Gesamtes Protokol
Guten Tag, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Wahlprü-
fungsausschusses zu den gegen
die Gültigkeit der Wahl der Abgeordneten des
Europäischen Parlaments aus der Bundesre-
publik Deutschland eingegangenen Wahlein-
sprüchen
– Drucksache 14/2761 –
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Die Abgeord-
nete Erika Simm wünscht das Wort zur Berichterstat-
tung. Ich erteile Ihnen das Wort, Kollegin Simm.
Sehr verehrter Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Der 14. Deutsche Bundestaghat neben der Prüfung der Bundestagswahl auch überWahleinsprüche zu entscheiden, mit denen wahlberech-tigte Bürger Einwendungen gegen die Vorbereitung undDurchführung der fünften Direktwahl der Abgeordnetenzum Europäischen Parlament erheben. Diese Beanstan-dungen können sich sowohl auf die Art und Weise derDurchführung der Wahl selbst als auch auf die Feststel-lung des Wahlergebnisses beziehen. Gegen die Wahlenzum 5. Europäischen Parlament sind 41 Wahleinsprücheeingegangen, über die heute zu entscheiden ist. In den meisten Fällen konnte nach gründlicher Prü-fung kein Wahlfehler festgestellt werden. Selbst dann,wenn ein Wahlfehler festgestellt worden ist, kann ernach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfas-sungsgerichts nicht zum Erfolg des Wahleinspruchs füh-ren, wenn sich der Fehler nicht auf die Verteilung derMandate der deutschen Abgeordneten im EuropäischenParlament auswirkt. In keinem der zu prüfenden Ein-sprüche war dies der Fall. Dennoch geht der Wahlprü-fungsausschuss jedem Vortrag gründlich nach, nicht zu-letzt deshalb, um für zukünftige Wahlen Missstände ab-stellen und Anregungen für eine Überprüfung der Wahl-rechtsvorschriften bzw. Vorschläge für eine Verbesse-rung der Vorbereitung und Durchführung der Wahl andie Bundesregierung geben zu können. Derartige Anre-gungen werden üblicherweise in einer Entschließung mitPrüfungsbitten an die Bundesregierung zusammenge-fasst. Dazu verweise ich auf Ziffer 3 der Beschlussemp-fehlung des Wahlprüfungsausschusses. Nachfolgend möchte ich – auch wenn hier kein voll-ständiger Bericht über jeden einzelnen Wahleinspruchmöglich und angebracht ist – zumindest exemplarischauf einige Aspekte hinweisen, die bei der Europawahl1999 zu Einsprüchen geführt haben. Hervorzuheben istdie bereits im Zusammenhang mit der Prüfung der Bun-destagswahl geäußerte Anregung, die Teilnahme von imAusland lebenden Wahlberechtigten an der Wahl durchbessere Information und Verlängerung der Fristen zu er-leichtern.
So hatte das Presse- und Informationsamt der Bundesre-gierung ein so genanntes Infoblatt zur Europawahl er-stellt, welches einen Vordruck enthielt, mit dem wahlbe-rechtigte Deutsche im Ausland Antragsformulare für dieEintragung in das Wählerverzeichnis anfordern konnten.Dies ist im Grundsatz zu begrüßen. Bedauerlicherweiseist dieses Infoblatt zu spät versandt worden, sodass vieleim Ausland lebende Deutsche wegen der längeren Post-laufzeiten den Antrag zur Eintragung in das Wählerver-zeichnis nicht mehr fristgerecht stellen konnten. DieVersendung derartiger Infoblätter sollte deshalb in Zu-kunft rechtzeitig erfolgen.
Ein Schwerpunkt der Beanstandungen bei der Euro-pawahl lag darin, dass nicht deutsche Bürger der Euro-päischen Union, die in der Bundesrepublik Deutschlandihren ständigen Wohnsitz haben, nur auf Antrag in dasWählerverzeichnis eingetragen werden. Der Antragmusste bei der letzten Wahl bis zum 34. Tag vor derWahl gestellt sein. Viele Unionsbürger waren jedochdavon ausgegangen, dass sie wie deutsche Wahlberech-tigte von Amts wegen in das Wählerverzeichnis einge-tragen werden. Sie haben deshalb die Antragsfrist ver-säumt.
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Bestärkt wurden einige von ihnen in dieser Annahmedadurch, dass sie bereits 1994 ihr Wahlrecht zur Euro-pawahl in Deutschland ausgeübt hatten und deshalbmeinten, dass ein einmaliger Antrag zur Eintragung indas Wählerverzeichnis auch auf nachfolgende Wahlenwirke. Andere Unionsbürger wiederum hatten für die amgleichen Tag in ihrer Wohnsitzgemeinde stattfindendenKommunalwahlen eine Wahlbenachrichtigung erhalten,ohne dass sie dafür einen Antrag hätten stellen müssen,und vermuteten deshalb, auch für die Europawahl ihreStimme abgeben zu dürfen, was jedoch nach der gelten-den Rechtslage ohne gesonderten Antrag nicht möglichist.Diese Rechtslage hat bei einer Reihe von Unionsbür-gern zu Unverständnis und Verärgerung geführt. Auchdie Europäische Kommission hat die geltende deutscheRegelung in der Europawahlordnung bereits beanstan-det. Eine diesbezügliche Rechtsänderung ist nun ge-plant. Der Wahlprüfungsausschuss unterstützt mehrheit-lich ausdrücklich die Absicht der Bundesregierung, dieWahlrechtsvorschriften dahin gehend zu ändern, dasshier lebende, nicht deutsche Unionsbürger, die 1999 oder bei künftigen Europawahlen auf ihren Antrag inDeutschland in ein Wählerverzeichnis eingetragen wor-den sind, bei dann folgenden Europawahlen von Amtswegen wieder eingetragen werden, ohne einen neuerli-chen Antrag stellen zu müssen. Eine weitere zu klärende Frage betraf den Zeitpunktdes Eingangs von Wahlbriefen und deren Berücksichti-gung bei der Ermittlung und Feststellung des Wahler-gebnisses. Die Stadt Solingen hat 243 Wahlbriefe, dieam Montag nach der Wahl aus dem Postfach der Stadtabgeholt worden sind, als nicht mehr rechtzeitig einge-gangen gewertet und deshalb bei der Feststellung desWahlergebnisses nicht berücksichtigt. Diese Wahlbriefestammten aus der Briefkastenleerung am Freitag vor derWahl und sind noch am Freitag in das Postfach der StadtSolingen bei der Deutschen Post AG einsortiert worden.Sie hätten somit am Samstag vor der Wahl aus demPostfach der Stadt abgeholt werden können, was nichtgeschehen ist. Dem Wähler kann dieses Versäumnis desWahlamtes der Stadt Solingen nicht zugerechnet wer-den. Die Wahlbriefe gelten mit dem Einsortieren in dasPostfach der Stadt als eingegangen, weil sie damit in denMachtbereich des Empfängers gelangt sind. Sie hättenbei der Feststellung des Wahlergebnisses mitgezähltwerden müssen.In einem anderen Fall hat die Stadtverwaltung Bonnmit der Deutschen Post AG extra eine eigene Postleit-zahl für das Postaufkommen zur Europawahl vereinbart,um dieses von dem allgemeinen Posteingang zu trennenund die schnelle Beförderung von Briefwahlanträgen zugewährleisten. Die Deutsche Post AG hat es jedoch ver-säumt, ihre Mitarbeiter im zuständigen Briefzentrum da-von zu unterrichten. Deshalb haben die Mitarbeiter desBriefzentrums, die mit der besonderen Postleitzahlnichts anfangen konnten, die Post zunächst einfach ge-sammelt. Nach einer Woche wurden der Stadt Bonndann zehn Behälter mit Briefwahlanträgen übergeben,wodurch die Bearbeitung der Anträge erheblich verzö-gert worden ist. Derartige Informationsfehler müssenkünftig vermieden werden. Nur als Anmerkung: In beiden Fällen – wir habennachrechnen lassen – hatte aber dieser Fehler keineAuswirkungen. Wenn er also vermieden worden wäre,hätte sich am Ergebnis nichts geändert. Deswegen konn-te den Einsprüchen nicht stattgegeben werden. Schließlich möchte ich darauf hinweisen, dass dieVeröffentlichung von Wählerbefragungen nach derStimmabgabe über ihre Wahlentscheidung vor Ablaufder Wahlzeit verboten ist. Dieses Verbot richtet sichinsbesondere an die Massenmedien wie Rundfunk undFernsehanstalten. Es soll verhindern, dass Wahlberech-tigte, die noch nicht gewählt haben, sich durch die vor-zeitige Veröffentlichung von Umfrageergebnissen in ih-rer Wahlentscheidung beeinflussen lassen. Gegen diesesVerbot wurde auch bei der Europawahl wieder ver-stoßen. Ich bitte deshalb die hier angesprochenen Me-dien dringend, die Veröffentlichung von Wählerbefra-gungen vor Ablauf der Wahlzeit bei zukünftigen Wahlenzu unterlassen. Des Weiteren muss bei künftigen Europawahlen trotzmöglicher Schwierigkeiten bei der praktischen Umset-zung darauf geachtet werden, dass der Wahlvorstand mitder Stimmauszählung im Wahllokal erst nach Ende derStimmabgabe in den anderen Mitgliedstaaten beginnendarf. Durch diese Regelung soll ebenfalls eine möglicheBeeinflussung von Wählern in anderen Mitgliedstaatendurch das vorzeitige Bekanntwerden von Wahlergebnis-sen verhindert werden.In Ziffer 3 der vorliegenden Beschlussempfehlungwird die Bundesregierung deshalb ausdrücklich darumgebeten, dafür Sorge zu tragen, dass die entsprechendeVorschrift des Europawahlgesetzes bei künftigen Euro-pawahlen eingehalten wird.Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, trotz aller Sorgfalt und großerMühe, die sich unsere Mitarbeiter im Sekretariat gege-ben haben – dafür bedanke ich mich ganz herzlich beiihnen,
ohne sie hätten wir diese Wahleinsprüche nicht so flotterledigen können; ich bin stolz darauf, dass es diesesMal nicht so lange gedauert hat –, sind uns zwei kleineVersehen unterlaufen, auf die ich hinweisen möchte, ehewir über das Votum abstimmen, weil die Anlagen dem-entsprechend geändert werden müssen. Es sind zweiFälle. Der erste Fall betrifft die Anlage 30 mit dem Ak-tenzeichen EuWP 34/99. In dem Kapitel „Entschei-dungsgründe“ – nur dort ist dieser kleine Fehler unter-laufen – muss das Wort „nicht“ gestrichen werden. DerPassus lautet dann: Der Einspruch ist zulässig, jedochoffensichtlich unbegründet. Der zweite Fall findet sich in der Anlage 35 mit demAktenzeichen EuWP 7/99. Dort muss der Passus bezüg-lich des Einspruches im Kapitel „Entscheidungsgründe“heißen: Er ist zulässig, jedoch offensichtlich unbegrün-det.Ich bitte, Herr Präsident, diese Berichtigung der, wiegesagt, nur in den Begründungen der Einspruchsent-Erika Simm
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scheidungen aufgetretenen zwei Fehler bei der Abstim-mung zugrunde zu legen.Abschließend möchte ich Sie bitten, der Beschluss-empfehlung, die vom Wahlprüfungsausschuss bei einerStimmenthaltung zu Ziffer 3, Buchstabe a, zweiter Spie-gelstrich, im Übrigen aber einstimmig verabschiedetworden ist, insgesamt zuzustimmen.Ich danke Ihnen.
Herzlichen Dank,
Frau Kollegin Simm.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses auf
Drucksache 14/2761 mit den soeben vorgetragenen Be-
richtigungen? – Wer stimmt dagegen? – Stimmenthal-
tungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-
binettssitzung mitgeteilt: nationaler beschäftigungspoli-
tischer Aktionsplan 2000. Das Wort für den einleitenden
fünfminütigen Bericht hat die Parlamentarische Staats-
sekretärin beim Bundesminister der Finanzen, Kollegin
Barbara Hendricks.
D
Danke schön, Herr Präsi-dent. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute hat dieBundesregierung den nationalen beschäftigungspoliti-schen Aktionsplan 2000 verabschiedet. Der NAP, wieer in Kurzform genannt wird, ist wichtiger Bestandteileiner koordinierten europäischen Beschäftigungsinitiati-ve. Mit dem Vertrag von Amsterdam hat die EuropäischeUnion die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zur gemein-samen Aufgabe erklärt. Zusammen mit den Strategien,auf ein möglichst spannungsfreies Zusammenspiel vonLohnentwicklung, Finanz- und Geldpolitik hinzuwir-ken – dem so genannten Köln-Prozess –, durch Struktur-reformen für eine Verbesserung der Wettbe-werbsfähigkeit und des Funktionierens der Märkte bei-zutragen – dem so genannten Cardiff-Prozess –, bildetder so genannte Luxemburg-Prozess den dritten Eck-pfeiler des europäischen Beschäftigungspaktes. Im Rahmen dieses Luxemburg-Prozesses legen dieMitgliedstaaten und die Europäische Kommission demEuropäischen Rat jährlich einen gemeinsamen Berichtüber die Beschäftigungslage und über die Umsetzungvon beschäftigungspolitischen Leitlinien vor. Grundlagehierfür bilden die nationalen Aktionspläne. Mit dem Lu-xemburg-Prozess wird somit ein ständiger beschäfti-gungspolitisch orientierter Überwachungs-, Anpassungs-und Umsetzungsprozess in Gang gehalten. Der NAP stützt sich auf eine breite Basis. Es handeltsich um einen Bericht der Bundesregierung, der unterFederführung des Bundesfinanzministeriums entstandenist. Inhaltlich liegt der Schwerpunkt naturgemäß imAufgabenbereich des Bundesministeriums für Arbeitund Sozialordnung. Die Länder waren ebenfalls betei-ligt. Auch die Sozialpartner haben entsprechend unsererVorstellung eines gesellschaftlichen Dialogs mitgewirkt. Der Europäische Rat in Helsinki vom Dezember desvergangenen Jahres hat sich auf der Grundlage des letz-ten gemeinsamen Beschäftigungsberichtes auf 21 be-schäftigungspolitische Leitlinien verständigt, die weit-gehend eine Fortschreibung der vorangegangenen Leit-linien darstellen. Der Bericht folgt dieser Gliederung.Der NAP nimmt die im Jahreswirtschaftsbericht entwi-ckelte beschäftigungspolitische Strategie der Bundesre-gierung auf und übersetzt sie in konkrete Maßnahmen. Der Bericht beschreibt die Maßnahmen, die zur Umset-zung der Leitlinien ergriffen worden sind oder die sichin der Planung befinden. Der NAP 2000 beschreibt dieGrundlinien der Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Frauen-, Mit-telstands- sowie der Steuer- und Abgabenpolitik, diesich im Zusammenspiel zu einer beschäftigungsfördern-den Gesamtstrategie ergänzen. Gleichzeitig gibt er Re-chenschaft über die deutsche Reaktion auf die Empfeh-lungen, die der Europäische Rat als Folge der Ergebnis-se des letzten Beschäftigungsberichts für Deutschlandformulierte.Schwerpunkte des nationalen Aktionsprogramms zurBeschäftigungspolitik sind folgende: Der rasche techni-sche Fortschritt und die zunehmende Wettbewerbsinten-sität – Stichwort Globalisierung – lösen einen permanen-ten Strukturwandel aus. Er ist zugleich Ergebnis undVoraussetzung einer stärkeren Wachstumsdynamik. DieWahrnehmung von Wachstums- und Innovationschan-cen hängt entscheidend davon ab, wie rasch und wiestark die Märkte auf veränderte Rahmenbedingungenund wirtschaftliche Entwicklungen reagieren. Struktur-reformen müssen deshalb gleichermaßen am Steuer- undTransfersystem, am Arbeitsmarkt sowie an den übrigenGüter- und Faktormärkten ansetzen.Mit dem Zukunftsprogramm 2000 und der Steuerre-form 2000 hat die Bundesregierung die Weichen für ei-ne umfassende und wirksame Modernisierung der Wirt-schaft gestellt. Die Empfehlungen des Europäischen Ra-tes hinsichtlich einer stärker wachstums- und beschäfti-gungsorientierten Steuerpolitik sowie einer Verringe-rung der Arbeitskosten durch Senkung der Steuer- undAbgabenlasten haben wir bereits beherzigt. Unser mit-telfristiges Konzept der Haushaltskonsolidierung undder Steuersenkungen schafft – zusammen mit den not-wendigen Strukturreformen – die Basis für mehr Investi-tionen und Arbeitsplätze.In der Arbeitsmarktpolitik geht es vor allem darum,aktiven Maßnahmen eindeutigen Vorrang vor passivenLohnersatzleistungen einzuräumen. Ein wichtiges Zielist es, den Zugang in die Langzeitarbeitslosigkeit deut-lich zu verringern. So hat die Bundesregierung das Ar-beitsförderungsrecht stärker zielgruppenorientiert undentschiedener auf die Verhinderung von Langzeitarbeits-Erika Simm
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losigkeit ausgerichtet. Zudem wird das erfolgreiche So-fortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit mitAngeboten zur Ausbildung, Qualifizierung und Beschäf-tigung Jugendlicher im laufenden Jahr fortgesetzt. Zu-kunftsaufgaben werden finanziell gestärkt bzw. gesi-chert. Deshalb werden die Investitionen in Forschung,Bildung und Wissenschaft Jahr für Jahr erhöht und dieInvestitionen in die Infrastruktur verstetigt.Moderne Innovationspolitik ist eine Querschnitts-und Managementaufgabe, die nur in Zusammenarbeitverschiedener Politikbereiche erfolgreich gestaltet wer-den kann. Somit gilt es, ein Klima zu schaffen, in demBildung, Wissenschaft, Forschung und Technologieneue Entfaltungsmöglichkeiten erhalten und der not-wendige Unternehmergeist gefördert wird. Der jungenGeneration wie der Gesellschaft insgesamt sollen neueWege zu aktivem Handeln, zu Innovation und Verant-wortung eröffnet werden. Nur eine ständig lernende Ge-sellschaft kann diesen Herausforderungen gerecht wer-den.Weitere wichtige Zukunftsaufgaben sind Strukturre-formen auf den Güter- und Faktormärkten, die daraufabzielen, den Wettbewerb zu stärken, Raum für privateInitiative zu öffnen und neue Wachstums- und Beschäf-tigungschancen zu erschließen. Die Bewältigung der Be-schäftigungsprobleme und die notwendigen Reformensind nur mit der Unterstützung aller gesellschaftlichenGruppen möglich. Gesellschaftlicher Dialog und sozia-ler Ausgleich sind deshalb elementare Bestandteile derwirtschaftspolitischen Gesamtkonzeption der Bundesre-gierung. Das von der Bundesregierung initiierte Bündnisfür Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeitschafft einen dauerhaften Rahmen für diesen Dialog undregt dazu an, Reformen und Beschäftigungspotenzialezu identifizieren und zu aktivieren.Die Bundesregierung ist der Überzeugung, dass einentscheidender Abbau der Arbeitslosigkeit nur im wech-selseitigen Zusammenspiel günstiger makroökonomi-scher Rahmenbedingungen und nachhaltiger Strukturre-formen zu erreichen ist. Die erfolgreiche Umsetzung ei-nes umfassenden Reformkonzepts setzt aber ein hohesMaß an sozialem Konsens voraus. Der NAP ist Teil die-ser Strategie. Er legt Rechenschaft über konkrete Politikab und verbindet nationales Handeln mit europäischerPerspektive.Danke schön.
Herzlichen Dank,
Frau Kollegin. – Ich bitte, zunächst Fragen zu dem
Themenbereich zu stellen, über den soeben berichtet
wurde. – Bitte schön.
Frau Staatssekre-
tärin, die Bundesregierung ist im Herbst 1998 mit der
Aussage angetreten, sich an der Zahl der Arbeitsplätze
messen zu lassen. Wir hatten 1998 erstmals die Zahl von
4 Millionen Arbeitslosen überschritten. Nach einem Jahr
neuer Bundesregierung wurde sie 1999 und jetzt auch
im Januar und Februar 2000 wieder überschritten. Sie
legen hier einen Aktionsplan ohne Aktion vor. Ich frage
Sie – vielleicht habe ich das überlesen oder eben bei Ih-
nen überhört –, welche konkreten Aktionen Sie vorha-
ben.
Ich frage Sie insbesondere nach dem Umgang der Bun-
desregierung mit den Vorschlägen, die die Bundesbank,
die OECD, der Sachverständigenrat und der Internatio-
nale Währungsfonds in den letzten Monaten vorgelegt
haben.
Ich frage Sie nach Strukturreformen im Bereich des
Arbeitsrechts, des Tarifrechts und des Arbeitsmarkt-
rechts. Ich habe von Ihnen dazu noch nichts gehört und
habe Ihrer Veröffentlichung vorhin nur entnehmen kön-
nen, dass etwas Bewegung in den Bereich der Arbeits-
zeit kommen soll. Ich frage in diesem Punkt nach: Ist die
Bundesregierung jetzt endlich bereit, das nachzubessern,
was bei Holzmann illegal läuft, nämlich dass zugunsten
von Arbeitsplätzen betriebliche Tarifabschlüsse zugelas-
sen werden? Sind Sie bereit, entsprechende gesetzliche
Möglichkeiten für alle Unternehmen und alle Branchen
zu schaffen?
Sind Sie ferner bereit, auch das Problem der informa-
tionstechnischen Berufe anzugehen, auf das der Bundes-
kanzler hingewiesen hat? Es liegt ja darin begründet,
dass unser Arbeitsmarkt und unsere Arbeitsvermittlung
viel zu langsam auf die schnelle Entwicklung in der
Welt reagieren. Hier sind dringend Strukturreformen
notwendig. Plant die Bundesregierung konkrete Geset-
zesvorhaben? Wenn ja: Welche können Sie hier benen-
nen?
D
Herr Kollege, wir sind zu
allen diesen Aufgaben bereit, zumal wir wissen, dass Sie
uns diese Aufgaben hinterlassen haben. Alle diese
Strukturreformen sind deshalb notwendig, weil sie in Ih-
rer Regierungszeit nicht angegangen worden sind. Auf
die Einzelheiten wird mein Kollege Gerd Andres jetzt
eingehen.
Bevor wir zu weite-
ren Fragen zu diesem Themenbereich kommen, gebe ich
dem Staatssekretär Gerd Andres das Wort.
G
Herr Präsident, ich
bitte um Verständnis dafür, dass ich angesichts des Um-
fangs der Frage des Abgeordneten Protzner mindestens
eine halbe Stunde benötigen würde, um diese umfang-
reiche Frage zu beantworten.
Ich hoffe, Sie kön-
nen sich beherrschen.
G
Ich kann mich be-herrschen. Deswegen will ich es ein bisschen zuspitzenParl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000 8501
und meine Antwort mit der Bemerkung einleiten, dassder Kollege Protzner in den letzten anderthalb Jahren of-fensichtlich im Deutschen Bundestag nicht anwesendwar.Ich will ihn zunächst daran erinnern, dass die alteBundesregierung mit der Spitzenzahl von 4,8 Millionenregistrierten Arbeitslosen in das Jahr 1998 gestartet war.Es ist uns im vergangenen Jahr gelungen, die Arbeitslo-senzahl im Jahresdurchschnitt um 180 000 abzusenken.Wenn Sie sich mit dem nationalen Aktionsplan, der demParlament zugeleitet wird, auseinander setzen, werdenSie feststellen, dass wir im Rahmen der Luxemburgerbeschäftigungspolitischen Leitlinien eine ganze Reihevon Maßnahmen auf den Weg gebracht haben, die dazugeführt haben, dass wir im Wesentlichen zwei Trendsganz entscheidend geändert haben, Herr AbgeordneterProtzner.Erstens. Die Zahl der arbeitslos registrierten Jugend-lichen unter 25 Jahren steigt nicht mehr an, sondern istdeutlich zurückgegangen, um mehr als 40 000. Zwei-tens. Die Bundesregierung hat im vergangenen JahrMaßnahmen auf den Weg gebracht – dies ist ein weite-res wichtiges beschäftigungspolitisches Ziel der Luxem-burger Leitlinien –, um den Trend des Ansteigens derLangzeitarbeitslosigkeit zu brechen und ihn umzukeh-ren.Wir gehen nach all dem, was wir auf der Grundlageder Prognosen von Sachverständigenrat und Jahreswirt-schaftsbericht wissen, davon aus, dass es uns gelingenwird, die Zahl der arbeitslos registrierten Menschen indiesem Jahr um etwa 200 000 nach unten zu entwickeln.
Möglicherweise wird diese Zahl noch übertroffen wer-den.Hinsichtlich der Frage der Umwandlung von passivenin aktive Maßnahmen hat die neue Bundesregierung einedeutliche Trendumkehr einleiten können, indem sie diearbeitsmarktpolitischen Instrumente – im Gegensatz zudem, was die Vorgängerregierung getan hat – verstetigthat. Auch dieses ist eine der beschäftigungspolitischenLeitlinien, wie Sie sicherlich wissen, Herr Protzner, umhier entsprechend agieren zu können. Sie sehen an die-sen Beispielen, dass wir schon wesentliche Schritte ein-geleitet haben, die noch weitere Früchte tragen werden.Im Übrigen darf ich Sie darauf hinweisen, dass sichdie beschäftigungspolitischen Empfehlungen der Kom-mission, über die auch meine Kollegin Hendricks ge-sprochen hat, auf die Politik der alten Bundesregierungbezogen haben, nämlich auf den nationalen Aktionsplan1998. Ich würde Ihnen raten, sich diese Empfehlungeinmal anzuschauen. Dann würden Sie möglicherweiseIhre Frage im Plenum des Deutschen Bundestages einbisschen zurückhaltender stellen.Angesichts Ihrer Frage im Zusammenhang von OECD und Weltwährungsfonds würde ich Ihnen emp-fehlen, sich einmal anzuschauen, auf welche Grundlagesich diese Berichte und Positionen beziehen.Denn es ist bemerkenswert, dass sich die Dinge, die öf-fentlich gehandelt werden, in ihrem Beurteilungszeit-raum im Wesentlichen auf das Jahr 1998 beziehen. Dasbedeutet, dass dies Wahrnehmungen und Empfehlungensind, die sich vornehmlich auf Ihre eigene Politik bezie-hen.
Weitere Fragen da-
zu?
Ich habe eine wei-
tere Frage dazu. Frau Staatssekretärin, ich habe nicht
nach Beispielen – deswegen verbitte ich mir auch die
Belehrungen von der Regierungsbank –, sondern nach
Gesetzesvorhaben gefragt.
– Ich habe gesagt, ich verbitte mir das schlicht und ein-
fach.
Ich habe nach Gesetzesvorhaben gefragt und beziehe
mich hier ausdrücklich auf die Aussage der Frau Staats-
sekretärin Hendricks, die in ihrer Ankündigung – ich zi-
tiere wörtlich – von „Strukturreformen“ gesprochen hat.
Im weiteren Verlauf ihrer Rede habe ich aber keine Vor-
schläge für Strukturreformen gefunden.
Herr Andres, auch die Beispiele, die Sie hinsichtlich
der europäischen Vereinbarungen angesprochen haben,
weisen mich nicht auf Strukturreformen hin. Ich frage
Sie daher noch einmal nach den Strukturreformen und
verweise hier ausdrücklich auf Holzmann und IT-
Berufe.
Kollegin Hendricks.
D
Zunächst einmal sind dieFragen der Strukturreform umfassender zu betrachten.Wenn ich meinen engeren Zuständigkeitsbereich sehe,muss ich darauf hinweisen: Wir haben wesentlicheStrukturreformen in der Steuerpolitik in die Wege gelei-tet, die Beschäftigungsmöglichkeiten erweitern und dieAufnahme einer Beschäftigung attraktiver machen. ZumArbeitsmarktbereich wird sich gleich mein Kollege GerdAndres äußern.Wenn Sie sich dagegen verwahren, von der Regie-rung belehrt zu werden, so kann ich dazu nur sagen, dassdie Regierung antworten kann, wie sie will. DiesesRecht steht ihr nach der Geschäftsordnung zu.
Sie darf antworten, wie sie will. Natürlich – darf sie –was völlig klar ist – nicht beleidigend werden. Abersonst darf sie antworten, wie sie will. Das müssen Siebitte zur Kenntnis nehmen.Was die IT-Berufe anbelangt, finde ich es schon er-staunlich, dass Sie gerade diesen Bereich anmahnen. DerKollege Ihrer Fraktion, der sich in den vergangenen Jah-Parl. Staatssekretär Gerd Andres
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ren Zukunftsminister genannt hat und der sich in denletzten Tagen durch eine haarsträubende Äußerung indiesem Zusammenhang hervorgetan hat, sieht offenbarnicht mehr, welche Verantwortung er dafür hat, dass inden vergangenen Jahren zu wenig Ausbildungsmöglich-keiten in den IT-Berufen bestanden haben. Er ist heutevorsichtshalber nicht anwesend, weil er sich sonst mitseinen haarsträubenden Äußerungen konfrontiert sehenmüsste. Sie sollten ein bisschen vorsichtig sein. Sie wis-sen, dass die Bundesregierung in deutscher Initiative ei-nen Dialog 21 mit der Wirtschaft verabredet hat, wonachüber die schon verabredeten 40 000 Ausbildungsmög-lichkeiten hinaus weitere 60 000 Ausbildungsmöglich-keiten vorgesehen werden. Es sind in kurzer Zeit Initia-tiven in Gang gesetzt worden, die leider durch so ge-nannte Zukunftsminister und andere Regierungsverant-wortliche in der Vergangenheit – um es vorsichtig aus-zudrücken – verschlafen worden sind. Zum Arbeitsmarktbereich wird sich jetzt mein Kolle-ge Andres äußern.
Bitte schön.
G
Herr Protzner, ich
will noch einmal ausdrücklich sagen: Wenn Sie die Fra-
ge stellen, was die Regierung praktisch getan hat, dann
müssen Sie es schon mir überlassen, Ihnen Beispiele zu
nennen, wo die Regierung praktisch gehandelt hat. Da
Sie danach fragen, was wir weiter vorhaben, werde ich
die Gelegenheit dazu ausdrücklich nutzen, um Sie um-
fassend – so weit dies im Rahmen der Befragung geht –
zu informieren, damit Sie auf einen vernünftigen Infor-
mationsstand kommen. Dies ist auch ein Anliegen dieser
Diskussion hier.
Zu der Leitlinie Nr. 1 – Bekämpfung der Jugendar-
beitslosigkeit – habe ich bereits geantwortet. Betreffend
die Leitlinie Nr. 2 – Verhütung der Langzeitarbeitslo-
sigkeit – habe ich deutlich gemacht, dass wir den Trend,
der sich unter Ihrer Regierungszeit ständig verstärkt hat,
umgedreht haben und gute Erfolge vorweisen können.
Die Leitlinie Nr. 3 setzt sich auseinander mit dem Über-
gang von passiven zu aktiven Maßnahmen. Auch dazu
habe ich Ihnen bereits einiges genannt.
Ich will als Beispiel die Leitlinie Nr. 14 herausgrei-
fen. Meine Kollegin aus dem Bundesfinanzministerium
hat bereits darauf hingewiesen: Wir haben dadurch, dass
wir in mehreren Reformschritten die Lohn- und Ein-
kommensteuer reformieren und in einem ganz großen
Paket die Unternehmensteuer verändern werden, we-
sentlich auf das reagiert, was in diesen beschäftigungs-
politischen Leitlinien enthalten ist.
Die Leitlinien Nr. 15 und Nr. 16 setzen sich mit der
Modernisierung der Arbeitsorganisation auseinander.
Frau Hendricks hat schon darauf hingewiesen, dass es
sich um eine Frage handelt, die wir im Bündnis für Ar-
beit diskutieren. Da messen wir dem Bündnis eine ganz
besondere Bedeutung zu. Ich kann Sie darauf hinweisen,
dass wir in Dialogform in entprechenden Arbeitsgrup-
pen hinsichtlich Fragen der Arbeitszeit, der Teilzeitar-
beit, aber auch der Altersteilzeit wichtige Fortschritte
erzielt haben.
Gerade heute hat das Bundeskabinett neben der Ver-
abschiedung des nationalen Aktionsplanes auch be-
schlossen, das Gesetz über die Altersteilzeit nach Ab-
sprachen im Bündnis für Arbeit erneut zu verändern.
Wie ich finde, ist das ein wichtiger strukturpolitischer
Schritt, mit dem wir entsprechend reagieren und
Schlussfolgerungen aus Empfehlungen der Kommission
ziehen.
Ich will Sie darauf aufmerksam machen, dass heute,
gerade in dieser Stunde, parteiübergreifende Gespräche
über eine umfassende Rentenreform stattfinden. Eine der
Maßgaben, nämlich die gesetzlich definierten Lohnne-
benkosten abzusenken, hat die Bundesregierung bereits
im vergangenen Jahr umgesetzt. Zum 1. Januar hat sie
sie noch einmal abgesenkt. Ich weise auch darauf hin,
dass wir zum 1. April des vergangenen Jahres die Bei-
träge zur gesetzlichen Rentenversicherung um 0,8 Pro-
zentpunkte und zum 1. Januar dieses Jahres noch einmal
um 0,2 Prozentpunkte abgesenkt haben. Binnen neun
Monaten macht das faktisch eine Absenkung von einem
ganzen Prozentpunkt aus. Sie können in den Annalen Ih-
rer Bundesregierung einmal nachschauen, wann das Ih-
nen letztmalig gelungen ist. Wir werden mit einer um-
fassenden Reform der Rentenversicherung in diesem
Jahr mit dazu beitragen, dass eine Neutarierung der Ver-
bindung zwischen Beschäftigungssystem und sozialem
Sicherungssystem stattfindet.
Ich könnte endlos weitermachen; aber ich schenke es
mir erst einmal und freue mich auf weitere Fragen von
Ihrer Seite. Ich werde immer die Gelegenheit nutzen,
das zu erläutern, was die Bundesregierung auf den Weg
bringt. Sie können das im nationalen Aktionsplan nach-
lesen. Der Bundestag berät ihn entsprechend. Wir rea-
gieren mit diesem nationalen Aktionsplan. Ich denke,
wir sind sehr erfolgreich tätig. In diesem Sinne beant-
worte ich Ihre Frage.
Herr Kollege Seifert,
bitte schön. Sie haben das Wort zu einer Frage.
Herr Staatssekretär Andres –ich gehe einmal davon aus, dass Sie antworten werden,auch wenn sich die Frage an die gesamte Regierungrichtet –, Sie sprachen vorhin davon, ein nationales Ak-tionsprogramm aufzulegen, das zielgruppenorientiertsein soll. In diesem Zusammenhang interessiert mich, obSie auch für Menschen mit Behinderungen ein entspre-chendes Eingliederungsprogramm aufgelegt haben; denndie Massenarbeitslosigkeit in diesem Bereich ist bekann-termaßen wesentlich höher als die allgemeine – die istschon schlimm genug. Mich interessiert, ob Sie in die-sem Programm entsprechende Maßnahmen anbieten oder ob Sie das alles auf die allgemeinen behindertenpo-litischen Maßnahmen verschieben. Für die Betroffenenist dies ziemlich wichtig.Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000 8503
Kollege Andres.
G
Herr Abgeordneter
Seifert, Sie haben bestimmt zur Kenntnis genommen,
dass die Bundesregierung während ihrer Präsidentschaft
insbesondere die Fragen der Behindertenpolitik zu ei-
nem zentralen Aktionsfeld gemacht hat. Wir haben dazu
während unserer Präsidentschaft eine umfangreiche
Konferenz auf europäischer Ebene durchgeführt und wir
haben auch dafür gesorgt, dass die Eingliederung von
Behinderten in den Arbeitsmarkt eines der zentralen
Themen in dieser Zeit gewesen ist.
Sie wissen, dass wir im nationalen Aktionsplan auch
Beispiele dafür aufnehmen, wie wir in diesem Beschäf-
tigungssektor agieren wollen. Sie sind darüber infor-
miert, dass wir nicht nur über eine Neukodifizierung des
Behindertenrechtes in einem so genannten Sozialgesetz-
buch IX diskutieren. Dazu haben wir uns auf Eckpunkte
geeinigt und entsprechende Verabredungen mit den
Verbänden und den Betroffenen getroffen. Darüber hin-
aus werden wir relativ kurzfristig, noch vor der Som-
merpause, Fragen der Eingliederung von Behinderten in
den Arbeitsmarkt verstärkt behandeln.
Wir bringen eine Novelle des Schwerbehindertenge-
setzes auf den Weg, mit dem das Ziel verfolgt werden
soll, binnen zwei Jahren praktisch nachvollziehbar die
Zahl der registrierten arbeitslosen Schwerbehinderten
um mindestens – ich betone: mindestens! – 50 000 abzu-
senken, also neue Beschäftigungschancen und -felder zu
eröffnen. Ich denke, das ist neben der Frage der Wieder-
eingliederung eine ganz zentrale Frage.
Ich kann Ihnen berichten, dass wir am vergangenen
Montag im Arbeits- und Sozialministerrat insbesondere
über eine Initiative der portugiesischen Präsidentschaft
diskutiert haben. Diese hat die Frage der gesellschaftli-
chen Ausgrenzung zu einem der zentralen Themen ihrer
Präsidentschaft gemacht. Auch hier spielt die Reintegra-
tion insbesondere behinderter Menschen in den Arbeits-
prozess eine entsprechende Rolle.
Ich kann darauf verweisen, dass wir die Absicht ha-
ben, den Deutschen Bundestag in diesem Jahr mit ent-
sprechenden Gesetzesinitiativen zu befassen.
Kollegin Knake-
Werner.
Ich richte meine
Frage auch gleich an den Herrn Staatssekretär. Die Frau
Staatssekretärin hat mit Blick auf die Arbeitsmarktpoli-
tik vorgetragen, dass aktive Maßnahmen Vorrang haben
sollen. Dabei hat sie erwähnt, dass die Maßnahmen mit
Blick auf Langzeitarbeitslose und Jugendarbeitslosigkeit
fortgeführt werden sollen. Ich habe keine einzige neue
Maßnahme gehört. Das halte ich aber angesichts der Ar-
beitslosenzahlen, die wir immer noch haben, für not-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine
Trendwende kann ich beim besten Willen nicht erken-
nen. Es mag sein, dass die aktuellen Arbeitslosenzahlen
einen kleinen Hoffnungsschimmer darstellen. Aber auch
das gilt bekanntermaßen nur für Westdeutschland. Wenn
sie nach Ostdeutschland sehen – das tun Sie ja; Sie ha-
ben Ostdeutschland zur Chefsache gemacht –, dann wer-
den Sie unschwer erkennen können, dass dort im
Vergleich zum Vorjahr die Arbeitslosenzahlen sogar
noch angestiegen sind. Das hat viel damit zu tun, dass es
180 000 arbeitsmarktpolitische Maßnahmen weniger
gab.
Ich frage Sie deshalb: Welche Überlegungen gibt es
im nationalen Aktionsplan ganz besonders mit Blick auf
Ostdeutschland? Das ist die erste Frage. Gibt es weitere
neue Maßnamen, die Sie sich vornehmen? In 14 Tagen
wird in Lissabon über Vollbeschäftigung diskutiert.
Mich interessiert schon, wie die Schritte hin zu dieser
Vollbeschäftigung aussehen sollen, wie immer Sie sie
definieren.
Die zweite Frage in diesem Zusammenhang betrifft
die Arbeitszeit. Sie haben erwähnt, dass die Arbeitszeit
in Bewegung kommt. Wir haben Nachbarländer, die
probieren, die Arbeitslosigkeit dadurch abzubauen, dass
sie Maßnahmen zur Arbeitszeitverkürzung vornehmen,
beispielsweise Frankreich durch die gesetzliche Einfüh-
rung der 35-Stunden-Woche. Meine Frage: Gibt es bei
der Bundesregierung Überlegungen, auch in dieser Rich-
tung aktiv zu werden, Aktionen, Gesetzesvorlagen für
den nationalen Beschäftigungsplan vorzubereiten?
Herr Staatssekretär.
G
Frau Knake-Werner, zunächst bezieht sich dieser nationale Aktions-plan auf die beschäftigungspolitischen Leitlinien vonLuxemburg. Er ist auch so aufgebaut. In meinen Ant-worten auf die Fragen von Herrn Protzner habe ichschon dargelegt, dass beispielsweise die Bekämpfungder Jugendarbeitslosigkeit und der Langzeitarbeitslosig-keit – das sind ganz wichtige Eckpfeiler dieser beschäf-tigungspolitischen Leitlinien – zentrale Eckpfeiler dieserLeitlinien sind.Ich darf Ihnen darlegen, dass wir durch Beschluss derBundesregierung das Jugendsofortprogramm für diesesJahr verlängern, und ich habe darauf hingewiesen, dasses unser Ziel ist, Jugendliche überhaupt nicht erst in dieSituation von sechs Monaten und länger Arbeitslosigkeitkommen zu lassen. Als Mitglied der Bundesregierungbin ich sehr stolz darauf, dass uns dies in einem ganzbedeutenden Umfang gelungen ist. Die Zahl der Jugend-arbeitslosen lag im Durchschnitt des vergangenen Jahresum 42 400 niedriger als im Vorjahr, sodass man hier zu-nächst einmal feststellen muss: Wir haben damit Erfolgeerreicht.Dadurch, dass wir beschlossen haben, das Jugendsofort-programm zu verlängern und in diesem Jahr fortzufüh-ren, setzen wir unsere Bemühungen, in diesem Bereichzu weiteren erkennbaren Fortschritten zu kommen, fort.Zur Leitlinie Nr. 2, Langzeitarbeitslosigkeit. Sie ha-ben gesagt, Sie könnten da keine Anstrengungen fest-
Metadaten/Kopzeile:
8504 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000
stellen. Hier ist es ebenfalls so, dass wir durch die Ge-setzespakete, die wir mit Wirkung zum 1. August desvergangenen Jahres in Kraft gesetzt haben, Bedingungenverändert haben, die auch für die neuen Bundesländerganz bedeutend und ganz wichtig sind. Ich kann Ihnensagen: Wir werden in diesem Jahr mit entsprechendenVeränderungen des SGB III unsere Aktivitäten in die-sem Zusammenhang weiter vorantreiben und verbes-sern.Dass wir einen zwischen den neuen Bundesländernund den alten Bundesländern gespaltenen Arbeitsmarkthaben, ist bekannt. Hier spielen natürlich auch die ge-samtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die Situ-ation für die neuen Bundesländer eine entsprechendeRolle. Wir müssen schauen, dass wir diese gespalteneSituation durch die Verstärkung des Wirtschaftswachs-tums in diesem Jahr ein Stück weit abmildern können.Aber es bleibt Tatbestand, dass in den neuen Bundeslän-dern beschäftigungspolitisch noch kräftige Nachholbe-darfe bestehen, die man nicht dadurch beseitigen kann,dass man bekannte Instrumente einfach konserviert.Man muss überlegen, welche Möglichkeiten es gibt, bei-spielsweise die Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpo-litik effizienter einzusetzen. Dem werden wir uns in die-sem Jahr widmen.Ihre Frage zum Thema Arbeitszeit ist, würde ich fastvermuten, davon geprägt, dass Sie auf Frankreich an-spielen. Hier hat es beispielsweise die Maßnahme gege-ben, durch Gesetzgebung Wochenarbeitszeiten zu ver-ändern. Sie wissen, dass wir ein anderes System haben.Bei uns gibt es Gott sei Dank Tarifautonomie. Es gibtseit vielen Jahren in unterschiedlichen TarifbereichenBemühungen, zu einer 35-Stunden-Woche zu kommen.Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass die Wei-terentwicklung dieses Pfades Angelegenheit der Tarif-vertragsparteien ist. Alles, was mit neuen Arbeitszeit-modellen zusammenhängt, wird im Bündnis für Arbeitdiskutiert, und zwar mit der Grundüberlegung, nachMöglichkeit in einem Konsens zu gemeinsamen Positio-nen zu kommen, die auch zu einer Modernisierung desArbeitslebens in arbeitszeitpolitischer Hinsicht führenkönnen.Wir befinden uns in einer intensiven Diskussion überandere Modelle und Formen von Teilzeitarbeit. Es gibtGespräche darüber, wie die gesamtgesellschaftlich fest-zustellende Mehrarbeit durch freiwillige Vereinbarun-gen und Absprachen reduziert werden kann. Wir sehenauch, dass es in diesem Zusammenhang Möglichkeitengibt, den Aufbau von Beschäftigung über solche Maß-nahmen zu erreichen.
Eine Nachfrage.
Herr Staatssekre-
tär, eine kurze Nachfrage. Ich habe gesagt, dass Sie Ihre
Maßnahmen zur Verringerung der Jugendarbeitslosig-
keit und der Langzeitarbeitslosigkeit zu Recht fortset-
zen. Meine Frage war: Wo sind die neuen Maßnahmen?
Denn mein Eindruck ist, dass das nicht ausreicht. Ich
habe ganz bewusst Ostdeutschland angeführt. Da geht es
mir nicht um die Konservierung traditioneller Maßnah-
men. Ich bin sehr dafür, dass auch dort zielgenauer ge-
arbeitet wird, aber ich wüsste gerne, wie. Gibt es Vor-
schläge zu neuen Maßnahmen, die Sie bereits in Ihre
Überlegungen und Vorbereitungen aufgenommen ha-
ben? Das ist das eine.
Das Zweite. Ich habe Frankreich genannt. Auch ich
bin, wie Sie, eine Anhängerin der Tarifautonomie; das
wissen Sie auch. Meine Frage ist trotzdem: Finden Sie
nicht ein Arbeitszeitgesetz, wie wir es zurzeit haben, das
die 60-Stunden-Woche ermöglicht, kontraproduktiv,
wenn man Beschäftigung schaffen und Arbeitslosigkeit
abbauen will?
Herr Staatssekretär.
G
Ich will zunächsteinmal sagen, dass es uns ganz entscheidend darauf an-kommt, den Konsolidierungs- und Verstetigungspfad,den wir eingeschlagen haben, auch fortzusetzen.Ich nenne ein weiteres Beispiel: Im vergangenen Jahrhaben wir trotz der Einsparungsbemühungen auch beimBundeszuschuss die finanziellen Mittel für die aktiveArbeitsmarktpolitik um fünfeinhalb Milliarden DM er-höht. Wir haben das im Haushalt der Bundesanstalt fürArbeit durch entsprechende Maßnahmen auch realisie-ren können. Im Haushalt der Bundesanstalt haben wirfür dieses Jahr noch einmal eineinhalb Milliarden DMfür die aktive Arbeitsmarktpolitik im weitesten Sinnedazugelegt. Ich beziehe mich damit auf eine Aussage imRahmen Ihrer vorangegangenen Frage, in der Sie gesagthaben, wir hätten die Mittel gekürzt. Das ist auf Bundes-ebene nicht festzustellen; das möchte ich einmal festhal-ten. Es geht also darum, zu verstetigen und entsprechen-de Positionen zu entwickeln. Angesichts Ihrer Frage, was es denn Neues gebe, ha-be ich darauf hingewiesen, dass wir die Absicht haben,im Bereich der Arbeitsmarktpolitik entsprechende Ver-änderungen – auch durch weitere Anpassungen desSGB III – vorzunehmen. Ich finde, es macht Sinn, sichdie Veränderungen, die sich aus einer Maßnahme erge-ben, die wir zum 1. August des vergangenen Jahres voll-zogen haben und bei der es darum ging, insbesonderedie Zielgruppe der älteren Arbeitslosen und Langzeitar-beitslosen durch veränderte Bedingungen stärker in dieBeschäftigung einzubeziehen, genauer anzuschauen unddiese Position zu verstetigen. Es geht nicht darum, ir-gendetwas Neues zu erfinden, sondern Kurs zu halten. Im Übrigen gehört zum Thema Beschäftigungspolitikauch, die ansonsten bestehenden Rahmenbedingungenund Positionen im Auge zu behalten. Dazu gehörtWachstum. Dazu gehören entsprechende Reformen imBereich der Sozialpolitik. Dazu gehören entsprechendesteuerpolitische Maßnahmen auch für Unternehmen, diewir angehen werden und die dazu führen werden, dasssich nach unserer Überzeugung die Beschäftigungssitua-tion deutlich verbessert. Parl. Staatssekretär Gerd Andres
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000 8505
Als Letztes möchte ich dazu feststellen: Wir legenWert darauf, im Bündnis für Arbeit im Konsens zu ge-meinsamen Positionen zu kommen. Wenn dies nichtmöglich sein sollte, dann sind der Gesetzgeber und dieBundesregierung selbstverständlich aufgefordert zuhandeln. In einem solchen zeitlichen Zusammenhangsehen wir auch Diskussionen hinsichtlich des Arbeits-zeitgesetzes oder anderer Positionen. Ich habe soebendargelegt, dass gemäß dem heutigen Kabinettsbeschlussdas Altersteilzeitgesetz noch verbessert wird: Die Be-zugsdauer wird verlängert und der Geltungsbereich desGesetzes ausgedehnt, um auch über diese Instrumentebeschäftigungspolitische Wirkungen erreichen zu kön-nen. – Das Bündnis für Arbeit ist also zunächst auf Kon-sens angelegt. Wenn ein solcher nicht zu erzielen seinsollte, dann stehen möglicherweise gesetzgeberischeVeränderungen an. Das bezieht sich ausdrücklich auchauf die Frage des Arbeitszeitgesetzes.
Ich möchte jetzt dem
Kollegen Meckelburg Gelegenheit zu einer Frage geben.
Herr Staats-
sekretär, Sie haben eine ganze Reihe von Maßnahmen,
die Sie durchgeführt haben, dargelegt und festgestellt,
der Rückgang der Zahl der Arbeitslosen um 180 000 ha-
be innerhalb eines Jahres stattgefunden. Ich will über
diese Zahl nicht streiten, will aber gleichzeitig dagegen-
halten, dass wir von der Bundesanstalt für Arbeit in
Nürnberg wissen – dies wurde ihrerseits angekündigt –,
dass im letzten und in diesem Jahr und in den kommen-
den Jahren die Zahl der Arbeitslosen allein deswegen
jährlich um 200 000 zurückgehen wird, weil weniger
junge Menschen Arbeit nachfragen, als ältere Menschen
aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Das heißt, dass,
wenn man sich die Zahlen ansieht, im Grunde genom-
men nichts passiert ist, um es einmal einfach auszudrü-
cken.
Deswegen habe ich an Sie die Frage, ob Sie im Zu-
sammenhang des Programms, das Sie aufgelegt haben,
über eine beschäftigungspolitische Leitlinie nachgedacht
haben, die dazu führen könnte, alle Programme danach
zu durchforsten, wie effektiv sie bei der Verfolgung des
Zieles, junge Menschen in den ersten Arbeitsmarkt zu
bringen, wirklich sind. Wenn während Ihrer Re-
gierungszeit 46 Milliarden DM – das ist mehr als vor-
her – ausgegeben werden, man aber feststellt, die Ar-
beitslosigkeit geht bis auf das, was auf demographische
Effekte zurückzuführen ist, nicht zurück, dann besteht
hier, so finde ich, eine dringliche Aufgabe. Können Sie
sich vorstellen, auch in diesem Bereich tätig zu werden?
Herr Staatssekretär.
G
Herr Meckelburg,
ich drehe es einmal herum: Wenn man der Position, aus
demographischen Gründen erledige sich das Problem
der Arbeitslosigkeit von selbst, folgen würde, müsste
man eigentlich nichts tun. Ich will dazu ausdrücklich
feststellen – ich habe dazu schon einige Beispiele ge-
nannt –: In Ihrer Regierungszeit ist von 1993 an Jahr für
Jahr die Zahl der registrierten arbeitslosen jungen Men-
schen, die unter 25 Jahre alt sind, angestiegen. Wir ha-
ben uns vorgenommen, diesen Trend zu brechen und ei-
ne gegenteilige Entwicklung einzuleiten. Wir haben das
im vergangenen Jahr geschafft und wir werden diese Po-
litik fortsetzen. Da lassen wir uns von niemandem beir-
ren.
Die gleiche Situation besteht leider bei der Zahl der
Langzeitarbeitlosen. Ich empfehle Ihnen einen Blick in
die Statistiken, aber Sie wissen es selbst: Seit 1993 ist
die Zahl der registrierten Langzeitarbeitslosen, also de-
rer, die ein Jahr und länger arbeitslos sind, Jahr für Jahr
angestiegen. Wir haben uns vorgenommen, diesen Trend
zu brechen und umzukehren. Auch darin lassen wir uns
nicht beirren.
Im Übrigen glauben wir, dass es Sinn macht, die Leu-
te eher bei Beschäftigung und Qualifizierung zu unter-
stützen, als ihnen in der Zeit der Arbeitslosigkeit Hilfe
leisten zu müssen. Deswegen war es Ziel der Bundesre-
gierung – dieses haben wir umgesetzt –, eine Versteti-
gung der aktiven und nicht der passiven Maßnahmen zu
erreichen. Dies ist auch Inhalt einer unserer be-
schäftigungspolitischen Leitlinien, die in Luxemburg
entwickelt und verabschiedet worden sind. Wir setzen
diesen Trend fort und sind ganz optimistisch, dass es uns
gelingen wird, die Zahl der Langzeitarbeitslosen deut-
lich zu senken und bei der Beschäftigungsentwicklung
Fortschritte zu erzielen.
Ich will noch zu einem Punkt kommen, weil Sie ihn
angesprochen haben: Sie wissen sehr genau, dass ein
großer Teil der 46 Milliarden DM, die für aktive Be-
schäftigungspolitik ausgegeben werden, für die Qualifi-
zierung verwandt wird. Wir halten es nämlich für wich-
tig und bedeutsam, dass neben der Zielsetzung, die
Menschen so schnell wie möglich in den ersten Ar-
beitsmarkt zu bringen, auch etwas dafür getan werden
muss, die Qualifikation der Arbeitslosen zu erhalten.
Das ist einer der Grundpfeiler der beschäftigungspoliti-
schen Leitlinien, nämlich die Förderung der Beschäfti-
gungsbefähigung. Daran arbeiten wir. Deswegen sind
wir der Auffassung, dass das, was wir mit dem nationa-
len Aktionsplan vorlegen, vernünftig und richtig ist.
Diesen werden wir in den nächsten Jahren umsetzen.
Den Kollegen
Koppelin drängt es, eine Frage zu stellen, weil er in den
Haushaltsausschuss muss. Ich bitte darum, ihm die Ge-
legenheit zu geben, seine Frage zu stellen, die einen an-
deren Themenbereich berühren wird.
Vielen Dank, Herr Prä-sident. Ich hätte ganz gerne von der Bundesregierung ge-wusst, ob die Entscheidung der interministeriellen Ar-beitsgruppe, eine Hermesbürgschaft für ein neues Atomkraftwerk in China zu geben, heute im Kabinetteine Rolle gespielt hat, nachdem wir von der EmpörungParl. Staatssekretär Gerd Andres
Metadaten/Kopzeile:
8506 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000
der Grünen-Fraktion gelesen haben und das Außenmi-nisterium der Hermesbürgschaft für ein neues Atom-kraftwerk in China zugestimmt hat? Oder gibt es dazunoch Diskussionen innerhalb der Koalition?
Frau Hendricks.
D
Herr Kollege Koppelin,
das hat heute im Kabinett keine Rolle gespielt.
Sie haben eine Nach-
frage? – Bitte.
Ich stelle also fest, dass
es im Kabinett vonseiten der grünen Minister keinen
Protest gegen diese Hermesbürgschaft gegeben hat. Ist
das korrekt?
D
Herr Kollege Koppelin,
Protest ist nicht die übliche Ausdrucksweise im Kabi-
nett.
Ich sage es noch einmal: Das hat im Kabinett keine
Rolle gespielt.
Damit kehren wir zu
dem ursprünglichen Themenbereich zurück. Kollege
Michelbach hat noch eine Frage. Er ist der letzte ange-
meldete Fragesteller. Danach gehen wir zur Fragestunde
über.
Ich habe aus aktuel-
lem Anlass noch eine Frage an die Bundesregierung:
Inwieweit wird durch die steuerpolitische Begünstigung
der Großbetriebe durch die Steuervorschläge der Bun-
desregierung ein Verdrängungswettbewerb und eine Un-
ternehmenskonzentration zulasten kleiner und mittlerer
Unternehmen gezielt gefördert? Inwieweit leistet die
Steuerfreiheit von Gewinnen, die Kapitalgesellschaften
aufgrund des Unternehmensteuersenkungsgesetzes er-
zielen, einen Beitrag zum Konzentrationsprozess im
Banken- und Versicherungswesen? Ich spreche insbe-
sondere die aktuelle Megafusion von Dresdner Bank und
Deutscher Bank an, aber natürlich generell die großen
Kapitalgesellschaften. Ist diese Annahme nicht gleich-
zeitig ein Beweis dafür, dass andere Firmen den Über-
nahmeverlust, der dann ausgeschlossen wird, jetzt noch
kurzfristig nutzen? Inwieweit sind mit diesen Steuer-
geschenken Einnahmeausfälle im aktuellen Haushalt
verbunden?
Bitte, Frau
Hendricks.
D
Herr Präsident, ich bitte
zunächst um einen Hinweis gemäß der Geschäftsord-
nung: Die Frage, die Herr Michelbach jetzt im Rahmen
der Regierungsbefragung gestellt hat, hat er in fast glei-
cher Weise als Frage 30 in der anschließenden Frage-
stunde eingereicht.
Ich möchte Sie bitten, zu entscheiden, wann ich die Fra-
ge beantworten soll.
Frau Kollegin, ich
schaue einmal nicht in die Geschäftsordnung, sondern
sage aus Kollegialität: Geben Sie die Antwort jetzt, dann
können wir sie uns hinterher sparen.
D
Herzlichen Dank, Herr
Präsident.
Nach dem Entwurf des Steuersenkungsgesetzes sind
Gewinne, die Kapitalgesellschaften erzielen, grundsätz-
lich natürlich steuerpflichtig, Herr Kollege. Der Gesetz-
entwurf sieht allerdings vor, dass Gewinne aus der Ver-
äußerung von in- oder ausländischen Beteiligungen an
Kapitalgesellschaften durch Kapitalgesellschaften steu-
erfrei gestellt werden. Die Maßnahme steht im Zusam-
menhang mit der Umstellung vom körperschaftssteuerli-
chen Vollanrechnungsverfahren auf das Halbeinkünfte-
verfahren. Sie dehnt den Regelungsbereich einer in der
vorletzten Legislaturperiode, also unter Ihrer Verantwor-
tung, für ausländische Kapitalbeteiligungen geschaffe-
nen Regelung auf alle Beteiligungen aus.
Die Steuerfreiheit der Veräußerungsgewinne beseitigt
bisherige steuerliche Hemmnisse bei der Umstrukturie-
rung von Unternehmensbeteiligungen. Von einer kon-
zentrationsfördernden Wirkung kann nicht ausgegangen
werden. Die Maßnahme führt vielmehr zu einer an be-
triebswirtschaftlichen Kriterien orientierten Beteili-
gungspolitik der Unternehmen.
Bitte schön, eine
Nachfrage.
Vielen Dank für dieMöglichkeit der Nachfrage. Ich habe meine Frage ausaktuellem Anlass gestellt und bitte darum, die aktuelleSituation nicht nur bei der Dresdner Bank und der Deut-schen Bank, sondern auch bei BMW und Rover zu se-hen. Inwieweit und in welcher Größenordnung führt derVerkauf der Beteiligung an der Firma Rover durchBMW, wenn er noch in diesem Jahr stattfindet, zu steu-erlichen Mindereinnahmen und damit zu Verlusten imHaushalt? Mit dem Unternehmensteuersenkungsgesetzwird die Übernahme von Verlusten bei Kapitalgesell-schaften ja ausgeschlossen.Jürgen Koppelin
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000 8507
D
Herr Kollege Michelbach,
es ist Ihnen natürlich bekannt, dass ich zu steuerlichen
Einzelfällen keine Stellung nehmen kann, sofern diese
nicht sowieso öffentlich bekannt sind. Insofern muss ich
meine Antwort einschränken.
Kommen wir zunächst zu dem, was auch der Öffent-
lichkeit bekannt geworden ist, nämlich zum Zusammen-
schluss von Deutscher Bank und Dresdner Bank. Wie
wir von den Beteiligten gehört haben, ist dies ein Zu-
sammenschluss unter Gleichen. Ich gehe nicht davon
aus, dass damit Verluste verbunden sind. Das ist mein
aktueller Kenntnisstand. Die steuerlichen Tatbestände
im Einzelnen kann ich natürlich nicht beurteilen, aber es
deutet alles darauf hin, dass diese Vereinigung nicht
damit verbunden sein wird, dass Verluste geltend ge-
macht werden können. Das kann ich nur aufgrund des-
sen sagen, was öffentlich bekannt ist.
Was BMW und Rover anbelangt, ist öffentlich be-
kannt, dass in den vergangenen Jahren, seit BMW Rover
als Beteiligung gehalten hat, regelmäßig allein durch
den Besitz der Beteiligung erhebliche Verluste zu ver-
zeichnen waren, und zwar dadurch, dass Rover Verluste
gemacht hat. Die Verluste – ich nenne Ihnen diese Zah-
len, die aus öffentlichen Quellen wie den Bilanzpresse-
konferenzen des Unternehmens stammen, aus dem Ge-
dächtnis – bewegen sich in den vergangenen drei Jahren
in einer Größenordnung zwischen 1,8 und 2,4 Milliar-
den DM. Das sind die Zahlen, die ich im Kopf habe.
Diese Verluste jedenfalls sind im Rahmen der gesetzli-
chen Möglichkeiten steuerlich geltend gemacht worden.
Es liegt jedenfalls auf der Hand, dass das Unternehmen
dies getan hat. Ich zitiere nicht aus den Steuerakten, aber
es ist zu erwarten, dass das Unternehmen diese Verluste
im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten steuerlich
geltend gemacht hat.
Sollten durch die Veräußerung der Beteiligung an
Rover Verluste anfallen, so würden diese in der Tat in
diesem Jahr im Rahmen der noch bestehenden gesetzli-
chen Möglichkeiten durch das Unternehmen geltend
gemacht werden können.
Es ist aber in diesem Zusammenhang darauf hinzu-
weisen, dass es für das Steueraufkommen nur eine mar-
ginale Bedeutung hat, ob Verluste aus laufendem Ge-
schäftsbetrieb oder aus Veräußerung geltend gemacht
werden. Wenn sie sich in etwa gleicher Höhe bewegen,
ist es für das Steueraufkommen völlig gleichgültig. Das
liegt auf der Hand.
Ich kann nicht beurteilen, ob die Verluste, die durch
die Veräußerung der Anteile an Rover entstehen, die
möglicherweise vorgenommen wird – es handelt sich
bisher nur um ein Gerücht –, tatsächlich höher sein wer-
den als die Verluste aus dem laufenden Betrieb in den
vergangenen Jahren.
Herr Michelbach,
noch eine Frage.
Frau Staatssekretä-
rin, sehen Sie nicht die Situation, dass bei der Megafusi-
on von Dresdner Bank und Deutscher Bank in Verbin-
dung mit der Allianz erhebliche Kapitalbeteiligungen
steuerfrei, also gewissermaßen als Steuergeschenk zu-
lasten des Fiskus, restrukturiert werden und damit letz-
ten Endes auch eine Einseitigkeit gegenüber den Wett-
bewerbern entsteht, die diese Steuerfreiheit nicht errei-
chen, insbesondere Personengesellschaften?
D
Herr Kollege Michelbach,
die Steuerfreiheit bei der Veräußerung von Beteili-
gungsbesitz scheint offenbar für die Deutsche Bank und
die Dresdner Bank nicht von Relevanz zu sein; denn die
beiden Unternehmen haben angekündigt, ihre Fusion
zum 1. Juli dieses Jahres, also unter der Herrschaft des
geltenden alten Rechts, zu vollziehen. Wenn die Steuer-
freiheit für sie so bedeutsam wäre, hätten sie sie ein Jahr
später gemacht. Sie tun es nicht, also kann die Steuer-
freiheit für sie nicht von solcher Relevanz sein.
Damit beende ich
die Befragung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Fragestunde
– Drucksache 14/2877 –
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit. Ich rufe die erste Frage des Abgeordneten
Dirk Niebel auf:
Inwieweit hat die Bundesregierung vorgesehen, im Fall des Ausstiegs aus der Kernenergie bei abgeschalteten Atomanlagen die Entwicklung von Technologien zu deren Rückbau, Entsor-gung und Endlagerung zu fördern und gegebenenfalls in wel-chem Umfang?
Sie wird von Staatssekretär Rainer Baake beantwor-
tet.
R
Rede von: Unbekanntinfo_outline
HerrAbgeordneter Niebel, national und international liegeninzwischen ausreichende Erfahrungen mit der Stillle-gung und dem Abbau von Atomkraftwerken vor. Alleinin Deutschland erfolgt gegenwärtig der Rückbau von 16Atomkraftwerken. Von diesen 16 Projekten sind inzwi-schen zwei abgeschlossen. Dazu kommt der Rückbauvon 30 Forschungsreaktoren. Davon ist der Rückbauvon acht Anlagen inzwischen abgeschlossen.Die Bundesregierung hat eine systematische Zusam-menstellung und Analyse aller Aspekte und Erfahrungender Stilllegung von Reaktoranlagen vorgenommen. Ent-scheidende Elemente sind hierbei der Strahlenschutz beider Demontage, die Handhabung und Entsorgung deraktivierten und kontaminierten Komponenten, Ausrüs-tungen und Bauwerke sowie die Behandlung und Lage-rung von radioaktiven Abfällen.
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8508 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000
Für die Praxis sind ferner die Freigabe und Freimes-sung nicht belasteter Abfallmengen von Bedeutung.Weiterhin sind Kriterien für Recycling und Freigabe vonBauwerken und Standortflächen, die auf internationalabgestimmten Empfehlungen beruhen, von großer prak-tischer Bedeutung.Der Abbau von Atomkraftwerken ist zwar eine tech-nisch anspruchsvolle Aufgabe, die erforderlichen Ver-fahren und Techniken sind aber heute erprobt und insge-samt am Markt verfügbar. Weitere Entwicklungen undAnpassungen werden laufend betreiberseitig vorge-nommen.Die Bundesregierung sieht daher vor diesem Hinter-grund bei der Stilllegung von Reaktoranlagen derzeitgrundsätzlich keinen zusätzlichen Förderungsbedarf. Ichwill der Vollständigkeit halber erwähnen, dass das Mi-nisterium für Bildung und Forschung in begrenztemUmfang ausgewählte Entwicklungsvorhaben im Bereichfortgeschrittener Zerlegungstechniken sowie leistungs-fähiger Freimessungstechniken unterstützt.Gegenwärtig werden von der Bundesregierung imRahmen der Ressortaufgaben vom Bundesministeriumfür Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und vomBundesministerium für Wirtschaft und Technologie fürForschungs- und Entwicklungsvorhaben auf dem Gebietder Entsorgung und Endlagerung von radioaktiven Ab-fällen Mittel in Höhe von circa 55 Millionen DM proJahr bereitgestellt.
Sind Sie zufrieden,
Herr Kollege? – Das ist schön.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bun-
deskanzleramtes. Ich rufe die Frage 2 des Abgeordneten
Fink auf:
Trifft es zu, dass – wie Pressemitteilungen zu entnehmen war – die Zuwendungen des Bundes an die Stiftung für das sor-bische Volk bis 2003 von 16 Millionen DM auf 14 Millionen DM reduziert werden sollen, und wenn ja, welche konzeptionel-len Vorstellungen hat die Bundesregierung, um die Weiterfüh-rung der Arbeit der Stiftung im künstlerischen und kulturellen Bereich gemeinsam mit den Ländern zu sichern?
Zur Beantwortung steht Staatsminister Michael
Naumann zur Verfügung.
D
Herr Abgeordneter, für den Zeitraum vom
Jahr 2000 bis zum Jahr 2003 hat die Bundesregierung
folgende Gesamtbundeszuschüsse zur Förderung der
Stiftung für das sorbische Volk in Bautzen zur Verfü-
gung gestellt bzw. vorgesehen: Im Jahr 2000 16 Millio-
nen DM, 2001 15 Millionen DM, 2002 14,5 Millio-
nen DM und 2003 14 Millionen DM. Für den Zeitraum
von 2004 bis 2007 werden derzeit von uns Zuschüsse für
die Sorbenstiftung in Höhe von jährlich 14 Millio-
nen DM eingestellt.
Die bis 2007 insofern gesicherte Bundesförderung
macht strukturelle und organisatorische Änderungen in
der Kulturarbeit der Stiftung für das sorbische Volk,
aber auch für die von ihr mitfinanzierten kulturellen Ein-
richtungen notwendig. Diese Änderungen sind bei der
Sitzung des Stiftungsrates der Stiftung am 1. März 2000
bereits andiskutiert worden. Der Stiftungsrat hat dabei
beschlossen, die Stiftungskommission zu beauftragen,
die notwendigen organisatorischen und strukturellen
Veränderungen, die mit dieser Absenkung notwendig
werden, beschleunigt zu prüfen, Umsetzungsmodelle zu
erarbeiten und abschließende Vorschläge für die baldige
Umsetzung vorzulegen. Der Stiftungsrat wird, soweit
ich weiß, am 31. Mai 2000 diese Vorschläge überprüfen.
Herr Kollege Fink,
Sie haben Gelegenheit zur Nachfrage.
Sehen Sie trotzdem noch
eine Möglichkeit, die Förderung nicht zu reduzieren,
sondern in gleicher Höhe fortzusetzen? Sie wissen ja,
dass das sorbische Volk in dem weiteren Erhalt seiner
Kultur und Sprache, das heißt auch Theater- und Ver-
lagsarbeit, auf diese entsprechende Zuwendung ange-
wiesen ist.
D
Herr Abgeordneter, die Sorben mit einer ge-
schätzten Gesamtzahl von etwa 60 000 Menschen wer-
den nicht nur vom Bund, sondern auch von den Ländern
komplementär finanziert, sodass für diese zahlenmäßig
kleine Gruppe nach den Kürzungsprozessen für die kul-
turelle Förderung eine Gesamtsumme von sage und
schreibe 28 Millionen DM zur Verfügung steht. Das ent-
spricht pro Kopf – ich habe mir das einmal ausgerech-
net – ungefähr der Förderungssumme für die irische Be-
völkerung aus den Kassen der EU. Mit anderen Worten:
Ich bin der Meinung – ich glaube, auch die Stiftung
selbst ist dieser Meinung –, dass diese Summe durchaus
angemessen, um nicht zu sagen großzügig ist.
Herr Kollege Seifert
hat noch eine Nachfrage. Ist das korrekt?
– Bitte schön, Herr Fink.
Der Vergleich ist durchaus
berechtigt. Es besteht jedoch der Unterschied, dass die
sorbische Kultur und damit auch ein Stück gewisser
Traditionen in Deutschland mehr und mehr zurückgeht.
Dies nehmen wir wissentlich in Kauf. Halten Sie es
nicht doch für notwendig, dass es aus diesem Grund eine
ganz bestimmte Aufmerksamkeit und Förderung dieser
Tradition in Deutschland, unabhängig von allen mögli-
chen Vergleichen mit anderen Nationen, geben müsste?
D
Herr Abgeordneter, keiner würde mehr be-dauern als ich, wenn irgendeine besondere – in diesemFall ja auch uralte – Sprache der deutschen Sprachge-meinschaft verloren ginge bzw. unterginge. Es liegt ander Stiftung selbst, dafür zu sorgen, dass die bisherigeRainer Baake
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000 8509
Sprachförderung – wenn Sie so wollen – erfolgreicherist. Wir beobachten den Rückgang von Minderheiten-sprachen unter dem Ansturm der Massenmedien, vor al-lem durch die Wirkung des Fernsehens, auch auf ande-ren ähnlichen Sprachinseln. In Connemara in Irland et-wa – deshalb habe ich dieses Beispiel herangezogen –,befindet sich das Gälische massiv auf dem Rückzug.Dabei ist darauf hinzuweisen, dass diese Sprache im vo-rigen Jahrhundert praktisch schon ausgestorben gewesenwäre, wenn nicht ein in Irland berühmter deutscherGrammatiker um Jahr 1870 eine Grammatik des Gäli-schen verfasst hätte. Das heißt: Man darf bei dem Aufund Ab der Sprachen die Hoffnung nie verlieren.
Kollege Seifert, Sie
können eine Nachfrage stellen.
Herr Präsident, vielen Dank
für die Möglichkeit zur Nachfrage.
Herr Staatsminister, ich bin sehr erstaunt über die
Langmut und Geduld meines Kollegen Professor Fink,
denn ich muss sagen, Sie wissen so gut wie ich, dass in
Bautzen und Umgebung die Luft angesichts der Kür-
zungen, die dort ins Haus stehen, lichterloh brennt. Die
sorbische Bevölkerung und insbesondere die Intellektu-
ellen dort wissen, dass die Mittel aufgrund der Kürzun-
gen, die Sie jetzt über fast 10 Jahre vornehmen – Sie
rechnen das durch die Komplementärfinanzierung der
Länder auf 28 Millionen DM hoch –, die Mittel keines-
falls ausreichen.
Sie wissen genauso gut wie ich, dass es in dieser Zeit
natürlich Lohnsteigerungen und Ähnliches gibt. Mit ei-
nem gekürzten Etat können die Aufgaben, die dort be-
wältigt werden müssen, nicht bewältigt werden. Insofern
halte ich die Antwort, die Sie hier gegeben haben, in
höchstem Maße für nicht erfreulich.
Wir haben eine gesamtgesellschaftliche Verantwor-
tung. Darauf richtet sich meine Frage: Wie wollen Sie
dieser gesamtgesellschaftlichen Verantwortung des
deutschen Volkes für das kleine, aber wichtige sorbische
Volk nachkommen, wenn Sie die Gelder für dieses Volk
weiter kürzen?
D
Herr Abgeordneter, erstens sollten Sie nicht
den Eindruck mitnehmen, dass hier eine gewisse Non-
chalance gegenüber der Wichtigkeit der kulturellen För-
derung der Sorben und Wenden bei der Bundesregierung
existiere. Das ist nicht der Fall.
Zweitens wissen Sie aber so gut wie ich, dass die
Förderungspraxis in der Vergangenheit, das heißt zu
Zeiten der DDR, was die Sorben oder, wenn Sie so wol-
len das slawisch repräsentative Volk in dem Gebiet der
DDR anbelangte, auch hochpolitische Untertöne hatte.
Diese Untertöne herrschen Gott sei Dank nicht mehr
vor. Das heißt, wir sind heute in der Lage, eine vor al-
lem kulturell und weniger politisch motivierte Sprach-
und Kulturförderung im Interesse der Sorben und Wen-
den aufrechtzuerhalten.
Vor diesem Hintergrund möchte ich darauf hinwei-
sen, dass es noch andere Sprachgruppen in Deutschland
gibt, wie zum Beispiel die Friesen. Sie erhalten bei der
Pflege ihrer Sprache, die nicht minder alt ist und mit
Verlaub in diesem Hause ebenso wenig verstanden wer-
den würde wie das Sorbische, im Augenblick vom
Bund, soweit ich es sehe, überhaupt keine nennenswerte
Unterstützung. Das sind etwa 10 000 bis 12 000 Men-
schen, das heißt ein knappes Fünftel der Anzahl der
Sorben und Wenden, die auf 28 Millionen DM blicken
können.
– Bei den Bayern weiß ich, dass ihre Sprache beim
„Bayernkurier“ gut aufgehoben wird. Dort wird gutes
Deutsch geschrieben.
– Viele Grüße an Herrn Scharnagl.
Herzlichen Dank. –
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministe-
riums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen. Die Fra-
gen 3 bis 9 werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Bildung und Forschung. Ich rufe die
Frage 10 des Kollegen Joachim Schmidt auf:
Welchen Stellenwert misst die Bundesregierung Eigenleis-tungen der Regionen im Rahmen der Inno-Regio-Vorhaben bei, und was versteht sie unter Eigenleistung?
Die Antwort gibt der Parlamentarische Staatssekretär
Wolf-Michael Catenhusen.
W
Kol-lege Schmidt. Hauptkriterien für die Auswahl der regio-nalen Innovationskonzepte zur Förderung in der Phase 3von Inno-Regio werden ihre Beiträge zur Verbesserungder Beschäftigungssituation, der Wettbewerbsfähigkeitund der Wertschöpfung der Region sein. Dabei geht esnicht darum, einmalige Effekte in Bezug auf diese dreiPunkte zu erzielen. Es ist vielmehr unsere Intention,dass selbsttragende Strukturen und Prozesse in den Re-gionen angestoßen und etabliert werden, die ihre Inno-vationsfähigkeit auch dauerhaft verbessern.Um dieses Ziel erreichen zu können, muss ein hohesMaß an Engagement der regionalen Akteure auch län-gerfristig gesichert werden. Dies trifft sowohl für die Si-cherung der personellen und materiellen Voraussetzun-gen zur Umsetzung des Konzeptes als auch für die früh-zeitige Bereitstellung komplementärer privater finanziel-ler Mittel zu. Deshalb hat die Eigenleistung der Region bzw. ihrerAkteure einen hohen Stellenwert bei der Bewertung derStaatsminister Dr. Michael Naumann
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8510 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000
Inno-Regio-Konzepte. Sie kann zum einen im unentgelt-lichen Zurverfügungstellen der notwendigen Infrastruk-tur oder des erforderlichen Personals bestehen. Zum an-deren muss aber insbesondere für die wirtschaftlich re-levanten Projekte ein finanzieller Eigenanteil der An-tragsteller gesichert werden. Die Mindesthöhe des Ei-genanteils richtet sich natürlich nach der Art des jewei-ligen Einzelvorhabens.
Kollege Schmidt,
bitte.
Dr.-Ing. Joachim Schmidt (CDU/
CSU): Herr Staatssekretär, präferiert die Bundesregie-
rung bestimmte Eigenleistungen?
W
Nein,
es ist vernünftig, wenn wir im Rahmen der Konzeptprü-
fung Aussagen nur im konkreten Förderzusammenhang
treffen. Es kommt auch sehr darauf an, inwieweit be-
stimmte wirtschaftliche Zielsetzungen mit der Schaffung
von Arbeitsplätzen verbunden werden. Dabei muss man
jeweils im Einzelfall entscheiden.
Eine Zusatzfrage,
Herr Schmidt.
Dr.-Ing. Joachim Schmidt (CDU/
CSU): In welcher Weise werden sich Zugänge bzw. Ab-
gänge von Partnern in der kommenden Phase 3 auf
den Mittelumfang und die direkte Vergabe der Förder-
mittel auswirken?
W
Dies
ist eine hypothetische Frage, bei der man gut beraten ist,
sie nicht hypothetisch zu beantworten. Jeder weiß, dass
die gesamte Fördersumme im Bereich von Inno-Regio
begrenzt sein wird. Es geht um insgesamt 500 Millio-
nen DM. Man wird natürlich im Rahmen des Gesamt-
konzepts abwägen müssen, inwieweit man einen ver-
nünftigen Ausgleich zwischen der Qualität der ausge-
wählten Projekte und den gesamten beabsichtigten und
angestoßenen Innovationstätigkeiten in einer Vielzahl
von Regionen erzielen kann. Aber es ist sicherlich nicht
so: je kleiner, desto größer die Chance. Das wäre ein fal-
sches Prinzip.
Ich rufe Frage 11 des
Kollegen Joachim Schmidt auf:
Welche gesellschaftsrechtlichen Vorstellungen hat die Bun-desregierung im Hinblick auf die Konzipierung virtueller Unter-nehmen im Rahmen der Inno-Regio-Vorhaben?
Kollege Catenhusen, bitte.
W
Im
Rahmen von Inno-Regio sollen in den Regionen Struk-
turen etabliert werden, die einen dauerhaften und selbst-
tragenden regionalen Innovationsprozess ermöglichen.
Zur Verdeutlichung dieses Ziels hat das Inno-Regio-
Team des BMBF die Elemente, die solche Strukturen
und ein entsprechendes Netzwerk kennzeichnen, am
Beispiel der Organisationsform eines virtuellen Unter-
nehmens erläutert. Aus dem virtuellen Charakter dieser
Struktur resultiert, dass sie keine eigene Rechtsform be-
sitzt. Es steht natürlich jeder regionalen Initiative frei,
eine für sie optimale Organisation und Struktur zu ent-
wickeln und umzusetzen sowie deren Funktionsweise
und Wechselwirkung entsprechend den Inno-Regio-
Zielen auch zu veranschaulichen.
Gemäß der Förderrichtlinie der Inno-Regio besteht in
der Umsetzungsphase 3 die Möglichkeit einer zweijäh-
rigen Anschubfinanzierung zu 100 Prozent der Ausga-
ben für die Etablierung eines regionalen Netzwerks und
seines Managements. Wenn die regionale Initiative von
dieser Möglichkeit und in diesem Umfang Gebrauch
machen möchte, dann müsste die Organisations- und
Rechtsform für diesen Zeitraum und für die Erfüllung
dieser zeitlich begrenzte Aufgabe, die nicht identisch
mit der Umsetzung des Gesamtkonzepts ist, allerdings
so gewählt werden, dass mit ihr noch keine gewerbli-
chen Zwecke verfolgt werden können. Hierfür würden
sich zum Beispiel ein gemeinnütziger Verein oder eine
ähnliche Rechtsform anbieten.
Selbstverständlich besteht auch die Möglichkeit, die-
se Aufgaben beispielsweise einer privatwirtschaftlich
agierenden GmbH zu übertragen. In diesem Fall müsste
diese dann einen Eigenanteil an den förderfähigen Kos-
ten in Höhe von 50 Prozent erbringen. Das sind allge-
meine Fördergrundsätze, die auch bekannt sind.
Kollege Schmidt.
Dr.-Ing. Joachim Schmidt (CDU/
CSU): Gehe ich richtig in der Annahme, dass die Bun-
desregierung auch hier kein Modell präferiert?
W
Das
ist korrekt.
Eine weitere Zusatz-
frage.
Dr.-Ing. Joachim Schmidt (CDU/
CSU): Wie beurteilt die Regierung in diesem Zusam-
menhang die Bildung von Genossenschaften?
W
Dasist eine interessante Frage. Wir werden un-voreingenommen prüfen, inwieweit hierdurch das Zieldes Inno-Regio-Konzeptes optimal erreicht werdenkann. Parl. Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000 8511
Ich rufe die Frage 12
des Abgeordneten Norbert Röttgen auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die Gefahr, dass aufgrund der Art und Weise der von der Bundesregierung betriebenen Fu-sion der Fraunhofer-Gesellschaft und der Gesellschaft für Ma-thematik und Datenverarbeitung, GMD, qualifizierte Wissen-schaftler abwandern, und wie beabsichtigt die Bundesregierung dieser Gefahr entgegenzuwirken?
Bitte, Herr Staatssekretär.
W
Herr
Kollege Röttgen, die Bundesregierung geht davon aus,
dass durch die bisher gefassten Beschlussempfehlungen
der Ausschüsse der beiden Aufsichtsgremien und der
Vereinbarungen der Vorstandsvorsitzenden grundsätz-
lich gute Voraussetzungen für eine Fusion bestehen. Die
Forschung der Fraunhofer-Gesellschaft wird im Bereich
der Forschung für neue Märkte, das heißt im Bereich der
prospektiven, an zukünftigen potenziellen Märkten ori-
entierten Forschung, dauerhaft verstärkt. Hierzu wird
auch ein entsprechender Fonds mit Mitteln eingerichtet,
deren Verteilung nicht von Drittmittelerträgen abhängt.
Dieser Fonds wird zunächst für den Bereich der IuK in
dieser neu strukturierten Fraunhofer-Gesellschaft vorge-
sehen und soll bei entsprechender Verstärkung auch spä-
ter allen Fraunhofer-Gesellschaft-Instituten offen stehen.
Daneben ist beabsichtigt, dass in der erweiterten FhG
die bisherigen Kriterien zur Verteilung der
Grundfinanzierung um Kriterien der Honorierung von
Erfolgen bei Ausgründungen und beim Einwerben von
öffentlichen nationalen und internationalen Drittmitteln,
insbesondere von Mitteln der EU, ergänzt werden.
Wir sind davon überzeugt, dass der Zusammen-
schluss bei beiden Partnern, GMD und FhG, zu einer
deutlichen Verbreiterung der wissenschaftlichen und
technologischen Basis mit neuen Themen und einer ent-
sprechenden Forschungskultur führen wird. Die erwei-
terte FhG gewinnt damit eine zusätzliche Attraktivität
auch für die Wissenschaftler der GMD.
Dies alles setzt aber voraus, dass die notwendigen
Entscheidungen über den Rahmen des Fusionsprozesses
in den Aufsichtsgremien von GMD und FhG bald, das
heißt in der ersten Aprilhälfte, getroffen werden; denn es
wäre für den Fortgang des Fusionsprozesses nicht sehr
förderlich, wenn Tendenzen auf beiden Seiten, in der
Bewahrung des Status quo das Ideale zu sehen, durch
zeitliche Verschleppung von wichtigen Entscheidungen
gestärkt werden.
Kollege Röttgen.
Herr Staatssekretär,
in einer Zeit, in der nicht nur diskutiert wird, sondern
Maßnahmen ergriffen werden, Computerexperten aus
dem Ausland in einer Zahl von 20 000, wie es das Kabi-
nett beschlossen hat, anzuwerben, sollte man mit den in
Deutschland vorhandenen Experten der Informations-
technologie vernünftig umgehen. Ihrer Antwort lässt
sich entnehmen, dass Sie den Sachverhalt und die Emp-
findungen der betroffenen Wissenschaftler, die Ihre Fu-
sionspläne ausgelöst haben, noch nicht zur Kenntnis ge-
nommen haben.
Darum darf ich Ihnen den Sachverhalt noch einmal
ganz kurz darstellen. Bei einer Umfrage in der von der
Fusion betroffenen GMD haben 82 Prozent der Mitar-
beiter erklärt: So nicht! Sie sagen, sie lehnen die hand-
streichartig aufgezwungenen Fusionspläne der Bundes-
regierung ab. Alle acht Leiter der IuK-Institute der
GMD, Wissenschaftler mit unbestritten internationaler
Reputation, sagen: So, wie die Bundesregierung das
Ganze über unsere Köpfe hinweg von oben herab insze-
niert, können wir das nicht mittragen.
Ist Ihnen bekannt, dass am heutigen Tage die Ge-
schäftsleitung und die Mitarbeiter der GMD in einem
Beschluss die Fusion abgelehnt haben? Meine Frage ist:
Sind Sie bereit, diese Wirklichkeit zur Kenntnis zu neh-
men, anders als es in Ihrer Antwort angeklungen ist?
Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie daraus, wenn of-
fensichtlich die eine Institution mit internationaler Repu-
tation sagt: „So machen wir das nicht!“? Dazu habe ich
nichts gehört.
W
HerrRöttgen, ich antworte immer gerne auf die Fragen, diekonkret gestellt werden. Sie haben mich nach der Gefahrder Abwanderung von Wissenschaftlern gefragt, und ichhabe Ihnen die dazugehörige Antwort gegeben. WennSie jetzt die Frage nach Empfindungen von Wissen-schaftlern stellen und dem, was an konkreten Diskussio-nen in der GMD läuft, dann können Sie voraussetzen,dass nicht nur die Abgeordneten in der Region Bonn,sondern auch Parlamentarische Staatssekretäre und Mi-nister, die in Bonn und Berlin arbeiten, über die Vor-gänge in der Großforschungseinrichtung, die in unseremZuständigkeitsbereich liegen, voll informiert sind.Ich glaube, dass man bei der Bewertung dieser Vor-gänge Folgendes beachten muss. Hier stoßen zwei Kul-turen aufeinander. Wir haben es zum einen mit einerGroßforschungseinrichtung zu tun, die bisher weit über-wiegend institutionell gefördert wurde, die sich länger-fristigen Zielsetzungen verschrieben hat. Die andere Un-ternehmenskultur orientiert sich stark an Auf-tragsforschung, vor allem auch für die Industrie, mitdem Zwang, zur Finanzierung der Einrichtung einen Ei-genanteil von 60 Prozent über solche Forschungsprojek-te zu bringen. Ihre Tätigkeit ist sehr viel stärker markt-nah orientiert.Forschungspolitisch ist es reizvoll, dieses zusammen-zubringen und damit eine neue Unternehmenskultur inbeiden Bereichen voranzubringen. Dass in einer solchenSituation Unklarheiten bestehen, zum Beispiel auf derEbene der Verwaltung der GMD, muss man vorausset-zen. Dass hier in Deutschland überall dort, wo über Fu-sionen diskutiert wird, eine gewisse Neigung vorhandenist, in der Bewahrung des Status quo das Geeignete zusehen, werfen Sie anderen gesellschaftlichen Gruppen jain der Regel vor.
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8512 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000
Ich denke, dass es wichtig ist, den Prozess, den dieBundesministerin Bulmahn Ende letzter Woche einge-leitet hat, in den nächsten Wochen fortzusetzen. Es mussnämlich das direkte Gespräch zwischen denjenigen, dieam Schluss zu entscheiden haben, und den von den Ent-scheidungen Betroffenen gesucht werden. Frau Bun-desministerin Bulmahn hat ja dieses Angebot allen Be-schäftigten der GMD und der FhG unterbreitet. Wirwerden dieses Gespräch suchen, auch nach der Be-triebsversammlung, die ja noch in dieser Woche bei derGMD stattfindet. Lassen Sie mich aber auch deutlich sagen: Es handeltsich hierbei um Einrichtungen, die öffentliche Aufgabenwahrzunehmen haben. Es geht übrigens nicht um denVerlust von Arbeitsplätzen. Es besteht nämlich die Zusi-cherung des Bundes, dass kein Arbeitsplatz hier verlorengehen wird und die Beschäftigten eine gesicherte Per-spektive haben. Es geht auch nicht darum, dass das fi-nanzielle Budget der GMD beschnitten wird. Auch hier-zu gibt es entsprechende Garantien. Über eine Fusionunter solchen Bedingungen zu diskutieren würde vonvielen Beschäftigten in anderen Bereichen, etwa derWirtschaft, als eine ausgesprochen komfortable Situati-on betrachtet werden. Außerdem muss man noch sehen,dass während eines Übergangszeitraums von drei bisfünf Jahren Schritt für Schritt vorgegangen wird, zumTeil mit der Möglichkeit der Korrektur. Das ist ein an-gemessener Weg, die Sorgen der Betroffenen zurKenntnis zu nehmen und darauf zu antworten.Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt ausführen.Ich glaube, dass die Bundesregierung von beiden Seiten,von der GMD wie von der FhG, erwarten muss und er-warten kann, dass mehr Verständnis als bisher für dieAusgangssituation und die entsprechenden Unterneh-menskulturen in der jeweils anderen Einrichtung, diekünftig zum Partner wird, aufgebracht werden muss. Ei-nen Teil der kritischen Diskussion in der GMD führe ichdarauf zurück, dass bisher vielleicht nicht auf beidenSeiten ein entsprechendes Verständnis hierfür entwickeltworden ist.
Kollege Röttgen.
Die inhaltliche Kon-
zeption ist Gegenstand der nächsten Frage. Bei der ers-
ten Frage – ich darf Sie noch einmal darum bitten, da-
rauf zu antworten – geht es um die von den Wissen-
schaftlern und der Belegschaft der Bundesregierung
vorgeworfenen handwerklichen Mängel. Die Wissen-
schaftler haben keine Angst um ihren Arbeitsplatz; sie
könnten überall auf der Welt ihre wissenschaftliche Tä-
tigkeit ausüben. Sie sorgen sich um die wissenschaftli-
che Qualität. Sie beklagen, dass die Bundesregierung
nicht mit ihnen redet, sondern von oben herab etwas
verkündet und dekretiert, was die Qualität ihrer Leistung
infrage stellt. Sie befürchten, dass sie in den nächsten
ein bis zwei Jahren nicht zur Forschungstätigkeit in ih-
rem Bereich kommen, sondern die Energien in Fusions-
schwierigkeiten aufgerieben werden. In diesem Bereich
findet ja im Grunde genommen alle halbe Jahre eine Re-
volution statt.
Weil nicht mit ihnen geredet wird, stelle ich nun die
Frage: Wie wollen Sie auf diesen Sachverhalt reagieren?
Suchen Sie das Gespräch mit den Wissenschaftlern,
nehmen den Beschluss der Geschäftsleitung und der Be-
legschaft, von denen die Fusion abgelehnt wird, ernst
oder Sie bleiben bei Ihrem Stil, rechtlich eine Fusion zu
dekretieren? Sind Sie auch bereit, über Alternativen
nachzudenken und die Fusion als Prozess zu verstehen?
Das könnte dadurch geschehen, dass schon am Anfang
strategische Koordination und Kooperation sowie virtu-
elle Verbünde praktiziert werden. Sind Sie im Gegensatz
zu Ihrer bisherigen Haltung bereit, mit den betroffenen
Wissenschaftlern Gespräche zu führen?
W
HerrRöttgen, ich habe einige Schwierigkeiten mit Ihrem Bei-trag. Eben wurde in einem anderen Zusammenhang vonBelehrung von dieser Seite an Ihre Adresse gesprochen.Es ist ja interessant, dass man das je nach Thema immersehr unterschiedlich interpretieren kann. Vom Bundesministerium für Bildung und Forschungist unser Staatssekretär Uwe Thomas Kuratoriumsvorsit-zender der GMD und steht im Gespräch mit dem Be-triebsrat. Unser Haus wird auch am Freitag bei der Be-triebsversammlung vertreten sein. Ich gehe, HerrRöttgen, erst einmal davon aus, dass Sie wissen, dass wirin diesen Prozess eingeschaltet sind. Ich gehe auchdavon aus, Herr Röttgen, dass durchaus eine Kommu-nikation besteht.Ich weise auch noch einmal darauf hin, gerade weilvielen Kollegen hier im Hause die Vorgänge im Detailnicht bekannt sind, dass die Initiative dazu von Wissen-schaftlern ausgegangen ist und das erste Dokument indiesem Prozess eine Erklärung des Chefs der GMD unddes Präsidenten der Fraunhofer-Gesellschaft ist, die vonuns begrüßt und unterstützt worden ist.Wir haben diesen Ball aufgenommen. In den letztenTagen haben der Senatsausschuss der Fraunhofer-Gesellschaft und ein entsprechender Ausschuss derGMD konkrete Vorschläge dazu unterbreitet, wie derProzess zu organisieren ist. Wenn Sie, Herr Röttgen,einfordern, die Fusion als Prozess zu gestalten, kann ichIhnen sagen, dass genau das vorgeschlagen wird. Das istauch Gegenstand der Neun-Punkte-Erklärung. Jederweiß, dass mit den im April zu treffenden Entscheidun-gen ein Prozess eingeleitet wird, der auch für nachträgli-che Korrekturen offen sein soll. Das endgültige Bild derfusionierten GMD und FhG wird nicht im Detail be-schrieben. Vielmehr bleibt es dem Engagement und derVerständigung der Mitarbeiter von GMD und FhG über-lassen, wie sich bestimmte Fragestellungen langfristigentwickeln.Ich möchte das an einem Beispiel verdeutlichen: Siehaben in Ihrer Bemerkung, in Ihrer Rede – Fragestundenwerden ja immer mehr zu „Redestunden“ –, auch einenHinweis auf die Qualität längerfristig orientierter For-schung gegeben. Im Kern geht es darum, inwieweit sichParl. Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000 8513
die GMD über die Jahre hin stärker an Marktentwick-lungen und Marktbedürfnissen orientiert, als sie das inihrer bisherigen Struktur getan hat. Damit sage ich nicht,dass sie das bisher nicht getan hätte; in Zukunft muss siedas stärker tun. Natürlich gibt es Wissenschaftler, diedas nicht möchten. An dieser Stelle ist die Frage nachdem gesellschaftlichen Erfordernis zu stellen. Wenn wirdavon ausgehen, dass es gerade im Bereich der I- und T-Technik – das haben Sie selbst gesagt – zu einer im-mer stärkeren Beschleunigung der Verschränkung vonGrundlagenforschung und Marktgeschehen kommt,dann macht das klassische Modell institutionell geför-derter und langfristig angelegter Grundlagenforschungim I- und T-Bereich weniger Sinn als früher.Das Interessante an der Debatte im Moment ist, dassüber den Status quo geredet wird – man will seine Ruhebehalten –, nicht aber über die Frage, welche angemes-sene Struktur die Forschung im I- und K-Bereich ange-sichts der sich dramatisch beschleunigenden Entwick-lung auf die Dauer haben muss. Das Argument, manfühle sich gestört und wolle mit der Fusion in Ruhe ge-lassen werden, kann die Bundesregierung allerdingsnicht gelten lassen. Ließe sie es gelten, dann müsste sieüberall in der Gesellschaft die Parole verbreiten, alles sozu lassen, wie es ist; denn das sanfteste Ruhekissen istimmer, weiter so wie bisher zu machen. Das kann hiernicht die erkenntnisleitende Parole sein.
Herr Hauser, bitte.
Herr Staats-
sekretär, es geht nicht um die Befürchtung einzelner
Mitarbeiter, sich möglicherweise mit der Fusion von
GMD und FhG beschäftigen, einen anderen Arbeitsplatz
einnehmen oder den Gesichtskreis erweitern zu müssen.
Das gilt übrigens nicht nur für die Mitarbeiter der GMD,
auf die Sie eben einzig abgehoben haben – möglicher-
weise lag das an den Fragen –, sondern in ganz erhebli-
chem Maße auch für die der FhG. Das Problem ist viel-
mehr, inwieweit die Grundlagenforschung im I- und K-
Bereich in der Bundesrepublik Deutschland vor dem
Hintergrund gesichert werden kann, dass nach dem
PITAC-Report von Anfang 1999 in den Vereinigten
Staaten eine wesentliche Verstärkung der Grundlagen-
forschung stattfinden soll, und zwar bis zum Jahre 2004
um 1,378 Milliarden Dollar gegenüber dem Haushalts-
jahr 1999. Ein weiteres Problem ist, dass man aufseiten
der FhG sagt, es müsse beim Verhältnis 40 : 60 von in-
stitutioneller Förderung und Drittmitteln bleiben, auch
wenn dieses Verhältnis bei der GMD gegenwärtig – das
ist evaluiert worden – 70 : 30 beträgt, was aber bedeuten
würde, dass dann, wenn es bei den Strukturen, die die
FhG auch für die Zukunft für sich einfordert, bliebe,
nach einer Übergangszeit bei der GMD Grundlagenfor-
schung kaum noch möglich wäre, allenfalls bei einem
Max-Planck-Institut, nämlich dem Deutschen For-
schungsinstitut für künstliche Intelligenz in Saarbrücken
und Kaiserslautern, und ansonsten an den Universitäten,
was sich ja bereits aus dem Eckpunktepapier ergibt, in
dem das Wort „Grundlagenforschung“ nur im Zusam-
menhang mit den Universitäten vorkommt.
W
Kol-lege Hauser, ich freue mich, dass Sie in Ihrer Eingangs-bemerkung deutlich gemacht haben, dass es durchausberechtigt ist, über Fusionen dieser Art gründlich nach-zudenken, und dass man von den Wissenschaftlern eineKooperationsbereitschaft einfordern muss.Sie haben einen ganz wichtigen Aspekt angespro-chen, nämlich die Frage des Verhältnisses von Grundla-genforschung und marktorientierter Entwicklung im Be-reich der Informations- und Kommunikationstechnik.Das ist die eigentliche strategische Frage, vor der wirstehen. Ich habe allerdings nicht den Eindruck, dass inden Beiträgen, die zurzeit von vielen Seiten zu demThema geliefert werden, diese Frage im Mittelpunktsteht; denn es ist natürlich erkennbar, dass bei derFraunhofer-Gesellschaft, etwa in der Stellungnahme desHauptausschusses des Wissenschaftlich-TechnischenRates, die Forderung vertreten wird, es solle bei der FhGalles so bleiben, wie es ist. Wenn man den Weg einerVerschmelzung von GMD und FhG geht, dann wird sichvieles in der GMD ändern. Aber auch bei der Fraunho-fer-Gesellschaft wird nicht alles so bleiben, wie es ist.Ich will das an dem Punkt, den Sie genannt haben –er wurde auch in den neun Punkten angeschnitten –,verdeutlichen: Auch die Fraunhofer-Gesellschaft be-treibt zurzeit Arbeiten, die strategisch und längerfristigorientiert sind. Man könnte sie auch als Grundlagenfor-schung bezeichnen, weil die Fraunhofer-Gesellschaftdarauf angewiesen ist, Know-how für die Produktent-wicklung von übermorgen selbst in ihren eigenen Ein-richtungen zu entwickeln. Wir suchen jetzt unter demneuen gemeinsamen Dach nach einem Weg, der das Po-sitive in der GMD, nämlich die längerfristig orientierteForschung, zu einem – allerdings unter veränderten Be-dingungen – Strukturprinzip der FhG insgesamt macht,indem wir den Fonds für die Erforschung neuer Märktebilden wollen.Man könnte nun sagen, Grundlagenforschung sei et-was ganz anderes. Wir sagen: nein. Denn im IT-Bereichist Grundlagenforschung von heute immer die Vorberei-tung auf die Märkte von übermorgen. In diesem Sinneist es eine Frage der Unternehmenskultur.Man kann Verständnis für die Sorgen von Institutsdi-rektoren der GMD haben, nämlich die Sorge, dass ihrBereich im Rahmen der neuen Struktur der FhG sozusa-gen untergebuttert wird. Aber wenn wir gleichzeitig dasAngebot machen, dass die Mittel, die für die Grundla-genforschung in der GMD heute bereitstehen, nicht ge-strichen, sondern in einen Fonds für die Erforschungneuer Märkte überführt werden, dann ist es dabei unsereAbsicht, etwas Neues zu schaffen. Wir wollen nämlichdas Know-how für die Märkte und für die Produkte vonübermorgen auch in diesen neuen Strukturen – vielleichtetwas zielorientierter als bisher – bereitstellen. Wir hal-ten dies für eine richtige Strategie.Dieser Prozess wird erst dann zu einem fruchtbarenErgebnis führen, wenn wir uns nach bestimmten Struk-turentscheidungen darauf verlassen können, dass sichbeide Seiten auf diesen Prozess des gegenseitigen Ler-Parl. Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen
Metadaten/Kopzeile:
8514 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000
nens und des Kompromissschließens einlassen. Zurzeitgibt es eine Zwischenphase, in der jeder versucht, sichgegenüber dem künftigen Partner abzugrenzen. Das istverständlich, weil man damit versuchen will, die Aus-gangsposition gegenüber dem anderen möglichst günstigzu gestalten.Die Stellungnahme des Wissenschaftlich-Techni-schen Rates ist aber nur eine Stimme in der Diskussion.Sie können davon ausgehen, dass wir in den nächstenWochen unsere Gespräche mit dem Betriebsrat, mit derGeschäftsleitung und mit anderen Vertretern der GMDverstärken werden, weil wir das Gefühl haben, dass eineverstärkte direkte Kommunikation zwischen dem BMBFund den Beschäftigten notwendig ist, um klarzumachen,was unsere Ziele sind, und um zu verhindern, dass es zueiner nur auf Abgrenzung und Abschottung gerichtetenDiskussion im Vorfeld notwendiger Entscheidungenkommt.
Danke schön. – Wir
kommen nun zur Frage 13 des Kollegen Röttgen:
Was beabsichtigt die Bundesregierung zu unternehmen, da-mit die IuK-Institute – IuK: Information und Kommunikation – der Fraunhofer-Gesellschaft entgegen dem Beschluss des Hauptausschusses des Wissenschaftlich-Technischen Rates der Fraunhofer-Gesellschaft zu einer mit der GMD konsensfähigen Position zurückkehren, wie sie in der Presseerklärung der Bun-desministerin für Bildung und Forschung, Edelgard Bulmahn, vom 29. September 1999 festgehalten ist?
W
Auf
Ihre Frage möchte ich Ihnen antworten: Der Ausschuss
des Senats der FhG und der Ausschuss des Aufsichtsra-
tes der GMD zur Begleitung der Fusion haben auf ihrer
gemeinsamen Sitzung am 23. Februar 2000, also fünf
Tage nach dem Beschluss des Hauptausschusses des
Wissenschaftlich-Technischen Rates der FhG in Hanno-
ver, zum weiteren Fortgang der Zusammenführung von
GMD und FhG einen gemeinsamen Beschlussvorschlag
für die Sitzung der Aufsichtsgremien im April formu-
liert.
An diesem einstimmigen Beschlussvorschlag haben
übrigens der Vertreter des BMBF wie auch der Vertreter
des WTR der FhG mitgewirkt. In diesem Beschluss-
vorschlag wird das Eckpunktepapier von Professor
Warnecke und Professor Tsichritzis vom 28. Januar be-
grüßt und in seinen Punkten 1 bis 9 als Leitlinie für die
beabsichtigte Zusammenführung der beiden Einrichtun-
gen gesehen.
Neben den oben dargestellten Entwicklungen des
FhG-Finanzierungsmodells wurde vorgeschlagen, Pro-
fessor Tsichritzis zum 1. Mai 2000 als einen von zwei
Vizepräsidenten in den Vorstand der FhG zu berufen.
Die Bundesregierung geht davon aus, dass dieser Be-
schluss eine geeignete Basis für einen Konsens, der eine
Grundlage für den weiteren Fortgang der Fusion darstel-
len kann, geschaffen hat.
Kollege Röttgen.
„Die Zeit“ hat geti-
telt: „Fusion ohne Vision“. Meine Frage ist: Sind auch
Sie der Auffassung, dass bislang im Konsens eine inhalt-
liche Strategie für die geplante Fusion fehlt? Dies ist ei-
ne Rechtsfrage; der Rechtsmantel ist da, aber der Inhalt
fehlt. Teilen Sie meine Auffassung, dass es an einer in-
haltlichen Strategie fehlt? Wenn ja: Auf welchem Wege
sind Sie bereit, eine solche inhaltliche Strategie als Vor-
aussetzung einer Fusion zu entwickeln?
W
In ei-
ner vorherigen Bemerkung ist dem BMBF der Vorwurf
gemacht worden, die ganze Sache par ordre du mufti
durchzuziehen.
Es ist nicht unsere Intention, die Strategie im Detail vor-
zugeben. Es geht darum, einen Integrationsprozess ein-
zuleiten, auf dessen Basis die Wissenschaftler und Insti-
tutsleitungen beider Seiten in einem mehrjährigen Pro-
zess bestrebt sind, ihre gemeinsame Vision über die
künftigen Aufgaben der öffentlich geförderten For-
schungskompetenz im Rahmen der FhG zu entwickeln.
Unsere Vision in diesem Bereich kann man relativ
einfach beschreiben. Wir wissen, dass wir mit dieser
neuen Struktur die einmalige Chance haben, in anderer
Verknüpfung als bisher einen wechselseitigen Prozess
von Forschung und Innovation in Deutschland anzusto-
ßen mit einer neuen Qualität, so hoffen wir, der direkten
Interaktion zwischen öffentlich geförderten Forschungs-
einrichtungen und der Breite der IT-Wirtschaft, nicht
nur der großen Konzerne, sondern auch der mittelständi-
schen Industrie.
Ich denke, dass das eine überfällige Strukturanpas-
sung war, weil das Innovationsgeschehen im Bereich der
Informations- und Kommunikationstechnik mit einer
solchen Dramatik und Rasanz verläuft, dass die Zeit-
spanne der notwendigen Rückkopplungsprozesse zwi-
schen industrieller Innovation und entsprechenden Vor-
läufen in der Forschung immer kürzer wird und wir des-
halb eine sehr viel flexiblere, offenere und auch eine für
Kooperation ideale Struktur nutzen wollen.
Wir sind auf der einen Seite der Auffassung, dass die
Struktur der GMD optimierungsbedürftig war und ist.
Wir sind auf der anderen Seite der Meinung, dass dieser
Prozess auch bei der Fraunhofer-Gesellschaft eine stär-
kere Akzentuierung auf Vorlaufforschung für Produkte
von morgen und übermorgen erfordert, und glauben,
dass wir durch die Zusammenführung eine vernünftige
Struktur für das Wechselspiel im Innovationsprozess
schaffen können.
Noch eine ganz kur-
ze Zwischenfrage.
Ich lasse sie zu.Parl. Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000 8515
Das Vorhandensein
einer inhaltlichen Strategie zwischen den beteiligten
Einrichtungen und dem BMBF ist nicht die Vorausset-
zung für die Fusion? Habe ich das richtig verstanden?
W
Ich
habe Ihnen gesagt, es gibt grundsätzliche Zielsetzungen,
die mit einer Strukturreform verbunden sind. Es kann
nicht sein, dass das BMBF im Detail den beiden Part-
nern die Strategie vorgibt. Ich möchte Ihnen eines klar
sagen: Strategien werden nicht für eine große Zeitspanne
formuliert; auch diese Einrichtung wird sich vielmehr al-
le drei bis fünf Jahre auf dem Forschungsmarkt neu
positionieren müssen. Das heißt, es kommt hier darauf
an, die Dynamik, mit der sich die neue Forschungsinfra-
struktur dem Markt und Innovationsgeschehen stellt, zu
wecken und das Ganze voranzubringen. Wir sind sehr
zuversichtlich, wenn der schwierige Prozess dieser Wo-
chen überwunden ist und die Strukturentwicklungen klar
sind, dass die Bereitschaft beider Seiten, die Synergieef-
fekte zu nutzen, in der Kooperation einen beiderseitigen
Vorteil zu sehen, Kräfte freisetzt. Wenn es um Struktur-
veränderungen im institutionellen Gefüge geht, ist es
immer so, dass die Gefahr droht, dass man sich an der
Wahrung bestehender Strukturen „verkämpft“.
Eine Zusatzfrage des
Kollegen Tauss.
Herr Staatssekretär, nachdem
wir in Deutschland in Zeiten der Verantwortung der al-
ten Bundesregierung – gerade unter Herrn Rüttgers – ei-
nen unglaublichen Rückstand im Bereich der Informati-
ons- und Kommunikationstechnologie im internationa-
len Vergleich hinnehmen mussten, sehen Sie eine Chan-
ce, dass wir in Deutschland durch die von Ihnen mit an-
gestoßenen Maßnahmen die Möglichkeit haben, ein
Stück weit eine kritische Masse zu bekommen, die zu
einem Schub bei der Informations- und Kommuni-
kationstechnologie führt, der dazu beiträgt, die Rück-
stände aufzuholen?
W
Die
Bündelung der Kompetenzen, die heute in der Fraunho-
fer-Gesellschaft einerseits und in der GMD andererseits
bestehen, halten auch wir für eine qualitative Stärkung
des Potenzials der öffentlich geförderten Forschungsein-
richtungen. Im internationalen Vergleich schaffen wir
damit eine Struktur, die im Weltmaßstab kritische Masse
sicherlich in hohem Maße erbringt.
Ich darf den Vergleich mit den Vereinigten Staaten
aufgreifen, den Herr Hauser vorhin gezogen hat. Die
Amerikaner diskutieren, ihre Grundlagenforschung zu
verstärken. Ist das aber unser aktuelles Hauptinnova-
tionsdefizit? Ist es im Moment nicht vielleicht so, dass
sich die Gewichte ein bisschen mehr angleichen müs-
sen? Die Amerikaner haben vielleicht bei der Beschleu-
nigung des Innovationsprozesses etwas vernachlässigt,
was zum Bereich der strategisch orientierten Forschung
gehört.
Unser Innovationsproblem ist die stärkere Verknüp-
fung von strategisch orientierter Forschung mit Anwen-
dung und Entwicklung. Die Annäherung der Strukturen
vollziehen wir jetzt mit diesem Schritt, den wir hoffent-
lich im April im Konsens und mit breiter Basis in den
Aufsichtsräten beider Einrichtungen beschließen kön-
nen.
Kollege Hauser.
Herr Staats-
sekretär, nach der Frage des Kollegen Tauss ist es mir
möglich, zur Sache zurückzukommen.
– Keine Sorge. – Könnte es nicht sinnvoll sein, zunächst
die Grundstrukturen – ich stimme Ihnen völlig zu, dass
Sie nichts im Detail vorgeben können – abzusichern, so
wie das auch bei CAESAR geschehen ist, indem man
das Triplett zwischen Grundlagenforschung, Vorlauffor-
schung und anwendungsorientierter Forschung gebildet
hat? Erst danach hat man die Fusion vollzogen. Man ist
nicht zuerst in die institutionelle Fusion marschiert, um
dann abzuwarten, wer sich durchsetzt, der Größere oder
der Kleinere, der Schwächere oder der Stärkere.
W
WennSie den CAESAR-Weg vorschlagen, dann kann ich dasnur so interpretieren, dass Sie, Herr Hauser, dafür plä-dieren, beides aufzulösen und anschließend ganz neuaufzubauen. Den Weg wollen wir aber nicht gehen.
– Weil eben nichts bestand. Aber man hat sozusagen ausdem Nichts heraus etwas Neues geschaffen.Da in diesem Fall beide Institutionen existieren, be-steht der Weg nicht darin, dass wir das Prinzip, Triplettsaufzubauen, vorgeben, um dann zu schauen, was pas-siert; denn auf diese Weise kann es zu einer organischenKooperation und Verknüpfung der Aufgaben beidernicht kommen.Ich will Ihnen allerdings verdeutlichen, was der Inhaltder neun Punkte ist, die jetzt Grundlage für den Fusi-onsprozess sein sollen. Es handelt sich um sehr allge-meine Rahmenbedingungen, die vieles hinsichtlich kon-struktiver Zusammenarbeit und Präzisierung durch en-gagiertes Zusammenwirken offen lassen. Wir sagen nur: Es soll um eine Fortentwicklung undErgänzung des FhG-Modells gehen. Es wird darum ge-hen, dass sich der überwiegende Teil der Kapazitätender GMD am Fraunhofer-Modell orientieren wird. Esbleibt zu klären, in welchem Ausmaß. Genauso ist derFrage nachzugehen, dass die erweiterte Fraunhofer-Gesellschaft unter der Bezeichnung „Forschung für neueMärkte“ stärker längerfristig orientierte Vorlauffor-schung einführen will.
Metadaten/Kopzeile:
8516 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000
Als Modellversuch wollen wir einen entsprechendenFonds für die IuK-Forschung aufbauen, der zu 100 Pro-zent grundfinanziert bleibt. Wir wollen in der Zwischen-zeit Erfahrungen sammeln. Es wird Evaluierungen ge-ben. Der Versuch wird unternommen werden, bestimmte Überlegungen einmal dem Belastungstest durch unab-hängigen Sachverstand auszusetzen.Es muss endlich der Schritt vollzogen werden, denwir bis jetzt nicht gehen konnten: ein Institutsverbundder IuK-Institute von GMD und FhG zur Abstimmunggemeinsamer Strategien. Darauf sollen die Institute auf-bauen und sie sollen die Strategie für das künftige ge-meinsame Haus entwickeln. Wir haben auch gesagt: DieVerwaltung soll überprüft werden.Das genau sind Elemente, unter denen ein solcherProzess Schritt für Schritt unter aktiver Beteiligung, ge-tragen von den Direktoren der Institute der GMD undden entsprechenden Instituten der Fraunhofer-Gesell-schaft, vonstatten geht. Sie sollen im Grunde genommendie Träger der Strategieerarbeitung sein.Sie müssen auch eines sehen: Diese Institute werdendoch nicht aus dem Stand sagen: „Die Welt sieht neuaus“, sondern sie werden Aufgabenpakete, die sie haben,weiterbearbeiten und daneben das neue Haus errichten.Das muss ein organischer Übergang sein. Deshalb kön-nen wir nicht zu Beginn des Prozesses sozusagen die de-taillierte Strategie vorgeben. Verstehen Sie doch bitte, dass wir den Beteiligten ge-rade die Chance geben wollen, in einem mehrjährigenÜbergangsprozess selbst die Feinstruktur dieser neuenStrategie zu entwickeln. Das ist meiner Ansicht nach ob-jektiv im Interesse der Betroffenen.Was ich feststelle, ist, dass sich das Engagement zur-zeit auf die Frage konzentriert, wie man sich voneinan-der abgrenzen kann, und nicht auf die Frage, wie der po-sitive Synergieeffekt genutzt werden kann. Ich akzeptie-re an dieser Stelle den zarten Hinweis von Ihrer Seite:Alle Beteiligten, die Leitung der GMD wie auch die Lei-tung der FhG und das BMBF, müssen ihre Anstrengun-gen verstärken, diese Strategie in der Breite der Mitar-beiter und Mitarbeiterinnen zu erläutern und für Zu-stimmung zu werben.
Danke schön.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisteriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung. Zur Beantwortung steht die Parlamentari-
sche Staatssekretärin Uschi Eid zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 14 des Abgeordneten Ulrich Irmer
auf:
In welcher Weise lässt sich die von der Bundesregierung be-absichtigte Aufnahme der entwicklungspolitischen Zusammen-arbeit mit Kuba in Einklang mit den von ihr für eine erfolgreiche Entwicklungspolitik geforderten Prinzipien der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie bringen?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
Dr
Herr Kollege Irmer, ich glaube, wir haben
überhaupt keine Differenz, wenn es um die Frage geht,
dass es in Kuba bei den Menschenrechten, bei der
Rechtsstaatlichkeit und in der Demokratie große Defizi-
te gibt. Aber die Defizite in genau diesen Bereichen gibt
es auch in einer Reihe von anderen Ländern, die Partner
der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit sind.
Die kubanischen Defizite konnten durch eine Isolie-
rungs- und Blockadepolitik über 40 Jahre lang nicht ab-
gebaut werden. Die Bundesregierung sieht in der Auf-
nahme der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit ei-
nen geeigneten Weg, um die Wagenburgmentalität auf-
zulockern und das Interesse der kubanischen Seite an ei-
nem ernsthaften politischen Dialog zu erhöhen und sich
für Veränderungen zu öffnen.
Bitte schön, Kollege
Irmer.
Frau Staatssekretärin, Ihre
Regierung ist mit dem Anspruch angetreten, dass sie ih-
re gesamte Politik unter den Grundsatz der Men-
schenrechte stellen wird. Wenn Sie mir jetzt sagen, dass
es andere Länder gibt, mit denen Zusammenarbeit be-
steht, in denen auch nicht gerade appetitliche Zustände
herrschen, dann muss ich Sie doch fragen, ob Sie dies
für einen ausreichenden Grund halten, die Zusammenar-
beit jetzt mit einem besonders unappetitlichen Regime
erneut aufzunehmen, und ob Sie angesichts der Tat-
sache, dass die Menschenrechtsverletzungen in Kuba in
der letzten Zeit eher zugenommen haben, auch nur den
Hauch einer Chance sehen, dass sich dort irgendwelche
Reformbemühungen durchsetzen könnten.
Dr
Zum Ersten, Herr Kollege Irmer, möchteich Ihnen ganz klar sagen: Die Entwicklungszusammen-arbeit steht unter fünf Kriterien, nämlich Menschenrech-te, Rechtsstaatlichkeit, Partizipation, soziale Marktwirt-schaft und entwicklungsorientierte Innenpolitik.
– Herr Kollege Irmer, diese Kriterien sind keine Aus-schlusskriterien, sondern es sind Kriterien, die unsHandlungsorientierung geben. Das heißt: Wenn wir ineinem Partnerland die Möglichkeit haben, Maßnahmenzu unterstützen, die genau entlang dieser Kriterien zurBesserung führen, dann unterstützen wir Programmeund Projekte zur Verbesserung zum Beispiel im Men-schenrechtsbereich, zum Beispiel in der Partizipationund im demokratischen Prozess.Zum Zweiten wird Ihre Aussage, dass sich die Men-schenrechtslage verschlechtert hat, international nichteinhellig geteilt. Die Europäische Union ist in ihrer Ein-schätzung der Menschenrechtslage auf Kuba sehr kon-trovers. Es gibt Länder, die das Gleiche sagen wie Sie.Parl. Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000 8517
Es gibt aber auch Länder im Rahmen der EuropäischenUnion, die genau das Gegenteil sagen. Wir als Bundes-republik Deutschland sind der Auffassung: Selbstver-ständlich ist die Menschenrechtslage Besorgnis erre-gend, gerade nachdem wieder Dissidenten nach dem iberoamerikanischen Gipfel in Havanna verurteilt wor-den sind. Trotzdem sagen wir, dass eine Kooperationuns die Möglichkeit eines kritischen politischen Dialogseröffnet, bei dem wir eine stärkere Respektierung derMenschenrechte einfordern können.
Bitte schön, Kollege
Irmer.
Frau Staatssekretärin, nach-
dem Sie eben dankenswerterweise die fünf Kriterien
aufgezählt haben und ich dazu nur feststellen kann, dass
keines von diesen Kriterien in Kuba auch nur ansatzwei-
se erfüllt ist, muss ich Sie doch fragen, ob nicht ange-
sichts der Tatsache, dass die Entwicklungsmittel für an-
dere Länder von der Bundesregierung gekürzt worden
sind, die Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba gera-
dezu als eine Ohrfeige wirken muss gegenüber Ländern,
die sich in der Vergangenheit ganz besonders ange-
strengt haben, aber jetzt mit Mittelkürzungen und sogar
mit dem Schließen der Botschaften – obwohl das einen
anderen Etat betrifft, das weiß ich sehr wohl – bestraft
werden, wie es zum Beispiel im Falle des Landes Benin
geschieht, das wirklich große Erfolge in der Demokrati-
sierung erzielt hat.
Dr
Herr Kollege Irmer, die Bundesregierung
und das BMZ befinden sich zurzeit in einer Diskussion
darüber, mit welchen von über 130 Ländern wir in Zu-
kunft verstärkt zusammenarbeiten, also welche Länder
Schwerpunktländer und welche Länder Programmländer
sein werden. Insofern trifft Ihre Aussage, dass Benin da
herausfallen wird, nicht zu; denn wir sind überhaupt
noch nicht zu einer entsprechenden Entscheidung ge-
kommen.
Was wir mit Kuba in der Entwicklungszusammenar-
beit beginnen, ist die Unterstützung bei der Umsetzung
des nationalen Entwicklungsplans zur Bekämpfung der
Degradation der Böden. Diese nationalen Entwicklungs-
pläne beruhen auf der völkerrechtlichen Vereinbarung
im Rahmen der Wüstenkonvention. Das Essenzielle bei
dieser Wüstenkonvention ist Folgendes: Die nationalen
Aktionspläne zur Bekämpfung der Degradation der Bö-
den müssen zusammen mit der lokalen Bevölkerung er-
arbeitet werden. In unserem Projekt, das wir jetzt mit
Kuba beginnen wollen, ist die Kooperation nicht nur mit
den staatlich organisierten Bauern, sondern auch mit den
nicht organisierten Bauern und mit allen gesellschaftli-
chen Kräften entlang des Flusses, an dem das Programm
umgesetzt wird, ein wichtiges Element. Das Projekt ist
gemeinhin unter dem Begriff der Wüstenbekämpfung
bekannt. In Kuba geht es allerdings nicht darum, das
Vordringen der Wüsten zu bekämpfen – insofern ist das
hier ein missverständlicher Begriff –, sondern es geht
darum, zusammen mit der lokalen Bevölkerung etwas
gegen die Degradation, also die Verschlechterung, der
Böden zu tun.
Kollege Gehrcke zu
einer Zusatzfrage, bitte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Staatssekretärin,
würde es Sie verwundern, wenn ich Sie darauf aufmerk-
sam mache, dass gerade der Kollege Irmer in der letzten
Legislaturperiode durch seine Reisen nach Kuba als Ab-
geordneter sehr viel dazu beigetragen hat, die parlamen-
tarische Zusammenarbeit mit Kuba zu entwickeln, und
dass er sich in diesem Sinne auch für die Aufnahme der
Entwicklungszusammenarbeit engagiert eingesetzt hat?
Und würden Sie mir zustimmen, dass viele internationa-
le Erfahrungen, wie Kollege Irmer bestens weiß, dafür
sprechen, dass Dialog, Kooperation und Austausch mehr
helfen als Embargo und Sanktionen?
Dr
Nein, das würde mich nicht verwundern.
Denn auch in der letzten Legislaturperiode haben Kolle-
gen aus derselben Fraktion, der F.D.P.-Fraktion, im
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung durchaus für die Aufnahme der Entwick-
lungskooperation plädiert, weil nämlich ein konstrukti-
ves Engagement im Falle Kubas unter Umständen grö-
ßere Chancen schafft, die Blockadehaltung zu durchbre-
chen.
Wir sehen heute, dass 40 Jahre Blockade nur zu einer
Wagenburgmentalität und nicht zum Erfolg geführt ha-
ben.
Ich finde es richtig, dass sich die jetzige Bundesregie-
rung Gedanken macht, wie man durch einen kritischen
politischen Dialog, das heißt in einem konstruktiven En-
gagement, dazu beitragen kann, dass die Menschen in
Kuba größere Freiräume bekommen, um ihre eigenen
politischen Meinungen zu äußern. Wir wollen nicht nur
sagen, dass die sozialen und wirtschaftlichen Menschen-
rechte gewahrt werden. Uns geht es darum, zu beför-
dern, dass auch die bürgerlichen Freiheitsrechte respek-
tiert werden.
Es gibt offensicht-lich keine Zusatzfrage mehr. Dann rufe ich die Frage 15 des Abgeordneten Irmerauf:Welche Folgerungen zieht die Bundesregierung aus der Auf-kündigung des „konstruktiven Engagements“ der kanadischen Regierung mit Kuba und der Einstellung der kubanisch-kanadischen Entwicklungszusammenarbeit wegen fortgesetzter Missachtung der Menschenrechte?Frau Staatssekretärin, bitte.Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eid
Metadaten/Kopzeile:
8518 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000
Dr
Die breit angelegte kanadisch-kubanische
Entwicklungszusammenarbeit wurde nicht eingestellt,
sondern wird derzeit überprüft. Laufende Vorhaben
werden weiter gefördert. Die kanadischen Erfahrungen
legen allerdings die Folgerung nahe – diese Folgerung
wurde auch von einem prominenten kubanischen Oppo-
sitionellen gezogen –, dass der Politikdialog und die Zu-
sammenarbeit mit einzelnen Gebern nicht ausreichen,
sondern dass möglichst viele Partner – einschließlich der
Europäischen Union – einen konstruktiv-kritischen Dia-
log mit Kuba führen sollten.
Herr Kollege Irmer,
eine Zusatzfrage? – Bitte sehr.
Frau Staatssekretärin, vor dem
Hintergrund Ihrer zu Recht ausgebliebenen Überra-
schung über meine Aktivitäten in Richtung Kuba möch-
te ich Sie denn doch fragen, ob nicht Ihrer Meinung
nach zwischen der Analyse – sie ist richtig –, dass die
Isolierung Kubas eher zur Verfestigung des Regimes ge-
führt hat, und der Tatsache, dass jetzt eine entsprechen-
de Entwicklungshilfe begonnen werden soll, ein Unter-
schied besteht.
Denn es ist ja so, dass andere Länder, wie sich am
Beispiel Kanada zeigt – auch die Europäische Union –,
zwar an Kuba appelliert haben, politische Gefangene
freizulassen, dieser Appell aber nicht dazu geführt hat,
dass politische Gefangene freigekommen sind, sondern
nur dazu, dass sich die Menschenrechtslage in Kuba,
wie wir soeben gemeinsam festgestellt haben, eher ver-
schärft hat. Dies sage ich unbeschadet dessen, dass ich
natürlich durchaus die These vertrete, dass das Castro-
Regime längst beseitigt wäre, wenn die Vereinigten
Staaten nicht eine derartig sinnlose Isolierungspolitik
mit einer solchen Konsequenz gegenüber Kuba durchge-
führt hätten.
Dr
Herr Kollege Irmer, ich möchte noch ein-
mal klarstellen, dass die kanadische Regierung keines-
wegs das so genannte konstruktive Engagement mit Ku-
ba aufgekündigt und auch die Entwicklungszusammen-
arbeit nicht eingestellt hat.
Richtig ist – das ist dem aktuellen Bericht der deut-
schen Botschaft in Havanna zu entnehmen –, dass der
kanadische Ministerpräsident nach der Verurteilung der
so genannten Vierergruppe, der Dissidenten, und nach
dem ibero-amerikanischen Gipfel die Bemerkung mach-
te, man werde die kanadische Politik im Lichte der Er-
eignisse überdenken. Die einzige Konsequenz, die es
gegeben hat, war, dass ein noch nicht beschlossenes Pro-
jekt zurückgestellt worden ist. Im Übrigen herrscht zur-
zeit zwischen Kanada und Kuba eine völlige Normalität
der Beziehungen, auch in der Entwicklungszusammen-
arbeit.
Zur Europäischen Union: Ich möchte noch einmal
klarstellen, dass es auch in der EU Länder gibt – zum
Beispiel Spanien und Frankreich –, die mit Kuba bereits
eine Entwicklungskooperation betreiben. Wir haben
jetzt beschlossen, eine Entwicklungskooperation auf
staatlicher Ebene aufzunehmen, nachdem es schon seit
Jahren über Nichtregierungsorganisationen und Stiftun-
gen eine solche Entwicklungskooperation gibt. Wir ma-
chen also keinen völlig neuen Schritt, sondern führen
auf staatlicher Ebene Projekte ein und weiter, aber im-
mer mit der Stoßrichtung – das versichere ich Ihnen –,
dass wir im Rahmen unserer Zusammenarbeit demokra-
tische Elemente befördern wollen.
Eine zweite Zusatz-
frage, Herr Kollege Irmer? – Bitte.
Frau Staatssekretärin, Sie ha-
ben eben Spanien erwähnt. Dieses Land stellt aufgrund
der Vergangenheit einen Sonderfall dar.
Aber fürchten Sie nicht, dass Sie sich im Rahmen der
Europäischen Union in eine gewisse Isolation begeben
angesichts des Umstandes, dass die Europäische Union
die Aufnahme Kubas in die Gruppe der AKP-Staaten
und eine entsprechende Zusammenarbeit nach wie vor
ablehnt, und zwar mit ausdrücklichem Hinweis darauf,
dass die Menschenrechte dort in ganz erheblichem Maße
verletzt werden? Mir will auch nicht einleuchten, dass
Antidesertifikationsprogramme zur Förderung der Men-
schenrechtslage beitragen sollen.
Dr
Herr Kollege Irmer, ich möchte Sie hier-
mit darüber informieren, dass sich die Länder im Rah-
men der Wüstenkonvention – sie wurde mittlerweile von
über 150 Staaten ratifiziert – völkerrechtlich verpflichtet
haben, die Programme im Rahmen der nationalen Akti-
onsprogramme in einem partizipativen Prozess zu kon-
zipieren und auch umzusetzen.
Ich lade Sie ein, mit zur nächsten Wüstenkonferenz
zu reisen. Sie werden dann Gelegenheit haben, mit den
Vertreterinnen und Vertretern der entsprechenden Re-
gierungen zu diskutieren. Oder ich lade Sie ein, mit nach
Kuba zu reisen, nachdem dort mit diesem Programm be-
gonnen wurde, damit Sie sich vor Ort persönlich davon
überzeugen können.
Die Fragen 16 und17 werden schriftlich beantwortet. Daher danken wir derFrau Staatssekretärin nach dieser freundlichen Antwortfür die Beantwortung der vielen Fragen.Ich rufe nun den Geschäftsbereich des AuswärtigenAmtes auf. Zur Beantwortung steht Herr StaatsministerDr. Ludger Volmer zur Verfügung. Die Fragen 18, 19,20 und 21 werden schriftlich beantwortet. Ich rufe die Frage 22 des Kollegen Ruprecht Polenzauf:
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000 8519
Ist es zutreffend, dass der von Deutschland gelieferte Kampfpanzer Leopard 1 niemals in Kampfhandlungen gegen die PKK oder in Akte der inneren Repression gegen kurdische Zivi-listen in Ostanatolien aktiv verwickelt war, wie dies von der deutschen Rüstungsindustrie dargelegt wird?Herr Staatssekretär, bitte sehr.D
Herr Kollege Polenz, Sie fragten nach menschen-
rechtswidrigen Einsätzen des Leopard 1 in der Türkei.
Meine Antwort darauf: Die Bundesregierung konnte
bisher keine Erkenntnisse gewinnen, dass der Kampf-
panzer Leopard 1 in Kampfhandlungen gegen die PKK
oder in Akte der inneren Repression in Ostanatolien ein-
gesetzt wurde.
Ich rufe dann die
Frage 23 des Kollegen Polenz auf:
Wann ist der abgesagte Besuchstermin des Bundeskanzlers in die Türkei vereinbart worden, und ist es nicht zutreffend, dass die eigentliche Begründung für die Absage im Zusammenhang mit der Diskussion um die Lieferung des Kampfpanzers Leo-pard 2 an die Türkei zu sehen ist?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
D
Herr Polenz, Sie fragten nach den Gründen für die
Absage des Bundeskanzlers bezogen auf seinen geplan-
ten Türkei-Besuch. Die Reise des Bundeskanzlers in die
Türkei – so meine Antwort – ist angesichts der zeitli-
chen Nähe zu der Reise des Bundespräsidenten in die
Türkei, die vom 6. bis 8. April 2000 stattfindet, nicht
abgesagt, sondern verschoben worden. Die Diskussion
um eine mögliche Lieferung des Kampfpanzers Leo-
pard 2 an die Türkei hat bei der Verschiebung der Reise
keine Rolle gespielt.
Sie haben eine Zu-
satzfrage, Herr Kollege? – Bitte sehr.
Wann war dem Aus-
wärtigen Amt oder dem Kanzleramt die Reise des
Bundespräsidenten bekannt?
D
Wir wussten, dass der Bundespräsident grundsätz-
lich eine Reise nach Griechenland und in die Türkei
plante. Diese Planung ist aber erst relativ spät konkreti-
siert worden.
Es gibt eine weitere
Zusatzfrage. Bitte sehr.
Herr
Staatsminister, wann waren denn Ihrem Haus die Reise-
pläne des Bundeskanzlers bekannt?
D
Da müsste ich einmal nachhören. Ich habe die Da-
ten nicht im Einzelnen im Kopf.
Sie haben eine wei-
tere Zusatzfrage, Herr Polenz? – Bitte sehr.
Gibt es inzwischen
einen neuen Termin für einen Besuch des Bundeskanz-
lers in der Türkei?
D
Danach werde ich mich gerne beim Bundeskanz-
leramt erkundigen.
Nun rufe ich die
Frage 24 des Abgeordneten Dr. Hans-Peter Uhl auf:
Welche Menschenrechtsverletzungen in der Türkei sind in diesem Jahr dem Auswärtigen Amt bekannt geworden, und wel-che Besserungen der Menschenrechtssituation hat die türkische Regierung in Aussicht gestellt?
Herr Staatssekretär, bitte.
D
Herr Uhl, Sie fragten ganz allgemein nach Men-schenrechtsverletzungen in der Türkei. Ich antworte wiefolgt: Die Menschenrechtslage in der Türkei ist weiterals unbefriedigend zu bezeichnen. Dies gilt insbesonderefür den Südosten des Landes. Die Staatsschutzbestim-mungen des allgemeinen Strafrechts, die Notstandsde-krete sowie das Antiterrorgesetz eröffnen Einschrän-kungsmöglichkeiten in Bezug auf die Meinungs- undPressefreiheit. Häufig werden diese Vorschriften sehrweit ausgelegt und nicht einheitlich angewandt. Hinzukommen Berichte über Verstöße türkischer Sicherheits-kräfte gegen menschenrechtlich relevante Regelungendes türkischen Rechts wie zum Beispiel das Folterver-bot. Die Bundesregierung verfolgt die Entwicklung sorg-fältig. Bekannt gewordene Einzelfälle bezieht sie in dieErörterung menschenrechtlicher Fragen mit der türki-schen Regierung ein. Seit dem Europäischen Rat vonHelsinki bietet die türkische EU-Kandidatur eine grund-legend neue und verbesserte Basis hierfür. Auch türki-sche Menschenrechtsorganisationen, mit denen die Bun-desregierung enge Kontakte unterhält, befürworten dieEinbindung der Türkei in die Kopenhagener Beitrittskri-terien nachdrücklich. Das türkische Parlament hat mit Gesetz vom 24. Fe-bruar 2000 die Geltung des am 26. August 1999 erlasse-nen so genannten Reuegesetzes – das ist ein Gesetz, dasauf bestimmte Straftäter im Zusammenhang mit den be-kannten politischen Auseinandersetzungen in der Türkeianzuwenden ist – um weitere sechs Monate bis zum 29. August 2000 verlängert. Das Reuegesetz gewährtbestimmten Straftätern Strafermäßigung oder sogarStraferlass, wenn sie sich freiwillig den Sicherheitsbe-hörden stellen und aktiv zur Bekämpfung der Organisa-tion, der sie angehört haben, beitragen. Diese sehr engeDefinition der Reichweite des Reuegesetzes zeigt aberauch, dass der Kreis derer, die in den Genuss dieses Ge-setzes kommen, sehr klein sein dürfte. Vizepräsidentin Anke Fuchs
Metadaten/Kopzeile:
8520 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000
Erste Zusatzfrage,
bitte, Herr Kollege.
Herr Staatsminis-
ter, nachdem der Türkei der Status als Beitrittskandidat
für die EU verliehen worden ist, stelle ich die Frage: Ist
die Bundesregierung der Auffassung, dass dieser Um-
stand dazu angetan ist, schon jetzt eine positive Men-
schenrechtsprognose für die Türkei auf mittlere Sicht zu
stellen?
D
Nein, wir geben keine Prognose ab. Wir erhoffen
uns, dass die Anwendung der Kopenhagener Kriterien,
die mit der Perspektive eines EU-Beitritts notwendiger-
weise verbunden ist, dazu beiträgt, dass sich die Men-
schenrechtslage in der Türkei nachhaltig und durchgrei-
fend verbessert. Für den Fall, dass dies nicht so sein
sollte, wird sich der Prozess eines eventuellen EU-
Beitritts umso länger hinauszögern.
Vielen Dank. Ich
mache darauf aufmerksam, dass es jetzt Fragen zum
Themenkomplex „Export von Leopard-Kampfpanzern“
gibt, deren Beantwortung in andere Zuständigkeiten
fällt. So rufe ich nacheinander die Fragen 34, 41 und 35
auf, die Herr Siegmar Mosdorf bzw. Frau Brigitte Schulte
beantworten werden.
Ich rufe Frage 34 des Kollegen Johannes
Singhammer auf:
Stimmen nach Ansicht der Bundesregierung Prognosen, dass bei einer Ablehnung des Exports von Panzern des Typs Leopard 2 in die Türkei allein rund 6 000 Arbeitsplätze in den nächsten 10 Jahren verloren gingen, und würde sich eine Nichtbelieferung der Türkei bei einer türkischen Bestellung auch auf Verkäufe in andere Länder, beispielsweise nach Griechenland, auswirken?
Herr Staatssekretär Mosdorf, bitte.
S
Frau Präsi-
dentin! Herr Kollege, bei dem möglichen Verlust von
6 000 Arbeitsplätzen in den nächsten zehn Jahren, die
Sie in Ihrer Frage erwähnen, handelt es sich um Anga-
ben der Panzer bauenden Industrie. Mangels belegbarer
eigener Erkenntnisse kann die Bundesregierung daher
zurzeit zu diesen Angaben keine Stellung nehmen.
Zu den möglichen Auswirkungen einer Nichtbeliefe-
rung der Türkei mit Panzern auf einen Verkauf an ande-
re Länder liegen der Bundesregierung keine entspre-
chenden Erkenntnisse vor.
Zusatzfrage, Herr
Kollege? – Bitte.
Herr Staats-
sekretär, ist die Bundesregierung dann, wenn sich diese
von der wehrtechnischen Industrie gemachten Angaben
über Arbeitsplatzverluste als zutreffend herausstellen
sollten, bereit, für die Sicherung dieser Arbeitsplätze
ähnliche Aktivitäten zu entwickeln, wie das beispiels-
weise im Falle Holzmann geschehen ist?
S
Herr Kol-
lege, Sie stellen hypothetische Fragen, auf die ich natür-
lich keine Antwort gebe, zumal ich die beiden Fälle
auch nicht vergleichen möchte.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staats-
sekretär, ist die Bundesregierung der Auffassung, dass
eine Unterscheidung zwischen Arbeitsplätzen in der
wehrtechnischen Industrie und Arbeitsplätzen in anderen
Bereichen hinsichtlich ihrer moralischen Qualität nicht
möglich ist, dass eine Unterscheidung zwischen so ge-
nannten guten und schlechten Arbeitsplätzen ausschei-
det, dass also vielmehr um jeden Arbeitsplatz, egal, in
welcher Branche er sich befindet, mit der gleichen Mühe
und der gleichen Besorgnis gerungen werden muss?
S
Herr Kol-
lege, wir haben uns als Bundesregierung Grundsätze ge-
geben, die ich vor wenigen Wochen hier erläutern durf-
te. Sie können diesen Grundsätzen entnehmen, wie wir
in solchen Fällen verfahren.
Jetzt rufe ich die
Frage 41 des Abgeordneten Johannes Singhammer auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung, vor allem auch aufgrund der Haushaltskürzung im Bundesministerium der Verteidigung von 18,3 Milliarden DM bis 2003, die Feststellungen des Ar-beitskreises der Betriebsräte der deutschen wehrtechnischen In-dustrie, dass von einem weiteren Personalabbau von 10 000 Stellen bis 2003 ausgegangen werden müsse, nachdem die Zahl der dort Beschäftigten bereits im Zeitraum von 1990 bis 1999 von 280 000 auf 100 000 geschrumpft ist?
Frau Brigitte Schulte steht zur Beantwortung zur Ver-
fügung. Frau Staatssekretärin, bitte.
B
Herr Kollege, die neueBundesregierung hat bei ihrem Amtsantritt im Herbst1998 eine dramatische Finanzlage vorgefunden, diemaßgeblich die alte Bundesregierung zu verantwortenhatte. Ich darf Sie daran erinnern: In den 16 Jahren derCDU/CSU-F.D.P.-Regierung sind die Schulden desBundes, die im Jahre 1982 bei 300 Milliarden DM la-gen, auf 1,5 Billionen DM – auf das Fünffache – ange-stiegen. Insoweit war es unvermeidlich, dass versuchtwird, in allen Bereichen, damit auch bei der Bundes-wehr, zu sparen. Ungeachtet dessen wurden von FinanzministerEichel – darauf möchte ich besonders hinweisen, denndaraufhin erfolgten Beschaffungen – sowohl im Jahre1999 als auch im Jahre 2000 zusätzliche Mittel im Ein-zelplan 60 für den Geschäftsbereich des Bundesminis-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000 8521
ters der Verteidigung für internationale Einsätze zurVerfügung gestellt. Das ist dem Kollegen Rühe zurAmtszeit des Finanzministers Waigel nie gelungen.So wurden für das Jahr 2000 zusätzlich 2 Milliar-den DM zur Verfügung gestellt, mit denen Beschaffun-gen erfolgen, nämlich Ersatzbeschaffungen und zusätz-liche Ausrüstung. Im Jahre 1999 haben wir immerhin441 Millionen DM aus dem Einzelplan 60 mehr be-kommen. Der kommende mittelfristige Finanzplan steht aus-drücklich unter dem Vorbehalt der Ergebnisse der Struk-turüberlegungen und der Entscheidung zur Modernisie-rung der Bundeswehr und der Streitkräfte. Dabei ist esbei der Bundeswehr unumstritten, dass das veraltete Ge-rät der Bundeswehr dringend modernisiert bzw. neuesGerät beschafft werden muss. Zuerst wird es aber not-wendig sein, zeitgemäße Strukturentscheidungen zu tref-fen und dann den Finanzplan anzupassen. Ich gehe da-von aus, dass sich der tatsächliche Haushaltsumfang unddie mittelfristige Finanzplanung an diesen Erkenntnissenorientieren.Was die Feststellung des Arbeitskreises der Betriebs-räte der deutschen wehrtechnischen Industrie betrifft, sokann die Bundesregierung und so kann ich sie nach 19-jähriger Tätigkeit im Verteidigungsbereich nichtnachvollziehen. Zutreffend ist – mein Kollege Mosdorfhat es gesagt –, dass die Zahl der Beschäftigten in die-sem Bereich in den letzten Jahren erheblich zurückge-gangen war. Soweit aber Unternehmen einen weiterenPersonalabbau wegen angeblicher Einsparungen planen,ist das ihre unternehmerische Entscheidung. Ich kann zum Beispiel überhaupt nicht nachvollzie-hen, warum noch in den letzten Jahren in Thüringen einneues Instandsetzungswerk für Radfahrzeuge geschaffenwurde, und das mit öffentlichen Mitteln, obwohl genü-gend Kapazitäten in den alten und neuen Bundesländernzur Verfügung standen. Ich kann Ihre Frage und die desArbeitskreises der Betriebsräte der deutschen wehrtech-nischen Industrie als eine politische Frage verstehen,aber nicht als eine sachlich orientierte Frage.
Zusatzfrage, Herr
Kollege? – Bitte sehr.
Frau Staats-
sekretärin, dies war eine politisch-sachliche Frage, wenn
ich dies hinzufügen darf. Ich möchte eine weitere poli-
tisch-sachliche Frage anschließen: Was können Sie den
vielen Tausend Beschäftigten in der wehrtechnischen
Industrie, die in größter Sorge um ihren Arbeitsplatz
sind, und ihren vielen Zehntausend Angehörigen, die
ebenfalls diese Sorge haben, über die weiteren Pläne der
Bundesregierung sagen? Können Sie zu ihrer Beruhi-
gung beitragen?
B
Ich kann sie insofern be-
ruhigen, als wir im letzten Jahr über 700 Millionen DM
mehr ausgegeben haben, als die letzte Bundesregierung
das wollte. Sehr wundersam, Herr Kollege Singhammer,
ist, dass sich im Jahr 1998 die Zahl der Instandsetzungs-
aufträge für Radfahrzeuge der Bundeswehr teilweise
verdoppelt hat und wir das Malheur vorfanden, dass wir,
statt notwendige Maßnahmen durchführen zu können,
offensichtlich aus parteipolitischen Gründen beschlosse-
ne Maßnahmen – vielleicht hat es etwas mit dem Wahl-
jahr bzw. den Spenden zu tun gehabt – abbauen muss-
ten.
Ich möchte auf die Vertreter der von Ihnen genannten
Einrichtung, zu denen ich bereits ein paar passende
Worte gesagt habe, zurückkommen. Es wurden im
Wahljahr vielleicht, um entsprechende Wirkung zu er-
zielen, an bestimmten Orten neue Firmen gegründet und
gleichzeitig die Kapazitäten in bestehenden Firmen ab-
gebaut. Ich nenne die Firmen Wegmann in Kassel sowie
Krauss-Maffei, die sich im Wahlkampf dafür loben lie-
ßen, dass sie neue Kapazitäten schafften, während sie
gleichzeitig Arbeitsplätze in Kassel abbauten. Das kann
man als Steuerzahler nicht akzeptieren.
Ich könnte diese Beispiele fortsetzen. Ich war gerade
in den letzten Tagen intensiv damit beschäftigt. Ich halte
das für sehr unsinnig und unverantwortlich. Wir bräuch-
ten das Geld für eine Haubitze, die Sie angeschafft ha-
ben. Sie nennt sich „Panzerhaubitze 2000“ und kostet
den deutschen Steuerzahler mehrere Milliarden DM. Es
war nicht einmal das Geld zur Verfügung, damit dieses
Gerät für einen möglichen Einsatz im Kosovo zur Ver-
fügung gestellt werden konnte.
Wollen Sie noch ei-
ne Zusatzfrage stellen, Herr Kollege Singhammer?
Wie hoch
schätzen Sie die Ausfälle an Steuern und Sozialversiche-
rungsbeiträgen, wenn nur Tausend Arbeitskräfte arbeits-
los werden? Sind Sie mit mir der Meinung, dass diese
Beträge, die an einer Stelle eingespart werden können,
aufgrund des Wegfalls von Arbeitsplätzen an anderer
Stelle den Bundeshaushalt teuer zu stehen kommen?
B
Ich teile Ihre Meinungüberhaupt nicht. Wir haben heute im Kanzleramt einenzweiten Vertrag unterschrieben, an dem sich 94 über-wiegend mittelständische und größere Unternehmen be-teiligt haben, die mit der Bundeswehr in Anwesenheitdes Herrn Bundeskanzlers und des Herrn Bundesvertei-digungsministers Verträge zur Kooperation abschließenwollen. Wenn Sie uns nicht eine so schlechte Organisa-tion auch im zivilen Bereich der Bundeswehr hinterlas-sen hätten, sondern dort moderne Managementmethodeneingeführt hätten, dann hätten wir keine Probleme damit,diese Kooperation fortzusetzen. Die Firmen sind sehr daran interessiert, mit uns zukooperieren und mit uns endlich auch die Dauer der Be-schaffungsvorgänge in bestimmten Bereichen herunter-zufahren. So wollen sie beispielsweise statt in 15 Jahrenin sieben Jahren etwas machen. Deswegen ist das, wasParl. Staatssekretärin Brigitte Schulte
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8522 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000
Sie sagen, alles hypothetisch und trifft die Wirklichkeitnicht. Eines kann ich Ihnen sagen: Wir werden Firmennicht deshalb erhalten, weil es in einem Wahlkampf op-portun war, ein siebentes und achtes Los des PanzersLeopard 2 zu kaufen, obwohl wir diesen nicht brauchen.Dieses wird hoffentlich bei einer sozialdemokratischund vom Bündnis 90/Die Grünen geführten Bundesre-gierung nicht vorkommen. Von dieser Art Entscheidungwird es in der Zukunft noch ein paar geben.
Ich erteile der Kol-
legin Lippmann das Wort für eine Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, Sie
sprachen gerade von den rot-grünen Aktivitäten und –
davon, was mit Ihnen machbar ist und was nicht. Ich er-
innere mich daran, dass in den Koalitionsvereinbarun-
gen, insbesondere aber auch in den Programmen von
SPD und Grünen, vom Abbau der Rüstungsindustrie
sowie von der Auflage von Konversionsprogrammen für
den rüstungs- und wehrtechnischen Bereich die Rede
war. Gibt es Planungen in Ihrem Haus oder in anderen
Bereichen der Bundesregierung, solche Konversions-
programme aufzulegen?
B
Liebe Frau Kollegin
Lippmann, zynischerweise muss ich sagen: Das hat die
alte Bundesregierung ja bereits für uns geleistet, indem
sie in massiver Weise – man spricht von 180 000 Ar-
beitsplätzen; manche sprechen von 200 000 – Arbeits-
plätze abgebaut hat. Aber sie hat es bedauerlicherweise
wenig systematisch gemacht.
Denn das betrifft zum Teil auch qualifizierte Tätig-
keiten, deren Kompetenz wir auch in der Zukunft brau-
chen werden.
Frau Lippmann, nun kann man heute Gott sei Dank
vieles auch in der Rüstungsindustrie aus der deutschen
Technologie in anderen Bereichen oder der internationa-
len Technologie beziehen. Eines haben die meisten Kol-
legen unterschätzt: Wie groß der Nachholbedarf bei der
Modernisierung der Bundeswehr ist.
Auch wenn Sie gegen internationale Einsätze sind,
wollen Sie wohl nicht, dass die Soldaten, die daran teil-
nehmen, nicht – zu ihrem eigenen Schutz – vernünftig
ausgestattet sind. Insoweit bin ich relativ gelassen. Wir
werden nicht unbedingt eigenes, selbstentwickeltes Ge-
rät für die Bundeswehr brauchen. Wir werden da auch
die Zweibahnstraße aus ziviler Technologie und militä-
rischer Technologie nutzen können. Aber wir haben na-
türlich auch einen Nachholbedarf bei der Modernisie-
rung. Dem werden auch Sie sich nicht verschließen kön-
nen.
Nun hat Herr Kolle-
ge Dr. Schockenhoff eine Zusatzfrage.
Frau
Staatssekretärin, Sie sagen, die alte Bundesregierung
habe bis zu 200 000 Arbeitsplätze in der Rüstungs-
industrie abgebaut. Können Sie mir einen einzigen Ar-
beitsplatz benennen, den die Regierung abgebaut hat?
B
Das war ja das Problem,
dass Sie natürlich Ihre Haushalte herunterfahren muss-
ten – im Gegensatz zu uns, Herr Kollege, die wir im
letzten Jahr die Mittel für Beschaffungsmaßnahmen an-
gehoben haben und auf anderen Gebieten gespart haben.
In der genannten Unterlage steht – das war doch wohl
die Frage, die Kollege Singhammer dem Kollegen
Mosdorf gestellt hat –, dass tatsächlich zwischen 1990
und 1999 die Zahl der Arbeitsplätze von 280 000 auf
100 000 geschrumpft ist. Er hat sich übrigens dabei auch
wieder auf den Arbeitskreis der Betriebsräte der deut-
schen wehrtechnischen Industrie berufen. Aus dieser
Quelle stammt die Zahl von 180 000 bis 200 000 Ar-
beitsplätzen.
Nun rufe ich die
Frage 35 des Kollegen Dr. Uhl auf:
Schließen die von der Bundesregierung jetzt verabschiedeten Exportrichtlinien, in denen der Export von Rüstungsgütern in Nicht-NATO-Länder grundsätzlich nicht vorgesehen ist, eine Exportgenehmigung in ein Land, das der NATO nicht angehört, aber eine demokratisch legitimierte Regierung hat, wie Chile oder Österreich, aus?
Zur Beantwortung steht Herr Staatssekretär Mosdorf
zur Verfügung. Sie haben das Wort.
S
Herr Dr.
Uhl, die Bundesregierung antwortet auf Ihre Frage wie
folgt: Die politischen Grundsätze der Bundesregierung
für den Export von Kriegswaffen und sonstigen
Rüstungsgütern unterscheiden zwischen Ausfuhren in
NATO-Staaten, EU-Staaten und NATO-gleichgestellte
Staaten auf der einen Seite und Lieferungen in sonstige
Länder auf der anderen Seite. Österreich als EU-
Mitgliedstaat gehört zum Kreis der privilegierten Län-
der. Lieferungen sind daher grundsätzlich nicht zu be-
schränken.
Über Ausfuhren von Rüstungsgütern in Drittländer
außerhalb des oben genannten Kreises von Ländern wird
jeweils im Einzelfall unter Berücksichtigung der
einschlägigen Bestimmungen, der politischen Grund-
sätze sowie des EU-Verhaltenskodex entschieden.
Haben Sie eine Zu-
satzfrage, Herr Kollege? – Bitte sehr.
Herr Staatssekre-tär, welches Interesse hat die Bundesregierung am ErhaltParl. Staatssekretärin Brigitte Schulte
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000 8523
von nationalen Kernkompetenzen und Mindestkapa-zitäten in der Wehrtechnik angesichts des Umstandes,dass bei der Produktion von Großkampfwagen – abernur dort – deutsche Firmen noch in der Weltspitze sind?S
Wir haben
ein großes Interesse daran, dass die Kernkompetenzen
erhalten bleiben, Herr Abgeordneter.
Jetzt hat Frau Kolle-
gin Lippmann eine Frage. Bitte sehr.
Ich beziehe mich auf die
Ausgangsfrage des Kollegen und möchte gern von Ihnen
wissen, ob Sie die folgende Frage beantworten können,
nachdem das Verteidigungsministerium heute Vormittag
nicht in der Lage war, uns diese Frage kurzfristig zu be-
antworten.
Wie wird die mögliche Lieferung von 64 bewaffneten
Spürpanzern Fuchs der Firma HWK aus Kassel an die
Vereinigten Arabischen Emirate unter Berücksichtigung
der neuen Rüstungsexportrichtlinien und insbesondere
unter Berücksichtigung der Menschenrechtslage von der
Bundesregierung beurteilt?
S
Frau Kol-
legin, es liegt hierzu nur eine Voranfrage vor. Die Bun-
desregierung hat sich damit noch nicht im Einzelnen be-
schäftigt.
Nun rufe ich die
Frage 36 des Kollegen Dr. Schockenhoff auf:
Tagt der Bundessicherheitsrat öffentlich oder geheim und was war der Grund dafür, das unterschiedliche Abstimmungs-verhalten der beteiligten Ressorts bei der Frage einer Lieferung des Testpanzers Leopard 2A6 in den Medien darzustellen?
Diese Frage wird auch der Staatssekretär Siegmar
Mosdorf beantworten. Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
S
Herr Kol-
lege Schockenhoff, die Sitzungen des Bundessicher-
heitsrates sind geheim. Über das Abstimmungsverhalten
der einzelnen Mitglieder hat es seitens der Bundesregie-
rung zu keinem Zeitpunkt eine Verlautbarung gegeben.
Zu Darstellungen der Medien über vertrauliche Ange-
legenheiten des Bundessicherheitsrates nimmt die Bun-
desregierung grundsätzlich nicht Stellung.
Zusatzfrage, bitte
sehr.
Herr
Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, dass die Ministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und der Außenminister
auf Parteiveranstaltungen, bei denen Medien zugelassen
und zugegen waren, ihr Abstimmungsverhalten im Bun-
dessicherheitsrat öffentlich begründet haben und steht
dieses Verhalten nicht im Widerspruch zu dem Grund-
satz, den Sie gerade beschrieben haben? Wenn Sie die-
ser Einschätzung folgen können, frage ich Sie: Halten
Sie angesichts dieses Widerspruchs Konsequenzen in-
nerhalb der Bundesregierung für erforderlich?
S
Herr Kol-
lege Schockenhoff, die Bundesregierung hat selber eine
Geschäftsordnung und an die hält sie sich.
Zweite Zusatzfrage.
Herr
Staatssekretär, können Sie das gerade von mir beschrie-
bene Verhalten zweier Regierungsmitglieder bestätigen
und lässt sich dieses mit der Geschäftsordnung der Bun-
desregierung in Einklang bringen?
S
Herr Kol-
lege Schockenhoff, ich war nicht auf den Bun-
desversammlungen der Grünen persönlich anwesend.
Deshalb kann ich das in Ihrer Frage beschriebene Ver-
halten nicht bestätigen.
Ich rufe nun die
Frage 42 des Kollegen Schockenhoff auf:
Sind Pressemeldungen wie in der Wirtschaftswoche Nr. 7 vom 10. Februar 2000, Seite 9, zutreffend, wonach der Testpan-zer vom Typ Leopard 2, der vor einigen Wochen in die Türkei geliefert wurde, in Wirklichkeit nicht von der Herstellerfirma stammt, sondern von der Bundeswehr aus eigenen Beständen ge-liefert und von der Herstellerfirma nur aufgerüstet wurde, und wenn ja, musste die Türkei dies nicht als zusätzliches Signal auf-fassen, dass die deutsche Bundesregierung für den Fall eines Zu-schlags dem Gesamtgeschäft keine Steine in den Weg legen würde?
Zur Beantwortung steht Frau Staatssekretärin Brigitte
Schulte zur Verfügung. Bitte sehr.
B
Frau Präsidentin, HerrKollege, die Pressemeldung ist so – ich betone: so –nicht zutreffend. Das Bundesamt für Wehrtechnik undBeschaffung hat mit Leihvertrag vom 3. August 1998,also noch zur Zeit der alten Bundesregierung vonCDU/CSU und F.D.P., der Firma Krauss-Maffei-Wegmann einen Kampfpanzer Leopard 2 zur firmenei-genen Weiterentwicklung des Waffensystems für denZeitraum von 1998 bis 2008 überlassen. Ein Teil derEntwicklungsergebnisse wird dem Bund dafür unent-Dr. Hans-Peter Uhl
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8524 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000
geltlich zur Verfügung gestellt. Die Kosten für Betriebund Instandsetzung dieses Fahrzeuges trägt die Firma. Es trifft zu, dass die Firma Krauss-Maffei-Wegmanndieses Fahrzeug der Türkei für eine Vergleichserpro-bung zur Verfügung gestellt hat. Die Bundesregierunghat der temporär begrenzten Ausfuhr zugestimmt. EinePräjudizierung der Ausfuhrentscheidung bezüglich desGesamtgeschäfts ist daraus nicht ableitbar.
Eine Zusatzfrage? –
Herr Kollege, bitte.
Ist der Bundesregie-
rung bei diesem Geschäft, dem sie zugestimmt hat, be-
kannt gewesen, dass es aus der Sicht der Türkei nach ih-
ren eigenen Auslobungsbedingungen selbstverständlich
sein musste, dass ein Land, das der Übersendung eines
Testpanzers zugestimmt hat, auch bereit ist, dem endgül-
tigen Geschäft für den Fall zuzustimmen, dass dieser
Testpanzer im Rahmen des Wettbewerbsverfahrens den
Zuschlag erhält?
B
Nein, Herr Polenz, das ist
eine freie Entscheidung der Bundesregierung. Das, was
sich die Türkei vorstellt, ist eine andere Sache. Wir ha-
ben zugestimmt, dass die Türkei den Testpanzer erhält,
weil sie bereits seit langem den Leopard 1 hat, nämlich
seit über 20 Jahren. Das ist bekannt. Aber damit ist nicht
das Geschäft mit dem Leopard 2 präjudiziert, auch dann
nicht, wenn die Türkei diese Vorstellung gehabt haben
sollte. Ich hatte aber gar nicht den Eindruck, dass sie
diese Vorstellung hatte. Ich kenne die Verhältnisse in
der Türkei aufgrund der guten Zusammenarbeit schon
etwas länger. Ich muss Ihnen ehrlich gestehen: Ob das
Geschäft mit dem Leopard 2 zustande kommt, wird sich
ergeben. Erst einmal müssen wir abwarten, ob die Tür-
kei ihn überhaupt aussucht.
– Das war etwas anderes.
Nun hat der Kollege
Singhammer eine Zusatzfrage. Bitte sehr.
Frau Staats-
sekretärin, welche Auswirkungen erwartet die Bundes-
regierung auf die 2 Millionen Menschen mit türkischem
Pass, die in Deutschland leben, wenn weiterhin in so
brüskierender Weise eine Hinhaltetaktik gegenüber der
Türkei verfolgt wird, die Panzer benötigt, um die
Selbstverteidigung sicherzustellen?
B
Wenn die 2 Millionen
Türken in Deutschland ihren Landsleuten in der Türkei
bewusst machen würden, wie gut es sich in einem de-
mokratischen Rechtsstaat leben lässt, der seine Prinzi-
pien auch in der Praxis verwirklicht hat, und wenn da-
rüber hinaus in der Türkei jene Kräfte unterstützt wür-
den, die einen demokratischen Rechtsstaat wirklich zu
fördern versuchen – es hat ja Fortschritte gegeben –,
dann wäre das keine Diskussion; denn die Türkei ist auf
vielen Gebieten ein sehr verlässlicher Partner. Es hängt
jetzt ganz entscheidend von diesen 2 Millionen Türken
ab, ob sie sich darum bemühen, zu sagen, wie das ist,
wenn man in einem demokratischen Rechtsstaat lebt,
und ihn den Bürgern in der Türkei auch wirklich vorzu-
leben.
Nun kommt Kollege
Niebel mit einer Frage. – Wir sind bei Frage 42, Herr
Kollege, weil Sie gerade erst gekommen sind.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Ich verfolge die Debatte persönlich anwesend schon et-
was länger. Deswegen habe ich mich auch entschieden,
hier nachzufragen.
Frau Staatssekretärin, Sie haben bei der vorhergehen-
den Frage gesagt, dass es noch kein Präjudiz gibt, nur
weil der Testpanzer geliefert wurde, dass hinterher auch
Panzer geliefert werden können. Darauf wollte ich zu-
rückkommen.
Ich habe mir Ende letzten Jahres ein Auto gekauft
und habe natürlich verschiedene Modelle Probe gefah-
ren. Wenn mir jetzt ein Händler gesagt hätte, du be-
kommst das Auto zur Probefahrt und darfst es dir an-
schauen, aber ich verkaufe es dir hinterher nicht, hätte
ich mich sehr gewundert. Meinen Sie nicht, dass es bei
Panzern ähnlich ist?
B
Herr Kollege Niebel, bei
Autos wäre ich ja sofort einverstanden. Damit schießt
man in der Regel keine anderen tot.
– Doch, Sie haben Recht. Ich nehme es sofort zurück.
Auch das Auto ist ein potenzielles Mordfahrzeug, wenn
man nämlich damit nicht vernünftig umgeht, aber das
andere ist potenziell dazu da, jemanden zu bekämpfen.
Also lassen Sie uns mit Gelassenheit betrachten, wie
sich das Verhalten der Türkei weiterentwickelt. Dann
müssen Sie abwarten, ob die Türkei wirklich das Gerät
haben möchte. Dann kommt es auf die Bedingungen an,
zum Beispiel, ob das Geschäft so aussieht, dass wir da-
bei mit Mitteln der Steuerzahler wieder draufzahlen. Das
alles wollen wir einmal in Ruhe abwarten.
Nun kehren wir zu-rück zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes.Herr Staatsminister Dr. Volmer steht zur Beantwortungzur Verfügung.Parl. Staatssekretärin Brigitte Schulte
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000 8525
Ich rufe die Frage 25 des Kollegen Siemann auf:Wie bewertet die Bundesregierung im Nachhinein die von ihr gewählte Strategie, den Überschwemmungsopfern in Mo-sambik erst nur finanzielle Unterstützung zur Verfügung zu stel-len und erst später personelle und technische Hilfe in das Kata-strophengebiet zu entsenden, und welche Folgerungen zieht die Bundesregierung konkret in Bezug auf Krisenfrüherkennung, Koordination und schnelle Reaktionsfähigkeit aus der dramati-schen Entwicklung in Mosambik für künftige Katastrophenhil-fen national und auf europäischer Ebene?Bitte sehr, Herr Staatsminister.D
Herr Siemann, nach Ansicht der Bundesregierung
wurde die richtige Strategie gewählt. Die Erfahrungen
der vergangenen Jahre und die Verfügbarkeit der Mittel
sprechen dafür, humanitäre Maßnahmen zunächst mit
Hilfe lokal verfügbarer Ressourcen durchzuführen, da
diese rasch und effizient umgesetzt werden können.
Hierfür wurden Mittel bereitgestellt, wobei von Anfang
an darauf hingewiesen wurde, dass der Finanzbeitrag der
Bundesregierung bei Bedarf aufgestockt werden könne.
Auf Bundeswehr und Bundesgrenzschutz sollte nur dann
zurückgegriffen werden, wenn alle lokal verfügbaren
Mittel ausgeschöpft worden sind. Diese Ausnahmesitua-
tion ist im Falle von Mosambik eingetreten, kann aber
nicht uneingeschränkt auf andere humanitäre Krisensitu-
ationen übertragen werden.
Die Bundesregierung hat aus Mitteln des Auswärti-
gen Amtes und des BMZ bereits in der ersten kritischen
Phase Anfang Februar Mittel für die medizinische
Betreuung und Versorgung von Überschwemmungsop-
fern in Maputo mit Hilfsgütern und Trinkwasser bereit-
gestellt. Diese Maßnahmen konnten über bereits im
Land tätige Hilfsorganisationen rasch und effizient um-
gesetzt werden.
Unmittelbar nach der unvorhersehbaren dramatischen
Entwicklung, die wesentlich durch das Öffnen von
Dämmen am Oberlauf der betreffenden Flüsse ver-
schärft wurde, wurden durch Auswärtiges Amt und
BMZ weitere Mittel zur Verfügung gestellt, darunter
500 000 DM für den Einsatz von Rettungshubschrau-
bern.
Als ersichtlich wurde, dass keine ausreichende Zahl
von Hubschraubern der Region für den Einsatz von Ret-
tungsflügen verfügbar war, entschloss sich die Bundes-
regierung zur Entsendung von sieben Hubschraubern
und Einheiten der Bundeswehr und des Bundesgrenz-
schutzes zur Rettung und Versorgung der Flutopfer.
Die Bundesregierung hat auf die dramatische Ver-
schärfung der Lage schnell reagiert und unverzüglich ei-
ne Entscheidung über den Einsatz von Hubschraubern
der Bundeswehr und des Bundesgrenzschutzes herbeige-
führt. Die Tatsache, dass für den Transport der Hub-
schrauber nur außerhalb Deutschlands verfügbare Groß-
raumflugzeuge, so die Antonov, eingesetzt werden
konnten, hat allerdings zu unvermeidlichen Vorlaufzei-
ten geführt. Die Umsetzung der Maßnahmen vor Ort er-
folgte rasch und in Abstimmung mit den internationalen
Koordinierungsstrukturen vor Ort. Die Koordinierung
der Einsätze in Beira zwischen den dort operierenden
Akteuren funktioniert reibungslos.
Die Bundesregierung befürwortet im Übrigen nach-
drücklich die Bemühungen der betroffenen Staaten in
der Region, in Zukunft bei der Krisenprävention
und -reaktion enger zusammenzuarbeiten.
Auf europäischer Ebene hat die Bundesregierung
durch den deutschen EU-Botschafter und den Vertreter
im neuen politischen und sicherheitspolitischen Komitee
am 2. und 3. März 2000 Vorschläge unterbreitet, wie bei
der weiteren Ausgestaltung der europäischen Si-
cherheits- und Verteidigungspolitik die notwendigen
Fähigkeiten geschaffen werden, damit in Fällen wie Mo-
sambik schnell und effizient geholfen werden kann.
Die deutschen Vorschläge sind bei unseren europäi-
schen Partnern auf positive Resonanz gestoßen. Die por-
tugiesische Präsidentschaft hat die Vorschläge aufgegrif-
fen und strebt bereits für den Europäischen Rat in Lissa-
bon am 23./24. März konkrete Ergebnisse an.
Zusatzfrage, Herr
Kollege? – Bitte sehr.
Herr Staatsminister,
ist es richtig, dass die von Ihnen erwähnte Antonow ei-
ner Belgrader Firma gehört, dass also der Auftrag für
den Transport der Hubschrauber an Jugoslawien gegan-
gen ist, obwohl das verhängte Embargo nur teilweise
aufgehoben worden war?
D
Das ist mir im Moment nicht bekannt. Ich will das
nicht absolut ausschließen. Das müsste ich aber prüfen.
Aber selbst wenn dem so wäre, was folgte daraus ange-
sichts der großen Not im Krisengebiet? Wenn in Europa
überhaupt nur wenige Großraum-Transportflugzeuge
existieren, dann wird man diese dort chartern müssen,
wo man sie so schnell wie möglich bekommen kann.
Ich rufe jetzt die
Frage 26 des Abgeordneten Martin Hohmann auf:
Worauf gründet sich die Annahme der Bundesregierung, die von der Conference on Jewish Material Claims against Germany genannte Anzahl von 135 000 heute noch lebenden jüdischen Sklavenarbeitern sei „im Wesentlichen zutreffend“ , wenn die historische Forschung (Yad Vashem: Encyclopedia of the Holocaust, Displaced Persons) da-von ausgeht, dass am 8. Mai 1945 lediglich 200 000 Juden die Zwangsarbeits-, Konzentrations-, Vernichtungslager und To-desmärsche im nationalsozialistischen Herrschafts- und Ein-flussbereich überlebt hatten?
Bitte sehr, Herr Staatsminister.
D
Herr Hohmann, Sie fragten nach den Zahlen derheute noch lebenden jüdischen Sklavenarbeiter, die vonden geplanten Entschädigungen profitieren könnten. DieClaims Conference hat dazu folgende Angaben ge-macht: Es leben noch: 35 000 ehemalige Zwangsarbei-ter, die Gesundheitsschadensrenten nach dem deutschenBundesentschädigungsgesetz erhalten, 63 000 ehemaligeVizepräsidentin Anke Fuchs
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8526 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000
Zwangsarbeiter von den im Rahmen des so genanntenArtikel-2-Abkommens Berechtigten, 20 000 ehemaligeZwangsarbeiter, die im Rahmen des von deutscher Seitebezuschussten Fonds der Claims Conference für Holo-caust-Überlebende in Mittel- und Osteuropa Renten be-ziehen. Die vorgenannten Zahlen ergeben sich entweder un-mittelbar aus deutschen Zahlungen, wie zum Beispieldie Zahl der BEG-Rentenempfänger, oder sie sind Ge-genstand periodischer Verhandlungen mit der ClaimsConference über die laufende Finanzierung des Artikel-2-Abkommens und des deutschen Beitrags zum Osteu-ropa-Fonds der Claims Conference. In diesen beidenProjekten wendet die Claims Conference deutsche Krite-rien an. Zusätzlich führt die Claims Conference 20 000 ehe-malige Zwangsarbeiter an, die staatliche israelische In-validenrenten erhalten. Die Claims Conference hat über die zuvor genannten138 000 Fälle hinaus weitere 24 000 Personen angemel-det, die ihrer Auffassung nach als dislozierte Zwangsar-beiter in offenen Gettos im Sinne der Definitionen desReferentenentwurfes für das Gesetz zur Errichtung dergeplanten Bundesstiftung zusätzlich der Kategorie A zu-zurechnen sind. Bei allen genannten Zahlen muss berücksichtigt wer-den, dass die üblicherweise als „displaced persons“ be-zeichnete Gruppe weit überwiegend Zuflucht in Israelbzw. im westlichen Ausland gefunden hat. Die für„displaced persons“ genannten Zahlen beziehen wederdie Auswanderung der Juden aus Mittel- und Osteuropaseit 1948 noch die Zahl der dort verbliebenen Überle-benden ein.
Zusatzfrage, Herr
Kollege? – Nein, danke schön. Damit haben wir den Be-
reich des Auswärtigen Amtes erledigt. Ich danke dem
Herrn Staatsminister für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeri-
ums der Finanzen auf. Zur Beantwortung steht Frau
Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 27 des Kollegen Hohmann auf:
Ist die Bundesregierung bereit, auf ein Verfahren hinzuwir-ken, in dem die Conference on Jewish Material Claims against Germany die Personen gegenüber der Bundesregierung nament-lich benennt, die Leistungen aus Steuer- bzw. Stiftungsmitteln erhalten sollen, um sicherzustellen, dass eine schnelle und direk-te Hilfe an tatsächliche Opfer nachweislich erfolgt?
Frau Staatssekretärin, bitte
D
Herr Kollege Hohmann,
im Rahmen des Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung
einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zu-
kunft“, den die Bundesregierung am 26. Januar 2000 be-
schlossen hat, sind angemessene Prüfungsrechte vorbe-
halten: Bei den für die einzelnen Partnerorganisationen,
zu denen auch die Jewish Claims Conference gehört,
festzulegenden Geldbeträgen handelt es sich um Pla-
fonds. Die Auszahlung erfolgt vierteljährlich aufgrund
des aktuellen Bedarfs, das heißt der konkreten Zahl der
Anträge. Die Empfänger müssen den Verzicht auf weite-
re Forderungen aus NS-Unrecht schriftlich erklären. Die
Verzichtserklärungen sind der Stiftung zu übergeben. In
der Begründung zum Gesetzentwurf ist außerdem ein
Hinweis auf die Kontrolle der Partnerorganisationen
durch Wirtschaftsprüfungsgesellschaften aufgenommen
worden.
Keine Zusatzfrage?
– Vielen Dank.
Ich rufe nun die Frage 28 des Kollegen Dr. Fink auf:
Sieht die Bundesregierung angesichts der Kontroversen um die Rückgabe von beweglichem Kulturgut an die adeligen Häu-ser in den neuen Bundesländern Handlungsbedarf und wie steht sie zu einer entsprechenden Änderung des Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetzes mit dem Ziel, dem bereits einsetzenden Schwund von Kulturgütern aus dem öffentlichen Raum zu begegnen und diese dauerhaft für die Öffentlichkeit zu sichern?
Frau Staatssekretärin, bitte.
D
Herr Kollege Fink, eine
Novellierung des § 5 des Ausgleichsleistungsgesetzes ist
nicht geplant. Die jetzige Regelung stellt einen Kom-
promiss zwischen dem öffentlichen Interesse am Kul-
turgut und den vermögensrechtlichen Ansprüchen der
besatzungsrechtlich Enteigneten dar, der erst nach äu-
ßerst schwierigen und langwierigen Gesetzesberatungen
erreicht werden konnte. Eine Verschlechterung der Posi-
tion der früheren Eigentümer im Sinne eines Restituti-
onsausschlusses trifft in dem auch politsch umstrittenen
und höchst sensiblen Bereich der Besatzungsenteignun-
gen der Jahre von 1945 bis 1949 auf verfassungsrechtli-
che Bedenken. Im Übrigen begrüßt und unterstützt die
Bundesregierung Lösungen, die der Bewahrung und Si-
cherung der Museumsbestände in den neuen Ländern
dienen.
Eine Zusatzfrage,
Herr Kollege? – Bitte.
Bietet das jetzige Kriteri-
um für den unentgeltlichen Nießbrauch von 20 Jahren
zur Ausstellung für die Öffentlichkeit bestimmten Kul-
turgutes nicht zu viel Spielraum für Auslegung und Ma-
nipulation?
D
Nein, Herr Kollege. Der
so genannte öffentliche Nießbrauch ist auf 20 Jahre fest-
gelegt. Ein Teil dieser Zeit ist bereits verstrichen. Wir
halten auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunk-
ten eine Verlängerung dieser Frist nicht für möglich.
Eine zweite Zusatz-frage, bitte.Dr. Ludger Volmer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000 8527
Welche Auswirkungen
erwartet die Bundesregierung für den Bestand der be-
weglichen Kulturgüter im öffentlichen Raum Ost-
deutschlands für die Zeit nach Ablauf des unentgeltli-
chen Nießbrauchsrechtes?
D
Darüber kann man, Herr
Kollege, natürlich nur spekulieren. Es gibt in einigen
Ländern einvernehmliche Regelungen mit einzelnen
früheren adeligen Häusern, die zur Befriedung und zum
Erhalt des Kulturgutes im öffentlichen Raum beigetra-
gen haben. Aber es ist auch nicht auszuschließen, dass
einzelne Besitzer Kulturgüter nach Ablauf dieser
20-Jahres-Frist veräußern, möglicherweise auch ins
Ausland, denn wir haben ja keine Ausfuhrbestimmun-
gen, die die Veräußerung von Kulturgütern ins Ausland
verbieten.
Nun rufe ich die
Frage 29 des Kollegen Strobl auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung – vor dem Hintergrund der Übernahme der Mannesmann AG durch Vodafone Air- touch – die Forderung der Deutschen Angestellten-Gewerk-schaft nach Schaffung eines nationalen „Übernahme-gesetzes“, in dem die Verpflichtung von Bieter und Übernahme-kandidat zur Abschätzung der Beschäftigungsfolgen festgelegt sein soll?
Bitte sehr, Frau Staatssekretärin.
D
Herr Kollege Strobl, die
Bundesregierung hält ein nationales Gesetz zur Rege-
lung von Unternehmensübernahmen für notwendig. Sie
misst einer umfassenden Information der Arbeitnehmer
im Zusammenhang mit Unternehmensübernahmen eine
hohe Bedeutung bei. Die Bundesregierung strebt an, den
Bieter zu verpflichten, in seiner Angebotsunterlage seine
Absichten in Bezug auf die künftige Geschäftstätigkeit
der Zielgesellschaft, insbesondere auf die Beschäftigten
bzw. die Beschäftigungsbedingungen darzustellen. Die
Leitung des Zielunternehmens soll ebenfalls verpflichtet
werden, in ihrer Stellungnahme zum Übernahmeangebot
die Auswirkungen der Übernahme auf die Interessen der
Beschäftigten der Zielgesellschaft darzulegen.
In dem Gespräch der Bundesregierung mit einer
hochrangigen Expertengruppe am 9. März, also in der
vergangenen Woche, wurden zum Thema Informations-
pflichten insbesondere hinsichtlich der Arbeitnehmersei-
te konstruktive Vorschläge gemacht, die von der Bun-
desregierung aufgenommen werden. In dieser Sitzung
hat der Bundeskanzler bekräftigt, dass die deutsche Mit-
bestimmung auch bei einer Übernahme aus dem Aus-
land Bestand haben wird.
Eine Zusatzfrage,
Herr Kollege? – Bitte.
Frau Staatssekretärin,
heißt das, dass wir mit einem entsprechenden Gesetz-
entwurf der Bundesregierung rechnen können und bis
wann wird dieser Gesetzentwurf vorliegen?
D
Sie können mit einem
entsprechenden Gesetzentwurf auf jeden Fall noch in
diesem Jahr rechnen. Möglicherweise werden wir das
Gesetz bis zum Ende dieses Jahres sogar schon verab-
schieden können.
Keine weitere Zu-
satzfrage? – Danke schön.
Die Fragen 301) und 312) sind erledigt, wie mir gesagt
worden ist.
Die Fragen 32 und 33 die Fragen 37, 38, 39 und 40
sowie die Fragen 43 bis 50 werden schriftlich beanwor-
tet3).
Wir sind damit am Ende der Fragestunde. Ich bedan-
ke mich bei den Vertretern der Bundesregierung für die
Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Bundespolitische Auswirkung der neuerlichen
Parteispendensammelaktion
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Wilhelm Schmidt.
Frau Präsiden-tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl hat es in der vorigen Wo-che und in den davor liegenden Tagen gefallen, mit ei-ner Spendensammelaktion quer durch DeutschlandAufmerksamkeit zu erregen. Sie hat dazu gedient, Geldzusammenzutragen und ihm selbst die Haut zu retten.
Ein solcher Vorgang kann nicht schweigend hingenom-men werden.
Deswegen waren wir der Meinung, dass der DeutscheBundestag in Form einer Aktuellen Stunde darüber de-battieren muss.1) Seite 8506 B2) Seite 8507 C3) Die Antworten zu den Fragen 38 bis 40 lagen bei Redaktionsschlussnoch nicht vor.
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8528 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000
Wir haben schon im Vorfeld gehört, dass dieCDU/CSU mit dieser Aktuellen Stunde deswegen nichteinverstanden sein würde, weil die Formalismen einerAktuellen Stunde angeblich nicht eingehalten wordensind. Ich kann Ihnen, Herr Repnik, und den anderenKolleginnen und Kollegen von der Opposition dazu nursagen:Erstens. Es gibt zurzeit keine gültigen formalen Ab-sprachen über die Einhaltung der Kriterien und über dieInhalte von Aktuellen Stunden. Zweitens. Wir habendennoch aufgrund der früheren Regeln unsere AktuelleStunde nicht nur so benannt, sondern wir werden sieauch inhaltlich so führen, dass diese Regeln eingehaltenwerden. Drittens. Ich kann Ihnen nur sagen: Wer sichhinter Formalismen versteckt, der hat in der Sache etwaszu verbergen.
Wenn die Zeitungen in Deutschland, wie auch die üb-rigen Medien, Schlagzeilen wie „Ex-Kanzler führt vor,wie man tätige Buße ohne Reue üben kann“
oder „Keine Spur von schlechtem Gewissen“ produzie-ren, dann kann man doch nicht davon sprechen, dass dasein normaler Vorgang sei. Wir wollen insbesondere vonder CDU wissen, wie sie sich zu dieser Spendenaffärestellt. Wir wollen auch der deutschen Öffentlichkeit prä-sentieren, wie sich diese Tatbestände einordnen lassen.
75 Prozent aller Deutschen sind offensichtlich derMeinung, dass Helmut Kohl, Herr Kanther und manchanderer der CDU-Rechtsbrecher Schadenersatz zu leis-ten haben. Recht haben sie. Wir unterstreichen dieseForderung.
Diese Menschen wollen übrigens nicht, dass andere fürdiese Herren Schadenersatz leisten. Das ist genau das,was Herr Kohl versucht hat. Darum stinkt diese Angele-genheit meilenweit gen Himmel.Ich will Ihnen klaren Wein einschenken.
Herr Kohl hat in dieser Frage nicht nur eine Spendenak-tion zugunsten der CDU veranstalten wollen, sondern erhat auch seine eigene Haut retten wollen. Man muss jawissen, worauf der Vorwurf hinsichtlich des strafrechtli-chen Tatbestandes der Untreue basiert, nämlich auf ei-nem Vermögensschaden. Herr Kohl versucht durch die-se Spenden, die er zusammengetragen hat, den Eindruckzu erwecken, als wenn er den Vermögensschaden vonder CDU abgewendet hätte, sodass der Vorwurf der Un-treue gegen ihn nicht mehr gilt.
Den Schaden abzuwenden ist nur ein Vorwand, den ernutzen möchte, um seine Haut zu retten. Wir werden ihnnicht gelten lassen.Wenn man einmal die Liste der Spenderinnen undSpender durchgeht, dann kommen einem weit darüberhinaus noch manch andere Zweifel. Unter den Spendernsind die Herren Kirch, Cramer, Reim, Schumann, Weidenfeld und andere, die Verleger sind.
Haben sie ihr Imperium mit Hilfe Kohls in der Zeitder CDU/CSU- und F.D.P.-geführten Regierung viel-leicht erheblich erweitern können?
Odewald war Treuhandaufseher mit einem hohenGehalt. Hat er sich für die entsprechende Eingruppie-rung revanchiert? Unternehmer oder Unterneh-mensverbandsvertreter wie Kellerhals, Guthardt, Kin-dermann, Langmann, Maucher, Müller, Schalck, Scheufele, Schmitt und Wirtz wissen sicher besser alswir, ob sie sich hier für etwas erkenntlich zeigen wollen.Ich finde, dass man an dieser Stelle nicht nur die Namennennen muss, sondern dass sich auch der Untersu-chungsausschuss damit beschäftigen muss. Wir werdenauch diese Dinge aufklären.
Meine Damen und Herren, der Ablasshandel ist schonvor einigen hundert Jahren beendet worden. Er wirdauch bei Herrn Kohl nichts mehr fruchten. Ich kann da-her nur sagen, dass wir einen weiteren Teil des großenSkandals auf der Seite der CDU zu registrieren haben.Ich finde auch, dass die Auffassung der Bevölkerungrichtig ist, dass mit der Führungskrise, mit der sich dieCDU gerade beschäftigt, die Spendenaffäre längst nichtbereinigt und beseitigt werden kann.
Es wurde bisher nichts aufgeklärt, jedenfalls nichtausreichend. Der Aufklärungswille der CDU in Berlin,aber auch der in Wiesbaden, ist mangelhaft und unter-entwickelt. Herr Kohl setzt seine bekannte und für unsunfassbare Inkonsequenz fort. Er nennt nach wie vornicht die Namen der ursprünglichen Spenderinnen undSpender. Deswegen sollten sich alle, die damit zu tunhaben – ich erinnere nur an das Interview des Herrn vonBrauchitsch in der vorigen Woche –, offenbaren undnachdrücklich mehr dazu beitragen, als es bisher bei derAufklärung geschehen ist.
Herr Kollege, wirsind in einer Aktuellen Stunde.Wilhelm Schmidt
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000 8529
Herr Kohl hat
in einem Beitrag, der heute in der „Süddeutschen Zei-
tung“ abgedruckt worden ist, eine faire Behandlung ge-
fordert. Wir machen das,
indem wir das der Öffentlichkeit zur Kenntnis geben. Er
hat außerdem seinen Rückzug aus der Politik angedeutet
und angekündigt. Wir finden, dass er das konsequent
umsetzen sollte. Wir fordern: Herr Kohl, geben Sie Ihr
Bundestagsmandat auf!
Das Wort hat nun
der Kollege Hans-Peter Repnik, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wo-rum geht es bei dieser Aktuellen Stunde? Ein Bürgerdieser Republik, in diesem Fall Helmut Kohl, sammeltbei Bürgern dieser Republik Spenden für eine politischePartei – ein völlig normaler und ein legaler Vorgang.
Wenn dies zum Gegenstand einer Aktuellen Stunde ge-macht wird und gerade wenn wir den Beitrag des Kolle-gen Schmidt vor Augen haben, dann liegt der Verdachtnahe, dass dahinter keine lauteren Beweggründe stehen.
Deshalb halten wir diese Aktuelle Stunde für unzulässig.Ich will an dieser Stelle den Streit darüber nicht fort-setzen; den haben wir an anderer Stelle geführt. So vielsei aber gesagt: Das Einwerben von Spenden an politi-sche Parteien ist eine Freiheitsbetätigung des Bürgers,die staatliche Institutionen so lange nicht zu interessie-ren hat, wie er sich – dieser Bürger – im Rahmen seinerverfassungsrechtlichen Freiheiten bewegt. Da aber dieseFreiheit zu respektieren ist, verbietet sich nach unsererÜberzeugung jede staatliche Intervention, auch einedurch das Parlament. Diese Grenze ist eindeutig über-schritten. Natürlich muss bei diesem Handeln das Gesetz ge-achtet werden. Doch dies ist im Gegensatz zu den vonDr. Kohl eingeräumten und bedauerten Verfehlungen inden Jahren 1993 bis 1998 ganz eindeutig der Fall.
Deswegen ist es schäbig, unfair und ehrenrührig so-wohl dem Spendenwerber als auch – Herr KollegeSchmidt, wie Sie es eben getan haben – den Spenderngegenüber, wenn Sie versuchen, diese Aktion in denDreck zu ziehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der KölnerProfessor Dr. Otto Depenheuer hat vor wenigen Tagenin der „FAZ“ einen bemerkenswerten Aufsatz geschrie-ben, den ich Ihnen zur Lektüre empfehle. Ich will nurzwei Sätze aus diesem Aufsatz zitieren. Er schreibt unteranderem:Spenden sind nicht nur verfassungsrechtlich legal,sondern zugleich verfassungstheoretisch legitimund verfassungspolitisch erwünscht. Es besteht eineVerfassungserwartung, dass die Bürger ihrer staats-bürgerlichen Verantwortung auch durch finanzielleUnterstützung der Tätigkeit der Parteien nachkom-men.
Nichts anderem als dieser Verfassungserwartung sinddie Bürger, die in diesen Tagen gespendet haben, nach-gekommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn heutewie auch bei einer Reihe von Talkshows der letzten Wo-chen von SPD-Funktionären legales und illegales Ver-halten gleichgesetzt wird, zeigt dies, dass es Ihnen nichtum Recht und Gesetz geht. Sie wollen die CDU und de-ren Spender moralisch verunglimpfen, um die CDU fi-nanziell auszutrocknen.
Wenn gar die Verfassungsministerin Däubler-Gmelindiffamierend von der Fortsetzung des Systems Kohlspricht, dann zeigt dies nicht nur ein bedenklichesVerfassungsverständnis der Justizministerin, sonderndies verletzt auch – gerade mit Blick auf die Spender –jede Regel der Political Correctness.
Die Führung der CDU Deutschlands hat – das wirdauch Ihnen nicht entgangen sein – eine sehr kritischePosition zu den vergangenen Verstößen gegen das Par-teiengesetz eingenommen. Dies gilt auch für die Nen-nung von Spendernamen. Aber wir wehren uns ganzentschieden dagegen, dass jetzt die Leistungen vonHelmut Kohl als Bundeskanzler und Parteivorsitzenderdagegen aufgerechnet werden und dass von interessier-ter Seite eine gnadenlose und – wie soeben wieder dar-gestellt – erbärmliche Hetzkampagne gegen ihn betrie-ben wird.
Kollege Schmidt, ich sage mit allem Nachdruck, ge-rade nach Ihren Einlassungen: An der Redlichkeit derSpender, zu denen, wie Sie ganz genau wissen, auch einprominentes SPD-Mitglied gehört,
lassen wir keinen Zweifel aufkommen. Diese Spenderhaben in einer für meine Partei schwierigen Zeit mit fi-
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8530 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000
nanziellem Engagement und mit ihrem guten Namen So-lidarität gezeigt. Dafür danke ich ihnen.
.
Meine Partei hat in den letzten Monaten ungeheuereAnstrengungen unternommen, um die uns belastendenSachverhalte aufzuklären.
Natürlich ist dies ein schmerzhafter Prozess, den wir unsum der Wahrhaftigkeit willen zumuten; wir wollen neu-es Vertrauen beim Bürger begründen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wie sieht es beiIhnen, bei der SPD, aus?
Herr Kollege, wir
sind in einer Aktuellen Stunde.
Ich will nur noch
einen Sachverhalt herausgreifen. – Von Tag zu Tag wird
deutlicher, dass sich Mitglieder der Regierungen Rau
und Clement erhebliche Verfehlungen haben zuschulden
kommen lassen.
Sie haben sich von einer öffentlichen Bank Privatreisen
bezahlen lassen. Sie haben über Jahre hinweg das Lan-
desparlament und die Öffentlichkeit belogen. Von Auf-
klärung, von Einsicht oder gar von Reue, Kollege
Schmidt, keine Spur, geschweige denn von Wiedergut-
machung. Ein größeres Maß an Heuchelei und an dop-
pelter Moral habe ich selten erlebt. Deshalb richtet sich
Ihr Vorwurf gegen Sie selbst.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich weise darauf hin, dass wir in einer
Aktuellen Stunde sind. Da beträgt die Redezeit fünf Mi-
nuten.
Das Wort hat nun der Kollege Cem Özdemir, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist nicht da-mit getan, dass in der Union zurzeit fröhliches Stühlerü-cken herrscht und dass die Union meint, sie könne sichrestaurieren. Sie restauriert sich tatsächlich; aber sie tutes gegenwärtig nach rechts. Man kann das daran verfol-gen, wie Sie sich jüngst in der Einwanderungsdebattegeäußert haben. Man kann es auch daran erkennen, dassSie die Chance zur Erneuerung der Demokratie, die indieser Krise liegt – Sie selbst haben es so bezeichnet –,nicht nutzen.Sie sind offensichtlich nicht gewillt, wirklich Konse-quenzen aus Ihrem Ansehensverlust zu ziehen. DurchIhr Verhalten, insbesondere durch das Verhalten IhrerParteiführung und Ihrer Fraktionsführung, haben alleDemokraten gleichermaßen einen Ansehensverlust zubeklagen. Wir fordern Sie auf: Setzen Sie sich ehrlichmit dem auseinander, was Sie an Schaden angerichtethaben, und seien Sie bereit, mit uns gemeinsam Konse-quenzen zu ziehen – in Richtung Selbstbeschränkungder Parteien in der Demokratie! Wirken Sie beispiels-weise – mit uns gemeinsam – daran mit, dass wir überInstrumente der direkten Demokratie diskutieren! Wir-ken Sie daran mit, dass wir darüber diskutieren, wie dieRolle der Parteien in der Demokratie neu definiert wer-den kann! Seien Sie bereit, sich konsequent einzubrin-gen! Hören Sie damit auf, ständig mit dem Finger aufandere zu zeigen!
Ihr ehemaliger Zukunftsminister Rüttgers, dasSchmuckstück aus der Ära Kohl,
spricht von „Kinder statt Inder“. Die Union ist mittler-weile wieder so schwarz, dass sie nachts im Kohlenkel-ler Schatten wirft. Selbst der Schlagschatten von HerrnKohl macht die Sache nicht noch dunkler.Worum geht es in dieser Sache? Es geht darum, dassdie Union die Demokratie über lange Zeit mehr oderweniger mit dem Auge des kalten Krieges gesehen hat.Wir sind nicht die Gegner gewesen; vielmehr waren wirFeinde, die es mit aller Gewalt von der Macht fern zuhalten galt. Für dieses Ziel war Ihnen kein Mittel zuschäbig.
Damit, meine Damen und Herren, werden Sie sichauseinander zu setzen haben.
Sie hatten lange Zeit ein gestörtes Verhältnis zur De-mokratie – ausgerechnet Sie, die Sie lange Zeit geglaubthaben, dass Sie die Demokratie und die Rechtsstaatlich-keit für sich gepachtet haben. Der Rechtsstaat hat sichbewährt. Auch hier meine Einladung an Sie, sich mitdiesem Rechtsstaat intensiver auseinander zu setzen. Ichglaube, das würde der Union gut tun.
Recht ist für Sie offensichtlich etwas, was man vonanderen einfordert. Wenn man sich nicht an Gesetzehält, die man selber erlassen hat, dann hat man ein be-liebiges Verhältnis zu ihnen.
Recht gilt offensichtlich nur für die Bürger, aber nichtauch für diejenigen, die die Gesetze selber erlassen ha-ben.Meine Damen und Herren, ich möchte in dieser De-batte eines klar machen, damit hier kein falscher Zun-Hans-Peter Repnik
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000 8531
genschlag entsteht. Es ging zu keinem Zeitpunkt darum,dass Unsicherheit darüber herrscht, welche Gesetze gel-ten. Wir haben zum Beispiel ein klares Parteiengesetz,das Sie mit erlassen haben. Es spricht eine deutlicheSprache. Sie haben diese Gesetze eingedenk der Tatsa-che, dass es sie gibt, mit Füßen getreten. Es gab zu kei-nem Zeitpunkt Unsicherheit darüber, was das Gesetzsagt. Das Gesetz ist eindeutig. Aber offensichtlich waren Sie nicht willens, sich an die-ses Gesetz zu halten.
Meine Damen, meine Herren, ich fordere die Uniondringend auf, ihren Prozessvertreter zurückzuziehen. Ichhalte es für einen Skandal, dass Sie den Bundestagsprä-sidenten, der sich an Recht und Gesetz hält, in dieserWeise angreifen,
dass Sie immer noch nicht bereit sind, die Konsequen-zen aus dem zu ziehen, was Sie an Schaden für die Bun-desrepublik Deutschland angerichtet haben. Es ist einSkandal, dass Ihr Prozessvertreter – das muss die Öf-fentlichkeit erfahren – sagt, dass das Parteiengesetz ver-fassungswidrig sei, das Parteiengesetz, das Sie mit erlas-sen haben. Ich frage Sie: Sind Sie der Meinung, dass dasParteiengesetz verfassungswidrig ist? Wenn dem nichtso ist – ich gehe davon aus, dass Sie wie wir der Mei-nung sind, dass dem nicht so ist –, fordere ich Sie auf,Ihren Prozessvertreter so schnell wie möglich zurückzu-ziehen.
Wir machen Ihnen gern das Angebot, sich über dieZahlungsmodalitäten zu unterhalten.
Jeder hat von uns ein Interesse daran, dass die Unionwegen der Zahlungsmodalitäten
nicht in die Situation kommt, dass sie kaputtgeht. Daswill niemand. Das haben alle deutlich gemacht. Nur, ei-nes geht nicht: dass Sie auf der einen Seite Schaden an-richten und auf der anderen Seite nicht bereit sind, denvon Ihnen angerichteten Schaden, wie sich das gehört,wieder gutzumachen. Dafür werden Sie den Kopf hin-halten müssen. Ich komme zum Schluss: Ich habe das Gefühl, dassdie Frage der Rückzahlung und die Frage des Spenden-sammelns, was Herr Kohl gegenwärtig macht, so eineArt Täter-Opfer-Ausgleich à la Union, à la Kohl sind.Bloß, Sie scheinen da etwas falsch verstanden zu haben:Opfer ist nicht die Union, meine Damen und Herren.Opfer ist die deutsche Öffentlichkeit, Opfer ist die Be-völkerung dieses Landes, Opfer ist die Wahrheit.
Das scheinen Sie zu verwechseln. Das hat mit Täter-Opfer-Ausgleich nichts zu tun. Hier geht es um Verfas-sungsbruch, hier geht es darum, dass die Öffentlichkeiteinen Anspruch darauf hat, alles schonungslos zu erfah-ren. Die Öffentlichkeit wird informiert werden.Wir werden uns damit auseinander setzen, meineDamen und Herren. Im Untersuchungsausschuss wirdalles auf den Tisch kommen, ob es Ihnen gefällt odernicht gefällt.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt
der Kollege Dr. Westerwelle, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren, Kolleginnenund Kollegen! Herr Kollege Özdemir, Sie haben sich zuBeginn Ihrer Ausführungen als Rechtsstaatspolitikerempfohlen. Sie haben jedoch am Schluss Ihrer Ausfüh-rungen gezeigt, dass Sie den Rechtsstaat augenschein-lich missverstanden haben.
Herr Kollege, ich will in aller Ruhe darauf antworten.Sie haben der Partei der CDU ein Angebot gemacht, über Rückzahlungsmodalitäten zu reden. Nur: Sie habenin dieser Frage kein Angebot zu machen.
Der Bundestagspräsident entscheidet unabhängig. Er istnicht der verlängerte Arm der Regierungsparteien, son-dern nimmt in dieser Frage die Interessen des ganzenDeutschen Bundestages und die Interessen der Steuer-zahlerinnen und Steuerzahler wahr.
Zum Zweiten: Ich bin der Auffassung, dass die Ent-scheidung des Bundestagspräsidenten korrekt gewesenist. Es ist allerdings geradezu absurd, die Meinung zuvertreten, jemand, der einen belastenden Verwaltungsaktbekommt, könne dagegen nicht vor Gericht ziehen.
Es ist in einem Rechtsstaat selbstverständlich möglich,dass man etwas angreift, was man nicht für richtig hält.
Was jedem Bürger selbstverständlich zusteht, steht auchder CDU zu. Ich glaube zwar nicht, dass sie viel ErfolgCem Özdemir
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8532 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000
mit dieser Klage haben wird. Aber dass sie es versucht,gehört zum Rechtsstaat dazu.
Ich will noch etwas zu dem Thema sagen, das eigent-lich auf der Tagesordnung steht, nämlich zu der Spen-densammelaktion des Altkanzlers Helmut Kohl. Nichtdie Tatsache, dass der alte Bundeskanzler Helmut KohlSpenden sammelt, ist das Problem. Das Problem ist,dass er sich unverändert weigert, die Namen der frühe-ren Spender zu nennen.
Es ist nach unserer Verfassung das selbstverständlicheRecht eines Abgeordneten, heiße er Schmitz, Özdemiroder Dr. Kohl, Spenden zu sammeln, um seine Partei zustärken. Aber es ist nicht das Recht eines Abgeordneten,das Transparenzgebot des Art. 21 unseres Grundgesetzesunentwegt zu verletzen.
Das ist der eigentliche Punkt, über den wir uns unterhal-ten müssen. Herr Dr. Kohl mag Spenden für die Unionsammeln, aber er ist nach unserer Verfassung verpflich-tet, die Namen der – alten – Spender zu nennen, und ersollte das tun.
Tut er es nicht, verstößt er gegen die Verfassung unsererBundesrepublik Deutschland. Ein Abgeordneter, der,vorsätzlich und anhaltend gegen die Verfassung ver-stößt, ist wohl kaum in der Lage, als Parlamentarier rich-tig zu wirken.
Herr Kollege Schmidt, es ist schon interessant, dassam heutigen Tag zwei Dinge zusammenfallen: Sie kriti-sieren in einer, wie ich finde, sehr polemischen Weise,die Union, was Ihr gutes Recht ist, aber Sie tun das aneinem Tag, an dem der nordrhein-westfälische Minister-präsident Clement vor dem Untersuchungsausschuss imHinblick auf die Flugaffäre ganz schön ins Schwimmengekommen ist.
Ich möchte Ihnen deswegen den Vorschlag machen,dass wir – das halte ich für sehr erforderlich – darüberreden, wie man solche Entwicklungen künftig verhin-dern kann, wie man vor allem im Gesetz Vorkehrungentreffen kann, dass so etwas nicht wieder vorkommt.Wenn der Schatzmeister eines Ortsverbandes einenRechenschaftsbericht abgibt, dann mag es immer wiedermal zu Fahrlässigkeiten kommen – ich vermute, bei je-der Partei. Bei Tausenden von Schatzmeistern ist das derFall. Das ist nicht das Problem. Aber wenn jemand vor-sätzlich, absichtlich in erheblichem Umfange und anhal-tend gegen das Transparenzgebot der Verfassung ver-stößt, dann ist das ein Problem. Dann müssen wir da-rüber reden, ob das ohne persönliche Konsequenzenbleiben kann oder ob das Parteiengesetz bei derartigensystematischen Verstößen nicht strafbewehrt wertenmuss. Das ist die Frage, die der Bundestag zu beantwor-ten hat.
Ich habe, offen gestanden, herzlich wenig Verständ-nis dafür, dass hier von interessierter Seite der Eindruckerweckt wird, als könne man sich mit 6 Millionen DMseiner Verpflichtungen entledigen. Das ist nicht der Fall.Nicht mit 6 Millionen DM, nicht mit 60 Millionen DMund nicht mit 180 Millionen DM kann man sich von derVerfassung in irgendeiner Weise distanzieren. Man hatsich daran zu halten, egal, welche Freunde man hat, egal, wie reich die Freunde sind.
Aber ich sage Ihnen genauso klar: Es ist wie einStück aus dem Tollhaus, dass die Ministerpräsidentindes Landes Schleswig-Holstein die Spendensammelak-tion zugunsten der Union mit einem Boykottaufruf ge-gen einen industriellen Spender kommentiert.
Dies ist in meinen Augen ein Akt der Intoleranz,
ein Akt, der nicht von demokratischer Kultur zeugt.
Ich finde, dass Herr Maucher eine Entscheidung getrof-fen hat, die er für sich –
Herr Kollege, Sie
sind weit über die Redezeit.
– ich bin beimletzten Satz, Frau Präsidentin – zu verantworten hat. Esist sein Bürgerrecht zu entscheiden, ob er sie für richtighält oder nicht. Aber wenn jetzt jedes Mal eine Partei ei-nen Boykottaufruf gegen einen Bürger unterschreibt,weil dieser eine andere, konkurrierende Partei unter-stützt,
ist das das Ende der politischen Kultur. So etwas solltein diesem Hause nicht Einzug halten.
Dr. Guido Westerwelle
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000 8533
Jetzt hat das Wort
der Kollege Roland Claus, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Die PDS hat diesenFinanzskandal bisher mit sehr viel Sachlichkeit,gebotener Fairness und auf jeden Fall ohne Hämebegleitet. – Manche von uns – nicht ich – meinen, diessei zu viel der Sachlichkeit, zu viel der Fairness. – Abereines muss klargestellt werden: Das bedeutet nicht, dasssich die PDS an einer öffentlichen Irreführung beteiligt.Denn es ist öffentliche Irreführung, was die ChristlichDemokratische Union hier mit uns treibt. Damit meineich nicht Helmut Kohl, sondern die CDU.
In Bezug auf uns haben Sie es sich – im Übrigennicht nur die CDU – ziemlich leicht gemacht. Sie habengesagt: Das geht die PDS nun wirklich nichts an. Das istunser Geld, um das es hier geht. – Ich hoffe, dass das inletzter Konsequenz stimmt.Was den Streit um die Zulässigkeit dieser Debatteanbetrifft, müssen wir feststellen: Es kann nicht hinge-nommen werden, dass Sie hier erklären, das sei Sacheder CDU oder gar Privatsache von Helmut Kohl. DenSchaden, den Sie der Demokratie in diesem Lande zufü-gen, bekommen wir doch alle ab, und zwar, so glaubeich, in Ostdeutschland noch stärker als in den alten Bun-desländern. Diesen Schaden können wir letztendlich nurgemeinsam beseitigen. Denn eines steht fest: Auf so vielUnrecht ist das geltende Recht nicht vorbereitet. Deswe-gen gibt es doch diese vielen Fragezeichen.
Eines will ich Ihnen deutlich sagen: Sie können mit demParlament nicht das veranstalten, was Helmut Kohl mitIhnen veranstaltet. Deshalb können Sie die Zulässigkeitdieser Debatte hier nicht infrage stellen.
Nun ist in der CDU von einem Neuanfang die Rede.Ihr vermeintlicher Neuanfang wird ohne eine wirklicheKritik des Rechts- und Verfassungsbruchs unternom-men. Denn das ist das eigentliche Problem; darauf isthier schon ausdrücklich hingewiesen worden. Sie wer-den nicht von der SPD oder von anderen Parteien hierim Hause verunglimpft; das können Sie selber sehr vielbesser. Sie sollten diesen Verfassungs- und Rechtsbruchernsthaft eingestehen, ehe Sie über so etwas wie einenNeuanfang sprechen. Deshalb betone ich: Mit diesem sogenannten Neuanfang wird kein Gras über die Sachewachsen. Allenfalls verschleiern und vernebeln Sie da-mit. Sie wollen die Angelegenheit dorthin bringen, wosie herkommt: in den Spendensumpf. Sie haben denNeubau CDU in den Sumpf gesetzt. Das wird sich, den-ke ich, noch rächen.
Die Frage ist, warum Sie so handeln. Das Signal, dasvon Ihrer Basis kommt, lautet ja offenbar: Nun ist es ge-nug! Mehr wollen wir nicht wissen! Einige bei Ihnen tö-nen sogar, man müsse jetzt den Kampfanzug an- und dasBüßerhemd ausziehen. Angesichts dessen kann ich nurfeststellen: Wem solche Töne herausrutschen, bei demist der Stahlhelm unter die Hirnschale geraten.
Wenn Sie uns mit der Botschaft kommen: „Aufklärungwar gestern; jetzt geht es zur Sache“, dann kann mandarauf nur antworten: Das ist im wahrsten Sinne desWortes Flick-Schusterei. Trotzdem bleibt die spannende Frage: Warum verhältsich die CDU so, wie sie sich verhält? Sie merkt wohl,dass Kohl viele Anhänger hat. Kohl bleibt Kohl, aberKohl ist damit nicht allein. Das Hauptproblem, das hierschon angesprochen wurde, ist, dass die Logik des kal-ten Krieges fortgesetzt wird, wonach der Zweck alleMittel heiligt. Ich möchte daran erinnern, wie Helmut Kohl diesenRechtsbruch im Zweiten Deutschen Fernsehen erklärthat. Er musste sich ja irgendetwas ausdenken, dass ihmdas Ganze schwer übel genommen werden würde, warihm klar –, was plausibel klang, damit ihm das Ganzeabgenommen wird. Da hat er von einer vermeintlichen Übermacht der PDS im Jahre 1993 gesprochen Dasstimmt an keiner Stelle, sondern hat nur damit zu tun,dass ihm das, was vor 1993 war, nicht mehr erinnerlichist. – Er hat diesen Hinweis auf die PDS bemüht, um zusignalisieren: Der Kampf gegen die PDS bzw. denKommunismus rechtfertigt alle Mittel. – Das ist das ei-gentliche Problem, das wir angehen müssen und bei des-sen Lösung Chancen bestehen.So bleibt es für Sie bei dem unsäglichen Prinzip:Geld statt Wahrheit. Angesichts dessen muss ich Siefragen: Was ist das anderes als Ablasshandel?In Ostdeutschland werden wir mit den Folgen diesesSkandals länger zu tun haben als in Westdeutschland.Sie sollten daran denken, dass jeder Hausmeister, derden Beamtenstatus erhielt, auf das Grundgesetz schwö-ren musste. Zur gleichen Zeit hat der damalige KanzlerRecht und Verfassung gebrochen. In diesem Zusam-menhang wird in Ostdeutschland oft auch ein System-vergleich angestellt, den ich hier aber nicht leisten kann. Ich stelle zum Schluss fest: Die PDS bleibt bei ihremGrundsatz: Wir wollen Anerkennung durch eigene Leis-tung erringen und nicht aufgrund des Schadens anderer.Wer das nicht glaubt, dem sagen wir: Den öffentlich or-ganisierten Nachweis dafür haben wir angetreten, undzwar mit einem Wahlergebnis von knapp 1,4 Prozent inSchleswig-Holstein. Ich sage Ihnen: Lassen Sie uns gemeinsam die vor-handenen Chancen, die diese Krise bietet, nutzen! Las-sen Sie uns darüber reden, wie man diese verwerflicheVerstrickung von Politik, Wirtschaft und Geld überwin-den kann! Unsere Fraktion wird im April mit der Ein-bringung eines Änderungsgesetzes zum Parteiengesetzeinen bescheidenen Beitrag dazu leisten, über den sichreden lässt. Die darin liegenden Chancen können abererst genutzt werden, wenn wir uns darüber klar sind,
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8534 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000
wenn sich auch die Union darüber klar ist, dass einGrundsatz gelten muss: Schluss mit dem kalten Krieg inden Köpfen!Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt
die Kollegin Susanne Kastner, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Da-men und Herren! Die unendlichen Finanzgeschichtender CDU, die täglich neuen Klagen über die selbstver-schuldete Armut und die dadurch auftretende Sammel-leidenschaft des Herrn Kohl sind meines Erachtens anPeinlichkeit nicht mehr zu überbieten.
Herr Kollege Repnik, ich muss Ihnen an dieser Stellesagen: Normal ist an dieser Situation überhaupt nichts.Statt sich zusammenzusetzen, einen auf die neue Lageabgestimmten Finanzplan aufzustellen und sich von derSammelleidenschaft Ihres Altbundeskanzlers zu distan-zieren, ist in Pressemitteilungen und Äußerungen seitensder Union immer nur von dem schweren Los der CDUdie Rede. Mir treibt dies mit Sicherheit nicht Tränen indie Augen.
Vielmehr bekomme ich wie viele Bürgerinnen und Bür-ger, sicherlich auch wie viele hier im Saal, angesichtsdieses Ablasshandels schlicht und einfach einen dickenHals, und zwar gegenüber denen, die für einen solchenZweck spenden, und gegenüber demjenigen, der dieseSpenden sammelt und weitergibt, um von seiner Parteieines Tages doch wieder in die Arme genommen zuwerden. Ich komme wie viele Kolleginnen und Kollegen, vondenen sich einige auch im Saal befinden, von einem ein-tägigen Besuch aus dem Kosovo zurück. Ich habe denErlös des SPD-Fraktionsfestes in Bonn für den Aufbaueiner Schule in Korisa und für den Wiederaufbau vonHäusern in Greifkovce an die dortige Bevölkerung wei-tergeben dürfen; denn wir haben im letzten Sommerein – erfolgreiches – Fest ausgerichtet, um mit dem Er-lös der Bevölkerung im Kosovo, die unter den Folgendes Krieges litt und noch leidet, helfen zu können.
Ich habe miterleben dürfen, wie dankbar die Kinderund Erwachsenen eines so geschundenen Landes fürdiese Spendengelder sind – Spendengelder für eine bes-sere Zukunft, für die Möglichkeit, dass Kinder wiedereine gute Schulbildung bekommen, und für die Hoff-nung auf eine friedliche Zukunft in diesem Land.
Und ich sage in diesem Zusammenhang: Ich bin stolzdarauf, dass es für die SPD-Bundestagsfraktion eineSelbstverständlichkeit war, diesen Anlass zu nutzen, umSpenden für den Wiederaufbau eines Landes zu sam-meln, für das wir in der Tat eine besondere Verantwor-tung tragen.
– Ja, Herr Grund, das musste einmal gesagt werden. Icherkläre Ihnen auch gleich den Zusammenhang:
Dies, meine sehr verehrten Damen und Herren, werterHerr Grund, ist das richtige Ziel einer großen Spenden-sammelaktion, nicht eine Sammlung, die dem Eigen-nutz, dem Selbsterhaltungstrieb einer Person und einerPartei gewidmet ist, wie es uns im Laufe der letztenWoche vorgestellt wurde.Wir alle miteinander wissen – und sind uns sicherdarüber einig –, dass in unserer Demokratie die Parteieneine besondere und herausgehobene Stellung haben unddass aus diesem Grund eine ausgewogene Parteienland-schaft sehr wichtig ist. Ich bin deshalb auch nicht gegenSpenden an Parteien, wenn diese im Rahmen des Geset-zes bleiben. Man sollte aber bitte nicht so tun, als wäredie Ausgewogenheit zwischen den Parteien – und damitunsere Demokratie – durch den jetzigen Zustand derCDU massiv gefährdet. Das ist schlichtweg falsch unddie Bürgerinnen und Bürger wissen dies auch.Ich habe bei meinen Gesprächen in Korisa erfahren,dass allein dort bis zum nächsten Winter noch 1 500Häuser winterfest gemacht werden müssen, und zwar fürdie Familien, die noch bis heute bei Freunden und Be-kannten Unterschlupf gefunden haben. Ich habe erlebt,dass die Bundeswehr mit hohem menschlichen Engage-ment das Ihrige für den Wiederaufbau tut. Aber auch dieBundeswehr kann ohne vernünftig eingesetztes Geld nurwenig tun.
Deshalb möchte ich diejenigen in der Wirtschaft und inden Medien, die so viel Geld für Spenden übrig haben,auffordern, diese Mittel in Projekte und Länder zu len-ken, die es bitter nötig haben.
Wenn Herr Kohl so viele Menschen kennt, die so vielGeld übrig haben, wäre es wirklich schön, wenn er seineEnergie darauf verwenden würde, dass dieses Geld denMenschen gespendet wird, deren Leben durch Umwelt-katastrophen und Kriege bedroht ist.
So, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, wür-de der lädierte Ruf der Union sicher viel schneller wie-der besser werden.Roland Claus
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000 8535
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich fordere Sie auf,diese unwürdigen Spendensammlungen zu beenden. AlsVertreter einer christlichen Partei sind Sie sicher in derLage, den Spruch aus der Apostelgeschichte richtig zuinterpretieren, in der es heißt:Geben ist seliger denn Nehmen.Sie haben in der Vergangenheit oft genug genau um-gekehrt gehandelt,
nämlich nach dem Motto: „Nehmen ist seliger denn Ge-ben.“ Es ist wirklich an der Zeit, dass Sie Ihr Verhaltenändern.
Wenn Sie einmal im Duden zu diesem Spruch nach-schlagen, können Sie dort lesen, dass man das ironischzu jemandem sagt, der über einen übergroßen Egoismusverfügt.
Frau Kollegin, den-
ken Sie bitte an die Redezeit.
Vielleicht denken Sie,
meine sehr verehrten Damen und Herren von der Union,
einmal darüber nach.
Jetzt hat der Kollege
Otto Bernhardt, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es geht indieser Aktuellen Stunde um den Tatbestand, dass derAltbundeskanzler in den Jahren 1993 bis 1998 anonymeSpenden in Höhe von 2,1 Millionen DM gesammelt hat.Diese hätte er normalerweise an das Präsidium des Bun-destages weiterleiten müssen, so schreibt es das Partei-engesetz vor. Das hat er aber nicht getan, sondern er hatdieses Geld für die Parteiarbeit eingesetzt und damit ge-gen ein wichtiges Gesetz verstoßen. Er hat sich dafürentschuldigt. Er will mit dieser Spendenaktion einenBeitrag dazu leisten, den finanziellen Schaden – nur umdiesen kann es gehen – für die Union auszugleichen.Das Ergebnis dieser Spendenaktion ist Ihnen bekannt:Bisher haben über 30 Persönlichkeiten mehr als6 Millionen DM gespendet. Das ist sicher ein beträchtli-cher Geldbetrag. Diese Aktion hat – das hat die bisheri-ge Diskussion gezeigt – in der Öffentlichkeit und auchhier im Hause – das kann nicht überraschen – unter-schiedliche Reaktionen hervorgerufen. Bevor ich darauf eingehe, will ich zunächst einmalvon dieser Stelle aus ein herzliches Dankeschön an Dr.Kohl sagen.
Nicht zuletzt als Landesschatzmeister meiner Partei fin-de ich es beeindruckend, dass das Ehepaar Kohl aus ei-genen Mitteln 700 000 DM dazugegeben hat. Das istselbst für einen Altbundeskanzler viel Geld.
– Wenn Sie sich ein bisschen beruhigt haben, sage ichvon dieser Stelle den Spendern ein besonderes Danke-schön.
Politische Parteien – ich glaube, darin stimmen wir indiesem Hause überein – sind tragende Säulen unsererparlamentarischen Demokratie.
Alle Parteien – das zeigen die Rechenschaftsberichte –brauchen Spenden. Insofern sind Spenden ein Beitragzur Stabilisierung unserer demokratischen Ordnung. Sie haben hier gesagt, Sie wollten den Bundeskanzlerfair behandeln. Jetzt höre ich, er wolle nur seine Hautretten.
Sie sprechen von „Peinlichkeiten“. Ich kann HerrnFrank Hofmann zitieren, der gesagt hat, es handele sichbei dieser Spendenaktion um eine „Beleidigung für je-den ehrbaren Bürger“. Dazu kann ich nur sagen: Das isteine peinliche Reaktion Ihrerseits. Die Spitze der Peinlichkeit
– der Kollege Westerwelle hat schon darauf hingewie-sen – ist wieder einmal die Ministerpräsidentin aus demschönen Land Schleswig-Holstein, aus dem ich komme.
Ihr Aufruf – ich zitiere wörtlich, was sie in einer Zeitunggesagt hat – lautet: Genossen, gebt euren Kindern wasanderes zu essen! In den Regalen gebe es auch Babykostanderer Hersteller. – Ich meine, sie sollte sich dafür inaller Öffentlichkeit entschuldigen.
Wer im Glashaus sitzt, sollte vorsichtig sein.
Susanne Kastner
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8536 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000
Mir kam eine ZDF-Meldung auf den Schreibtisch; eini-ge kennen sie. Ich verlese sie: Die SPD gerät wegen der Parteispenden in der ÄraHelmut Schmidt in Erklärungsnot.
– Darf ich weiterlesen? Das ist eine ZDF-Meldung.
Alfred Nau, der ehemalige SPD-Schatzmeister, sam-melte für den Wahlkampf von Schmidt 7,6 Millio-nen DM.
Im Rechenschaftsbericht von 1982 werden die Spen-der nicht namentlich ausgewiesen,
ein Verstoß gegen das damalige Parteiengesetz.
– Sobald Sie mit Ihrem Brüllen, was bekanntlich keinBeweis für gute Argumente ist, fertig sind, werde ichweiter zitieren.
In der ZDF-Meldung heißt es, das sei ein Verstoß ge-gen das damalige Parteiengesetz von 1967. Der Staats-rechtler Professor Hufen wird zitiert mit der Aussage: Wenn ein Rückerstattungsanspruch besteht, –das wird zurzeit geprüft, wie das Präsidiummitgeteilt hat – dann verjähren die Ansprücheerst nach 30 Jahren. Das war 1982. Seien Siealso vorsichtig, meine Herren!
Ihre Redezeit ist ab-
gelaufen.
Ich kann dem Chefre-
dakteur des „Focus“ nur zustimmen – –
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist abgelaufen. Wir sind in der Aktuellen Stun-
de.
Ich habe aber nicht
fünf Minuten geredet, Frau Präsidentin.
Es tut mir Leid, Ihre
Redezeit ist abgelaufen.
Dann komme ich zum
Schluss und erkläre: Die Spendenaktion des Alt-
Bundeskanzlers verdient Respekt. Natürlich kann sie
Geschehenes nicht ungeschehen machen, sie ist aber ein
konstruktiver Beitrag zu einem schwierigen Thema.
Danke schön.
Jetzt hat das WortKollege Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.
Kollegen! Diese Aktuelle Stunde ist richtig und notwen-dig, um zunächst einmal auf ein etwas eigenartiges Zu-sammentreffen verschiedener Zufälle hinzuweisen. Diezukünftige Bundesvorsitzende der Christlich Demokrati-schen Union stellt sich in die Öffentlichkeit und sagt:Wir müssen einen Neuanfang machen, das Alte wird ab-geschlossen, das Kapitel Spendenaffäre können wirschließen.Zufällig erklärt zur gleichen Zeit der Ex-KanzlerHelmut Kohl in einer Pressekonferenz, er habe nun über6 Millionen DM gesammelt, er werde dieses Geld an dieCDU abführen und damit könne die Sache beendet wer-den.Der Kollege Schmidt schämt sich nicht, in einem In-terview zu erklären, dass der Abgeordnete Ströbele vonden Grünen und SPD-Abgeordnete den Zeugen ausBayern, den rechtschaffenen Staatsanwalt Maier, in sei-ner Zeugenaussage beeinflusst hätten. Das sollen wir ge-tan haben.
Nun zu den Zeugen, die als nächste vor den Untersu-chungsausschuss geladen sind: Herr Lüthje ist krank.Herr Schreiber, der noch vor ein paar Tagen erklärt hat,er wolle alles vor dem Untersuchungssausschuss sagen,er wolle aus Kanada herkommen oder seine Aussagevielleicht über Video in die Bundesrepublik tragen, sagtnun, er wolle vor dem Ausschuss nicht aussagen.Und der Zeuge, der morgen gehört werden soll, HerrWeyrauch, der noch bis vor wenigen Tagen erklärt hat,er wolle endlich im Untersuchungsausschuss gehörtwerden und umfassend alles auf den Tisch legen, lässtuns durch seinen Anwalt mitteilen, er wolle nicht aussa-gen, er mache von seinem AussageverweigerungsrechtGebrauch.
Am gleichen Tag, an dem dies erklärt wird, erhaltenwir endlich die Erklärung der CDU, dass Herr Weyrauchvon seiner Verschwiegenheitspflicht als Steuerberaterbefreit ist. Sobald Sie sicher sein können, dass er keineOtto Bernhardt
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000 8537
Aussage machen wird, erklären Sie: Jetzt befreien wirihn von der Verschwiegenheitspflicht. – Dieses eigenar-tige Zusammentreffen von Zufällen deutet darauf hin:Sie wollen keine Aufklärung, Sie wollen dieses Kapitelabschließen und die Arbeit des Untersuchungsausschus-ses durch immer neue Anträge auf Aktenbeiziehungunmöglich machen.
Ich sage Ihnen: Damit kommen Sie bei uns nichtdurch! Wir werden die Arbeit in dem Untersuchungs-ausschuss erheblich beschleunigen. Wir werden an meh-reren Tagen in der Woche verhandeln, wir werden inden Ferien verhandeln und wir werden bis abends ver-handeln. Wir werden bis zum Sommer ein erstes Ergeb-nis der Spendenaffäre der CDU vorlegen. Wir wollendie Fakten auf den Tisch haben. Wir wollen Ihnen nichtdurchgehen lassen, dass Sie versuchen, sich in der Öf-fentlichkeit wieder als die Partei von „law and order“mit Forderungen nach Videoüberwachung von Straßenund Plätzen in ganz Deutschland zu profilieren. WissenSie, was „law and order“ heißt? – Gesetz und Recht! Sieals Partei von Gesetz und Recht – bei diesem ehemali-gen Vorsitzenden? Da machen Sie sich doch lächerlich.
Sie sollten Kameras für CDU-Geschäftsstellen fordern,damit dort endlich Klarheit reinkommt.
[BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Die Schatzmeisterei hätteman überwachen müssen mit Kameras!)– Bei der Schatzmeisterei vielleicht auch.Bei meinen „Kofferstunden“, die ich abends in der Bun-desrepublik abhalte, erzähle ich den Leuten, was sichaus den Akten so zusammengesammelt hat. Ich verlangevon Ihnen, dass Sie mir und der Bevölkerung einmal er-klären: Was halten Sie eigentlich davon, dass Ihre Ver-trauenspersonen, auf die die Politik von Helmut Kohlnach eigener Aussage aufgebaut war – Herr Weyrauch,Herr Lüthje und Herr Kiep –, einfach feststellen, beidem Konto „Norfolk“, das angeblich der CDU gehörthat, sind 1,5 Millionen Schweizer Franken übrig?Was machen die drei ehrenwerten Herren? Siebeschließen, das Geld untereinander aufzuteilen. Werhat das entschieden? – Herr Kiep! So steht es in dem Be-richt, den Sie selber vorgelegt haben. Die CDU soll sichdazu äußern, ob sie dies gut findet: Finden Sie das rich-tig? War der überhaupt dazu befugt? Wird das nachträg-lich gebilligt? Das sind Fragen, die sich die Bevölkerungstellt. Wir wollen wissen, wie dies bei Ihnen gehandhabtworden ist.
Dies gilt vor allen Dingen, nachdem dasselbe Triokurz vorher auch die 1 Million DM aus dem berühmtenKoffer aus der Schweiz unter sich aufgeteilt hat. Der ei-ne kriegt 370 000 DM, der andere 370 000 DM plusMehrwertsteuer und der dritte bezahlt damit seinenRechtsanwalt in Höhe von 340 000 DM. Das haben dieunter sich entschieden. Das war angeblich CDU-Geld.Das müssen Sie einmal erklären: Ist das gebilligt wor-den? Wussten davon der CDU-Vorsitzende und der Ge-neralsekretär nichts? Wie stehen Sie denn heute dazu?Was sagt die Partei dazu? Ruft sie nach dem Staatsan-walt? Ruft sie nach Schadenersatz? Beantworten Siediese Fragen, die man in der Öffentlichkeit stellt!
Ich will einen letzten Punkt anführen. Sie haben hierneue Zeitungsartikel und neue Meldungen aus der Pressezitiert, mit denen Sie diese alten Kamellen herholen wol-len. Was 1976 vielleicht mit Herrn Nau gewesen ist,können wir auch aufklären.
Herr Kollege, den-
ken Sie bitte an Ihre Redezeit!
doch erst einmal auf: Warum hat eigentlich die hessi-
sche CDU aus Spendengeldern, die in der Schweiz wa-
ren und an sie zurückgeflossen sind, 45 000 DM an die
Staatsbürgerliche Vereinigung Bayern gezahlt? Waren
das Zinsen? Was war das eigentlich? Damit sind wir bei
der CSU. Ich denke, der Untersuchungsausschuss hat bis
zum Ende der Legislaturperiode zu tun, um Licht in die-
ses Dunkel der Union zu bringen – und zwar ohne Vi-
deokameras.
Jetzt hat Kollege
Andreas Schmidt, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
FrauPräsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Die hier in Rede stehende Spendenaktion ist völlig legal.Sie entspricht den Gesetzen. Sie ist auch legitim. Der eigentliche Skandal bei dieser Frage ist, dass Sieversuchen, diese Debatte dazu zu nutzen,
um anständige Menschen in Deutschland, die etwas ge-spendet haben – was den Gesetzen entspricht –, hier zukriminalisieren. Dies ist, meine Damen und Herren, dereigentliche Skandal in dieser Debatte.
Hans-Christian Ströbele
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8538 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000
Das Kalkül, das Sie mit dieser Kriminalisierung ver-folgen, ist völlig klar: Sie wollen der CDU die finanziel-le Basis entziehen,
um das Prinzip der Chancengleichheit der Parteien inDeutschland zu zerschlagen.
Dies ist ein niederträchtiges Motiv, das hier auch einmalöffentlich so benannt werden muss, meine Damen undHerren.
Es wird bei dieser Debatte höchste Zeit, dass wir diedoppelte Moral, die Heuchelei, die auf Ihrer Seite immermehr Fuß fasst, hier auch einmal zur Sprache bringen.Ich will das an drei Punkten exemplarisch deutlich ma-chen.
Der erste Punkt bezieht sich auf Sie, Herr KollegeStröbele. Sie stellen sich hier als Vertreter von Rechtund Ordnung hin und erzählen in jedem Interview – wieIhre Partei es auch sonst immer tut –, dass derjenige, dergegen ein Gesetz verstößt, zum Beispiel gegen ein Par-teienfinanzierungsgesetz, sein Mandat verlieren soll.Dies ist Ihre Forderung, die Sie – genauso wie andereaus Ihrer Partei – in jedem Interview erheben.
Dann sagen Sie der Bevölkerung bitte auch, dass Siedurch ein Urteil des Bundesgerichtshofes wegen Unter-stützung einer kriminellen Vereinigung – das war dieBaader-Meinhof-Bande – rechtskräftig zu zehn MonatenHaft verurteilt worden sind. Wenn Sie solche Forderun-gen aufstellen, dann gehen sie zuerst an Sie. Dann gebenbitte zuerst Sie Ihr Mandat zurück, Herr KollegeStröbele.
Der zweite Punkt hinsichtlich der doppelten Moral indieser Debatte betrifft Kollegen Müntefering. MeineDamen und Herren, ich halte es schlichtweg für uner-träglich, wie Kollege Müntefering im Fernsehen als Hü-ter von Wahrheit, Moral und Anstand in dieser Frageauftritt. Es ist nämlich der Kollege, der hier von unsAufklärung verlangt und gleichzeitig als Landesvorsit-zender der SPD in Nordrhein-Westfalen alles tut, um dieAufklärung des Finanzskandals der SPD in Nordrhein-Westfalen zu verhindern und zu hintertreiben.
Jetzt schaue ich den Kollegen Struck an. Sie werdensich genau erinnern, dass – wenn es um die Frage derWahrheit geht – auch der Kollege Müntefering ein kon-kretes Problem aus jüngster Vergangenheit hat. Er hatnämlich am 25. Februar 1998 vor der Presse eingestehenmüssen, dass er bezüglich des Termins der Benennungdes Kanzlerkandidaten damals bewusst die Unwahrheitgesagt hat.
Er hat dann gesagt, man müsse die richtigen Dinge zumrichtigen Zeitpunkt machen. Er hat sich nicht einmalentschuldigt.Herr Kollege Struck, ich weiß nicht, ob Sie persön-lich sich erinnern, wie Sie diesen Vorgang – damals alsParlamentarischer Geschäftsführer; hier kommt wiederdie Doppelmoral zum Vorschein – in einem Interviewdes Deutschlandfunks am 26. Februar 1998 kommentierthaben. Hören Sie gut zu – Originalton Peter Struck –:Ein Bundesgeschäftsführer muss einmal auch entge-gen seinen eigenen Erkenntnissen etwas verkünden, dasnicht ganz der Wahrheit entspricht, wenn es der Parteidient.
Wer so redet, sollte hier beim Thema Wahrheit nicht denmoralischen Zeigefinger gegen die Union richten.Der dritte Punkt betrifft das Thema Transparenzge-bot. Wir haben, was Hessen betrifft, massiv gegen dasTransparenzgebot verstoßen. Das sehen wir so, da sindwir selbstkritisch, dafür müssen wir die Konsequenzentragen.
Das ist völlig unbestritten.Aber auch die Sozialdemokraten verschleiern seitJahrzehnten ihre wahren Vermögensverhältnisse.
Frau Kollegin Wettig-Danielmeier hat die wahren Ver-mögensverhältnisse in den letzten Jahrzehnten immerverschleiert,
weil nämlich die Beteiligungen an den Verlagen undZeitungen mit einer Summe angegeben worden sind, diedem realen Wert nicht entspricht.
Der reale Wert Ihres Vermögens ist um ein Vielfacheshöher als der Wert, der im Rechenschaftsbericht IhrerPartei ausgewiesen ist.Andreas Schmidt
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000 8539
Wir werden über dieses Thema – das will ich hier an-kündigen – auch im Untersuchungsausschuss zu spre-chen haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin sehrdafür, dass wir die Aufklärung weiter vorantreiben.
Ich bin auch sehr dafür, dass wir uns zu unseren Ver-fehlungen bekennen und bereit sind, die Konsequenzenzu tragen. Nur, es ist an der Zeit, dass wir alle Parteiennach den gleichen Maßstäben bewerten.Es ist höchste Zeit, dass Sie weniger mit dem morali-schen Zeigefinger auf uns zeigen und mehr vor Ihrer ei-genen Haustür kehren. Herzlichen Dank.
In der Aktuellen
Stunde zum Thema „Bundespolitische Auswirkung der
neuerlichen Parteispendensammelaktion“ hat nun der
Kollege Dieter Wiefelspütz das Wort.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Der Tiefstand der parlamentari-schen Debatte
hat einen Namen: Er lautet Bernhardt.
Ich bin wirklich bestürzt, Herr Kollege Repnik, dassSie solche Redebeiträge ermöglichen.
Hier tritt jemand ans Mikrofon, der sich ausdrücklich
– hören Sie doch bitte einmal zu! – bei demjenigen be-dankt, der auf ganz nachhaltige Weise dem Ansehen, jader Glaubwürdigkeit Ihrer Partei Schaden zugefügt hat,und zwar nicht nur Ihrer Partei,
sondern uns allen, allen demokratischen Politikern. Siesollten sich Ihres Beitrages schämen, Herr Bernhardt.
Ich finde Ihr Rechtsbewusstsein, das Sie hier zum Aus-druck bringen, entsetzlich. Diese Debatte ist von großer Bedeutung. Ich bin – dasmuss ich Ihnen freimütig sagen – bestürzt über dasRechtsbewusstsein, das sich in manchen Debattenbeiträ-gen offenbart. Ich komme auch auf Ihren Redebeitragzurück, Herr Westerwelle, weil Sie nach meiner Mei-nung gut beraten wären, noch einmal über manche For-mulierung genauer nachzudenken. Ich habe den Ein-druck, nein, ich habe die Gewissheit, dass die CDU/CSUin einer nachhaltigen Glaubwürdigkeitskrise ist, aus derSie nur dann herauskommen, wenn Sie bereit sind, denSumpf, in dem Sie sich verirrt haben, auszutrocknen.Das wird nicht schmerzfrei möglich sein. Wir werdenIhnen auf die Finger schauen, wie Sie das machen. Wirwerden es nicht zulassen, dass Sie sich durch den Ne-beneingang davonstehlen, wie Sie es immer wieder aufsNeue versuchen.
Wir haben festzustellen, dass Teile Ihrer Fraktion –das ist auch heute zum Ausdruck gekommen – ein ge-störtes Rechtsbewusstsein haben. Ich möchte das bele-gen: Als der Bundestagspräsident in korrekter Amtsaus-übung verkündete, von der CDU 41 Millionen DM zu-rück zu verlangen, haben Sie im Vorfeld versucht,Druck zu machen, nach dem Motto: Der Täter bestimmtdie Höhe der Strafe. In welchem Land leben wir, wo derTäter die Höhe der Strafe bestimmt!
– Herr von Klaeden, natürlich ist das keine Strafe. Ichhabe das im übertragenen Sinne gemeint.
– Hören Sie doch bitte einmal zu! Dies ist eine ernsthaf-te Debatte. Ich hoffe, sie wird von vielen Menschenwahrgenommen. Wie geht es weiter? In dieser Frage möchte ich michauch auf den Beitrag des Kollegen Westerwelle bezie-hen. Sie haben gesagt, die Spendenaktion – das ist dasThema dieser Debatte – sei völlig in Ordnung. Ich bitteSie einmal, über die Konsequenzen nachzudenken: Damacht jemand etwas, was gegen Recht und Gesetz ist.Das räumen Sie ein. Dieser finanzielle Schaden – da-rüber rede ich jetzt – muss wieder gutgemacht werden.Das ist auch in Ordnung. Aber wollen Sie sich dabei vonanderen helfen lassen?
Da wird jemand als Täter erwischt und lässt sich dieStrafe von anderen bezahlen.Andreas Schmidt
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8540 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000
Das ist Ausdruck eines gestörten Rechtsbewusstseins.Das stört nachhaltig den Rechtsfrieden.
Wir bestrafen heute in Deutschland Ladendiebe.
Wir bestrafen Menschen, die auf der Straße zu schnellfahren – und Sie akzeptieren, dass die Strafe von ande-ren bezahlt wird! Herr Westerwelle, ich bitte Sie herz-lich, über die moralische Dimension dessen, was Sie fürrichtig gehalten haben, noch einmal nachzudenken.
Das ist nämlich nicht in Ordnung. Die Bürger habennicht Ihr gestörtes Rechtsbewusstsein. Sie merken, dasssich jemand durch die Hintertür davonmachen will. Natürlich ist es legitim und legal, Spenden zu sam-meln. Aber Spenden, um die eigene Tat wieder gutzu-machen?
Wenn Sie das für richtig halten, werden Sie eines Tagesverschwinden. Sie werden Ihre Glaubwürdigkeit niewieder zurückbekommen. Ich sage das mit großerErnsthaftigkeit und ohne Schadenfreude. Wir haben keinInteresse daran, dass sich die CDU/CSU selber vor dieWand fährt.
Sie haben es selber in der Hand, dies zu korrigieren. Aber mit dieser Art von Scheinheiligkeit und Selbst-gerechtigkeit, die Sie an den Tag legen, wird es nicht ge-lingen. Herr Repnik, Ihre Rede triefte in Teilen vorSelbstmitleid.
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist abgelaufen.
Sie werden dadurch Ihre
Glaubwürdigkeit nicht zurückerlangen.
Herzlichen Dank.
Jetzt erteile ich das
Wort dem Kollegen Friedhelm Julius Beucher, SPD-
Fraktion.
Frau Präsiden-tin! Meine Damen und Herren! Insbesondere wenn ichan den Redebeitrag des Kollegen Schmidt denke – teil-weise auch an den des Kollegen Repnik –, frage ichmich: Ist es eigentlich Hilflosigkeit, Dreistigkeit oderrotzfrech, wie wir es von Ladendieben kennen, wie Siehier argumentieren?
Haben Sie wirklich nicht die bundespolitischen Aus-wirkungen dieser zweiten Kohlschen Spendenwelle be-merkt, mithilfe von Michael Holm über Dieter-ThomasHeck bis zum Uschi-Glas-Freundeskreis?
Ich sage Ihnen: Anstatt hier lauthals zu tönen, sollten Sieüber den fast schon nicht mehr reparablen Schaden amRechtsempfinden der Menschen draußen im Lande, denSie angerichtet haben, nachdenken.Egal um welche Umfragen es sich handelt – KollegeSchmidt hat darauf hingewiesen –: Über zwei Drittel derBevölkerung wollen, dass Kohl, Kiep und KantherSchadenersatz leisten. Das ist einfach ein normalesRechtsempfinden der Menschen. Wer Schaden verur-sacht, muss auch dafür aufkommen. Es gibt keine eigeneKohl-Gerechtigkeit, wie Sie uns hier einreden wollen.
Macht und Geld haben offensichtlich bei Herrn Kohlinzwischen die Sinne verstellt. Das kommt aber daher,wenn man sich im Leben so viel mit Geld erkauft. Dasmüssen ja, was die Pöstchen in der CDU angeht, einigevon Ihnen wissen.
– Das war ein Hinweis, damit auch die Leute draußeneinmal die Unverschämtheiten hören, die hier so unterder Hand laufen. Diese Spendensammelaktion ist neben einzelnen Ab-surditäten in diesem peinlichen Theater insbesondereaus Ihrem Umfeld – dazu gehören vor allen Dingen die-jenigen, die hier heute nicht sitzen und diese Debattestill in ihrem Kämmerlein verfolgen –, ein konkreterAngriff auf das Rechtsempfinden der Menschen.
Im Übrigen ist diese Sammelaktion auch ein sehr egois-tischer Akts. – Kollege Wiefelspütz hat darauf hinge-wiesen: – : Kohl lässt sich von fremden Leuten denSchaden bezahlen, den er materiell verursacht hat.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass es hiernur um das Geld von nach 1993 geht. Was ist eigentlichmit den Schwarz-Millionen vor 1993?
Dieter Wiefelspütz
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000 8541
Von Frau Merkel wissen wir, dass Sie weiter mit derSumme von 10 Millionen DM ungeklärter Herkunft zukämpfen haben. Bei Ihnen war der Geldfluss nach demFlick-Skandal offensichtlich nicht gestoppt. Dass Sie au-ßerdem mit Ihren Schwarzgeldern auch den Staat betro-gen haben, wird in der Debatte immer vergessen. Es war nicht der Sinn des Parteiengesetzes, Ver-schleierungsmöglichkeiten für Großverdiener zu ermög-lichen. Nein, Sie kippen hier offensichtlich rücksichtslosdas Rechtsbewusstsein in der Bevölkerung.
Dazu gehört auch der Skandal der verschwundenenAkten im Kanzleramt, ebenso wie das Herumwerfen mitden Provisionen und anderen Geldern in Millionenhöhe,sei es bei Panzerdeals oder der Leuna-Privatisierung.Diese Schmiergeldgeschichten werden wir trotz IhrerVerweigerungshaltung schon noch aufklären.
Jeder Bürger muss sich darauf verlassen können, dassseine Geburtsurkunde beim Standesamt ebenso wie sei-ne Rentenunterlagen bei seinem Versicherungsträger or-dentlich geführt und aufbewahrt werden. Was für einennormalen Beamten und Angestellten gilt, muss auch fürden Chef einer Ministerialbehörde gelten. Das muss maneinfach erwarten können. Die Kohl/Bohl-Vertuschertruppe, unter deren Augenzufälligerweise genau diese Akten aus dem Kanzleramtverschwanden, die möglicherweise Aufschluss über dieLeuna-Affäre hätten geben können, muss sich öffentlichfür diesen lockeren Umgang mit dem Recht verantwor-ten. In diesem CDU-Skandal wird doch alles auf denKopf gestellt, ebenso wie die Vielfalt der angewendetenKniffe und Tricks bis hin zu kriminellen Machenschaf-ten erschreckt und einfach anwidert.
Frau Krause findet in den Anzugtaschen des ehemaligenVerkehrsministers 100 000 DM mit der Banderole einerSchweizer Bank. Frau Hürland-Büning bekommt fürfragwürdigenin Klammern: – Telefona-te! – 8 Millionen DM und zahlt davon Provisionen anHerrn Holzer, der Herrn Kohl dringendst ersucht, sichim Leuna-Geschäft doch für Elf Aquitaine zu entschei-den. Herr Pfahls, Ihr ehemaliger Staatssekretär, der jetztmit internationalem Haftbefehl gesucht wird, war stän-dig mit Kiep bei Bohl/Elf-Besprechungen im Kanzler-amt dabei. Herr Koch muss kontinuierlich die Bilanzender CDU Hessen berichtigen.Bei so viel Schwarzgeld ist es natürlich verständlich,dass einem dunkel vor Augen wird und dabei letztlichdie Wahrheit durcheinander gerät.
Hören Sie mit Ihrer Nebelkerzenwerferei auf und tragenSie zur Aufklärung bei! Rufen Sie nicht lauthals nachKlarheit, wenn Sie die Auskunftsverweigerer im Unter-suchungsausschuss beklatschen.
Verlassen Sie sich darauf, dass Herr Weyrauch morgenkommen muss. Selbst der stellvertretende Ausschuss-vorsitzende Herr Friedrichs hat sich nicht entblödet zuentschuldigen, dass Herr Weyrauch morgen auf dieseWeise antritt. Merken Sie sich das, meine Damen und Herren vonder CDU und der CSU, was ich Ihnen jetzt zum Schlusssage, und sagen Sie es auch Herrn Kohl, den Sie jetztebenso wie Herrn Schäuble – ich weiß gar nicht, ob ersich auf diesem Platz wohl fühlen wird – auf die hinte-ren Bänke verbannt haben: Es gibt keine eigene Kohl-Gerichtsbarkeit.
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist abgelaufen.
Die Gerichts-
barkeit in diesem Land gilt für alle Bürgerinnen und
Bürger. Das muss auch so sein.
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Klaus-Peter Willsch, CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die SPD-Fraktion führt hier ein Schauspiel auf.
Wie bei vielen Stücken dreht es sich um Macht und Mo-ral. Wie bei den meisten dieser Stücke werden hehremoralische Gesichtspunkte vorgeschoben, um zu ver-schleiern, dass es um die Macht und um sonst nichtsgeht.
Sie wollen, dass die CDU dauerhaft aus dem politi-schen Wettbewerb ausscheidet,
um Ihr kümmerliches rot-grünes Projekt ungestört auf-zupäppeln. Deshalb weisen Sie immer auf Hessen hin.Auch da geht es nicht um Moral, sondern um die Bun-desratsmehrheit, um nichts anderes.Friedhelm Julius Beucher
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8542 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000
Ihnen ist dazu nahezu jedes Mittel recht. Ihre Emp-fehlungen, Herr Özdemir, können Sie sich wirklich spa-ren.Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wer hatdenn die Hessen-Wahl im vorigen Jahr ver-fälscht? Wer war das denn?)Frau Müller hat sich ähnlich verhalten, als sie nach Fest-setzung der maßlosen 41 Millionen DM durch HerrnThierse meinte: „Die sollen jetzt nicht herumzicken“!Wir werden uns aber nicht unserer Rechte begeben. Die Entscheidung des Präsidenten ist für uns finan-ziell existenzbedrohend und juristisch zweifelhaft.
Entgegen der ursprünglichen Äußerung des Präsidentenist diese auch keineswegs einmütig von seinen Beraternunterstützt und mitgetragen worden.
Es gab ernste Zweifel an der Richtigkeit der Entschei-dung Thierses auch aus dem Kreis seiner Berater, wasaber die Öffentlichkeit nicht erfahren sollte.
Wir vertrauen hierbei auf die Überprüfung der Entschei-dung Thierses durch unsere unabhängige Gerichtsbar-keit. Keinesfalls aber, Herr Özdemir, werden wir dasSchicksal und die Zukunft unserer großartigen Partei indie Hände unserer politischen Gegner legen. Wir lassenuns nicht wie Lämmer zur Schlachtbank führen.
Die Spendensammelaktion von Helmut Kohl für dieCDU hat verschiedenste Reaktionen ausgelöst, wie manauch heute wieder beobachten kann. Wohltuend ist dieunaufgeregte Feststellung der „Rheinischen Post“:Es ist nichts daran auszusetzen, dass honorige Bür-ger auf einwandfreie Weise einer Partei Geld zu-kommen lassen und dazu als Boten einen von ihnenverehrten Staatsmann im Ruhestand wählen. Besonders aufseiten von Rot und Grün überwogenZorn und Neid die Aussagen. Die schlimmste Entglei-sung stammt zweifellos von Frau Simonis. Ich habe da-für nach historischen Vorbildern gesucht. Aus dem Ge-schichtsunterricht kann ich mich noch an Ausgaben vonStreichers „Stürmer“ erinnern. Daran erinnert mich das,was ich da gehört habe. Das ist ein Skandal.
Ich fordere Frau Simonis auf – –
Einen Moment, Herr
Kollege!
Ich fordere Frau
Simonis von dieser Stelle aus auf, dies zurückzunehmen
und sich dafür zu entschuldigen.
Herr Kollege, ich
unterbreche Sie und erteile Ihnen wegen des von Ihnen
gebrauchten Vergleichs einen Ordnungsruf. Sie sollten
wirklich zur Sache zurückkehren.
Entlarvend war
übrigens der Zusammenhang, in dem ihr die Entgleisung
passierte.
Herr Kollege, Sie
sollten sich entschuldigen; das würde uns allen gut tun.
– Herr Kollege Wiefelspütz, Sie haben nicht das Wort.
Das Wort hat der Kollege, dem ich noch einmal Gele-
genheit gebe, sich zu entschuldigen. Dann können wir in
der Debatte fortfahren.
Frau Präsidentin,
wenn Sie diesen Vergleich für unangebracht halten,
dann beuge ich mich Ihnen und nehme das zurück.
Damit, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, lassen wir es im Augenblick be-
wenden. Herr Kollege, Sie haben weiter das Wort.
Diese Entglei-sung ist Frau Simonis vor dem SPD-Landesparteitag inBochum in Anwesenheit der gesamten ehrenwertenVielfliegergesellschaft von Nordrhein-Westfalen pas-Klaus-Peter Willsch
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000 8543
siert. Gemäß Berichterstattung der „Rheinischen Post“kamen übrigens laute Buhrufe auf, als die Spender des„WAZ“-Verlegers und SPD-Mitglieds Schumann er-wähnt wurde. Daran zeigte sich auch, was Sie eigentlichbedrückt und bekümmert: Nicht, dass gespendet wordenist, sondern dass an uns, die CDU, und nicht an Sie ge-spendet worden.Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich all jenen, diegespendet haben, und auch dem Initiator der Aktion dan-ken.
Ihnen empfehle ich: Hören Sie auf Ihren AltvorsitzendenHans-Jochen Vogel, der die Spendensammlung zur Wie-dergutmachung der Bußgeldzahlung lobte, indem erfeststellte, dass Kohl damit das tue, wozu jeder ver-pflichtet sei, der einen Schaden verursacht habe, nämlichden Schaden zu mindern. „Das ist erfreulich“, sagte erwörtlich.Ich komme zum Schluss.
Wir lassen uns von Ihnen nicht in Sippenhaft nehmen,nicht wir als Fraktion und auch nicht unsere 600 000Mitglieder im Land.
Probleme im eigenen Haus lösen wir selbst,
– Wilhelm Schmidt
[Salzgitter] [SPD]: Und die Staatsanwalt-schaft!)weil Deutschland diese Partei und die Ideen, für die die-se Partei steht, braucht. Ihnen geht es ja nicht um 2 oder6 Millionen DM, Ihnen geht es um die General-abrechnung mit einer Periode und einer Politik, zu derSie eine innere Distanz hatten.
Ihnen geht es darum, die Partei CDU aus dem politi-schen Wettbewerb herauszuschmeißen.Aber Deutschland braucht die CDU. Ohne die Politikder CDU hätten wir in all den Jahren der Bundesrepu-blik Deutschland eine andere, eine schlechtere Republikerlebt. Gegen Ihren erbitterten Widerstand haben wir dieWestintegration durchgesetzt, die uns die Freiheit ge-bracht hat, gegen Ihren Widerstand die soziale Markt-wirtschaft durchgesetzt, die uns den Wohlstand gebrachthat,
gegen Ihren erbitterten Widerstand – damals haben Siesich vor Kasernen angekettet – den Doppelbeschlussdurchgesetzt, womit wir den Kommunismus niederge-rungen und auch dem Osten die Freiheit gebracht haben.
Nun ist Ihre Rede-
zeit abgelaufen, Herr Kollege.
Das hat schließ-
lich die Einheit Deutschlands gebracht, die Sie innerlich
nie wollten. Deshalb führen Sie hier diesen Zirkus auf.
Nun erteile ich dem
Kollegen Dr. Peter Struck, SPD-Fraktion, das Wort.
Verehrter Herr KollegeVorredner, Sie haben eine für das ganze Parlament be-schämende Rede gehalten, auch für Ihre eigene Fraktion.
Ich kann Ihnen nur dringend empfehlen, Ihre Worte zuüberdenken und den Vergleich, den Sie zwischen FrauSimonis und Herrn Streicher, dem „Stürmer“-Heraus-geber, gezogen haben, zurückzuziehen und sich dafüröffentlich zu entschuldigen. Das ging weit über dasnormale Maß einer parlamentarischen Auseinanderset-zung hinaus.
Ich beabsichtige nicht, mit gleicher Münze heimzu-zahlen. Ich rede ganz bewusst als letzter Redner, weilich mir die Debatte anhören und einen Eindruck davongewinnen wollte, wie die Bürger wohl diese Debattebewerten. Ich komme auf einen Text zurück, den ich Ih-nen jetzt vortragen möchte:Die bekannt gewordenen Verstöße gegen das Par-teiengesetz, gegen die Grundsätze der Transparenzund der innerparteilichen Demokratie haben unserePartei, für die die Einhaltung von Recht und Gesetzzu ihrer Identität gehört, ins Mark getroffen. Weit-aus bedeutender als der daraus entstandene finan-zielle Schaden ist deshalb der Glaubwürdigkeits-und Vertrauensverlust, der eingetreten ist.Ich habe aus dem Entwurf des CDU-Vorstandes fürden Leitantrag für den Essener Parteitag im April zitiert.Ich habe allerdings den Eindruck, meine verehrten Red-ner von der CDU/CSU-Fraktion, dass Sie sich an diesesPrinzip, das Sie hier fordern, bei Ihren gerade vorgetra-genen Reden überhaupt nicht gehalten haben.
Klaus-Peter Willsch
Metadaten/Kopzeile:
8544 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000
Wenn das wirklich so ist, wie Sie es aufgeschriebenhaben – vielleicht hat es ja die Frau Merkel aufgeschrie-ben, ohne jemanden einzubeziehen –, dann frage ich Sie:Warum tun Sie eigentlich nichts gegen den Vertrauens-verlust? Klären Sie doch auf! Klären Sie doch auf, werHelmut Kohl gespendet hat! Es ist richtig, was Ströbeleund andere gesagt haben: Das Problem sind nicht dieSpenden, die er jetzt eingesammelt hat.Ich habe auch nicht zu kritisieren, wer Herrn Kohlgespendet hat.
Das ist die Angelegenheit derjenigen, die gespendet ha-ben. Sie müssen das mit ihrem Gewissen vereinbaren.
Ich habe allerdings zu kritisieren, dass durch diese Akti-on der ursprüngliche Tatbestand verschleiert wird, näm-lich dass er sich bis heute weigert, die Spender zu nen-nen, die damals das Geld gegeben haben.
Ich kann mich noch gut an die Situation hier in die-sem Plenarsaal erinnern, als ich in einer Rede über dieFrage gesprochen habe, ob denn die Politik von HerrnKohl möglicherweise käuflich gewesen sei, und ichkann mich auch noch gut an seine Empörung und anseine Zwischenfragen bei meiner Rede erinnern. WennSie es denn wirklich ernst damit meinen, die Angele-genheit aufzuklären und zu beweisen, Sie seien nichtkäuflich gewesen, dann sagen Sie, Herr Kohl, doch bitteum Gottes willen, von wem Sie die 2 Millionen DM be-kommen haben! Wenn Sie das nicht tun, bleibt der Ver-dacht.
Ich hätte mir auch gewünscht – ich lese interessiertdie Zeitungen; Herr Kohl beabsichtigt offenbar, in dasPlenum zurückzukehren und seine Arbeit wieder aufzu-nehmen, was man von jedem Abgeordneten wohl auchverlangen kann, weil wir dafür gewählt wurden –, dasser heute in dieser Aktuellen Stunde die Gelegenheit er-griffen hätte, dazu Stellung zu nehmen. Wo ist er denn?
Ich frage mich auch, wie eine Bemerkung von HerrnKohl in einem Interview zu bewerten ist, das er gesternder „Welt“ gegeben hat. Er hat gesagt:Erstaunt bin ich nur, wenn ich daran denke, dassmancher, der früher unbedingt meine Nähe gesuchthat, dem ich geholfen habe, heute davon nichtsmehr wissen will.
Wie ist das eigentlich zu verstehen?
Muss man nicht auch die Frage stellen, ob ehemaligeGeneralsekretäre, auch Generalsekretärinnen, und alldie, die im nahen Umfeld von Herrn Kohl waren und mitdem System Kohl verwoben waren, doch vielleicht mehrgewusst haben, als sie jetzt behaupten? Muss man jetztnicht diese Frage stellen? Muss man nicht auch die Fra-ge stellen, wer denn die 100 000 DM von Herrn Schrei-ber bekommen hat? Herr Schäuble, Frau Baumeister oder beide?
Das ist doch die Situation, mit der wir zu tun haben unddie wir zu diskutieren haben.Es ist offenbar die Strategie der Union – das ist ebenbei den Reden deutlich geworden –: Schmeißen wir malmit Dreck auf die anderen, dann merkt man nicht, wieschmutzig wir sind! – Wir lassen Ihnen das nicht durch-gehen.
Wir werden den Sachverhalt im Untersuchungsaus-schuss aufklären. Wir werden klarstellen, dass unsereRepublik keine Kauf-mich-Republik ist und keine Bim-bes-Republik war. Da kann Herr Kohl noch so viele Hy-potheken auf sein Haus aufnehmen: Die größte Hypo-thek für diese Demokratie ist er selbst, solange er seinVerhalten nicht ändert.
Wenn Sie erlauben, Frau Präsidentin, noch eine letzteBemerkung zu dem Kollegen Schmidt. Ich kann ja ver-stehen, dass Sie sagen, wir müssen die anderen irgend-wie hereinziehen, damit wir nicht so schlecht dastehen.Es handelt sich vielleicht teilweise um eine politischeAuseinandersetzung. An dieser Stelle ist aber diese Artund Weise der politischen Auseinandersetzung unan-gebracht.Um eines bitte ich Sie sehr: Die Schatzmeisterin derSPD hat in einem Interview der „Welt“, das Sie heutemit Sicherheit nachgelesen haben, dargelegt, dass dieBilanzierung der Beteiligungen der SPD nach denGrundsätzen des Handelsgesetzbuches erfolgt. Ich kannnun wirklich nicht erkennen, warum Sie das zum Anlassnehmen zu sagen, das wollen wir im Untersuchungsaus-schuss bereden. Dafür gibt es überhaupt keinen Grund.Das ist ein reines Ablenkungsmanöver und ist unredlichgegenüber einer Kollegin, die auch einen Anspruch aufEhre hat, verehrter Herr Kollege Schmidt.
Die Aktuelle Stundeist beendet. Wir sind damit am Schluss unserer heutigenTagesordnung.Dr. Peter Struck
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 92. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. März 2000 8545
(C)
Ich berufe die nächste Sitzung des Deut-schen Bundestages ein auf morgen, Donners-tag, den 16. März, 9.00 Uhr.Die Sitzung ist geschlossen.