltend zu machen. Sonderregelungenim Rahmen des International Committee of HolocaustEra Insurance Claims bleiben unberührt. Die Partnerorganisationen können im Rahmen der ih-nen nach diesem Stiftungsgesetz zugewiesenen MittelLeistungen auch solchen Opfern nationalsozialistischerUnrechtsmaßnahmen gewähren, die nicht zu einer dergenannten Fallgruppen gehören.
Herr Staatssekretär,
wollen Sie darauf noch antworten? Die Frage war, ob
auch medizinische Opfer davon betroffen sind. – Dann
hat der Kollege Volker Beck eine Frage.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir – auch im Kontext
der Fragen, die Herr Seifert gestellt hat – zu, dass insbe-
sondere im Rahmen der Öffnungsklausel durch die Part-
nerorganisationen weitere humanitäre Aspekte abge-
deckt werden können, dass dies länderspezifisch ge-
schehen kann und dass angesichts der Frage, die Sie,
Herr Seifert, angesprochen haben, ob nämlich der
Schlussstrich oder die moralische Verantwortung, die
wir gemeinsam übernehmen wollen, im Vordergrund
steht, deutlich wird, dass es uns vor allem um die mora-
lische Verantwortung geht und im Hinblick auf die Fra-
ge des Schlussstriches nur um Rechtsfragen?
Dies wird in § 16 des Gesetzentwurfes sehr deutlich
ausformuliert. Man will nämlich einerseits Rechtssi-
cherheit gewähren und andererseits wird im dritten Ab-
satz des § 16 gesagt: „Weitergehende Wiedergutma-
chungs- und Kriegsfolgenregelungen bleiben hiervon
unberührt“, was bedeutet, dass zum einen Rechtsansprü-
che, die nach deutschem Entschädigungsrecht bestehen,
durch diese Stiftung nicht verloren gehen und dass zum
anderen das in der Koalitionsvereinbarung niedergelegte
Projekt einer Bundesstiftung „Entschädigung für NS-
Unrecht“ für die „vergessenen Opfer“ nach dieser Dis-
kussion vom Parlament noch einmal unter finanziellen,
moralischen und rechtlichen Gesichtspunkten vorurteils-
frei geprüft wird.
Bitte schön.
K
Dem ist so.
Eine Frage des Kol-
legen Wolfgang Zeitlmann.
Herr Staatsse-
kretär, können Sie mir näher erläutern, welche Scha-
densersatzansprüche unter der Rubrik „Vermö-
gensschaden“ konkret abgeglichen werden sollen? In der
Presse gibt es diesbezüglich Meldungen, die ein biss-
chen widersprüchlich sind.
K
Herr Kollege, bezüglich der Vermögens-
schäden gibt es zunächst einmal folgende Bestimmung:
Nach § 11 Abs. 1 Nr. 3 umfassen die Stiftungsmittel die
Beträge, die dem International Committee of Holocaust
Era Insurance Claims von der Stiftung oder deutschen
Versicherungsunternehmen für Leistungen aus Versi-
cherungsschäden zur Verfügung gestellt wurden oder
noch werden. Schadensersatzansprüche haben diejeni-
gen, die im Zuge rassischer Verfolgung unter wesentli-
cher und schadensursächlicher Beteiligung deutscher
Unternehmen, Vermögensschäden im Sinne der Wie-
dergutmachungsgesetze erlitten haben.
Eine weitere Fra-
ge? – Herr Kollege Zeitlmann.
Herr Staatsse-
kretär, darf ich ergänzend fragen: Stimmen dann Berich-
te nicht, in denen es heißt, dass es sich in diesem Be-
reich um eine institutionelle Förderung von Organisatio-
nen und eventuellen Siedlungsprojekten handelt?
K
Diese Frage würde ich gerne prüfen las-
sen, aber ich vermute, die Antwort heißt nein.
Eine Frage des Kol-
legen Bosbach.
Herr Staatssekre-tär, ich habe eine Frage zu der Abgrenzung von Skla-venarbeit und Zwangsarbeit im Hinblick auf diejenigenOpfer, die in einem Arbeitserziehungslager interniertwaren. Hier gibt es, auch unter Historikern, unterschied-liche Auffassungen, ob richtigerweise eine Eingruppie-rung in die Rubrik Sklavenarbeit mit der Folge einerPro-Kopf-Entschädigung bis zu 15 000 DM oder eineEingruppierung in die Rubrik Zwangsarbeit mit Höchst-beträgen bis zu 5 000 DM pro Kopf vorgenommen wer-den sollte. Wie ist hierzu die Einschätzung der Bundes-regierung? Zu meiner zweiten Frage. Es ist unstreitig, dass wirim Interesse unseres Staates, der BundesrepublikDeutschland, und insbesondere der deutschen Industriedringend eine umfassende Rechtssicherheit brauchen. Inder Bundesrepublik Deutschland soll sie hergestelltwerden durch das nun zur Beratung anstehende Stif-tungsgesetz, im Verhältnis zu den Vereinigten Staatenvon Amerika durch ein Regierungsabkommen und danndurch ein Statement of Interest der Vereinigten StaatenParl. Staatssekretär Karl Diller
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von Amerika zu den jeweils angerufenen Gerichten.Meine Frage lautet: Wie kann diese notwendige und um-fassende Rechtssicherheit im Verhältnis zu den anderenHauptherkunftsländern der Opfer hergestellt werden? Zu meiner dritten Frage. Der Fonds hat ein Vermögenvon insgesamt 10 Milliarden DM, jeweils zur Hälfte ge-speist von der deutschen Industrie und vom deutschenSteuerzahler. Vor allen Dingen der Bund und auch dieLänder wollen sich beteiligen. Wie kann sichergestelltwerden – und welche Instrumentarien hat die Bundesre-gierung, um dies zu prüfen –, dass die Mittel, die bereit-gestellt werden, die Opfer auch tatsächlich erreichen, umzu vermeiden, was wir in der Vergangenheit leider erle-ben mussten, dass die Gelder zwar zur Verfügung ge-stellt werden, dass aber nachher viele Opfer, Opfergrup-pen oder Opferverbände darüber klagen, dass die zuge-dachten Mittel die noch lebenden Opfer nicht erreichthaben? K
Zu Frage eins würde ich Ihnen gerne eine
schriftliche Antwort zukommen lassen.
Zu Frage zwei: Um diese Frage geht es in den end-
gültigen und abschließenden Verhandlungen.
Zu Frage drei: Sie wissen – gestern haben wir darüber
auch gesprochen –, dass der Gesetzentwurf ausdrücklich
vorsieht, dass die Stiftung zunächst einmal einen Haus-
haltsplan aufzustellen hat und dieser vom Finanzminis-
terium genehmigt werden muss. Die Verwendung der
Mittel unterliegt der Kontrolle des Bundesrechnungsho-
fes. Graf Lambsdorff hat heute Morgen im Kabinett da-
rauf hingewiesen, dass dafür Wirtschaftsprüfer einge-
setzt werden sollen, sodass, denke ich, Ihrem Anliegen
damit hinreichend Rechnung getragen worden ist.
Herr Kollege Bosbach, ich möchte an dieser Stelle
noch auf Folgendes hinweisen – das spielte gestern im
Rahmen unserer Gespräche eine große Rolle –: Ihrem
Anliegen, in § 3 den Hinweis auf die Länder herauszu-
nehmen, ist das Bundeskabinett gefolgt. In der Begrün-
dung haben wir exakt die Formulierung aufgenommen,
die gestern Abend mit Ihnen bezüglich der Beteiligung
der Länder abgesprochen worden ist.
Eine Frage des Kol-
legen Claus.
Herr Staatssekretär, wenn die
Bundesregierung Interesse daran hat, dass alle Fraktio-
nen des Bundestages diesen Gesetzentwurf parallel ein-
bringen, was ich verstehe und unterstütze, so möchte ich
Sie fragen: Ist in dem Entwurf auch vorgesehen, dass al-
le Fraktionen an dem Stiftungskuratorium beteiligt wer-
den sollen? Für den Fall, dass das nicht so sein sollte:
Sehen Sie in diesem Punkt noch Verhandlungsspiel-
raum?
K
Herr Kollege, wir haben gestern in Anwe-
senheit Ihrer Fraktionskollegin Frau Jelpke gerade über
diesen Aspekt mit allen Fraktionen diskutiert. Nach der
Gesetzgebungspraxis ist es so, dass die Fraktionen zu-
nächst einmal den Gesetzentwurf übernehmen, den die
Bundesregierung beschlossen hat, und zwar buch-
stabengetreu. In dem Gesetzentwurf ist die Zahl der Ku-
ratoriumsmitglieder des Deutschen Bundestages mit drei
Mitgliedern festgeschrieben. Es ist aber nicht festge-
schrieben, welche Fraktion wie viele Mitglieder entsen-
det. Dieser Punkt ist also im Laufe der Beratungen zu
klären.
Gestern gab es Äußerungen seitens der Koalitions-
fraktionen, sich einer breiten Diskussion zu öffnen; denn
es ist bei allen Beteiligten das Interesse vorhanden, ei-
nen gemeinsamen Gesetzentwurf zu beschließen.
Herr Kollege
Zeitlmann.
Herr Staatsse-
kretär, Sie haben das gestrige Gespräch mit den Fraktio-
nen dieses Hauses erwähnt. Ich frage Sie: Hat es zu dem
Gesetzestext vor dem gestrigen Termin gemeinsame Ge-
spräche mit den Fraktionen, insbesondere mit den Frak-
tionen der Opposition, gegeben?
K
Herr Kollege, ich selbst habe zweimal an
Diskussionen in einem fachfremden Ausschuss teilge-
nommen – nämlich im Innenausschuss –, um dort da-
rüber zu berichten, was wir gesetzgeberisch vorhaben.
Ich verweise darauf, dass seit Herbst letzten Jahres alle
Fraktionen an den Plenarsitzungen der Verhandlungen
teilgenommen haben.
Ich selbst habe daran nicht teilgenommen. Aber ich
habe mir berichten lassen, dass die Vertreter der Frakti-
onen aktiv an den Debatten teilgenommen haben. Von
daher ist a) über den Fortgang der Verhandlungen und b)
über die gesetzgeberischen Tätigkeiten, die parallel dazu
stattfinden, informiert worden.
Herr Staatsse-
kretär, ich wollte Sie eigentlich nicht nach den Verhand-
lungen fragen, sondern ich wollte Sie fragen, ob nach
Ihrem Wissen bei der Vorbereitung des Gesetzestextes
im Vorfeld – also über das Gespräch gestern Abend hin-
aus – weitere Gespräche mit anderen Fraktionen stattge-
funden haben.
K
Wir haben im Innenausschuss über denStand unserer gesetzgeberischen Vorhaben berichtet.Schon damals – das ist jetzt von der PDS wieder ange-sprochen worden – hat die Zahl der Mitglieder des Deut-schen Bundestages, die im Kuratorium vertreten seinsollen, eine Rolle gespielt. Sie müssen Herrn Bosbach fragen, ob ihm der Ge-setzentwurf gestern Abend zum ersten Mal präsentiertWolfgang Bosbach
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000 8675
worden ist – in dieser Fassung sicherlich, weil er erst imLaufe des gestrigen Tages seinen Feinschliff bekommenhat. Auch Herr Bosbach hat mitbekommen, dass nochwährend unseres Gespräches eine korrigierte Fassungdesjenigen Entwurfs vorgelegt wurde, den ich Ihnen alsBeratungsgrundlage auf den Tisch legen konnte. Inso-fern handelt es sich um einen permanenten Prozess, derdie zwischenzeitlichen Ergebnisse aus den Verhandlun-gen einbindet.
Eine Frage des Kol-
legen Volker Beck.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir zu, dass man fast
davon sprechen könnte, dass die Oppositionsfraktionen
in einer beispiellosen Weise in die Vorbereitungen zu
diesem Gesetzgebungsverfahren eingebunden worden
sind,
dass in zahlreichen Verhandlungsrunden verschiedene
Entwurfsstadien im Kreise der Berichterstatter beleuch-
tet und diskutiert worden sind und dass die Argumente
aus allen Fraktionen in die Vorbereitung des Kabinetts-
beschlusses einfließen konnten?
K
Herr Kollege, als Regierungsvertreter
möchte ich mich der Meinung enthalten. Aber wenn das
Ihre Wertung ist, dann ist es gut so.
Kollege Bosbach.
Ich melde mich
wegen der Frage des Kollegen Beck. Es handelt sich
selbstverständlich nicht um eine rhetorische Frage, ich
bitte um eine Beantwortung.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie darin überein, dass
wir bei den Verhandlungsrunden von Anfang an zuge-
gen waren, ohne aber zunächst in die Verhandlungen
eingegriffen zu haben? Das war auch gar nicht ge-
wünscht, weil wir ja zuerst eine Einigung über die Ge-
samthöhe des Fondsvermögens erzielen wollten. Seit
Anfang dieses Jahres beteiligen wir uns aber aktiv an
den Verhandlungen.
Wir haben die Entwürfe – das ist jetzt der vierte Ent-
wurf – immer zeitnah erhalten; das ist richtig. Aber
stimmen Sie mir zu, dass eine Mitarbeit der Opposition
an der Erarbeitung der Texte ausdrücklich deshalb nicht
gewünscht war, damit wir nicht Augen- und Ohrenzeu-
gen der Verhandlungen zwischen Rot und Grün werden?
K
Zu der letzten Frage: Es entzieht sich
meiner Kenntnis, ob das jemand als bestimmenden
Grund angesehen hat. Es ist in der Tat so, wie Sie gesagt
haben, Herr Bosbach: Alle Oppositionsfraktionen stan-
den in ständigem Kontakt mit den Regierungsvertretern,
sie waren auch bei den Verhandlungen. Von daher
stimmt die Einschätzung des Kollegen Beck sicherlich.
Nach dieser bei-
spielhaft freundlichen Antwort gibt es keine weitere
Frage zu diesem Themenkomplex.
Darf ich fragen, ob im Rahmen der Regierungsbefra-
gung Fragen zu anderen Themen gestellt werden möch-
ten? – Herr Kollege Koppelin.
Ich möchte die Bundes-
regierung fragen, ob es heute im Kabinett eine Diskussi-
on über den geplanten Export des Spürpanzers Fuchs
in die Vereinigten Arabischen Emirate gegeben hat.
Der „Stern“ wird darüber morgen ausführlich berichten;
es werden auch Aussagen des Staatssekretärs Kolbow
bzw. des Bundesverteidigungsministers Scharping ange-
führt. Gibt es im Kabinett eine einheitliche Meinung
zum Export des Spürpanzers Fuchs in die Vereinigten
Arabischen Emirate? Falls – wie ich es von dieser Re-
gierung erwarte – die Frage nicht beantwortet werden
kann, frage ich, ob es überhaupt eine Exportvoranfrage
gibt.
Herr Staatsminister,
bitte schön.
D
Herr Koppelin, das war nicht Thema der Kabi-
nettssitzung. Wie Sie wissen, befasst sich der Bundessi-
cherheitsrat mit solchen Fragen und dieser hat sich da-
mit bisher noch nicht abschließend befassen können.
Eine weitere Frage
des Kollegen Koppelin.
Herr Staatsminister, darf
ich fragen, wie es möglich ist, dass, wenn diese Fragen,
was ich akzeptiere, nicht im Kabinett, sondern im Bun-
dessicherheitsrat behandelt werden, wir fast täglich
Meinungen von Vertretern der Ministerien, die Mitglied
im Bundessicherheitsrat sind, in den Medien lesen kön-
nen. Spüren Sie eigentlich dem nach, der plaudert? Wie
ist Ihre Haltung? Oder muss ich als Abgeordneter alles
den Medien entnehmen?
D
Herr Koppelin, einer Entscheidung geht immer ei-ne Meinungsbildung voraus.Parl. Staatssekretär Karl Diller
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Bitte schön, Herr
Koppelin.
Herr Staatsminister, da
Sie früher als Abgeordneter in einer Oppositionsfraktion
waren: Teilen Sie meine Auffassung, dass auch Sie frü-
her gesagt hätten, dass die Regierung, wenn sie damals
so geantwortet hätte wie Sie heute, kneift und sich um
eine Antwort herumdrückt, weil es unterschiedliche
Auffassungen in der Koalition gibt?
D
Kneifen kann uns beim Thema Rüstungsexport si-
cherlich niemand vorwerfen. Das würde auch Ihrer Di-
agnose widersprechen, wir würden öffentlich zu lebhaft
darüber diskutieren.
Gibt es sonstige
Fragen an die Bundesregierung? – Das ist nicht der Fall.
Dann danke ich dem Parlamentarischen Staatssekretär
Diller und dem Staatsminister Volmer und beende die
Regierungsbefragung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
– –
Ich rufe zunächst den Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums der Verteidigung auf. Zur Beantwortung
steht die Parlamentarische Staatssekretärin Brigitte
Schulte zur Verfügung.
Wir kommen zu Frage 1 des Abgeordneten Wolfgang
Dehnel:
Beabsichtigt die Bundesregierung angesichts der Tatsache, dass über die Hälfte der deutschen KFOR-Soldaten in den neuen Bundesländern beheimatet ist, deren verständlichem Wunsch entgegenzukommen, künftig bei Heimaturlaubs-Flügen neben Köln/Bonn auch Berlin oder Leipzig anzufliegen, um die über-durchschnittlich lange Anreise in die Heimatstandorte zu erleichtern?
B
Herr Präsident! Meine
Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Dehnel, die
von Ihnen angesprochene Regelung ist bereits bei der
Rückkehr früherer Kontingente kritisch hinterfragt wor-
den. So mussten zum Beispiel Soldaten aus bayerischen
Standorten – Herr Zeitlmann dreht uns gerade den Rü-
cken zu – nach einem Einsatz im Kosovo aus organisa-
torischen Gründen in Köln/Bonn landen und eine acht-
stündige Busreise – das habe ich gelernt, als ich den
Standort Brannenburg mit ihm besucht habe – auf sich
nehmen.
Ihre Frage war aber hilfreich, weil man noch einmal
überprüfen muss, warum so etwas geschieht. Es gibt
folgende Gründe – sie scheinen mir stichhaltig zu sein,
wenn sie auch unbefriedigend sind –:
Erstens. Jede Zwischenlandung verursacht zusätzli-
che Kosten und erhöht den Zeitaufwand für das fliegen-
de Personal. Sie müssen möglicherweise eine weitere
Crew mitnehmen.
Das Zweite ist – das scheint mir das gewichtigste Ar-
gument zu sein –: Die Kontrolle der Rückkehrer durch
den Zoll und die eigenen, bundeswehrspezifischen For-
malitäten müssten dann an den verschiedenen Zielorten
erfolgen. Wir haben leider Gründe dafür, dies jeweils
organisieren zu müssen.
Drittens. Es hat sich außerdem ergeben, dass es bei
jedem Einsatzkontingent – auch jetzt zum Beispiel bei
den Soldaten, die zu 65 Prozent aus den neuen
Bundesländern stammen – ganz viele Standorte gibt, aus
denen sie kommen – es sind nicht etwa nur geschlossene
Verbände –, sodass eine eindeutige Zuordnung zu den
unterschiedlichen Flughäfen schwierig ist. Dies gilt
zumal, weil die Leute zwar oft an einem Standort
arbeiten, aber ihre Familien, bei denen sie Urlaub
machen, woanders leben. Ich will aber nicht verhehlen –
um das abschließend festzustellen –, dass die
augenblickliche Regelung noch unbefriedigend ist.
Eine Zusatzfrage.
Frau Staatssekretä-
rin, es freut mich, dass Sie das Problem genauso sehen.
Ich habe aber nicht nach Zwischenlandungen gefragt,
sondern meine wirklich ein direktes Anlanden in Berlin.
Dort gibt es auch einen Militärflughafen und da dürfte es
ja relativ einfach sein – für meine Begriffe und auch
nach Einschätzung durch die Soldaten –, dort die Sol-
daten in den Urlaub zu entlassen.
Ich bedanke mich ausdrücklich dafür, dass wir Gele-
genheit hatten, bei den KFOR-Truppen zugegen zu sein.
Sie können die Grüße und den Dank Herrn Staatssekre-
tär Kolbow bitte ausrichten. Wir haben uns darüber sehr
gefreut.
Aber wenn wir dann von den Soldaten solche Fragen
bekommen, möchten wir schon gern, dass diese Fragen
auch entsprechend beantwortet werden, bzw. dass man
ihnen auch hilft. Ich glaube schon – vielleicht sehen Sie
es auch so –, dass man dann zumindest Berlin – wenn
schon nicht Leipzig – als direkten Landeort angeben
könnte. Sehen Sie das genauso?
B
Wir haben uns wirklichder Mühe unterzogen und haben einmal aufgeschlüsselt,woher die Leute kommen und welchen Heimatort siehaben. Danach ist das ungeheuer differenziert zu sehenund dann ist Berlin auch nicht so attraktiv, wie wir ge-glaubt haben, wenn man die Prozentsätze sieht. Bei demjetzigen Einsatz wäre vielleicht sogar Hannover der rich-tige Ort, weil von da aus verschiedene Bereiche erreich-bar wären.
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000 8677
Ich kann Ihnen nur Folgendes sagen: Wenn es sichum Urlaub handelt und wir bei den sechs Monaten blei-ben müssen, glaube ich, dass wir uns sowieso einmalüberlegen müssen, ob wir das eigentlich mit unseren ei-genen Bundeswehrmaschinen machen müssen oder obman es nicht durch eine vernünftige Organisation mitzivilen Luftfahrtgesellschaften so macht, dass die Pi-loten dann umsteigen können. Dann könnten die Forma-litäten beim Einstieg erfolgen, wie wir das ja heute auchkennen, und die Leute würden anschließend dichter anihren Heimatort herankommen. Diese Frage ist nichteinfach mit Berlin und Köln/Bonn zu beantworten.
Eine weitere Zu-
satzfrage.
Ich muss doch noch
eine Frage stellen. Ist Ihnen bekannt, dass es für Miss-
stimmung bei den Soldaten, die in Richtung München
bzw. Hannover mitgeflogen sind, gesorgt hat, dass dann,
als der Bundeskanzler oder der Staatssekretär anwesend
waren, dort eine Zwischenlandung möglich war, dass
aber dann, wenn sie das wünschen, dies nicht möglich
ist?
B
Nun würde ich in der Tat
das Zeitbudget eines deutschen Bundeskanzlers etwas
anders einschätzen als einen – wenn auch intensiven –
Einsatz auf dem Balkan. Ich kann Ihnen sagen: Heute
Morgen haben wir im Unterausschuss „Streitkräftefra-
gen in den neuen Bundesländern“ über dieses Thema
gesprochen und dort die Zahlen vorgetragen, die für Sie
heute Nachmittag auch wichtig sind. Ich gehe am Wo-
chenende nach Bosnien und wir werden anschließend,
Anfang April, mit dem Unterausschuss im Kosovo sein.
Wir nehmen uns für diesen Besuch ein bisschen mehr
Zeit, als Sie hatten. Aber wir kennen das Thema. Das ist
nur nicht so einfach zu lösen. Aber Ihre Frage war des-
halb hilfreich, weil man dann noch einmal hinterfragt
und kritisch überlegt: Gibt es da keine andere Lösung?
Wir arbeiten daran.
Vielen Dank.
Ich rufe die Frage 2
des Kollegen Werner Siemann auf:
Welche aktuellen Erkenntnisse liegen der Bundesregierung hinsichtlich des Drogen- und Alkoholmissbrauchs bei Angehö-rigen der deutschen KFOR- und SFOR-Kontingente vor?
B
Herr Kollege Siemann, er-
freulicherweise – so muss man sagen – ist die Zahl der
Alkohol- und Drogenmissbrauchsdelikte nicht so groß,
wie man befürchten könnte. Wir haben auch erst seit
1998 eine verlässliche Grundlage.
Danach ergibt sich Folgendes: Wir haben schon über
60 000 Soldaten – natürlich zum Teil die gleichen, man-
che schon doppelt und dreifach – auf dem Balkan in
Auslandseinsätzen gehabt. Alkoholmissbrauchsfälle ha-
ben wir 13 gehabt und Drogenmissbrauchsfälle 35.
Da kann man wirklich sagen: Das ist im Vergleich eine
geringe Gesamtzahl und das spricht eigentlich für die
Disziplin und die Einsatzbereitschaft der deutschen
Kontingente, auch für die sorgfältige Personalauswahl,
vielleicht auch für die gute Dienstaufsicht durch die
Kommandeure vor Ort sowie für das Verantwortungs-
bewusstsein unserer dort eingesetzten Soldaten.
Eine Zusatzfrage?
Frau Staatssekretä-
rin, was haben Sie denn befürchtet und worauf gründe-
ten sich diese Befürchtungen?
B
Auch Sie haben ja die
Frage vor dem Hintergrund gestellt, dass man immer
wieder etwas über Ausfälle oder über zurückkehrende
Soldaten hört. Wir können für die Bundeswehr sagen,
dass das Ganze erfreulich gut verlaufen ist. Vier bis
sechs Monate unterwegs und von seiner Familie getrennt
zu sein würde, könnte ich mir vorstellen, selbst für Bun-
destagsabgeordnete unter Umständen ein Problem be-
deuten; schon die Trennung von einer Woche ist schwer.
Aber das ist gut verlaufen. Wir haben natürlich, wie in
jeder Armee, Probleme mit Alkohol oder, leider zuneh-
mend, bei den jüngeren Leuten auch mit Drogenmiss-
brauch. Diese sind aber bei der Bundeswehr unverhält-
nismäßig gering.
Eine zweite Zusatz-
frage?
Frau Staatssekretä-
rin, entsprechen die Zahlen der Vorfälle auf dem Bal-
kan, die, wie Sie gesagt haben, verhältnismäßig niedrig
sind, vergleichbaren Zahlen im Inland oder handelt es
sich um Auffälligkeiten?
B
Herr Kollege Siemann,
diese Frage sollten wir in den Verteidigungsausschuss
verlegen, um das Zahlenverhältnis in Ruhe zu diskutie-
ren. Die Zahlen sind bei den deutschen Streitkräften auf
jeden Fall – noch – ungleich geringer; aber es gibt Pro-
bleme. Das hat auch die Wehrbeauftragte dankenswer-
terweise angesprochen, und zwar nicht zum ersten Mal.
Ich nehme Ihr An-
gebot an.
Es gibt keine weite-ren Fragen zu diesem Geschäftsbereich. Ich danke Ih-nen, Frau Parlamentarische Staatssekretärin.Parl. Staatssekretärin Brigitte Schulte
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8678 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeri-ums für Arbeit und Sozialordnung auf. Zur Beantwor-tung steht die Parlamentarische Staatssekretärin UlrikeMascher zur Verfügung.
Um welchen Prozentsatz werden die Regelsätze der Sozial-hilfe zum 1. Juli 2000 gemäß den Bestimmungen in § 22 Abs. 6 Satz 2 des Bundessozialhilfegesetzes erhöht werden?U
Herr Kollege
Weiß, die Regelsätze erhöhen sich zum 1. Juli 2000 um
den Vomhundertsatz, um den sich der aktuelle Renten-
wert in der gesetzlichen Rentenversicherung verändert.
Zusatzfrage?
Frau
Staatssekretärin, da bei der damaligen Beschlussfassung
im Deutschen Bundestag über die Verlängerung dieser
Übergangsregelung, dass der Sozialhilferegelsatz in dem
Maße steigt wie die Rente, seitens der Regierungsfrakti-
onen als Begründung angegeben worden ist, dass man
davon ausgehe, dass die Renten stärker als in den ver-
gangenen Jahren anstiegen und diese Regelung deswe-
gen auch für die Sozialhilfeempfänger angemessen sei,
frage ich Sie: Sieht sich die Bundesregierung jetzt nicht
veranlasst, eine Korrektur vorzunehmen, nachdem fest-
steht, dass die Rente voraussichtlich nur um 0,6 Prozent
steigt und nicht mehr um die Beträge, die damals, als
das Gesetz beschlossen wurde, in Rede standen?
U
Nein, die
Bundesregierung sieht dazu keine Veranlassung. Wir
gehen davon aus, dass die Anpassung entsprechend der
Preissteigerungsrate des Vorjahres nach wie vor den lau-
fenden Bedarf deckt.
Zweite Zusatzfrage.
Frau
Staatssekretärin, wie sind die Absichten der Bundesre-
gierung hinsichtlich der Regelung zur Anpassung der
Regelsätze in der Sozialhilfe für die kommenden Jahre,
da ja die Übergangsregelung bezüglich der Anpassung
in diesem Jahr ausläuft?
U
Herr Weiß,
Sie wissen, dass wir entsprechend unseren früheren Er-
klärungen nach Auswertung der noch von der alten
Bundesregierung in Auftrag gegebenen Gutachten hier
eine Neufestsetzung der Regelsätze planen.
Eine Zusatzfrage
des Kollegen Dr. Grehn.
Frau Staatssekretärin, wie
bewerten Sie die unterschiedlichen Folgen für die Sozi-
alhilfeempfänger in Ost und West angesichts der Tatsa-
che, dass die Eckregelsätze in den neuen Bundesländern
niedriger liegen als in den alten Bundesländern, sich die
Preise aber teilweise auf einem Niveau von 110 Prozent
der Preise in den alten Bundesländern bewegen?
U
Herr Grehn,
wenn man die Entwicklung der Gesamtpreissteigerungs-
rate in Ostdeutschland betrachtet, stellt man fest, dass
diese sogar geringfügig unter der Preissteigerungsent-
wicklung in Westdeutschland liegt.
Von daher bestreite ich nicht, dass es einzelne Preis-
gruppen mit einer höheren Steigerungsrate gibt. Aber
insgesamt halten wir das für vertretbar.
Sie haben zu dieser
Frage nur eine Zusatzfrage. Aber Sie können bei der
nächsten Frage eine neue stellen.
Eine Zusatzfrage der Kollegin Schnieber-Jastram.
Frau
Staatssekretärin, bedeutet Ihre Antwort auf die Frage des
Kollegen Weiß, dass es im nächsten Jahr auf jeden Fall
ein neues Bedarfsbemessungsschema für die Sozialhilfe
geben wird?
U
Meine Ant-
wort bedeutet, dass wir an einem solchen Bedarfsde-
ckungsschema arbeiten und dass wir eine Neufestset-
zung der Regelsätze vornehmen.
Ich rufe die Frage 4
des Kollegen Peter Weiß auf :
Wie beurteilt die Bundesregierung die Situation der Sozial-hilfeempfänger und die Entwicklung der Regelsätze der Sozial-hilfe angesichts der im Jahr 2000 zu erwartenden Inflationsrate und der Zusatzbelastungen durch die so genannte Ökosteuer, die Sozialhilfeempfänger in vollem Umfang ohne Kompensationsmöglichkeiten treffen?
U
Herr Weiß,die in Ihrer Frage enthaltenen Unterstellungen sind nichtzutreffend. Die Regelsätze der Sozialhilfe sind nachAuffassung der Bundesregierung auch unter Berücksich-tigung der für die Jahre 2000 und 2001 vorgesehenenAnpassung entsprechend der Preissteigerungsrate desVorjahres weiterhin so ausgestaltet, dass sie den laufen-den Bedarf decken.Die These, die Ökosteuer führe zu nicht kompensier-baren Zusatzbelastungen für Sozialhilfeempfänger, ist inmehrfacher Hinsicht falsch. Zwar können sich durch dieVizepräsident Rudolf Seiters
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000 8679
Einführung und Erhöhung der Stromsteuer sowie dieAnhebung der Mineralölsteuer die Energiepreise erhö-hen. Insofern können sich gewisse Auswirkungen aufdas Preisniveau ergeben. Im Rahmen der Sozialhilfeschlagen sich die Energiekosten jedoch größtenteils inden Heizkosten nieder, die in der Regel voll übernom-men werden und somit nicht aus dem Regelsatz bestrit-ten werden müssen. Bei den im Regelsatz enthaltenenKosten für Haushaltsenergie kann sich durch die Erhö-hung des Strompreises um 2 Pfennig je Kilowattstundeim Jahre 1999 eine Mehrbelastung von monatlich3,43 DM und im Jahre 2000 bei einer weiteren Anhe-bung des Strompreises um einen halben Pfennig je Ki-lowattstunde eine zusätzliche Mehrbelastung von monat-lich 86 Pfennig ergeben, wenn der tatsächliche Ver-brauch 148 Kilowattstunden im Monat beträgt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in den Jahren von1991 bis 1999 die Kosten für Haushaltsenergie lediglichum 6,6 Prozent gestiegen sind, die Regelsätze insgesamtjedoch um 15,4 Prozent. Zudem ist die Stromsteuer nurein Kosten bildender Faktor, der nicht unbedingt auf denPreis durchschlägt. Vielmehr ist im Zuge der Liberali-sierung des Strommarktes teilweise mit absolut sinken-den Strompreisen zu rechnen.
Zusatzfrage.
Frau
Staatssekretärin, sieht die Bundesregierung – im Gegen-
satz zu dem, was Sie gerade vorgetragen haben – nicht
doch eine erhebliche Differenz darin, dass die Sozialhil-
feregelsätze in diesem Jahr nur um 0,6 Prozent angeho-
ben werden, die aktuelle Inflationsrate, die zu guten Tei-
len auf die Auswirkungen der Ökosteuer zurückzuführen
ist – dies soll bei einer späteren Frage in dieser Frage-
stunde noch erörtert werden –, aber bei 1,8 Prozent
liegt?
U
Herr Weiß,
zum einen finden diese Anhebungen immer zur Mitte
des Jahres statt, sodass Sie da einen Durchschnitt bilden
müssen.
Zum Zweiten ist die Inflationsrate, auch wenn sie in
diesem Jahr höher ist, im nächsten Jahr möglicherweise
wieder niedriger, wovon zum Beispiel die Rentner und
auch die Sozialhilfeempfänger, soweit wir die Regelsät-
ze bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht neu festgesetzt
haben, profitieren würden.
Zweite Zusatzfrage.
Frau
Staatssekretärin, da die Regelsätze der Sozialhilfe das
maßgebliche Kriterium für die Festsetzung des steuer-
freien Existenzminimums für Familien und ihre Kinder
sind, möchte ich fragen, ob Sie sich, nachdem Sie mit
Datum vom 4. Januar 2000 dem Deutschen Bundestag
die Unterrichtung durch die Bundesregierung über die
Höhe des Existenzminimums von Kindern und Familien
für das Jahr 2001 vorgelegt haben, angesichts der aktuell
in Rede stehenden Erhöhungen bei Rente wie Sozialhilfe
um nur 0,6 Prozent veranlasst sehen, die Berechnungen
für das Existenzminimum noch einmal nach unten zu
korrigieren.
U
Wir haben
keine Veranlassung, die Festsetzung des Existenzmini-
mums noch einmal zu korrigieren.
Eine Zusatzfrage
des Kollegen Dr. Grehn.
Frau Staatssekretärin, lie-
gen der Bundesregierung Kenntnisse vor, welche Wir-
kungen diese unterschiedlichen Regelungen auf die
Kommunen in Ost und West angesichts der unterschied-
lichen finanziellen Belastung in beiden Teilen Deutsch-
lands und der eher bescheidenen – um nicht zu sagen:
prekären – finanziellen Situation der Kommunen in den
neuen Bundesländern haben?
U
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Grehn, ich
kann mir nicht vorstellen, dass die entsprechend der
Preissteigerungsrate des Vorjahres vorgenommene An-
passung die Träger der Sozialhilfe – Sie sprachen die
Kommunen an – zusätzlich belastet; eher das Gegenteil
ist der Fall. Auch ich weiß, dass die Finanzsituation pre-
kär ist, aber aus dieser Anpassung der Sozialhilfe kön-
nen Sie keine zusätzliche Belastung ableiten.
Eine Zusatzfrage
des Kollegen Peter Dreßen.
Frau Staatssekretärin, die
Stromkosten gehen ja, wie Sie schon erwähnt haben,
nach unten. Dadurch tritt eine Erleichterung für die So-
zialhilfeempfänger ein. Außerdem habe ich erlebt, dass
Sozialämter es Sozialhilfeempfängern verweigern, ein
Auto für ihren täglichen Bedarf anzumelden. So brau-
chen die gestiegenen Benzinkosten nicht bei der Sozial-
hilfe berücksichtigt zu werden,
auch wenn ich es als sehr strikte Auslegung empfinde,
dass man Sozialhilfeempfängern das Auto nicht belässt.
Ist es denn wirklich so, dass, weil ein Auto nicht zum
Bedarf von Sozialhilfeempfängern zählt, deshalb auch
die entsprechenden Mehrkosten aus der Ökosteuer nicht
berücksichtigt werden?
U
Herr Dreßen,es kommt immer auf die konkrete Einzelfallprüfung an,Parl. Staatssekretärin Ulrike Mascher
Metadaten/Kopzeile:
8680 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000
ob ein Auto für den Sozialhilfeempfänger erforderlichist oder nicht. Deswegen kann ich Ihnen Ihre Frage sogenerell nicht beantworten. Sofern aber kein Auto vor-handen ist, spielen in der Tat die Benzinpreise für denSozialhilfeempfänger keine Rolle. Dabei ist sicher die Frage zu stellen, inwiefern sichdie Ökosteuer auf die Kosten des öffentlichen Nahver-kehrs ausgewirkt hat. Davon sind Sozialhilfeempfängermöglicherweise betroffen.
Zu einer weiteren
Zusatzfrage der Kollege Seifert.
Frau Staatssekretärin, habe
ich Sie richtig verstanden, dass aufgrund dessen, dass
die Anpassung der Regelsätze niedriger als die Inflati-
onsrate ausfällt, die Kommunen sozusagen auf Kosten
der Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfän-
ger, die, relativ gesehen, weniger bekommen als vorher,
möglicherweise noch ein bisschen besser wegkommen
als vorher?
U
Nein, Herr
Seifert, da haben Sie mich falsch verstanden. Ich habe
die Frage von Herrn Grehn so verstanden, dass er
befürchtet, dass auf die ostdeutschen Kommunen, die
sich in einer prekären Finanzsituation befinden,
aufgrund der entsprechend der Preissteigerungsrate des
Vorjahres vorgenommenen Anpassung eine Mehr-
belastung zukommt. Dieses habe ich abgestritten. Hier
lag, wie ich denke, ein Missverständnis vor.
Ich rufe die Frage 5
des Kollegen Olaf Scholz auf:
Sind der Bundesregierung Vertragsgestaltungen bekannt, wo im Hinblick auf das Gesetz zur Förderung der Selbstständigkeit und §§ 7a und 7b Viertes Buch des Sozialgesetzbuches Auftragnehmer (zum Beispiel Journalisten) erklären müs-sen: „Ich versichere, dass ich nicht als „Scheinselbstständiger“ im Sinne von § 7 Abs. 4 SGB IV anzusehen bin, und verpflichte mich, im Falle von Anfragen hinsichtlich meiner rechtlichen Stellung alle erforderlichen Informationen zur Klärung meines Status zu liefern. Ich stimme bereits jetzt zu, dass im Falle einer Prüfung des Vorliegens eines Beschäftigungsverhältnisses eine Versicherungspflicht erst mit Bekanntgabe der Entscheidung der BfA bzw. eines anderen Versicherungsträgers eintreten soll (§§ 7a, 7b SGB IV).“?
U
Herr Kollege
Scholz, Sie haben zwei Fragen zur Problematik der
Scheinselbstständigkeit gestellt. Ihre Erlaubnis voraus-
gesetzt, darf ich sie zusammen beantworten.
Dann rufe ich auch
die Frage 6 des Abgeordneten Olaf Scholz auf:
Teilt die Bundesregierung die in dem Protokoll der Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung vom 10. November 1999 zum Ausdruck gebrachte Auffassung, dass solch eine Vertragsklausel/Erklärung jedenfalls im Hinblick auf § 7b SGB IV unwirksam ist, weil die Zustimmung des Arbeit-
nehmers gemäß § 7b Ziffer 1 SGB IV nur nachträglich und nicht vorab erteilt werden kann, und – falls eine versicherungspflich-tige Betätigung vorliegt – indiziert, dass der Arbeitgeber vorsätzlich oder grob fahrlässig von einer selbstständigen Tätigkeit ausgegangen ist?
U
Der Bundes-
regierung ist bekannt, dass als freie Journalisten tätigen
Honorarempfängern in Einzelfällen derartige Erklärun-
gen zur Unterschrift vorgelegt wurden. Die Bundesre-
gierung teilt die von Ihnen angeführte Auffassung des
Ausschusses, dass die Zustimmungserfordernis dem
Schutz des Beschäftigten dient. Die Sozialversiche-
rungspflicht tritt von der Aufnahme der Beschäftigung
an ein, wenn der Beschäftigte seine Zustimmung zum
späteren Eintritt der Sozialversicherungspflicht nicht er-
teilt. Die Versicherungsträger haben sorgfältig zu prü-
fen, ob eine wirksame Zustimmungserklärung vorliegt.
Bei Zustimmungen im Voraus liegt eine wirksame Zu-
stimmung regelmäßig nicht vor, sondern nur bei solchen
Erklärungen, die erst nach der Bekanntgabe der Ent-
scheidung, dass ein Beschäftigungsverhältnis vorliegt,
abgegeben werden. Bei einer Zustimmung im Voraus
besteht regelmäßig die Gefahr, dass sie unter dem
Druck, einen Auftrag ohne die Unterzeichnung einer
solchen Erklärung nicht zu erhalten, zustande gekom-
men ist.
Auch nach Auffassung der Bundesregierung lässt ein
Verhalten von Auftraggebern, die Auftragnehmern vor-
ab eine zustimmende Erklärung zum späteren Eintritt
der Versicherungspflicht abfordern, darauf schließen,
dass diese erhebliche Zweifel daran haben, dass eine
selbstständige Tätigkeit überhaupt vorliegt. Es ist davon
auszugehen, dass die Sozialversicherungsträger, die die
Gesetze in eigener Verantwortung ausführen, ihrer Prü-
fungspflicht ordnungsgemäß nachkommen.
Jetzt haben Sie vier
Zusatzfragen.
Ich will mich aber auf eine be-
schränken. – Die Auskunft ist ja sehr befriedigend für
alle, die jetzt solche Vertragsformulare vorgelegt be-
kommen. Es ist auch schon hilfreich, dass diese Ansicht
der Bundesregierung einmal im Deutschen Bundestag
bekannt gegeben worden ist, weil diese Regelung so ei-
ne gewisse Verbreitung findet. Wird sich die Bundesre-
gierung auch bemühen, die Sozialversicherungsträger
und etwaige beteiligte Verbände von dieser Auffassung
gesondert zu informieren, und möglicherweise darauf
hinwirken, dass das in einer erweiterten Fassung des
Rundschreibens der Spitzenverbände der Sozialversiche-
rungsträger zum Ausdruck kommt, sodass das allgemein
Verbreitung findet?
U
Herr Scholz,vielen Dank für diese Anregung. Das Arbeits-ministerium wird sie gerne aufgreifen. Ich würde michauch freuen, wenn in den einschlägigen Ver-Parl. Staatssekretärin Ulrike Mascher
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000 8681
bandspublikationen insgesamt stärker darauf hingewie-sen wird; denn es geht ja um den Schutz der Betroffe-nen. Wir vonseiten des Arbeitsministeriums werden je-denfalls zur Verbreitung beitragen.
Ich rufe die Frage 7
der Kollegin Birgit Schnieber-Jastram auf:
Wie hoch ist der Verlust für den Eckrentner pro Monat, der dadurch entsteht, dass die Bundesregierung den Rentnern bei der Rentenanpassung zum 1. Juli 2000 nicht den Kaufkraftverlust des Jahres 2000, sondern nur den des Jahres 1999 ausgleicht, wenn man von einer Preissteigerungsrate im Jahr 2000 in Höhe von 1,6 Prozent ausgeht?
U
Frau
Schnieber-Jastram, Sie stellen die Frage, warum wir bei
der Rentenanpassung den Kaufkraftverlust entsprechend
der Preissteigerungsrate des Jahres 1999 ausgleichen
und uns nicht auf die – erst für zwei Monate bekannten –
Tatsachen des Jahres 2000 beziehen. Ich möchte Ihnen
darauf entsprechend antworten.
Das im Dezember vergangenen Jahres verabschiedete
Haushaltssanierungsgesetz sieht in Übereinstimmung
mit dem entsprechenden Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung vor, dass die Rentenanpassung zum 1. Juli 2000
und zum 1. Juli 2001 der jeweiligen Preisentwicklung
des Vorjahres folgen. Um das noch einmal zu verdeutli-
chen: § 255c, der zum aktuellen Rentenwert in den Jah-
ren 2000 und 2001 Aussagen trifft, lautet:
Abweichend von § 68 und § 255a Abs. 2 ändern
sich der aktuelle Rentenwert und der aktuelle Ren-
tenwert zum 1. Juli der Jahre 2000 und 2001
jeweils in dem Verhältnis, in dem der Preisindex
für die Lebenshaltung aller privaten Haushalte im
Bundesgebiet des jeweils vergangenen Kalender-
jahres von dem Preisindex für die Lebenshaltung
aller privaten Haushalte im Bundesgebiet im je-
weils vorvergangenen Kalenderjahr abweicht.
Bei der Bestimmung der Veränderungsrate des
Preisindexes für die Lebenshaltung aller privaten
Haushalte im Bundesgebiet für das Jahr 1999 sind
die dem Statistischen Bundesamt zu Beginn des
Jahres 2000 und für das Jahr 2000 die zu Beginn
des Jahres 2001 vorliegenden Daten zugrunde zu
legen.
In voller Übereinstimmung mit diesen gesetzlichen
Bestimmungen wird die Bundesregierung die Renten-
steigerungen in den alten und in den neuen Bundeslän-
dern entsprechend der inzwischen vom Statistischen
Bundesamt dargestellten Preissteigerungsrate des Jahres
1999 zum 1. Juli des Jahres auf 0,6 vom Hundert fest-
setzen.
Zusatzfrage?
Frau
Staatssekretärin, ich würde gerne wissen, ob Sie die
Auffassung teilen, dass Sie den Rentnern – ich weiß
nicht, ob Sie sich noch erinnern – die Unwahrheit gesagt
haben. Der Bundesarbeitsminister hat noch am 20. Ja-
nuar dieses Jahres im Zusammenhang mit der Rentenan-
passung versprochen – ich zitiere –:
Die Kaufkraft soll erhalten bleiben und nicht wie in
der Vergangenheit abgesenkt werden.
Entgegen diesem Versprechen findet ein voller Kauf-
kraftausgleich bei der Anpassung der Renten für das
Jahr 2000 natürlich nicht statt. Teilen Sie das?
U
Frau
Schnieber-Jastram, wenn man sich die jahresdurch-
schnittliche Entwicklung ansieht – im ersten Halbjahr
werden die Renten ohne Berücksichtigung des Demo-
graphiefaktors um 1,34 Prozent und ab dem 1. Juli ent-
sprechend der Preissteigerungsrate angepasst –, dann
muss man feststellen, dass die Renten unter Berücksich-
tigung der Kaufkraftentwicklung um insgesamt 1,1 Pro-
zent steigen. So ergibt sich ein Kaufkraftverlust von le-
diglich 0,5 Prozent.
Eine zweite Zusatz-
frage.
Frau
Staatssekretärin, ich möchte nachfragen, weil mir das
nicht logisch erscheint: Kann die Bundesregierung be-
stätigen, dass der Kaufkraftverlust für die Rentner nach
vorläufigen Schätzungen des Statistischen Bundesamtes
im Februar dieses Jahres bei 1,8 Prozent liegt und dass
die Renten zum 1. Juli 2000 nur um 0,6 Prozent an-
gepasst werden sollen? Kann die Bundesregierung wei-
ter bestätigen, dass den Rentnern hierdurch ein Verlust
von 250 DM pro Jahr entsteht?
U
Nein, das
kann Ihnen die Bundesregierung nicht bestätigen, weil
Sie sich ausschließlich auf die Kaufkraftentwicklung im
Februar des Jahres 2000 beziehen. Ich habe gerade ver-
sucht, deutlich zu machen, dass Sie hierbei den gesam-
ten Jahresverlauf berücksichtigen müssen.
Eine Zusatzfrage
des Kollegen Dr. Grehn.
Frau Staatssekretärin, an-gesichts des Missverständnisses bei meiner ersten Fragemöchte ich Sie nun fragen, ob der Bundesregierung klarist, dass den Kommunen zusätzliche Belastungen durchSozialhilfe empfangende Rentner entstehen, weil keinAusgleich in Höhe der Inflationsrate gewährt wird – dieDifferenz beträgt nach gegenwärtigen Berechnungen1,2 Prozent; genau darin besteht die Belastung für dieKommunen –, und dass dadurch das Existenzminimumder Rentner sowie der Sozialhilfeempfänger, das durchdie ergänzende Sozialhilfe abgedeckt wird, nicht mehrParl. Staatssekretärin Ulrike Mascher
Metadaten/Kopzeile:
8682 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000
gesichert ist? Meine Frage ist: Liegen Ihnen dazu Er-kenntnisse vor? U
Nein, darüber
liegen mir keine Erkenntnisse vor. Bekanntermaßen ist
jetzt erst März. Um das zu erläutern: Im Moment erhal-
ten die Rentnerinnen und Rentner eine Anpassung, die
sich auf die Daten aus dem letzten Jahr stützt und die
über der jetzigen Preissteigerungsrate liegt. Deswegen
kann ich Ihnen dazu noch nichts sagen.
Eine Zusatzfrage
des Kollegen Meckelburg.
Ganz egal, wie
die Zahlen Mitte oder Ende des Jahres aussehen werden,
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ist die Bundesregierung bereit,
den Rentnern dann im nächsten Jahr einen Kaufkraftver-
lustausgleich zu zahlen, wenn das Versprechen, das Sie
gemacht haben, nämlich für die Inflationsrate dieses
Jahres einen Ausgleich zu geben, nicht erfüllt wird?
U
Herr
Meckelburg, ich weiß nicht, auf welche Versprechen Sie
sich beziehen. Wir haben unsere Erklärungen immer ge-
nau dem Wortlaut des Paragraphen, den ich vorhin zi-
tiert habe, entsprechend abgegeben. Wir haben immer
gesagt: Wir passen entsprechend der Preissteigerungsra-
te des Vorjahres an. Rein technisch, Herr Meckelburg,
geht es gar nicht anders. Genau so, wie wir die Renten
nur entsprechend der Nettolohnentwicklung des Vorjah-
res anpassen können, weil uns nur dazu gesicherte Zah-
len vorliegen, können wir die Renten nur dann entspre-
chend der Preissteigerungsrate anpassen, wenn sie durch
das Statistische Bundesamt zu Beginn des Jahres festge-
legt wird und gesichert ist.
Wir halten uns an das vom Bundestag beschlossene
Gesetz und werden auch im Jahr 2001 für eine entspre-
chende Anpassung der Renten sorgen. Im Moment ist
noch nicht klar, wie hoch die Preissteigerungsrate im
nächsten Jahr sein wird. Möglicherweise profitieren die
Rentner von einer günstigeren Entwicklung.
Eine Zusatzfrage
des Kollegen Laumann.
Frau Staatsse-
kretärin, ist der Bundesregierung bekannt, wie hoch ein
durchschnittlicher Rentnerhaushalt in der Bundesrepu-
blik Deutschland durch die Einführung der Ökosteuer
belastet wird?
U
Ja, die realen
Einkommen der Rentnerhaushalte sind um durchschnitt-
lich 0,02 Prozent niedriger als vor der Einführung der
Ökosteuer.
– Ich beziehe mich hier auf Aussagen des Statistischen
Bundesamtes. – Dazu muss man sagen, dass die Rent-
nerhaushalte ein anderes Verbrauchsverhalten haben.
Das Statistische Bundesamt weist die Rentnerhaushalte
auch gesondert aus.
Ich habe das also nicht erfunden, ich habe das nicht sel-
ber mit dem Taschenrechner ausgerechnet, sondern ich
gebe Ihnen die offizielle Aussage dazu wieder.
– Ja, angesichts dessen, was ich vorhin schon dargestellt
habe – auch was die Entwicklung der Strompreise be-
trifft –, scheint mir das durchaus plausibel zu sein.
– Nein, das muss er nicht.
Eine
weitere Zusatzfrage des Kollegen Louven.
Frau Staatssekretärin
Mascher, wir haben am 14. November 1996 vor dem
Hintergrund der Rentenreform, die durch Norbert Blüm
schon eingebracht worden war, den Rentenversiche-
rungsbericht 1995 im Bundestag diskutiert. Sie haben
damals in der Debatte Folgendes gesagt – das können
Sie auf Seite 12423 nachlesen –:
Die richtige Antwort lautet: keine weiteren Leis-
tungskürzungen ... keine Manipulation an der Ren-
tenformel. ... Die Bewältigung der Aufgaben, vor
der die Rentenversicherung steht, ist nicht ange-
packt worden.
Wie fühlen Sie sich heute angesichts eines erneuten
Rentenbetrugs und dieser Aussage?
U
Herr Louven,ich fühle mich ganz wohl dabei,
weil ich Ihrer Behauptung widerspreche, es handele sichbei der Anpassung entsprechend der Preissteigerungsrateum einen Rentenbetrug. Ein Rentenbetrug wäre es dochnur, wenn wir den Rentnern die Unwahrheit gesagt hät-ten, Dr. Klaus Grehn
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000 8683
wenn wir das Gesetz, das wir im Deutschen Bundestagin aller Öffentlichkeit beschlossen haben, nicht umset-zen würden. Wir setzen es jetzt um. Wir haben uns nichtklammheimlich im Arbeitsministerium irgendetwas aus-gedacht, sondern wir setzen ein geltendes Gesetz um.Von daher finde ich Ihren Begriff „Rentenbetrug“ wirk-lich unangemessen.
Weitere
Zusatzfrage des Kollegen Seifert.
Ich möchte erst einmal meine
Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass Herr Kolle-
ge Louven von einem „erneuten Rentenbetrug“ sprach.
Damit gibt er ja zu, dass die CDU/CSU selber auch ei-
nen Rentenbetrug gemacht hat. Vielen Dank für diese
nachträgliche Aufklärung.
Frau Mascher, meine Frage bezieht sich noch einmal
auf die Antwort, die Sie dem Kollegen Grehn gaben,
dass wir ja erst März haben: Darf ich davon ausgehen,
dass in Ihrem Ministerium vorausschauend gearbeitet
wird, sodass Sie also jetzt schon Berechnungen darüber
anstellen, wie sich denn diese geringfügige Erhöhung
der Rente auf die Sozialhilfe-Zahlungsverpflichtung der
Kommunen auswirken wird, wenn ab 1. Juli nicht mehr
die Rentenerhöhung vom vergangenen Jahr, sondern die
von diesem Jahr wirkt, und Sie dann gegebenenfalls im
Vorhinein verhindern, dass die Kommunen zusätzlich
belastet werden, falls Sie die Rente doch höher ansetzen,
als es bisher geplant ist? Ich denke, wir würden hier im
Hohen Haus möglicherweise sogar kurzfristig eine gro-
ße Koalition zustande bringen, die dann einer Gesetzes-
änderung zustimmen würde, die den Rentnern zugute
käme.
U
Herr Seifert,
trotz hoch entwickelter Rechenprogramme und trotz
ausgefeilter Statistiken ist dem Arbeitsministerium nicht
bekannt, wie hoch der Anteil der Rentnerinnen und
Rentner, die ergänzende Sozialhilfe bekommen, in den
einzelnen Gemeinden ist. Daher können wir die von Ih-
nen gewünschte Berechnung weder im Vorhinein noch
aktuell erstellen.
Weitere
Zwischenfrage des Kollegen Strobl.
Frau Staatssekretärin,
kann die Bundesregierung bestätigen, dass sie erwägt,
die Nettolöhne neu zu definieren?
U
Nein, das
kann die Bundesregierung nicht bestätigen. Ich kann da-
zu aber, um Sie nicht ganz zu enttäuschen, sagen: Der
Arbeitsminister diskutiert im Moment darüber, ob das,
was künftig an privater Vorsorge geleistet wird, in die
Nettolohnberechnung einbezogen werden soll.
– Das haben Sie alles gelesen, Herr Strobl. Das ist doch
für Sie nichts Neues. Ich denke, diese Überlegung als
solche ist noch nicht strafbar.
Weitere
Zusatzfrage des Kollegen Romer.
Frau Staatssekretärin,
wie hoch ist der Verlust für den Eckrentner pro Monat,
der dadurch entsteht, dass die Bundesregierung den
Rentnern bei der Rentenanpassung zum 1. Juli 2000
nicht den Kaufkraftverlust des Jahres 2000, sondern den
des Jahres 1999 ausgleicht, wenn man von einer Preis-
steigerungsrate im Jahr 2000 in Höhe von 1,6 Prozent
ausgeht?
U
Herr Romer,
ich kann Ihnen diese Rechnung nicht aufmachen, weil
wir, wie gesagt, Mitte März dieses Jahres die Preisstei-
gerungsrate für das gesamte Jahr noch nicht kennen. Wir
müssen darüber hinaus auch berücksichtigen, dass die
Anpassung der Renten immer unterjährig stattfindet, so-
dass Sie sehen müssen, wie sich das im gesamten Jahr
entwickelt. Ich kann Ihnen die Antwort auf Ihre Frage
im Moment noch nicht geben.
Weitere
Zusatzfrage des Kollegen Wolf.
Frau Staatssekretärin, ich
beziehe mich auf die Aussage, dass es keinen Rentenbe-
trug gegeben hätte. Wofür hat sich dann eigentlich der
Bundeskanzler in der Sendung „Sabine Christiansen“
bei der deutschen Bevölkerung entschuldigt, als es um
die Renten ging? Können Sie uns das sagen?
U
Das kann ichIhnen sagen. Der Bundeskanzler hat sich dafür entschul-digt, dass viele Rentnerinnen und Rentner durch dieseganze Diskussion in hohem Maße verunsichert sind. Ichhalte es für sehr nachvollziehbar, dass sich der Bundes-kanzler für diese Verunsicherung der Rentnerinnen undRentner entschuldigt. Ich denke, es gibt fraktionsüber-greifend die Position, dass wir alles tun sollten, um dieRentnerinnen und Rentner nicht ständig in Angst undSchrecken zu versetzen.Parl. Staatssekretärin Ulrike Mascher
Metadaten/Kopzeile:
8684 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000
Zusatz-
frage des Kollegen Weiß.
Frau
Staatssekretärin, nachdem Sie auf die Frage des Kolle-
gen Strobl mit dem zweiten Nachsatz doch etwas zu den
neuen Überlegungen hinsichtlich der Berücksichtigung
der Nettolohnentwicklung bei der Rente gesagt haben,
möchte ich Sie fragen: Welche Belastungen kommen
voraussichtlich auf die Rentner zu, wenn die Bundesre-
gierung die Nettolöhne in dem von Ihnen angesproche-
nen Sinn neu definiert?
U
Herr Weiß,
dazu kann ich Ihnen gar nichts sagen. Ihre Fraktion, Ihre
Partei, ist mit fünf Mitgliedern in der Rentenkonsens-
runde vertreten. Wir werden am 6. April dieses Jahres
über die Entwicklung der privaten Vorsorge beraten.
Wir werden dann im Laufe weiterer drei Termine da-
rüber diskutieren, wie die Rentenanpassung in Zukunft
aussieht. Sie werden sicher von Herrn Seehofer oder
Herrn Kues, die Mitglieder in dieser Kommission sind,
ständig über den Stand der Diskussion auf dem Laufen-
den gehalten werden. Wir wollen in diesen Konsensge-
sprächen darüber beraten. Ich kann Ihnen heute noch
kein Ergebnis sagen.
Zusatz-
frage des Kollegen Singhammer.
Frau Staats-
sekretärin, in welcher Höhe wirkt sich nach Ihrer Schät-
zung diese doppelte Schlechterstellung der Rentner –
einmal durch die Entkoppelung vom Nettolohn jetzt zum
1. Juli mit der geringeren Anpassung und den bekannten
Schwierigkeiten und zum anderen durch die Wirkungen
der Ökosteuer, die als gezielte Steuer besonders die
Rentner trifft und für die Rentner nur eine belastende,
aber keine entlastende Wirkung hat – aus? Können Sie
sich vorstellen, dass diese doppelte Schlechterstellung
von den Rentnerinnen und Rentnern in Deutschland als
massive Täuschung empfunden wird?
U
Herr
Singhammer, wenn Sie sich die Zahlen ansehen, sehen
Sie, dass das reale Einkommen der Rentnerhaushalte
durchschnittlich um 0,02 Prozent niedriger liegt. Hier
kann ich von einer – wie Sie das formulieren – massiven
Schlechterstellung nicht sprechen.
Zusatz-
frage der Frau Kollegin Rönsch.
Frau
Staatssekretärin, teilen Sie die Beurteilung des Deut-
schen Mieterbundes, der seine Mitglieder und besonders
die Rentner aufgefordert hat, für die durch die Ökosteuer
angehobenen Heizkosten Geld zurückzulegen? Wie be-
reiten Sie die Kommunen, besonders die Sozialämter in
den Kommunen darauf vor, dass diejenigen, die Sozial-
hilfe bzw. Wohngeld beziehen, auch von diesen höheren
Heizkosten betroffen sind? Können Sie mitteilen, was
Sie den Kommunen gesagt haben, wie diese erhöhten
Kosten abgefangen werden?
U
Frau Rönsch,
da ich Ihnen für die zahlenmäßige Entwicklung keine
konkreten Summen nennen kann, kann ich Ihnen auch
nichts dazu sagen, wie wir hier einen Ausgleich für die
Kommunen schaffen. Wie gesagt, wir werden sehen,
wie sich das am Ende des Jahres darstellt.
Ent-
schuldigung, es gibt nur eine Frage. Nur der Fragesteller
selbst kann zwei Zusatzfragen stellen.
– Frau Staatssekretärin, wollen Sie darauf antworten?
U
Ich teile diese
Ansicht nicht, weil wir, wie Sie ja wissen, auch beim
Wohngeld endlich eine positive Veränderung vorge-
nommen haben.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Storm.
Frau Staatssekretärin,
teilen Sie die Einschätzung, dass der massive Anstieg
der Inflationsrate in diesem Jahr gegenüber dem Vor-
jahr, der dann auch zu einer realen Rentenminderung in
diesem Umfang führt, zu einem Teil auf die Einführung
der Ökosteuer zurückzuführen ist, und wie begründen
Sie diese Einschätzung?
U
Ich kann esParl. Staatssekretärin Ulrike Mascher
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000 8685
nur wiederholen: Die Frage, wie sich die Inflationsratein diesem Jahr entwickelt, kann man nach zweieinhalbMonaten insgesamt noch nicht beantworten. Sie wissenauch, dass es dabei immer Unterschiede zwischen denWintermonaten und den Sommermonaten gibt. Ich den-ke, diese Entwicklung sollten wir erst einmal abwarten.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Dreßen.
Frau Staatssekretärin, können
Sie vielleicht noch einmal die Gründe nennen, warum
die neue Bundesregierung die Rentenpläne der alten Re-
gierung zurückgenommen hat? War es nicht so, dass wir
Sorge hatten, das Rentenniveau, das die alte Bundesre-
gierung vorgeschlagen hat, einfach nicht akzeptieren zu
können, weil dadurch Rentnerinnen und Rentner tatsäch-
lich in den Bereich der Sozialhilfe kamen? Waren das
nicht die ausschlaggebenden Gründe dafür, dass die Re-
gierung tatsächlich wieder das Ruder herumreißen muss-
te, um den Rentnern ein Einkommen zu sichern, das
auch ihren Ansprüchen einigermaßen entgegenkommt?
– Ja, wenn Sie so fragen.
U
Ja, es war in
der Tat die Sorge, dass mit dem dauerhaften Eingriff in
die Rentenanpassung durch den Demographiefaktor –
Jahr um Jahr eine Minderung um 0,5 Prozent – insbe-
sondere Rentnerinnen immer stärker in den Bereich der
ergänzenden Sozialhilfe abgleiten.
Eine Zu-
satzfrage der Kollegin Ostrowski.
Frau Staatssekretärin,
teilen Sie erstens meine Ansicht hinsichtlich der Erhö-
hung des Wohngeldes – die ich natürlich von der Sache
her begrüße – dass sie zunächst einmal nur die Mietstei-
gerungen der zurückliegenden zehn Jahre auffängt, und
das noch nicht einmal genau zu 100 Prozent?
Ist Ihnen zweitens, wenn Sie diese Einschätzung des
Mieterbundes nicht teilen können, vielleicht bekannt,
dass beispielsweise das RWI oder auch das Deutsche In-
stitut für Wirtschaftsforschung hinsichtlich der Belas-
tung einkommensschwacher Bürger – darunter auch
einkommensschwacher Rentnerhaushalte – durch die
Ökosteuer, die sich dann in den Wohnnebenkosten nie-
derschlägt, ausgeführt haben, dass sie am stärksten ge-
troffen werden?
U
Frau
Ostrowski, ich hätte mir gewünscht, dass wir eine konti-
nuierliche Wohngeldanpassung unter der alten Bundes-
regierung gehabt hätten,
sodass wir jetzt nicht in diesem großen Kraftakt versu-
chen müssten, das, was über Jahre hinweg versäumt
worden ist, aufzuholen. Jetzt wird also das Nachhinken
der Wohngeldentwicklung erstmals aufgefangen.
Richtig ist auch, dass man sich sehr genau anschauen
muss, in welchem Maße die unterschiedlichen Haus-
haltstypen durch die Ökosteuer belastet werden. Ich ha-
be Ihnen eine Zahl schon genannt: Die Belastung der
Einkommen der Rentnerhaushalte durch die Ökosteuer
beträgt 0,02 Prozent. Das ist vielleicht auch nicht wün-
schenswert, aber sicherlich noch im Rahmen dessen,
was sozial vertretbar ist, wenn man die Zielsetzung der
Ökosteuer betrachtet, nämlich die höhere Belastung des
Energieverbrauchs und die von uns allen gewünschte
Entlastung der Arbeitskosten mit dem Ziel besserer
Chancen für die Schaffung neuer Arbeitsplätze.
Damit
sind die Zusatzfragen beantwortet. Wir kommen nun zu
Frage 8 der Kollegin Schnieber-Jastram:
Von welchen Einspareffekten im Jahr 2000 ging die Bundes-regierung aufgrund der Einführung der Rentenanpassung ent-sprechend der Inflationsrate anstatt der nettolohnbezogenen Rentenanpassung zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Haus-haltssanierungsgesetzes aus und welchen Einspareffekt legt sie ihren Berechnungen zum jetzigen Zeitpunkt zugrunde?
U
Frau
Schnieber-Jastram, mit der Anhebung der Renten in den
Jahren 2000 und 2001 im Rahmen der jeweiligen vor-
jährigen Preissteigerungsrate wurde im Unterschied zur
Nettoanpassung, bezogen auf zwei Jahre, ein Einsparvo-
lumen von circa 3 Prozent erwartet. Die Gesamtbilanz
kann erst nach Ermittlung der Nettolohn- und -gehalts-
steigerungen des Jahres 2000 sowie der Preissteige-
rungsrate des Jahres 2000 aufgestellt werden.
Eine Zu-
satzfrage, Frau Kollegin? – Bitte schön.
Frau
Staatssekretärin, können Sie uns auch mitteilen, wann
das etwa sein wird?
U
Die endgülti-ge Kenntnis über die Entwicklung der Nettolohn- und -gehaltssteigerungen des Jahres 2000 werden wir Mitteoder Ende Januar 2001 haben. Während des laufendenJahres müssen wir mit Prognosen umgehen, die von un-terschiedlichen Gremien erstellt werden – ich denke hieran das Sachverständigengutachten und den Jahreswirt-schaftsbericht – und die nach meinen Erfahrungen imletzten Jahr in erstaunlicher Weise schwanken.Parl. Staatssekretärin Ulrike Mascher
Metadaten/Kopzeile:
8686 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000
Eine
weitere Zusatzfrage? – Bitte schön.
Frau
Staatssekretärin, bei dieser Diskussion habe ich manch-
mal den Eindruck, dass Sie es vielleicht insgeheim
schon bereuen, dass Sie unsere Rentenreform damals zu-
rückgenommen haben, weil Sie damit ein Haus abgeris-
sen haben, ohne Baupläne für ein neues zu haben. Teilen
Sie diesen Eindruck?
U
Nein, diesen
Eindruck teile ich nicht. Wir haben Baupläne für das
neue Haus.
Wir werden – ich kann darauf nur noch einmal verwei-
sen – auch mit fünf Kollegen der CDU/CSU über die
Qualität unserer Baupläne diskutieren und dann sehen,
welche schönen Pläne für Balkone, Wintergärten oder
Dachterrassen Sie vorlegen.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Laumann.
Frau Staatsse-
kretärin Mascher, ist Ihnen bekannt, um wie viel Prozent
das Rentenniveau in Deutschland seit dem Amtsantritt
der jetzigen Bundesregierung abgesenkt worden ist?
U
Herr
Laumann, Sie haben, glaube ich, mit verfolgt, dass zum
Beispiel die Veränderung der europäischen Statistikver-
ordnung und die Einordnung des Kindergeldes nicht
mehr als Gehaltsbestandteil, sondern als eine soziale
Transferleistung Auswirkungen auf die Berechnung des
Rentenniveaus haben. Ich bin inzwischen davon über-
zeugt, dass das Rentenniveau allein nicht mehr als Aus-
sage über die Qualität der Absicherung im Alter taugt.
Hier hat sich das Rentenniveau verändert, und zwar so-
wohl bei den Berechnungen nach Ihrem alten Renten-
versicherungsrecht als auch nach unseren neuen Rege-
lungen, ohne dass sich für die Rentnerinnen und Rentner
irgendetwas in Mark und Pfennig geändert hätte. Von
daher halte ich die Diskussion darüber, wie hoch denn
das Rentenniveau sei oder ob es abgesunken sei, für
nicht sachdienlich.
– Nein, am Inhalt des Geldbeutels hat sich eben erstaun-
licherweise gar nichts geändert, obwohl das Rentenni-
veau erst um einen Punkt nach oben und dann wieder
um einen Punkt nach unten gegangen ist. Das sind rein
statistische Berechnungen. Das Rentenniveau, um das
noch einmal deutlich zu machen, sagt nur etwas über das
Verhältnis zwischen Nettolohn und Nettorente, aber
nichts darüber aus, wie hoch die Nettorente und der Net-
tolohn sind.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Meckelburg.
Frau Staats-
sekretärin, im letzten Jahr habe ich häufiger den Satz
gehört, dass sich die Rentnerinnen und Rentner auf die
Rentenerhöhung in diesem Jahr besonders freuen kön-
nen. Können Sie bestätigen, dass die Rentenanpassung
entsprechend der Entwicklung der Nettolöhne in West-
deutschland in den letzten zehn Jahren, außer in den
beiden Jahren 1995 und 1998, höher als die Rentenan-
passung um 0,6 Prozent, die Sie in diesem Jahr vorse-
hen, ausgefallen ist?
U
Herr
Meckelburg, wenn man so argumentiert, dann muss man
aber auch sehen – Sie unterschlagen es als Vertreter Ih-
rer Partei oder Ihrer Fraktion freundlicherweise –, wie
die Preissteigerungsrate in den jeweiligen Jahren war;
denn das Verhältnis von Nettoanpassung zu Preissteige-
rungsrate ist bei dieser Betrachtungsweise relevant.
Auch Sie wissen – als Sozialpolitiker haben Sie es si-
cherlich bedauert –, dass die nettolohnbezogene Anpas-
sung der Renten in den letzten vier Jahren Ihrer Regie-
rung hinter der Preissteigerungsrate zurückgeblieben ist.
Eine Zu-
satzfrage der Kollegin Rönsch.
Frau
Staatssekretärin, wie beurteilen Sie, dass eine Ministerin
Ihrer Regierung handschriftlich einen Brief ergänzt hat,
in dem sie sich dafür verbürgt, sich im Kabinett dafür
einzusetzen, dass es bei der Nettolohnbezogenheit der
Rente bleibt? Dies ist im November letzten Jahres ge-
schehen.
Kennen Sie irgendwelche Einzelmeinungen, mit de-
nen man sich im Kabinett dafür besonders stark gemacht
hat, dass die Nettolohnbezogenheit tatsächlich gewähr-
leistet ist?
U
Frau Rönsch,ich habe an der entsprechenden Kabinettsitzung nichtteilgenommen; aber ich gehe davon aus, dass es der Kol-legin, von der Sie gerade gesprochen haben, wie auchden anderen Kollegen sicherlich nicht leicht gefallen ist,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000 8687
die Entscheidung zu treffen, eine Anpassung entspre-chend der Preissteigerungsrate vorzunehmen, und dasses darüber auch im Kabinett eine Diskussion gegebenhat. Über Einzelheiten kann ich Ihnen nichts sagen, weilich nicht dabei war.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Dr. Grehn.
Frau Staatssekretärin, ich
habe zugegebenermaßen eine sehr spezifische Frage.
Vor fast einem Jahr hat das Bundesverfassungsgericht
die Entscheidung über die Zusatz- und Sonderversor-
gungssysteme der ehemaligen DDR getroffen. Die ge-
setzliche Vorlage lässt auf sich warten. Es ist noch nicht
abzusehen, wann sie kommt. In der Zwischenzeit gibt es
mehrere Steigerungen. Nach welchen Steigerungssätzen,
nach welchem Steigerungsmodus wird für diejenigen,
für die seit April 1999 das Urteil gilt, die Rente berech-
net werden?
U
Herr Grehn,
wir konnten erst ab Januar dieses Jahres an der konkre-
ten Formulierung des Gesetzentwurfs arbeiten, weil uns
die Begründungen von Urteilen des Bundessozialgerich-
tes, die zu diesem Sachzusammenhang gehören, erst seit
Januar dieses Jahres schriftlich vorliegen. Wir haben
unverzüglich die Formulierung des Gesetzestextes vor-
genommen. Ich denke, wir werden möglicherweise noch
vor der Sommerpause, sonst unmittelbar danach, in die
Beratungen einsteigen.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Strobl.
Frau Staatssekretärin,
überlegt die Bundesregierung, auch Selbstständige und
Beamte in die Rentenversicherungspflicht einzubezie-
hen? Wie würde sich dies auf die Rentenfinanzen aus-
wirken?
U
Herr Strobl,
diese Frage wird sehr häufig gestellt. In aller Regel geht
man dabei davon aus, dass Selbstständige überhaupt
nicht in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen.
Sie wissen selbst, dass das nicht der Fall ist. Zum Bei-
spiel sind Handwerker in der gesetzlichen Rentenversi-
cherung. Es gibt eine Künstlersozialkasse und auch die
arbeitnehmerähnlichen Selbstständigen sind seit 1. Janu-
ar letzten Jahres in der gesetzlichen Rentenversicherung.
Ich verfolge mit Aufmerksamkeit die Diskussion und
auch die Äußerungen aus dem Bereich der Wissen-
schaft. Interessanterweise hat ein Kollege der F.D.P. bei
einer Veranstaltung in Regensburg gefordert, dass wir
alle, die nicht in gesetzlich geregelten Alterssicherungs-
systemen sind – Beamtenversorgung oder berufsständi-
sche Versorgungen sind ja gesetzlich geregelte Alterssi-
cherungssysteme –, in ein gesetzlich geregeltes Sys-
tem – ich würde sagen: gesetzliche Rentenversicherung;
Herr Storm sagt: gesetzlich verbindlich geregelte private
Versicherung – einbeziehen. Auch angesichts der euro-
päischen Entwicklung – wenn Sie die Situation in den
anderen europäischen Ländern betrachten, dann stellen
Sie fest, dass sich in fast allen europäischen Ländern die
Selbstständigen in gesetzlich geregelten Alterssiche-
rungssystemen befinden – ist dies ein Punkt, über den
wir weiter diskutieren müssen. Ich bin gespannt, ob im
Rahmen der Konsensrunde auch vonseiten der CDU/
CSU dazu Vorschläge gemacht werden.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Louven.
Frau Staatssekretärin,
Sie haben soeben auf die Frage des Kollegen Dreßen,
warum die Bundesregierung unsere Rentenreform
zurückgenommen habe, geantwortet, dass Sie verhin-
dern wollten, dass die Rentner eine um 0,5 Prozent
geringere Anpassung erhalten. Können Sie bestätigen,
dass die Anpassung, die Sie jetzt vornehmen, niedriger
ist als die Anpassung, die in der von uns verab-
schiedeten Rentenreform vorgesehen war?
U
Nein, das
kann ich nicht bestätigen. Erstens habe ich – um es ganz
präzise zu sagen – festgestellt: Ich war in Sorge, dass
durch die im Rahmen der Anpassung Jahr für Jahr vor-
gesehenen Abschläge – diese waren nicht auf zwei Jahre
begrenzt, sondern sollten Jahr für Jahr so lange vorge-
nommen werden, bis ein Rentenniveau von 64 Prozent
erreicht worden wäre – insbesondere bei Frauen die
Rente das Niveau der Sozialhilfe – möglicherweise hätte
sie sogar darunter gelegen – erreicht. Aufgrund dieser
Sorge haben wir die ursprüngliche Anpassung ausge-
setzt und werden wir sie abschaffen.
Sie sollten zweitens berücksichtigen, dass es zu unter-
jährigen Rentenanpassungen kommt und dass wir die
Renten im letzten Jahr zum 1. Juli um 1,34 Prozent –
dies ist ohne Berücksichtigung des Demographiefaktors
erfolgt; sonst wären es nämlich nur 0,84 Prozent gewe-
sen – angepasst haben und in diesem Jahr entsprechend
der Preissteigerungsrate anpassen. Dadurch kommt es
für die Rentnerinnen und Rentner zu einer durchschnitt-
lichen Steigerung ihrer Renten von 1,1 Prozent. In die-
sem Jahr liegen wir also genau auf der Marke, die Sie
für korrekt, für sozialpolitisch vertretbar gehalten haben.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Weiß.
FrauStaatssekretärin, da Sie sich vorhin außerstande erklärtParl. Staatssekretärin Ulrike Mascher
Metadaten/Kopzeile:
8688 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000
haben, schon jetzt präzise auf die Frage der KolleginSchnieber-Jastram zu antworten, möchte ich Sie fragen:Kann die Bundesregierung zumindest bestätigen, dassdurch die in diesem Jahr erfolgte Einführung der Ren-tenanpassung entsprechend der Inflationsrate der Ein-spareffekt in der gesetzlichen Rentenversicherung gerin-ger ausfällt als zunächst von ihr angenommen und be-rechnet, weil die Nettolöhne in geringerem Umfang an-steigen als zunächst angenommen, und könnten Sie da-rüber hinaus darstellen, wie sich die Einbeziehung der630-Mark-Jobs in die Versicherungspflicht auf dieseNettolohnentwicklung auswirkt? U
Herr Weiß,
ich kann Ihnen das nicht darstellen, weil wir die Anpas-
sung der Renten in den Jahren 2000 und 2001 insgesamt
betrachten müssen. Wir haben die ursprünglich vorgese-
hene Anpassung für zwei Jahre ausgesetzt. Wir erwarten
uns davon den Effekt, die Rentenbeiträge zu stabili-
sieren. Deswegen kann ich Ihnen dazu nichts sagen. Sie
werden mich auch durch noch so geschickte Fragen
nicht dazu verleiten, dazu Stellung zu nehmen.
– Nein, Frau Rönsch.
Eine Zu-
satzfrage der Kollegin Ostrowski.
Der mathematischen
Richtigstellung halber und als Unterstützung für Sie im
Hinblick auf die Frage des Kollegen der CDU/CSU zum
Vergleich der alljährlichen Steigerungsraten frage ich
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Geben Sie mir Recht, dass
der alleinige Vergleich der Steigerungsraten natürlich
nichts aussagt, sondern man immer Bezug auf die abso-
lute Höhe nehmen muss, von der aus eine Steigerung er-
folgt? Ein Beispiel: Angenommen, das Ausgangsniveau
wäre 1 DM und man steigert um 100 Prozent, kommt
man zu 2 DM. Wenn die nächstfolgende Regierung die-
se 2 DM nur um 50 Prozent steigert, kann man natürlich
nicht so sehr über diese 50 Prozent schimpfen; denn das
absolute Niveau ist dann auf 3 DM gestiegen.
U
Vielen Dank,
Frau Ostrowski. Ich bedanke mich für diese mathemati-
sche Unterstützung.
Vielen
Dank, Frau Staatssekretärin. Wir sind am Ende des Ge-
schäftsbereichs des Bundesministeriums für Arbeit und
Sozialordnung.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeri-
ums für Gesundheit auf. Die Fragen 9 bis 14 sollen
schriftlich beantwortet werden.
Dann kommen wir zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswe-
sen. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamenta-
rische Staatssekretär Achim Großmann zur Verfügung.
Die Fragen 15 und 16 sind zurückgezogen worden
und die Fragen 17 und 18 sollen schriftlich beantwortet
werden.
Ich rufe Frage 19 der Abgeordneten Christine
Ostrowski auf:
Wie sind die Aussagen des Bundesministers für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Reinhard Klimmt, anlässlich der Er-öffnung der Starterkonferenz „Die soziale Stadt“ am 1./2. März 2000 in Berlin zu werten, dass die Bundesregierung trotz angespannter Haushaltslage als Bundesfinanzhilfen für das Programm „Die soziale Stadt“ jährlich 100 Millionen DM be-reitgestellt habe, da sich im Bundeshaushalt 2000 im Haushalts-titel „Zuweisungen zur Förderung von Stadtteilen mit besonde-rem Entwicklungsbedarf“ zwar 100 Millionen DM als Verpflichtungsermächtigung finden, von denen jedoch lediglich 30 bis 15 Millionen DM pro Jahr bis zum Jahr 2004 zur Auszah-lung kommen sollen?
Herr Großmann, bitte.
A
Vielen Dank. – Frau Kollegin Ostrowski, die Feststel-
lung des Bundesministers Reinhard Klimmt, der Bund
stelle für das neue stadtentwicklungspolitische Pro-
gramm „Die soziale Stadt“ jährlich 100 Millionen DM
Finanzhilfen zur Verfügung, ist richtig. In den Haus-
haltsjahren 1999 und 2000 sowie in der Finanzplanung
bis zum Jahre 2003 steht für dieses Programm ein jährli-
cher Verpflichtungsrahmen von 100 Millionen DM zur
Verfügung.
Entsprechend dem System der Städtebaufinanzierung
sind die jährliche Bereitstellung der Bundesfinanzhilfen,
also der Verpflichtungsrahmen, und die über fünf Jahre
verteilte, rein kassenmäßige Abwicklung des Verpflich-
tungsrahmens voneinander zu trennen.
Eine Zu-
satzfrage? – Frau Kollegin Ostrowski.
Herr Staatssekretär, ich
bedanke mich, dass Sie es nunmehr korrekt ausgedrückt
haben, dass Sie also gesagt haben, dass diese
100 Millionen DM, die jährlich bereitgestellt werden, als
Verpflichtungsrahmen bereitgestellt werden. Geben Sie
mir Recht, dass der Begriff „Verpflichtungsrahmen“ in
der offiziellen Presseerklärung des Bundesbauministers
fehlte und dadurch in der Öffentlichkeit der Eindruck
erweckt wurde, dass diese 100 Millionen DM regelrecht
als Kassenmittel zur Verfügung stehen, wie Sie im Üb-
rigen auch in den Presseresonanzen nachlesen können?
A
Ichkann Ihnen leider nicht Recht geben. Frau Ostrowski,schauen wir uns einmal die Praxis an: Es ist de facto so,dass diese Tranche von 100 Millionen DM für diesesPeter Weiß
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000 8689
Programm bereits für die Jahre 1999 und 2000 mit Be-willigungsbescheiden belegt wird. Das heißt, die Städteund Gemeinden können mit dem Programm „Die sozialeStadt“ schon in vollem Umfang der Verpflichtungser-mächtigung disponieren. Dies ist in der Pressemitteilungtransportiert worden; so hat es die Öffentlichkeit auchverstanden.
Eine
weitere Zusatzfrage? – Bitte schön.
Ich denke, die Öffent-
lichkeit hat es anders verstanden. Das ist nachzulesen.
Aber dies sei einmal dahingestellt.
Sind Sie denn bereit, wenn Sie in Zukunft Presseer-
klärungen und offizielle Dokumente veröffentlichen,
sprachlich korrekt zu sein?
A
Da
ich Ihnen in meiner Antwort auf die vorherige Frage
schon gesagt habe, dass ich Ihre Ansicht nicht teile, son-
dern dass ich vielmehr der Meinung bin, dass wir
sprachlich korrekt gearbeitet haben, ist eine Korrektur
nicht notwendig.
Gibt es
zu diesem Punkt weitere Zusatzfragen? – Das ist nicht
der Fall.
Die Frage 20 soll schriftlich beantwortet werden. Da-
mit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Vielen
Dank, Herr Staatssekretär.
Die Fragen 21 bis 23 zum Geschäftsbereich des Bun-
deskanzleramtes sollen ebenfalls schriftlich beantwortet
werden.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Aus-
wärtigen Amtes. Zur Beantwortung steht der Staatsmi-
nister Dr. Ludger Volmer zur Verfügung. Zunächst
kommen wir zu Frage 24 des Abgeordneten Wolfgang
Dehnel:
Was unternimmt die Bundesregierung im Kosovo-Krisengebiet, um neben der Friedenssicherung auch den Aufbau von Unternehmen mit deutscher Unterstützung und Beteiligung zu fördern, wie das beispielsweise durch die österreichische Re-gierung bei österreichischen Unternehmen praktiziert wird?
L
Herr Kollege Dehnel, Sie fragten nach den Maß-
nahmen der Bundesregierung im Kosovo-Krisengebiet.
Die Bundesregierung misst der Entwicklung des priva-
ten Wirtschaftssektors im Kosovo mittel- und langfristig
entscheidende Bedeutung bei. Deutsche Unternehmen
können durch Handel und Investitionen, Transfer von
Know-how und Kapital in den Kosovo einen wichtigen
Beitrag hierzu leisten.
Deshalb hat die Bundesregierung in Zusammenarbeit
mit den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft
frühzeitig deutsche Unternehmen zu entsprechendem
Engagement ermutigt. Gemeinsam mit dem DIHT und
deutschen Handelskammern wurden Informations- und
Beratungsveranstaltungen durchgeführt. In mehr als
1 000 Fällen wurden einzelne Unternehmen individuell
über Geschäftsmöglichkeiten im Kosovo informiert und
beraten. Zahlreichen deutschen Unternehmensvertretern
wurden Kontakte zu Gesprächspartnern vor Ort vermit-
telt. Hierbei haben die Mitarbeiter des Büros des Zivilen
Koordinators für Kosovo-Soforthilfe sowie des gemein-
samen Büros von GTZ, DEG und KfW in Pristina eben-
so eine wichtige Rolle gespielt wie Angehörige des
KFOR-Kontingents der deutschen Bundeswehr.
Zudem hat der Deutsche Industrie- und Handelstag,
gefördert aus Mitteln des Bundesministeriums für Wirt-
schaft und Technologie, in Pristina ein Büro des Beauf-
tragten der deutschen Wirtschaft für den südlichen Bal-
kan eingerichtet, dessen Aufgabe die Beratung und
Betreuung deutscher Unternehmen und ihrer Interessen
im Kosovo ist. Auch bei der Vergabe von Projekten im
Rahmen des Wiederaufbaus hat sich die deutsche Wirt-
schaft beteiligen können.
Zusatz-
frage? – Bitte schön.
Herr Staatsminister,
Sie haben gerade viele Maßnahmen aufgeführt. Kennen
Sie aber Zahlen, die den Erfolg darstellen? Wie viele
Unternehmen konkret sind dort tätig geworden? Welche
Maßnahmen waren erfolgreich?
D
Ich kann Ihnen zumindest sagen, dass der größte
im vergangenen Jahr von der EU-Task-Force für den
Wiederaufbau im Kosovo vergebene Einzelauftrag im
Umfang von 14 Millionen Euro an einen deutschen Be-
werber, nämlich an die GTZ, gegangen ist. Eine genaue
Aufstellung im Hinblick auf Privatunternehmen liegt
mir im Moment nicht vor.
Eineweitere Zusatzfrage wird nicht gewünscht. Die Frage 25 des Kollegen Koschyk soll schriftlichbeantwortet werden.Ich möchte an dieser Stelle kurz bekannt geben, dasszu den Fragen 7 und 8 eine Aktuelle Stunde vonseitender CDU/CSU-Fraktion beantragt worden ist, die direktnach der Fragestunde stattfinden wird. Dies sage ich zurInformation an die Fraktionen, damit möglichst vieleKollegen an der Aktuellen Stunde teilnehmen können.Wir kommen nun zur Beantwortung der Frage 26 desAbgeordneten Matthäus Strebl:Wie beurteilt die Bundesregierung die konkreten Schritte der EU zur Beschleunigung des Beitrittsprozesses der Türkei?Parl. Staatssekretär Achim Großmann
Metadaten/Kopzeile:
8690 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000
D
Herr Kollege Strebl, Sie fragen nach dem Bei-
trittsprozess in Bezug auf die Türkei. Der Europäische
Rat in Helsinki hat die Türkei formell in den Beitritts-
prozess einbezogen und einen Rahmen für die Strategie
zur Heranführung der Türkei an die EU festgelegt.
Als nächste Schritte stehen an: die Wiederaufnahme
des politischen Dialogs; die Einsetzung von Ausschüs-
sen durch den Assoziationsrat EU-Türkei am
10. April zur Vorbereitung des Abgleichs der Rechtssys-
teme, des so genannten Screeningprozesses; eine Rah-
menverordnung als Rechtsgrundlage für die Heranfüh-
rungsstrategie einschließlich der Finanzmittel und ein
Ratsbeschluss zur Beitrittspartnerschaft mit Prioritäten
und Zielen für die Übernahme des Acquis.
Die EU hat mit der Anerkennung des Kandidatensta-
tus klare Verhältnisse geschaffen. Die Türkei kann die
EU nicht mehr mit dem Vorwurf, die Türken würden
gegenüber den mittel- und osteuropäischen Ländern dis-
kriminiert, in die Defensive drängen. Die Türkei muss
sich jetzt – wie die anderen Kandidaten – ohne Wenn
und Aber an den Kopenhagener Kriterien messen lassen.
Beitrittsverhandlungen können erst dann aufgenommen
werden, wenn die Türkei die politischen Kopenhagener
Kriterien erfüllt.
Die Konkretisierung der Beitrittskriterien im Rahmen
der Beitrittspartnerschaft wird unrealistischen Erwartun-
gen der Türkei im Hinblick auf die Aufnahme von Bei-
trittsverhandlungen entgegenwirken. Ob die genannten
Schritte zu einer Beschleunigung des Beitrittsprozesses
führen werden, hängt von der Reformfähigkeit und dem
Reformwillen der Türkei ab.
Zusatz-
frage des Kollegen Singhammer.
Herr Staats-
minister, ist der Bundesregierung bekannt, dass der Zwi-
schenbericht der EU-Kommission über die Beitrittsver-
handlungen der Türkei Menschenrechtsverletzungen
vorwirft? Wie verhält es sich damit, dass einerseits die
Bundesregierung sagt, in dieser Situation sei eine Isolie-
rung der Türkei der falsche Weg, im Gegenteil, man
müsse die Beitrittsverhandlungen intensivieren, und dass
andererseits im Falle der Republik Österreich, der nie-
mand Menschenrechtsverletzungen vorwirft, die Isolie-
rung als das richtige politische Rezept angeboten wird?
Ist das nicht ein Fall von merkwürdiger politischer
Asymmetrie?
D
Herr Präsident, die Zusatzfrage des Kollegen
Singhammer ist identisch mit der Frage 27 des Kollegen
Strebl. Herr Strebl, wenn es Ihnen recht ist, möchte ich
beide Fragen zusammen beantworten.
Dann ru-
fe ich die Frage 27 des Kollegen Strebl auf:
Inwieweit teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass eine zunehmende Euro-Skepsis bei der Bevölkerung der Bei-trittskandidaten wegen der EU-weiten Isolierung Österreichs festzustellen ist, und welche Folgerungen zieht sie daraus für ih-re Politik?
D
Die Bundesregierung sieht keinen Zusammenhang
zwischen den Reaktionen der EU-Mitgliedstaaten auf
die Regierungsbeteiligung der FPÖ in Österreich einer-
seits und der Einstellung der Bevölkerung der Beitritts-
kandidaten zur EU andererseits.
Was die Türkei angeht: Der EU-Beitrittsprozess soll
dazu führen, dass sich die Türkei den für die anderen der
EU angehörenden Staaten schon geltenden menschen-
rechtlichen Kriterien anschließt und sich ihnen unter-
wirft. Der Screeningprozess wird dazu beitragen, die
Türkei an die europäischen Standards heranzuführen.
Zusatz-
frage, Kollege Strebl.
Herr Staatsminister,
zurück zur Isolierung von Österreich durch die EU. Wie
wir wissen, gibt es dort eine Koalition aus ÖVP und
FPÖ. Würde, wenn es andere Konstellationen der Koali-
tion gäbe, zum Beispiel der Sozialisten und der Freiheit-
lichen, eine Blockierung ebenso greifen?
D
Die Konstellation ist doch sehr spekulativ.
Weitere
Zusatzfrage, Herr Strebl? – Das ist nicht der Fall.
Zusatzfrage des Kollegen Müller.
Herr Staatsminister,
Ihre Antwort ruft mich zu dieser Frage auf: Ist der Bun-
desregierung bekannt, dass SPÖ-Kanzler Klima zu-
nächst der FPÖ ein Regierungsangebot unterbreitet hat?
Erst nachdem Herr Haider dies nicht angenommen hat,
sind bei der Verhandlungsaufnahme durch Bundeskanz-
ler Schüssel die entsprechenden Sanktionen eingeleitet
worden.
D
Wir nehmen zur Kenntnis, dass diese Gesprächegescheitert sind und damit eine solche Konstellationnicht Realität wurde.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000 8691
Damit
kommen wir zu Frage 28 des Kollegen Dr. Gerd
Müller:
Plant die deutsche Bundesregierung, beim Sondergipfel der EU in Lissabon Initiativen zu ergreifen, um zu einer Normalisie-rung im Verhältnis zwischen Deutschland und Österreich sowie der EU und Österreich beizutragen, und wenn ja, welche?
D
Herr Müller, diese Frage wird mit Nein beantwor-
tet.
Zusatz-
frage, Herr Kollege Müller.
Herr Staatsminister,
wie begründet und bewertet die Bundesregierung die
Tatsache, dass der Außenminister Fischer dem für den
Völkermord in Tschetschenien zuständigen Präsidenten
Putin die Hand reicht und Bundeskanzler Schröder Dik-
tator Castro zur EXPO einlädt, aber dem demokratisch
gewählten Bundeskanzler Österreichs den Handschlag
verweigert?
D
Herr Kollege, ich sehe diese Frage nicht als Nach-
frage zu Ihrer Hauptfrage an.
Weitere
Zusatzfrage, Herr Kollege Müller? – Das ist nicht der
Fall.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Spranger.
Herr Staatsmi-
nister, wie beurteilt die Bundesregierung die Forderung
des finnischen Außenministers vor wenigen Tagen, die
EU möge ihre Sanktionen gegen Österreich aufheben?
Kalkuliert die Bundesregierung auch ein, wenn sie bei
ihrer bisherigen Haltung bleibt, dass damit der Wider-
stand vor allem kleinerer Länder gegen die Ausdehnung
der Mehrheitsentscheidungen in der EU zunehmen
wird?
D
Herr Spranger, ich beantworte die Frage gerne,
weise aber darauf hin, dass Sie die Frage, die Sie als
Nachfrage zur Frage des Kollegen Müller gestellt haben,
in Frage 30 als Hauptfrage formuliert haben. Insofern
weiß ich nicht, wann ich Ihnen eine Antwort geben soll.
Herr
Staatsminister, da die Frage nun gestellt wurde, ist jetzt
die Gelegenheit, sie zu beantworten.
D
Gut. Dann tue ich es hier. Es gibt keine Maßnah-
men der EU gegen Österreich, sondern eine abgestimm-
te politische Reaktion von 14 EU-Mitgliedstaaten.
Im Übrigen gibt es bei Nicht-EU-Mitgliedern eine
Diskussion darüber, ob diese Politik der EU-Mitglied-
staaten befürwortet wird oder nicht. Insbesondere die
Nicht-EU-Mitgliedstaaten sind in einer anderen Situati-
on als die EU-Mitgliedstaaten, die auf eine enge Zu-
sammenarbeit programmiert sind. Wenn es diese Staaten
angesichts der politischen Situation in Österreich für
sinnvoll halten, den internationalen Austausch auf die
juristisch vorgesehenen und geschäftsmäßig notwendi-
gen Gepflogenheiten zu reduzieren, dann ist dies eine
berechtigte politische Entscheidung der entsprechenden
Staaten.
Ansonsten möchte ich darauf hinweisen, dass insbe-
sondere auch konservative Staatsführer unter diesen
14 EU-Mitgliedstaaten, so der französische Staatspräsi-
dent Chirac und der spanische Regierungschef Aznar,
diese politische Linie inhaltlich voll mittragen und teil-
weise sogar ihre Förderer und Befürworter waren.
Ich verstehe, Herr Spranger, dass Sie als Mitglied der
CSU, die sich ja auch in der EVP befindet, große Pro-
bleme mit den Debatten innerhalb der EVP haben,
die sich politisch ja gerade wohl an dieser Frage spaltet.
Herr
Kollege Müller, Sie hatten bisher nur eine Zusatzfrage;
Sie können gern Ihr Recht nutzen, eine zweite Frage zu
stellen.
Herr Staatsminister,
angesichts Ihrer nebulösen Ausführungen möchte ich ei-
ne für alle verständliche, konkrete Frage stellen: Welche
Forderungen haben Sie denn an die Bundesregierung in
Österreich, um im Dialog, im bilateralen und im europä-
ischen Dialog, wieder zur Normalität zurückzukehren?
Man muss ja dem Partner sagen, was man wirklich er-
wartet. Welche Forderungen haben Sie denn?
D
Diese Fragen werden auf dem europäischen Son-
derrat in Lissabon, der in wenigen Tagen stattfinden
wird, ausführlich beraten werden.
Zusatz-frage der Kollegin Rönsch, bitte!
Metadaten/Kopzeile:
8692 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000
Herr
Staatsminister, ich frage an dieser Stelle noch einmal
nach: Was waren denn die Ursachen für den Boykott
und könnten Sie mir auch mitteilen, ob Herr Bundes-
kanzler Schröder mit Motor für diesen Boykott gewesen
ist? Weil Sie eben andere Regierungen in Europa heran-
gezogen haben, hätte ich gern den Stellenwert der Rolle
des Bundeskanzlers an dieser Stelle gewusst.
D
Die Ursache war die Teilhabe der Haider-Partei
FPÖ an der österreichischen Regierung. Der Bundes-
kanzler war nicht Motor des politischen Bestrebens, den
politischen Kontakt zu Österreich dementsprechend zu
reduzieren. Allerdings hat Deutschland, nachdem andere
europäische Partner dort eine forciertere Tonart ange-
schlagen haben, im Geleitzug der Europäer mitgemacht.
Zusatz-
frage des Kollegen Lippelt!
Herr Staatsminister, finden Sie nicht den Rücktritt des
Vorsitzenden der österreichischen Freiheitlichen Volks-
partei ein hervorragendes Ergebnis der EU-Mitglied-
staaten?
– Ich habe doch von der FPÖ gesprochen.
D
Wir sehen, dass es in Österreich auch im Regie-
rungslager politische Reaktionen auf den politischen
Druck der 14 europäischen Staaten gibt. Ich rechne da-
mit, dass diese Frage in wenigen Tagen auf dem Europä-
ischen Rat in Lissabon vertieft werden wird.
Zusatz-
frage des Kollegen Fritz.
Herr Staatsminister, da
Sie sich offensichtlich schwer tun, hier Gründe für die
Haltung der EU vorzutragen, frage ich Sie: Wie beurtei-
len Sie denn die Aussage des Bundesaußenministers
heute Morgen im Wirtschaftsausschuss, man sei zu die-
sen Aktionen aus außenwirtschaftlichen Gründen ge-
genüber Israel und den USA gezwungen gewesen.
D
Ich war heute Morgen im Wirtschaftsausschuss
nicht dabei. Aber ich möchte Sie daran erinnern, dass Is-
rael sogar seinen Botschafter abgezogen hat und dass die
USA die Politik der 14 europäischen Staaten voll unter-
stützen.
Wir
kommen jetzt zur Frage 29 des Kollegen Müller:
Welche angeblichen Verstöße der österreichischen Bundes-regierung gegen den EU-Vertrag sind Grundlage der beschlos-senen Maßnahmen der deutschen Bundesregierung und der EU zur Einschränkung der Beziehungen zu Österreich?
D
Herr Müller, die Antwort lautet: Es gibt keine
Maßnahmen der EU gegen Österreich, sondern nur eine
abgestimmte politische Reaktion der 14 Mitgliedstaaten
gegen die Regierungsbeteiligung der FPÖ. Der EU-
Vertrag ist hiervon nicht berührt. Im Übrigen verweise
ich auf die ausführlichen Antworten von Bundesminister
Fischer in der Fragestunde vom 16. Februar dieses Jah-
res.
Herr
Müller, Zusatzfrage.
Herr Staatsminister,
Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Deshalb darf
ich zumindest den ersten Teil noch einmal zur Beant-
wortung stellen. Meine Frage ist: Welche angeblichen
Verstöße der österreichischen Bundesregierung gegen
geltendes europäisches Recht sind denn die Grundlage
für die beschlossenen Maßnahmen und auf welcher
rechtlichen Basis geschehen diese Maßnahmen, bilateral
und im europäischen Kontext?
D
Herr Müller, Sie insinuieren in Ihrer Frage, dass es
beschlossene Maßnahmen der EU gäbe. Es gibt aber kei-
ne Maßnahmen der EU, sondern nur Maßnahmen von
14 EU-Mitgliedstaaten. Der Hintergrund – ich habe ihn
gerade erklärt – ist die Regierungsbeteiligung der FPÖ.
Zusatz-
frage des Kollegen Spranger.
Herr Staatsmi-
nister, was sagt die Bundesregierung zu der Feststellung
des früheren französischen Staatspräsidenten Giscard
d’Estaing vor wenigen Tagen im „Focus“, dass die eu-
ropäischen Verträge der EU und ihren Mitgliedstaaten
nicht das Recht geben, sich in nationale politische Ent-
scheidungen einzumischen, die in demokratischen Wah-
len getroffen worden sind?
D
Die 14 EU-Mitgliedstaaten haben ein großes Inte-resse daran, dass Österreich als akzeptiertes Mitglied derEU auch in Zukunft eng mit ihnen zusammenarbeitet,und wollen mit ihrer Politik dafür den Boden bereiten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000 8693
Zusatz-
frage des Kollegen Hintze.
Herr Staatsminister,
selbst wenn man einmal für einen kurzen Augenblick Ih-
re Unterstellung als richtig annimmt, dass die bisherigen
diskriminierenden Maßnahmen gegen Österreich zwi-
schenstaatliche Maßnahmen gewesen seien: Würden Sie
mir trotzdem zustimmen, dass die Entscheidung des
Ratspräsidenten, die Republik Österreich im Vorfeld des
Gipfels nicht zu besuchen, sondern den österreichischen
Bundeskanzler nach Brüssel einzubestellen, eine diskri-
minierende Maßnahme auf EU-Ebene ist? Wo ist für
diese Maßnahme, die nichts mit zwischenstaatlicher Dis-
kriminierung zu tun hat, die Rechtsgrundlage?
D
Wir begrüßen, dass der Ratspräsident den österrei-
chischen Kanzler zum Gespräch getroffen hat. Soweit
wir wissen, hat sich Herr Schüssel über den Ort nicht
beschwert.
Es liegt
im Ermessen des Antwortgebers, wie er die Frage be-
antwortet. Ich habe keine inhaltliche Wertung vorzu-
nehmen. Ich bedauere das.
Wir kommen damit zur Frage 30 des Abgeordneten
Carl-Dieter Spranger:
Wie beurteilt die Bundesregierung die europäischen Reakti-onen in Italien und in den skandinavischen Staaten, die in den von der Europäischen Union gegenüber Österreich verhängten Sanktionsmaßnahmen eine ungerechtfertigte Einmischung in die inneren Angelegenheiten sehen, und welche Konsequenzen er-wachsen aus diesen Einschätzungen für die Diskussion über den künftigen Weg der europäischen Integration?
D
Herr Spranger, es gibt keine Maßnahmen der EU
gegen Österreich, sondern eine abgestimmte politische
Reaktion der 14 EU-Mitgliedstaaten gegen die Regie-
rungsbeteiligung der FPÖ. Auch die Regierungen Ita-
liens und der skandinavischen EU-Mitgliedstaaten,
Finnland, Schweden und Dänemark, waren am Abstim-
mungsprozess über diese politische Reaktion beteiligt
und tragen die Position mit.
Zusatz-
frage, Kollege Spranger?
Herr Volmer,
nachdem der Bundeskanzler angekündigt hat, bei einer
Beteiligung der Alleanza Nazionale an einer italieni-
schen Regierung ähnlich rechtswidrig zu reagieren wie
gegenüber Österreich, was im Übrigen zu außerordentli-
chen Protesten in ganz Italien geführt hat, frage ich, wa-
rum die Bundesregierung nicht schon längst in gleicher
Form gegen die Regierungsbeteiligung von Kommunis-
ten in Frankreich und Italien
protestiert und Quarantänemaßnahmen ergriffen hat.
D
Herr Spranger, ich weise die Unterstellung zurück,
der Bundeskanzler habe „rechtswidrig“ reagiert.
– Wenn Ihre Prämisse nicht stimmt, habe ich Schwierig-
keiten, auf Ihre Schlussfolgerungen zu reagieren.
Weitere
Zusatzfrage, Herr Kollege Spranger.
Was sagt die
Bundesregierung zu der Meinung des ehemaligen Wie-
ner Bürgermeisters Zilk:
Ich kann nicht verstehen, dass für diese demokra-
tisch entstandene Regierung, zu der es im Moment
offenbar keine Alternative gibt, ein ganzes Volk in
Geiselhaft genommen wird.
D
Ich möchte betonen, dass weder die Bundesregie-
rung noch die anderen 13 EU-Mitgliedstaaten das öster-
reichische Volk in Geiselhaft nehmen. Das ist eine poli-
tische Haltung, die sich allein gegen die Regierungsbe-
teiligung der FPÖ richtet.
Zusatz-
frage des Kollegen Fritz.
Nachdem Sie die Maß-
nahmen der Bundesregierung gegen Österreich aufgrund
der Koalitionsbeteiligung der Partei des Rechtspopulis-
ten Haider für gerechtfertigt halten: Würden Sie auch
fordern, dass 15 Bundesländer gegenüber der Regie-
rungsbeteiligung des Linkspopulisten Gysi bzw. seiner
Partei in Mecklenburg-Vorpommern in gleicher Weise
innerstaatlich vorgehen?
D
Es ist nicht die Aufgabe der Bundesregierung, den
einzelnen Länderregierungen und Koalitionen Ratschlä-
ge zu geben, Herr Fritz.
Damitkommen wir zur Frage 31 des Kollegen Spranger:
Metadaten/Kopzeile:
8694 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000
Wie beurteilt die Bundesregierung das Signal, das von den gegenüber Österreich von der Europäischen Union verhängten Maßnahmen auf die ostmittel- und südosteuropäischen Beitritts-kandidaten ausgeht?D
Herr Spranger, die 14 EU-Mitgliedstaaten, die in
abgestimmter Weise bilateral auf die Regierungsbildung
in Österreich unter Beteiligung der FPÖ politisch rea-
giert haben, haben damit von ihrer Möglichkeit Ge-
brauch gemacht, ihre bilateralen Beziehungen zur öster-
reichischen Regierung so zu gestalten, wie es im Interes-
se der gemeinsamen Grundwerte – der Freiheit, der De-
mokratie, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlich-
keit – geboten ist. Sie haben dadurch gegenüber den ost-
, mittel- und südosteuropäischen Beitrittskandidaten
verdeutlicht, dass Sie diesen Grundwerten nicht nur in
Bezug auf die Beitrittsfähigkeit einen hohen Stellenwert
einräumen – das ist das politische Kriterium von Ko-
penhagen –, sondern dass Sie sich auch im EU-Kreis für
die Einhaltung dieser Grundwerte, wenn sie gefährdet
erscheinen, entschlossen einsetzen. Damit wurde auch
ein Signal der Glaubwürdigkeit der EU-Politik an die
Beitrittskandidaten gesandt.
Zusatz-
frage, Herr Spranger.
Herr Volmer,
wie bringt die Bundesregierung ihre ständige Beteue-
rung, weltweit auf die Achtung der Menschenrechte hin-
zuwirken, mit der Tatsache in Einklang, dass sie und die
EU-Staaten das Selbstbestimmungsrecht des österreichi-
schen Volkes und die Achtung einer vom österreichi-
schen Volk in freien Wahlen gewählten Regierung mas-
siv verletzen?
D
Das Selbstbestimmungsrecht des österreichischen
Volkes ist überhaupt nicht eingeschränkt worden.
Aber wir haben das Recht, unsere bilateralen Beziehun-
gen einem anderen Staat gegenüber so zu gestalten, wie
wir das im Rahmen unseres Selbstbestimmungsrechts
für notwendig halten.
Weitere
Zusatzfrage, Herr Spranger, bitte.
Wie aber brin-
gen Sie die Sanktionen und die Quarantänehaltung ge-
genüber Österreich in Einklang mit Ihrer Behauptung,
Sie würden das Selbstbestimmungsrecht der Österrei-
cher und deren demokratische Entscheidungen respek-
tieren? Dies müsste ja zur sofortigen Aufhebung Ihrer
Quarantäne- und Sanktionsmaßnahmen führen.
D
Zu dem politischen Dialog, der manchmal auch
sehr streitig verlaufen kann, wenn Grundwerte infrage
stehen, gehört eben auch, dass man sich hin und wieder
deutlich die Meinung sagt.
Zusatz-
frage, Frau Kollegin Rönsch.
Herr
Staatsminister, was haben die Österreicher Ihrer Mei-
nung nach zu erbringen, damit sie wieder in die europäi-
sche Staatengemeinschaft aufgenommen werden?
D
Offensichtlich ist durch die bisherige Politik der
14 Mitgliedstaaten – wie der Kollege Lippelt sagte –
nicht nur erreicht worden, dass sich Herr Haider nach
Kärnten zurückgezogen hat; vielmehr haben diverse Er-
klärungen von Kanzler Schüssel dazu geführt, dass eini-
ge Dinge klargestellt worden sind. Ich denke, dass sich
der Sonderrat in Lissabon in wenigen Tagen vertieft mit
dieser Frage befassen wird.
Zusatz-
frage des Kollegen Pflüger.
Herr Volmer,
würden Sie es im Hinblick darauf, dass Sie einräumen,
dass es auf österreichischer Seite eine gewisse Bewe-
gung gibt – die Demonstrationen, Äußerungen von
Herrn Schüssel, das Regierungsprogramm –, nicht für
sinnvoll halten, während der portugiesischen Präsident-
schaft auf den nächsten Gipfeln zu erwägen, mit Hin-
weis darauf eine Gelegenheit zu ergreifen, diese Sankti-
onen zu beenden, bevor die EU in dieser Frage unter-
schiedliche Wege geht, womit zu rechnen ist, wenn man
sich die innenpolitische Diskussion in den jeweiligen
Ländern anschaut?
D
Herr Pflüger, im Moment stelle ich fest, dass alle14 Staaten, unterstützt von vielen anderen Staaten in derWelt, gemeinsam an einem Strang ziehen. Ich sehe nichtdie Gefahr, dass es, wie Sie gerade dargestellt haben, zuSpaltungen kommt. Allerdings nehme ich an, dass darüber in Lissabon geredet wird und dass dort die eineoder andere Idee vorgebracht wird. Aus unserer Sicht istes Aufgabe der portugiesischen Präsidentschaft, die auchdie bisherigen politischen Maßnahmen koordiniert hat,die weitere Meinungsbildung zu koordinieren.Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000 8695
Eine
weitere Zusatzfrage des Kollegen Hiksch.
Herr Staatsminister, können Sie
mir bestätigen, dass manche Äußerungen vom rechten
Rand der CSU, aber auch ihres Vorsitzenden Stoibers,
der ja beispielsweise von der durchrassten Gesellschaft
gesprochen hat und in einer Kampagne gesagt hat, das
Boot sei voll,
durchaus dafür sprechen, dass eine politische Nähe zwi-
schen der FPÖ auf der einen Seite und dem rechten
Rand der CSU auf der anderen Seite besteht? Können
Sie mir weiter bestätigen, dass die vielen Fragen, die
von Mitgliedern der CSU-Fraktion zu Österreich gestellt
werden, in Wirklichkeit etwas damit zu tun haben, dass
sich die CSU vielleicht selbst angesprochen fühlt?
D
Die Tatsache, dass es diese öffentlichen Freund-
schaftsbekundungen von führenden CSU-Politikern ge-
genüber Herrn Haider in den letzten Wochen gab, ist si-
cherlich nicht dazu angetan, den Argwohn, der bei eini-
gen unserer westlichen Nachbarn gegenüber bestimmten
politischen Bestrebungen im deutschsprachigen Alpen-
raum existiert, zu mindern.
Zusatz-
frage des Kollegen Müller.
Herr Staatsminister,
sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es weder
von der CSU noch aus dem sonstigen konservativen La-
ger Freundschaftsbekundungen gegenüber Herrn Haider
gab, sondern vielmehr einen offiziellen Besuch und
Freundschaftsbekundungen gegenüber unserem Freund
Wolfgang Schüssel?
D
Ich habe wahrgenommen, dass Sie es an Solidari-
tätsadressen gegenüber Herrn Haider nicht haben man-
geln lassen.
Wir
kommen jetzt zur Frage 32 des Kollegen Peter Hintze:
Ist das Verhalten des EU-Ratspräsidenten António Guterres, auf der traditionellen Rundreise des Ratspräsidenten durch alle Hauptstädte der Europäischen Union Österreich nicht zu besu-chen, von der Bundesregierung gebilligt worden, und welche Haltung nimmt sie hierzu ein?
D
Herr Hintze, die Vorbereitung einer Präsident-
schaftsreise liegt in den Händen der jeweiligen Regie-
rung des Landes, welches die EU-Präsidentschaft inne-
hat. Im Rahmen der Präsidentschaftsreise hat auch eine
Begegnung mit dem österreichischen Bundeskanzler
stattgefunden. Der Bundesregierung ist nicht bekannt,
dass es in diesem Zusammenhang Kritik der österreichi-
schen Regierung an der Präsidentschaft gegeben hätte.
Zusatzfrage.
Hätte es die Bundesregie-
rung ebenfalls begrüßt, wenn der Ratspräsident den
deutschen Bundeskanzler Schröder nicht in Berlin auf-
gesucht, sondern nach Brüssel einbestellt hätte?
D
Dazu gab es keinen Grund. Von daher ist diese
Frage sehr spekulativ.
Zweite Zusatzfrage.
Wird die Bundesregie-
rung sich dafür einsetzen, dass der Bundeskanzler der
Republik Österreich in Zukunft so behandelt wird wie
die anderen Regierungschefs in Europa?
D
Wie der Präsident der EU die Staatschefs der EU
adressiert, liegt allein in seiner Vollmacht, er führt die
Amtsgeschäfte.
Eine Zusatzfrage
des Kollegen Carl-Dieter Spranger.
Angesichts der
Tatsache, dass schon von den Umgangsformen die Rede
war, würde mich interessieren, was die Bundesregierung
tut, um das läppische und unwürdige Verhalten von Mi-
nistern, insbesondere denen aus Belgien und Frankreich,
in entsprechenden Runden zu unterbinden, die mit ihrer
Art und der fehlenden Toleranz gegenüber anderen Mit-
gliedstaaten die EU international geradezu lächerlich
machen.
D
Die Bundesregierung hat erklärt, dass sie die von14 Mitgliedstaaten beschlossenen politischen Maßnah-men mitträgt, aber nicht bereit ist, darüber hinausgehen-de Vorstöße von einzelnen Mitgliedstaaten zu unterstüt-zen.
Metadaten/Kopzeile:
8696 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000
Ich rufe die Frage
33 des Kollegen Peter Hintze auf:
Wird sich Bundeskanzler Gerhard Schröder auf dem Europä-ischen Rat in Lissabon aus politischen Gründen gegenüber dem österreichischen Bundeskanzler Wolfgang Schüssel anders ver-halten als gegenüber den anderen Regierungschefs der Europä-ischen Union?
D
Der Bundeskanzler, Herr Hintze, wird sich in Lis-
sabon im Rahmen der abgestimmten Haltung bewegen.
Ich denke, da gibt
es eine Zusatzfrage, Herr Kollege Peter Hintze, bitte.
Können Sie bitte dem
Deutschen Bundestag die konkreten Auswirkungen die-
ses von Ihnen angeführten Grundsatzes erläutern?
D
Ja. „Abgestimmte Haltung“ besagt zum Beispiel,
dass es kein so genanntes Familienfoto geben wird. Da
es dieses nicht geben wird, wird sich der Bundeskanzler
auch nicht alleine mit Herrn Schüssel ablichten lassen.
Eine zweite Zusatz-
frage:
Herr Staatsminister, ich
habe noch folgende Zusatzfrage: Welche Leistungen des
kubanischen Diktators Fidel Castro rechtfertigen es, dass
die Bundesregierung ihn mit der offiziellen Einladung
durch Bundeskanzler Schröder zur EXPO 2000 – ich
verdanke diesen Hinweis dem Kollegen Pflüger – besser
behandelt als den österreichischen Bundeskanzler
Schüssel im Rahmen der üblichen Praxis in der Europä-
ischen Union?
D
Herr Hintze, ich denke, dass wir die Frage, wie
man mit Entwicklungsländern umgeht, denen es an de-
mokratischer Kultur mangelt, trennen sollten vom Um-
gang zwischen europäischen Staaten, die sich auf einen
bestimmten gemeinsamen Wertekodex verpflichtet ha-
ben. Die Bundesregierung möchte betonen, dass sie auch
im Verhältnis zu Dritte-Welt-Staaten versucht, Men-
schenrechte und Demokratie zu fördern und durchzuset-
zen. Aber die Mechanismen sind da natürlich andere als
innerhalb der europäischen Staatenfamilie.
Eine Zusatzfrage
des Kollegen Schmidt .
Herr
Staatsminister, haben wir im Rahmen der „abgestimm-
ten Haltung“, die Sie soeben beschrieben haben, zu er-
warten, dass sich der auf dem Europäischen Rat in Lis-
sabon sicherlich ebenfalls anwesende Bundesminister
des Auswärtigen an seine Sponti-Tradition erinnert und
Anleihe nimmt bei seinen Ministerkollegen, dem bel-
gischen und dem französischen Finanzminister, und
auch , – wie im Ecofin-Rat vor einigen Wochen gesche-
hen – mit einem „Nein danke!“-Button erscheint, der
den österreichischen Bundeskanzler persönlich diskri-
miniert und in seiner Ehre verletzt?
D
Herr Schmidt, ich lasse mich, wenn der Bundesau-
ßenminister zu Kongressen fährt, nicht vorher über sein
Outfit unterrichten.
Herr Kollege
Schmidt, Sie haben nur eine Zusatzfrage. Bei den nächs-
ten beiden ordentlichen Fragen, die Sie gestellt haben,
haben Sie sogar vier Zusatzfragen.
Jetzt bekommt der Kollege Pflüger das Wort.
Herr Kollege
Volmer, dass die EU einen ethischen Mindeststandard
schützt und diesen auch durchsetzt, wird niemand
bestreiten. Aber gehört nicht zu diesem ethischen Min-
deststandard, der schützenswert ist – nicht zuletzt, son-
dern eher zuerst –, die Akzeptanz von freien Wahlen in
den Mitgliedsländern? Gibt es nicht, wenn Sie so wol-
len, ein Menschenrecht, dass diese akzeptiert werden?
D
Herr Kollege Pflüger, die Wahlen werden in dem
Sinne respektiert. Aber wenn sich in einem europäischen
Land eine neue politische Richtung konstituiert,
die signifikant von dem abweicht, was dort bisher vorzu-
finden war, dann haben die anderen europäischen Staa-
ten das Recht, ihre Politik diesem Land gegenüber bila-
teral neu zu justieren.
Jetzt kommt der
Kollege Singhammer dran.
Herr Staats-minister, welche Vorkehrungen taktischer Art und wel-che Vorsichtsmaßnahmen trifft die Bundesregierung, um eventuellen unfreiwilligen Fotos mit österreichischenRegierungsmitgliedern zu entkommen oder völlig
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000 8697
spontanen Aktionen wie einer dargereichten Hand aus-weichen zu können?D
Die Bundesregierung hat – da können Sie sicher
sein – genug Routine, um sich auf dem diplomatischen
Parkett zu bewegen.
Jetzt kommt der
Kollege Spranger mit einer Zusatzfrage.
Herr Vollmer,
halten Sie es für einen Ausdruck von Zivilcourage und
Wahrhaftigkeit, dass dieselben Damen und Herren, die
vor den Kameras einen solchen persönlichen Kontakt
nicht stattfinden lassen und möglichst auf Distanz ge-
hen, anschließend, wenn die Kameras weg sind, zu ver-
traulichen Gesprächen mit ihren österreichischen Kolle-
gen zusammentreffen und ihnen erklären, so bös sei es
nicht gemeint, man solle doch das, was man ihnen öf-
fentlich zufügt, nicht so ernst nehmen?
D
Herr Spranger, man sollte froh darüber sein, wenn
es außer der offiziellen Diplomatie auch noch andere
Kanäle gibt, auf denen versucht wird, zu sondieren, wie
man bestimmte missliche Situationen überwinden kann.
Ich rufe jetzt die
Frage 34 des Kollegen Christian Schmidt auf:
Wie ist nach Auffassung der Bundesregierung der jeweilige Stand der Verhandlungen der EU mit den einzelnen osteuropä-ischen Beitrittskandidaten der ersten Runde zu den Kapiteln Freizügigkeit, Beschäftigung und Sozialpolitik zu beurteilen?
D
Zu Kapitel 2, Freizügigkeit: Herr Schmidt, die
Bundesregierung wird bei den in Kürze beginnenden
Verhandlungen gemäß der Koalitionsvereinbarung für
angemessene Übergangsfristen bezüglich der Arbeit-
nehmerfreizügigkeit eintreten. Die Beitrittsländer der so
genannten ersten Gruppe – das sind, wie Sie wissen, Po-
len, Tschechien, Estland, Slowenien und Zypern – haben
erwartungsgemäß keine Übergangsregelungen für diesen
Bereich beantragt.
Zu Kapitel 13, Beschäftigung und Sozialpolitik: Die-
ses Kapitel enthält die überarbeiteten. „Gemeinsamen
Positionen“. Es wird bei den Verhandlungen mit den
Beitrittskandidaten der so genannten ersten Gruppe –
mit Ausnahme von Zypern – vorläufig noch nicht abge-
schlossen; vielmehr soll über dieses Kapitel zu einem
späteren Zeitpunkt weiterverhandelt werden. Nach Auf-
fassung der Mitgliedstaaten und der Kommission müs-
sen in diesem Bereich trotz aller Fortschritte noch erheb-
liche Anstrengungen von den Beitrittsländern unter-
nommen werden.
Es bedarf darüber hinaus noch weiterer eingehender
Informationen seitens der Kandidatenländer zum Ver-
fahren, zum Zeitplan der Übernahme und zur Durchset-
zung des Sozial-Acquis sowie zu den von Polen und
Slowenien beantragten Übergangsfristen im Arbeits-
schutz. Die Bundesregierung misst der Übernahme so-
wie der tatsächlichen und nachvollziehbaren Umsetzung
des Sozial-Acquis zum Zeitpunkt des Beitritts große Be-
deutung bei.
Die endgültige deutsche Position bezüglich des Kapi-
tels „Arbeitnehmerfreizügigkeit“ wird unter anderem
wesentlich von den Fortschritten in den Verhandlungen
über Kapitel 13 und von dem Aufbau stabiler sozialer
Systeme in den Beitrittsländern abhängen.
Eine Zusatzfrage.
Herr
Staatsminister, unter dem Eindruck Ihrer Darlegungen
frage ich, über welche Zahlen gegenwärtig verhandelt
wird bzw. welche Zahlen von der Bundesregierung in
die Verhandlungen eingebracht worden sind und wie die
Kommission darauf reagiert hat.
D
Wie Sie wissen, reden wir bewusst nicht über Zah-
len. Die Bundesregierung hat ein großes Interesse daran,
dass der EU-Erweiterungsprozess möglichst zügig vo-
rankommt sowie möglichst schnell und positiv abge-
schlossen wird. Aber die Gründlichkeit gebietet es, dass
alle Themen hinreichend intensiv behandelt werden.
Ich rufe die Frage
35 des Kollegen Christian Schmidt auf:
Welche Übergangsfristen hat die Bundesregierung als Ver-handlungsposition der EU gefordert und durchgesetzt, und aus welchen Gründen geschah dies?
D
Herr Schmidt, grundsätzlich sollen – wie bei frü-heren EU-Erweiterungsverhandlungen – Übergangsfris-ten und Übergangsregelungen auf ein Mindestmaß be-schränkt werden. Das ist nicht zuletzt für das Funktio-nieren des Binnenmarktes wichtig.Das Vorgehen der EU zielt zudem darauf ab, inhaltli-che Diskussionen über die Ausgestaltung von Über-gangsregelungen erst am Ende der Verhandlungen zuführen. Eine frühzeitige Debatte hierüber birgt die Ge-fahr der Blockade und weckt Begehrlichkeiten.Für Deutschland ist eine Übergangsfrist im Bereichder Arbeitnehmerfreizügigkeit besonders wichtig. In derKoalitionsvereinbarung heißt es hierzu:Um beitrittsbedingte wirtschaftliche oder sozialeBrüche zu vermeiden, sind angemessene Über-gangsfristen zum Beispiel bei der Arbeitnehmer-freizügigkeit erforderlich.Johannes Singhammer
Metadaten/Kopzeile:
8698 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000
Die Verhandlungen über das Kapitel Freizügigkeit wer-den erst im Laufe der portugiesischen EU-Rats-präsidentschaft eröffnet. Die Bundesregierung wird dieNotwendigkeit von Übergangsregelungen im Verhand-lungsprozess frühzeitig deutlich machen. Dies geschiehtim Übrigen schon seit geraumer Zeit in bilateralen Ge-sprächen mit Beitrittsländern und Mitgliedstaaten. Ausden oben genannten verhandlungstaktischen Gründenwerden die Einzelheiten einer von uns für notwendiggehaltenen Übergangsregelung jedoch so spät wie mög-lich präzisiert. Auch im Bereich der Landwirtschaft werden voraus-sichtlich Übergangsfristen zu gegebener Zeit beantragtwerden.
Eine Zusatzfrage? –
Keine.
Dann rufe ich die Frage 36 des Kollegen Singhammer
auf:
Wie ist das Verfahren zur Festlegung der Verhandlungsposi-tionen der EU für die Verhandlungen mit den Beitrittskandida-ten, und welche konkreten Einflussmöglichkeiten auf Festlegun-gen der Verhandlungspositionen hat die Bundesregierung schon genutzt.
D
Die Verhandlungspositionen der EU zu den ein-
zelnen Kapiteln werden auf Grundlage von Entwürfen
der Kommission vom Rat beraten und von diesem ein-
vernehmlich als „Gemeinsame Position“ angenommen.
Dadurch ist sichergestellt, dass die Gemeinsamen Posi-
tionen der EU Anliegen der Bundesregierung hinrei-
chend Rechnung tragen. Die Bundesregierung bringt ih-
re Positionen im Übrigen regelmäßig im Rahmen der
fortlaufenden Beratungen über die „Gemeinsamen Posi-
tionen“ ein. Konkret hat die Bundesregierung beispiels-
weise sichergestellt, dass die „Gemeinsamen Positio-
nen“ zum Kapitel “Gesellschaftsrecht“ eine Regelung
zum Schutz von Arzneimittelherstellern in den EU-
Mitgliedstaaten vor Paralleleinfuhren aus Beitrittslän-
dern enthalten. Im Kapitel „Beschäftigung und Soziales“
hat sich die Bundesregierung beispielsweise erfolgreich
für die Aufnahme von Formulierungen zur rechtzeitigen
und vollständigen Übernahme von Sozialvorschriften
durch die Beitrittsländer in die gemeinsame Verhand-
lungsposition der EU eingesetzt.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staats-
minister, wie stellt die Bundesregierung sicher, dass der
Deutsche Bundestag rechtzeitig über die einzelnen Ver-
handlungsschritte, Schritte mit weitestreichender Bedeu-
tung, informiert wird?
D
Herr Singhammer, die Bundesregierung berichtet
über den Prozessfortschritt regelmäßig insbesondere
dem Europaausschuss.
Dazu eine Zusatz-
frage von Herrn Dr. Müller.
Herr Staatsminister,
ist Ihnen bekannt, dass die Verhandlungen mit den Bei-
trittsstaaten ausschließlich von EU-Beamten geführt
werden und dass die nationalen Parlamente vollkommen
unzureichend über den Stand der Verhandlungen infor-
miert werden? Wären Sie bereit, im Parlament, im Deut-
schen Bundestag, bereits in den nächsten Wochen eine
Debatte über den derzeitigen Stand der Beitrittsverhand-
lungen zu führen?
D
Herr Müller, wenn Beamte in der EU verhandeln,
heißt das nicht, dass sie dies abseits der politischen Wil-
lensbildung tun. Sie tun es auf der Basis dessen, was
Kommission und Rat als gemeinsame Position beschlos-
sen haben. In diese gemeinsame Position fließen die
Meinungen der jeweiligen Regierungen der Mitglied-
staaten ein. Dabei findet selbstverständlich eine Rück-
koppelung mit der parlamentarischen Willensbildung
statt. Ich denke, dass die Bundesregierung ein Eigeninte-
resse daran hat, vor wichtigen Weichenstellungen recht-
zeitig eine offene Debatte im Deutschen Bundestag da-
rüber zu führen.
Ich rufe die Frage
37 des Kollegen Singhammer auf:
Welche Forderungen von EU-Beitrittskandidaten, Über-gangsfristen zur Anwendung des EU-Rechts vorzusehen, sind der Bundesregierung bekannt und wie beurteilt sie diese?
D
Herr Singhammer, die Beitrittskandidaten haben in
vielen Bereichen des Acquis Anträge auf Übergangsfris-
ten gestellt, so zum Beispiel hinsichtlich der Kapitel
freier Warenverkehr, freier Kapitalverkehr, Steuern,
Energie, Umwelt und Außenbeziehungen. Die grund-
sätzliche Haltung der Bundesregierung hierzu ist, dass
insbesondere in binnenmarktrelevanten Bereichen Über-
gangsfristen nur restriktiv gewährt werden sollten.
Eine Alternative zu Übergangsregelungen sind die so
genannten Schutzklauseln, wie sie auch in vergangenen
Erweiterungsrunden angewendet wurden. Sie greifen,
wenn eine nachhaltige Störung des Marktes festgestellt
werden kann. Schutzmaßnahmen sind im Binnenmarkt
weniger störend. In Bereichen hingegen, die erhebliche
Anpassungsanstrengungen und beträchtliche finanzielle
Aufwendungen erfordern – etwa Umwelt, Energie und
Infrastruktur –, sind zeitlich limitierte Übergangsrege-
lungen akzeptabel, sofern das jeweilige Beitrittsland
aufzeigt, dass der erforderliche Angleichungsprozess im
Gang ist und dass sich das Land an detaillierte, realisti-
sche Angleichungspläne hält, die die erforderlichen In-
vestitionen berücksichtigen.
Eine Zusatzfrage. Staatsminister Dr. Ludger Volmer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000 8699
Herr Staats-
minister, gibt es Forderungen von Beitrittskandidaten
hinsichtlich Übergangsfristen beim Erwerb vom Eigen-
tum an Grund und Boden, und wenn ja, welche Staaten
sind es und wie sehen diese Forderungen aus?
D
Herr Kollege Singhammer, ich muss Sie bitten, ei-
ne schriftliche Beantwortung auf diese Frage zu akzep-
tieren, da mir die entsprechende Übersicht nicht im Au-
genblick vorliegt.
Ich rufe die Frage
38 des Kollegen Werner Siemann auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Menschenrechtssitua-tion in den Vereinigten Arabischen Emiraten im Hinblick auf die Voranfrage des Landes zur Lieferung von insgesamt 64 Spür-panzern des Typs Fuchs, und wann wird über eine Lieferung im Bundessicherheitsrat entschieden?
D
Die Prüfung der zusätzlichen Voranfrage für die
Lieferung der Spürpanzer des Typs Fuchs in die Verei-
nigten Arabischen Emirate auf der Grundlage der „Poli-
tischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export
von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“ in ih-
rer Neufassung vom 19. Januar dieses Jahres ist noch
nicht abgeschlossen. Im Rahmen dieser Prüfung werden
alle für den Ausfuhrantrag wesentlichen Umstände er-
wogen werden, insbesondere auch die Frage der Beach-
tung der Menschenrechte. Es steht noch nicht fest, wann
die Bundesregierung darüber entscheiden wird.
Zusatzfrage.
Herr Staatsminister,
wie pflegt die Bundesregierung mit vom Bundessicher-
heitsrat positiv beschiedenen Voranfragen umzugehen?
Wenn der Bundessicherheitsrat eine Voranfrage positiv
beschieden hat, wird dann auch entsprechend geliefert?
D
Die Voranfrage wird von privatwirtschaftlichen
Unternehmen gestellt. Durch die Voranfrage soll he-
rausgefunden werden, ob sich die Bundesregierung einer
Lieferung entsprechend dem Außenwirtschaftsgesetz in
den Weg stellen wird oder nicht. In dem Moment, in
dem der Bundessicherheitsrat die Voranfrage positiv be-
scheidet, hat das Unternehmen grünes Licht. Ob es dann
wirklich die Lieferung beantragt, ist seine Sache.
Eine zweite Zusatz-
frage.
Herr Staatsminister,
ist Ihnen bekannt, dass der Bundessicherheitsrat hin-
sichtlich 29 von den 64 Spürpanzern, die jetzt geliefert
werden sollten, bereits im Januar 1999 eine Voranfrage
positiv beschieden hat?
Nach der Antwort, die Sie gerade gegeben haben,
bedeutet das, dass die Firma, die diese Voranfrage
gestellt hat, 29 Spürpanzer liefern könnte.
D
Sie haben gerade den Beschluss des Bundessicher-
heitsrates vom letzten Jahr richtig zitiert. Wie sich die
Firma jetzt verhält, ist ihre Sache.
Es gibt keine weite-
ren Zusatzfragen. Damit sind wir am Ende dieses Ge-
schäftsbereichs. Ich danke Ihnen, Herr Staatsminister
Volmer.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeri-
ums des Innern auf. Zur Beantwortung steht der Parla-
mentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper zur
Verfügung.
Ich rufe die Frage 39 des Kollegen Norbert Röttgen
auf:
Ist es der Bundesregierung bekannt, dass seit längerer Zeit im Bereich des Bonner Bundesgrenzschutzpräsidiums West im Bundeshaushalt zugewiesene Stellen in erheblichem Umfang, so beispielsweise im Bereich Arbeiter ein Drittel der Stellen, nicht besetzt sind und darüber hinaus ein überdurch-schnittlich hoher Krankenstand besteht, und wie bewertet die Bundesregierung diese Situation?
F
Lieber Kollege Röttgen, ich bitte
darum, die Fragen 39 und 40 zusammen beantworten zu
dürfen. Ich denke, damit sind Sie einverstanden.
So ist es – Ich rufe
also auch die Frage 40 des Kollegen Norbert Röttgen
auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung, die offenen und für einen geordneten Dienstablauf dringend benötigten Stellen zu besetzen und den überdurchschnittlich hohen Krankenstand zu untersu-chen und diesem entgegenzuwirken, und wenn ja, bis wann?
F
Es trifft zu, dass in einzelnenStandorten des BGS nicht alle freien Stellen besetztsind. In Swisttal-Heimerzheim und Sankt Augustin-Hangelar sind von insgesamt 425,5 im Organisations-und Dienstpostenplan ausgewiesenen Planstellen 88,5Stellen zurzeit unbesetzt. Diese Tatsache beruht einerseits auf der im Novem-ber 1993 noch vom früheren Bundesminister Kantherangeordneten grundsätzlichen Stellenbesetzungssperre,deren Ziel es ist, zunächst Personal aus so genanntenÜberhangbehörden in Dienststellen und Behörden um-zusetzen, in denen personelle Vakanzen zu verzeichnensind. Dieser Umsetzungsprozess ist nicht abgeschlossenund wird mit dem Ziel der Haushaltskonsolidierungkonsequent fortgesetzt. Soweit ein Bedarf an Neu-
Metadaten/Kopzeile:
8700 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000
einstellungen nachgewiesen wird, werden Ausnahmenvon der Stellenbesetzungssperre zugelassen.Darüber hinaus resultiert die oben beschriebene Si-tuation auch aus der noch nicht beendeten personellenUmsetzung der BGS-Neuorganisation, in deren Rahmenauch Arbeiter und Angestellte der unteren Lohn- undVergütungsgruppen aus den aufgelösten Standorten desBGS sozial verträglich umgesetzt werden sollen. Diessetzt eine gewisse Bereitschaft zur Mobilität voraus, dienoch nicht in allen Fällen gegeben ist. Die Krankenstatistik der Standorte Swisttal-Heimerzheim und Sankt Augustin im Bereich des Bun-desgrenzschutzpräsidiums West weist in der Tat einenKrankenstand aus, der um circa 25 bis 30 Prozent überden Durchschnitt liegt. Unserer Meinung nach ist diesdarauf zurückzuführen, dass die BGS-Verwaltungs-stelle im Standort Sankt Augustin circa 20 Prozent mehrSchwerbehinderte beschäftigt als gesetzlich gefordert.Hinzu kommt, dass sich die Situation durch weitereAbwesenheiten aufgrund von Mutterschutz und Erzie-hungsurlaub noch verschärft. Das Personaldefizit im Standort Swisttal-Heimerz-heim ist nicht gravierend. Die krankheitsbedingten Aus-fälle können daher nicht auf eine Arbeitsüberforderungzurückgeführt werden. Die Ursachen der krankheitsbe-dingten Abwesenheit werden derzeit vom zuständigenBundesgrenzschutzpräsidium West untersucht.
Eine Zusatzfrage.
Meine Zusatzfrage
bezieht sich darauf, ob Sie nähere Angaben zum Willen
der Bundesregierung machen können, die nicht besetz-
ten Stellen zu besetzen, denn hier gibt es – darauf zielen
auch meine Fragen ab – einen erheblichen Bedarf. Ich
darf darauf hinweisen, worin insbesondere auch die Be-
schäftigten diese dringende Notwendigkeit sehen:
Im Bereich der Arbeiter ist jede dritte Stelle nicht be-
setzt. Sie haben zugestanden, dass der Krankenstand mit
20 Prozent erheblich ist. Wir haben also die Situation,
dass hier jede zweite Stelle nicht besetzt ist. Das führt
dazu, dass – zum Teil über lange Zeiträume, Sie haben
ja auf den Zeitpunkt 1993 rekurriert; es geht also um
jahrelang andauernde Zustände – zum Beispiel Polizei-
vollzugskräfte des BGS, die eine Aufgabe im Bereich
der Sicherheit haben, über einen längeren Zeitraum als
Gärtner, als Möbelpacker oder in der Verwaltung tätig
sind.
Sind Sie nicht auch der Auffassung, dass es unter
dem Gesichtspunkt der sozialen Verantwortung des
Dienstherrn für die Beschäftigten nicht hinnehmbar ist,
dass dies über einen Zeitraum von mehreren Jahren ge-
schieht, ohne dass eine konkrete Perspektive für eine
Veränderung aufgezeigt wird?
Sind Sie nicht zweitens der Auffassung, dass auf die-
se Weise sozusagen heimlich, auf indirektem Wege an
der Aufgabe Sicherheit gespart wird? Denn diejenigen
Polizeivollzugskräfte, die als Gärtner, als Möbelpacker
oder in der Verwaltung tätig sind, können ihrem eigent-
lichen Auftrag nicht nachkommen.
Ich erlaube mir, – es waren zwei Fragen, die ich
schriftlich gestellt habe – drittens die Frage: Teilen Sie
meine rechtliche Einschätzung, dass Polizeivollzugs-
kräften, die über einen langen Zeitraum eine solche
zweckentfremdete Tätigkeit ausüben, in ihrem Recht auf
amtsangemessene Verwendung verletzt sind und damit
auch mit Aussicht auf Erfolg rechtlich gegen diese
Maßnahme vorgehen könnten?
Vierte Zusatzfrage. Sie haben gesagt, es sei vorgese-
hen, aus aufgelösten Dienststellen im Geschäftsbereich
des Bundesministeriums des Innern nachzubesetzen. Es
handelt sich um Dienststellen, die weit entlegen sind, in
Goslar und Gifhorn, soweit der BGS betroffen ist. Hal-
ten Sie es für realistisch anzunehmen, dass eine Nachbe-
setzung bei Teilzeitkräften im Arbeiterbereich etwa ent-
sprechend der Besoldungsgruppe BAT VII, also bei Be-
diensteten mit kleinen Nettogehältern, aus Standorten er-
folgt, die mehrere hundert Kilometer entfernt sind?
F
Herr Kollege Röttgen, Sie wis-
sen, dass wir uns in einer Neuorganisation des Bundes-
grenzschutzes befinden und dass das auch personelle
Konsequenzen hat. Sie wissen auch, dass wir uns im In-
teresse der Beschäftigten dort, wo es zu Standortauflö-
sungen kommt, gerade für das Tarifpersonal bemühen,
eine Weiterbeschäftigung zu finden, dass das nicht ein-
fach ist, wissen Sie so gut wie ich aber wir müssen uns
darum bemühen.
Zweite Bemerkung zu Ihren Fragen: Es gibt ein Pro-
blem aus der Vergangenheit. Es gibt einen Erlass des
ehemaligen Bundesinnenministers Kanther zur Nichtbe-
setzung von Stellen im BGS außerhalb des Polizeivoll-
zugsbereiches. Dieser wurde Jahr für Jahr konsequent
angewendet – mit der von Ihnen beschriebenen Folge.
Auch ich sage: Es ist nicht gut, dass solche Umstände
eingetreten sind, wie Sie sie geschildert haben, dass bei-
spielsweise ein Polizeivollzugsbeamter gärtnerische Ar-
beiten oder Hausmeistertätigkeiten verrichtet. Aber ich
bitte, bei aller Kritik zu berücksichtigen, warum diese
Defizite in den zurückliegenden Jahren entstanden sind.
Wir haben gerade jetzt eine erste Maßnahme getrof-
fen, indem wir beispielsweise gerade in diesen Berei-
chen ermöglicht haben, notwendig zu besetzende Stellen
auf die verschiedenen Grenzschutzpräsidien zu vertei-
len. Dass damit die Defizite der vergangenen Jahre nicht
mit einem Mal ausgeglichen werden können, ist klar,
aber das Problem ist erkannt. Ich bitte Sie, an die Ursa-
chen zu denken und gemeinsam mit uns zur Verbesse-
rung der Situation beizutragen.
Die Frage 41 desKollegen Wolfgang Börnsen wird schriftlichbeantwortet. Damit sind wir am Ende der Fragestunde.Ich möchte mich dennoch bei den ParlamentarischenStaatssekretären Diller und Mosdorf bedanken, dass sieso lange ausgeharrt haben. Aber der Präsident hat keinenParl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000 8701
Ermessensspielraum zur Verlängerung der Fragestunde.Soweit die Fragen 42 bis 67 nicht zurückgezogen wor-den sind, werden sie schriftlich beantwortet. Die schrift-lichen Antworten werden in den Anhang zum Plenarpro-tokoll aufgenommen.Ich rufe auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU Rente und Rentenanpassung entsprechend derInflationsrateDiese Aktuelle Stunde wird zu den Antworten derBundesregierung auf die Fragen 7 und 8 gemäß Anla-ge 5 Nr. 1 b der Richtlinien für die Aktuelle Stunde ver-langt. Das Wort zur Geschäftsordnung wird nicht ge-wünscht.Ich eröffne die Aussprache und gebe dem soeben insPlenum eilenden Kollegen Karl-Josef Laumann dasWort für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst
einmal, Herr Bundesminister Riester, möchte ich deut-
lich sagen, dass CDU/CSU natürlich weiterhin mit Ihnen
und den Koalitionsfraktionen zusammen daran arbeiten
wollen, in der Rentenfrage zu einem vernünftigen Kom-
promiss und zu einer dauerhaften Regelung zu kommen,
damit die Rentendiskussion etwas ruhiger wird als sie es
zurzeit ist. Ich darf Ihnen das auch in meiner neuen
Funktion, die ich für die Arbeitsgruppe Arbeit und Sozi-
ales meiner Fraktion habe, ausdrücklich anbieten.
Eines müssen wir aber auch sehen: Seitdem Sie als
Arbeitsminister für die Renten verantwortlich sind, ist es
leider so, dass sich die Meinungen, wie die Renten an-
gepasst werden und worauf sich die Rentner in diesem
Land noch verlassen können, von Monat zu Monat än-
dern. Sie haben im Wahlkampf zusammen mit Ihren po-
litischen Freunden dargelegt, dass der demographische
Faktor, den wir damals eingeführt haben – so stand es
auch in Ihrem Wahlprogramm –, das Rentenniveau so
tief senken würde, dass viele Rentner der Sozialhilfe an-
heim fallen würden.
Sie sind in der Rentenpolitik mit dem Motto, nicht al-
les anders, aber vieles besser zu machen, angetreten. Ich
denke, Sie sind als Koalition nicht deshalb gewählt wor-
den, damit Ihnen die Opposition sagt, wie es weitergeht,
sondern um eigene Konzepte vorzulegen. Was haben Sie
gemacht? Sie haben nach der Bundestagswahl als erste
Handlung in der Rentenpolitik die nettolohnbezogene
Rentenerhöhung, den demographischen Faktor und gro-
ße Teile unserer Rentenreform außer Kraft gesetzt, aber
bis heute – anderthalb Jahre später – noch kein Gesamt-
konzept dafür vorgelegt, wie sie sich die Alterssicherung
in der Bundesrepublik Deutschland vorstellen.
Sie haben den Rentnerinnen und Rentnern gesagt:
Wir koppeln für zwei Jahre die Rentenerhöhungen von
der Nettolohnentwicklung ab. Wir haben darüber im
Bundestag offen debattiert, unsere Meinung dazu ken-
nen Sie. Ihre Rentenpolitik ist keine verlässliche Ren-
tenpolitik, sondern eine Rentenpolitik nach Kassenlage.
Sie haben Ihre Abgeordneten mit Berechnungen durch
die Wahlkreise geschickt, wonach es unter der Regie-
rung der CDU/CSU Jahre gegeben habe, in denen die
Preissteigerungsrate durch die Rentenerhöhungen nicht
aufgefangen worden sei. Dies hatte mit der damaligen
Rentensystematik zu tun, wonach die Renten in gleicher
Weise wie die Nettolöhne steigen sollten. Damals gab es
nun einmal eine solche Entwicklung.
Sie haben den Eindruck erweckt, wir garantierten
zumindest, dass die Renten in gleichem Maße wie die
Preise steigen. Jetzt erleben wir, dass die Preissteige-
rungsrate in unserem Land in diesem Jahr wahrschein-
lich bei 1,6 oder 1,8 Prozent liegen wird. Sie nehmen
das vorige Jahr als Bemessungsgrundlage, in dem wir
eine Preissteigerungsrate von 0,6 Prozent hatten. Das
heißt, jeder Rentner in diesem Land verliert durch Ihre
Politik 1 Prozent Kaufkraft. Dafür tragen Sie die Ver-
antwortung.
Sie tragen auch dafür die Verantwortung, dass die
Rentner durch die Ökosteuer belastet werden, dies aber
bei den Rentenerhöhungen, für dieses Jahr, weil die
Ökosteuer in diesem Jahr erst richtig greift, kaum eine
Rolle spielen wird. Die Rentner werden auf diese Weise
zwei Mal zur Kasse gebeten: zum einen, indem sie die
Ökosteuer zahlen müssen, und zum anderen, indem sich
diese nach dem Modell bei den Rentenerhöhungen nicht
auswirken wird.
Um es auf den Punkt zu bringen – dies muss in der
deutschen Öffentlichkeit deutlich werden –: Sie sind,
was Rentenerhöhungen angeht, für eine Trickserei ver-
antwortlich und mit dieser Trickserei fördern Sie weder
die Verlässlichkeit der Rentenversicherung noch das
Vertrauen in sie. Das gilt sowohl für die ältere als auch
für die jüngere Generation. Deswegen möchte ich Sie
auffordern, möglichst schnell in die Öffentlichkeit zu
treten und zumindest zuzugeben, dass es ein ganz großer
Fehler war, den demographischen Faktor und damit eine
berechenbare Grundlage dafür, wie sich das Rentenni-
veau in den nächsten Jahren in Deutschland einpendeln
wird, außer Kraft zu setzen.
Schönen Dank.
Für die SPD-
Fraktion gebe ich dem Kollegen Adolf Ostertag das
Wort.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Herr Laumann, ich kannanknüpfen: Endlich haben wir Verabredungen getroffen,damit es Rentenkonsensgespräche gibt. Das ist richtig.Vizepräsident Rudolf Seiters
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8702 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000
Dafür ist es höchste Zeit geworden, damit die ständigeVerunsicherung in diesem Land endlich beendet werdenkann.Die Ziele unserer Rentenstrukturreform sind klar. Siesind seit Monaten auch Ihnen bekannt: Wir wollen einenstabilen Beitragssatz für die Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer und natürlich auch für die Unternehmen, wirwollen eine langfristige Finanzierbarkeit der Rentenver-sicherung zu akzeptablen Bedingungen, wir wollen eineden Lebensstandard sichernde Alterssicherung aufrecht-erhalten und wir wollen die Altersarmut bekämpfen.Zur Stabilisierung der Rentenkasse und im Sinne vonGenerationengerechtigkeit haben diese Regierung unddie sie tragende Koalition in den letzten 15, 16 Monatenschon viel getan. Daran müssen Sie anscheinend immerwieder erinnert werden: Wir haben die Sozialversiche-rungspflicht für die 630-Mark-Jobs eingeführt. Es warschwer, aber es war richtig; das zeigt sich von Monat zuMonat mehr.
Ebenso war die Einbeziehung der Scheinselbstständi-gen richtig. Wir haben versicherungsfremde Leistungen,die Kindererziehungszeiten und die einigungsbedingtenKosten, aus der Rentenkasse herausgenommen. Wie Siewissen, haben wir darüber jahrelang diskutiert und esimmer wieder gefordert; doch Sie haben sich keinenMillimeter bewegt. Was wir getan haben, war genaurichtig, und es geschah zum richtigen Zeitpunkt. Wirhaben den Beitrag zur Rentenversicherung in zweiSchritten gesenkt. Wahrscheinlich haben Sie auch dasnicht registriert. Bei Ihnen ist er über Jahrzehnte ständiggestiegen.
Das Ergebnis dieser Politik sehen wir ja: Wir habenseit 1994 endlich wieder die gesetzlich vorgeseheneSchwankungsreserve von einem Monat in der Renten-kasse.
Das heißt, wir sind, was die Rente angeht, auf einem gu-ten Weg.Trotzdem müssen wir feststellen, dass die gegenwär-tige Diskussion natürlich zur allgemeinen Verunsiche-rung beigetragen hat.
Das ist nicht zu bestreiten. Laut einer Umfrage von For-sa glauben nur noch 15 Prozent der Befragten, dass dieRenten langfristig gesichert seien, während 70 Prozentder Meinung sind, dass die Zukunft der Renten unsichersei.Da repräsentative Umfragen bekanntlich nicht dievolkswirtschaftlichen Zusammenhänge überprüfen, son-dern lediglich Stimmungslagen abfragen, kann manschon sagen, dass sich hierin die parteipolitische Aus-einandersetzung um die anstehenden Maßnahmen zurRentenreform niederschlägt. Ich glaube, das ist nichtverwunderlich.Im Wesentlichen sind dafür zwei Entwicklungen ver-antwortlich: Erstens: Ihre Verunsicherungstaktik der letzten Mo-nate
– natürlich –, die nicht die Interessen der Menschen inden Mittelpunkt stellt, sondern vor allen Dingen einkurzfristiges Ablenkungsmanöver war. Sie steht für diekonzeptionelle Hilflosigkeit, die Sie in den letzten Mo-naten an den Tag gelegt haben.
Es gab immer nur Effekthascherei anstelle der Bereit-schaft zu einem breiten Konsens. Ihre Politik war mitPolemik, aber nicht mit Inhalten verbunden. Ich glaube,das rächt sich.Zweitens. Sie haben über viele Jahre eine Rentenpoli-tik praktiziert, die letzten Endes den über Jahrzehntevorhandenen Rentenkonsens aufgehoben hat. Ihr Sün-denregister aus der Entwicklung der letzten Jahre ist be-kannt. Ich will das im Einzelnen nicht aufzählen. Ichmöchte nur daran erinnern, dass wir noch 1992 ein ge-meinsames Konzept gefunden haben; diesen Konsenshaben Sie aber 1996 durch die Anhebung des Rentenein-trittsalters für Arbeitslose aufgekündigt. Sie haben imWachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz mitder Heraufsetzung der Altersgrenzen und der reduziertenBewertung von Anrechnungszeiten besonders ein-schneidende Verschlechterungen vorgenommen. ImRentenreformgesetz des Jahres 1999, mit dem der so ge-nannte demographische Faktor eingeführt worden ist,haben Sie massive Verschlechterungen bei den Er-werbsminderungsrenten durchgesetzt. – Diese Aufzäh-lung ist beliebig verlängerbar. Sie sollten sich an dieseMaßnahmen erinnern.Jetzt haben Sie endlich begriffen, dass die großenParteien im Rentenbereich zusammenarbeiten sollten,und sind an einen „Rententisch“ zurückgekehrt. Aller-dings bin ich davon überzeugt, dass sich Ihr derzeitigesVorgehen, an einem Tisch zu sitzen und gleichzeitig ge-gen die Regierung zu polemisieren, langfristig für Sienicht auszahlen wird.
Sie behaupten, wir wollten die Renten kürzen. Wir kür-zen die Renten nicht, wir passen sie vielmehr in diesenzwei Jahren, wie seit Monaten angekündigt und be-schlossen, an die Preissteigerungsrate an. Das heißt, dieRenten steigen weiterhin. Im Übrigen sei darauf verwiesen, dass die Rentenan-passung seit 1994 beständig unterhalb der Inflationsratelag. Auch dazu müssten Sie sich bekennen; darüberAdolf Ostertag
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000 8703
sollten Sie nicht hinwegreden. Die damalige Regie-rungspolitik – und nicht nur die damalige Rentenfor-mel – war daran schuld; denn Sie haben das Niveau derArbeitnehmereinkommen durch eine ganze Reihe vonMaßnahmen nach unten gedrückt. Ich habe ja soeben aufGesetze verwiesen, die Sie in diesen Jahren durchgesetzthaben. Das hat sich im Rahmen der Nettolohnorientie-rung bei den Rentnerinnen und Rentnern niedergeschla-gen. Dies hatte letzten Endes zur Folge, dass die Renten-steigerungen seit 1995 immer unterhalb der Inflationsra-te lagen. Erst im Jahre 1999 lag die Rentensteigerungwieder darüber, wie Sie wissen. Im Rahmen der heutigen Debatte ist festzustellen –auch in der Fragestunde war das schon zu hören –:Wenn wir den von Ihnen beschlossenen Demogra-phiefaktor nicht ausgesetzt hätten, dann wäre im ver-gangenen Jahr die Steigerung der Renten wesentlich ge-ringer ausgefallen. Sie hätte dann nicht bei 1,34, sondernnur bei 0,82 Prozent gelegen. Meine Damen und Herren, wir haben einen gutenWeg beschritten. Ich bin der Meinung, dass die zeitnaheAnpassung, so wie wir sie jetzt vorsehen, richtig ist.
Herr Kollege, Sie
müssen jetzt zum Schluss kommen.
Noch ein paar Sätze.
Bekennen Sie sich endlich zu Ihrer Politik! Akzeptie-
ren Sie das, was Sie in der Vergangenheit getan haben,
nämlich wie die Renten berechnet wurden. Auch wir ha-
ben keine anderen Programme. Dieselben Menschen, die
bei Ihnen 16 Jahre lang gerechnet haben, rechnen noch
immer im zuständigen Ministerium. Lenken Sie nicht
ab, sondern arbeiten Sie mit; denn die Rentenpolitik der
Bundesregierung ist verantwortungsvoll, langfristig be-
zahlbar und natürlich auch zukunftsgerichtet. Von daher
meine ich: Nach vielen Jahren tun wir wieder etwas für
die Generationengerechtigkeit.
Vielen Dank.
Für die Fraktion der
F.D.P. spricht die Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben überhauptkein Problem damit, uns zu dem zu bekennen, was wirin der Vergangenheit beschlossen haben.
Denn auch die Ausführungen der Bundesregierung inder Fragestunde zeigen, dass der Weg, den wir einge-schlagen hatten und den Sie nach Übernahme der Regie-rung außer Kraft gesetzt haben, der bessere gewesen wä-re.
Dieser Weg hätte nämlich nicht zur Verunsicherung derRentner geführt, sondern wäre ein solider Weg zur Sta-bilisierung der Rentenversicherung gewesen.Die Rentenanpassung nach der Inflationsrate, die Siejetzt beschlossen haben, ist nur Stückwerk. Das kam inden Antworten, die die Bundesregierung heute gegebenhat, sehr stark zum Ausdruck. Die für die Jahre 2000und 2001 vorgesehene Anpassung der Renten an die In-flationsrate ist ein Fehler.
Auch in Ihren Reihen wird schon darüber diskutiert.Denn auch Sie wissen, dass eine Stabilisierung der Ren-tenversicherung mit der Weiterführung dessen, was diealte Koalition auf den Weg gebracht hat, besser hätte er-reicht werden können.Wenn Sie im Jahre 2000 nicht einmal Ihre Ankündi-gung wahr machen können, das heißt, wenn Sie denRentnern, wie Sie es gesagt haben, nicht einmal den In-flationsausgleich gewähren, dann haben Sie das entge-gen Ihren Entscheidungen bewirkt. In diesem Jahr zei-gen sich nämlich angesichts der Erhöhung der Energie-preise die Auswirkungen Ihrer Ökosteuer ganz deutlich.Das heißt, Sie können – das merken Sie – den Kuchen,den Sie verteilen wollen, nicht vorher selber essen. Dannfunktioniert das einfach nicht.
Deswegen dämmert es Ihnen jetzt vielleicht, dass dieBeibehaltung des Demographiefaktors einfach bessergewesen wäre.
Herr Ostertag, ich habe zu Anfang schon gesagt: Wirhaben kein Problem damit, uns zu unserer Vergangen-heit zu bekennen. Aber wenn Sie hier sagen – Sie habendas Ganze beschlossen; wir haben aber ja wohl dasRecht, dies zu kommentieren –, dass unsere Kommenta-re, nicht aber der Unsinn, den Sie beschlossen haben,dazu geführt hätten, dass die Rentner verunsichert sind,dann verwechseln Sie wirklich Ursache und Wirkung.
Ich finde es einfach nicht in Ordnung, dass Sie sich nichtzu Ihren Taten bekennen. Das sollten Sie wirklich tun.Sie haben den Vorschlag dieser völlig unsystematischenAnpassung der Renten an die Inflationsrate in die Dis-kussion gebracht. Ich möchte Ihnen noch etwas anderes sagen: Sie sa-gen, dass die Renten seit 1994 mehrfach an ein Niveauunterhalb der Inflationsrate angepasst wurden. Das istrichtig. Aber diese Anpassung galt auch für die Ein-kommen der Arbeitnehmer.
Adolf Ostertag
Metadaten/Kopzeile:
8704 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000
Im Jahre 2000 haben Arbeitnehmer im Vergleich zur In-flationsrate eine deutlich höhere Einkommenssteigerung.
Das ist der Unterschied: Sie stellen die Rentner schlech-ter als die Arbeitnehmer, während die Rentner nach un-serem Vorschlag in gleichem Ausmaß wie die Arbeit-nehmer an den wirtschaftlichen Schwierigkeiten betei-ligt würden.
Ich finde, diese Aktuelle Stunde führt uns nicht wei-ter, weil zu viele Schlachten der Vergangenheit geschla-gen werden.
Für den Auslöser mögen die Kolleginnen und Kollegender Union die Verantwortung übernehmen.
Ich sehe den hohen Wert dieser Aktuellen Stunde nicht.
Es wäre wichtiger, dass wir uns darüber unterhalten, wiewir die Zukunft gestalten. Wir befinden uns in den Kon-sensgesprächen.
Ich begrüße es, dass nun auch die Union die Zahlenbasisakzeptiert und bereit ist, über die sachlichen Rahmenbe-dingungen der Umgestaltung zu sprechen, wenn auchnoch nicht zu verhandeln. Wir könnten schon verhan-deln, aber daraus wird vor dem 14. Mai dieses Jahresnichts. Besprechen wir also – das ist ja auch sinnvoll – dieRahmenbedingungen, unter denen die Rente zukünftiggestaltet werden soll. Auch diese Diskussion hat ihrenWert und ihre Wichtigkeit. Ich möchte aus unserer Sichtbetonen, dass wir es sehr begrüßen, dass innerhalb dervier größten Fraktionen hier im Hause inzwischen einKonsens dahin gehend hergestellt ist, dass wir die Statikinnerhalb der drei Säulen der Alterssicherung neu austa-rieren müssen.
Wir müssen die gesetzliche Rentenversicherung zu-rücknehmen, weil die Beiträge für die jüngere Generati-on sonst einfach nicht mehr zu leisten wären.
Wir müssen die Säule der privaten Altersvorsorge unddie Säule der betrieblichen Altersvorsorge stärken.
Das heißt, wir müssen endlich die Effizienz der Kapi-talmärkte auch für die Altersvorsorge der nächstenRentnergenerationen in unsere Überlegungen und Ent-scheidungen mit einbeziehen. Das ist der Kernpunkt.
Darüber hinaus müssen wir eine eigenständige Alterssi-cherung für Frauen beschließen. Meine Damen und Her-ren, ich glaube, wenn uns dies gelingt, dann haben wirwirklich etwas für die Zukunft und auch für die Genera-tionengerechtigkeit getan. Ich denke, wir alle solltendaran mitwirken. Danke.
Für die FraktionBündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin KatrinDagmar Göring-Eckardt.
Kollegen! Herr Laumann, ich finde, man muss sich ent-scheiden: entweder konstruktiv Rentengespräche führenoder destruktiv eine neue Auflage von der Nummer mitder Rentenlüge befördern.
Worauf gründet dies und was wollen Sie uns eigent-lich sagen? Wir sollen die Renten entsprechend der fürdas Jahr 2000 geltenden Inflationsrate anpassen. Sie allehaben ganz genau vor Augen, dass dies nicht geht unddass es die einzig sinnvolle und vernünftige Variante ist,so wie bisher immer vorzugehen und die Rentenanpas-sung entsprechend der Entwicklung des vergangenenJahres vorzunehmen.
Dies ist die einzige tatsächlich verlässliche Orientie-rung. Man fragt sich schon – diese Frage müssen Sie ein-mal beantworten –, was Sie sagen würden, wenn die In-flationsrate jetzt höher wäre. Dann würden Sie wahr-scheinlich sagen: Rentenlüge – die Regierung gibt jetztmehr. Dies müssen Sie in der Konsequenz und in derLogik dessen, was Sie da sagen, beantworten. Herr Laumann, für mich ist das einzig und allein Po-pulismus. Man kann doch nicht auf der einen Seite sa-gen, es gebe einen riesigen Reformbedarf hinsichtlichder Rente – am liebsten möchten Sie jede Woche nochdramatischere Zahlen vorlegen –, und auf der anderenSeite im gleichen Atemzug die Debatte nach dem Mottoanzetteln: Auch in diesem Jahr könnten wir noch einesdrauflegen.Damit Sie mich bitte nicht falsch verstehen: Natürlichhaben wir einen extrem hohen Reformbedarf. Aus mei-ner Sicht muss er mit aller Klarheit beschrieben werden.Vor allen Dingen aber müssen die richtigen Konsequen-Dr. Irmgard Schwaetzer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000 8705
zen gezogen werden. Ich möchte einfach wissen,was Sie in diesem Zusammenhang für Vorschläge ha-ben. Diese liegen nämlich immer noch nicht auf demTisch.
Ich will klar sagen, dass ich überhaupt keine Lust ha-be, mich Ihrer Art von Wahlkampfrhetorik anzuschlie-ßen, Ihnen also vorzuwerfen, was Sie vielleicht jahre-lang versäumt haben, Ihnen darzulegen, dass die Situati-on in der Rentenversicherung, vor der wir heute stehen,eben nicht vom Himmel gefallen ist, sondern aufgrundIhrer Ignoranz in Ihrer Regierungszeit entstanden ist.
Sie müssen sich schon fragen lassen, ob man nichtangesichts der Tatsache, dass meine Generation mit demSatz „Die Rente ist sicher“ aufgewachsen ist, dass aberdieser Satz eben nicht stimmt und nicht der Wahrheitentspricht, von einer Rentenlüge sprechen sollte.
Liegt im Moment nicht eine Situation vor, die dazuführt, dass die junge Generation sehr verunsichert ist?Sie ist verunsichert über die Art und Weise, wie die De-batte geführt wird.
Sie ist verunsichert aufgrund der Frage, ob sie aus die-sem System jemals eine für ihr Leben angemessene Al-tersversorgung bekommt. Dass die junge Generationverunsichert ist, zeigt sich unter anderem darin, dassschon lange zuvor, schon während Ihrer Regierungszeit,junge Menschen gesagt haben: Darauf verlasse ich michnicht mehr; ich will privat vorsorgen.Wir wollen jetzt – ich dachte eigentlich, dass wir dasgemeinsam machen – auf diese Entwicklung reagieren.Wir brauchen zukünftig mehrere Säulen in der Alters-versorgung. Frau Schwaetzer hat diesen Punkt schonangesprochen. Wir wollen, dass die Altersversorgunggenerationenfest ist, und wir wollen die demographischeEntwicklung in unsere Überlegungen einbeziehen.
Wir wollen vor allen Dingen ein System, in dem sich al-le, Jung und Alt, darauf verlassen können, dass sie amEnde eine Altersversorgung haben, von der sie lebenkönnen und die ihrer Lebensleistung entspricht, und dasssie nicht von Armut betroffen sind.Ich habe verdammt wenig Lust, die alten Geschichtenaufzuwärmen.
Das ist platter Wahlkampf, dem die Sachpolitik wiedereinmal zum Opfer fällt. Ich frage mich aber schon:Wem, glauben Sie, nützt das? Meinen Sie, dass es denAlten nützt, denen Sie möglicherweise versprechen wol-len, dass sie mehr bekommen – übrigens mehr, als in Ih-ren alten Vorschlägen vorgesehen war? Meinen Sie,dass es den Jungen nützt, die Sie weiter verunsichern? Inmeinen Augen führt diese Art von Kampagnen nur zueinem: Niemand glaubt mehr an Ihren ernsthaften Wil-len, tatsächlich Lösungen zu finden, die den Ausgleichzwischen den Generationen herstellen, Lösungen, dieAlt und Jung wieder zusammenbringen und die in Zu-kunft die Existenz der sozialen Systeme sicherstellen.Ich würde mir wünschen, dass wir als Politiker in derLage sind, einen anderen Stil als den der populistischenAuseinandersetzung zu fahren.
– Ja. – Das Problem ist weiß Gott so gravierend, dasswir uns als Entscheidungsträger zusammenraufen soll-ten. Ich persönlich denke, dass das allen nützen würde.Den Streit, den wir heute auf Ihren Wunsch hin hierausfechten, nimmt uns niemand mehr als sachlichenStreit ab. Jeder wird diesen Streit als reines Wahlkampf-getöse durchschauen. Lassen Sie uns doch verdammtnoch mal um die besten Konzepte streiten und nicht umdie lautesten Auftritte in einer Aktuellen Stunde!
Lassen Sie mich noch einmal klarstellen: Wir kürzenden Rentnern nicht ihre erarbeitete Rente.
Diese Sicherheit haben sie und werden sie weiterhin ha-ben. Wir müssen aber auch sehen, dass es den berechtig-ten Wunsch der Jungen nach Sicherheit und den Wunschgibt, dass ihre Belastungen nicht weiter steigen und sieselbst mit einer adäquaten Alterssicherung rechnen kön-nen.Für diese Art der Generationengerechtigkeit stehenBündnis 90/Die Grünen. Darum werden wir auf sachli-chem Niveau streiten. Ich hoffe, dass wir die Zusam-menarbeit auf dieser Ebene fortsetzen können. Ich hoffevor allen Dingen, dass Sie es wirklich noch wollen.Vielen Dank.
Für die Fraktion der
PDS spricht die Kollegin Monika Balt.
Sehr geehrter Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Wenn das der so viel geprie-sene Konsens ist, der uns heute vorgeführt wird, dannkommen mir so langsam Zweifel.Katrin Dagmar Göring-Eckardt
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8706 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000
Die Rentenkonsensgespräche werden aus unserer Sichtimmer dubioser. Erst wird die PDS als einzige der Frak-tionen im Bundestag und damit die von ihr vertretenenWählerinnen und Wähler von den Rentenkonsensge-sprächen ausgeschlossen und ausgegrenzt. Und dannvereinbart man noch, dass die Öffentlichkeit über denjeweiligen Verlauf der Gespräche erst gar nicht mehr in-formiert wird. Das ist eher ein politischer Skandal.Diese Gespräche mutieren zu Geheimgesprächen.Das kann doch nicht Praxis demokratischer Gesellschaftsein.
Wenn dann doch etwas veröffentlicht wird, ist es garan-tiert ein neuer Vorschlag, wie das Rentenniveau gekürztwerden kann, ohne dass es draußen jemand bemerkt.Auch der neue Vorschlag von Arbeitsminister Riester,Beiträge zur privaten Altersvorsorge vom Bruttolohnabzuziehen, ist dahin gehend zu bewerten. Er ist nichtmehr als ein billiger Taschenspielertrick, mit dessen Hil-fe das durchschnittliche Nettoeinkommen sinkt undgleichzeitig der Rentenanstieg begrenzt wird. Grundsätzlich haben alle Parteien, die an den Renten-konsensgesprächen beteiligt sind, nur die Ausgabenseiteim Kopf. Dass es auch eine Einnahmenseite gibt, schei-nen sie völlig zu ignorieren. Die PDS ist die einzige Par-tei, die sich über die Einnahmenseite der gesetzlichenRentenversicherung ernsthafte Gedanken macht.In unseren kürzlich der Öffentlichkeit vorgestelltenEckpunkten eines Rentenreformkonzeptes schlagen wirunter anderem vor, den versicherten Personenkreis all-mählich auf die gesamte erwachsene Bevölkerung aus-zudehnen. So wollen wir zukünftig Beamte und Selbst-ständige einschließlich Minister und uns Abgeordnete indie gesetzliche Rentenversicherung mit einbeziehen. Ineinem ersten Schritt wollen wir die Beitragsbemes-sungsgrenze anheben; gleichzeitig sollen die daraus re-sultierenden zusätzlichen Rentenansprüche nur noch de-gressiv steigen. Darüber hinaus schlagen wir vor, denBeitrag der Arbeitgeber auf eine Wertschöpfungsabgabeder Unternehmen umzustellen. Die Unternehmen sollensich entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähig-keit beteiligen. So werden zum Beispiel arbeitsintensive-re Betriebe gegenüber den kapitalintensiven Betriebenentlastet. Das würde nicht nur zu beträchtlichen Mehr-einnahmen in der gesetzlichen Rentenversicherung füh-ren, sondern auch zu einer für Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer spürbaren Senkung des Beitragssatzes.Das ist wohl in unser aller Sinne.
Das, was die Regierungsfraktionen und die CDU/CSU betreiben, ist letztlich nichts anderes, als das Ver-trauen der jungen Generation in die Rentenversicherungganz und gar zu erschüttern. Denn wenn das Rentenni-veau sinkt, kann die Attraktivität der Rentenversiche-rung nur abnehmen. Wenn aber die gesetzliche Renten-versicherung eine Zukunft haben soll, dürfen die Leis-tungen nicht ständig beschnitten werden. Wir forderndie sofortige Rückkehr zur Nettolohnanpassung.
Minister Riester macht zwar einen richtigen Schritt indie Richtung einer bedarfsorientierten sozialen Grund-sicherung zur Verhinderung von Altersarmut. Was dabeiherauskommt und angedacht ist, ist allerdings nichts an-deres als ein unbürokratischeres Auszahlen einer Sozial-hilfe. So können wir Altersarmut nicht verhindern. Denndas soziokulturelle Existenzminimum ist weitaus höheranzusiedeln, nämlich bei mindestens 50 Prozent desdurchschnittlichen Nettoeinkommens.
Meine Damen und Herren, vor allem Frauen weisenvielfältig unterbrochene Erwerbsbiografien auf. DerenFolge sind natürlich niedrigere Rentenansprüche. Vonden unsteten Erwerbsbiografien werden aber auch inZukunft die Männer betroffen sein. Wir als PDS plädie-ren für eine allmähliche Umwandlung der Hinterbliebe-nenrente in eigenständige Ansprüche für Männer undFrauen. Dazu könnte die Einführung eines Grundbetra-ges in der gesetzlichen Rente dienen. Das könnte imRahmen der gesetzlichen Rentenversicherung geregeltwerden und würde dann bedeuten, dass alle, die in derGRV 35 Jahre beitragspflichtig angesiedelt und zugehö-rig sind, einen Mindestentgeltpunktebetrag erhalten, so-zusagen als Joker.Nach den Vorstellungen des Arbeitsministeriums solldie vollständige Angleichung der Ostrenten an dasWestniveau erst bis zum Jahre 2030 erfolgen. Dies hal-ten wir für völlig unakzeptabel.
Deshalb schlagen wir vor, diese Zeitspanne auf einenüberschaubaren Horizont von zehn Jahren zu verkürzen. Durch die zukünftige allgemeine Anhebung der Al-tersgrenze auf 65 Jahre wird zum Beispiel die Attraktivi-tät der gesetzlichen Rentenversicherung weiter beschnit-ten. Im Gegensatz zu allen anderen Parteien wollen wirdie Altersgrenze flexibel gestalten. So könnte ein frühe-rer Renteneintritt von der Summe der Beitragsjahre ab-hängig gemacht werden.Letztlich: Ziel der gesetzlichen Rentenversicherungmuss es bleiben, ein normales Leben für das Alter zu si-chern. Dieses Ziel muss für alle Versicherten ohne zu-sätzliche private Anstrengung erreichbar sein. Deshalbhält die PDS konsequent an der beitragsorientierten, um-lagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung fest,die sich explizit als Vertrag der Generationensolidaritätversteht.Danke.
Für die Bundesre-gierung spricht nunmehr der Bundesminister für Arbeitund Sozialordnung, Walter Riester.Monika Balt
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000 8707
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und Sozi-alordnung: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damenund Herren! Frau Schwaetzer, ich möchte zuerst Sie an-sprechen. Wir haben sicherlich in vielen Punkten unter-schiedliche Auffassungen. Ich habe Ihnen heute inner-lich aber sehr zugestimmt, als Sie sagten, diese AktuelleStunde wäre dann, wenn sie nicht genutzt würde, umnach vorn zu blicken, umsonst.Ich will deshalb keinen weiten Blick zurückwerfen,weil wir uns dann, wenn wir es täten, alle – ich sagejetzt bewusst „alle“ –, die an Reformen mitgewirkt ha-ben, eingestehen müssten, dass die Reformen in derVergangenheit in Bezug auf die Langfristzielsetzung,die Alterssicherung langfristig auszurichten, unzurei-chend – um es einmal vorsichtig zu sagen – waren. Siehaben nicht ausgereicht. Deswegen sind wir nun geradedabei, das zu ändern. Aber es passt vielleicht hierher, eine erste Zwischen-bilanz zu ziehen, und dazu will ich einen kurzen Aus-blick geben. Die Zwischenbilanz gilt den Fragen: Wostehen heute – nach der jetzt diskutierten Rentenerhö-hung – ab dem 1. Juli die Rentner, wo stehen die Bei-tragszahler, wo steht das Rentenversicherungssystem? –Es mag Sie vielleicht überraschen: Wenn wir die so ge-nannte Standardrente nehmen, so liegt sie am 1. Juli fastexakt bei dem gleichen Betrag, ob man den Demogra-phieabschlag genommen hätte oder die Rentenerhöhungdes letzten Jahres und die in diesem Jahr zusammen-zählt. Die Differenz beträgt genau 2,58 DM. Dort kannalso bei aktueller Betrachtung nicht das Problem liegen.Betrachten wir die Beitragszahler! Bei den Beitrags-zahlern ist der Beitrag um 1 Prozentpunkt abgesenktworden. Wenn wir den Gesamtverlauf sehen, gilt: Ohnedie Ökosteuer und bei einer Weiterentwicklung des Bei-trages ohne die Maßnahmen des letzten Jahres wärenwir sogar 1,1 Prozentpunkte auseinander. Das sind ins-gesamt 16,5 Milliarden DM, um die die Beitragszahlerund die Betriebe entlastet worden sind. Nun betrachten wir das Rentenversicherungssystem.Dabei will ich das, was ich jetzt sage, nicht als Vorwurfgewertet wissen; es ist ein schlichter Fakt. Als die neueRegierung angetreten ist, hat das Rentenversicherungs-system noch Rücklagen von 21 Tagen gehabt. Das Ge-setz fordert mindestens eine Rücklage von einem Monat.Wir haben dieser Rücklage im letzten Jahr 8,4 Milliar-den DM zugeführt und das Rentenversicherungssystemsteht seit 1994 erstmals wieder auf der Grundlage dervom Gesetz geforderten Schwankungsreserve. DieseZwischenbilanz ist also – so möchte ich zuerst einmalsagen – eine stabile und gesunde Zwischenbilanz.
Trotzdem, meine Damen und Herren, reicht es nichtaus. Das ist ein erster Schritt. Es muss weitergehen.Deswegen begrüße ich, dass wir in einen partei-übergreifenden Konsens hinsichtlich der Stabilisierungder Alterssicherung eintreten. Dazu gehört in der Tat,dass die Sozialversicherungsrente ergänzt – ich betone„ergänzt“ – werden muss durch eine breitere Eigenvor-sorge, eine breitere Entfaltung der betrieblichen Alters-vorsorge – wenn es geht; das ist auch eine Frage dersteuerlichen Möglichkeiten – und dazu gehört, dass wiraus schmalen Strängen wirkliche stabile Säulen machen.An dem Problem arbeiten wir und das wird einer dernächsten Punkte sein, die in den gemeinsamen Renten-konsensgesprächen aufgenommen werden. Nur, dabei können wir nicht stehen bleiben. Wir ha-ben uns darauf verständigt, dass wir versuchen wollen,den Zeitraum von 30 Jahren zu klären und zu regeln –einen Zeitraum, wie er noch nie in einer Rentenreformangegangen worden ist. Ich glaube, das ist ein sehr ehr-geiziges Ziel, und ich würde mich wirklich freuen, wennwir im Verlaufe dieses Jahres sagen könnten: Für diesenZeitraum können wir über die voraussichtliche Entwick-lung des Beitrages und über die voraussichtliche Ent-wicklung des Rentenniveaus Auskunft geben. Aber auch das reicht noch nicht. Ich gebe Ihnen Recht,dass die jetzige Hinterbliebenenrente sicherlich nichtden Ansprüchen aller Lebensgemeinschaften gerechtwird. Deswegen wollen wir zwar bei den jetzigen Wit-wern und Witwen sowie bei den zurzeit Verheirateten,von denen mindestens einer 40 Jahre ist, nichts ändern,weil man sich auf neue Systeme nur schwer einstellenkann. Aber wir möchten für die Jungen neue Systemeentwickeln. Wir möchten in diesen Systemen Kinderer-ziehung und Kinderbetreuung besser berücksichtigen.Da möchten wir mit der Opposition versuchen, einenKonsens zu erreichen.Außerdem wollen wir das Rentenversicherungssys-tem im unteren Bereich stärker armutssicher machen.Nun sagen Sie, das sei nur eine bürokratische Erleichte-rung. Wenn es das allein wäre, wäre das schon sehr vielfür die Frauen, die nicht zum Sozialamt gehen wollenoder können, zum Beispiel weil sie sich schämen.
Dann wäre das schon viel gegenüber der jetzigen Situa-tion.Ich sage aber auch – um etwaigen Einwänden zu be-gegnen –: Das wollen wir nicht über die Beitragszahlerfinanzieren, sondern das müsste, wie im Übrigen auchjetzt über die kommunale Regelung, vom Steuerzahlerfinanziert werden.Das sind wichtige Schritte, die wir angehen. Ich den-ke, dass die Öffentlichkeit gute Signale bekommt, wennwir über die besseren Konzepte streiten und die Vergan-genheit insofern abhaken, als wir uns gemeinsam einge-stehen – der Rentenkonsens 1992 ist ja mit Zustimmungaller Parteien zustande gekommen –, dass der Versucheiner Langfristsicherung der Altersvorsorge nicht aus-reichend war. Dann könnten wir nach vorne schauen unddie Konzepte angehen, die der Bürger von uns erwartet.Herzlichen Dank.
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8708 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Johannes Singhammer.
Herr Präsi-dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! HerrBundesminister, das ehrliche Bemühen um einen Ren-tengipfel und um Ergebnisse kann natürlich nicht zumVerbot einer Diskussion über aktuelle rentenpolitischeFragen führen.
Deshalb haben wir diese Aktuelle Stunde beantragt.Die 17 Millionen Rentnerinnen und Rentner inDeutschland, von denen viele hier zusehen, sind verun-sichert, weil diese Bundesregierung und dieser Bundes-kanzler in den letzten eineinhalb Jahren fortgesetzt Un-sauberkeiten und Rentenschwindel produziert haben.Deswegen müssen Sie sich anhören, was wir dazu zusagen haben.
Das ist keine Vergangenheitsbewältigung, sondern dieAnalyse dessen, woher die derzeitigen Schwierigkeitenin der Diskussion rühren.Vor einem Jahr erklärte Bundeskanzler GerhardSchröder:Ich stehe dafür, dass die Renten in Zukunft auch sosteigen wie das Nettoeinkommen der Arbeitneh-mer. Das ist ein Prinzip, das wir nicht antastenwerden.126 Tage später erklärte Gerhard Schröder in einemInterview mit der „Bild“-Zeitung:Wir haben die Nettolohnformel für die nächstenzwei Jahre nur ausgesetzt, um wieder dauerhaft Si-cherheit in die Renten zu bringen.Im Herbst dann die kleinlaute Entschuldigung in derSendung „Sabine Christiansen“:Gar keine Frage: Ich habe das seinerzeit vor demHintergrund von Berechnungen gesagt, die ich fürzutreffend hielt, und das war ein Irrtum. Das habeich einzugestehen. Lassen Sie es mich mal so sa-gen: Wenn ich könnte, würde ich zu jedem hinge-hen und sagen, dieser Irrtum tut mir Leid.
Wir brauchen keinen Bundeskanzler, der sich ent-schuldigt, sondern wir brauchen einen Bundeskanzler,der die Wahrheit sagt, und zwar zu jeder Stunde.
Wir brauchen auch keinen Bundeskanzler, der zu demneudeutschen und politisch korrekten Instrumentariumder „Nachinformation“ der Bevölkerung greift.
Auch das wollen wir nicht.Weil Sie die Jacke falsch zugeknöpft haben,
nützt es nichts, wenn Sie jetzt unten herumfummeln undversuchen, irgendwo wieder Ordnung hineinzubringen.Sie müssen die Jacke völlig aufknöpfen und dann versu-chen, das richtig auf die Reihe zu bekommen.
Ihre aktuellen Schwierigkeiten rühren daher.Natürlich entsteht bei vielen Rentnern Besorgnis,wenn sie jetzt hören, dass die Nettolohnformel andersberechnet werden soll. Niemand glaubt, dass die andereArt der Berechnung dazu führt, dass am Schluss mehrdabei herauskommt; vielmehr vermutet oder weiß jeder,dass die Neuberechnung – wie immer sie aussehen wird – zu einem Absinken des Rentenniveaus führenwird. Dazu sagen wir ganz klar: Da können wir nicht mit-machen. Wir sind zu jeder Art von konstruktiver Zu-sammenarbeit bereit. Aber für eine Mittäterschaft an ei-nem neuen Rentenschwindel können Sie uns nicht ge-winnen.
Hinzu kommt die Ökosteuer. Es war Ihnen bei alldiesen Überlegungen von vornherein bekannt: Die Öko-steuer trifft vor allem die Rentner, weil sich die Entlas-tungswirkung bei den Lohnnebenkosten nicht auf sie er-streckt. Die Rentner spüren deshalb eine doppelte Belas-tung: Sie spüren sie einmal ab dem 1. Juli dieses Jahres,wenn die Erhöhungen geringer ausfallen, als zunächstangekündigt und erwartet. Sie spüren zusätzlich dievermehrten Ausgaben, wenn sie an die Tankstelle fah-ren, wenn sie heizen wollen oder die Mietnebenkostenbezahlen müssen.Wir meinen, dass dies so nicht richtig sein kann, undfordern Sie auf: Gehen Sie zurück zu der ursprünglichenRegelung und geben Sie den Rentnern das, was sie er-warten könnten, das heißt in dem Fall: 1,8 Prozent abdem 1. Juli. Das ist die richtige Lösung.
Die Rentnerinnen und Rentner wissen, dass eingigantisches Problem auf die Rentenversicherung zu-kommt. Es ist das demographische Problem. Auf der ei-nen Seite – Gott sei Dank – steigt die durchschnittlicheLebenserwartung der Menschen in Deutschland jedesJahr um vier Wochen. Das ist die Zeit eines Urlaubs.Darüber sind wir froh und glücklich. Auf der anderen Seite befinden sich die Geburtenzah-len im freien Fall. Das ist nicht nur in Deutschland, son-dern auch in anderen europäischen Ländern so. Nun
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000 8709
weiß jeder: Die Kombination dieser beiden Entwicklun-gen, immer weniger Kinder und eine immer längere Le-benserwartung, führt zu einer ganz schwierigen, bishernie gekannten Herausforderung in der Rentenversiche-rung. Diese wollen wir in der Tat gemeinsam angehen.Ich sage Ihnen aber auch: Eine Frühverrentung, eineDiskussion über die Rente mit 60 ist der falsche Weg.Der richtige Weg geht in eine ganz andere Richtung.Das gehört dazu, wenn man die Wahrheit über die Rentesagen will. Wir sind bereit, diesen schwierigen Weg zugehen. Wir erwarten aber auch, dass in der aktuellen Ta-gespolitik die Unsauberkeiten aufhören.
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gebe ich das Wort der Kollegin
Thea Dückert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Laumann und Herr Singhammer haben hier quasi einekleine Abbitte für die Aktuelle Stunde geleistet, indemsie noch einmal versichert haben, dass sie dennoch anKonsensgesprächen interessiert seien. Ich meine, HerrLaumann, Sie haben Recht, das zu tun; denn es ist in derTat so, dass diese Aktuelle Stunde und das Verhalten derCDU/CSU in den Konsensgesprächen doch eher einePolitik der gespaltenen Zunge als eine klare Linie dar-stellen.
Ich selbst bin in den Konsensgesprächen ein Stückauf den Eindruck hereingefallen, den Sie erweckt haben– dass Sie nach anfänglichen Schwierigkeiten erst ein-mal Zeit schinden wollten, haben wir verstanden –, denEindruck, Sie seien tatsächlich an Konsensgesprächeninteressiert. Was hier passiert, ist etwas ganz anderes.Sie machen sehr deutlich, dass Sie zurzeit keine verant-wortliche inhaltliche Diskussion über die Rente habenwollen.
Sie machen deutlich, dass Sie eigentlich eher an populis-tischen Kampagnen, auf den NRW-Wahlkampf zuge-schnitten, interessiert sind.
Da ist Ihnen kein Argument zu schade, nicht das Argu-ment, das Rüttgers zum Beispiel mit seinem ausländer-feindlichen Spruch „Kinder statt Inder“ platziert hat,
aber auch nicht das Argument, mit dem Sie die Rentnerverunsichern, das wieder aufgewärmte Argument vonder Rentenlüge. Der NRW-Wahlkampf, nicht die Ren-tendebatte, ist der wahre Hintergrund für diese AktuelleStunde.Ich lasse mich gern einmal auf das Argument ein, dasSie hier immer wieder strapazieren: die Anpassung derRente entsprechend der Preissteigerung bzw. der Inflati-onsrate. Wir, meine Damen und Herren, haben vor ei-nem Jahr in sehr großer Offenheit eine sehr unpopulisti-sche Maßnahme beschlossen. Sie wird auch umgesetzt.Die unpopulistische Maßnahme beinhaltet, die Renten-anpassung in den nächsten zwei Jahren entsprechend derPreissteigerungsrate vorzunehmen.
Damals wie heute haben wir das niemals verschwiegen,sondern haben immer offen über die Systematikargumentiert und – das wissen Sie sehr wohl – immerdarauf hingewiesen, dass der Anpassungsmechanismusdazu führt, dass die Rentenanpassung jeweils im Julieines Jahres erfolgt. Das war so und bleibt so. DieOffenheit, mit der wir uns dieser Debatte gestellt habenund von den Rentnerinnen und Rentnern in dieser Situa-tion einen Beitrag gefordert haben, um das Renten-system weiter zu stabilisieren, ist auch auf Verständnisgestoßen. Diese große Offenheit, mit der wir diese Dis-kussion geführt haben, ist das Gegenteil von einer Lüge.
In dem Zusammenhang sage ich auch, dass es sichgerade angesichts der vorgebrachten Argumente immerlohnt, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Ichweiß, dass Sie das nicht wollen. Das zeigt ja auch Ihrejetzige Intervention. Sie wollen das nicht, weil es unbe-quem ist. Ich erinnere Sie aber doch noch einmal daran,was im Jahre 1995 passiert ist: Die von Ihnen vorge-nommene Rentenanpassung lag 0,71 Prozent unterhalbder Inflationsrate. Was ist im Jahre 1996 passiert? Dievon Ihnen vorgenommene Rentenanpassung lag0,64 Prozent unterhalb der Inflationsrate.
Im Jahre 1997 lag sie 0,65 Prozent und im Jahre 1998 1,7 Prozent unterhalb der Inflationsrate; im Jahre 1999unter Rot-Grün lag die Rentenanpassung dagegen0,76 Prozent über der Inflationsrate.
So wird doch ein Schuh daraus! Daran sieht man auch,mit was für einer gespaltenen Zunge Sie hier argumen-tieren.
Ehe Sie uns eine Lüge vorwerfen, sollten Sie sich andie eigene Nase fassen. In der offenen Debatte im letz-ten Jahr haben wir – das wird uns von den Medien undzum Teil auch aus Ihren Reihen bestätigt – sehr ehrlichargumentiert, Johannes Singhammer
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8710 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000
indem wir über den notwendigen enormen Handlungs-bedarf im Rentensystem gesprochen und die Generatio-nengerechtigkeit thematisiert haben. Meine Damen und Herren, mit dem ersten Schritt, derAnpassung der Rente entsprechend der Inflationsrate,haben wir nicht nur den Beitrag der älteren Generationeingefordert und bekommen, sondern wir haben zu-nächst einmal in einer schwierigen Ausgangssituationden notwendigen Spielraum und die Basis für eine zu-künftige Rentenstrukturreform geschaffen. Wir habennoch sehr viel mehr gemacht: Bevor wir jetzt überhauptin die Diskussion um die Einzelheiten der Rentenstruk-turreform einsteigen, haben wir erst einmal wieder zu-sätzlichen Spielraum geschaffen, nachdem Sie ihn in derVergangenheit verspielt hatten. Wir alle wissen, dass diegesetzliche Rentenversicherung ergänzt werden und aufweitere Säulen wie auf die private und die betrieblicheVorsorge gesetzt werden muss. Mit der Steuerreformhaben wir beispielsweise allein an die privaten Haushal-te fast 30 Milliarden DM zurückgegeben, die den Spiel-raum auch für Menschen mit kleinen Einkommen erhö-hen, die private Vorsorge auszubauen. Bereits heute, woSie sich immer noch zieren und verweigern, haben wirdie Ausgangssituation für ein Konzept zur Rentenstruk-turreform verbessert.Wenn es uns wirklich gelingt, die Beiträge für diejunge Generation zu stabilisieren, mit dem zurzeit disku-tierten Angebot zur Unterstützung von kleineren Ein-kommen die betriebliche und die private Vorsorge aus-zubauen, eine bedarfsorientierte Grundsicherung einzu-führen, um die Rente zukünftig auch armutsfest zu ma-chen, und die eigenständige Absicherung von Frauenauszubauen, dann haben wir dieses Rentensystem in derTat für die zukünftige Entwicklung fit gemacht. Es wirdzu einem modernen Mischsystem kommen. Wir fangendamit an, einen Weg zu gehen, auf dem unsere Nachbar-länder schon längst weiter fortgeschritten sind.Wenn Sie, meine Damen und Herren von der CDU,den Wahlkampf in NRW überstanden haben, wenn SieIhren neuen Bundesvorstand gewählt haben – ich wün-sche Ihnen viel Glück dazu –, dann, so denke ich, sindSie möglicherweise wieder in der Lage, in den Konsens-gesprächen inhaltlich zu arbeiten.
Wir laden Sie ein, wir warten darauf.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-
Herr Prä-sident! Meine Damen und Herren! Rentenkonsensge-spräche haben dann einen Sinn, verantwortlicher Um-gang mit dem Thema Rente, den Frau Dr. Dückert ge-fordert hat, hat dann einen Sinn, wenn man sich auf das,was öffentlich gesagt und angekündigt wird, verlassenkann
und nicht jeweils nach wenigen Wochen feststellenmuss, dass alles nicht mehr stimmt, was diese rot-grüneBundesregierung, was dieser Arbeitsminister zum The-ma Rente vorträgt.
Das ist der Gegenstand der heutigen Aktuellen Stunde.Der Bundeskanzler verspricht den Rentnerinnen undRentnern nettolohnbezogene Rentensteigerungen. Nachwenigen Wochen einkassiert! Dann wird versprochen, esgebe den Inflationsausgleich. Fakt ist: Es gibt in diesemJahr den Inflationsausgleich nicht, es gibt Rentenerhö-hungen von 0,6 Prozent bei einer Inflationsrate von, wiederzeit absehbar, 1,8 Prozent. Diese Steigerung der In-flationsrate ist im Übrigen im Wesentlichen durch dieEinführung der Ökosteuer verursacht.
Auch die Rückkehr zur nettolohnbezogenen Renten-erhöhung, wie von Herrn Riester angekündigt, gibt esnicht. Vielmehr versucht man mit einem Buchungstrick,die Nettolohnanpassung nach unten zu rechnen. Damitist auch dieses von Riester einmal gegebene Verspre-chen bereits gebrochen. Wir haben also RentenbetrugNummer eins, zwei und drei erlebt. Was erleben wirdenn noch?
Wenn Sie zu Ihrer Verteidigung – wie vorhin auchFrau Staatssekretärin Mascher in der Fragestunde – vor-tragen, es sei doch logisch, dass es wie im Gesetz vorge-sehen laufen müsse, nämlich dass die Inflationsrate desVorjahres für die Rentensteigerung in diesem Jahrzugrunde gelegt werden muss, dann, so muss ich sagen,meine Damen und Herren von Rot-Grün, widersprechenSie leider Ihrer eigenen Argumentation. Das haben Sieheute vorgeführt.
Als Sie Ihren Rentenbetrug Nummer eins begründenmussten, haben Sie in Anzeigen folgenden Vergleichangestellt: Sie haben die nettolohnbezogenen Rentener-höhungen in der Vergangenheit mit den aktuellen Infla-tionsraten der jeweiligen Jahre verglichen. Dann müssenSie sich auch gefallen lassen, dass wir die gleiche Ar-gumentation wie Sie anwenden, nämlich einen Ver-gleich der Rentensteigerung mit der aktuellen Inflations-rate vornehmen.
Dr. Thea Dückert
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000 8711
Sie müssen sich eben gefallen lassen, dass die Bürgerin-nen und Bürger Sie an Ihrer eigenen Argumentation undLogik messen, nämlich dass die Rentenanpassung vonplus 0,6 Prozent zum 1. Juli selbstverständlich mit deraktuellen Inflationsrate von 1,8 Prozent verglichen wird.
– So ist es aber. Das haben Sie gesagt. Das war Ihre Ar-gumentation. Sie müssen es sich gefallen lassen, dassIhnen das von den Bürgerinnen und Bürgern vorgehaltenwird.
Noch schlimmer ist, dass es gar nicht allein um dasThema Rente geht. Ihrem Rentenbetrug folgt sogleichals nächstes Manöver der Betrug an den Sozialhil-feempfängerinnen und Sozialhilfeempfängern. Am22. April 1999 hat die rot-grüne Mehrheit im DeutschenBundestag eine Übergangsregelung im Bundessozialhil-ferecht um zwei Jahre verlängert, nach der die So-zialhilfesätze analog der Rente angepasst werden.
Bei der damaligen Bundestagsdebatte haben Sie er-klärt, das sei deswegen vertretbar, weil sich die Rentenin den nächsten Jahren wahrscheinlich wesentlich stär-ker als in der Vergangenheit erhöhen dürften. Deswegensei dies auch für die Sozialhilfeempfänger eine ganzpraktische Sache. Jetzt gibt es – das ist das Faktum –keine nettolohnbezogene Rentenerhöhung, es gibt kei-nen Inflationsausgleich, es gibt ein Minus. So werdenauch die Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfe-empfänger von Ihnen betrogen.
Ihr drittes Manöver – nach Rentenbetrug und Sozial-hilfebetrug –: ist der Betrug an unseren Familien und ih-ren Kindern.
– Ich komme noch auf das Bundesverfassungsgericht zusprechen.
Das maßgebliche Kriterium für die Berechnung dessteuerfrei zu stellenden Existenzminimums von Familienmit Kindern ist die Festlegung der Sozialhilferegelsätze.
Wenn die Renten und die Sozialhilferegelsätze nichtmehr in Höhe des Inflationsausgleichs angepasst wer-den, dann wird auch das Existenzminimum von Famili-en mit Kindern nicht mehr entsprechend angepasst.Schlimmer noch: Einer der Hauptpreistreiber in der ak-tuellen Inflationsentwicklung, nämlich die von Rot-Grüneingeführte so genannte Ökosteuer, trifft nicht nur dieRentner und die Sozialhilfebezieher, sondern erst rechtauch die Familien mehrfach, weil sie keine Möglichkeithaben, die Mehrbelastungen auszugleichen.
Der in Familienfragen beschlagene und besondersausgewiesene Sozialrechtler Jürgen Borchert hat letzteWoche im „Focus“ zu Recht festgestellt: Die Ökosteuererweist sich als Höhepunkt „der materiellen Erdrosse-lung der Mehrkinderhaushalte“. So ist es leider. Was haben Sie von Rot-Grün uns in der Vergangen-heit alles vorgeworfen! Sie haben uns tagtäglich sozialeKälte unterstellt.
Wenn ich das, was Sie heute dazwischengerufen und inder Vergangenheit vorgetragen haben, mit dem jetzt vonRot-Grün begangenen Renten-, Sozialhilfe- und Famili-enbetrug vergleiche, dann kann ich dazu nur eines sa-gen: Sie haben eine sozialpolitische Eiszeit eingeleitet!
Für die SPD-
Fraktion spricht die Kollegin Ulla Schmidt aus Aachen.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich hatte eigentlich gedacht,dass der rheinische Karneval und die Zeit der Büttenre-den vorbei sind, weil die Fastenzeit angefangen hat.
Aber wahrscheinlich hat der Kollege Weiß dies nochnicht mitbekommen; denn seine ganze Rede bewegtesich auf dem gleichen Niveau wie seine Forderung imWahlkreis, dass jeder Abgeordnete noch einmal 2 Milli-arden DM extra ausgibt. Da wundert es natürlich nicht,dass Sie am Ende Ihrer Regierungszeit einen Schulden-berg von 1,5 Billionen DM angehäuft haben und dasswir 90 Milliarden DM an Zinsen pro Jahr zahlen müssen
– das hören Sie nicht gerne –, die uns fehlen, um sie inDinge zu investieren, die uns wirklich nach vorne brin-gen.
Wenn es nicht so traurig wäre, dann wäre es eigentlichzum Lachen.
Peter Weiß
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8712 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000
Ich sehe den Kollegen Seehofer.Herr Kollege, wenn Sie in Zeitungsinterviews – Sie ge-ben jeden Tag ein Interview; manchmal wechseln auchIhre Positionen – dem Arbeitsminister empfehlen, einenzweiten Rentenbetrug zu unterlassen, dann frage ich Sie:Haben Sie eigentlich schon einmal im Spiegel nachge-schaut, ob Ihnen angesichts einer solchen Empfehlungnicht die Schamröte ins Gesicht steigt? Für eine solcheEmpfehlung gibt es nur zwei Gründe: Entweder verste-hen Sie nichts von Rentenpolitik, oder es ist blanker Po-pulismus, der Sie solche Zeitungsinterviews geben lässt;denn Sie wissen, dass eine Anpassung der Renten immernur auf der Basis der Daten des Vorjahres möglich istund dass wir die Renten nicht in Höhe der geschätztenInflationsrate dieses Jahres anheben können. Es kann jasein, dass die inflationsbedingte Anpassung der Rentenim nächsten Jahr höher ist als die Preissteigerung imnächsten Jahr. Das ist dann ein Plus.
– Hören Sie zu schreien auf! Das ist auch bei jedernettolohnbezogenen Anpassung so gewesen. Wo kämenwir denn hin, wenn wir in diesem Jahr entscheidenwürden, wie hoch die Anpassung der Rentenentsprechend der geschätzten Inflationsrate ausfallensoll, um anschließend den Rentnern wieder ein bisschenwegzunehmen? Das ist doch keine seriöse Politik. Das,was Sie hier vorbringen, ist doch Kleinkinderkram.
Der Kollege Singhammer fordert hier: Herr Minister,machen Sie endlich ordentliche Politik und erhöhen Siedie Rente jetzt um 1,8 Prozent! So muss es sein! HabenSie vergessen, was Sie beschlossen hatten? Sie stellensich hierhin wie ein Baby, das vom Himmel gefallen ist,und sagen: Das ist die Welt; erkläre sie mir einmal! Ha-ben Sie vergessen, dass nach Maßgabe Ihrer Rentenpoli-tik von den von Ihnen geforderten 1,8 Prozent, um diedie Renten angepasst werden sollten, 0,6 Prozent hättenabgezogen werden müssen, weil Sie nämlich mit derwillkürlichen Einführung des demographischen Faktorsdie Abkehr von der nettolohnbezogenen Anpassung derRente auf 15 Jahre beschlossen hatten? Nichts andereshaben Sie gemacht!
Der Kollege Blüm redet den Zeitungen gegenüberimmer von „unsozial und kopflos“. „Unsozial“ sagt einMinister, der in den letzten Jahren in der Rentenpolitiknur eines gemacht hat: die Ausgabenseite zu beschnei-den, und zwar immer zulasten der Beitragszahlerinnenund Beitragszahler. Das, was nötig gewesen wäre, näm-lich einmal die Einnahmenseite anzugehen, konnte manin Ihrer Partei überhaupt nicht durchsetzen. Wir habendie Einnahmenseite verändert. Wir haben demnächst3 Milliarden DM mehr pro Jahr in der Rentenversiche-rung,
weil wir uns endlich an das schwierige Problem der un-geschützt Beschäftigten herangemacht haben. Das habenSie nicht gemacht.
„Unsozial“ sagt ein Minister, der mit dem Wachstums-und Beschäftigungsförderungsgesetz von 1996 in beste-hende Rentenanwartschaften eingegriffen hat, was beiden Frauen zu Rentenkürzungen von durchschnittlich200 bis 300 DM geführt hat. Wer so etwas getan hat,braucht über Inflationsausgleich wirklich nicht zu reden.
„Unsozial“ sagt ein Minister, der 1983 – vielleicht erin-nern Sie sich noch – als erste Amtshandlung im Haus-haltssicherungsgesetz den Zeitpunkt der Rentenanpas-sung so en passant vom 1. Januar auf den 1. Juli ver-schoben hat. Das sagt ein Minister, der die Bedingungenfür die Hinterbliebenenrente verschlechtert hat. Wir können über alles reden, und vielleicht warenviele Dinge auch notwendig. Einen Vorwurf müssen Siesich aber gefallen lassen: Ihre Rentenpolitik war nie da-von geprägt, wirklich dafür zu sorgen, dass die Rentenarmutsfest sind. Sie haben vielmehr alles zulasten derBeitragszahlerinnen und Beitragszahler geregelt und ha-ben nicht dafür gesorgt, dass es zu einer Gerechtigkeitzwischen Jung und Alt und zu einer Beständigkeit derRente kommt, sodass man wirklich hätte sagen können:Die Rente ist sicher. Vielen Dank.
Der Kollege Julius
Louven spricht für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Herr MinisterRiester, Sie haben eben erklärt, dass Sie die AktuelleStunde für unnötig halten, und gemeint, wenn wir überRente reden, müssten wir uns alle eingestehen, in derVergangenheit nicht das Notwendige geleistet zu haben.Ich will Ihnen dazu sagen, dass wir von Ihnen gelernthaben, dass man in Aktuellen Stunden bestimmte Dingeaufarbeiten und diskutieren kann und muss. Ich denke,allein der Artikel im „Focus“ dieser Woche und die Äu-ßerung von Herrn Rürup machen deutlich, dass eine Ak-tuelle Stunde zur Rentenproblematik angebracht ist.Ihre Aktuellen Stunden in der Vergangenheit warenimmer geprägt von der Tendenz, unser Handeln seiüberflüssig. Herr Ostertag hat uns ja eben unsere Sündenbei der Reha, bei den Ausbildungszeiten und bei der Er-höhung der Altersgrenze vorgehalten. Ich frage Sie, HerrOstertag und Herr Minister: Was wäre heute eigentlich,wenn wir das nicht getan hätten? Ich frage Sie des Wei-teren: Warum haben Sie das denn nicht rückgängig ge-Ulla Schmidt
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 94. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 22. März 2000 8713
gemacht, wenn es so falsch ist? Anderes haben Sie dochauch rückgängig gemacht. Bevor ich auf Ihre Äußerungen eingehe, die alten Ge-schichten interessierten Sie nicht, will ich noch einigeSätze an Frau Schmidt richten. Frau Schmidt, Sie sagen:Wir haben die Einnahmensituation durch die Neure-gelungen für geringfügig Beschäftigte
– und Scheinselbstständige – um 3 Milliarden DM ver-bessert. Dann müssen Sie doch fairerweise auch aner-kennen, dass damit neue Leistungsansprüche entstehen,wenn auch nicht sofort. Die Faustregel ist doch: 1 DMBeitragseinnahme erfordert irgendwann 1,20 DM oder1,30 DM an Ausgaben.
Von daher sollten Sie das nicht als Erfolg feiern. Nun aber zu den alten Geschichten. Wir hatten am8. Mai 1996 eine Aktuelle Stunde, weil sich die MinisterWaigel und Seehofer im CSU-Vorstand dahin gehendgeäußert hatten, dass an einem demographischen Faktorkein Weg vorbeiführe. Damals äußerte sich Ihr SprecherDreßler:Die Regierung und die Koalition sollten sich nichteinbilden, sie könnten erst die nettolohnbezogeneRentenformel als langfristige Sicherung des Gene-rationenvertrages feiern und dann nur vier Jahrespäter ... wieder abschaffen... Die Herren Blüm,Kohl und Waigel – und Seehofer –begehen einen Wortbruch... Wir werden diesenWortbruch beim Namen nennen.Nun können Sie sagen: Was interessiert uns Dreßler?Der ist demnächst irgendwo Botschafter. Ich kann Ihnenaber entgegenhalten: Sie alle, die Sie damals schon hierwaren, haben Dreßler immer wieder frenetisch Beifallgespendet.
In dieser Aktuellen Stunde hat sich auch Herr Dreßengeäußert. Wo ist er jetzt? – Er ist leider weg. Ich kannIhnen aber nicht vorenthalten, was Herr Dreßen sagte: ... wenn der Bundeshaushalt ... den Bilanzgesetzenfür Wirtschaftsunternehmen unterliegen würde,dann würden die Herren Kohl, Waigel, Blüm nebenJürgen Schneider in einer Gefängniszelle schmo-ren ... Diese Herren sind ... die Totengräber desSystems. Einer der politischen Offenbarungseide wird uns nundurch das klaffende Loch in der Rentenversicherungpräsentiert. Das ist nicht nur unsozial, sondern grenzt anKriminalität. Damals machten wir uns daran, die Pro-bleme zu lösen. In besagter Debatte hat sich auch Ihr Fraktionsvorsit-zender Scharping geäußert. Er hat darauf hingewiesen,dass es im Parlament keine Debatte gegeben habe. Erhat erklärt:... sondern mit allerlei Interviewäußerungen Verun-sicherung und Angst zu säen, ohne konkret zu sa-gen, was geschehen soll, ist ein Verhalten, das sichselbst richtet. Sie haben die Wählerinnen belogen;Sie haben die Rentner und Rentnerinnen betrogen.
Am 27. Juni 1997 fand die erste Lesung zu unseremRentenreformgesetz statt. Damals hat sich Herr Dreßlerwieder markig geäußert. Sie können dies im Protokollder Sitzung vom 27. Juni 1997 auf Seite 16775 nachle-sen: Was wir versprochen haben – so Dreßler –, wird dieSPD halten. Sie wird nicht das Wort brechen. Wir wer-den den Wählern vortragen, „ob sie Ihren Weg, HerrBlüm, der Kürzung gehen wollen oder unseren Weg derStrukturveränderung“.
Zur Nettoformel sagte Dreßler auf eine Frage vonHeiner Geißler Folgendes: Die SPD hat das 1989 nichtnur mitgetragen, sie hat vielmehr einen Parteitagsbe-schluss, der dies verlangt. – Ich rede hier von der Netto-formel, die wir gemeinsam eingeführt haben. – In dieserFrage sind wir nicht das Anhängsel von CDU/CSU. Wirhaben eine eigenständige Position, die wir durchgesetzthaben. Dies ist ein himmelweiter Unterschied. Insofern, meine Damen und Herren, haben Sie zu Be-ginn der Legislaturperiode gegen einen Parteitagsbe-schluss verstoßen.
Auch am 14. November 1996 hatten wir eine Renten-debatte. Darin hat uns Dreßler vorgeworfen: Die CDU/CSU ist dafür verantwortlich, dass Frau-en und Männer länger arbeiten müssen, dass diegekürzte Anrechenbarkeit von Ausbildungszeitendie Rente vermindert ... die Rehabilitation, dras-tisch eingeschränkt werden.Ich sage es nochmals, Herr Ostertag: Stellen Sie sichvor, wir hätten dies nicht getan! Nun könnte ich Ihnen noch weitere schöne Zitate vonall denen bringen, die in der letzten Legislaturperiode anden Rentendebatten teilgenommen haben.
Leider fehlt mir dazu die Zeit. Aber – Frau Schmidt,verlassen Sie sich darauf – ich bekomme noch Gelegen-heit, Frau Mascher, Herrn Andres und Herrn Schreinerzu zitieren. Auch Herr Ostertag hat sich geäußert. HerrnDreßen habe ich schon zitiert. Ich komme noch dazu,Ihnen diese Aussagen vorzuhalten. Sie haben immer sogetan, als sei Handeln nicht notwendig. Sie haben es alsunsozial gebrandmarkt.Julius Louven
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Heute stehen Sie vor dem Dilemma, dass Sie die Pro-bleme nicht gelöst bekommen.
Ich sage Ihnen dennoch abschließend: Wir sind zuKonsensverhandlungen bereit, aber nicht nach dem Mot-to „Die CDU/CSU fürs Grobe und Riester und Genossenfürs Schöne“. Nach diesem Motto läuft ein Rentenkon-sens mit uns nicht.
Für die SPD-
Fraktion spricht die Kollegin Erika Lotz.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen, liebe Kollegen! Ich denke, die Not bei der Union istgroß, dass sie wieder zu diesem Thema eine AktuelleStunde beantragen muss. Ich frage mich: Warum wiederdiese Aktuelle Stunde?
Ich denke, das hängt nicht nur mit dem Wahlkampf inNRW zusammen. Ich glaube, dabei geht es auch um Ab-lenkung von Spendensammlungen oder schwarzen Kas-sen in Hessen.
Das mag Ihnen nicht gefallen, aber diese Aktuelle Stun-de hat aus meiner Sicht auch diesen Hintergrund.Herr Singhammer, Sie haben sich hier hingestellt undden Bundeskanzler angegriffen und sozusagen Wahrheitgefordert. Ich denke, dem muss man eigentlich nichtshinzufügen. Diese Aussage spricht für sich.
Mit Ihrer Aktuellen Stunde erreichen Sie genau das,was aus unserer Sicht nicht geschehen sollte: Sie verun-sichern wieder Rentnerinnen und Rentner, und das ganzgewaltig.
Aber auch die Medien scheinen Ihnen zumindest zeit-weise auf den Leim gegangen zu sein, wenn ich an dieDiskussion um die Rentenanpassung zum 1. Juli denke.
Es war immer so, das ist hier schon ausgeführt worden –dass sich die Rentenanpassung an der Entwicklung imVorjahr orientiert, nur ist es eben in diesem Jahr – diePreissteigerung.
– Sie scheinen uns ja sehr viel zuzutrauen, Herr neuersozialpolitischer Sprecher Laumann. Sie trauen uns zu,schon im Januar zu wissen, wie hoch die Preissteigerungin diesem Jahr sein wird, um die entsprechende Anpas-sung vornehmen zu können. Aber was Sie tun, ist ausmeiner Sicht unverantwortlich – unverantwortlich, weilSie damit ganz einfach Rentner und Rentnerinnen ver-unsichern.
Herr Laumann, Sie haben die Konsensgespräche an-geführt, im Grunde ein wenig die Hand ausgestreckt.Aber das, was dann über eine ganze Zeit an Argumenta-tion erfolgt ist, hat sehr wenig mit Konsens zu tun. Eswäre sicher sinnvoll, uns nicht nur vorzuhalten, keinKonzept zu haben. Sie kennen es doch genau; Arbeits-minister Riester hat es schon x-mal vorgetragen.
Aber Sie beharren immer auf dem Demographiefak-tor. Was hat denn der Demographiefaktor an sich? Er istdoch nur ein zusätzlicher Faktor in der Anpassungsfor-mel, eingefügt von Ihnen, um die Lebenserwartung der65-Jährigen einzurechnen. Sie tun so, als sei dies wis-senschaftlich begründet. Das ist aus meiner Sicht einePseudowissenschaft.
Was sagt denn dieser Faktor? – Die jeweilige Anpas-sung um die zurückliegenden Werte aus neun oder achtJahren soll den Rentenanstieg dämpfen. Warum neun,warum nicht acht Jahre, warum nicht das vor uns lie-gende Jahr?
Eine weitere Frage. Sie hatten ja beschlossen, dassdieser Faktor nur zur Hälfte wirken soll. Warum nur zurHälfte? Wann hätten Sie das eventuell geändert? DieArbeitgeberverbände hatten ja die ganze Zeit über ge-fordert, den Faktor voll zu berechnen.
Dann soll bei 64 Prozent aufgehört werden. Wo wardie Garantie dafür? Wer glaubt Ihnen denn, dass Sie daHalt gemacht hätten? Hören Sie doch auf, in den Verhandlungen, in denKonsensgesprächen so zu tun, als ob Sie ein Konzepthätten, sondern setzen Sie sich mit unserem Konzeptauseinander!Julius Louven
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– Mit dem, das Ihnen vorgetragen worden ist, mit dem,was auf dem Tisch liegt.
– Es ist doch lachhaft, was Sie hier machen.
Es zeigt, dass Sie an einem Konsens überhaupt nicht in-teressiert sind. Das, was Sie hier machen, ist billige Po-lemik.
Sie tun so, als würden Sie mit Ihrem Demographiefaktorden jungen Menschen einen Dienst erweisen, aber genauIhr Konzept, Ihr demographischer Faktor hätte doch be-wirkt, dass die jüngeren Leute, diejenigen, die unter50 Jahre alt sind, besonders davon betroffen werden.
Einen Satz will ich zu dem Vorwurf hinsichtlich derÖkosteuer noch sagen. Dieser Vorwurf wird von Ihnenhochgekocht; aber auch Frau Schwaetzer hat sich daraufeingelassen. Ihr Gedächtnis scheint sehr kurz zu sein.Sie scheinen auch auf ein kurzes Gedächtnis der Wählerund Wählerinnen zu setzen. Unter Ihrer Regierung istdie Mineralölsteuer von 49 Pfennig auf 98 Pfennig an-gehoben worden.
Jetzt sind es gerade einmal 12 Pfennig an sozialökologi-scher Steuer, die darauf aufgeschlagen wurden. DieseEinnahme kommt voll der Rentenversicherung zugute,der Sie in der Vergangenheit nur Belastungen aufgebür-det haben.
Von daher: Reden Sie nicht nur über einen Konsens,sondern verhalten Sie sich auch ein bisschen danach! Ichgebe den Mut noch nicht ganz auf, dass wir in weiterenGesprächen zu einer Einigung kommen können. Aller-dings setzt das von Ihrer Seite ein Stück mehr Bewe-gung voraus.Danke schön.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Horst Seehofer.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Es geht schlicht undeinfach um die Frage, in welchem Umfang und Ausmaßfür 17 Millionen Rentner am 1. Juli dieses Jahresdie Rente erhöht wird. Es ist schlimm, mit welcherKaltschnäuzigkeit Vertreter der Regierungskoalitionvon diesem Sachverhalt, der für die Lebensbedürfnisse,den Lebensstandard und die Lebensbedingungen von17 Millionen Menschen von großer Bedeutung ist, hierabzulenken versuchen, indem sie das Ganze als angebli-che Vergangenheitsbewältigung oder Wahlkampf ab-qualifizieren.
Das ist für 17 Millionen Menschen von höchster Bedeu-tung.
Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass eine Sozi-aldemokratie kaltschnäuzig darüber hinweggeht.
Ich möchte Ihnen einmal sagen, worum es tatsächlichgeht. Der „Spiegel“ schreibt in dieser Woche überRiesters Rententrick. Nach allgemeinem Sprachge-brauch spricht man von einem Trick, wenn Menschenandere Menschen über ihre wahren Absichten täuschen.Leider Gottes ist dies in den letzten eineinviertel Jahrenin der deutschen Rentenpolitik zur Methode geworden.
Das müssen wir aussprechen.Es geht jetzt gar nicht darum, dass Sie entgegen IhrerWahlaussage die Rentner von der Nettolohnentwicklungabgekoppelt haben. Wir haben hier Aktuelle Stunden er-lebt, in denen diese Wunde von der Opposition aufge-deckt und kritisiert worden ist. Sie haben davon gespro-chen, wir würden die Rentner verunsichern, und wir sinddann davon überrascht worden, dass sich der Bundes-kanzler entschuldigt hat. Im Allgemeinen entschuldigtman sich in der Bundesrepublik Deutschland nicht da-für, dass man die Wahrheit gesagt hat, sondern dafür,dass man die Leute angelogen hat. Das ist die Realität.
Aber darum geht es uns gar nicht. Uns geht es darum,dass Sie erstens das Gegenteil von dem getan haben,was Sie im Wahlkampf gesagt haben, und zweitens vonder Nettolohnentwicklung abgerückt sind. Es war fünf-zigjähriger Konsens in Deutschland, dass die Rentner ander wirtschaftlichen Entwicklung der Arbeitnehmer da-durch teilhaben, dass die Renten an die Löhne angekop-pelt bleiben. Das haben Sie jetzt für zwei Jahre aufgege-ben und gegenüber der Öffentlichkeit so begründet: Regteuch mal nicht so auf! Wir sorgen dafür, dass die Rent-ner auf jeden Fall ihre Kaufkraft ausgeglichen bekom-men. – An diesen Aussagen, Frau Schmidt, waren auchSie beteiligt. Sie haben noch im November 1999, vorwenigen Wochen, gesagt: Die Bundesregierung hatErika Lotz
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einen Inflationsausgleich und damit eine Sicherung derKaufkraft zugesagt, egal wie sich die Preise entwickeln.
Der Bundeskanzler hat auf dem ordentlichen Ge-werkschaftstag der IG-Metall am 6. Oktober 1999, alsonach der Abkoppelung von der Nettolohnentwicklung,gesagt: Nun noch ein Wort zur Anpassung der Renten inden nächsten beiden Jahren nach der Preisentwicklung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit das völlig klarist: Es handelt sich hier nicht um Kürzungen, sondernum den Erhalt der Kaufkraft.Sie müssen den Leuten sagen, was Sie vorhaben. DieBundesregierung muss darüber im April noch einen Be-schluss fassen. Im letzten Jahr betrug die Inflationsrate0,6 Prozent. Die aktuelle Inflationsrate liegt nach demStatistischen Bundesamt bei 1,8 Prozent und nach denPrognosen der Regierung für das ganze Jahr 2000 bei1,5 Prozent.Sie wählen für die Rentenerhöhung am 1. Juli diesesJahres nicht den Kaufkraftausgleich für den Preisanstieg,den die Rentner durch die von Ihnen veranlasste Öko-steuer in diesem Jahr erleben, sondern Sie wählen zurSchonung der Rentenversicherung und der Bundeskassedie Inflationsrate aus dem letzten Jahr. Hierbei bahntsich ein neuer Wortbruch an, weil Sie den Rentnern ei-nen Kaufkraftausgleich versprochen haben.
Sie haben nicht nur den Kaufkraftausgleich verspro-chen. Sie haben den älteren Leuten auch gesagt: Das istetwas Wunderbares; denn dadurch unterscheiden wiruns von der Regierung Helmut Kohl. Die hat nämlich,so Riester, mehrere Jahre keinen Inflationsausgleich ge-währt. Herr Riester, Sie haben gesagt: Wir nehmen jetztdas erste Mal seit vier Jahren wieder einen echten Kauf-kraftausgleich vor. Sie haben uns mit dem Vorwurf anden Pranger gestellt, wir hätten das nicht gemacht.Wir erheben den Vorwurf, dass Sie seit vielen Mona-ten, so schreibt der „Spiegel“, mit Tricks gegenüber derälteren Bevölkerung arbeiten. Tricks heißt: Sie machendas Gegenteil dessen, was Sie in der Öffentlichkeit ver-sprechen. Das tun Sie jetzt wieder.
Es ist eine ureigene Aufgabe einer Opposition – jen-seits der Konsensgespräche, auf die ich noch zu spre-chen komme –, den Finger in die Wunde zu legen undder Öffentlichkeit die Augen dafür zu öffnen, dass zwi-schen den Worten und den Taten der Bundesregierungein so großer Unterschied wie zwischen Karl Marx undBill Gates besteht. So groß ist der Unterschied mittler-weile.
Herr Riester, wir möchten Sie davor schützen, dennächsten Fehler zu begehen. Sie bekräftigen beinahe inallen Interviews – zuletzt wieder in der „Bild“-Zeitung –die Rückkehr zur Nettolohnformel im Jahre 2002.Gleichzeitig stellen Sie in Ihrem Hause Überlegungenan, wie man ab dem Jahre 2002 nicht mehr zur Netto-lohnformel zurückkehrt, indem Sie zwar weiterhin da-von sprechen: „Wir kehren zur Nettolohnformel zu-rück“, aber die Nettolohnformel neu definieren, so wieSie sie sich vorstellen. Gegenüber dem geltenden Rechtwürde das ein Minus bedeuten.
Deshalb fordern wir Sie auf: Kehren Sie zur Netto-lohnanpassung zurück! Wir sind bereit, auch den Demo-graphiefaktor – es handelt sich um einen Abzug von derNettolohnentwicklung um 0,4 Prozent – mitzutragen,
weil wir im Gegensatz zu Ihnen keine Blockadepolitikmachen, sondern staatspolitische Verantwortung bei derAlterssicherung anstreben.
Dazu sind wir bereit. Dieser Weg hieße Verlässlichkeitund würde das Vertrauen in die Rentenversicherungwieder sichern.
Ein Letztes. Wenn nun von Finanzbelastungen dieRede ist, dann möchte ich einmal an die Kolleginnenund Kollegen der SPD appellieren: In einer Zeit, in derdiesem Parlament ein Gesetzentwurf vorliegt, nach demKapitalgesellschaften, also insbesondere Banken undVersicherungen, bei der Veräußerung von Unterneh-mensbeteiligungen steuerfrei gestellt werden sollen –immerhin handelt es sich zulasten des Bundeshaushaltesum ein Privilegium der großen Konzerne –, belasten Sieden Steuerzahler mit über 4 Milliarden DM. Sie verkau-fen damit die Seele der Sozialdemokratie, wenn Siegleichzeitig sagen: Aber für den Kaufkraftausgleich derRentner haben wir zu wenig Geld.
Herr Kollege
Seehofer, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Diese Politik ist nicht
stimmig.
Herr Riester, wir sind zu diesem Rentenkonsens be-
reit; wir führen ernsthafte Gespräche. Ich prognostiziere
Ihnen heute: Wenn wir in die Entscheidungsphase
kommen, dann werden Sie möglicherweise für die Hilfe
im Umgang mit manchen neoliberalen Vorstellungen
und für die Unterstützung bei manchem, was Sie der
SPD-Fraktion zumuten müssen, noch dankbar sein.
Herr Kollege
Seehofer, die Redezeit.
Was die Wahrheit be-trifft, sind wir bereit, der Bevölkerung reinen Wein ein-zuschenken, wie wir es vor der Wahl getan haben.Horst Seehofer
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Herr Kollege
Seehofer, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Bei aller Bereitschaft
zum Konsens: Wir sind nicht bereit, uns an Täuschun-
gen und Tricks in der Tagespolitik zu beteiligen; deshalb
wird es trotz dieses Konsenses dabei bleiben, dass wir
als Opposition Ihnen im Tagesgeschäft auf die Finger
schauen.
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat der Kollege Olaf Scholz.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Es ist eine gute Sache, dass mittler-weile die Rentenkonsensgespräche stattfinden. Es ist ei-ne gute Sache, dass allseits beteuert wird, nun wolle manda ordentlich miteinander umgehen. Aber es ist eineschlechte Sache, wenn das äußere Beiwerk, die öffentli-chen Diskussionen außerhalb der Rentenkonsensgesprä-che, so ausgestaltet ist, dass man das Geschehen nichternsthaft nachempfinden kann. Genau das aber erlebenwir hier gegenwärtig.Es gehört zu Konsensgesprächen, dass man Argu-mente nennt, die wirklich gelten und für die man amEnde auch einstehen will. Außerdem gehört zu Kon-sensgesprächen – Herr Seehofer, darüber haben Sie amSchluss gesprochen, als Sie von „Wahrheit“ geredet ha-ben –, dass man keinen unwahren Eindruck vermittelt,sondern in der Tat präzise über diejenigen Dinge spricht,die wirklich zu sagen sind. Darum will ich über ein paarUnseriositäten und Unrichtigkeiten dieser Debatte spre-chen.Die erste ist das, was Sie zum Anlass dieser Aktuel-len Stunde genommen haben, die Anpassung nach demInflationsausgleich. Hierzu hat der Bundestag ein Gesetzbeschlossen. Das war keine Geheimveranstaltung; Siealle waren dabei. Sie waren zwar gegen das, was wir be-schlossen haben; aber Sie haben zugehört und könnendie entsprechenden Gesetzestexte nachlesen. Sie könn-ten den Menschen dann auch wahrerweise sagen, dassdort steht, dass für zwei Jahre eine Aussetzung der bis-herigen Anpassungsformel erfolgt und dass sich in die-ser Zeit die Rente jeweils nach der Inflationsrate desVorjahres entwickeln soll. In keinem dieser Gesetzestex-te steht, dass die Regierung, wie Sie soeben unrichtigund unwahr suggeriert haben,
einen Handlungsspielraum hätte, der etwas anderes er-möglichte als eine Anpassung um 0,6 Prozent, über diejetzt diskutiert wird.
Wenn die Regierung anders handeln würde, wäre das einGesetzesbruch. Der Bundestag müsste etwas anderesund Neues beschließen, damit die Regierung das über-haupt könnte.
Deshalb ist es sehr wichtig, dass nicht darüber disku-tiert wird, dass die Bundesregierung etwas anderes tut,als der Gesetzgeber letztes Jahr beschlossen hat. Wirsollten vielmehr darüber diskutieren, dass die CDU/CSUsuggeriert, wir hätten im letzten Jahr etwas anderes be-schlossen als das, was schwarz auf weiß in den Gesetzensteht. Ihr Vorgehen entspricht der Unwahrheit und istnicht gut für die Rentenkonsensgespräche.
Die Verschiebung der Wahrheit scheint auch ansons-ten etwas zu sein, was Sie im Rahmen dieser Diskussionfür wichtig halten. Ich will deshalb auf Folgendes hin-weisen: Wir diskutieren im Rahmen der für zwei Jahrevorgesehenen Aussetzung der bisherigen Rentenanpas-sung und der Anpassung entsprechend der Inflationsratedes Vorjahres über ein Problem, das Sie gerne gehabthätten. Denn tatsächlich ist es so, dass die Rentenanpas-sungen in den letzten Jahren, also seit 1995, immerschlechter ausgefallen sind, als sie ausgefallen wären,wenn sie um die Inflationsrate erhöht worden wären.
Das heißt, die alte Rentenformel hat dazu geführt, dassdie Renten geringer gestiegen sind als die Inflationsrate.
Und warum? Das hat etwas damit zu tun, dass die Po-litik der alten Bundesregierung 16 Jahre lang dazu bei-getragen hat, dass die Sozialversicherungsbeiträge fürArbeitnehmer und Arbeitgeber von 32 auf 42 Prozentangestiegen sind und sich dadurch die Nettolöhne natür-lich nicht ordentlich entwickeln konnten.
Das hat etwas damit zu tun, dass Sie eine Steuerpolitikbetrieben haben, die den Familien, Menschen mit gerin-gem Einkommen, dem Mittelstand sowie den normalenArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern netto immerweniger von ihrem Bruttolohn belassen hat. Das hat da-zu geführt, dass es überhaupt keine Aussicht mehr gabauf eine Anpassung nach der Entwicklung der Nettolöh-ne, die die Anpassung nach der Inflationsrate hätte über-treffen können. Hätten Sie weiter regiert, wäre das trotzaller vorgesehenen Formeln niemals anders gewesen.
Nach diesen zwei Jahren – mit Ausnahme des erstenJahres unserer Regierung, in dem dies schon der Fall
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war – wird es das erste Mal dauerhaft die Möglichkeitgeben, dass die Anpassung der Renten wieder oberhalbder Inflationsrate liegt. Das hat etwas mit der Steuer-und Sozialpolitik der Regierung zu tun und darüber soll-ten Sie richtig sprechen.
Ich will zum letzten Punkt kommen, den ich in die-sem Zusammenhang für bedeutsam halte, nämlich dazu,dass Sie bereits das nächste Thema ansprechen, ange-sichts dessen Sie die Wirklichkeit verschieben wollen:Es handelt sich um die Frage, was in zwei Jahren seinsoll. Da hört man von verschiedenen Seiten – das kannman übrigens auch nachlesen –, dass man sich – mitAusnahme der Sozialdemokratischen Partei Deutsch-lands und des zuständigen Ministers – nicht sicher ist,ob man wirklich zur Nettolohnanpassung bzw. zur An-passung der Renten entsprechend der Lohnentwicklungwirklich zurückkehren soll. Sie sind dagegen – das ha-ben Sie soeben gesagt –, indem Sie noch einmal denDemographiefaktor, der für viele Jahre eine Abkehr vonder Nettolohnanpassung darstellt, benannt haben.
Es gibt übrigens noch viele andere Konzepte, die alleseitens Ihrer Kommissionsvertreter vorgebracht werdenund die alle besagen: Eine Anpassung nach der Netto-lohnformel geht nicht. Auch bei der F.D.P. wirddarüber so diskutiert. Sie werfen jetzt dem Minister, derangesichts Ihrer Meinung standhaft die Wiederanpas-sung der Renten entsprechend der Entwicklung der Löh-ne verteidigt und Sie in den kommenden Gesprächenvon seiner Haltung überzeugen will, vor, er wolle dasnicht. Das ist Demagogie statt Politik. Ich hoffe, Sienehmen davon Abstand.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend und
unseren Gästen auf den Tribünen weiterhin einen
angenehmen Aufenthalt in Berlin.
– Ja, hoffentlich weiterhin.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 23. März 2000,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.