Gesamtes Protokol
Die Sitzung isteröffnet.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll dieverbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punk-te sind in der folgenden Zusatzpunktliste aufgeführt: 1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P. ge-mäß Anlage 5 Nummer 1 Buchstabe b GO-BT zu den Ant-worten der Bundesregierung auf die Fragen 35 bis 38 inDrucksache 14/2552 zur Medienpolitik
2. Beratung des Antrags der Fraktion SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Unterstützung des Stabilitätspaktes Süd-osteuropa – Drucksache 14/2569 – Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, Hildebrecht Braun ,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Für einezügige Umsetzung und Vertiefung des StabilitätspaktesSüdosteuropa – Drucksache 14/2584 – Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 4. Beratung des Antrags der Fraktion der PDS: Aufhebung desÖlembargos gegen Jugoslawien – Drucksache 14/2573 – Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe 5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich
, Hans-Michael Goldmann, Dr. Karlheinz
Guttmacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derF.D.P.: Straßenbau statt Autostau – Drucksache 14/2582 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung atomrecht-licher Vorschriften für die Umsetzung von EURATOM-Richtlinien zum Strahlenschutz – Druck-sache 14/2443 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit
Ausschuss für Gesundheit b) Beratung des Antrags der Fraktion SPD und BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Grenzüberschreitende Zu-sammenarbeit zur Stärkung des Schutzes der Böden –Drucksache 14/2567 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit
Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung von Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft auf dem Gebiet des Berufsrechts der Rechtsanwälte – Drucksache 14/2269 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses – Drucksache 14/2594 – Berichterstattung: Abgeordnete Alfred Hartenbach Norbert Röttgen Rainer Funke 8. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:Haltung der Bundesregierung zu Berichten über Defizitebei der Pflegeversicherung und Auswirkungen auf die soziale Sicherheit alter Menschen 9. Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zwei-ten Gesetzes zur Änderung des Weingesetzes – Drucksache14/2566 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Rechtsausschuss
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7710 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss 10. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Er-gänzung des Strafverfahrensrechts – Strafverfahrensän-derungsgesetz 1999 – Drucksache 14/2595 – Berichterstattung: Abgeordnete Jörg van Essen Dr. Jürgen Meyer
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten Dr. Evelyn Kenzler Hans-Christian Ströbele 11. Beratung des Antrags der Fraktion SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Fortführung der Beratungen zum Endbe-richt der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten undPsychogruppen“ – Drucksache 14/2568 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 12. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: DieErgebnisse des Russland-Besuches des deutschen Außen-ministers Joseph Fischer am 20. Januar 2000 und die Hal-tung der Bundesregierung zum Tschetschenien-KriegVon der Frist für den Beginn der Beratung soll – so-weit erforderlich – abgewichen werden. Darüber hinaussoll der Tagesordnungspunkt 8 a und b – es handelt sichum Anträge zu Jugoslawien – zusammen mit der Aus-sprache zur Regierungserklärung aufgerufen sowie das Seuchenrechtsneuordnungsgesetz – Tagesordnungs-punkt 6 – mit den Beratungen ohne Aussprache behan-delt werden.Des Weiteren mache ich auf die folgende nachträgli-che Überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-merksam:Der in der 69. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-lich dem Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung zurMitberatung überwiesen werden: Gesetzentwurf der Abgeordneten Dr. Guido Wes-terwelle, Günther Friedrich Nolting, HildebrechtBraun , weiteren Abgeordneten undder Fraktion der F.D.P. zur Änderung desGrundgesetzes (gleichberechtigterZugang von Frauen zur Bundeswehr) – Drucksa-che 14/1728 – Überweisungsvorschläge: Rechtausschuss
Innenausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendSind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? –Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlos-sen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 und 8 sowie dieZusatzpunkte 2 bis 4 auf: 3. Abgabe einer Erklärung der Bundesregie-rung Der Stabilitätspakt Südosteuropa – Standund Perspektiven 8 a) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS Aufhebung der Sanktionen gegen die Bun-desrepublik Jugoslawien – Drucksache 14/2387 – Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie 8 b) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS Schiffbarmachung der Donau und Wieder-aufbau der zerstörten Donaubrücken – Drucksache 14/2388 – Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungwesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktion SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Unterstützung des Stabilitätspaktes Südeu-ropa – Drucksache 14/2569 – Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnion ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, Hilde-brecht Braun , weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der F.D.P Für eine zügige Umsetzung und Vertiefungdes Stabilitätspaktes Südosteuropa – Drucksache 14/2584 – Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnion ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktion der PDS: Aufhebung des Ölembargos gegen Jugo-slawien – Drucksache 14/2573 – Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen,Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7711
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeEs liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen derSPD und des Bündnisses 90/Die Grünen vor. Nach einerinterfraktionellen Vereinbarung sind für die Ausspracheeineinhalb Stunden vorgesehen. Die PDS soll eine Rede-zeit von zehn Minuten erhalten. – Kein Widerspruch.Dann ist das so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatzunächst der Bundesminister des Auswärtigen, JoschkaFischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als am 10. Juni vergangenen Jahres der Stabilitätspakt für Süd-osteuropa in Köln beschlossen wurde, lag das Ende desKosovo-Krieges nur wenige Stunden zurück. Die ausdem Kosovo abrückende jugoslawische Armee hinter-ließ ein verwüstetes Land und eine zutiefst traumatisier-te Bevölkerung. Der Krieg im Kosovo war der vierteKrieg im ehemaligen Jugoslawien in weniger als einemJahrzehnt. Seit 1991/92 waren Hunderttausende ermor-det und Millionen Menschen vertrieben worden – einefurchtbare Bilanz. In Bosnien hatte die Staatengemeinschaft viel zu spätund viel zu zaghaft gehandelt. Durch das Eingreifen imKosovo konnten wir verhindern, dass Milosevic seinZiel der totalen Vertreibung erreichte und die Regionimmer tiefer in den Abgrund riss. Aber für die Hundert-tausenden, die vertrieben, umgebracht, gefoltert odervergewaltigt wurden, kamen wir auch dieses Mal zuspät. Die wichtigste Lehre aus dem Kosovo-Krieg mussteund muss deshalb heißen, nicht wieder erst dann zu rea-gieren, wenn es schon zu spät ist, sondern mit einer um-fassenden, massiven, lang andauernden Kraftanstren-gung präventiv zu handeln, um den Teufelskreis vonGewalt, Unterdrückung und Instabilität endlich undendgültig zu durchbrechen.
Die Bundesregierung hat deshalb die Initiative zudem Stabilitätspakt ergriffen.Der Stabilitätspakt befindet sich gegenwärtig in einerentscheidenden Phase. Eine gute Basis ist in den ver-gangenen Monaten gelegt worden. Doch darüber, ob derPakt auch wirklich den tief greifenden Wandel bewirkenkann, den wir uns alle erhoffen, werden maßgeblich diekommenden Wochen und Monate entscheiden, in denenes um die Umsetzung des Vereinbarten und vor allemum die Bereitschaft geht, sich hierfür langfristig, auchund gerade finanziell, zu engagieren.Ich möchte diese Erklärung zum Anlass nehmen, uman Sie den dringenden Appell zu richten, jetzt nicht zurTagesordnung überzugehen, sondern sich weiter aktivhinter den präventiven Ansatz des Stabilitätspaktes zustellen.
Wie oft wurde das große Wort Prävention beschwo-ren, wenn es um die Vermeidung von Konflikten geradeauf dem Balkan ging! Mit dem Stabilitätspakt müssenwir beweisen, dass wir es mit unserem Engagementernst meinen. Dies ist auch eine Frage der politischenGlaubwürdigkeit der deutschen und der europäischenAußenpolitik.Seit dem Startschuss in Köln haben viele Konferen-zen stattgefunden und zahlreiche Einzelprojekte sindvereinbart worden. Die wichtigste bisherige Leistung istjedoch, dass es gelungen ist, unter den 50 Beteiligten ei-nen politischen Konsens über die Ziele und Methodendes Stabilitätspaktes herzustellen. Dies ist in hohemMaße das Verdienst des Sonderbeauftragten BodoHombach und seines Teams, die diese Leistung in we-nigen Monaten in einer äußerst komplizierten internati-onalen Struktur und unter allem anderen als einfachenStartbedingungen erbracht haben. Bodo Hombach ge-bührt dafür nicht nörgelnde, kleinkrämerische Kritik oder die Übertragung innenpolitischer Kritik auf seinejetzige Aufgabe, sondern die Anerkennung des Deut-schen Bundestages.
Der Stabilitätspakt muss jetzt von der Planungs- indie Realisierungsphase eintreten. Die auf dem Tisch lie-genden Projekte müssen so rasch wie möglich zu kon-kreten Baustellen werden. Zentrale Bedeutung wird dieEnde März stattfindende Finanzierungskonferenz ha-ben. Im Mittelpunkt werden dabei die Finanzierung vonGroßprojekten mit Symbolkraft, so genannte Leucht-turmprojekte, stehen, außerdem so genannte Schnell-start-, oder, wie es auf Neudeutsch heißt, „Quick-start-Pakete“, mit sofort abfließenden Geldern sowie eventu-ell die Einrichtung eines Trust-Fund. Die Bundesregie-rung hat hierfür soeben ein Gesamtkonzept erarbeitetund, über vier Jahre verteilt, 1,2 Milliarden DM bereit-gestellt.Mehrere von Finanzierungsvorbehalten unabhängigeProjekte wurden bereits an den Arbeitstischen abge-schlossen. So hat der Wirtschaftstisch eine Investment-charta verabschiedet, in der politische Ziele für alleLänder der Region festgelegt sind, einschließlich kon-kreter länderspezifischer Fahrpläne und Zieldaten. Die-ses Projekt wird eine für private Investoren außerordent-lich wichtige Grundlage bilden, um Planungs- undRechtssicherheit herzustellen und damit Investitionen zuermöglichen.Privatwirtschaftlichem Engagement, Know-how- undKapitaltransfer kommt eine Schlüsselrolle für die Ent-stehung dauerhaft wettbewerbsfähiger Wirtschafts-strukturen in der Region zu. Die Bundesregierung hältdeswegen eine praxisnahe Beratung vonseiten der Wirt-schaft für unverzichtbar. Auf unsere Initiative wurde inder vergangenen Woche in Berlin ein „Business Advi-sory Council“ gegründet, der die Regierungen beratenund die Perspektive der Wirtschaft in den Reformpro-zess einbringen soll. Dem Ausschuss sitzen je ein deut-Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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scher und ein französischer Spitzenmanager vor und ihmgehören Mitglieder aus zahlreichen Stabilitätspaktlän-dern an, auch aus Südosteuropa.Ziel ist die Herausbildung effizienter, sich selbst tragen-der marktwirtschaftlicher Strukturen und die Schaffungeines regionalen, nach außen offenen Marktes. Dies istauch die Konsequenz der Negativerfahrungen, die inBosnien gemacht wurden.Am Tisch für Demokratie und Zivilgesellschaftwurde eine Mediencharta erarbeitet, die zum Kern ei-ner Mediengesetzgebung nach westlichem Muster wer-den kann. Eine freie Medienlandschaft ist eine der ganzwichtigen, zentralen Voraussetzungen für die Demokra-tisierung. In vielen Ländern besteht jedoch noch keinoder nur ein sehr schwacher Schutz für Journalisten.Diese werden immer wieder Repressionen ausgesetzt.Um unsere verfügbaren Mittel optimal zu nutzen, wurdeauf Initiative der Bundesregierung eine Clearing-Stellefür Medienhilfe im Rahmen des Stabilitätspaktes beimBayerischen Rundfunk eingerichtet.Weitere Aktivitäten am Demokratietisch zielen aufdie Schaffung einer starken Zivilgesellschaft, eineswirksamen Minderheitenschutzes, eine intensivierte Zu-sammenarbeit der Parlamente sowie eine Verbesserungder Bildungsinfrastruktur. Hervorheben möchte ich dieReform der Geschichtsbücher. Investitionen sind hiervon größter Wichtigkeit, um die in der Region nochstark verankerten nationalen – um nicht zu sagen: natio-nalistischen – Denkmuster überwinden zu helfen.
Im Bereich der inneren Sicherheit wurden ebenfallsmehrere Projekte auf den Weg gebracht, darunter eineAntikorruptionsinitiative. Von den Regierungen in derRegion wurde das Thema Kleinwaffen auf die Tages-ordnung gesetzt, das für sie ein großes Problem bei derinneren Sicherheit darstellt.Insgesamt ist es beachtlich, wie schnell der Stabili-tätspakt die Staaten der Region dazu ermutigt hat, in ei-gener Regie Projektvorschläge vorzulegen. Ohne denneuen Rahmen wäre dies so nicht vorstellbar gewesen.Ich möchte hier – ein sehr wichtiger Punkt – auf diegriechisch-mazedonisch-albanische Zusammenarbeithinweisen, ebenso auf die gemeinsamen Projektvor-schläge Bulgariens, Albaniens und Mazedoniens. Er-freulich ist auch, dass Montenegro sich einigen dieserInitiativen angeschlossen hat. Die Beteiligten haben da-bei ausdrücklich erklärt, dass sie im übergeordneten In-teresse der Zusammenarbeit bereit sind, bestehende bila-terale Konflikte zurückzustellen. Dies ist genau der rich-tige und erwünschte Ansatz, um das gegenseitigeGrundvertrauen in der Region zu fördern.
Meine Damen und Herren, der politische Richtungs-wechsel in Kroatien ist von allergrößter Bedeutung fürKroatien selbst wie für seine Nachbarn, gerade auch fürSerbien. Kroatien hat sich in einem überzeugenden Vo-tum vom Nationalismus Franjo Tudjmans frei gemacht.Es hat damit alle Chancen, die Weichen in RichtungDemokratie und Rechtsstaatlichkeit zu stellen und damitden Anschluss an Europa zu finden. Nach jahrelanger politisch-mentaler Isolation und indesolater wirtschaftlicher Lage wird dies Zeit und auchunsere Hilfe brauchen. Doch die Entwicklung in Slowe-nien zeigt bei allen Unterschieden, dass dieser Prozessschneller gehen kann, als viele erwarten. Die Bundesre-gierung und ihre EU-Partner sind entschlossen, den Kursder neuen, demokratischen Führung in Kroatien zu un-terstützen, gerade auch im Rahmen des Stabilitätspaktes.
Wir werden dabei darauf drängen, dass unter der neu-en Führung endlich auch Bewegung in die Frage derFlüchtlingsrückkehr in die Krajina kommt. Dieseswird vor allen Dingen für die Demokratisierung in Bel-grad von überragender Bedeutung sein.
Damit wird hoffentlich auch die Blockade in anderenTeilen der Region überwunden werden können.Die Schlüsselfrage für die Zukunft der Region ist oh-ne Zweifel die Demokratisierung der BundesrepublikJugoslawien. Hierbei kann und muss der Stabilitätspakteinen zentralen Beitrag leisten. Es muss klar werden,dass mit dem Stabilitätspakt keine Mauer um das serbi-sche Volk gebaut wird – im Gegenteil!
Wir stehen diesbezüglich in einem fortdauernden Dialogmit der demokratischen serbischen Opposition und mitder montenegrinischen Führung. Unser gemeinsames Ziel ist die Durchführung freier,unabhängiger und fairer Wahlen in Serbien. Alle serbi-schen Oppositionsgruppen haben Milosevic am 10. Ja-nuar aufgefordert, Wahlen auf allen Ebenen bis EndeApril durchzuführen. Die Bundesregierung und ihre EU-Partner unterstützen, zusammen mit den USA, diesenAppell mit allem Nachdruck.
Entscheidend ist, dass die serbische Opposition jetztgeschlossen auftritt, um der Bevölkerung eine glaub-würdige Alternative zu Milosevic zu bieten. Die jüngs-ten Erklärungen, künftig gemeinsam vorzugehen, sindermutigend. Sie sind im Übrigen maßgeblich auf dasTreffen in Berlin am 17. Dezember zurückzuführen. ZurUnterstützung der serbischen Opposition wird die Bun-desregierung bilateral und mit unseren EU-Partnern dieMaßnahmen humanitärer Hilfe und zur Stärkung der un-abhängigen Medien fortsetzen und noch weiter ausbau-en.Ein wichtiges Instrument zur Realisierung solcherProjekte sind Städtepartnerschaften. Eine entspre-chende Initiative ist das erste konkrete Projekt des Bundesminister Joseph Fischer
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Stabilitätspaktes. Auf meine Anregung hin sind diedeutschen Städte zur Mitarbeit im Rahmen von deutsch-serbisch-montenegrinischen Projektpartnerschaften ein-geladen und ein Sonderbeauftragter hierfür, Herr JuppVosen, ist ernannt worden. Bisher haben zehn deutscheStädte Interesse daran bekundet. Wir bauen dabei auchauf die Unterstützung des Deutschen Bundestages. Als Antwort auf die gemeinsamen Forderungen derserbischen Opposition müssen wir unsere Sanktionspoli-tik jetzt überprüfen. Die Bundesregierung setzt sich ak-tiv für eine Verschärfung der direkt gegen das Milose-vic-Regime und seine Freunde gerichteten Sanktionen,die übrigens schon heute sehr wirksam sind, vor allemVisa-Listen und ein Einfrieren der Bankkonten im Aus-land, ein. Gleichzeitig aber wollen wir die Embargomaßnah-men, die in erster Linie die Bevölkerung treffen, lo-ckern: zunächst die Aufhebung des Flugverbots und ineinem zweiten Schritt die Aufhebung oder Suspendie-rung des Ölembargos. Wie Sie wissen, wird diese Mei-nung bisher noch nicht von allen EU-Partnern geteilt,aber wir werden uns in der Union weiter für diesen Kurseinsetzen. Solange das Ölembargo noch besteht, unter-stützt die Bundesregierung zudem einen Ausbau desProgramms „Energy for Democracy“.
Ich denke, das ist ein sehr wichtiger Punkt, auch imZusammenhang mit der Veränderung der politischenLage in Kroatien: Wir müssen hier klug vorgehen, umder neuen kroatischen Regierung zu helfen, die Wirt-schaftskrise zu meistern, während Kroatien gleichzeitigErnst machen muss mit seiner Verpflichtung, die Rück-kehr der Flüchtlinge aus der Krajina zuzulassen und die-se auch entsprechend praktisch umzusetzen. Gleichzeitigmüssen wir jetzt, nachdem die Opposition in Serbien zurEinheit gefunden hat, diese Opposition unterstützen,Montenegro unterstützen und gleichzeitig die Forderungder Opposition, die inneren Sanktionen aufzuheben, um-setzen. Dann, so denke ich mir, werden wir eine völligandere Lage im Innern Serbiens haben. Dann sind auchdie Chancen, dass die demokratische Opposition wirk-lich in die Offensive Richtung Neuwahlen kommt unddiese Neuwahlen auch gewinnen kann, sehr gut. Genaudas ist das Ziel unserer Politik, und hierbei hat der Stabi-litätspakt eine zentrale Funktion.
Sehr wichtig ist deshalb jetzt auch die Wiederherstel-lung der Schiffbarkeit der Donau. Die Donau ist fürdie Region eine überragende Verkehrsstraße angesichtsder schwachen landseitigen Verkehrsinfrastruktur. Wirhaben uns für eine Unterstützung der Europäischen Uni-on bei der Räumung der Fahrrinne der Donau eingesetzt.Die Union ist dazu grundsätzlich bereit. Die Bundesre-gierung prüft darüber hinaus ganz konkret die Möglich-keiten, zum Bau einer Behelfsfußgängerbrücke bei NoviSad beizutragen. Besonderes Augenmerk muss der Entwicklung inMontenegro im Rahmen der territorialen Integrität derBundesrepublik Jugoslawien gelten. Verläuft diese de-mokratische Entwicklung erfolgreich, so kann sie eineSchaufensterfunktion für Serbien ausüben. Hier kannaber auch ein weiteres potenzielles Pulverfass für diegesamte Region liegen. Die Bundesrepublik hat sichdeshalb von Anfang an für eine Mitwirkung Monteneg-ros am Stabilitätspakt eingesetzt. Jetzt geht es vor allem darum, Montenegro bei derÜberwindung seiner großen wirtschaftlichen Schwierig-keiten zu helfen. Wir müssen die internationalen Finanz-institutionen, denen bisher aufgrund technischer Prob-leme die Hände gebunden sind, handlungsfähig machenund wir müssen natürlich auch selbst handlungsfähigwerden. Die Bundesregierung prüft deshalb gegenwärtigeigene Möglichkeiten wirtschaftlicher und finanziellerZusammenarbeit mit Montenegro.Auch die weitere Entwicklung im Kosovo wird star-ke Auswirkungen auf Serbien wie auf Montenegro ha-ben. Nach den ersten sechs Monaten sind beachtlicheFortschritte zu verzeichnen: Die äußere Sicherheit istdank KFOR gewährleistet. Eine Interimsverwaltungkonnte endlich in diesem Monat aufs Gleis gesetzt wer-den. Aber die Probleme, denen sich die VN-MissionUNMIK und die KFOR-Soldaten unter General Rein-hardt gegenübersehen, sind enorm. Die Arbeit der VN-Mission steht und fällt mit der Unterstützung, und zwarmit der materiellen und finanziellen, die sie von der in-ternationalen Gemeinschaft erhält. Um der akuten Finanznot der VN-Mission abzuhel-fen, hat das Auswärtige Amt im letzten Monat19 Millionen DM aus seinem Haushalt in den Kosovo-Trust-Fund der Vereinten Nationen überwiesen. Wirstehen damit an der Spitze der Geber und werden auchweiterhin unseren Beitrag zur Stabilisierung des Kosovoleisten. Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, aberauch die Gelegenheit nutzen, mich sowohl bei GeneralReinhardt als auch bei Herrn Koenigs für die geleistetevorzügliche Arbeit, die sie im Kosovo im Auftrag derVereinten Nationen leisten, recht herzlich zu bedanken.Ich kann Ihnen auch weiterhin unsere Unterstützungversichern.
Im Stabilitätspakt wird für Südosteuropa erstmals ei-ne, wenn auch langfristig angelegte, konkrete Perspekti-ve für den Beitritt zu den euroatlantischen Strukturenaufgezeigt. Nicht umsonst hat jetzt die Türkei einen Sta-bilitätspakt für den Kaukasus vorgeschlagen. Die Bedeu-tung dieser Perspektive kann gar nicht hoch genug ver-anschlagt werden. Sie wirkt sich – wie es gerade diejüngsten Beispiele der Slowakei und Kroatiens ein-drucksvoll zeigen – unmittelbar auf die Demokratisie-rung dieser Staaten aus. Die EU steht auch deshalb in besonderer Verantwor-tung für den Stabilitätspakt. Wir sind aber sehr froh überBundesminister Joseph Fischer
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die breite Unterstützung seitens der vielen anderen in-ternationalen Organisationen, der G 8, unter anderemdurch die Steuerungsgruppe der Finanzminister, derNATO, der OSZE, der Vereinten Nationen, der OECDund vor allem auch der internationalen Finanzinstitutio-nen. Es ist besonders erfreulich, dass sich die USA auchfinanziell so nachhaltig engagieren. Gleiches gilt für Ja-pan, das – trotz der geographischen Entfernung – diewirklich beachtliche Summe von über 2 Milliarden Eurofür den Wiederaufbau in Südosteuropa zur Verfügunggestellt hat. Wir sind hierfür sehr dankbar.
Meine Damen und Herren, der Stabilitätspakt als Ge-samtkonzept für die politische Zukunft Südosteuropasist ein ehrgeiziges Projekt. Es ist völlig klar, dass seineRealisierung eine lange Zeit brauchen wird. Es geht hierum die Überwindung von tief verwurzelten Denkkatego-rien und Konfliktursachen, aber auch von erheblicheninstitutionellen und ökonomischen Defiziten. Südosteuropa ist jedoch genauso wenig wie andereTeile Europas vom Schicksal zu Instabilität, Gewalt undimmer neuen ethnischen Vertreibungen verdammt. Daszeigen schon die beeindruckenden Fortschritte einzelnersüdosteuropäischer Staaten, die bereits jetzt stabilisie-rend auf ihre Umgebung ausstrahlen. Doch um diesenProzess weiterzuführen und zu beschleunigen, brauchtes anhaltende und nachhaltige Unterstützung von außen. Der Balkan, der in der Geschichte immer wieder eineQuelle von Instabilität und Krieg auf unserem Kontinentwar, muss endlich zur Ruhe kommen. Das wird er nur,wenn wir auch diese Region an das Europa der Integra-tion heranführen. Mit der Arbeit an dem Stabilitätspaktkönnen wir einen entscheidenden Beitrag für den Frie-den in Europa leisten. Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt.
Frau Präsi-dentin! Meine Damen und Herren! Ein halbes Jahr nachdem Gipfel von Sarajevo, der durch seinen Ablauf – An-flug, Gruppenfoto, kurze Reden, Abflug – ein kleinesSchlaglicht auf die Probleme der westlichen Welt imnachhaltigen Umgang mit Südosteuropa geworfen hat,ist es an der Zeit, Zwischenbilanz zu ziehen und An-spruch und Wirklichkeit des Stabilitätspaktes zu unter-suchen. Man muss sortieren: Was war mit diesem Paktgeplant, wo war er von vornherein unrealistisch und waswird den Wirklichkeitstest bestehen? Ich befürchte, dasswir mit krisenhaften Entwicklungen auf dem Balkan, diedurch den Stabilitätspakt allein nicht verhindert werden,auch in Zukunft werden rechnen müssen. Herr Bundesaußenminister, der Ansatz des Stabili-tätspaktes geht allerdings in die richtige Richtung. Inso-fern gehen auch wir nicht zur Tagesordnung über. DieUnterstützung für eine stabile Entwicklung in dieser Re-gion Europas ist auch für unsere eigene Stabilität ent-scheidend. Allerdings ist es dem Stabilitätspakt bisher nicht gelun-gen, den zugrunde liegenden Teufelskreis zwischen ö-konomischem Desaster, ethnischer Feindseligkeit unddem Abhandenkommen tragfähiger Verwaltungsstruktu-ren zu entkommen. Das liegt sicher zum Teil am hetero-genen Teilnehmerkreis. Wenn man allein an die großeAnzahl der internationalen Organisationen – 15 an derZahl – denkt, bekommt jedermann einen Eindruck da-von.
Diese Organisationen spiegeln ja nicht nur die Vielfaltder Möglichkeiten wider, sondern auch die Vielfalt derunterschiedlichsten Interessen. Es ist auch bisher nichtrecht gelungen, sie glaubwürdig auf eine gemeinsameStrategie festzulegen.Ich will das nicht ausschließlich an der Person desSonderkoordinators Hombach festmachen. Es leidennicht nur die Länder in der Region, die vom Stabilitäts-pakt profitieren sollen, an der fahrigen Arbeitsweise à laSarajevo-Gipfel, die eine Idee an die andere knüpft, dieIdeen aber nicht richtig miteinander verknüpft, sondernauch daran, dass Herr Hombach – dafür kann er nunnichts – ein Sonderkoordinator zwar mit Titel, aber ohneMittel ist. Die Bereitstellung der Mittel war ja doch sehrschwierig. Wenn ein Sonderkoordinator zuerst einmalalle seine Auftraggeber koordinieren muss, dann beste-hen bei dem Einsatz vielleicht doch wenig Möglichkei-ten, um das zu tun, was er eigentlich tun sollte. Die Einigkeit, die Sie, Herr Außenminister, beschwo-ren haben, scheint nun wirklich nicht in diesem Ausma-ße vorhanden zu sein, angesichts der Tatsache, dass FrauAlbright gestern in einer öffentlichen Rede die Europäerermahnte, sie sollten endlich ihren Verpflichtungen – siemeinte wohl vor allem die monetären, aber auch andereVerpflichtungen – in Bezug auf Kosovo nachkommen.Ich will das nun nicht kommentieren, ich will das nureinfach darstellen, weil hier doch offensichtlich unter-schiedliche Akzente gesetzt werden. Es gibt ja auch, – dies stellt man fest, wenn man beispielsweise die Verlautbarungen aus Bulgarien ver-folgt – eine starke Ungeduld in den Mitgliedstaaten desSolidaritätspaktes. Deswegen stimme ich Ihnen zu: DieGeberkonferenz im März muss klare Zeichen setzen.Sie muss finanzielle Mittel bereitstellen – und zwar aus-gewogen und ohne einseitig zu belasten – und sie mussdieses Geld schnellstmöglich in Projekte umsetzen.Es fragt sich aber trotzdem, ob dieser Stabilitätspaktdas Ziel, das wir alle mit ihm mehr oder weniger verbin-den, wirklich mit den Mitteln, die ihm zur Verfügungstehen, und mit der Philosophie, die ihm zugrunde liegt,erreichen kann. Leuchtturmprojekte und Quick-start-Pakete – sie scheint Bill Gates mit entwickelt zu haben –sind sehr interessant, aber sie umreißen eigentlich nichtBundesminister Joseph Fischer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7715
mehr als ein Symbol. Sie geben ein Leuchtfeuer ab, abersie überbrücken deswegen noch längst nicht den Ozeanund die reißenden Fluten. Das grobe Ziel ist umrissen. Man will einen befriede-ten, dem friedlichen Handel und Wandel geöffnetenBalkan, in dem Konflikte nach den Mechanismen derPrävention, der Verhandlung und des Ausgleichs gelöstwerden und nicht durch Gewalt und Repression. Da-rüber sind wir uns völlig einig; das kann niemand ernst-haft anders wollen. Aber das ist noch keine Strategie.Die Skizzierung der Schritte zur Erreichung dieses Ziels,die der Stabilitätspakt vorgibt, mag in die richtige Rich-tung gehen; entscheidende Fragen kann sie nicht be-antworten. Zutreffenderweise schrieb neulich Susan Woodward,dass der Stabilitätspakt „eine Hülle ohne Strategie“ blei-be. Damit hat sie wohl Recht. Eine Strategie müsste sichauch den Fragen stellen, die über das rein Kommunika-tive und Investive hinausgehen, zum Beispiel der Frage,wie die politische Gliederung des Balkans zukünftigaussehen soll. Ohne alle Staaten auf die EU-Mitgliedschaft zu vertrösten, muss vorher klar werden,wie beispielsweise der Kosovo staatlich gegliedert wer-den soll.
Es muss die Frage der weiteren Behandlung derMinderheiten – das, was im Balladur-Plan angedachtwar – geklärt werden: Wie kann die Verknüpfung zwi-schen territorialer Situation und ethnischer Diversifika-tion erreicht werden? Auf diese Frage finde ich im An-satz des Stabilitätspaktes zwar hochwohllöbliches Den-ken, aber wir müssen konstatieren, dass er uns bishernicht in einer Weise Antworten geben konnte, die wirerwarten müssten.Ein Konzept für eine Zeit nicht nur nach Milosevic,sondern für eine Zeit, in der sich die KFOR-Truppenwieder zurückziehen können, muss vorhanden sein,wenn Sie so wollen – damit soll es mit der Computer-sprache aber sein Bewenden haben – eine Exit-Strategiegenauso wie eine Input-Strategie. Ich meine damit eine Strategie, mit der versucht wird,für die Zeit danach tragfähige und nicht nur für den Au-genblick nützliche Grundlagen zu schaffen. Dieses Kon-zept erfordert, dass wir uns auch mit der Frage der Prä-senz europäischer Truppen auf dem Balkan auseinan-der setzen, etwa ob nach Ansicht der Bundesregierungeine Dauerstationierung wie in Zypern notwendig seinwird und welche Strategien zum Rückzug bestehen.Wenn ein baldiger Rückzug der Truppen als unrealis-tisch angesehen wird, dann muss die Bundesregierungdies jetzt auch der Bevölkerung offen sagen. Gespanntbin ich, welche Vorschläge zur Finanzierung der Bun-deswehr dann von dieser Bundesregierung präsentiertwerden; denn das wird nicht billig sein. Ich möchte dasnur in den Raum stellen. Das ist eine ganz wichtige Fra-ge, die immer öfter gestellt wird. Vor einem halben Jahrhaben wir begonnen, uns im Kosovo zu engagieren. InBosnien engagieren wir uns schon seit Jahren. Wie sollder Weg aus dieser Situation heraus aussehen und wassoll nach dem Abzug geschehen? Das ist ein wichtigerPunkt, über den diskutiert werden muss. Er ist sogar ent-scheidend, nicht nur für unsere Soldaten. Es muss einÜbergang von der bloßen Befriedung hin zu einer trag-fähigen Struktur, auf deren Grundlage die Konflikte sogelöst werden können, wie es der Bundesaußenministerin den letzten Sätzen seiner Regierungserklärung be-schrieben hat, gefunden werden.
Die nächste Frage ist, ob das Konzept einer ethni-schen Separierung Grundlage für die Zukunft des Bal-kans sein darf oder nicht. Das ist eine schwierige, sehrkomplizierte Frage. Wir spüren die Schwierigkeiten,wenn wir uns angesichts der Entwicklung im Kosovodie Frage stellen: Kann die KFOR die serbische Min-derheit im Lande schützen und halten?In der Frage der Rücksiedlung der Krajina-Serbennach Kroatien stimme ich Ihnen zu, Herr Außenminister.Wir erwarten in der Tat von der Führung in Kroatien,dass sie eine neue Entwicklung einleitet und die Dingeernsthafter und konsequenter als bisher angeht. Dahinterstecken natürlich Grundsatzfragen, die eigentlich denganzen Balkan betreffen. Ein Teil unseres Kontinentswar immer schon ein Durchgangsgebiet, in dem sichschon aus Gründen der Topographie in den verschiede-nen Tälern andere Ethnien angesiedelt haben. So lebenbeispielsweise in Nordserbien – wir reden immer nurvon der ungarischen Minderheit – insgesamt 40 ver-schiedene ethnische Volksgruppen, die zum Teil sehrklein sind und die sich auch die Frage stellen: Wie kön-nen wir in Zukunft in Sicherheit leben, ohne befürchtenzu müssen, dass unser Haus angezündet wird?Wenn der Stabilitätspakt etwas leisten will, dannmuss er über das hinausgehen, was bisher von HerrnHombach vorgelegt worden ist. Aber der Stabilitäts-pakt – damit komme ich zur Frage der wirtschaftlichenBeteiligung und der Lösung der fortbestehenden öko-nomischen Katastrophe – darf sich nicht auf die Frageder öffentlichen Finanzierung des Wiederaufbaus aufdem Balkan beschränken; vielmehr muss er versuchen,Kräfte wirtschaftlicher Dynamik zu entfalten. Deswegenunterstützen wir ausdrücklich den Versuch des BusinessAdvisory Council, auch für privates Investment in einerSituation zu sorgen, in der Unsicherheiten bestehen, dieaber von staatlicher Seite allein auch mit noch so vielGeld nicht überwunden werden können. Hier bedarf esder Aktivierung der Kräfte des Marktes mit Flankierungund Unterstützung durch die öffentliche Seite.
Ich glaube, dass wir auf dem richtigen Weg sind, dereine entsprechende Entwicklung auslösen wird. Aller-dings steht auch hier der Test noch aus. Wir sind ge-spannt, was uns der „Wirtschaftstisch“ in seinen nächs-ten Sitzungen präsentieren wird und wo investiert wer-den soll. Man darf auch nicht aus der Ferne einen Zaunum Jugoslawien herum ziehen. Das ist völlig richtig. Christian Schmidt
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7716 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
Ich komme zu der von Ihnen angesprochenen Em-bargopolitik. Ein Embargo ist meistens dann wirksam,wenn es angedroht wird, und nicht dann, wenn es durch-geführt wird. Was Jugoslawien und Milosevic betrifft:Ich stimme zu, dass vom Embargo einiges Sinnvollesausgegangen ist. Was allerdings die Aufhebung des Flugembargos betrifft, so ist schon ganz interessant zusehen, dass sich Großbritannien, das zu Beginn diesesEmbargos eine ganz andere Position eingenommen hat,nun anders verhält. Man muss fragen, was dahintersteckt. Unter der Überschrift „Einigkeit der Europäerund der transatlantischen Partner“ wäre es interessant,darüber nachzudenken.
Herr Abgeord-
neter, denken Sie an die Redezeit, bitte.
Frau Präsi-
dentin, ich komme zum Schluss.
Der Stabilitätspakt ist ein von uns im Ansatz unter-
stützter Schritt. Er darf nicht überfrachtet werden, weil
er das wahre Problem der ethnischen Gliederung und der
staatlichen Ordnung des Balkans nicht löst. Deswegen
muss da sehr viel mehr „Butter bei die Fische“.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gernot Erler.
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Der Stabilitätspakt für Südost-europa ist eine Antwort auf Erfahrungen der letztenzehn Jahre. Diese Erfahrungen waren unterschiedlich.Es gab Fortschritte bei der europäischen Integration undbei der Entwicklung der Europäischen Union. Es gab dieVorbereitungen auf den Erweiterungsprozess, ersteSchritte zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheits-politik und erfolgreiche Transformations- und Reform-prozesse in einigen Ländern Osteuropas, Mitteleuropasund auch Südosteuropas.Auf der anderen Seite gab es in Südosteuropa aberein regelrechtes Desaster: nacheinander vier Kriege imAuflösungsprozess der Bundesrepublik Jugoslawien,zweimal mit militärischer Intervention und Beteiligungdes Westens. Dazu kamen unerhört kostspielige Wieder-aufbaumaßnahmen, die uns lehren, dass Reparatur im-mer teurer ist als Prävention,
und eine Fortdauer der Instabilität. Jederzeit könnenneue Konflikte, Krisen und auch Kriege in dieser Regionausbrechen. Das sind die Erfahrungen dieser zehn Jahre.Insofern stehen folgende Erkenntnisse hinter der Ini-tiative des Stabilitätspakts. Wir konnten Fehlentwick-lungen nicht vermeiden, weil es eine Gemeinsame Au-ßen- und Sicherheitspolitik Europas und des Westensnicht gab und weil unsere präventiven Instrumente zuschwach ausgebildet waren. Die Anreize und die Per-spektiven für die Staaten und die Menschen Südosteuro-pas waren für ein anderes Verhalten, für eine andere Artvon Konfliktlösung nicht ausreichend. Im Zeitalter dereuropäischen Integration und der Globalisierung kann esein stabiles Europa aber nur mit einem stabilen Südost-europa geben; anders ist dies nicht möglich.
Insofern besteht ein Handlungszwang. Die Existenzeiner „Kriegsgeburtsgrotte“, um einen Begriff von PeterHandke für den Balkan aufzunehmen, ist mit EuropasZukunft nicht vereinbar.
Die gemeinsame Politik Europas und der Weltgemein-schaft, diese jetzt in Südosteuropa stattfindende Initiati-ve ist insofern ohne Alternative. Das Drehbuch zu dieserPolitik ist der Stabilitätspakt.Wie ist der Status im Augenblick? Die wichtigsteBotschaft dieser Debatte sollte sein: Bundesregierungund Bundestag unterstützen nachdrücklich den Ansatz,den Weg und die Umsetzung des Stabilitätspakts – gera-de jetzt in einer schwierigen und kritischen Phase seinerGenese. Wir sind zu erheblichen Anstrengungen bereit.Wir erwarten solche aber auch von unseren anderen eu-ropäischen Nachbarn und Freunden. Wir sind der Mei-nung, dass die Parlamente in dieser Frage eine wichtigeRolle spielen sollen, ebenso wie die internationalen Fi-nanzorganisationen.
Wo stehen wir heute? Es ist schon gesagt worden:Die Idee des Stabilitätspaktes kam während des Kosovo-Kriegs aus Deutschland. Am 10. Juni fand der KölnerGipfel statt. Am 30. Juli fand die große Konferenz in Sa-rajevo statt. 31 Staats- bzw. Ministerpräsidenten und 17 internationale Organisationen haben da ein spektaku-läres Commitment, eine Selbstverpflichtung, zum Aus-druck gebracht, die uns bindet. Sie hat Erwartungen ge-weckt. Diese Erwartungen dürfen nicht enttäuscht wer-den. Das ist ein ganz entscheidender Punkt.Seither ist ein halbes Jahr vergangen. Herr Schmidt,ich danke Ihnen wirklich für Ihre abwägende und sachli-che Rede, in der Sie zu Recht gesagt haben, dass nochnicht alle Aufgaben des Stabilitätspaktes erfüllt wordensind. Aber das Büro des Sonderbeauftragten in Brüsselhat mit 28 Mitarbeitern eine gute Vorarbeit geleistet.Auch die drei Tische und der Regionaltisch, die vomKoordinator selbst geleitet werden, sowie die internatio-nalen Organisationen haben intensive Arbeit geleistet. Herr Kollege Schmidt, ich möchte Ihnen ausdrücklichdafür danken, dass Sie – anders, als es der eine oder an-dere hier vielleicht erwartet hat – nicht die Person desSonderkoordinators in den Mittelpunkt der Auseinan-dersetzung gerückt haben. Ich möchte meinen Dank abermit einer Bitte an Ihre Fraktion verbinden: Sagen Siedoch einmal Ihren Kollegen im Europäischen Parlament,Christian Schmidt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7717
dass es einfach beschämend ist, wenn deutsche Parla-mentarier in Europa immer wieder so tun, als ob dasWichtigste am Stabilitätspakt die Nutzung von unbewie-senen Vorwürfen gegen Herrn Hombach sei. Das lenktvon der eigentlichen Hauptsache ab und gehört sich ein-fach auch nicht. Parlamentarier im Ausland sollten sichnicht so benehmen. Ich wollte Sie einfach bitten, das zutun.
Bundestag und Bundesregierung haben dadurch, dasssie für die nächsten vier Jahre 1,2 Milliarden DM bewil-ligt und in den Bundeshaushalt eingestellt haben, einegute Vorleistung erbracht, der Signalwirkung zukommt.Dies geschah in der Hoffnung, dass andere dies nachma-chen. Jetzt befinden wir uns in der entscheidenden Vor-bereitungsphase für die Finanzierungskonferenz am29. und 30. März dieses Jahres. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Prozess der De-finition der regional bedeutsamen Projekte läuft aufHochtouren. Wir sind von über 400 solcher Projekteausgegangen. Jetzt sind noch 118 in der engeren Prü-fung. Es ist bemerkenswert, dass 89 davon aus der Regi-on heraus formuliert worden sind. Die Teilnehmerstaa-ten des Stabilitätspakts bereiten sich jetzt darauf vor, ih-re Reform- und Transformationsprojekte auf dieser Fi-nanzierungskonferenz im März zu präsentieren. Beidesgehört zusammen. Ich freue mich, Herr Kollege Schmidt, dass Konsensüber die Bedeutung des Business Advisory Council be-steht, der auf deutsche Initiative hin jetzt die Arbeit auf-genommen hat; denn es ist in der Tat wichtig, dass füh-rende europäische Wirtschaftsvertreter die Projekte eva-luieren, dass sie versuchen, Konzepte zu finden, um dasInvestitionsklima in den Ländern zu verbessern, damitdas berühmte Prinzip der „Public-Private-Partner-ship“Realität werden kann.Das Ganze allerdings – auch das hat Ihre Rede ge-zeigt – findet jetzt in einem Umfeld ungeduldiger Er-wartung statt. Letztes Wochenende haben sich siebenRegierungschefs aus Südosteuropa – das waren die vonAlbanien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Kroatien,Mazedonien, Rumänien und Ungarn – im bulgarischenHissarja getroffen und haben noch einmal diese Unge-duld und Erwartung zum Ausdruck gebracht.Auch die Fragen bei uns werden drängender: Wannwird denn aus den Projekten das, was man Baustellen-oder Leuchtturmprojekte – das ist ein tolles Wort –nennt? Das heißt nichts anderes, als dass es Projektesind, die den Leuten zeigen sollen, dass – etwa durchBrückenbau, Straßenbau, Verkehrsverbindungen, Kom-munikationsverbindungen – konkret etwas für diese Re-gion passiert.Ich denke, in dieser Zeit verstärkter Erwartung ist esunsere Pflicht, die Übersicht zu behalten. Das heißt, wirmüssen erkennen, wie wichtig es war, mit dem Stabili-tätspakt die politischen Antworten auf den Kosovo-Krieg zu institutionalisieren. Wir müssen heute dochvon einer Karawane der internationalen Politik sprechen.Diese Karawane ist längst von Südosteuropa zu anderenSchauplätzen, nach Osttimor oder nach Tschetschenien,weitergezogen. Jetzt zeigt sich, wie richtig und wichtiges war, hier eine Institutionalisierung vorzunehmen.Es ist wichtig zu unterstreichen, dass wir die Lehrenaus den Erfahrungen mit dem Wiederaufbauprozess inBosnien-Herzegowina ziehen müssen. Dort sind schonmehr als 4 Milliarden Dollar investiert worden. Aber po-litische Stabilität und wirkliche Perspektiven sind nichtentstanden. Das hängt auch mit der Vorbereitung diesesAufbauprozesses zusammen. Das darf sich beim Sta-bilitätspakt nicht wiederholen.
Deswegen war es richtig, eine andere Reihenfolge zuwählen, die jetzt allerdings Ungeduld auslöst. Diese an-dere Reihenfolge heißt: Erst werden solche Projekte, beidenen grenzüberschreitend gearbeitet wird und die etwasfür die Region bringen, definiert, geprüft und Prioritätenfestgelegt. Erst dann wird auf der geplanten Finanzie-rungskonferenz konkret für jedes einzelne Projekt dieFinanzierung sichergestellt. Das bedeutet: Der Prozessselber ist schon ein Fortschritt und Fortschritt ist nichtnur die Summe des am Ende Erreichten. Denn die Frageder grenzüberschreitenden Zusammenarbeit soll bei die-sen Projekten immer eine Rolle spielen. Das beinhaltetnatürlich die Erwartung, aber auch die realistischeChance, dass unmittelbar nach der Finanzierungskonfe-renz die Umsetzung, also etwa die Eröffnung von Bau-stellen, beginnt und dass dann nicht noch einmal einlanger Verzögerungsprozess einsetzt. Notwendig ist ebenso – auch das gehört zu dieserÜbersicht –, dass wir für die Reformprozesse bzw. fürdie Transformationsprojekte in den jeweiligen LändernFinanzierungsregeln finden. Das ist schwierig. Denndas gehört nicht zur Normalfinanzierung der internatio-nalen Finanzinstitutionen. Es wird hier an Fondslösun-gen gedacht. Ich sehe, dass das auf einem guten Weg ist.Allen, die ungeduldig sind, rufen wir zu: Auch wirsind es. Aber letztlich führt nur gründliche Vorbereitungzum Erfolg. Die ist im Gange. Auf dieser guten Basismuss die Finanzierungskonferenz dann die nächste Pha-se, nämlich die der konkreten Umsetzung, einleiten. Natürlich gibt es – darauf haben auch Sie, HerrSchmidt, hingewiesen – eine ganze Reihe von noch un-geklärten Fragen und Herausforderungen. Kroatien hatbisher wenig Projekte grenzüberschreitender Natur defi-niert. Wir begrüßen den politischen Wechsel, der dortjetzt stattfindet. Aber das heißt auch, dass wir uns jetztbeeilen müssen, bis zum März dieses Jahres noch Pro-jekte zu finden, an deren Durchführung Kroatien sinn-vollerweise beteiligt werden kann. Herr Bundesaußenminister, wir begrüßen ausdrück-lich, dass Sie und die Bundesregierung jetzt erheblicheAnstrengungen unternehmen, um die Sanktionen unddas Embargo gegenüber der Bundesrepublik Jugosla-wien zu lockern und aufzuheben.
Gernot Erler
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7718 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
Schon lange haben wir den Eindruck, dass diese Maß-nahmen mittlerweile eher zur Stabilisierung von Milosevic und seiner politischen Klasse in Belgrad bei-tragen, – und zwar auf dem Rücken der Bevölkerung –,als dass sie als Anreiz für einen Erfolg der Oppositionwirken. Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Szeged-Prozess, also das Bestreben, mit weiteren Städten in derBundesrepublik Jugoslawien – ich meine nicht Städte, indenen die Opposition regiert, sondern jene, die sich zuden Zielen des Stabilitätspaktes bekennen – Städtepart-nerschaften zu schließen. Wir wünschen unserem ehe-maligen Kollegen Jupp Vosen Erfolg dabei. Es ist er-staunlich: Bereits zehn Orte haben ihre Bereitschaft er-klärt, neue Städtepartnerschaften einzugehen. Ich nennebeispielsweise Dortmund, Jena und München. Wir wün-schen uns, dass das so weitergeht.
Wir müssen einen Weg finden, damit die durch dieFinanzierungsregeln der EIB, der Europäischen Investi-tionsbank, ausgelöste Selbstblockade aufgehoben wird,um Montenegro einbeziehen zu können. Diese Regelnmüsste man vielleicht ändern bzw. man müsste anderebilaterale Maßnahmen treffen. Denn wir alle wissen –ich will das hier nicht vertiefen –, welche friedenspoliti-sche Bedeutung das für diese Region hat. Natürlich ist unsere wichtigste Hoffnung nach wievor, dass die Menschen in der Bundesrepublik Jugo-slawien die Kraft haben und auch Wege finden, dass inZukunft Änderungen stattfinden, die das ganze Land andem Prozess, der von diesem Stabilitätspakt ausgeht,teilnehmen lassen. Denn eines ist sicher: Wir könnendem Stabilitätspakt zu einem Erfolg verhelfen; aber dau-erhafte Stabilität in dieser Region ist ohne die Einbezie-hung der Bundesrepublik Jugoslawien nicht möglich.
Ein Projekt möchte ich noch ansprechen – in diesemZusammenhang appelliere ich an die Regierungen vonBulgarien und Rumänien –: Der Bau einer neuen Brückeüber die Donau ist eine unendliche Geschichte. Jetzt be-steht die Chance – denn es handelt sich dabei um eingrenzüberschreitendes Projekt –, endlich die Standortefestzulegen, damit dies zu einem der ersten – jetzt ver-wende ich noch einmal dieses Wort – Leuchtturmprojek-te des Stabilitätspaktes wird. Dieses Projekt ist wirklichüberfällig. Ich appelliere an die zuständigen Regierun-gen, dies umzusetzen.Meine Damen und Herren, der Stabilitätspakt hat fürmeine Fraktion eine besondere Bedeutung. Er ist einentscheidender Baustein für eine neue, vorausschauendeFriedenspolitik sowie für eine wirksame Krisenpräventi-on und er ist für uns zugleich die wichtigste Lehre ausdem Kosovo-Krieg.Das ist nicht nur ein verbales Bekenntnis. Wir habenin unserer Fraktion eine Taskforce für den Stabilitäts-pakt für Südosteuropa mit Vertretern aus acht verschie-denen Ausschüssen des Bundestages gebildet, die re-gelmäßig die Arbeit des Stabilitätspaktes begleiten. Wirhaben im September hier in Berlin eine Konferenz mitdeutschen Experten durchgeführt. Wir haben im Oktoberhier eine Parlamentarierkonferenz mit 20 Abgeordnetenaus acht Ländern des Stabilitätspaktes durchgeführt undbereiten eine zweite für das erste Halbjahr dieses Jahresvor. Deswegen kann ich abschließend sagen: Wir setzenauf die Signalwirkung dieser Aktivitäten und dieserBundestagsdebatte in den anderen europäischen Län-dern. Die Hoffnungen der Menschen in Südosteuropaauf den Stabilitätspakt dürfen auf keinen Fall enttäuschtwerden.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Kinkel.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich habe jetzt 14 Monatelang ruhig auf meinem „Resozialisierungssitz“ auf derOppositionsbank gesessen
und in Ruhe und Gelassenheit beobachtet, wie sich dieAußenpolitik in Deutschland entwickelt hat.Lieber Herr Kollege Fischer, ich möchte mich inmeinen elf Minuten Redezeit ganz besonders an Siewenden. Wenn ich Sie reden höre, sehe ich Sie immernoch auf Ihrem Abgeordnetenplatz sitzen. Dann erinnereich mich an manche päpstliche Attitüde, die Sie –manchmal lautstark, manchmal herablassend und man-chmal auch hochmütig – eingenommen haben. Das hatsich in eine staatsmännische Attitüde gewandelt: sor-genzerfurcht und von der Verantwortung niederge-drückt.
Dazu kann ich nur sagen: Das ist gut so, aber Sie dürfennicht alles vergessen, lieber Herr Kollege Fischer. DamitSie das nicht tun, möchte ich ein paar Bemerkungen ma-chen und auch ein paar Fragen an Sie richten.
Es ist gut, dass wir heute den Stabilitätspakt für Süd-osteuropa erörtern. Er ist eine gute Idee, keine Frage.Das haben wir damals alles begrüßt. Dennoch muss ichIhnen dezidiert und deutlich zwei Vorwürfe machen: Erstens ist nicht ausreichend nachgearbeitet und umge-setzt worden, was beschlossen worden ist. Zweitenskommt die für März vorgesehene Finanzierungskonfe-renz mit weitem Abstand zu spät.
Ich nehme an, dass die meisten von Ihnen heute die„FAZ“ gelesen haben. Dort lautet eine Überschrift – dasist schon erwähnt worden –: „Das teuerste FamilienfotoGernot Erler
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7719
der Geschichte: Vom Stabilitätspakt in Südosteuropa istnoch wenig zu spüren“. Das stammt von Matthias Rüb,einem Kenner der Region. Er schreibt:Nach dem mit großem Pomp inszenierten Gipfelvon Sarajevo haben sich rasch die Mühen der Ebe-ne eingestellt.Genauso ist es. Dem ist im Prinzip nichts hinzuzufügen.Ich kritisiere nicht, dass Herr Hombach noch nichtalles erreicht hat, was er erreichen muss. Ich kritisiere,dass er damals abgeschoben und als der falsche Manndorthin geschickt wurde. Ich kritisiere auch, dass manihm zumutet, hin und her zu reisen und zu rasen, ohneüber aureichende Mittel und die notwendige Unterstüt-zung zu verfügen. Man kann den eigenen Mann nicht soherumrennen lassen, wie es hier geschieht; man sollteihn auch etwas rumrennen lassen, wie es hier geschieht;man sollte ihm auch etwas mitgeben und ihn genügendunterstützen. Wenn die heutige Regierungserklärung dieUnterstützung für Hombach darstellen soll, dann hätteich den Zeitpunkt für diese Erklärung ein bisschen frü-her gewählt.
Seit acht Monaten sind die Militäraktionen vorbei. Daswar zwar viel Zeit für diejenigen in der Regierung, dienach- und abarbeiten müssen. Ich bleibe dabei: Das gingzu langsam.Die Menschen auf dem Balkan erwarten jetzt keinegroßspurigen Ankündigungen, sondern tatsächliche Hil-fe, damit die Region zur Ruhe und wieder auf die Beinekommen kann. Das müssen wir bewältigen; das ist vielwichtiger als großspurige Ankündigungen.
Aufhebung des Ölembargos für Jugoslawien: HerrKollege Fischer, Sie wollen es lockern. Die F.D.P. undich halten das zum jetzigen Zeitpunkt für falsch. Ichräume ein, dass man darüber unterschiedlicher Meinungsein kann. Ich sage Ihnen, warum wir es für falsch hal-ten: nicht, weil die Amerikaner, die Briten und die Nie-derländer anderer Meinung als Sie sind und unsere Auf-fassung unterstützen, sondern deswegen, weil wir glau-ben, dass Sie mit dem, was Sie erreichen wollen, nichtzurande kommen werden. Sie werden dadurch nicht dieOpposition zusammenführen können; Sie werden dasGegenteil erreichen. Das ist unsere Auffassung. Milose-vic wird dadurch gestützt. Mit Nachgeben wird man die-sen Mann nicht los; man geht ihm höchstens auf denLeim. Ich habe diesbezüglich meine eigenen Erfahrun-gen. Milosevic hat als Hauptverantwortlicher vier Krie-ge angezettelt. Er ist für vielfachen Völkermord verant-wortlich und er gehört endlich nach Den Haag. Ihm soll-te nicht entgegengekommen werden. Das ist meine Mei-nung.
Noch ein Wort zur Bevölkerung, Herr Kollege Fischer. Wir teilen Ihre Meinung, dass den Menschengeholfen werden soll. Aber man muss ein klein wenigunterscheiden: Die Bevölkerung des Irak etwa kann ih-ren Anführer nicht selbst wählen. Die Serben aber ha-ben – zum Teil mit sehr großer Mehrheit – Herrn Milo-sevic gewählt. Deshalb ist die Situation dort ein kleinwenig anders. Der ohnehin tief gespaltenen jugoslawi-schen Opposition wäre durch die Aufhebung des Öl-und Flugembargos nicht gedient. Deshalb sind wir derMeinung, dass diese Aufhebung nicht richtig wäre.Die heutige Debatte kann nicht ohne ein Wort zuTschetschenien geführt werden, Herr Kollege Fischer.Ich muss Ihnen vorhalten: Von der wortgewaltigen Rhe-torik des Menschenrechtlers Fischer ist nicht sehr vielübrig geblieben.
Ich habe einmal nachgelesen, was Sie uns 1995 vor-gehalten haben – deshalb die Erinnerung an Ihre Zeit aufder Oppositionsbank –: Fischer sprach mit emphatischerGebärde von barbarischen Kriegen und grausamen Mor-den einer nuklearen Supermacht gegen ein kleines kau-kasisches Volk. Er beschwor mit ungeheurer Geste diedamalige Regierung, endlich eine westliche Initiativegegen Moskau zu ergreifen. Herr Fischer, ich kann heute nur sagen: Sie waren inder ersten Reihe der westlichen Politiker, die nach Mos-kau gereist sind und die dem – ich sage das bewusst so –Kriegsherrn im Kreml die Aufwartung gemacht haben.Sie warnen davor, Russland zu isolieren. Außer verbalerVerurteilung haben Sie aber nicht viel unternommen.Ich weiß, wie schwierig diese Frage ist. In diesem Punktsind wir uns einig.
– Was zur Debatte gehört, können wir selber entschei-den. Im Übrigen hat sich auch Herr Fischer früher nichtimmer an das Thema gehalten.
Heute sieht die Welt ein klein wenig anders aus. Siehaben es nicht einmal erwogen – das halte ich Ihnen vor –, im Europarat für die Suspendierung der Mitglied-schaft Russlands einzutreten und zum Beispiel mit demIWF über wirtschaftliche Sanktionen zu reden. Alsokleine Münze und schwache Erklärungen im Vergleichzu dem, was Sie früher großmundig erklärt haben.
Im Übrigen wettert Cap Anamur nicht umsonst. Es istoffensichtlich sehr schwierig, Hilfslieferungen in dieseRegion zu bringen. Ich möchte Sie fragen: Was tun dasAuswärtige Amt und speziell Sie, damit dort die huma-nitären Maßnahmen durchgeführt werden können? ImHinblick auf das, was Sie mir früher vorgeworfen haben,müssen Sie sich schon vorhalten lassen – ich sage das ganz ruhig –: Aus dem MenschenrechtsgladiatorJoschka Fischer ist dann doch ein Menschenrechtsdäum-ling geworden, und zwar in vielerlei Hinsicht.
Dr. Klaus Kinkel
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7720 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
Nur auf die Türkei, Herr Kollege Fischer, wird drauf-gehauen. Auf der einen Seite wird der Kandidatenstatusunterstützt – ich persönlich bin dafür – und auf der ande-ren Seite wird aus innenpolitischen Gründen wegen derGrünen die Leo-2-Frage in den Vordergrund gestellt. Eswird außerdem mitgeteilt, wie im Bundessicherheitsratentschieden wurde. Damit wird deutsche Außenpolitikals Schwerpunkt der Tätigkeit des Außenministers sozu-sagen zur Politik der Grünen in den Kreisverbänden.Das kritisieren wir und halten wir Ihnen vor.Im Übrigen möchte ich Ihnen eine Frage stellen, diemir sehr wichtig ist. Ich hatte den Eindruck, dass Siesich ungeheuer stark auf die Fragen fokussieren, die in-nenpolitisch für Sie von Bedeutung sind. Wenn wir unsdie Weltlage anschauen, Herr Fischer, dann können wirerkennen, dass die Welt – Deutschland übrigens auch –andere Probleme hat. Ein klein wenig erinnert mich IhrePolitik an „CNN-Außenpolitik“ – eine CNN-Außenpoli-tik zum Wohlgefallen grüner Kreisverbände. Dort einZückerchen für die Fundis, hier ein Zückerchen für dieRealos.
– Sie müssen sich das schon anhören.
Herr Fischer, Sie haben jetzt zum vierten Mal – hörenSie genau zu; Ihr Lachen ist fast wieder so hochmütigwie zur Zeit der Opposition; Ihre staatsmännische Atti-tüde sollte eine andere Haltung zulassen, gerade dann,wenn Sie nur so angegriffen werden, wie Sie es früherselbst getan haben –
eine Afrikareise abgesagt, diesmal mit der Begründung,Sie müssten Wahlkampf in Schleswig-Holstein machen.Ich frage Sie: Wo bleibt Ihr Engagement für Afrika,den gepeinigten Kontinent mit 800 Millionen Menschen,der 23 Prozent der Erdoberfläche bedeckt? Wo bleibt IhrEngagement für Lateinamerika? Wo bleibt Ihr Engage-ment für den asiatisch-pazifischen Raum? Wo bleibt IhrEngagement für den arabischen Raum? Still ruht derSee, kaum ein Wort in 14 Monaten.
– Ja, zum Balkan gehört vor allen Dingen der Punkt, denich noch vorbringen möchte. Wo ist Ihre Unterstützung für die deutsche Wirt-schaft in Außenhandelsfragen, auch was den Balkananbelangt?
– Der Fraktionsvorsitzende der Grünen hat immer be-sondere Stärken, wenn er hinten sitzt.
Deutschland ist die drittgrößte Wirtschaftskraft, diezweitgrößte Exportnation der Welt. Herr Fischer, ichfrage Sie: Haben Sie in 14 Monaten ein einziges Mal ei-nen Wirtschaftsvertreter in Ihrem Flugzeug mitgenom-men, auch in die Regionen, über die wir gerade reden,wo Aufbau stattfinden soll und wo wir daran interessiertsind, dass insbesondere auch deutsche Wirtschaftsvertre-ter ihre Chance haben?
Ich komme zum Schluss. Der Balkan braucht keineSonntagsreden,
sondern Aktionen. Jugoslawien braucht keine unüber-legte Aufhebung der Sanktionen, Frau Beer, zum fal-schen Zeitpunkt, sondern muss vielmehr Milosevic los-werden. Wir brauchen vor allem keine Menschenrechts-rhetorik und keine eventorientierte, sondern eine solideAußenpolitik, und wir brauchen kontinuierliche, be-sonnene und durchdachte außenpolitische Arbeit.
Herr Kollege Fischer, hören Sie es sich an! Ich muss-te es mir früher auch anhören. Es reicht nicht aus, das ei-gene Image zu verwalten. Was wir von Ihnen erwarten,ist, deutsche Außenpolitik zu gestalten, die diesen Na-men verdient.
Ich möchte, liebe Frau Beer, sagen: Vielleicht ist derHeiligenschein doch ein klein wenig angekratzt. Ichwürde empfehlen, ihn wieder ein bisschen aufzupolie-ren.– Vielen Dank.
Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, ich möchte noch einmal auf Fol-
gendes hinweisen: Im Verlauf dieser Debatte haben
dreimal Handys geklingelt. Wir hatten vereinbart, dass
Handys in diesem Raum nicht benutzt werden, weder
passiv noch aktiv.
Wir setzen die Debatte fort. Der Kollege Lippelt hat
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Alt-außenminister,
Dr. Klaus Kinkel
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7721
bei dem, was ich eben gehört habe,
habe ich mir gesagt: 14 Monate Wunden geleckt, meinGott, wie tief muss das gesessen haben!
Jetzt komme ich mit ein paar Fragen; das lässt sich jaein bisschen substantiieren. Sie haben gesagt: Ankündi-gungen und nichts folgte. Herr Kinkel, dieser Außenmi-nister, diese Regierung hat das Problem Kosovo in ei-nem Moment übernommen, als neun Monate versäumtworden waren, wo durchaus eine aktive, präventive Au-ßenpolitik hätte eingreifen können – nicht militärisch.
Zweitens. Es sind fünf Jahre seit Dayton versäumtworden. Vielleicht erinnern Sie sich an eine Sitzung des Auswärtigen Ausschusses, wo ich die Ehre hatte, Ih-ren Bericht über das Normalisierungsgespräch mitMilosevic zu hören. Was Sie dem Ausschussberichteten, war: „Ich habe ihm gesagt, er muss nun abersofort die abgelehnten Asylbewerber zurücknehmen.“Sie erinnern sich vielleicht an das, was wir Ihnen damalsparteiübergreifend, CDU/CSU inklusive, gesagt haben,und Sie erinnern sich vielleicht an das, was Ihnen HerrSchwarz-Schilling damals gesagt hat. Herr Kinkel, Siewissen doch, dass drei Viertel dieser AbzuschiebendenKosovo-Albaner sind. Die wollten Sie in eine Situation zurückschicken
– ja, so war das damals –, die politisch nicht gelöst war.Warum haben Sie nicht zu Milosevic gesagt: „Lösen Siedas Kosovo-Problem erst einmal politisch!“? Damalswar es anzupacken gewesen. Jetzt zu kommen und zusagen, es hat nur Ankündigungen gegeben und der Sta-bilitätspakt läuft nicht – lieber Herr Kinkel, das gehtnicht. Sie haben fünf Jahre verpasst und erheben hiernun Vorwürfe.
– Ich bin nicht getroffen. Aber ich kann doch wohl solchpharisäerhaftes Verhalten, an das ich mich erinnere, an-sprechen.
Wenn jemand getroffen sein sollte, schlage ich vor: Wirkönnen uns einmal unterhalten. Sie sind der Sache sofern wie ich. Lassen wir das jetzt hier. Jetzt aber zu dem, was ich sagen wollte.
Selten hat sich der Termin einer zuvor zwischen denFraktionen und der Regierung vereinbarten Debatte alsso glücklich gewählt erwiesen wie der heutige. Warum?Vereinbart hatten wir diese Debatte unter dem Gesichts-punkt, dass es sich bei dem Stabilitätspakt um ein ganzwichtiges Teil gerade von Deutschland den europäi-schen Partnern vorgeschlagener gemeinsamer Außenpo-litik handelt. Das parlamentarisch zu begleiten stehtdeshalb diesem Bundestag gut an. Die Anerkennung,Herr Kinkel, dass hier wirklich einmal eine hand-werklich gute Politik gemacht worden ist, habe ich ver-misst. Vereinbart hatten wir die Debatte unter dem Ein-druck, dass der Außenminister und sein Amt von Beginndes Krieges an sehr intensiv nach Friedensmöglichkeitengesucht und diese auch gefunden hatten, zugleich aberauch an die Planung einer Nachkriegspolitik schon inKriegszeiten gegangen waren, dass dieser Nachkriegs-planung die Einsicht zugrunde lag, dass das Regime Milosevic nur deshalb Massenmord und Vertreibunghatte entfesseln können, weil es Gegensätze, die sich ausmultiethnischem Zusammenleben in jeder Gesellschaftergeben können, ausgenutzt, ja angeheizt hatte,Gegensätze, die in ihrem Entstehen weit, bis zum Erstenund Zweiten Balkankrieg zu Beginn des vorigenJahrhunderts, zurückreichen, und dass derenÜberwindung deshalb auch einer Langfriststrategiebedarf, eines langfris-tigen politischen undökonomischen Engagements Europas. Der Stabilitätspakt ist entworfen worden als einkunstvolles Geflecht von runden Tischen: drei Hauptti-sche – Demokratie, Minderheiten, wirtschaftlicherWiederaufbau, Sicherheit – und eine Reihe von Unter-tischen – all dies mit rotierendem Kovorsitz von je ei-nem EU-Mitglied und regionalen Mitgliedern des Pak-tes, mit der Ausnahme Serbiens, solange es noch unterder Milosevic-Regierung steht. Herr Schmidt, Sie haben ja vorhin zwischen den Mit-teln und der Philosophie des Stabilitätspaktes unter-schieden. Sie haben gesagt, die Mittel seien – darinstimmen wir ja überein – immer eher zu wenig vorhan-den. Ich habe nicht recht verstanden, was Sie in diesemZusammenhang mit Philosophie meinten. Denn Sie sag-ten dann: Eine Strategie ist nicht da. Sie machten das ander Frage des ungeklärten Status des Kosovo fest.
– Ja, auch an anderen Punkten. Ich will jetzt hier nichtdarauf eingehen. Das war aber der Hauptpunkt. Ich weise auf Folgendes hin: Wir beide haben dochdie Verhandlungen von Rambouillet und den Vertragmiterlebt. Dort wurde die Frage des Status des Kosovoauf fünf Jahre verschoben. Jetzt zu sagen: „Wir könnenin diesen komplizierten Prozess der Neuordnung derBalkan-Verhältnisse nur einsteigen, wenn wir diese Fra-ge vorher lösen“, das wird den Problemen nicht gerecht. Der Stabilitätspakt, wenn man ihn recht betrachtet, istein langfristiger Prozess, wie das der Kollege Erler jaauch schon gesagt hat. Er ist in seiner Zeitplanung undDr. Helmut Lippelt
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seiner Bedeutung mit dem KSZE-Prozess zu verglei-chen. Dass dieser KSZE-Prozess die Welt verändert hat,das wissen wir. Wir haben davon, Gott sei Dank, profi-tieren können. Dass der Stabilitätspakt seinerseits denBalkan verändern wird und ihn zu Europa führen wird,das hoffen wir, und deshalb müssen wir ihn auf jedenFall intensiv unterstützen.
Wir dürfen aber von ihm nicht die Beantwortung vonFragen verlangen, deren Beantwortung, gerade weil essich um einen Prozess handelt, in diesem Moment gera-dezu schädlich wäre. Es wäre gewiss sehr schädlich, ge-rade die Frage, die Sie aufgeworfen haben, zu beantwor-ten. Dieser Stabilitätspakt bedarf in der Tat der begleiten-den Debatte, weil er bei nachlassendem öffentlichen In-teresse in der Gefahr steht, in der diplomatisch-bürokratischen Routine ins Leere zu laufen. Deshalbsind wir für diese Debatte dankbar und müssen heute –gelegentlich nimmt mir mein Außenminister die bestenGedanken weg;
er hat es schon erwähnt, einem Abgeordneten bleibtaber, dies zu vertiefen – darüber diskutieren, welche Be-deutung die kroatischen Wahlen für den Stabilitätspakthaben, und darüber reden, ob sie eine Neuakzentuierungder Politik des Stabilitätspaktes möglich und erforder-lich machen.Sehen Sie, Herr Schmidt, so schnell muss man denneuen Prozesscharakter einbeziehen: zunächst den TodTudjmans, des Gegenspielers und doch auch Komplizenvon Milosevic, des Bruders im Geiste nationaler Auto-kratie, dann die nationalen Wahlen mit dem Triumph derOpposition, dem Durchbruch zur Demokratie und nundie erste Runde der Präsidentenwahl, wonach sich derfür den zweiten Wahlgang ausgeschiedene moderateParteigenosse Tudjmans, Außenminister Granic, fragt,ob er mit vorheriger Niederlegung seiner Parteiämternicht viel zu langsam vom untergehenden Schiff derHerrschaftspartei abgesprungen sei und nicht stattdessenden radikaleren Schritt des Austritts hätte machen müs-sen.Wir erleben zurzeit die Selbstauflösung des Herr-schaftsinstruments der HDZ des Herrn Tudjman. Wir er-leben insofern einen enormen, aufregenden Struktur-wandel, etwas, was für uns vor zwei Monaten, alsTudjman Bosnien zerstören wollte mit der Forderung,auch die Herzegowina müsste jetzt die dritte Entitätwerden, unvorstellbar war. Wir erleben die Abwendungvom Ungeist nationalistischer Isolierung, die Erkenntnisder Wähler, dass die wirtschaftliche Malaise der Selbst-isolierung dem Regime Tudjman zu verdanken ist, unddie Hinwendung der Wähler nach Europa, zu den Prin-zipien demokratischer Kooperation.Das bedeutet – zaghaft haben die noch im Rennen umdie Präsidentschaft befindlichen beiden Kandidaten undder zukünftige Ministerpräsident Racan das Wort jaauch in den Mund genommen – die Anerkennung desUNHCR-Prinzips der Rückkehr der Flüchtlinge in ih-re Heimat. Das bedeutet also, auf das Kernproblem zu-gespitzt, die jetzt mögliche und durchzusetzende Rück-kehr der Krajina-Flüchtlinge, den Bruch mit der Flücht-lingspolitik Tudjmans, die eine Politik nationalistischerSabotage einer solchen Rückkehr war.
– Das können wir gemeinsam in Auftrag geben. Wirsind dabei.Wer die Berichte des UNHCR, die dieser dem rundenTisch eins vorgelegt hat, liest, der weiß, dass es noch 1,5 Millionen interner Flüchtlinge im ehemaligen Jugos-lawien gibt, der liest von ersten vom UNHCR identifi-zierten Gruppen, etwa von 14 500 bosnischen Kroaten,die aus Kroatien zurück in ihre Heimat Bosnien wollen,oder von 16 000 Serben, die zurück in ihre HeimatKroatien möchten, oder von Kroaten, die zurück in ihreHeimat in die jetzige Republika Srpska wollen. DieRückkehr der Krajina-Flüchtlinge ist deshalb dieSchlüsselfrage. Überall, insbesondere in Bosnien-Herze-gowina und in der Republika Srpska, blockieren einsit-zende Flüchtlinge die Rückkehr der Geflohenen. Überallblockieren nationale Parteien und Regierungen denRingtausch von Wohnungen – der Kollege Schwarz-Schilling hat dies in seinen Berichten anschaulich darge-stellt –, offensichtlich weil eine Rückkehr wieder zumultiethnischem Zusammenleben führen würde, was diezurzeit noch Herrschenden absolut nicht wollen.Selbst der im Dayton-Vertrag als exemplarisch vor-geschlagene und besonders leicht durchführbare Aus-tausch der Flüchtlinge in Jajce und Bugojno ist nochnicht über kümmerliche Anfänge hinausgekommen.Deshalb: Die Chance muss genutzt werden, Hilfen fürwirtschaftliche Aufbauprojekte in Kroatien – es müssensehr viel mehr auf den Weg gebracht werden; denn wirhaben hier eine neue Situation – mit der Rückkehr derKrajina-Flüchtlinge zu konditionieren. Darauf müssenwir vorübergehend die Energien und die Mittel des Sta-bilitätspaktes konzentrieren. Davon würde eine großeAusstrahlung auf Bosnien und Restjugoslawien, auf dasKosovo, ausgehen. Damit bin ich beim zweiten Thema. Ich muss es jetztnicht mehr, wie ich gedacht habe, nur unter Bezugnah-me auf die Anträge der PDS behandeln, denn es wurdehierüber schon reichlich diskutiert. Die Frage ist: Wiegliedert man Serbien, obwohl es noch unter dem Re-gime eines in Den Haag angeklagten Präsidenten steht,in die Politik des Stabilitätspaktes ein? Die PDS spricht– sie hat das mehrfach gefordert – von einer Aufhebungder Sanktionen. Dies ist richtig, aber – wie auch schongesagt wurde – die Nomenklatura-Sanktionen – Sper-rung der privaten Auslandskonten der Betroffenen undder Visa für Auslandsreisen – müssen doch wohl beste-hen bleiben.
– Okay. Dr. Helmut Lippelt
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Im Übrigen ist es richtig – das kann weiter begründetwerden –, dass die Wirtschaftssanktionen – und diesmit Blick auf die F.D.P. – nur dem Regime und einer pa-rasitär-mafiösen Schicht zugute kommen. Benzin kannman in Belgrad – ich war kürzlich dort – an jeder Eckekaufen, nur eben sehr viel teurer. Der Chef der Mord-kommandos, Arcan, der jetzt umgebracht wurde, be-herrschte circa 20 Prozent des gesamten jugoslawischenEx- und Importhandels. Sanktionen können eine jugos-lawische Exportwirtschaft kaum noch treffen, weil eseine solche nicht mehr gibt. Sanktionen eignen sich aberhervorragend, die Schuld an einer wirtschaftlichen Mise-re der internationalen Gemeinschaft zuzuschieben. Jugoslawien befindet sich auf dem Weg in irakischeVerhältnisse. Sanktionen erhalten dem Diktator die Loy-alität einer apathischen Bevölkerung,
weil sie immer wieder ein überzeugendes Argument fürden demagogischen Hinweis auf äußere Feinde abgeben.
Dem Regime werden kroatische Erkenntnisse, die diekroatischen Wähler jetzt haben, über die eigene Regie-rung als politischen Verursacher der wirtschaftlichenMalaise erspart, solange man das Land unter Sanktionstellt. Jetzt zu den Donaubrücken: Ja, in Novi Sad fließt dieDonau über drei Brücken statt unter ihnen hindurch.Nur, auch hier ist es wieder etwas komplizierter, als diePDS – mit Verlaub – meint.
Die Trümmer würde die Donau-Schifffahrtskommissionja räumen – dazu bedarf es keiner Aufforderung an dieBundesregierung –, allerdings will Belgrad die Brückenerst wieder gebaut sehen und dann der Räumung derTrümmer zustimmen. Und zum Wiederaufbau wird sichkeine westliche Regierung von einem Regime erpressenlassen, das die Spirale der Gewalt im Kosovo in Gangsetzte. Da ist es schon sinnvoller – als solch leicht da-hingeschriebene Anträge, verehrter Kollege –, was dieStadt Dortmund tut. Sie ist mit Novi Sad durch Städte-partnerschaft verbunden. Sie sammelt Geld für die ersteBrücke und wird sie bauen. Es ist auch wichtig, dass bei Eisgang – man sagt inNovi Sad, die Wahrscheinlichkeit liegt bei einmal inzehn Jahren – nicht nur das Umland betroffen ist, son-dern die ganze Altstadt unter Wasser steht und absäuft.Deshalb muss bei einem möglichen strengeren nächstenWinter die Donau tatsächlich geräumt sein. Nur, das istnicht die vordringliche Sorge des Regimes. Wer mit derZerstörung Jugoslawiens in Slowenien und im Kosovobegann, wird damit in Montenegro, im Sandschak undder Vojvodina enden. Wir sprechen damit über die ge-fährliche Zuspitzung der innenpolitischen Verhältnissein Serbien.Doch zunächst ist darauf hinzuweisen – was auchschon geschehen –, dass es gerade deshalb richtig ist, dieIsolierung der serbischen Gesellschaft zu durchbrechen,und zwar auf jeder nur möglichen Ebene. Die Bundesre-gierung bemüht sich zusammen mit anderen Regierun-gen der EU darum. Dazu gehört vor allem die Förderungder Kontakte zu jenen Städten, die seit den Lokalwahlen1997 oppositionelle Mehrheiten haben und trotzdemunterschiedslos von den Bomben getroffen wurden. Ichzähle nur beispielhaft auf: Novi Sad mit erheblichenUmweltschäden, Pancevo – 8 Tonnen Quecksilber sindin die Erde gegangen – oder Kragujevac mit den zerstör-ten Zavasta-Autowerken oder eben Niš. Es ist richtig, dass die EU die demokratischen Reprä-sentanten dieser Städte mehrfach zu Konferenzen lud,dass aber mehr als die Erdöllieferungen im Winter nachNiš und Pivot bisher nicht möglich waren und dass mitsolchen Konferenzen die Bürgermeister und andere Ver-treter der Opposition dem Spott des Regimes immermehr ausgeliefert werden. Das muss man klar sehen. Jeöfter sie zu diesen Konferenzen ohne vorzeigbare Er-gebnisse kommen, umso mehr werden sie zu Hohnfigu-ren der Regierungspropaganda.Wenn wir aber von der Zuspitzung der innenpoliti-schen Lage in Serbien selbst sprechen, so müssen wirsagen: Der Mord an dem Kriegsverbrecher Arkan magja noch der Rivalität mafiöser Gruppen zuzuschreibensein; das versuchte Attentat gegen Draskovic war je-doch von ganz anderer Art. Selbst wenn sich die Urhe-berschaft des staatlichen Geheimdienstes nicht zweifels-frei nachweisen lässt, Draskovics eigene Anhängerglauben daran und sie nehmen das Gewehr wieder in dieHand. Wenn Draskovic als inzwischen wichtigster Opposi-tionspolitiker die Bekanntgabe eines Wahltermins bisEnde April fordert und wenn andererseits das Regimenicht daran denkt, so etwas vor Ende dieses Jahres zutun – wenn überhaupt –, so sehen wir einem sehr heißenSommer entgegen. Wenn die Spannungen hinsichtlichMontenegro dazugerechnet werden, müssen wir feststel-len: Wir stehen vor einem Bürgerkrieg, in den politischzu intervenieren kaum möglich sein wird, solange eskeine diplomatischen Beziehungen gibt, und in den mili-tärisch zu intervenieren völlig ausgeschlossen ist.Deshalb sind intensive Ausstrahlungen von Erfolgendes Stabilitätspakts in Kroatien und in Bosnien auf denRest Jugoslawiens dringend erforderlich. Es ist die ein-zige Art zurzeit möglicher präventiver Außenpolitik.
Nochmals: Die Bundesregierung, ihr Außenminister,hat sehr früh ein vorzügliches Gerüst für eine Politik zurHeilung der Balkanprobleme entworfen. Wir müssendiese Politik unterstützen und sie vorantreiben.Ein letzter Punkt. Ein Finger weist dann doch auf unsselbst. 300 000 Flüchtlinge sind nach Bosnien zurück-gekehrt, 30 000 sind noch hier. Es handelt sich zumgrößten Teil um Traumatisierte und um Leute, die alsAugenzeugen für Den Haag von großem Gewicht wä-ren.Dr. Helmut Lippelt
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Der Innenminister ist leider nicht mehr da, aber ichappelliere an die Bundesregierung, diesen Gruppen end-lich Bleiberecht zu geben.
Sonst würden wir eine Politik diskreditieren, mit der wir – bei allen Problemen, die sie jedem Einzelnen vonuns bereitet hat – in europäischer Gemeinsamkeit diehoffentlich letzte große Krise Europas bewältigen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich möchte mir zu Beginnmeiner Rede eine knappe Bemerkung zum Beitrag desverehrten Kollegen Kinkel erlauben. Es drängt mich einbisschen danach und man soll ja manchmal einem Drän-gen nachgeben, auch in einer solchen Frage.
– Mehrdeutig meine ich das, Herr Westerwelle.Natürlich ist es Ihr Recht, jederzeit und zu allen Fra-gen in diesem Parlament zu diskutieren. Das kann undsollte Ihnen keiner bestreiten. Aber vielleicht wären Sieetwas klüger beraten gewesen, wenn Sie zu den außen-politischen Fragen etwas länger geschwiegen hätten.
Ihr Beitrag hat ehrlich gesagt einen Gestus gehabt wie„Was ich schon immer einmal sagen wollte“. Ich glaube,bei einem solchen Gestus mischen sich auch Fragen un-ter, die in dieser Art und Weise nicht dazugehören. Was ich wiederum gut daran finde, dass Sie zu au-ßenpolitischen Fragen gesprochen haben, ist: Man weißwieder, was man verloren hat. Es ist wichtig, dass mandas weiß und schätzen kann. Das macht ja auch Freude.
Jetzt zum eigentlichen Thema. Die bisherige Bilanzdes Stabilitätspaktes wird aus meiner Sicht auch da-durch nicht besser, dass sich die Bundesregierung dazuerklärt und die Fraktionen von SPD und Grünen hier ei-nen Antrag einreichen, dessen Hauptinhalt ehrlich ge-sagt darin besteht, der Regierung auf die Schulter zuklopfen. Gerade weil die Ausgangslage sehr kompliziertwar und niemand Wunder erwartete, wäre eine kritische,die Probleme benennende Analyse doch angebracht ge-wesen. Doch diese Analyse fehlt, und das ist kein Zufall.Meines Erachtens war der Stabilitätspakt von Anfang anin einer Schieflage und ist daraus auch nicht herausge-kommen. Ich will Ihnen die Gründe nennen, die mich zudiesem Urteil bringen.Erstens. Der Stabilitätspakt war der Versuch einer po-litischen Antwort auf den Kosovo-Krieg, aber er istselbst durch den Krieg gezeichnet und deformiert. Wennes aber heute, fast ein Jahr nach dem Krieg, im Antragvon SPD und Bündnis 90/Die Grünen heißt – ich zitieredas –, dass „sich die Geschlossenheit der NATO beson-ders bewährt“ habe, könnte es einem doch die Spracheverschlagen, tut es mir aber nicht. Ich will Sie gar nichtauf das verweisen, was die PDS immer wieder vorgetra-gen hat, aber ich will deutlich wiederholen: Ich bin mirheute sicherer denn je, dass unser Nein zum Krieg po-litisch, juristisch und moralisch begründet und richtigwar.
Ich finde, Ihnen müssen doch die Ohren klingen,wenn die „FAZ“ vom 20. Januar 2000 schreibt – ich zi-tiere zwei Dinge daraus –, dass der Bundestag „aufgrundeiner unzureichenden Informationslage“ einem Krieg-seinsatz zugestimmt habe und „der Krieg im Kosovo zukeiner entscheidenden Verbesserung der Menschen-rechtssituation der dortigen Bevölkerung geführt hat“.
Zweitens. Dass der Stabilitätspakt durch den Krieggezeichnet und deformiert wurde, zeigt sich schon darin,dass Jugoslawien ausgeschlossen und zusätzlich mitSanktionen belegt wurde. So konnte der Pakt auch alsAnti-Serbien-Pakt verstanden oder missverstanden wer-den. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang feststel-len: Es ist an der Zeit, dass die Embargos und die Sank-tionen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien aufgeho-ben werden.
Der Sonderberichterstatter des UN-Generalsekretärsfür die Lage der Menschenrechte in der Region, JiriDienstbier – dieser Name dürfte Ihnen ja geläufig sein –,stellt dazu in seinem Bericht fest:Einige Unzulänglichkeiten kann man schon jetztbei der Durchführung des Stabilitätspaktes erken-nen, so zum Beispiel die Tendenz, Serbien zu iso-lieren, das den geographischen und wirtschaftlichenMittelpunkt der Region darstellt. Der Sonderbe-richterstatter ist der Überzeugung, dass Embargosund ähnliche Maßnahmen der internationalen Ge-meinschaft nur dazu beitragen können, anti-demokratische Regimes in der Region zu stärken,und sie stellen selbst einen groben Verstoß gegendie Menschenrechte dar.Herr Außenminister, es sollte Sie doch nachdenklichmachen, wenn der UN-Sonderbeauftragte in Ihrer Politikeinen groben Verstoß gegen die Menschenrechte sieht.Nun ist, was die Embargopolitik angeht, eine Ver-änderung in der Position der Bundesregierung zu erken-nen. Ich finde, dass diese Worte und diese Ankündigungauch unter Beweis gestellt werden sollten. Nach demDebattenbeitrag, den Kollege Lippelt gehalten hat, geheich mit der Hoffnung schwanger, dass man endlich kon-struktiv mit unseren Anträgen umgehen wird.
Dr. Helmut Lippelt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7725
Wenn Sie also gegen die Fortsetzung des Ölembargossind, wird diese Forderung nicht deswegen falsch, weilwir als PDS die Aufhebung beantragt haben. Sie könnendamit umgehen.Was die zerstörten Donaubrücken angeht: Sie müssengeräumt und wieder aufgebaut werden. Kollege Lippelt,es wird doch jeder einsehen, dass man von der Bundes-republik Jugoslawien nicht erwarten kann, zur Brücken-räumung Ja zu sagen ohne Hoffnung auf Wiederaufbau.Da kommt doch kein Sinn hinein.
Ich glaube auch, dass man festhalten muss, wer unterdem Embargo in Serbien leidet. Das sind die einfachenMenschen, die hungern, die frieren, die unterdrücktwerden, die keine Perspektive haben.
Unter dem Embargo leidet doch nicht die Nomenklatura.Vor allem deswegen muss dieses Embargo aufgehobenwerden.Was den Kosovo angeht, so sollte sich gerade derAußenminister noch einmal die Äußerung des von ihmhier gewürdigten Generals Reinhardt vor Augen halten,der das Geld, das in den Krieg gesteckt worden ist, mitdem Geld verglichen hat, das zum Wiederaufbau im Ko-sovo fehlt. Er hat gesagt, dies sei eine riesengroßeDummheit gewesen. Der ganze Krieg war eine riesen-große Dummheit. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt der Kollege Eberhard Brecht.
Sehr geehrte Frau Prä-sidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kolle-gen! Es gibt kein Ende der Geschichte und schon garkein Ende der Geschichte des Balkans. Das ist die Er-fahrung, die wir in Europa gemacht haben. Das Konzept„Eine Nation – ein Staat“ hat zu vielen blutigen Kriegengeführt. Heute hatten wir eine Gedenkstunde, und dieseGedenkstunde hat auch daran erinnert, dass nationalesDenken in die Katastrophe führen kann. Deshalb orientieren wir uns heute in der Europäi-schen Union an einem Integrationskonzept. Denn wermiteinander Sicherheit teilt, wer miteinander kulturellkommuniziert, wer miteinander Handel treibt, der hatkeinen Grund, aufeinander zu schießen. Die große Zahlerfolgreicher Minderheitengesetze und Autonomierege-lungen in Europa beweist, dass sich scheinbar unlösbareethnische Konflikte am Ende relativieren.Meine Damen und Herren, Südosteuropa hat in derVergangenheit nach dem Zusammenbruch des sozialisti-schen Systems und mit dem Zerfall Jugoslawiens zu-nächst einen anderen Weg gewählt. Als Antwort aufDemokratiedefizite, auf zentralistische Bevormundungfeierte eine alte Idee ihre Renaissance, nämlich dieTransformation multiethnischer Staaten in eine Land-schaft ethnisch homogener Nationalstaaten.Eine nationalstaatliche Abgrenzung ist aber kaum inÜbereinstimmung mit allen Ethnien in einer Regionmöglich. Wenn nämlich das Recht auf Selbstbestim-mung – das wird immer wieder eingefordert – egozent-risch nur auf die eigene Nation konzentriert bleibt, ent-stehen neue sicherheitspolitische Risiken. Solche Risi-ken werden noch erhöht, wenn Nationalökonomien sichabschotten und damit natürlich die wirtschaftliche Pros-perität behindert wird.Meine Damen und Herren, derzeit werden wir mitBestrebungen aus Montenegro und Kosovo konfron-tiert, die Bundesrepublik Jugoslawien verlassen zuwollen und einen eigenen Nationalstaat zu begründen.Die Fälle liegen ziemlich verschieden. Trotz dieser Un-terschiede gibt es eine Reihe von Argumenten, die manzu hören bekommt, wenn man nach Podgorica oder nachPristina reist. Da wird ein vermeintliches Recht aufSelbstbestimmung – in Klammern: Sezession – einge-klagt. Da wird hingewiesen auf die Ungewissheit einerDemokratisierung des Milosevic-Regimes. Und werweiß – so argumentieren die entsprechenden Politiker inPristina und Podgorica –, was nach Milosevic kommt? Da wird die Gefahr beschworen, dass auch diese bei-den Regionen in den Strudel des wirtschaftlichen Ab-wärtstrends Belgrads hineingezogen werden, und dawird die Hoffnung geäußert, noch viel mehr in den Sta-bilitätspakt einbezogen werden zu können.Bereist man jedoch weitere südosteuropäische Staa-ten, wird man angesichts solcher Träume mit klaren Re-alitäten, mit klaren realen Ängsten konfrontiert, da mansich im Fall eines sich ablösenden Montenegros Bürger-kriegsunruhen ausrechnen kann. In Skopje zum Beispielbefürchtet man eine Implosion Mazedoniens, gäbe es ei-ne unabhängige Republik Kosovo. Ich denke, in diesemRaum glaubt auch niemand an die Beteuerungen, die wiraus den Kreisen der Albaner in Mazedonien immerwieder hören, es würde nie einen Anschluss an eine sol-che Republik Kosovo geben. Ich erinnere auch daran,dass die ethnischen Zentrifugalkräfte in Bosnien-Herzegowina, die durch Dayton leidlich eingefangenwurden, wieder neuen Auftrieb bekämen, käme es zurBildung von weiteren Nationalstaaten.Meine Damen und Herren, der von SPD und Bünd-nis 90/Die Grünen vorgelegte Entschließungsantrag plä-diert daher für den integrativen Ansatz, auch und geradefür Südosteuropa. Es führt nämlich kein Weg vorbei aneinem friedlichen Nebeneinander, wenn schon bei-spielsweise ein Miteinander im Kosovo derzeit undenk-bar zu sein scheint. Eine Lösung der bestehenden Sicherheits-, Wirt-schafts- und Sozialprobleme in Jugoslawien ist nichtdurch eine weitere Abgrenzung voneinander erreichbar,sondern nur durch die Entwicklung von Demokratie,Menschen- und insbesondere Minderheitenrechten, wiesie in der Kopenhagener Erklärung 1990 niederge-schrieben worden sind, und die Ermöglichung einesWolfgang Gehrcke
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freien Handels. Genau dies ist auch der Ansatz des Sta-bilitätspaktes. Natürlich kann die westliche Gemeinschaft Menschennicht dazu zwingen, miteinander zu kooperieren, abersie kann, der Philosophie des Stabilitätspaktes folgend,jene Kräfte in Serbien unterstützen, die künftig als de-mokratische Kooperationspartner ihren Nachbarn zurVerfügung stehen.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch auf dieBemerkungen von Herrn Gehrcke eingehen. Natürlichwird Serbien nicht isoliert. Es gibt viele Beziehungen,von denen auch der Bundesaußenminister gesprochenhat. Es existieren Städtepartnerschaften, und auch dasEnergieprogramm wird durch uns gefördert. Meines Er-achtens – das ist die Antwort – kann es nicht darum ge-hen, in einen Dialog mit einem verbrecherischen Re-gime einzutreten. Herr Gysi hat diesen Dialog einmalbegonnen, aber ich glaube, wir müssen auf eine andereKarte, nämlich auf die demokratischen Kräfte in Ser-bien, setzen.
Die Ablösung des verbrecherischen Regimes vonSlobodan Milosevic erzwingt man andererseits nicht da-durch, dass Sanktionen aufrechterhalten werden. Hiermöchte ich Herrn Kinkel widersprechen: Es geht nichtnur um den von außen erzwungenen Solidarisierungsef-fekt des serbischen Volkes, das darbt und in Lethargieverbleibt, mit Milosevic, sondern es geht – das sagen dieExperten immer wieder – auch um eine massive Unter-stützung der organisierten Kriminalität und desSchwarzhandels, der auf dem Balkan durch dieses Sank-tionsregime neue Blüten treibt. Ich glaube, es ist höchsteZeit, über die Sinnhaftigkeit eines solchen Sanktionsre-gimes nachzudenken.
Damit komme ich zu einem anderen Antrag der PDS,in dem die volle Einbeziehung des Regimes in Belgradin die Unterstützungsprogramme des Stabilitätspaktesgefordert wird. Ich kann mir kaum vorstellen, dass wirHerrn Milosevic dieselbe Unterstützung gewähren wieden Staaten, die den Weg der Demokratisierung ge-gangen sind. Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Siemich zusammenfassen: Wir sollten der Versuchung wi-derstehen, einer scheinbar schnellen Lösung der Kon-flikte auf dem Balkan durch eine muntere Nationalstaa-tenbildung den Vorzug zu geben. Wir sollten vielmehrauf eine nachhaltige Politik der Integration, der Unter-stützung demokratischer Staaten setzen. Wir sollten denStabilitätspakt aktiv begleiten und ihn unterstützen, da-mit wir langfristig zum Frieden auf dem Balkan kom-men. Ich bedanke mich.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Peter Hintze.
Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Vorweg: Ich finde esgut, dass wir diese Parlamentsdebatte haben, und ichglaube, dass das Thema öffentliche Aufmerksamkeitverdient. Das Thema verdient vielleicht sogar mehrAufmerksamkeit, als es im Moment im Plenum erfährt.Ich finde es gut, dass unsere Regierung dazu eine Regie-rungserklärung abgegeben hat. Es hat ein wenig Aufregung gegeben, als der frühereBundesaußenminister Kinkel hier das Wort ergriffen hat.
Es hat dazu bereits einige unsachliche Kommentare ge-geben. Ich finde erstens, er hat hier einen sehr gutenBeitrag geleistet,
und zweitens kritisieren wir ja nicht das, was die Bun-desregierung in der Frage der Außen- oder Europapolitikfalsch macht. Wir sagen noch nicht einmal, dass sie inder Europa- oder Außenpolitik alles falsch macht. Nein,ich sage sogar, sie macht in der Europa- und Außenpoli-tik sehr viele Dinge richtig. Der Kollege Erler hat schon verwirrt darauf reagiert,dass wir auf die Person des Koordinators nicht einge-gangen sind. Das tun wir in dieser Debatte auch nicht.Die Regierung macht in der Sache sehr vieles richtig.Uns beschwert aber, Herr Außenminister Fischer – dashat Herr Kinkel sehr schön herausgearbeitet –,
dass sich hinter oder – schlimmer noch – vor einemanchmal durchaus richtige und interessante Politik einallzu großes Stück Selbstverliebtheit unseres Bundes-außenministers schiebt
Das ist das, was wir hier kritisieren.
In den letzten 10 Jahren hat kaum ein Thema so vieleuropäische Kraft gefordert wie das Thema Südosteuro-pa. Herr Kinkel hat davon gesprochen, der Bundes-außenminister hat davon gesprochen. Wir haben hie-rüber viele Debatten geführt, und ich finde es auch gut,dass wir heute über den Stand der Dinge Rechenschaftablegen.Dr. Eberhard Brecht
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Die Europäische Union und Deutschland habenenorm viel Kraft in diese Sache hineingesteckt. Wir ha-ben politische, finanzielle und militärische Ressourcenmobilisiert, und wir haben durch die Aufnahme vonHunderttausenden von Flüchtlingen auch einen großenBeitrag dazu geleistet, dass dieses Problem gelöst wer-den konnte. Ich finde, in diese Debatte gehört auch ein Dank andie vielen Helfer, an unsere Bundeswehrsoldaten, an diePolizeibeamten, an die ehrenamtlichen Helfer der Orga-nisationen, die unter Rückstellung manch anderer Dingein die Krisengebiete gegangen sind und dort geholfenhaben.
Nun hat der Bundesaußenminister in seiner Rede ge-sagt, der Stabilitätspakt komme jetzt in eine entschei-dende Phase. Das ist ohne Frage richtig. Wir debattierenhier darüber, welche Entscheidungen fallen, was alsoentschieden wird. Wir haben heute gehört, es geht um schnell startendeLeuchttürme. Zugegeben, der Bundesaußenminister hatbei den Worten „Leuchttürme“ und „Quickstart“ selbstgeschmunzelt. Ich meine, die Menschen dort brauchenkeine Leuchttürme und Quickstarts; sie brauchen Stra-ßen, Arbeitsplätze, Schulbücher, und das im Rahmen ei-nes vernünftigen Gesamtkonzepts. Ich hoffe, dass sichhinter dem glanzvollen Symbol des Leuchtturms kon-krete Dinge wie Straßen, Arbeitsplätze und Schulbücherauch tatsächlich verbergen, damit dem pompösen Gipfelund den großen Worten jetzt auch vernünftige Taten, dieden Menschen helfen, folgen. Wenn diese Taten geplantsind, sind wir bereit, die Bundesregierung darin zu un-terstützen, meine Damen und Herren.
Schmerzhaft hat die Europäische Union im vergange-nen Jahrzehnt ihre Unzulänglichkeit erfahren müssen,und vollständig haben wir sie noch nicht überwunden.Anfang der 90er-Jahre waren die Einsicht und die Fä-higkeit, Stabilität auf dem Balkan herzustellen, dasRichtige zu tun, noch nicht gegeben. Ich erinnere michdaran, dass andere europäische Partner sagten, dort mili-tärisch etwas zu unternehmen, das sei zu teuer. Heutewissen wir, dass es zu teuer war, am Anfang nichts zutun. Das ist eine Erkenntnis, die in Europa gewachsenist, und es ist positiv, dass wir heute sagen können, dasssich das verändert hat.An Südosteuropa zeigte sich die politische Schwächeder Europäischen Union, und an Südosteuropa zeigt sichauch, was wir hier noch zu leisten haben. Wir sind alsEuropäische Union sehr stark im Export von Waren undDienstleistungen; wir müssen einfach im Export vonStabilität noch stärker werden. Das wäre der größteDienst, den wir in Europa und an Europa leisten können.
Nun, meine sehr geehrten Damen und Herren, für unsgilt der Grundsatz: Es kann uns nicht auf Dauer gut ge-hen, wenn es unseren Nachbarn auf Dauer schlecht geht.Deswegen will ich auch Rednern aller Parteien Rechtgeben, die hier sagten: Wir können nicht immer dieAufmerksamkeit von Krisenherd zu Krisenherd lenken,sondern müssen jetzt schauen, dass nach dem öffent-lichkeitswirksamen Gipfel auch tatsächlich die Dingevor Ort betrieben werden. Herr Bundesaußenminister, wir hörten gestern in un-serer Anhörung im EU-Ausschuss, dass die 3 MillionenUS-Dollar, die Bosnien für die Übernahme der Gipfel-kosten versprochen worden sind, noch nicht bezahltworden seien. Ich weiß nicht, ob das zutrifft, aber ichwäre dankbar, wenn die Regierung in dieser Debatte da-zu noch etwas sagte. Gleich spricht noch die Frau Minis-terin für Entwicklungszusammenarbeit, und vielleichtkann sie dazu etwas sagen. Das wäre natürlich hammerhart, wenn es stimmte,wie es gestern in unserer Anhörung gesagt wurde: Manveranstaltet einen großen Gipfel – Christian Schmidt hatihn ja eben ein bisschen beschrieben –, der eine MengeKosten verursacht – das haben Gipfel so an sich –, aberBosnien-Herzegowina, das wirklich auf die letzte Markangewiesen ist, wartet noch auf 3 Millionen US-Dollar.Ich wäre der Regierung dankbar, wenn sie uns darüberAuskunft geben könnte, ob dies so zutrifft, wie es ges-tern in der Anhörung im Europaausschuss gesagt wurde.
Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt die Bemühungender Bundesregierung, der Europäischen Union und derinternationalen Gemeinschaft, Frieden, Freiheit, De-mokratie und Minderheitenschutz in Südosteuropa zuverankern. Nur dort, wo es für alle Freiheit und gesi-cherte Verhältnisse gibt, herrschen auch Stabilität undFrieden. Der Stabilitätspakt kann dazu einen wichtigenBeitrag leisten, wenn er richtig angelegt wird.Nun will ich auf einen weiteren kritischen Punkt zusprechen kommen. Wir unterstützen das Projekt, aberwir erlauben uns Kritik im Detail. Deswegen, liebe Kol-legen von der SPD, sind auch die Zwischenrufe absolutunangebracht, denn man kann ja nicht sagen: Die Sacheist richtig; deswegen ist eine Kritik im Detail nicht er-laubt.
Ich möchte also einen kritischen Punkt im Detail alsBeispiel bringen. In der Erkenntnis der Notwendigkeitder Sache ist ein Konferenzmechanismus in Gang ge-setzt worden, und zwar nach dem Motto: Die Konferen-zen werden immer größer, aber die Effizienz der Konfe-renzen wird immer geringer. Man muss die Frage stel-len – deswegen ist die von Herrn Kinkel zitierte „FAZ“-Überschrift mehr als berechtigt –, ob dem Anspruch tat-sächlich die Wirklichkeit entspricht. Man muss auchfragen, ob man sich nicht mit der Konstruktion, immermehr Institutionen einzubinden, die dann wieder koordi-Peter Hintze
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niert werden müssen, wobei für die Koordination dannwieder ein Koordinator eingesetzt werden muss, zu sehrin Selbstbeschäftigung verstrickt, die bei den Menschenvor Ort zu wenig ankommen lässt und die bei den Staa-ten der Region, die mitwirken können und wollen, dasungute Gefühl verstärkt, hier werde Geopolitik ohne ihreeigene Beteiligung gemacht. Wir wollen – nur dann gibtes eine tragfähige Lösung –, dass die Menschen und dieStaaten vor Ort tatsächlich beteiligt werden. Damit komme ich auf die Frage zu sprechen, die sehrschmerzt: Wie kann sichergestellt werden, dass dieMenschen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden, dortwieder leben können? Es ist eine große bleibende Wun-de – das ist in Bosnien und im Kosovo so, dass ethni-sche Minderheiten bei der Rückkehr in ihre Dörfer undHäuser keine reale Chance haben. Das ist ein Riesen-problem. Wir stellen fest – auch ich habe kein Patentre-zept –, dass man mit Zwang offensichtlich nicht das not-wendige Vertrauen stiften kann. Wir stellen fest, dass indiesem Problem der Keim für ein neues Problem liegt:Wenn Gruppen, die in ihrer Heimat nicht mehr lebenkönnen, in andere Regionen verbracht werden – denkenwir zum Beispiel an die Vojvodina –, dann gefährdetdies die Balance in diesen Regionen und sorgt für dieEntstehung neuer Konflikte.
– Das habe ich eben geschildert. – An diesem Problemmüssen wir gemeinsam arbeiten. Wir schaffen dafür nurdann eine Lösung, wenn wir die Staaten der Regionbeteiligen, wenn wir – das möchte ich klipp und klar sa-gen; darin soll kein Hauch der Bevormundung liegen –für ein demokratisches Serbien sorgen und wenn wir diedemokratischen Kräfte in Serbien stärken.
– Sie sind da die allerschlechtesten Ratgeber; das möch-te ich Ihnen sagen.
Verehrter Herr Zwischenrufer, es waren doch die kom-munistischen Kräfte in diesem Hause, die sich mit HerrnMilosevic zusammengesetzt haben und die in ihm ihrenBündnispartner gesucht haben. Sie müssen sich alsoganz zurückhalten.
Eine der zentralen und entscheidenden Aufgaben ist,dafür zu sorgen, dass die Menschen in ihre Heimat zu-rückkehren können, dass sie ihr Schicksal selbst in dieHand nehmen können und dass wir unsere Hilfe so leis-ten, dass dort eine eigenständige wirtschaftliche Ent-wicklung möglich ist. Es stimmt nachdenklich, dass un-sere Hilfe etwa 30 Prozent des Bruttoinlandsproduktsvon Bosnien-Herzegowina ausmacht – es ist positiv,dass wir helfen –, dass dieser Prozentsatz auch nochdurch das, was die dort eingesetzten Soldaten undBeamten ausgeben, erhöht wird, dass aber die Arbeitslo-sigkeit gewaltig ansteigt.Lassen Sie mich zum Schluss noch Folgendes sagen:Über dem 20. Jahrhundert stand der Satz: Der Balkanproduziert mehr Geschichte, als der Rest Europas ver-dauen kann. Wir haben im 21. Jahrhundert die Chance,das Tor zu einer Friedensordnung für Südosteuropaaufzuschließen. Der Stabilitätspakt ist dafür ein Schlüs-sel. Wir wollen, dass mit diesem Schlüssel sinnvoll um-gegangen wird, dass das Tor aufgestoßen wird, dass jetztauf der Grundlage der Ergebnisse der Beratungen undKonferenzen konkrete Projekte entstehen, dass Straßengebaut werden – denken wir nur an den Verkehrskorri-dor Nr. 8, die Straßenverbindung von der albanischenKüste über Skopje nach Bulgarien –, dass der Vorschlagder Konferenz der Anrainerstaaten, die in der vorigenWoche in Bulgarien stattgefunden hat, aufgegriffenwird, nicht nur zu schauen, wie viel Geld überhaupt be-reitgestellt werden kann, sondern das Geld auch so be-reitzustellen, dass Investitionen getätigt werden und Ar-beitsplätze entstehen. Wir wünschen uns, dass sich dieseRegion im 21. Jahrhundert mit Europa verbunden fühltund dass wir uns mit ihr verbunden fühlen und dass dieKriege auf den Balkan, die den Anfang und das Endedes 20. Jahrhunderts bestimmt haben, der Vergangenheitangehören. Wenn das der Stabilitätspakt schafft, dannsind wir von der CDU/CSU bereit, ihn mit Herz undVerstand zu unterstützen, dann schauen wir über Detail-fehler hinweg, obwohl wir sie weiter benennen werden,und dann können wir auch einen Koordinator verkraften,selbst wenn wir der Meinung sind, dass es Vorschläge inEuropa gab, die vielleicht zu einer besseren Lösung ge-führt hätten.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Uwe Hiksch.
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Das Haus eint, dass wir alle mei-nen: Die Region Südosteuropa braucht einen Stabilitäts-pakt, der dafür sorgt, dass in der Region alles unterstütztwird, was einen sozialen, einen wirtschaftlichen und ei-nen zivilgesellschaftlichen Wandel hin zu demokrati-schen und vor allen Dingen friedlichen Strukturen er-möglicht. Dennoch unterscheiden uns die Vorstellungensowohl von der Form als auch vom Inhalt dieses Stabili-tätspaktes.Sehr geehrter Herr Außenminister, ich glaube, auchSie wissen, dass die Entstehung des Stabilitätspakteskein präventiver, sondern ein reaktiver Ansatz war, derentstanden ist, als der Krieg auf seinem Höhepunkt warund als Bomben auf Fabriken, auf Menschen und auchauf die Infrastruktur geschmissen wurden. Daraufhinwurde überlegt, wie man aus dieser falschen Politik he-rauskommt.Wir alle wissen auch, dass dieser Stabilitätspakt ei-gentlich schon vor fast zehn Jahren notwendig gewesenwäre, nämlich damals, als aus der BundesrepublikPeter Hintze
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Deutschland die falsche Anerkennung der Sezessions-tendenzen gekommen ist. Ich empfehle allen, die visio-näre Rede von Günter Verheugen zu lesen. Er hat siegehalten, als damals die Regierung Kohl die Sezessions-tendenzen anerkannt hatte. In dieser Rede hat er gesagt,ein solcher Stabilitätspakt sei notwendig, Sezession aberführe zum Krieg.
Lieber Kollege Brecht, ich glaube, Sie liegen falsch,wenn Sie glauben, dass ein Stabilitätspakt dadurch inGang gesetzt werden kann, dass man ausgrenzt, indemman einer Regierung sagt: Du darfst aber nicht mitma-chen, du wirst ausgeschlossen. Genau das Gegenteilsteht auf der Tagesordnung. Man muss sich einmal an-schauen, wie der KSZE-Prozess gegen den Widerstandeiner Seite dieses Hauses aufgebaut wurde. Man musssich einmal anschauen, wie damals Egon Bahr, OlofPalme und auch Willy Brandt deutlich gemacht haben,dass es nicht darum gehen kann, Regierungen auszu-grenzen.Diese Haltung hat nichts damit zu tun, dass man eineRegierung gut findet und dass man mit den Struktureneines Landes einverstanden ist, sondern damit, dass Sta-bilität nur entstehen kann, wenn alle in dieser Regionernst genommen werden und sich keiner ausgegrenzt,sondern jeder einbezogen fühlt.
Deshalb ist dieser Stabilitätspakt nur dann ein wirklicherStabilitätspakt, wenn es kein Embargo gibt, wenn allebetroffenen Regionen einbezogen werden und wennauch die jugoslawische Regierung, die wir alle gern ab-gelöst sähen, mit in diesen Stabilitätspakt einbezogenwird.
Wir wissen auch, dass die Menschen in dieser Region– sei es im Kosovo, sei es in Mazedonien oder in derBundesrepublik Jugoslawien – auf diesen Stabilitätspaktangewiesen sind. Wer liest, wie schlecht es den Men-schen im Kosovo oder in Jugoslawien geht, wer liest,welch dramatische wirtschaftliche und soziale Situationauch in der Bundesrepublik Jugoslawien herrscht, dermuss in Interesse der Menschen diese Region voll undganz mit einbeziehen und dieses Embargo endlich been-den.Kollege Lippelt, ich halte es für problematisch, da-rauf hinzuweisen, dass man überall Benzin kaufen kann– was stimmt –, nur der Preis sei etwas überhöht. Werkann denn diesen überhöhten Preis nicht zahlen? Dassind doch nicht die Menschen aus der Nomenklatura,das sind doch nicht die Menschen der Regierung. Viel-mehr trifft es die einfachen Menschen, die kleinenHandwerksbetriebe und die Industrie, die versucht, indiesen Regionen wieder auf die Beine zu kommen. Wirmüssen dafür sorgen, dass die wirtschaftliche Basis da-für geschaffen wird, dass sich auch die BundesrepublikJugoslawien wieder entwickeln und ökonomisch Fußfassen kann.
Wir verstehen unter „Stabilitätspakt“ auch, dass dieseRegion demilitarisiert werden muss. Es muss darübergeredet werden, wie die Abschaffung der Armeen indieser Region als Beispiel für einen Stabilitätspakt er-folgen kann. Es darf nicht wieder das „Gleichgewichtdes Schreckens“ geschaffen werden; vielmehr muss indieser Region endlich einmal Abrüstung durchgesetztwerden.
Eigentlich ist es ja eine Schande, zu sehen, wieschnell Milliarden zur Verfügung gestellt wurden, umeinen Krieg zu führen, wie schnell es möglich war, mili-tärische Aktionen durchzusetzen, und wie schwierig esist, jetzt, wo es darum geht, Aufbau zu leisten, eine Ge-berkonferenz möglich zu machen und die Geberländerdazu zu bringen, großzügig Geld zur Verfügung zu stel-len. Wenn man sich das anschaut, dann merkt man, dasswir noch immer in den Denkstrukturen des Militärs sind.Für Militär ist – egal was es kostet – Geld da; für Auf-bau muss verhandelt werden.Meine sehr geehrten Damen und Herren, zum Schlussein Zitat. Der deutsche General Reinhardt hat richtiger-weise gesagt – ich zitiere –:Das gesamte Kosovo-Budget der UN lag für 1999bei 125 Millionen DM. Das ist ein Viertel dessen,was die NATO an einem Tag für Geld verbombthat. Es ist abenteuerlich und dumm, dass wir da-mals die Finanzen aufbrachten. Doch jetzt, wo esum Wiederaufbau geht, fehlen sie.Dem ist nichts hinzuzufügen.
Das Wort hatjetzt die Frau Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul.Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Sta-bilitätspakt hat – das ist in allen Diskussionsbeiträgenimmer wieder deutlich geworden; ich bin in dieser Fragedafür, dass wir auch die Gemeinsamkeiten benennen –Bedeutung für Gesamteuropa und leistet einen Beitragzur Stabilität auf dem gesamten Kontinent. Er wird auchglobale Auswirkungen haben. Wir sollten die Gelegenheit nicht versäumen, in einersolchen Diskussion deutlich zu machen, dass damit zumersten Mal in der Geschichte dieser Region den Völkernin Südosteuropa überhaupt die Chance eröffnet wird, ih-re Interessen im friedlichen Miteinander auszugleichen.Diese Chance sollten wir nutzen und wir sollten alles,was wir dazu beitragen können, auch tun.
Es ist richtig – das ist in der Debatte immer wiederdeutlich geworden –: Wiederaufbau und Präventionsind schwieriger als Krieg führen. Deshalb müssen wirUwe Hiksch
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jetzt alles dafür tun, dass mit dem präventiven AnsatzErnst gemacht wird, dass wir all unser Engagement da-für aufbringen.
Ich möchte an dieser Stelle all denjenigen danken, dievor Ort im Sinne dieses Ziels Präventionsarbeit leisten:etwa dem Technischen Hilfswerk, der GTZ, der Kredit-anstalt für Wiederaufbau. Auch unseren Soldaten undden Polizisten, die dort in diesem Sinne tätig sind, sageich ein Dankeschön dafür, dass sie dort praktische Prä-ventionsarbeit leisten.
Es wird ersichtlich, dass die Entwicklungspolitik ei-ne unverzichtbare und auch eigenständige Rolle geradeim Rahmen dieses Stabilitätspaktes erfüllt. Übrigens will ich für die Kolleginnen und Kollegen,die hier über einen Mangel an Geld geklagt haben, dar-auf hinweisen: Außerhalb des Stabilitätspaktes stellenwir im Rahmen der bilateralen Entwicklungszusammen-arbeit für die beteiligten Länder 160 Millionen DM zurVerfügung, und zwar in ganz praktischen Arbeitsfel-dern, die wir mit den Maßnahmen des Stabilitätspaktesverknüpfen.Ich bin davon überzeugt, dass wir unsere außen- undsicherheitspolitischen Ziele nur erreichen, wenn wir inden beteiligten Ländern vor Ort das notwendige Ent-wicklungsfundament schaffen.In dem Gesamtkonzept, das die Bundesregierung fürdie Umsetzung des Stabilitätspaktes vorgelegt hat unddas unser Ministerium gemeinsam mit dem AuswärtigenAmt formuliert hat, wird deutlich: Die Bundesregierungnimmt ihre Verantwortung wahr. Sie leistet trotz ange-spannter Haushaltslage einen erheblichen Beitrag, umdie Ziele des Stabilitätspaktes zu verwirklichen.
Ich meine, es wird vor allem darauf ankommen, dassdie Millionen Menschen in der betroffenen Region, inSüdosteuropa, in sehr unterschiedlichen Ländern, denNutzen des Vertrages unmittelbar im Alltag erfahren,indem eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen er-reicht wird. Ich bin sicher: Sie werden persönlich erle-ben – das ist doch unsere Hoffnung: das Ausstrahlen dereuropäischen Idee –, dass es zu guter Nachbarschaft,zu Verständigung, zu Ausgleich und Versöhnung kei-ne sinnvolle Alternative gibt.
Das wird die Erfahrung mit diesem Stabilitätspakt sein.Ich möchte auf die Frage, was mein Ministeriumpraktisch und auch im Rahmen des Stabilitätspaktes tut – Herr Hintze hat ja danach gefragt –, antworten,dass wir alle Instrumente einsetzen, die für die Errei-chung der Ziele, Arbeit zu schaffen sowie eine produkti-ve Wirtschaft und vor allen Dingen eine Demokrati-sierung herzustellen, notwendig sind. Dies betrifft zumeinen den Bereich der Energie- und Wasserversorgung.Wir helfen beim Aufbau der entsprechenden Strukturen,und zwar sowohl auf regionaler Ebene als auch auf Lan-desebene. Denn die regionalen Projekte sind ja diejeni-gen, die dazu beitragen, Menschen in Arbeit zu bringen.Wir leisten durch Beratung Hilfe beim Aufbau öffentli-cher Kommunalverwaltungen. Ebenso wird über dieCarl-Duisberg-Gesellschaft und über die Deutsche Stif-tung für internationale Entwicklung Unterstützung gebo-ten bei Ausbildungsmaßnahmen und bei Vorbereitungender Qualifizierung der Beschäftigten im öffentlichenSektor, damit die Menschen die erforderlichen Voraus-setzungen und Chancen haben. Jeder, der Schwierigkei-ten beim Aufbau der zivilen Verwaltung im Kosovokennt, weiß, wie wichtig eine solche Arbeit ist.
In diesem Zusammenhang sind besonders auch diepolitischen Stiftungen zu nennen, an die hohe Erwar-tungen gerichtet werden. Denn sie werden einen wesent-lichen Beitrag leisten, um in den südosteuropäischenLändern Demokratie und Pluralismus zu fördern sowiegesellschaftliche Organisationen wie zum Beispiel Ge-werkschaften mit aufbauen zu helfen, unabhängig zu be-raten und zu unterstützen. Diese Arbeit leisten wir mitden Instrumenten der Entwicklungszusammenarbeit.
Das Ziel ist, dass sich diese Völker zu pluralen, zusozial gerechten Gesellschaften entwickeln. An dieserStelle möchte ich betonen: Alle Formen des Austau-sches, auch des persönlichen Austausches zwischen Ju-gendlichen – ich denke im Übrigen auch an den parla-mentarischen Austausch – sind wichtig, um den Stabili-tätspakt mit wirklichem Leben zu erfüllen.Vorhin hat Herr Kinkel gefragt: Was ist mit der Wirt-schaft? Manchmal habe ich das Gefühl, ein Teil derEntwicklung geht an einigen vorbei. Eine ganz wichtigeZusammenarbeit besteht unter dem Stichwort „Ent-wicklungspartnerschaft mit der Wirtschaft“. Gerade inder letzten Woche hat mein Ministerium in Zusammen-arbeit mit einem Konsortium, dem auch eine deutscheBank angehört, die erste Bank in Kosovo eröffnet. Siewird insbesondere kleine Betriebe mit Beratungsangebo-ten und finanzieller Starthilfe unterstützen. Das schafftArbeitsplätze, eine konkrete Perspektive und Hoffnung.Dies ist eine konkrete Zusammenarbeit mit der Wirt-schaft. Es wird dort also Arbeit geleistet; man muss sienur zur Kenntnis nehmen.
Vor allen Dingen geht es darum, dass das, was dortgeleistet wird, der Motor des Wiederaufbaus ist. Wir le-gen mit dieser Arbeit in den betroffenen Ländern, insbe-sondere im Kosovo, die Grundlagen für den Wiederauf-bau aus eigener Kraft. In Pristina besteht übrigens getragen von der Kredit-anstalt für Wiederaufbau, der GTZ und anderen Institu-tionen eine Anlaufstelle für alle Unternehmen undBundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
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Nichtregierungsorganisationen. Dies möchte ich hierdem einen oder anderen, der über diese Informationenbisher nicht verfügt hat, zur Kenntnis geben. Wir haben mit dem Deutschen Industrie- und Han-delstag eine Konferenz zu Südosteuropa durchgeführt –ich selbst habe zusammen mit Bodo Hombach teilge-nommen, der übrigens in diesem Prozess ein ganz her-vorragende Rolle gespielt hat und spielt –, an der dieVertreter der betroffenen Länder und Unternehmen ausDeutschland und aus Südosteuropa teilgenommen undkonkrete Verabredungen für eine Zusammenarbeit erar-beitet haben. Ich weiß, das alles ist weniger spannend alsdie großen politischen Entscheidungen. Aber dies ist dieRealität in Bezug auf die Beantwortung der Frage, obdaraus Frieden entsteht oder ob die Konflikte weiter be-stehen. Deshalb sind diese kleinen Schritte so notwen-dig.
Zum Schluss möchte ich zwei Punkte, die mir beson-ders am Herzen liegen und von denen bisher auch hiernicht gesprochen worden ist, nennen.
Frau Ministerin,
Herr Hintze möchte eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie
damit einverstanden?
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Herr
Hintze, lassen Sie mich doch bitte erst meine Ausfüh-
rungen beenden. Danach können wir darüber sprechen,
falls es noch notwendig sein sollte.
Er wollte eigentlich
nur eine Frage stellen. Ich empfehle Ihnen, die Frage zu-
zulassen; denn das verlängert Ihre Redezeit, Frau Minis-
terin.
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:
Wenn das so ist, dann ist das in Ordnung.
Herr Hintze, bitte.
Frau Ministerin, ich habe
die Bitte – ich muss diese Frage jetzt stellen; denn Sie
wollten gerade zum Schluss kommen –, dass Sie noch
einmal auf die Frage, die im Europaausschuss themati-
siert wurde, ob die Kosten für diese Konferenz erstattet
werden, eingehen.
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Herr
Hintze, betraf das den Punkt mit den 3 Millionen DM?
Ja.
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Ich
habe diese Frage hier zur Kenntnis genommen. Sie wur-
de mir nicht aus dem Europaausschuss berichtet. Der
Außenminister hat gesagt, das werde geprüft. Nach die-
ser Prüfung wird eine entsprechende Antwort erfolgen.
Frau Präsidentin, ich bedanke mich bei Ihnen.
Bitte sehr, Frau Mi-nisterin. Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Lie-be Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte einen weite-ren Punkt ansprechen: Natürlich sind die großen Inves-titionen, die „Leuchttürme“, wichtig. Aber wichtig istauch eine wirkliche Versöhnung vor Ort. Deswegen ha-ben wir ein Konzept vorgeschlagen, das vor allen Din-gen die Schaffung eines regionalen Netzwerkes in ganzSüdosteuropa vorsieht, das zur Versöhnung, zur Bewäl-tigung individueller und kollektiver Traumata, zur be-hutsamen Aufarbeitung von Gewalt- und Gräueltatenund zur offenen Begegnung von Menschen und Völkernbeiträgt. Wir möchten ein solches regionales Netzwerkin den Stabilitätspakt einbringen. Ich habe dieses Vor-haben dem Koordinator Bodo Hombach übergeben. Wirsind dabei, dieses Konzept auch inhaltlich auszufüllen.Ich bin ganz sicher, dass solche Vorhaben genauso wirk-sam zum friedlichen Zusammenleben wie Tausende Ki-lometer von Straßen oder Eisenbahnstrecken oder Vor-kehrungen für die Telekommunikation beitragen, sowichtig sie auch sind. An die Ausarbeitung und Ver-wirklichung eines Netzwerkes der Versöhnung knüpfenwir große Hoffnungen.
Zum Schluss möchte ich einen Punkt ansprechen, derin der heutigen Diskussion noch keine Rolle gespielt hat,der aber dafür, wie ich mich zum Thema Kosovo verhal-te, erhebliche Bedeutung hatte und hat. Die militärischeIntervention im Kosovo hat erreicht, dass die Vertrei-bung der Kosovo-Albaner beendet wurde und Vertrie-bene und Flüchtlinge zurückkehren konnten. Aber es istauch klar, dass es Frieden und Stabilität im Kosovo erstgeben wird, wenn die Gewaltanwendung gegen andereVolksgruppen aufhört und Demokratie und Rechtsstaat-lichkeit verwirklicht sind.
Die Situation der Roma und Aschkali im Kosovo istnoch immer unerträglich.
Sie werden vielfach auf dramatische Weise diskrimi-niert. Sie dürfen nicht in ihre angestammten Dörfer zu-Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
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rückkehren. Sie werden von der Lebensmittelversorgungausgeschlossen. Frauen und Kinder werden häufig ge-nug von den wenigen Krankenhäusern und Gesundheits-stationen abgewiesen. In dieser Volksgruppe, die wie al-le anderen ein angestammtes Anrecht auf Heimat undGemeinwesen hat, herrschen unsägliches Leid und blan-ke Angst. Auf die dramatische Situation der Roma undAschkali hat die Gesellschaft für bedrohte Völker – ichstehe immer mit Tilman Zülch von dieser Organisationin Verbindung – aufmerksam gemacht. Wir unterstützenderen Initiative mit all unseren Möglichkeiten. Die in-ternationale Gemeinschaft darf nicht zusehen, wie dortvorgegangen wird. Der Krieg ist auch deswegen geführtworden, damit Vertreibungen, insbesondere ethnischeVertreibungen, aufhören. Es ist jetzt die Pflicht von unsallen, dazu beizutragen, dass es in dieser Region keineVertreibung ethnischer Gruppen mehr geben wird.
Dazu müssen wir all unsere Möglichkeiten einsetzen.Auch das ist ein Ziel, das die Bundesregierung nachKräften und mit nennenswerten Beiträgen fördert undbegleitet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, daran, ob wir beiden kleinen Umsetzungsschritten zäh und hartnäckigbleiben, entscheidet sich, ob Südosteuropa eine Chancehat, Frieden zu entwickeln. Wenn wir zäh und hartnä-ckig an diesen kleinen Schritten arbeiten, sie praktischumsetzen und eine europäische Perspektive vermitteln,dann hat die Region eine gute Chance.Ich bedanke mich sehr.
Das Wort hat jetzt
der Kollege Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Prä-sidentin! Meine Damen und Herren! In der Debatte istdeutlich geworden, dass mit dem Stabilitätspakt fürSüdosteuropa große Hoffnungen verbunden sind. Die inden dortigen Ländern lebenden Menschen wollen jedochnicht nur etwas über Konferenzen, für die offensichtlichdie Kosten noch nicht bezahlt worden sind, über Regie-rungserklärungen sowie über staatstragende Reden undDebatten erfahren, sondern sie wollen endlich Taten se-hen.
Die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt in dieser Wochezu Recht:Bislang konnte der im Juli in Sarajevo von mehr als30 Staats- und Regierungschefs aus der Taufe ge-hobene Stabilitätspakt die Hoffnungen nicht erfül-len. In der Region wächst die Ungeduld und derKoordinator Bodo Hombach steht immer wieder inder Kritik.Ich finde, es hat schon viel zu lange gedauert, bis jetztEnde März endlich die so genannte Geberkonferenzstattfindet. Die „FAZ“ schreibt heute zu Recht, dass diesdie „Stunde der Wahrheit für den Stabilitätspakt“ Süd-osteuropa wird.Herr Bundesaußenminister, „Leuchtturmprojekte“und „Quickstart-Pakete“ – diese tollen Bezeichnungensind schon mehrfach zitiert worden – sollen auf dieserKonferenz beschlossen werden. Ich glaube, man solltesich davor hüten, nur auf die gute Publicity solcher Pro-jekte zu achten. Aus der Entwicklungszusammenarbeitder letzten Jahrzehnte kann man meines Erachtens eineslernen: Die Großprojekte haben sich oft als diejenigenProjekte erwiesen, die zu einem großen Reinfall wurden.Viel wichtiger sind die kleinen Schritte, die situati-onsgerechten Projekte, die Selbsthilfe und Selbstorgani-sation der Betroffenen aktivieren. Es kann auch nichtdarum gehen, das Füllhorn wahllos auszuschütten. Ent-scheidend ist die Einhaltung von Konditionen einer ent-wicklungsorientierten Politik.
Die Länder müssen sich zuallererst selbst bewegen undReformen einleiten.Nun stellt Deutschland, ausweislich unseres Bundes-haushaltes, drei Jahre lang jährlich 300 Millionen DMzur Verfügung. Wir können damit zeigen, wie durch ei-ne zielgerichtete und sinnvolle Entwicklungszusammen-arbeit die Stabilität in Südosteuropa gestärkt werdenkann. Frau Bundesministerin Wieczorek-Zeul, ganz ver-standen habe ich die lobende Erwähnung Ihrer eigenenTätigkeit und die Ihres Ministeriums nicht. Wenn ichmich recht erinnere, haben Sie für Ihr Ressort den jährli-chen Mittelbedarf für Südosteuropa auf 400 Millio-nen DM beziffert. Ich halte es langsam, aber sicher füreinen Skandal, dass zwei Monate, nachdem der Bundes-haushalt beschlossen wurde, heute immer noch nichtklar ist, wie die 300 Millionen DM unter den Ressortsaufgeteilt werden.
So wie es aussieht, werden Sie weniger als die Hälftedessen, was Sie selber einmal für notwendig erachtethaben, für das BMZ zur Verfügung haben.Aber auch im Stab von Bodo Hombach ist kein Ver-treter aus dem Bereich der wirtschaftlichen Zusammen-arbeit; in der Südosteuropa-Agentur gibt es ebenfallskeinen Vertreter aus diesem Bereich – von der angeblichso großen Bedeutung der deutschen Entwicklungszu-sammenarbeit und Ihres Hauses also keine Spur.Ziel unserer Entwicklungszusammenarbeit mit denLändern Südosteuropas muss eine nachhaltige undselbsttragende Entwicklung in der Region sein. We-sentliche Voraussetzung dafür – in diesem Punkt, FrauMinisterin, sind wir mit Ihnen einig – ist ein Prozess derDemokratisierung. Legitimierte, akzeptierte und hand-lungsfähige politische Strukturen sind zentrale Voraus-Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
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setzungen für die Stabilität und für die wirtschaftlicheEntwicklung. Aus der bisherigen Erfahrung mit denTransformationsprozessen in Mittel- und Osteuropa wis-sen wir, dass nur durch eine entschlossene Reformpoli-tik die von den westlichen Staaten zur Verfügung ge-stellten Mittel wirklich sinnvoll eingesetzt werden kön-nen. Deshalb sollte sich die deutsche Entwicklungszu-sammenarbeit vorrangig darauf konzentrieren, den De-mokratisierungsprozess zu unterstützen und Hilfen fürden Aufbau funktionsfähiger Verwaltungen und desRechtswesens zu entwickeln.Erfolge sind jedoch nur möglich, wenn dieser Prozessder Demokratisierung nicht allein eine Frage des forma-len Staatsaufbaus und demokratischer Institutionen ist.Ohne gesellschaftliche Verankerung bleiben freie Wah-len und auch freie Märkte lediglich formale Ordnungs-strukturen, die dann erst recht von mafiosen Strukturenmissbraucht werden können.Deshalb sind für uns der Aufbau und die Stärkung zi-vilgesellschaftlicher Strukturen in den Ländern Süd-osteuropas ein zentraler Angelpunkt für den Erfolg derEntwicklungszusammenarbeit und damit auch des Stabi-litätspaktes Südosteuropa. Aufgrund von Traditionenund Mentalität ist das in vielen Ländern Südosteuropaszum Teil sehr schwierig. Aber gerade deswegen solltenwir einen Großteil der Mittel aus der deutschen Ent-wicklungszusammenarbeit für die Arbeit der politischenStiftungen, der Kirchen, der Nichtregierungsorganisa-tionen und deren Partner vor Ort einsetzen, um in dieBreite wirkend diesen Demokratisierungsprozess undden Aufbau einer Zivilgesellschaft durch entsprechendeProgramme zu unterstützen und zu begleiten.
Den Weg einer erfolgreichen wirtschaftlichen Ent-wicklung werden die Länder Südosteuropas nur ein-schlagen, wenn die notwendigen wirtschaftlichen Re-formen ernsthaft durchgeführt werden und sozialeMarktwirtschaft nicht nur ein Lippenbekenntnis der Po-litiker ist, sondern tatsächlich im Wirtschaftsleben undin der Gesetzgebung stattfindet.Nach wie vor ist die Privatisierung in vielen Län-dern nur unzureichend vorangekommen. Die wirtschaft-liche Entwicklung muss die eigenen Anstrengungen derBevölkerung stützen. Sie wird sich nur entfalten, wennPolitik und Verwaltung den Investoren und Unterneh-men Planungssicherheit und Berechenbarkeit bieten, in-dem sie Eigentumsrechte praktisch schützen, Rahmen-gesetze geben und durchsetzen, eine stabile Währungbieten und die Eigenanstrengung durch eine angemesse-ne Wirtschaftsreform begleiten. Dazu gehört etwas, waswir auch in Deutschland dringend brauchen: ein transpa-rentes und einfaches Steuersystem. Dies alles sind auchentscheidende Voraussetzungen dafür, dass sich die Pri-vatwirtschaft in dem auch von der Bundesregierung ge-wünschten Maß stärker in Südosteuropa engagiert. Sehr unterschiedlich, meine Damen und Herren, ge-staltet sich die Situation der einzelnen Länder Südosteu-ropas hinsichtlich deren Fähigkeit, die eingesetzten undangebotenen Mittel tatsächlich zeitgerecht und in sinn-voller Weise umzusetzen. Vielfach ist festzustellen, dassdie staatlichen Institutionen, aber auch die privaten nurungenügend in der Lage sind, Projekte zu entwickelnund umzusetzen. Deshalb, finde ich, ist es in jedem Fallwichtig, dass wir nicht aus politischen Gründen jetzt aufeinen schnellen Mittelabfluss dringen. Sonst könnte esgeschehen, dass die Südosteuropahilfe sehr bald inMisskredit gerät und erst recht die Korruption fördert.Deshalb sollte die Anregung des Deutschen Instituts fürEntwicklungspolitik aufgegriffen werden, so genannteLänderfonds einzurichten.Meine Damen und Herren, die Reformpolitik in denLändern Südosteuropas kann sinnvoll unterstützt wer-den, indem ihnen eine Perspektive für einen Eintritt indie Europäische Union eröffnet wird. Die politischVerantwortlichen in den meisten Ländern Südosteuropaswollen jedoch einzeln, möglichst ohne Rücksichtnahmeauf die Entwicklung im Nachbarland den Weg nach Eu-ropa gehen. Leider ist das politische Denken trotz man-cher gemeinsamer Konferenzen nach wie vor davon ge-prägt, nicht auf regionale Integration, sondern eher aufAbgrenzung zu setzen. Jeder will der Erste auf dem Wegnach Europa sein. Durch unsere Außen- und Entwick-lungspolitik können wir dazu beitragen, dass die LänderSüdosteuropas zunächst einmal ihre eigenen Chancen inder regionalen Zusammenarbeit erkennen und nutzen.Mit Sicherheit lässt sich der Weg nach Europa gemein-sam leichter gehen als jeweils getrennt.
Angesichts der Vielzahl von Teilnehmern des Süd-osteuropapaktes ist eine effiziente Koordination not-wendig. Ich finde es allerdings sehr fraglich, ob mit derSchaffung neuer Institutionen tatsächlich ein Fortschritterzielt worden ist. Weil Sie so oft Bodo Hombach an-sprechen und loben mussten, möchte ich nur eines dazufeststellen – das ist einfach ein Fakt –: Bodo Hombachist der falsche Mann am falschen Ort.
Ohnehin, unabhängig von der Person, Herr Erler, findeich, ein EU-Koordinator für Südosteuropa gehört nichtauf die weichen Sessel in Brüssel, sondern auf die harteBank des Balkan, nach Skopje, Pristina oder Sarajevo.
Für einen partnerschaftlichen Umgang mit den Län-dern Südosteuropas gilt wie auch sonst im Leben: Daseigene gute Beispiel wirkt ansteckend und überzeugend.Wir fordern von den Ländern Südosteuropas Effektivi-tät, schlanke Verwaltung, schnelle Entscheidungen, per-fekte Organisation, Reformbereitschaft, Koordinations-fähigkeit und empfehlen beratend unsere Dienste. Undsie stellen zu Recht die Rückfrage an uns: „Was machteigentlich ihr mit uns?“ Ist das, was wir Europäer da anOrganisation, an Koordination, an Beauftragtentum auf-gebaut haben, nicht ein Lehrstück, das dem, was wir denLändern selbst empfehlen, diametral entgegensteht?Peter Weiß
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7734 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
In einem Gespräch mit deutschen Parlamentariernfragte der mittlerweile nach innenpolitischen Querelengestürzte Ministerpräsident Albaniens mit einem ironi-schen Unterton: „Der Stabilitätspakt – was ist das?“ Ichbefürchte, wenn man alles nur schönredet, wird dieserironische Unterton weiter bestehen bleiben. Die „FAZ“schreibt heute: Und doch nährt der Stabilitätspakt nach einem hal-ben Jahr seiner fast unsichtbaren Existenz eherVerdruss als Hoffnung.Meine Damen und Herren, wir sollten gemeinsam allesdaransetzen, dass sich in Südosteuropa die Hoffnungdurchsetzt und nicht der Verdruss. Vielen Dank.
Ich schließe dieAussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Anträge derFraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 14/2569 und der Fraktion der F.D.P. aufDrucksache 14/2584 sowie den Entschließungsantragder Koalitionsfraktionen auf Drucksache 14/2575 zurfederführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschussund zur Mitberatung an den Ausschuss für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und denAusschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnion zu überweisen, wobei der Entschließungsantragnicht an den letztgenannten Ausschuss überwiesen wer-den soll. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Dasist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-sen. Weiterhin wird vorgeschlagen, die Anträge der PDSauf den Drucksachen 14/2387 und 14/2388 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie an denAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung zu überweisen. – Damit sind Sie einverstan-den. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Der Antrag der PDS auf Drucksache 14/2573 soll zurfederführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschussund zur Mitberatung an den Ausschuss für Verkehr,Bau- und Wohnungswesen, den Ausschuss für Umwelt,Naturschutz und Reaktorsicherheit und den Ausschussfür Menschenrechte und humanitäre Hilfe überwiesenwerden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Dasist nicht der Fall. Dann ist auch diese Überweisung sobeschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis d sowie Zu-satzpunkt 5 auf: 4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eduard Oswald, Dirk Fischer , Dr.-Ing. Dietmar Kansy, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion der CDU/CSU Zukunft sichern – Verkehrsinfrastruktur-investitionen verstärken – Drucksache 14/2360 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnion Haushaltsausschuss 4 b) Beratung der Unterrichtung durch dieBundesregierung Straßenbaubericht 1998 – Drucksache 14/245 – Überweisungsvorschag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus 4 c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.Winfried Wolf, Christine Ostrowski, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS Geschwindigkeitsbegrenzung auf 130 km/hauf Autobahnen – Drucksache 14/1082 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit 4 d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.Winfried Wolf, Christine Ostrowski, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS Für eine sozial, finanziell und ökologischnachhaltige Bundesverkehrswegeplanung – Drucksache 14/2262 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 5 Beratung des Antrags der AbgeordnetenHorst Friedrich , Hans-MichaelGoldmann, Dr. Karlheinz Guttmacher, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Straßenbau statt Autostau – Drucksache 14/2582 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen LänderPeter Weiß
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Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union HaushaltsausschussEs liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen derSPD und Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeEduard Oswald, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich mich um-blicke und sehe, dass der Herr Bundesminister nochnicht da ist, gehe ich davon aus, dass er noch im Stausteht, wie auch der eine oder andere der Kolleginnenund Kollegen. Nur so kann ich mir das erklären. Auchdas ist eines der Themen, derentwegen wir eine umfang-reiche Verkehrsdebatte führen. Es ist gut, dass wir unsZeit nehmen, ausführlich über die Verkehrspolitik zusprechen. Mit unserem Antrag „Zukunft sichern – Verkehrsinf-rastrukturinvestitionen verstärken“ wollen wir deutlichmachen, dass in einer durch Arbeitsteilung und Globali-sierung geprägten Wirtschaft Mobilität ein Schlüsselfak-tor für die künftige Entwicklung des StandortesDeutschland ist. Nur eine gut ausgebaute Infrastruktur,die eine schnelle, flexible, zuverlässige und kostengüns-tige Mobilität von Gütern und Personen ermöglicht, bie-tet die Chance, im internationalen Wettbewerb mithaltenzu können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, gegenwärtig stelltsich die Lage für den Verkehrsteilnehmer so dar: Erwird zur Kasse gebeten und beim Straßen- und Eisen-bahnbau wird massiv gekürzt. Ihr Investitionsprogramm1999 bis 2002 ist Stillstand statt Offensive.
Unser Antrag enthält zahlreiche Anstöße zur Verbes-serung der Verkehrsinfrastruktur des Bundes und dies istnotwendig. Der Bundesminister, Reinhard Klimmt, hatkürzlich in einem Interview klar gesagt: Ich werde umjede Mark kämpfen. Das ist gut so; unser Antrag wirdihm dabei helfen. Ich bitte, ihm das mitzuteilen.Wir meinen, dass es sinnvoll ist, die Mineralölsteuerin festzulegenden Anteilen zweckgebunden für denBundesfernstraßenbau zu verwenden, nicht nur, um mitdem durch den Straßenverkehr erbrachten Aufkom-men Finanzierungslücken im Bundesfernstraßenbau zuschließen, sondern auch, um dem Autofahrer das Be-wusstsein zu vermitteln, dass ihm die Mineralölsteuer zueinem großen Teil wieder zugute kommt.
Tatsache ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, dassdie gegenwärtige Finanzausstattung nicht ausreicht, umweitere dringlichste Vorhaben aus dem Bedarfsplan fürden Ausbau der Bundesfernstraßen und aus dem Schie-nenwegeausbauprogramm zu realisieren. Als besondersgravierend erweist sich die Finanzlücke im Bundesfern-straßenbau. Die Straße mit ihren auch künftig zu erwar-tenden Zuwächsen ist der Verkehrsträger Nummer eins.Deswegen brauchen wir mehr Investitionen.Nach Ihren eigenen Aussagen ist der Stau auf denStraßen zu 40 Prozent auf nicht ausreichende Straßen-kapazitäten zurückzuführen. Die Zeitverluste schlagenvolkswirtschaftlich mit Kosten in Milliardenhöhe durch.Die Universität Köln hat in einer Studie nachgewiesen,dass jede D-Mark, die beim Ausbau des Straßennetzeseingespart wird, einen volkswirtschaftlichen Verlust von3 DM nach sich zieht. Tatsache ist: Die Qualität unsererVerkehrsinfrastruktur bestimmt die Qualität des Stand-ortes Deutschland. Die Länderverkehrsminister habenerrechnet, dass nach dem vorliegenden Investitionspro-gramm für die Jahre 1999 bis 2002 allein im Bundes-fernstraßenbau eine jährliche Finanzierungslücke von4 Milliarden DM bleibt. Sie wissen doch aus IhrenWahlkreisen, wie hoch der tatsächliche Bedarf ist. Den-ken Sie nur an die zahlreichen notwendigen Ortsumfah-rungen! Hier ist Straßenbau Menschenschutz, liebe Kol-leginnen und Kollegen.
Wir müssen die Straße als Rückgrat unseres gesamtenVerkehrssystems anerkennen und als Konsequenz denökologisch und ökonomisch ausgewogenen Neu- undAusbau des Bundesstraßennetzes weiter vorantreiben.Übrigens: Bereits mit einem Pfennig aus dem Mineral-ölsteueraufkommen kann der Bundesfernstraßenetat umrund 700 Millionen DM aufgestockt werden.Da Bundesminister Reinhard Klimmt – zu Recht –gesagt hat: „Ich werde um jede Mark kämpfen!“, möchteich ihm vorschlagen, die zusätzlichen Einnahmen ausdem Mehrwertsteueraufkommen des Bundes durch denAnstieg der Kraftstoffpreise zugunsten von Investiti-onsmaßnahmen in den Verkehrssektor zurückfließen zulassen.
Nach Verteilung des Mehrwertsteueraufkommens aufBund und Länder verbleiben dem Bund mindestens 1,8 Milliarden DM mehr in der Staatskasse. Wir forderndies gerne laufend, damit es der Finanzminister immerwieder hört.Wenn man zudem berücksichtigt, dass 1 Milliar-de DM an Investitionsvolumen 12 000 bis 15 000Arbeitsplätze im Bau- und Zulieferbereich bindet,bedeutet dies gleichzeitig einen wertvollen Beitrag fürunseren Arbeitsmarkt.Wir begrüßen, dass die Bundesregierung in einer Ex-pertenkommission über neue Finanzierungsmodellenachdenken lässt. Vieles deutet darauf hin, dass Sie neueWege gehen wollen.
Nur, jeder muss wissen, dass dann der Autofahrer mög-licherweise zweimal zur Kasse gebeten wird: einmaldurch die Mineralölsteuer und dann noch einmal überVizepräsidentin Anke Fuchs
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7736 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
mögliche zusätzliche Gebühren. Ein zweimaliges Kas-sieren kommt für uns nicht infrage.
Mit Interesse warten wir auf Ihre Vorschläge, auch aufdie koalitionsinternen Debatten dazu. Jetzt sind Sie amZug.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Nachfrage nachMobilität wird auch in Zukunft steigen. Die Mobilitätvon Bevölkerung und Wirtschaft ist eine wichtige, jaentscheidende Voraussetzung für die Produktivität einerVolkswirtschaft. Verkehr ist Wirtschaftsmotor und keinSelbstzweck; dies kann man nicht oft genug wiederho-len.Wenn wir wissen, dass in jedem Jahr die Verkehrs-menge um 2 bis 3 Prozent steigt, und wenn wir wissen,dass sich die Verteilung auf die Verkehrsträger nur ge-ringfügig verändert, dann ist es unsere Aufgabe, auch inein leistungsfähiges Schienennetz zu investieren. Wir haben gestern im Ausschuss für Verkehr, Bau-und Wohnungswesen über vier Stunden – das kann ichallgemein sagen – ein wertvolles, wichtiges Gesprächmit dem neuen Bahnvorstand Hartmut Mehdorn geführt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen die Leistungsfähigkeit der Bahn verbessern, indem wir dieRahmenbedingungen für den Eisenbahnverkehr insge-samt verbessern und indem die Investitionen es derBahn ermöglichen, ihr Streckennetz zu modernisierenund zu erweitern, um einen größeren Anteil des allge-meinen Verkehrszuwachses aufzunehmen. Eine der gro-ßen Schlüsselfragen ist, ob wir in Europa für die Bahndie Netzöffnung schaffen. Ich halte dies schlechthin fürdie Zukunftsfrage des Rad-Schienen-Systems.
Wir werden alle Vorschläge zu einer möglicherweiseneuen Politik der Bahn nach Folgendem beurteilen: Ers-tens. Was bringen sie für den Bahnkunden?Zweitens werden wir auch an der grundsätzlichenFrage festhalten: Kommen durch diese Politik zusätzli-che Verkehre auf die Schiene? Drittens. Für uns wird es wichtig sein, dass alle Regi-onen der Republik an das Fernschienennetz angebundenund eingebunden sind. Uns geht es um die gleichmäßigeErschließung aller Räume in unserem Lande, um die Er-schließung der Fläche. Ein einseitiges Schielen nur aufdie Zentren wäre und ist nicht unsere Politik.
Viertens. Der Schlüssel für eine neue Bahnpolitikliegt in den Antworten für den Güterverkehr. Hier ist ei-ne Verlagerung von der Straße auf die Schiene geradeim Langstreckenbereich notwendig. Wir müssen unsimmer wieder vergegenwärtigen, dass der LKW für unsalle unverzichtbar bleibt. 80 Prozent aller LKW-Fahrtenfinden in einem Bereich bis zu 100 km statt. Daher wis-sen wir um die Grenzen der Verlagerung. Wir alle wissen, dass wir die Straßen nicht so ausbau-en können wie der Verkehr wächst. Deswegen muss dieBahn gerade im Güterverkehr einen gewaltigen Sprungnach vorne machen. Natürlich müssen wir uns darüberim Klaren sein, dass eine Verlagerung von lediglich10 Prozent der Straßengütertransporte auf die Schieneein Wachstum der dort erbrachten Verkehrsleistung von50 Prozent erfordert. Dem Güterverkehr muss also unse-re besondere Aufmerksamkeit gelten. Wir müssen hierdie Schiene verbessern, ohne die Straße zu verteuern.Denn die internationale Konkurrenz ist da. Der Gütertransport auf der Schiene muss schnellerund billiger werden. Dies geht nur mit mehr Logistikund möglicherweise mit mehr Wettbewerb. Die Vernet-zung der Verkehrsträger muss stärker vorangetriebenwerden. Unser Ziel muss der Aufbau einer Ver-kehrsinfrastruktur sein, in der sich die jeweiligen Syste-me stärker ergänzen, in der das Gesamtsystem Verkehrgestärkt wird. Die Mobilitätsbedürfnisse der Zukunftlassen sich nur mit integrierten Verkehrssystemen be-friedigen, die allerdings eine intelligente Infrastrukturvoraussetzen. Gemeinsam wissen wir, dass Infrastruk-turkapazitäten nicht beliebig vermehrbar sind. Es gilt,Verkehre zu vermeiden, Verkehre zu verlagern undVerkehre verträglicher abzuwickeln. Aber eines wissen wir: Ohne einen Ausbau der Ver-kehrsinfrastruktur wird es nicht gehen. Dazu brauchtman mehr Geld. Wir wollen die Mobilität sichern, denStandort stärken, eine leistungsfähige Verkehrsinfra-struktur schaffen und erhalten und die Sicherheit auf allunseren Verkehrswegen verbessern. Unterstützen Sieunseren Antrag!Vielen herzlichen Dank.
Ich erteile nun dem
Kollegen Reinhold Hiller, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Ganz zum Schluss, lieberKollege Oswald, hätte ich fast geklatscht,
denn Ihre Ausführungen zur Bahnpolitik finden, schätzeich, die Zustimmung des ganzen Hauses. Das kann mannicht bestreiten und das sollte man dann auch sagen.
Allerdings ist Ihr Antrag eher der verzweifelte Ver-such, die gescheiterte Verkehrspolitik der alten Regie-rung aufzuarbeiten.
Denn vieles von dem, was in dem Antrag steht, hättenSie tun können, haben es aber leider versäumt. Das mussman Ihnen sagen.Eduard Oswald
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7737
Sie machen den Eindruck, als wenn Sie kurzatmig einerneuen erfolgreichen Politik der Regierung in Berlin,aber auch der Landesregierung in Kiel hinterherhecheln.Bei einigen Bildern, die mir ins Bewusstsein kom-men, muss ich die F.D.P. anschauen. Das ist eine Partei,die seit 1969 an jeder Mineralölsteuererhöhung betei-ligt war. Sie haben es geschafft, auf 1,90 DM zu kom-men. Ein Jahr später machen Sie diese lächerliche Tank-stellenaktion. Ich finde, so leicht kann man sich von dereigenen Vergangenheit nicht verabschieden.
Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass wir mit einerschwierigen Erblast zu kämpfen haben. Jahrelang habenSie immer neue Ortsumgehungen und Autobahnab-schnitte versprochen. Sehr häufig waren die Spatensti-che Ihre einzigen Aktionen hinsichtlich Ihrer Verspre-chungen. Dabei mussten Sie schon damals wissen, dassSie viele Ankündigungen und Versprechungen nichtwürden einhalten können. Sie haben bewusst ungedeckteSchecks auf die Zukunft ausgestellt und den Bruch vonWahlversprechungen zumindest billigend in Kauf ge-nommen.Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dassIhre Aktionen finanziell nicht abgesichert waren.
Kollege Börnsen ist ja jetzt hier eingetroffen. Ich willIhnen das gerne am Beispiel Schleswig-Holsteins vor-rechnen.Die tatsächlich getätigten Investitionen in Schleswig-Holstein sanken zwischen 1994 und 1998 von 239 Mil-lionen DM auf 210 Millionen DM. Das sind die Fakten.Dass Sie jetzt unruhig werden, kann ich verstehen.
Die neue Regierung hat dieser BenachteiligungSchleswig-Holsteins ein Ende gemacht.
1999 wurden in diesem Bundesland – das gilt für dieanderen Bundesländer teilweise genauso –
247 Millionen DM investiert. Das sind 40 Millionen DMmehr als bei der alten Bundesregierung.
Allein für Schleswig-Holstein betrugen die Luftbuchun-gen der Regierung Kohl für diese Legislaturperiode193 Millionen DM. 1999 waren nur 32 Prozent des tat-sächlichen Bedarfs gedeckt und auch im Jahr 2002 wirdes nur ein Drittel sein. Es scheint also so, dass bei denVerkehrsinvestitionen die chronische Unterdeckungdurch großherzige Versprechungen und Ankündigungenausgeglichen werden soll.Diese verheerende Ausgangslage haben wir vorge-funden. Deshalb ist es absurd, dass die CDU und dieF.D.P. jetzt in Schleswig-Holstein den Vorwurf erheben,wir hätten das Land Schleswig-Holstein bei der Ver-kehrspolitik vernachlässigt. Sie wissen ganz genau – ichwill es hier gerne noch einmal sagen –: Die Ostseeauto-bahn A 20 im Raum Lübeck ist im Bau. Davon könnenSie sich, wenn Sie das nicht wissen, alle selber überzeu-gen, indem Sie sich das anschauen. Die technischenBauwerke sind in der Landschaft deutlich sichtbar undder Lückenschluss zwischen Lübeck und der mecklen-burgischen Nachbarschaft wird spätestens im Jahr 2002fertig gestellt werden.Diese Mittel sind auch im Sofortprogramm niederge-legt. Als regional Beteiligter will ich Ihnen einmal sa-gen: Ich kenne eigentlich in Westdeutschland keine ein-zige Autobahn, die so schnell von der Planung bis zurFertigstellung gekommen wäre. Das muss man leider sosagen. Daran haben auch Sie Ihren Anteil, aber das soll-te man vor allem den Verkehrspolitikern wirklich aner-kennen. Denn die Menschen in Mecklenburg-Vor-pommern brauchen diese Verkehrsverbindung ganzdringend. Ich glaube, darüber besteht Einigkeit.
Deshalb appelliere ich an Sie, damit aufzuhören, dieseDinge ständig infrage zu stellen.Dann haben Sie – das tun Sie jetzt im Wahlkampfauch immer – die Frage gestellt, wie es mit dem Weiter-bau der A 20 mit der Elbquerung westlich von Ham-burg aussieht. Es stimmt, dass dieser Streckenabschnittnicht im Sofortprogramm bis zum Jahr 2002 enthaltenist, was zu vielen Irritationen in Schleswig-Holstein ge-führt hat. Das liegt aber daran, dass in dieses Programmnur Vorhaben aufgenommen worden sind, die bereitsbaureif und gerichtsfest sind. Ich finde, das ist eine seri-öse Politik. Sie können die Urteile zum Bau der A 20selbst durchlesen und werden erkennen, welche Gefah-ren im Rahmen dieser Infrastruktur letztlich bestehen,wenn man dabei bleibt, Ankündigungen zu machen, oh-ne dass man gerichtsfeste und baureife Planungen hat.Insofern gibt es auch da keinen Anlass für Kritik an die-ser Bundesregierung. Wir als SPD-Fraktion unterstützen eindeutig die posi-tiven Aussagen von Bundesverkehrsminister Klimmtzum Weiterbau der A 20. Das können Sie auch imWahlkampf nicht zerreden.
Dies gilt natürlich auch für die Landesregierung. Ichglaube, auch darüber gibt es, wenn man bei der Sachebleibt, überhaupt keinen Streit. Deshalb bin ich der Mei-nung, dass sich diese Dinge gar nicht so sehr für denWahlkampf eignen.Reinhold Hiller
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7738 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
Trotz leerer Kassen sind darüber hinaus wesentlicheProjekte in Schleswig-Holstein abgesichert worden, dievorher nicht abgesichert waren. Das betrifft die Ortsum-gehung in Neumünster oder auch die Verlegung derB 207 in Groß Grönau im Zusammenhang mit der A 20.Ich will die Projekte jetzt nicht im Einzelnen nennen.Wir werden diesen Weg weitergehen. Zum erstenMal ist ein Bundeskanzler in Schleswig-Holstein gewe-sen, der sich in Übereinstimmung mit der dänischen Re-gierung für den Bau einer festen Beltquerung ausgespro-chen hat. Das sollten Sie auch einmal anerkennen.
– Ich finde es ganz toll, dass Sie klatschen. Damit sindSie jetzt wieder auf der Linie der schleswig-holsteini-schen F.D.P. Neulich bei einer Begegnung mit däni-schen Kolleginnen und Kollegen hat das bei Ihnen, HerrKollege Friedrich, ganz anders geklungen.
– Dies ist erfreulich. Und wenn Sie dem zustimmen,dann sollten Sie dies auch so tun und sich nicht so un-diplomatisch verhalten, wie es Herr Rühe in Schleswig-Holstein tut, indem er sich höhnisch über die Gäste ausSkandinavien geäußert hat. Ich finde, wenn es positiveDinge gibt, dann sollte man diese letztlich auch positivherausstellen.
– Sie haben Recht. Deshalb haben Sie auch Ihren Antrageingebracht, und deshalb haben wir auch Ihre diesbe-züglichen Äußerungen zu den verkehrspolitischen The-men in Schleswig-Holstein vernommen. Daher begrüßeich, dass ich bei dieser Gelegenheit etwas dazu sagenkann.Zur Ostsee-Kooperation ist in dieser Woche auf ei-ner Veranstaltung der schleswig-holsteinischen Landes-regierung vom Botschafter der USA ein dickes Lob fürdie Landesregierung in Kiel ausgesprochen worden, dasauch geopolitische Bedeutung hat. Ich glaube, dass mandarauf besonders stolz sein kann.Meine Damen und Herren, auch bei der Schiene hatman sich seitens der Bundesregierung und seitens derLandesregierung darauf verständigt, die Planungskostenfür die Elektrifizierung der Strecke Hamburg – Lübeckzu teilen. Das ist etwas Neues und dafür sollte man derBundesregierung Dank sagen.
Denn Sie haben es in der Vergangenheit lediglich ge-schafft, über dieses Projekt zu reden.Sie, Herr Kollege Oswald, haben die Verknüpfungenangesprochen. Das betrifft insbesondere die Häfen, überdie in diesem Hause viel zu wenig gesprochen wird.Auch in diesem Falle ist es so, dass sich der Bund an derEntwicklung von KLV-Terminals in den Häfen nichtnur in Schleswig-Holstein, sondern überall an der Küstebeteiligt. Auch das muss man hier einmal sagen. Das istsehr erfreulich. 28 Millionen DM sind bewilligt worden,um zum Beispiel in Lübeck ein Terminal für den kom-binierten Ladungsverkehr zu bauen und Trailer-Wechselbehälter und Container schnell und wirtschaft-lich umschlagen zu können.Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Investi-tionen im Verkehrsbereich – auch da kann ich meinemVorredner zustimmen – dienen nicht nur der Infrastruk-tur, sondern sie schaffen auch Arbeitsplätze. Auf dieseBundesregierung kann man sich verlassen und deshalbdarf ich meine Ausführungen mit einem Dank an Ver-kehrsminister Klimmt beenden.Danke.
Jetzt hat der Kollege
Horst Friedrich, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsiden-tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen!Lieber Kollege Hiller, das war eine gelungene Wahl-kampfrede, allerdings offensichtlich im falschen Parla-ment. Es wäre besser gewesen, sie in Schleswig-Holstein zu halten.
Das Muster war ein bisschen kleinkariert.Um wenigstens bei den Fakten zu bleiben: Dass dieMineralölsteuer 1,90 DM beträgt, kann man in diesemHaus nicht so stehen lassen.
Wir haben die Mineralölsteuer von 49 auf 98 Pfenni-ge angehoben. Das ist richtig. Dazu stehen wir auch.Wir haben im Gegenzug dem Autofahrer damals aberauch immer das Kilometergeld erhöht, um zumindest inder Fläche die Möglichkeit des Ausgleichs zu schaffen,was Sie bis jetzt schuldig geblieben sind.
Ihr Motto zur Erhöhung der Ökosteuer lautet ja: Ra-sen für die Rente, damit Entsprechendes in der Kassebleibt. Der Autofahrer wird abgezockt, ohne dafür etwaszu bekommen. Ihre mittelfristige Finanzplanung unter-mauert dies, denn die Investitionen im Verkehrsbereichwerden abgesenkt.
Zur A 20, lieber Kollege Hiller, kann ich sagen: Siewaren immer dafür. Ich freue mich auch, dass Sie akzep-tieren, dass man so etwas schnell bauen kann. Ich willhier nur noch einmal feststellen: Das Verkehrswegepla-Reinhold Hiller
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nungsbeschleunigungsgesetz wurde gegen die Stimmender SPD durchgesetzt
und die Investitionsmaßnahmengesetze im Zusammen-hang mit der A 20 auch. Offensichtlich hatten wir dochdie besseren Argumente damals.
Wenn Sie mich schon bei der festen Fehmarnbelt-querung in die Pflicht nehmen wollen: Erstens habe ichgesagt, wir müssen über das Thema ordentlich nachden-ken. Ich glaube nicht, dass es in Deutschland erste Prio-rität hat. Ich sehe momentan auch noch nicht die abgesi-cherte Finanzierung für diese Maßnahme.
Insofern sollte man vielleicht Gästen aus Dänemarknicht etwas versprechen, was in dieser Form in keinereinzigen Planung, auch von Ihnen nicht, bisher im In-vestitionsplan abgesichert ist. Meine Damen und Herren!Der Bundesverkehrswegeplan ist fürchterlich unter-finanziert. Er liest sich seit Jahren wie ein Mär-chenbuch. Wir müssen endlich einen ehrlichen Planaufstellen. Es ist fraglich, ob wir genug Geld haben,um die Infrastruktur auszubauen und auf Dauer zuunterhalten. An diese Fragen wird der Verkehrsminister ganzgrundsätzlich drangehen. Das kann zu weitreichen-den Konsequenzen führen, etwa zum Privatbetrieboder zur privaten Errichtung von Straßen, Schienenoder Verkehrswegen. Denn eines kann sich dieBundesrepublik auf keinen Fall leisten: eine unge-nügende Infrastruktur.
Sie werden sich jetzt wundern: Ich habe soeben denBundesminister der Finanzen, Hans Eichel, aus einemInterview zitiert, das er im Juni letzten Jahres dem„Stern“ gegeben hat.
In einem hat er Recht: Wir können es uns nicht leis-ten, eine ungenügende Infrastruktur zu haben.
Wenn ich allerdings die Messlatte seines Haushaltes undder Dotierung des Investitionsplanes an dem messe, waser dem „Stern“ gesagt hat, kann ich nur sagen: Ziel klas-sisch verfehlt.
Das Letzte, was wir uns in Deutschland im globalenWettbewerb leisten können, ist eine schlechte Infrastruk-tur, insbesondere aber auch schlechte Straßen, da nurflexible Transportleistungen der Arbeitsteiligkeit derWirtschaft dienen und damit auch die entsprechendenBeschäftigungseffekte und Arbeitsplatzsicherheit schaf-fen. Die tatsächliche Entwicklung des Straßenverkehrs inDeutschland hat aus mehreren Gründen alle Prognosenbei der Erstellung des Bundesverkehrswegeplans 1992bereits weit übertroffen. Wirklich verantwortliche Poli-tik muss sich deswegen auch an den tatsächlichen Ver-kehrsmengen und -strömen orientieren.
Alle seriösen Prognosen von ernst zu nehmenden In-stituten, angefangen beim Ifo-Institut, weisen darauf hin,dass der Personenverkehr bis zum Jahr 2010 um weitere30 Prozent und der Güterverkehr auf deutschen Straßenum weitere 60 Prozent zunehmen werden. Deswegenmüssen die Investitionen dem Bedarf einer arbeitsteili-gen Volkswirtschaft angepasst werden und dürfen nichtnach unten gefahren werden.
Der Schienenverkehr kann bei allen Anstrengungen,Hilfen und Investitionen keine wesentliche, spürbareEntlastung bringen. Wenn er in der Lage sein soll, denprognostizierten Zuwachs aufzunehmen, müsste er sichgegenüber dem jetzigen Stand fast verdreifachen. Der-zeit besteht ein Verhältnis von 60 : 20 zwischen Straßeund Schiene im Güterverkehr, beim Personenverkehrliegt das Verhältnis klassisch bei 90 : 8. Das Entscheidende – das hat Herr Mehdorn gesternim Verkehrsausschuss zugegeben – ist, dass die Bahnderzeit kein in sich schlüssiges Logistikkonzept anbie-ten kann. Sie wird es auf Dauer auch nicht anbietenkönnen, und genau das ist das eigentliche Problem. Esnützt doch nichts, einen Verkehrsträger zu bestrafen,ohne dass der andere in Zukunft in der Lage ist, über-haupt Güter in signifikantem Umfang zu übernehmen.
Darüber hinaus – das ist bereits vom Vorsitzendendes Verkehrsausschusses gesagt worden – muss man ak-zeptieren, dass der Großteil der Güter über Entfernungenvon unter 100 Kilometern oder nur knapp darüber trans-portiert wird. Das ist eine klassische nicht bahnaffineEntfernung. Der Anteil der Güter, der auf dieser Strecketransportiert wird, wird zunehmen, weil die Verlagerungder Transporte von schweren Massengütern wie Kohleoder Stahl hin zu hochwertigen Kaufmannsgütern, diezeit- und kostenempfindlich sind, zunimmt. Deswegenwerden auch die Verteilungsströme kleinteiliger. Aufdiese Tendenzen muss man Antworten geben. Das kannman nicht dadurch tun, dass man die Straßeninfrastruk-tur in den jetzigen Planungen zusätzlich vernachlässigt.Angeblich haben Sie doch schon erkannt, wo der Pferde-fuß ist. Horst Friedrich
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7740 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
– Sie können uns noch eine Zeit lang vorwerfen, wir hät-ten unseren Verkehrshaushalt ungenügend dotiert. Ichgehe jetzt die Aufstellung in der Fragestunde durch, dieder Kollege Ibrügger bezüglich der Frage des KollegenFischer aufgeführt hat. Bei dem Vergleich der Zahlenstellt sich heraus, dass wir mehr Investitionsmittel zurVerfügung gestellt haben, als Sie es derzeit tun.
Dabei haben Sie jetzt bereits zweimal zusätzlich indie Taschen der Autofahrer gegriffen. Der KollegeSchmidt behauptet nach wie vor, in den Jahren 1999 und2000 würde es mehr Investitionsmittel geben. Betrach-ten wir es wirklich ernsthaft: Die Steigerung in 1999 istausschließlich darauf zurückzuführen, dass es 100 Mil-lionen DM mehr für den Ausbau von Eisenbahnkreu-zungen, einer Last, die von den Kommunen auf denStraßenbauhaushalt übertragen worden ist, gegeben hat.
– Es ist verschoben worden. Es kommt keine Mark inden Straßenbau. Es werden Aufgaben in den Straßen-bautitel verschoben, die vorher ganz woanders waren.Wenn das Ihr Rechenexempel ist, dann ist das ein wenigkurz gehüpft.
Tatsächlich haben Sie schon 30 Millionen DM wenigerausgegeben.
Fakt ist: Sie erhöhen mit Ihren Ökosteuerschritten dieZahllast für den Autofahrer auf 110 Milliarden DM. Siehaben eine mittelfristige Finanzplanung vorgelegt, in derdie investiven Ansätze auf 22 Milliarden DM im Jahre2003 reduziert werden. Das heißt, Sie ignorieren nachwie vor den mittlerweile dreimal gefassten Beschlussder Verkehrsminister des Bundes und der Länder, dassfür die Finanzierung der Straßeninfrastruktur 4 Milliar-den DM zu wenig zur Verfügung stehen: 1 Milliar-de DM für den Erhalt der bestehenden Infrastruktur und3 Milliarden DM für den Ausbau. Diese Beschlüsse sindimmer einstimmig von allen Verkehrsministern, egal,welcher parteipolitischen Couleur sie angehört haben,gefasst worden.
Das Einzige, was zutrifft, ist Folgendes: Der deutscheAutofahrer hat einen Trost: Die Luft im Stau wird bes-ser. Prägnanter kann man die Ergebnisse einer Shell-Studie nicht zusammenfassen, in der steht, dass die Zahlder PKW demnächst von 42 Millionen auf 51 Millionenzunimmt, aber die Schadstoffbelastung geringer ist alsAnfang der 90er-Jahre.Ich sage es noch einmal: Das ist angesichts der vonIhnen veranlassten Abzockerei der Autofahrer ein billi-ger Trost; denn der Stau ist nun einmal nicht wegzudis-kutieren. Die Verkehrsentwicklung hat seit 1960 um sa-ge und schreibe 900 Prozent zugenommen, die Entwick-lung der Infrastruktur gerade einmal um 50 Prozent.Deswegen haben wir, die F.D.P., einen Vorschlag in un-serem Antrag „Straßenbau statt Autostau“ gemacht, derschrittweise systemgerechte Verstärkungen der Investi-tionsmittel vorsieht.
Wir fordern in einem ersten Schritt eine Aufstockungdes Straßenbautitels des Bundes um 1,3 Milliarden DM.Um dem Vorwurf der Unseriosität bei diesem Vorschlagzu entgehen, haben wir natürlich auch gleich die Gegen-finanzierung vorgelegt. Wir fordern Sie hier auf, diebisher vorliegende zeitbezogene Vignette für den LKWin eine zweckgebundene Vignette umzuwandeln – dassind immerhin knapp 800 Millionen DM – und endlichdas Wibera-II-Gutachten für die Zahllast für den Nah-verkehr zwischen Bund und Ländern gesetzlich umzu-setzen. In diesem Gutachten, das einvernehmlich vonBund und Ländern akzeptiert worden ist, wird festge-stellt, dass der Bund, gemessen am Status-quo-Verkehr1992, für den Nahverkehr jährlich eigentlich 500 Millio-nen DM zu viel an die Länder bezahlt. Um auch dem nächsten Vorwurf gleich entgegenzu-treten: Das heißt nicht, dass wir uns aus der Finanzie-rungsverantwortung des Bundes zurückziehen wollten;wir bleiben ja bei über 12 Milliarden DM. Es geht da-rum, das im Gesetz festgelegte Verfahren endlich umzu-setzen. Man kann das auch sein lassen. Dann muss manes aber als Regierung ebenso gesetzlich festlegen undsagen: Wir möchten den Vollzug dieser 500 Millio-nen DM nicht. Auch das kann man dem Autofahrer er-klären, denn auch diese Abgaben werden aus der Mine-ralölsteuer finanziert.
Auch das muss besprochen und festgestellt werden. Das zweite Element ist die Forderung, dass der Bun-desverkehrsminister sein Programm zur Beseitigung von Engpässen und Stauschwerpunkten nicht erst imJahr 2003 auflegt, sondern es auf das Jahr 2001 vor-zieht.
Im langen Weg ist das für uns ein Einstieg zur lang-fristigen Umstellung der Finanzierung der Straßenver-kehrsinfrastruktur auf ein verursachergerechtes und effi-zientes System in „Public-Private-Partnership“ unterEinbeziehung ausländischer Nutzer. Auf dem Weg dahinfordern wir, dass erstens die Möglichkeiten des seit 1994bestehenden Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetzeszielgerichtet erweitert werden sollen, um entsprechendeErfahrungen zu sammeln, dass zweitens unverzüglichHorst Friedrich
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7741
mit der Ausschreibung von Modellprojekten begonnenwird
und dass drittens im Zusammenhang mit den Modellpro-jekten und der Gesetzesänderung ein Zeitplan zur Um-stellung des Systems der Finanzierung der Straßeninfra-struktur aufzustellen ist.Das ist, meine Damen und Herren Kollegen, schondeshalb notwendig, weil das EU-Recht ja verbietet,gleichzeitig zeitbezogene Vignetten und nutzer-abhängige Entgelte auf der gleichen Strecke einzufüh-ren. Das heißt im Endeffekt: Wir werden uns dann über-legen müssen – auch, wenn es Modellprojekte im Detailsind –, ob das EU-Recht nicht unter Umständen bereitsgegen eine solche gleichzeitige Einführung steht. Des-wegen muss das zügig und im Zusammenhang darge-stellt werden.Ziel der ganzen Operation muss es sein, dem Auto-fahrer in Deutschland zu signalisieren, dass er von dervon ihm finanzierten gigantischen Summe von110 Milliarden DM wenigstens den Anteil zurückbe-kommt, der einigermaßen dem bereits seit 1960 beste-henden Gesetz entspricht, wonach Steuern und Abgabenzweckgebunden dem Straßenverkehr zurückzugebensind.
– Herr Kollege Schmidt, es war 1960 in Deutschland be-reits Gesetz, dass so etwas zweckgebunden ist. Sie sa-gen, es gibt keine zweckgebundene Steuer. Die Mineral-ölsteuer ist zweckgebunden, zumindest zum Beispiel zurFinanzierung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgeset-zes. Wir sollten uns hier nicht gegenseitig mit Halbwahr-heiten überzeugen wollen. Eine Zweckbindung mussvorgenommen werden, und das ist auch möglich, wennder politische Wille dazu vorhanden ist. Dieser Wille istbei Ihnen nur nicht vorhanden. Sie nutzen den Autofah-rer in Deutschland als billige Melkmaschine,
was die Finanzierung angeht, um Ihre Versprechen ein-zulösen, und senken gleichzeitig die Investitionen in dieInfrastruktur aller Verkehrsträger.
Das ist eigentlich das, was man Ihnen politisch vorwer-fen muss.
Nun erteile ich demKollegen Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen, dasWort.Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Wir sollten weniger über landwirt-schaftliche Geräte sprechen, sondern besser über denVerkehr. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie, liebe Kol-leginnen und Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion undaus der PDS-Fraktion, mit Ihren Anträgen die Gelegen-heit schaffen, im Hohen Haus eine längere Verkehrsde-batte durchführen zu können.
Ich glaube, es gibt jenseits aller notwendigen und si-cher immer wieder deutlich sichtbaren Differenzen aucheine ganze Menge an Aussagen, die ich bisher gehörthabe, die man unterstreichen kann. Besonders dann,wenn Kollege Oswald spricht, muss ich mich direkt im-mer zusammennehmen, damit ich nicht an der falschenStelle klatsche.
Aber im Ernst: Ich glaube, wir können uns daraufverständigen, dass die zweifellos große und notwendi-gerweise zu lösende Aufgabe, das dichte Verkehrsnetz –Straße und Schiene – in einem vernünftigen Zustand zuerhalten und es dort, wo es notwendig ist, sogar nochauszubauen, von Jahr zu Jahr schwieriger geworden istund noch schwieriger werden wird, und zwar – das be-haupte ich einfach – ganz egal, ob der Finanzministerrot, grün oder schwarz ist. Wenn wir das konzedieren,dann müssen wir uns fragen, warum das so ist. Der eineGrund ist sicherlich der: Je länger und je älter das Ver-kehrsnetz wird – es wird ja täglich und jährlich älter –,desto größer wird von Jahr zu Jahr der Aufwand für denschieren Erhalt und für die Sicherung des Bestands –meine Kollegin Eichstädt-Bohlig wird darauf noch imDetail eingehen – sowie für die Erneuerung von Bau-werken wie Tunneln und Brücken. Das ist keine politi-sche Angelegenheit, sondern einfach ein Fakt.
– Ich komme darauf noch zu sprechen, Herr Kollege.Bitte haben Sie einen Moment Geduld, bis ich meinenGedankengang zu Ende entwickelt habe. Der zweite Grund, warum es von Jahr zu Jahr schwie-riger wird, dieser Aufgabe ausreichend nachzukommen– auch darauf werden wir uns verständigen können –,ist, dass wir gezwungen sind, generell den Haushalt zukonsolidieren, und dass wir uns nicht damit abfindendürfen und wollen, durch eine immer größer werdendeNeuverschuldung den Schuldenrucksack für künftigeGenerationen dauernd schwerer werden zu lassen. AuchHorst Friedrich
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der Ausweg in immer mehr Schulden scheidet also aus,jedenfalls für uns. Für uns gilt der Grundsatz der Nach-haltigkeit nicht nur in der Umweltpolitik, sondern auchin der Finanzpolitik.
Auch ein anderer Ausweg verbietet sich: Die privateVorfinanzierung verursacht dem Finanzminister zwarzunächst keine Kosten. Aber die Jahresraten verteuerndas fertig gestellte Verkehrsprojekt, wenn es zurückge-kauft wird. Das gilt nicht nur für Autobahnprojekte,sondern auch für Schienenprojekte. Sie alle kennen alsMusterbeispiel die ICE-Neubaustrecke über Ingolstadt.Dieses Projekt wird durch die Rückzahlung von622 Millionen DM pro Jahr über 15 Jahre zum Schluss9,6 Milliarden DM kosten. Die geplante Bausumme liegteigentlich nur bei 3,8 Milliarden DM. Ein solcher Aus-weg scheidet für uns auch aus. Wir müssen nüchtern feststellen, dass ein ungebrems-ter und immer weiterer Ausbau der Verkehrsinfrastruk-tur – das ist unabhängig von der parteipolitischen Cou-leur – nicht nur an ökologische Grenzen, sondern auchökonomische Grenzen stößt. Wer dies heute noch ver-schleiern will, der gesteht sich eine Tatsache nicht ein.
Gerade weil es so schwierig ist, der von mir beschrie-benen Aufgabe nachzukommen, ist es eine ungeheureLeistung dieser Bundesregierung, im Rahmen des Inves-titionsprogramms 1998 bis 2002 mit einem Gesamtvo-lumen in Höhe von 67 Milliarden DM Investitionen indie Verkehrsinfrastruktur zu sichern und gleichzeitigganz bewusst und sehr gezielt mindestens die Hälfte die-ses Kapitals in den Bestand der Netze zu investieren.Das ist ein Paradigmenwechsel, mit dem die Realitätenanerkannt werden. Das sollte man nicht kritisieren, son-dern anerkennen.
Sie haben darüber geklagt – dafür habe ich Verständ-nis –, dass auch das Verkehrsministerium prinzipiellnicht von den allgemeinen Konsolidierungszwängenausgenommen worden sei. Aber Sie müssen auch ganznüchtern konzedieren, dass in den vier Jahren der letztenLegislaturperiode zum Beispiel der Investivansatz fürden Straßenbau von 8,7 Milliarden DM auf 8,1 Milliar-den DM reduziert worden ist, obwohl die Mineralölsteu-er erhöht worden ist und obwohl die Schulden jedes Jahrmehr geworden sind. Das ist der Unterschied zu dieserBundesregierung: Wir verringern die Staatsverschul-dung; wir betreiben keine bedenkenlose Steuererhö-hungspolitik. Trotzdem sorgen wir für Investitionen inden Ausbau und Erhalt des Straßen- und Schienennet-zes.
Mit begleitenden Maßnahmen zum Investitionspro-gramm – auch das möchte ich bei dieser Gelegenheit inErinnerung rufen – hat sich das Bundeskabinett am3. November 1999 befasst. Die dort versammelte Rundeder Ministerinnen und Minister hat damals zusätzlichzum Investitionsprogramm Folgendes beschlossen.Wir halten noch einmal fest – –
Meine Damen undHerren, überwiegend hat der Kollege Schmidt das Wort.Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Aber ich finde es ganz interessant, wennFrau Rönsch mit Herrn Schlauch streitet.Ich rufe noch einmal in Erinnerung, dass das Kabinettam 3. November letzten Jahres, zusammen mit diesemInvestitionsprogramm, Folgendes beraten und beschlos-sen hat: Es wurde erstens festgelegt, dass gemäß derVereinbarung im Koalitionsvertrag der InvestitionsanteilSchiene am gesamten Investivvolumen auch künftigkontinuierlich gesteigert werden solle, dass zweitens beiden globalen Minderausgaben der Bereich der Bahn we-gen der allgemein anerkannten Nachholinvestitionenmöglichst verschont bleiben solle und dass drittens nichtverausgabte Mittel für andere Projekte schwerpunktmä-ßig auch der Ertüchtigung der Schiene zugute kommensollten.Darüber hinaus wurde die Realisierung einer Reihevon Projekten bekräftigt und festgeschrieben. Diese Pro-jekte sind nicht Teil des Investitionsprogramms.Gleichwohl soll in dem Programmzeitraum in der Grö-ßenordnung von 5,4 Milliarden DM zusätzlich in dasSchienennetz investiert werden. Das muss ehrlicher-weise zum Schienenanteil addiert werden, um zu einerrichtigen Bilanz zu kommen.Dies alles zusammen ist für uns als Koalitionspartnereine sehr akzeptable Grundlage, obwohl ich nicht ver-hehle – das sage ich genauso offen –, dass uns bei ein-zelnen Autobahnprojekten – ich nenne eines, das uns be-sonders wehtut, nämlich die A 71/A 73, die Autobahndurch den Thüringer Wald – eine abgespeckte Planung,ein verkehrs- und bedarfsgerechter Ausbau von Bun-desstraßen, inklusive Ortsumfahrungen und Überholspu-ren am Berg, ökologisch verträglicher und ökonomischverkraftbarer als eine Neutrassierung durch den Walderscheint.
Aber so ist es in einer Koalition. Ich muss Ihnen von derF.D.P. doch nicht erzählen, dass man sich nicht immerdurchsetzt.
– Man kann auch Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“modifizieren. Das nicht zu tun, sollte kein Dogma sein.Albert Schmidt
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Ich möchte auf die Frage der Finanzierung von Infra-struktur im Zusammenhang mit der Kommission, dievor kurzem ihre Arbeit aufgenommen hat – die so ge-nannte Pällmann-Kommission – zurückkommen. DieseKommission soll im Auftrag des Bundesverkehrsminis-ters nach Wegen der Verkehrsfinanzierung für die Zu-kunft suchen.Wir müssen uns alle – das sage ich, damit wir unsrichtig verstehen, auch an die Adresse der eigenen Frak-tion und der eigenen Partei – auf neue Debatten einstel-len. Wir werden uns einer Diskussion über eine echtePrivatfinanzierung im Sinne von Road-Pricing, sozu-sagen im Sinne einer streckenbezogenen Maut für be-sonders teure Infrastrukturabschnitte, nicht verschließenkönnen. Wir werden allen Ernstes darüber sprechenmüssen, ob und unter welchen Bedingungen so etwassogar verursachergerecht und sinnvoll sein kann.Wir werden außerdem miteinander die Frage zu erör-tern haben, was eigentlich aus den Einnahmen der stre-ckenbezogenen LKW-Benutzungsgebühr, die wir, so-weit ich sehe, alle gemeinsam wollen, wird. UnsereFraktion unterstützt die Position des Verkehrsministers,der die Auffassung vertritt, dass es am besten wäre, die-ses Geld in die Verkehrswegeinfrastruktur zu reinvestie-ren. Man kann sich darüber unterhalten, in welchemUmfang und für welchen Verkehrsträger dies geschehensoll. Das wird sicherlich eine spannende Debatte sein.Aber für uns Verkehrspolitiker muss gelten, dass wirgemeinsam für Beiträge zur Verkehrswegeinfrastruktureintreten. Wir werden aber auch eine viel härtere Debatte überdie Setzung von Prioritäten erleben, gerade in der Dis-kussion über den neuen Verkehrswegeplan. Wir solltenuns auch mit Konzepten zu einem reduzierten Ausbauanfreunden. Ein starres Festhalten an Maximallösungenbeim Straßenbau schafft kein Geld; vielmehr schafft esmöglicherweise nur endlose und haltlose Versprechun-gen und Verzögerungen. Das kennen wir aus der Ver-gangenheit zur Genüge. Man sollte auch bei Straßen-bauprojekten, überall wo es möglich ist, Ausbaustan-dards reduzieren, um kostengünstiger zu realisieren.
– Nicht auf Kosten der Sicherheit, Frau Kollegin. Siewissen sehr gut, dass der damalige VerkehrsministerWissmann das Wort von der Streckung und der Straf-fung von Projekten im Munde geführt hat.Obwohl ich es eigentlich gar nicht vorhatte, will ichzur aktuellen Situation der Bahn Stellung nehmen,nachdem auch meine Vorredner dies getan haben. DieBahn ist auf eine zuverlässige Investitionsplanung sehrstark angewiesen. Ich möchte nur Folgendes sagen: Wirunterstützen ausdrücklich den Ansatz des neuen Bahnchefs Hartmut Mehdorn, der gesagt hat: Wir müs-sen in einem Zweiklang dazu beitragen, dass aus dem Sanierungsfall ein Erfolgsmodell wird, nämlich Kosten-senkung einerseits – besser und effizienter werden in derErbringung und Anbietung von Leistung –, andererseitszugleich Umsatzsteigerung durch höhere Attraktivität,durch besseres Marketing und qualitative Verbesserun-gen.Zugleich müssen wir aber dafür sorgen – das füge ichals Drittes hinzu; das geht an unsere eigene Adresse –,dass unsere verkehrspolitischen Hausaufgaben gemachtwerden, dass für die Bahn als Verkehrsträger Chan-cengleichheit auf dem Verkehrsmarkt besteht. Da istnoch einiges zu tun. Das wird nur schrittweise gehen.Ich bin, wie der Kollege Oswald weiß, Realpolitiker. Ichglaube nicht, dass das von heute auf morgen geht. Aberwir müssen problematisieren, warum der Luftverkehr bisheute – ich halte das für einen Skandal – von jeglicherMineralölsteuer befreit ist, während die Bahn die Mine-ralölsteuer treudoof bezahlen muss. Das ist nicht in Ord-nung.
Das muss europäisch angegangen werden; das werdenwir tun. Ob das eine Steuer oder eine Abgabe ist, ist da-bei sekundär.Wir müssen die Frage der Mehrwertsteuer proble-matisieren. Ich bin dankbar dafür, dass das – wie ich mitInteresse festgestellt habe – neuerdings sogar dieCDU/CSU tut. Wir sind das einzige Land Europas, dasder Bahn im Fernverkehr auferlegt, den vollen Mehr-wertsteuersatz zu entrichten. In allen anderen Länderngilt der halbe oder ein noch niedrigerer Steuersatz.Des Weiteren müssen wir die Frage der Wegekosten,Trassenpreise problematisieren. Ich bin nach wie vor derAuffassung, dass die Trassenpreise gerade im Güterver-kehr auf der Schiene zu hoch sind – sie liegen um dasDoppelte höher als im Rest Europas –, während die Kos-ten auf der Straße zu niedrig sind. Wir wollen die Bahnnicht bevorzugen oder den LKW-Verkehr bestrafen, wieSie, Kollege Friedrich, ein bisschen unterstellen, son-dern wir wollen Waffengleichheit herstellen.
Die Schwerverkehrsabgabe muss eine reale Bezugs-größe zu den verursachten Schäden sein, und zwar alsWegekostendeckung im engeren Sinne. Wenn ein40-Tonner mit einer einzigen Achse das 160 000fachedessen an Schäden verursacht wie ein PKW, weil dieBeanspruchung der Straße exponential mit der Achslaststeigt, dann wird klar, dass da ganz anders herangegan-gen werden muss. Wir brauchen eine völlig andere Artund Höhe der Wegekostenbelastung.Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zur Öko-steuer. Ich habe viel Verständnis dafür, dass man imWahlkampf besonders gegen die Ökosteuer zu Feldezieht und sagt, dass eine Steuer erhöht wird usw. Das istalles in Ordnung. Aber was mich an dieser Diskussionfast erbittert – das möchte ich deutlich sagen –, ist, dassLeute von Ihnen, die ich eigentlich sehr schätze, vor Jah-ren etwas ganz anderes gewusst und gesagt haben alsheute. Ich nenne die damalige Umweltministerin AngelaMerkel, die – ich habe es selbst erlebt – in Kioto buch-Albert Schmidt
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stäblich Tag und Nacht mit den Umweltministern deranderen Länder über das Kioto-Protokoll verhandelt hat,in dem die Eco Taxes ausdrücklich drinstehen. KolleginAngela Merkel, die damals die maßvolle Ökosteuer be-fürwortet hat, entblödet sich heute nicht, auf das Niveauvon Hintze herabzusinken und wider besseren Wissensgegen eine Mineralölsteuererhöhung von 6 Pfennig ei-nen Scheinfeldzug zu beginnen. Das finde ich unglaub-würdig bis sonst wohin.
Ein allerletzter Satz, liebe Kolleginnen und Kollegen.Ich freue mich, dass die PDS uns Gelegenheit gibt, nocheinmal über Tempo 130 zu diskutieren, zumal die SPDdiese Forderung auf dem letzten Parteitag in Berlin,wenn ich richtig informiert bin, auch beschlossen undmindestens als Material an die Bundestagsfraktion über-wiesen hat. Auf diese Diskussion freue ich mich sehr.Das ist eine Forderung, die mir sehr sympathisch ist.
Ich erteile nun das
Wort dem Kollegen Winfried Wolf, PDS-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es gibt in je-der Verkehrsdebatte drei zentrale Irrtümer. Der erste Irr-tum betrifft das Verständnis von Mobilität, der zweitedie Gleichsetzung von Verkehrswachstum mit einemMehr an Auto- und Luftverkehr. Der dritte ist das Tot-schlagargument mit den Arbeitsplätzen.Zum Ersten. Vor acht Tagen saßen ein Dutzend Ver-kehrsmenschen in der Redaktion der „Reformwerkstatt“der Zeitung „Die Zeit“ in Hamburg. Das Thema hießMobilität. Das erste, was wir dort diskutierten, war dieDefinition von Mobilität. Es gab natürlich unterschiedli-che Auffassungen, zum Beispiel zwischen dem Daimler-Chrysler-Vertreter, einer Testpilotin, einem Jugendfor-scher, einem Werbefachmann und den Verkehrswissen-schaftlern. Mehrheitlich wurde jedoch akzeptiert, dassdie rein quantitative Definition von Mobilität problema-tisch sei. Professor Holzapfel und ich sprachen sich inder Runde darüber hinaus für eine strikt qualitative Be-stimmung von Mobilität aus.Ganz anders verhält es sich bei den hier zur Debattestehenden Anträgen von CDU/CSU und F.D.P. Darinwird Verkehrswachstum weitgehend mit Mobilitätsge-winn gleichgesetzt. Warum, so frage ich Sie von derF.D.P. und der CDU/CSU, beginnen Sie nicht mit einemZugriff auf Ihre geistige Festplatte, Datei „Großes Lati-num“?Kommt das Wort „Mobilität“ nicht von „mobilis“, wasso viel wie „beweglich“ bedeutet? Nicht anders ist dasbeim Verb „movere“, das mit „bewegen“ übersetzt wird,und beim Substantiv „mobilitas“, das „Beweglichkeit“und „Biegsamkeit“ heißt.
– Ich bedanke mich bei der Fraktion des großen Lati-nums. – Übertragen heißt das also, sich ausreichend umden eigenen Lebensmittelpunkt biegen bzw. bewegen zukönnen.
Es geht bei Mobilität nicht darum, ob wir pro Jahrmöglichst viele Kilometer zurücklegen oder ob ein Jo-ghurtbecher möglichst viele Kilometer weit transportiertwurde. Es geht um Lebensqualität und Produktgüte.
Es geht darum, ob der Mensch über eine ausreichendeBeweglichkeit verfügt, um die lebensnotwendigen unddie Lebensfreude bringenden Dinge mit akzeptablemZeitaufwand zu erledigen: Gelangt er in passabler Zeitzum Arbeits- oder Ausbildungsplatz? Gibt es Freizeit-möglichkeiten, Kulturangebote und Kindergärten in pas-sabler Entfernung? Sind die Wege zum Einkaufen, zuVerwaltungen oder zum Psychologen ausreichend kurz? Es gibt heute in Westeuropa Menschen, die pro Jahr5 000 Kilometer zurücklegen und sich als zufriedenstel-lend mobil bezeichnen.
Es gibt andere Menschen, die pro Jahr 15 000 Kilometerzurücklegen, aber erklären, ihre Mobilität, HerrFriedrich, sei stark eingeschränkt.
Das Rätsel löst sich dadurch auf, dass im zweiten Falljeweils die Länge der Wege einem Vielfachen der We-gelängen des ersten Mobilitätstyps entspricht. In unserem heute ebenfalls zur Debatte stehendenAntrag zum Bundesverkehrswegeplan schreiben wir –ich zitiere –:Wasserleitungen im Haushalt sind bekanntlichnicht dafür gedacht, möglichst große Mengen anWasser durchzuleiten, sondern dazu, eine weitge-hend konstante Menge von Wasch-, Spül- undKochvorgängen zu ermöglichen. So gesehen solltenauch Verkehrswege nicht dazu da sein, größtmögli-che Verkehrsmengen zu bewältigen, sondern alsLeitungssystem für die Gewährleistung von Mo-bilität, die sich kaum verändert hat. Seit mehr alshundert Jahren– so weiter der Text – ist ... nicht nur die von den Menschen im Verkehrverbrachte Zeit annähernd gleich geblieben. Auchdie Zahl der Zielbewegungen pro Person und Jahrliegt praktisch unverändert bei dem runden Wertvon etwa tausend ...Albert Schmidt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7745
Auf dieser Grundlage fordern wir eine Strukturpoli-tik, die kurze Wege begünstigt. Vor diesem Hintergrundklagen wir die längst ausstehende Neudefinition der fürdie Bewertung eines Bundesverkehrswegeplans erfor-derlichen Kriterien ein und wir bedauern, dass sich dieRegierung von SPD und Grünen dafür eine volle Legis-laturperiode Zeit lassen will. Wir meinen, dass es hiereiner Verkehrswende bedarf. Der zweite Irrtum betrifft die Art des Verkehrs-wachstums. Für CDU/CSU und F.D.P. geht es in ihrenAnträgen primär um das Wachstum des Straßen- undLuftverkehrs, wobei es schon grotesk ist, wenn ange-sichts der Tatsache, dass die CDU/CSU 16 Jahre dieVerkehrsminister stellte, 16 Monate nach Bildung einerneuen Regierung die Autofahrernation im Jammertalund dort im Stau stehend sieht und die F.D.P. von einem„Dauerstau mit passabler Luftqualität“ spricht.
Die CDU/CSU-Fraktion fordert, dass die Schiene ei-nen größeren Anteil am Verkehrszuwachs einnimmt,wohlgemerkt: am Zuwachs und nicht am Verkehrs-markt. Diese Sicht entspricht leider der Verkehrsrealität.Der heute mit debattierte Straßenbaubericht dokumen-tiert erneut die Anteilsverluste der Schiene und die Ge-winne von Luftfahrt und Straße. In den Jahren von 1982bis 1998 hat sich auf dem Verkehrsmarkt der Anteil derSchiene im Personenverkehr bei 7 Prozent – dem nied-rigsten Wert bisher – stabilisiert. Im öffentlichen Nah-verkehr hat sich der Anteil der Schiene um ein Drittel,und zwar auf 8,1 Prozent, und im Güterverkehr um40 Prozent auf jetzt 15,7 Prozent reduziert. Gestern bekamen wir, wie Kollege Oswald es schonausgeführt hat, im Verkehrs- und Bauausschuss einenEinblick darin, wie es um die Deutsche Bahn AG wirk-lich steht. Der neue Vorstandsvorsitzende der Bahn,Mehdorn, bilanzierte knallhart, dass die Bahn erneut mit20 Milliarden DM verschuldet sei, dass sie ihr Kapitalweitgehend aufgezehrt habe, dass sie im operativen Ge-schäft längst rote Zahlen schreibe und dass sie erneut einSanierungsfall sei. Was Mehdorn dann an weit reichen-den Vorschlägen zur erneuten „Sanierung“ der Bahnvortrug, findet nicht unsere Zustimmung. So viel ist jedoch festzuhalten: Als wir im Jahre 1993als einzige Bundestagspartei die Bahnprivatisierung ab-gelehnt haben, sprachen wir exakt von einer solchenPerspektive, und zwar von noch mehr Marktverlusten,neuen Schulden und davon, dass bis Ende der 90er-Jahreein neuer Sanierungsfall Bahn entstehe. Das ist keinGrund zu Schadenfreude und Rechthaberei; aber so wares und so ist es.Zu unseren Forderungen, wie eine wirkliche Ver-kehrswende erreicht und wie Mobilität in diesem quali-tativen Sinne gesichert werden kann, gehört – KollegeSchmidt hat darauf hingewiesen – nicht zuletzt auch ei-ne Geschwindigkeitsbegrenzung. Diese haben nichtnur die Grünen immer vehement eingefordert. Dazu sag-te vielmehr im Jahre 1992 ein bereits damals prominen-ter Politiker: Das Tempolimit ist ein Gebot der Vernunft. Nunwird es hoffentlich auch der verkehrspolitischenBetonriege in der Bundesregierung klar sein: DieZeit der unbegrenzten Raserei auf DeutschlandsAutobahnen ist vorbei. Wir brauchen eine Rück-kehr zum menschlichen Maß. Das war Gerhard Schröder. Ziemlich exakt so lautet un-ser heute ebenfalls debattierter Antrag:
zurück zum menschlichen Maß, Maximalgeschwindig-keit 130 als Angleichung an Rest-Europa.
Der dritte Irrtum: Die Anträge von CDU/CSU undF.D.P. setzen Verkehrswachstum mit Wohlstand undArbeitsplätzen gleich. Das ist volkswirtschaftlich ein-fach Unsinn. Dazu nur zwei Hinweise: In der Schweizlegt ein Durchschnittsbürger ein Drittel weniger Kilome-ter pro Jahr mit dem Pkw zurück.
Die Schiene hält einen doppelt so hohen Anteil am Per-sonen- und Güterverkehr. Doch es gibt halb so viele Ar-beitslose und mehr Wohlstand als hierzulande. DieGründe für Letzteres sind natürlich höchst unterschiedli-che. Doch Sie von SPD und Grünen stimmen mir wohlzu: Der Schluss, den die Anträge von CDU/CSU undF.D.P. nahe legen – hätten die Schweizerinnen undSchweizer mehr Straßen und mehr Autoverkehr, wärensie mobiler und wohlhabender und hätten sie sogar nochweniger Arbeitslose –, ist nicht logisch, sondern einTrugschluss.
Zweiter Hinweis: Bei den Arbeitsplätzen sind immernur sehr spezielle im Blick. Wir fragen: Was ist mit den250 000 Jobs, die seit 1990 bei der Bahn abgebaut wur-den? Was ist mit den 70 000 Jobs, die Herr Mehdornkünftig bei der Bahn abbauen will? Was ist mit den100 000 Jobs, die bei den öffentlichen Verkehren in denStädten unter anderem auf Grund der EU-Libe-ralisierung zur Disposition stehen? Was ist mit der deut-schen Bahnindustrie, mit Adtranz, Bombardier und Sie-mens, wo jährlich 1 000 Jobs wegfallen?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der eingangs zi-tierten „Reformwerkstatt“ der „Zeit“ hat die Runde amEnde der sechsstündigen Debatte den Verkehr der Zu-kunft erörtert. Einiges klang dabei futuristisch; an vie-lem hätten die Technikfetischisten, die es in allen Partei-en gibt, also die Leute, die auf S und M – schneller undmehr – stehen, ihre helle Freude gehabt. Ich bin da er-Dr. Winfried Wolf
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heblich bodenständiger. Ich sagte in Hamburg und ichsage hier heute: Es gibt bereits den Verkehr der Zu-kunft; wir müssen nur die Mosaiksteine zum PuzzleVerkehr in der Stadt und Verkehr im Land zusammen-setzen, und zwar eins zu eins und nicht als kleines Mo-dell.Nehmen wir die vorbildliche Struktur des Fußgänger-und Fahrradverkehrs, wie sie in Münster existiert. Kom-binieren wir dies mit dem hervorragenden öffentlichenNahverkehr der Stadt Zürich mit der Tram als Rückgratund dem schönen Slogan „Wo wir fahren, lebt Zürich!“Fügen wir die Erschließung der Region hinzu, wie sie inKarlsruhe mit der Straßenbahn existiert, die sogar weitin den Schwarzwald hinein fährt. Denken wir uns zu-sätzlich einen Schienenverkehr, wie er in der Schweiz,aber ansatzweise auch – dank Herrn Brüderle – inRheinland-Pfalz mit einer engen Vernetzung und Ver-taktung von Nah-, Regional- und Fernverkehr existiert.
Dann, wenn diese real existierenden Verkehrswelten zu-sammengefügt werden, können wir noch darüber disku-tieren, ob wir ein bisschen Elektronik, ein paar Fahrplä-ne im Internet und ein bisschen Telematik in der Tramhineinmischen.
Eine solche Verkehrsrealität anzusteuern, wäre einherausragendes Ziel für eine SPD-Grünen-Regierung.Das brächte Arbeitsplätze, Umweltschutz und ein Stim-menplus. Das Umweltbundesamt hat errechnet, dass imJahre 1994 70 Prozent der Bevölkerung für ein Tempo-limit eingetreten sind. Doch es sieht nicht nach einersolchen Politik aus.Werte Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss erin-nere ich an die Behauptung, der Enkel von Willy Brandthabe etwas gründlich missverstanden: Während WillyBrandt von „Mehr Demokratie wagen“ gesprochen habe,wolle Gerhard Schröder nur „mehr Volks-Wagen“. Wirsollten mehr Demokratie wagen und den anderen Ver-kehr, eine Verkehrswende, wagen.Danke schön.
Ich erteile dem Mi-
nister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Herrn
Reinhard Klimmt, das Wort.
Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Bei der wichtigsten Aufgabe, die
wir wohl alle bei unserer politischen Arbeit sehen, näm-
lich für mehr Beschäftigung zu sorgen und die Arbeits-
losigkeit bei uns im Lande in den Griff zu bekommen,
spielt selbstverständlich die Infrastrukturpolitik eine
wichtige und wesentliche Rolle. Sie spielt einmal eine
wichtige und wesentliche Rolle, da sie direkt zu Be-
schäftigung führt. Es ist schon von Herrn Oswald gesagt
worden, dass jede Milliarde, die wir in die Infrastruktur
investieren, unmittelbar zu zwischen 10 000 und 12 000
Arbeitsplätzen führt. Das ist eine nennenswerte Zahl;
hier wirken die Investitionen bereits von sich aus.
Der zweite Grund, warum wir den Verkehr und seine
Weiterentwicklung brauchen, ist der, dass es sehr wohl
einen Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Ent-
wicklung und dem Verkehr von Gütern und Personen
gibt. Sicherlich gibt es eine ganze Reihe von Möglich-
keiten, sich mithilfe der neuen Techniken Verkehr zu er-
sparen. Aber stellen wir uns einmal vor, wir würden nur
noch in Form von Videokonferenzen die Sitzungen des
Deutschen Bundestages abhalten! Was würde sich da-
raus wohl für ein Klima entwickeln?
Es ist daher gut, dass wir aus allen Teilen des Landes
hier zusammenkommen, um über die wichtigen Angele-
genheiten unseres Landes zu reden. Wir brauchen die
Mobilität.
Wer in der Nähe wohnt, kommt zu Fuß oder mit dem
Fahrrad. Andere müssen sich der Bahn, des Automobils
oder auch des Flugzeuges bedienen.
Es handelt sich um eine Selbstverständlichkeit, unser
gesellschaftliches und politisches Leben weiterzuentwi-
ckeln. Das gilt auch für den Güterverkehr. Natürlich
kann ich einen Kühlschrank über das Internet bestellen.
Aber er muss immer noch geliefert werden, weil wir die
Technik des Beamens noch nicht beherrschen. Daher
wird es die entsprechende Mobilität weiterhin geben
müssen.
Dabei kommt es darauf an, dass wir die Mobili-
tät sinnvoll einsetzen – diese Forderung ist absolut rich-
tig –, und darauf, dass wir die verschiedenen Verkehrs-
träger ihren Möglichkeiten entsprechend nutzen. Wenn
wir darüber nachdenken, in welcher Weise wir bei uns
die Verkehrsinfrastruktur ausbauen wollen, müssen wir
auch dafür Sorge tragen, dass dabei insgesamt nicht nur
volkswirtschaftliche Überlegungen eine Rolle spielen –
die Bequemlichkeit werden wir den Menschen nicht aus-
treiben können –, sondern dass auch die Frage der Öko-
logie berücksichtigt wird. Es ist wichtig, die Wasserstra-
ßen auszubauen und die Schiene weiterzuentwickeln.
Wir haben nämlich nicht nur das Automobil als Trans-
portmittel.
Herr Minister, ge-statten Sie eine Frage der Kollegin Rönsch?Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,Bau- und Wohnungswesen: Ja.Dr. Winfried Wolf
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7747
Herr
Minister, Sie befinden sich mit Ihren Kollegen in der
Kontinuität der Schaffung von Arbeitsplätzen. Wie beur-
teilen Sie aber, dass der Wirtschaftsminister die Refe-
renzstrecke für den Transrapid einfach ins Ausland ver-
legen will?
Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Das Thema Transrapid hat
uns bereits beschäftigt. Wir waren uns hier alle darüber
einig, dass ein Bau im Inland in den nächsten 10 bis 20
Jahren nur eine Ergänzungsfunktion von geringem ver-
kehrspolitischen Wert haben kann. In 50 Jahren mag es
vielleicht anders aussehen. In der näheren Zukunft wird
das aber der Fall sein, weil wir alle gemeinsam auf das
Rad-Schiene-System gesetzt haben.
Es geht jedoch darum, einen Exportmarkt für unsere
technologische Entwicklung zu schaffen. Dafür braucht
man Referenzstrecken. Warum soll es nicht möglich
sein, dass vonseiten des Bundeswirtschaftministers für
den Fall, dass bei uns die Strecke nicht zustande käme –
ich gehe nicht davon aus; wir führen noch entsprechende
Gespräche –, daran gedacht wird, eine Verbindung über
die Grenzen beispielsweise nach Holland zu bauen?
Momentan befinden wir uns aber in einer anderen Phase
der Diskussion. Ich werbe dafür, dass wir gemeinsam in
einem Spitzengespräch der Beteiligten zu einer Lösung
kommen, sodass die Strecke Hamburg – Berlin verwirk-
licht werden kann.
Falls das nicht gelingen sollte – auch das habe ich ge-
sagt –, wollen wir eine andere Strecke im Inneren unse-
res Landes suchen, um auf diese Weise ein Exemplum
zu liefern, mit dem wir nach außen deutlich zeigen kön-
nen, zu welchen Leistungen die deutschen Ingenieure
fähig sind.
Frau Rönsch möchte
noch eine Frage stellen.
Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Ja.
Bitte sehr.
War
Ihre Antwort als Ja zum Transrapid in Deutschland zu
verstehen?
Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Ja, natürlich.
Wä-
ren Sie auch bereit, wie es der Wirtschaftsminister ge-
sagt hat, 6,1 Milliarden DM ins Ausland zu geben, damit
dort die Referenzstrecke gebaut wird?
Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Das hat er nicht gesagt. In
diesem Fall wäre ich mit ihm nicht einverstanden gewe-
sen.
– Nein, das hat er nicht gesagt. Wir reden ja miteinan-
der. Insofern kann ich das ganz authentisch wiederge-
ben, was wir zu diesem Thema verabredet haben.
Es ging um den Fall, dass es andere Interessenten gibt
und diese dann eventuell noch einen kleinen Anreiz
brauchen, um die entsprechende Investition zu tätigen.
Aber von 6,1 Milliarden DM war keine Rede. Ich glau-
be, wir streiten uns jetzt auf einem falschen Feld. Wir
sind uns doch darüber im Klaren, dass wir die Techno-
logie und Innovationen fördern wollen und dass wir
Technologie exportieren wollen. Es geht daher darum,
einen vertretbaren, hier untereinander abgestimmten
Weg zur Durchsetzung dieses gemeinsamen Ziels zu
finden.
In diesem Stadium befinden wir uns noch. Wir werden
aber die Probleme entsprechend lösen.
Integrierte Verkehrspolitik – alle Systeme sinnvoll
einsetzen und miteinander kombinieren –, das ist das
Ziel.
Herr Minister, die
Kollegin Blank möchte noch eine Zwischenfrage stellen.
Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Ja, ich lasse sie zu, aber ich
möchte auch irgendwann zum Schluss kommen; ich ha-
be ja kaum mit dem Eigentlichen angefangen.
Ich darf Sie beruhi-gen: Diese Ausführungen werden nicht auf Ihre Redezeitangerechnet.
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7748 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,Bau- und Wohnungswesen: Dann sage ich jetzt gleich:Das ist vorerst die letzte Zwischenfrage, die ich zulasse– damit niemand das persönlich nehmen muss.
– Deswegen fällt es mir ja leicht zuzustimmen.
Was heißt „nur Da-
men“, Herr Kollege? – Frau Kollegin, Sie haben das
Wort.
Herr Minister, ichkomme auf das Thema Transrapid zurück. Wie bewertenSie denn die Aussage des Bahnchefs Mehdorn gesternim Ausschuss, dass sich die Strecke Hamburg – Berlinabsolut nicht rechne und er im Grunde genommen dage-gen sei? Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,Bau- und Wohnungswesen: Das ist ja nun keine unbe-dingte Neuigkeit. Wir werden im Spitzengespräch mitden Beteiligten, um die es geht, diese Frage erörtern. Daist die Bahn nun einmal dabei. Denn erstens kann dieBundesregierung das System nicht betreiben – das istnicht unsere Aufgabe – und zweitens ist das Industrie-konsortium nicht bereit, von sich aus das System zu be-treiben. Deshalb geht es darum, jemanden zu haben, derbereit ist, dies zu tun. Das kann nur die Bahn sein; denneventuell noch jemand anderen damit beauftragen zuwollen, hielte ich für einen schweren strategischen Feh-ler. Insofern müssen wir uns jetzt zusammensetzen undwerden im Gespräch zwischen Konsortium, Bahn undBundesregierung feststellen, ob die Strecke Hamburg –Berlin für den Transrapid geeignet ist. Falls die Aussageist, dass dies nicht der Fall ist, werden wir gemeinsamnach einer Alternativstrecke – das ist meine Absicht undmein Ziel – im Inland suchen.
Ich freue mich übrigens bei den Anträgen über diegrundsätzliche Unterstützung, die geleistet wird. Ichnehme das gerne zur Kenntnis, möchte aber auch nichtverhehlen, dass vielleicht doch die eine oder andereKrokodilsträne dabei ist. Ein Vorschlag ist, für die Mi-neralölsteuer jetzt eine Zweckbindung einzuführen.Wem würde es, ganz gleich, welchen Etat man zu ver-antworten hat, nicht zusagen, wenn auf diese Art undWeise die Finanzierung gesichert würde? Aber auch Siehaben das zu Ihrer Zeit nicht verfolgt. Die Tatsache,dass der entsprechende Passus im Haushaltsgesetz im-mer wieder aufgehoben worden ist, ist keine Übung derrot-grünen Koalition gewesen. Das haben wir von Ihnenübernommen. Insofern stehen wir in diesem Fall in IhrerKontinuität.
Sie sollten es deswegen nicht so intensiv kritisieren. DieNotwendigkeit der Konsolidierung der Haushaltsmittel,die zur Verfügung stehen, ist eine Aufgabe, die Sie unshinterlassen haben. Denn die Schwierigkeiten, unter de-nen der Bundeshaushalt leidet, bestehen nicht darin, dassman jetzt Finanzierungen finden muss, um die Schul-denlast zurückzuführen. Nein, wir sind ja dabei, in die-ser Legislaturperiode zu erreichen, dass die Neu-verschuldung zurückgeführt wird, damit am Ende derAnstrengungen keine zusätzliche Verschuldung mehrnötig ist. Das schränkt selbstverständlich die Bewe-gungsspielräume von uns allen ein. Mehr als80 Milliarden DM nur für Zinsen! Wie gerne würden ichund alle anderen diese Mittel ausgeben: im Bereich desStädtebaus, für die Infrastruktur im Bereich des Ver-kehrs. Aber leider stehen uns diese Mittel aufgrund IhrerHinterlassenschaft nicht zur Verfügung.
Wir kämpfen mit der privaten Vorfinanzierung. diemomentan unsere finanziellen Spielräume einengt undworin sehr viel Geld steckt, das den Banken zugewiesenwerden muss. Deswegen ist bei der grundsätzlichenDiskussion um Vorfinanzierung, in der wir uns derzeitnoch befinden, völlig klar: Dies kommt nur infrage,wenn auf diese Art und Weise nicht zusätzliche Zinsbe-lastungen entstehen, die später aus dem Bundeshaushaltfinanziert werden müssen. Wir müssen damit fertig werden, dass der Bundes-verkehrswegeplan, an dem wir auch unser Investitions-programm orientiert haben, hoffnungslos unterfinanziertgewesen ist. Für den Zeitraum bis zum Jahr 2012 bestehteine Finanzierungslücke von 100 Milliarden DM. Inso-fern kämpfen wir um zusätzliche Spielräume im Haus-halt. Sicherlich ist auch der Finanzminister mit dabei,wenn es darum geht, Investitionen im Rahmen des Ver-fügbaren sicherzustellen. Ich bedaure sehr, dass wir es in dem Haushalt unseresMinisteriums – immerhin mit circa 50 Milliarden DMein sehr dicker Brocken – nicht schaffen können, einenhöheren Anteil als 55 Prozent für Investitionen zu errei-chen, unter anderem weil wir mit Belastungen aus derVergangenheit fertig werden müssen. Allein 14 Milliarden DM müssen an das Bundesei-senbahnvermögen überwiesen werden. Das ist eineVerpflichtung, zu der wir gerne stehen, weil sie hier ge-meinsam vereinbart worden ist. Aber es geht um dieBewältigung von Altlasten und die Mittel stehen nichtfür zusätzliche Investitionen zur Verfügung. Wir habendas getan, um der Bahn zu ermöglichen, aus eigenerKraft wirtschaftlich zu arbeiten, und in der Hoffnung,dass die Bahn in der Lage ist, im investiven Bereichdurch wirtschaftlichen Erfolg selber etwas beizutragen.Deswegen müssen wir erwarten, dass die Bahn auch un-ter dem neuen Chef Mehdorn die Wirtschaftlichkeit inden Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellt, um auf dieseArt und Weise zu erreichen, dass wir nicht erneut in eineSanierungsdiskussion kommen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7749
Herr Minister, nun
möchte schon wieder jemand eine Zwischenfrage stel-
len.
Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Wir müssen außerdem die
Standards überprüfen, mit denen wir unsere Verkehrs-
wege – –
– Lassen Sie mich gerade einmal einen Gedanken zu
Ende führen.
– Ja.
Bitte sehr, Herr Kol-
lege.
Vielen Dank, Herr
Minister, Frau Präsidentin.
Sie haben im Dezember der Zeitschrift eines Verban-
des, der Millionen Kraftfahrer vertritt, ein Interview ge-
geben. Da steht in der Überschrift: „Ich werde um jede
Mark kämpfen.“ Sie haben das gerade wieder angeführt:
„Ich werde um jede Mark kämpfen.“ Sie haben dann
auch vom Investitionsplan gesprochen. Wie können Sie
angesichts dessen diesem Haus die enormen Kürzungen
erklären, die in diesem Investitionsplan vorgesehen sind,
gerade auch für unser Land Sachsen? Sie sagen, dass Sie
um jede Mark kämpfen werden. Wie sehen Ihre Pläne,
dort etwas aufzusatteln, konkret aus? Welche Abspra-
chen mit dem Finanzminister sind getroffen worden?
Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Wir brauchen, wie gesagt,
ein möglichst hohes Investitionsniveau.Wenn es darum
geht, mit den knappen Mitteln zurechtzukommen, dann
ist meine Empfehlung: Lasst uns über Standards reden!
Ich bin schon in anderen Teilen der Welt herumgekom-
men. Auch dort funktioniert der Verkehr.
Sicher haben wir die höchste Qualität deutscher Ingeni-
eurleistungen zu bieten. Aber das ist, glaube ich,
manchmal fast des Guten zu viel und sehr teuer.
Wir haben die Investitionen – 26,1 Milliarden DM
werden in unserem Ministerium für Investitionen so-
wohl im Verkehrs- als auch im Baubereich ausgege-
ben – im Jahre 2000 noch einmal um immerhin eine
halbe Milliarde DM steigern können.
Nun besteht noch
ein Fragewunsch, Herr Minister: bei Herrn Seifert.
Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Ich nehme einen Anlauf zu
der Frage, weil ich zu dem angesprochenen Investitions-
programm und einem weiteren Thema meiner Rede
noch etwas sagen will. Sie sind sicherlich einverstanden,
wenn ich diese beiden Fragen im Zusammenhang dar-
stelle.
Der Kollege Seifert
von der PDS wollte noch eine Frage stellen.
Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Ich möchte jetzt die Dinge
im Zusammenhang darstellen können. Sonst wird die
Rede zu sehr zerfleddert. Trotz all der Gnade, die ich
von der Präsidentin erfahre, sehe ich, dass meine Rede-
zeit knapp wird und ich befürchten muss, dass ich einige
wichtige Punkte vielleicht nicht mehr vortragen kann.
Herr Minister, ichnehme zur Kenntnis, dass Sie keine weiteren Zwischen-fragen zulassen. Dann ist das für uns alle klar und ichmuss Sie auch nicht mehr unterbrechen. Sie haben das Wort. Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,Bau- und Wohnungswesen: Wir haben mit dem Investi-tionsprogramm ein Gesamtinvestitionsvolumen von64,5 Milliarden DM festgelegt. Dabei geht es um diehoch prioritären Maßnahmen; wir hoffen, dass wir hierder globalen Minderausgabe des Finanzministers entge-hen können. Es ist festgelegt, dass 2,85 Milliarden DMfür den Bereich der prioritären Maßnahmen zur Verfü-gung stehen, um auf diese Weise zusätzliche wichtigeund notwendige Maßnahmen durchführen zu können. Das Entscheidende ist – das richtet sich insbesonderean Sachsen –, dass bei diesem Investitionsprogramm dieVerkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ ganz weit vornestehen. Das führt dazu, dass der Großteil der Mittel fürdie neuen Bundesländer ausgegeben wird,
was natürlich von den alten Bundesländern – zum Bei-spiel in Baden-Württemberg, aber auch in Nordrhein-Westfalen – teilweise kritisiert wurde. Deswegen halteich es nicht für angemessen, wenn vonseiten Sachsens,das nun wirklich gut bedient ist, in Bezug auf dieses In-vestitionsprogramm, was den Autobahnausbau und dieBereiche des Schienenverkehrs angeht, so getan wird,als ob man ihnen einen Tort angetan hätte. Das ist nichtder Fall.
Weil wir in der Vergangenheit in der Bundesrepublikmehr in die Verkehrsinfrastruktur investiert haben unddies in der DDR vernachlässigt wurde, muss der AufbauOst erste Priorität haben. Dies muss weitergeführt wer-
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7750 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
den; das tun wir auch. Deshalb geht der größere Teil derMittel in die neuen Bundesländer.
Wir haben angefangene Projekte. Diese lassen unsnatürlich nicht viel Spielraum, um etwas ganz Neues an-zufangen. Das ist das Problem, mit dem wir augenblick-lich zu kämpfen haben.Ich möchte auf einen anderen Umstand hinweisen,der oft nicht bedacht wird. Wir haben aus der Vergan-genheit noch ein anderes Problem: Wir haben zwar einwirklich weit entwickeltes Netz an Verkehrsinfrastruk-tur, aber dieses Netz muss gepflegt werden. Mit jedemKilometer, den wir neu bauen, wächst natürlich auch dieNotwendigkeit zum Erhalt und das kostet Geld. In dernächsten Zeit benötigen wir aber auch noch zusätzlicheMittel. Der Bedarf steigt. Auch für die Sanierung derBrückenbauwerke brauchen wir eine entsprechende fi-nanzielle Unterlegung.Wir haben daher zu Recht überlegt: Was kann maneigentlich zusätzlich tun, um an den nötigsten Stellen,die erkennbar sind, noch Verbesserungen zu erreichen?Es geht darum, Engpässe, die in unserem Verkehrssys-tem zweifellos vorhanden sind – man kann es drehen,wie man will –, zu überwinden. Man kann bestimmteKennziffern anlegen, zum Beispiel wie viele Autos aufeinem Autobahnabschnitt fahren oder wie stark die Ge-schwindigkeit eines Zuges gemindert ist aufgrund derTatsache, dass er auf einer Strecke fahren muss, dienicht ausreichend gepflegt ist. Wir wollen ein zusätzli-ches Programm auflegen – allerdings im Rahmen des-sen, was uns momentan im Anschluss an das Investiti-onsprogramm zur Verfügung steht –, um weitere Eng-pässe sowohl im Bereich der Schiene als auch im Be-reich der Autobahnen und der Wasserstraßen zu beseiti-gen. Auf diese Weise wollen wir erreichen, dass dort,wo es am nötigsten ist, Abhilfe geschaffen werden kann. Wir werden vonseiten des Ministeriums, mit denFachleuten abgestimmt, in absehbarer Zeit ein entspre-chendes Programm vorlegen, über das man sich nachherkonkret unterhalten kann. Selbstverständlich muss diesfinanziert werden können. Das entscheidende Thema,mit dem wir uns zukünftig zu befassen haben, ist: Wiekönnen wir auch dann, wenn die Mittel in den öffentli-chen Haushalten nicht ausreichen – das ist erkennbar –,allen Ansprüchen und Notwendigkeiten gerecht werden?Das Ministerium hat eine Kommission eingesetzt, dieunabhängig von irgendwelchen Weisungen oder Vorga-ben daran arbeitet, welche zusätzlichen Finanzierungs-möglichkeiten es gibt. Richtig ist auch der Hinweis, dasswir bereits eine entsprechende gesetzliche Grundlagehaben, die wir nutzen wollen, um mit dem Element derprivaten Organisation und Finanzierung bestimmte Eng-pässe zu beseitigen, beispielsweise auch mit dem Hilfs-mittel Maut. Es gibt Projekte, beispielsweise die Moselquerung inRheinland-Pfalz oder die Warnowquerung in Rostock,wo man vorher bezahlt hat, wenn man mit der Fähre ge-fahren ist. Man wird demnächst bezahlen, wenn manden Tunnel nutzt, um unter der Warnow hindurchzufah-ren. Es muss in jeder Hinsicht sorgfältig überprüft wer-den, wie wir diese Projekte erweitern können und inwelchen Bereichen wir das anwenden können. Wir hoffen – dies ist bereits von Ihnen angesprochenworden –, mithilfe der Telematik zu erreichen, dass wirsehr bald, möglichst ab dem Jahre 2002, bei den LKWseine entfernungsbezogene Gebühr erheben können,damit in dem Maße, wie unsere Autobahnen genutztwerden, auch die entsprechende Gebühr bezahlt wird.
Ich bin sehr froh darüber, dass ich im gesamten Hausdie Unterstützung dafür habe, dass das Geld, das dieseGebühr erbringt, dem Verkehrshaushalt zusätzlichzweckgebunden zur Verfügung steht – also nicht in denTopf hineingerührt wird –, damit wir zusätzliche Wün-sche finanzieren können.
Meine Damen und Herren, ich möchte den Hinweisauf die Telematik noch einmal aufgreifen. Die Telema-tik ist nicht nur ein Spielzeug, das ganz nett ist, um sicheventuell als Computerfreak zu betätigen. Nein, dieseTechnik wird von uns in dem Sinne zu nutzen sein, dasswir den knappen Verkehrsraum, den wir haben, besserausnutzen. Wenn es richtig ist, dass wir mit dem SystemCIR-ELKE erreichen können, zum Beispiel den Schie-nenverkehr auf der Strecke zwischen Karlsruhe und Ba-sel um 30 Prozent steigern zu können, dann ist das vongroßer Bedeutung. Das gilt übrigens auch für die Auto-bahnen. Wenn wir auf diese Art und Weise unsere Ver-kehrsströme besser lenken können, sparen wir Investiti-onen am falschen Platz. Wir können mit den kostbarenInvestitionsmitteln dann noch viel rationeller umgehen,als es bis jetzt der Fall ist.
Einen letzten Punkt, meine Damen und Herren,möchte ich gerne aufgreifen – neben all den Themen,die wir an anderer Stelle diskutieren müssen, zum Bei-spiel wie wir eine ökologische Verkehrspolitik durchandere Kraftstoffe betreiben könnten und was zumThema Tempolimit zu sagen ist –: Es geht mir jetzt umdie Bahn. Die Bahn kann meines Erachtens nur dann ei-ne erfolgreiche Arbeit machen – das ist auch schon ge-sagt worden –, wenn wir es schaffen, die im europäi-schen Bereich vorhandenen Hindernisse auszuräumen.Ich komme gerade aus Griechenland zurück, wo ich mitdem dortigen Verkehrsminister geredet habe. Dort habenwir Strategien überlegt, wie man den Korridor 10, derdurch das ehemalige Jugoslawien, durch Serbien, führt,wieder öffnen kann. Das ist keine verkehrspolitische,sondern eine außenpolitische Frage, die hier hinein-spielt. Gleiches gilt für die Frage, wie man den Korri-dor 4 praktikabel machen kann, um auf diese Art undBundesminister Reinhard Klimmt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7751
Weise den Güterverkehr auf der Schiene wirklichschnell abzuwickeln. Denn es ist das Elend der Vergan-genheit, dass wir aufgrund einer immer noch in denKöpfen vorhandenen Kleinstaaterei im Bahnwesen nichtmit Schnelligkeit und Zuverlässigkeit und Pünktlichkeithaben auftrumpfen können. Es geht jetzt darum, dieseeuropäischen Netze zu definieren, um auf diese Art undWeise zu erreichen, dass die Bahn auf der langen Stre-cke ihre ganze Kraft und ihre ganze Qualität entfaltenkann und so die entsprechenden Chancen und Möglich-keiten genutzt werden. Dazu müssen wir nicht nur diegesetzlichen Hinderungen, die noch auf EU-Ebene undin anderen Staaten bestehen, bewältigen, sondern auchfür Kooperationsbereitschaft der Bahnen sorgen, damitdieses wichtige Verkehrsmittel wirklich die Chance hat,mehr vom erwarteten Zuwachs des Güteraufkommensaufzunehmen, als es bis dato der Fall war. Das ist einganz wichtiges Ziel unserer Politik.
Wir werden kontinuierlich weiterdiskutieren. Wirwerden noch in diesem Jahr den Verkehrsbericht 2000vorlegen. Dort wird etwas mehr über die Kriterien aus-gesagt werden, die bei der Weiterentwicklung des Bun-desverkehrswegeplans modifiziert worden sind, damitman weiß, auf welcher Grundlage das geschieht. Ich bedanke mich bei Ihnen für die Beiträge, aber vorallem für das, was in den Anträgen steht. Es gibt man-ches, bei dem wir nicht übereinstimmen – vielleicht wardas eine oder andere auch vergiftend gemeint –, aber dasmeiste – das muss ich ganz ehrlich sagen – empfinde ichals hilfreich und dafür bedanke ich mich.
Das Wort hat der
Kollege Dirk Fischer, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsi-dentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ichhatte eigentlich nicht vor, heute etwas zum ThemaTransrapid zu sagen; das habe ich erst am letzten Don-nerstag gemacht.
Aber ich komme nicht ganz daran vorbei, Herr Minister,Sie darauf hinzuweisen, dass, als Sie gerade Worte ge-funden hatten, die eigentlich für den Unkundigen, Au-ßenstehenden ermutigend waren,
der verkehrspolitische Sprecher Ihres Koalitionspartnersden Zwischenruf machte: „Transrapid ist mausetot“.
– Das haben viele gehört, Herr Kollege, das ist das Prob-lem.
Das haben Sie eben auch nicht zum ersten Mal gesagt.Sie haben das schon im Ausschuss und in der Öffent-lichkeit gesagt.
Auch in der Debatte am letzten Donnerstag haben Siedas gesagt.
Das macht deutlich, welches Verwirrspiel in der Koa-lition bei diesem Thema herrscht. Man gewinnt gele-gentlich den Eindruck, Bundeskanzler Schröder hätteIhnen gesagt: „Machen Sie ihn ruhig tot, aber nicht vorder Schleswig-Holstein-Wahl“.
Außerdem sind Sie ganz offenbar dabei, den schwar-zen Peter aus der Hand des Bundes jemand anderem indie Hand zu drücken, um am Ende für dieses einmaligeDesaster und den Skandal, dass diese Zukunftstechnolo-gie in Deutschland totgemacht wird, die Verantwortungnicht übernehmen zu müssen.
Ich sage Ihnen ganz freimütig: Ich habe persönlichein großes Interesse daran, im Moment möglichst vielederartige Zitate in das Protokoll des Deutschen Bun-destages zu bringen, die ich mit ziemlicher Sicherheitsehr bald noch sehr gut gebrauchen kann. Ich möchte zudiesem Thema nur sagen: Nach meiner Auffassung wer-den wir darüber in der allernächsten Zeit Endgültigeshören.Zum eigentlichen Thema. Die Mobilität ist ein zentra-ler Bestandteil unserer Wirtschafts- und Gesellschafts-ordnung und von Freiheit und Wohlstand. Wenn ich denAntrag der Sozialdemokraten lese, stelle ich fest, dassim Hause darüber Einigkeit zu herrschen scheint. Ver-kehrsinfrastruktur ist von entscheidendem Einfluss aufdie Lebensqualität unserer Bürger. Eine gute Verkehrs-infrastruktur ist auch ein Garant für die Leis-tungs- undWettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft.Vor diesem Hintergrund ist es schlimm, dass bei denMinistern Müntefering und Klimmt, in Koproduktionmit den Finanzministern Lafontaine und Eichel, in gutBundesminister Reinhard Klimmt
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7752 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
15 Monaten rot-grüner Regierungsverantwortung eineverkehrs- und finanzpolitische Fehlleistung die nächstejagte.Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie ha-ben, wenn Sie es mit der Zukunft unseres Landes sowieEuropas gut meinen, allen Grund, sich von Ihren ideo-logischen Zwängen – die hörte man bei Ihnen in jedemSatz, Herr Schmidt –
zu lösen. Deutschland muss mobil bleiben können. Des-halb müssen wir verstärkt und unvermindert in Ver-kehrsinfrastruktur investieren.Ihre Märchenstunde Haushalt ist längst widerlegt. Lafontaine hat den Haushalt 1999 um 31,2 Mil-liarden DM erhöht, um Wahlversprechen zu bezahlen.Minister Eichel will genau diesen Betrag wieder einspa-ren. Aber im Vergleich zu 1998 gibt er im Haushalt2000 immer noch 22 Milliarden DM mehr aus, währenddie alte Koalition ab 1995 Schrumpfhaushalte gemachthat, wirklich gespart hat und jeder Folgehaushalt niedri-ger war als der vorhergehende. Das ist Sparen!
Klar, dass Sie diese Haushaltslöcher bei der desolatenPolitik Ihrer Regierung nur noch durch unsystematische,kopflose Kürzungen stopfen können.Besonders tragisch ist Folgendes: Erhöhungen imkonsumtiven Bereich; Streichungen, Einsparungen iminvestiven Bereich, insbesondere bei den Verkehrsinfra-strukturinvestitionen Straße/Schiene. Das so genannteInvestitionsprogramm 1999 bis 2002 verdient seinenNamen nicht, es müsste „Investitionskürzungsprogrammfür den Straßenbau“ heißen. Sie betreiben hier eine se-mantische Verdummung der Bevölkerung.
Denn Sie werden nicht bestreiten können, dass diesesProgramm Kürzungen in einer Größenordnung von etwa5 Milliarden DM gegenüber der mittelfristigen Finanz-planung der Vorgängerregierung beinhaltet.Sie behaupten in Ihrem Antrag, dass der von uns ver-abschiedete Bundesverkehrswegeplan mit seinemZielhorizont bis 2012 mit mehr als 90 Milliarden DMunterfinanziert sei.
Das ist eine gewaltige Rosstäuscherei. Der Bundesver-kehrswegeplan – so bestätigt das Bundesverkehrsminis-terium permanent – ist kein Finanzplan, sondern nur einBedarfsplan.
Der Minister hat eben bestätigt, dass der Bedarf immergrößer ist, als die Haushaltsmöglichkeiten es erlauben.
Deswegen kann das gar nicht anders sein.Im Übrigen war das auch noch nie anders. Der ersteBundesverkehrswegeplan war der von Lauritz Lauritzenaus dem Jahre 1976, und nachdem die Periode herumwar, hat es einen Überhang nicht gebauter Projekte inHöhe von 26 Milliarden DM – und das zu damaligenPreisen – gegeben. Der nächste von 1985/86 hatte, so-weit ich weiß, auch einen Überhang von etwa 40 Milli-arden DM. Das liegt in der Systematik begründet. Sonstmuss der Bedarfsplan mit dem Finanzplan identischsein. Rein logisch ist das gar nicht anders möglich.Aber nun das Dreisteste: Obwohl Sie schon eine Un-terfinanzierung beklagen, ist Ihre Antwort auf Unterfi-nanzierung eine drastische Kürzung der Mittel. Da fasstman sich an den Kopf und fragt: Sind die von allen gu-ten Geistern verlassen? In diesem Bereich vergießen SieKrokodilstränen – total unglaubwürdig!
Denn in Wahrheit jubelt Herr Schmidt – so wie er gere-det hat –, hüpft das Herz, dass das so ist.
Er freut sich ja über jede Unterfinanzierung und beklagtsie nicht, weil er Straßenbau nicht will. Deswegen ist erim Grunde genommen dem Ziel seiner Träume ziemlichnahe gekommen. Das ist die Wirklichkeit.
Bei dem Programm handelt es sich in Wahrheit umeinen ziemlich plumpen Täuschungsversuch; denn stattbis 2002 läuft das Programm in Wirklichkeit bis 2010und länger. Der Zeitraum ist eben nicht 1999 bis 2002,sondern 1999 bis 2010 – wegen Kostensteigerungen undPlanungsverbesserungen wahrscheinlich länger. Ich be-fürchte sogar, er geht über den Zeitraum 2012, den End-zeitpunkt des jetzigen Bundesverkehrswegeplanes, hin-aus. Denn zwei Drittel der Gesamtmittel fallen nach demProgramm von vornherein erst nach 2002 an. Ich fragemich die ganze Zeit: Was soll eigentlich in der von Ih-nen angekündigten Fortschreibung des Bundesver-kehrswegeplanes noch Neues stehen? Sie haben mit sei-ner Bewältigung doch genug Arbeit.
Alle in dem Programm nur als „prioritär“ eingestuf-ten Maßnahmen im Straßenbau werden nicht realisiert.Sie fallen mit einem Anteil von 1,3 Milliarden DM derglobalen Minderausgabe zum Opfer. Und es ist ja garnicht zufällig, sondern Absicht, dass das Volumen der sogenannten prioritären Maßnahmen mit dem Volumender globalen Minderausgabe Straße auf den Pfennig identisch ist.„Prioritär“ heißt also bei Ihnen „vorrangig zu streichen“und nicht „vorrangig zu bauen“.Dirk Fischer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7753
Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist die„neue Rechtschreibung“ von Rot-Grün, an die sich dasLand erst einmal gewöhnen muss.Unklar ist zudem, wo der Anteil der globalen Min-derausgabe nun erbracht wird, der – so haben Sie ent-schieden – nicht mehr der Schiene auferlegt werden soll.Also noch einmal 1,3 Milliarden DM! Die Folge: Erneutwird der Straßenbauhaushalt der Steinbruch sein. Das istdoch ganz unabweisbar.
Wie können Sie da die Unverfrorenheit besitzen, inIhrem Entschließungsantrag zu behaupten, dass die Pro-jekte des vordringlichen Bedarfs, die in diesem Pro-gramm zusammengestellt sind, realisiert werden? DieWahrheit ist: Das Investitionsprogramm ist Makulatur.
Von Verlässlichkeit der Infrastrukturplanung, wie esin Ihrem Antrag heißt, kann überhaupt keine Rede sein.Dringliche Maßnahmen des Straßenbaus sind massiv ge-fährdet, 100 000 Arbeitsplätze im Tiefbaubereich akutbedroht.
Unvertretbar gegenüber Bürgerinnen und Bürgern ist es,die Mehrbelastung des Autofahrers durch permanenteMineralölsteuererhöhungen und zusätzliches Abkassie-ren von 47 Milliarden DM bis 2003 zu praktizieren
und gleichzeitig die Investitionen in den Straßenbau inden Keller zu fahren. Das ist unverantwortlich.
Das einzige Verhältnis, das Sie emotional zum Stra-ßenverkehr haben, ist, dass er sich als Schröpfbereicheignet, aber für ihn tun wollen Sie nichts. Die Folgendes Programms sind schwer wiegende volkswirtschaftli-che Schäden.
Im Hinblick auf den Arbeitsmarkt muss man bedenken,dass der Verkehrssektor direkt und indirekt rund4,3 Millionen Erwerbstätige beschäftigt. Es gibt volks-wirtschaftliche Verluste als Folge allgemeiner Überlas-tungen durch Staus in zweistelliger Milliardenhöhe proJahr. Ein unverantwortlicher Kahlschlag im Verkehrs-haushalt wird die Leistungsfähigkeit unseres Sys-temsnicht steigern, im Gegenteil. Das müssen Sie endlichbegreifen.Nun haben einige Kollegen von dem berühmten Be-schluss der Länderverkehrsminister gesprochen. Denhaben die schon dreimal gefasst, im November 1997, imApril 1998 und im November 1999.
Das Pikante daran ist: Die Initiative stammt aus demKabinett des Ministerpräsidenten Gerhard Schröder undist von seinem damaligen Verkehrsminister Peter Fischer initiiert worden. Das besonders Reizvolle daranist nach meiner Auffassung: Sie haben gesagt,4 Milliarden DM im Jahr mehr, aber
Sie haben nicht gesagt, 5 Milliarden DM weniger. Dasmüssen Sie begreifen.
Ich komme zu unseren Forderungen: Die Haushalts-ansätze aus dem mittelfristigen Finanzplan von MatthiasWissmann müssen wiederhergestellt werden. Beginnendmit dem Haushalt 2001 muss die Zweckbindung desStraßenbaufinanzierungsgesetzes von 1960 ausgeführtwerden und darf nicht durch das Haushaltsgesetz jähr-lich aufgehoben werden. Es müssen neue Modelle der Finanzierung, also derPrivatfinanzierung entwickelt werden. Herr Minister,das ist wunderbar. Wir unterstützen Sie dabei. Das Ge-setz haben wir schon gemacht, damals gegen den Wider-stand von SPD und Grünen. Aber wir müssen das EU-Recht, das zu eng ist, ausweiten. Sie gehen jetzt nachder Methode vor: Wenn ich nicht weiter weiß, macheich einen Arbeitskreis. Er liefert bis Mitte 2000 seineErgebnisse. Ich habe Ihnen gesagt: Gehen Sie in Europaan das Aufbrechen des zu engen Rechtsrahmens heran.Sie haben gesagt: Das mache ich erst hinterher. Alsowird die Folge sein: In dieser Legislaturperiode passiertgar nichts
und in der nächsten sind Sie eh nicht mehr da.
Das heißt, Sie haben heute weiße Salbe aufgetragen.Meine Damen und Herren, wir brauchen eine leis-tungsfähige und moderne Verkehrsinfrastruktur in denneuen Ländern. Da sind wir uns einig. Wir brauchen ei-ne zügige Realisierung dieser Projekte. Verkehrsinvesti-Dirk Fischer
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7754 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
tionen werden auch in der Zukunft Motor für wirtschaft-liche Entwicklung und Angleichung der Lebensverhält-nisse sein. Lassen Sie mich zum Schluss sagen – ich glaube, dasist außerordentlich wichtig –: Wir brauchen – das warimmer Ziel unserer Politik – ein wirksames Miteinandervon Straße, Schiene, Wasser und Luft in einer gesamt-vernetzten Verkehrssystematik. Das geht ohne Inves-titionen nicht. Dieses Ziel wird durch Ihre Investitions-Kahlschlagpolitik zerstört,
mit schweren Folgen für das deutsche und das europäi-sche Verkehrssystem.
Herr Kollege!
Der Ver-
kehrskollaps ist programmiert. Eine andere Politik muss
her, wie es in unserem Antrag steht: Zukunft sichern –
Verkehrsinfrastrukturinvestitionen steigern.
Stimmen Sie diesem vernünftigen und überzeugenden
Antrag zu!
Das Wort zu
einer Kurzintervention erhält der Kollege Schmidt.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Herr Kollege Fischer, Sie haben in Ihrer
Rede soeben behauptet, ich hätte während der Rede des
Ministers den Zwischenruf gemacht: Der Transrapid ist
mausetot!
Ich sitze hier vorne in der ersten Reihe. Jeder einzelne
Zwischenruf ist protokolliert worden. Ich stelle hier fest,
dass ich weder dem Sinne noch dem Worte nach einen
solchen Zwischenruf gemacht habe, weder heute noch
sonst irgendwann.
Diese Diktion habe ich nicht benutzt. Darauf lege ich
großen Wert.
Herr Kollege, ich sage Ihnen heute zum vierten
Mal – das können Sie schon in drei Bundestagsprotokol-
len nachlesen –: Es haben sich inzwischen zwei Unter-
nehmer deutlich erklärt. Der eine heißt Hartmut Meh-
dorn und ist Chef der Deutschen Bahn Aktiengesell-
schaft. Sie haben gestern Vormittag im Ausschuss selbst
hören können, dass er gesagt hat: Das Ding ist nicht
wirtschaftlich.
Es hat sich ein weiterer Unternehmer öffentlich er-
klärt, und zwar Rolf Rexrodt von Adtranz, einem der
Hersteller des Systems.
– Eckrodt, habe ich doch gesagt.
– Herr Eckrodt hat es nicht verdient, dass ich ihn mit
Herrn Rexrodt verwechsle. So viel Unterschied muss
auch nach der Rechtschreibreform noch sein.
Auch Herr Eckrodt hat sich öffentlich erklärt. Beide
Unternehmer haben gesagt: Lasst uns das Abenteuer be-
enden, es ist unwirtschaftlich. – Ihnen scheint das nicht
zu gefallen. Sie wünschen sich anscheinend einen
Staatskommissar, der wie in alten Zeiten die Bahn an-
weist, ein unwirtschaftliches Projekt zu realisieren. Das
scheint Ihre Vorstellung von Marktwirtschaft zu sein.
Ich kann Ihnen sagen: Nach der Bahnreform sind die-
se Zeiten Gott sei Dank vorbei. Wir werden eine rationa-
le Entscheidung nach dem abschließenden Treffen, bei
dem alle Projektbeteiligten an einem Tisch sitzen und in
abschließender Runde die Datenlage bewerten, fällen.
Ich sage Ihnen heute zum vierten Mal: Ich bin sehr zu-
versichtlich, dass die richtige Entscheidung getroffen
wird.
Zur Antwort
der Kollege Fischer.
Frau Präsi-dentin! Herr Kollege Schmidt, offenbar muss die Akus-tik zwischen dort und hier schlecht sein.
Aber ich denke, ich sollte mich darüber freuen, dass Siejetzt vor dem Deutschen Bundestag erklärt haben, dassSie den Transrapid nicht für mausetot halten und das,was Sie in der Vergangenheit häufig dazu gesagt haben,zurücknehmen. Wir als CDU/CSU-Fraktion stellen mitFreude fest: Der Kollege Schmidt hält den Transrapidfür kerngesund und lebendig.
Dirk Fischer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7755
Dies ist eine gute Botschaft zum Tage. Im Übrigen muss ich Ihnen eines sagen. Sie habenRecht: Als erster hat der Bund unter Ihrer Regierung dasEckpunktepapier verworfen, indem er sich verpflichtethat, den Fahrweg in eigener Verantwortung zu bauen,und indem er völlig unrealistische Schätzpreise, diedurch Ihre Koalition zu Endpreisen erklärt wurden, an-gesetzt hat.
Auch bei der Neubaustrecke Köln–Rhein/Main wirdder Schätzpreis für diese Strecke der Rad-Schiene-Technologie im Ergebnis dreimal höher abgerechnetwerden, wogegen Sie weder als Abgeordneter noch alsAufsichtsratsmitglied der DB AG interveniert haben. Siezahlen vielmehr alles und Sie ignorieren die Aufforde-rung, gleiches Recht für den Transrapid herzustellen,konsequent. Das steht im Widerspruch zu Ihrem heuti-gen, soeben nachgeschobenen klaren Bekenntnis zurAnwendung des Transrapid auf der Strecke Hamburg-Berlin. Letztlich hat Herr Eckrodt in Wort und Schrift seinklares Bekenntnis zu seinen Verpflichtungen aus demKonsortium bekundet.
Sie wissen genau, dass Herr Eckrodt weniger ein Prob-lem mit dem Transrapid hat, sondern eher damit, dass ermit seinem Unternehmen pro Jahr eine Dreiviertelmilli-arde DM Verlust schreibt und der Daimler-Chrysler-Konzern dieses Unternehmen deswegen lieber heute alsmorgen verkaufen möchte.
Eckrodt hat also keine Puste, um ein solch vernünftigesKonzept bis zum Jahr 2007 durchzustehen. Sie sollten nicht die Probleme eines Unternehmens zuProblemen eines hervorragenden und zukunftsweisen-den technologischen Systems machen und beide in einenTopf schmeißen.
Jetzt fahrenwir in der Debatte fort. Die Kollegin Franziska Eich-städt-Bohlig hat das Wort.
Kollegen! Lieber Herr Kollege Fischer, ich habe nachIhrer Rede den Eindruck, dass Sie noch nicht einmal inder seinerzeitigen Realität des Kollegen Wissmann an-gekommen sind,
denn das Problem des Bundesverkehrswegeplans von1992 war und ist bis heute, dass er auf so vielen Illusio-nen aufgebaut hat und über so lange Zeit hinweg Gelderund Straßenbauvorhaben bindet, dass schon Wissmannnicht anders konnte, als hier und dort und da einen Spa-tenstich zu machen, ohne zu wissen, wie die Projekteüberhaupt sinnvoll zu einem Ende kommen sollten. Es ist doch gerade das Problem, dass die verkehrli-chen Notwendigkeiten, die ökologische Verträglichkeitund die finanzielle Machbarkeit in den vergangenen Jah-ren einfach so oft missachtet worden sind, dass wir tat-sächlich – da haben Sie mit Ihrer Äußerung Recht, nurandersherum, als Sie es eigentlich gewollt und gemeinthaben – an diesem Erbe sehr lange tragen müssen undjetzt sehr lange sehr sorgfältig in der Verkehrsplanungeine Feinabstimmung vornehmen müssen, wo und wieweitergebaut werden kann und weitergebaut werdenmuss. Wir müssen diesen riesigen Berg abtragen und daszu einem guten Ende bringen. Von daher ist auch klar: Rot-Grün wird nicht einfacheinen Strich ziehen können.
Deswegen muss ich auch von hier aus all die Bürgerini-tiativen, die natürlich die Hoffnung hatten, wir könnteneinen schnellen Stopp von bestimmten Verkehrsprojek-ten, die wir für ökologisch problematisch halten, ver-anlassen, um Nachsicht bitten. So schnell kann man die-sen schweren Tanker, den Sie uns hinterlassen, nichtumsteuern. Ein Teil der Hauptarbeit besteht auch darin, dass wirSchritt für Schritt die Planungen, die Sie uns hinterlas-sen haben, überhaupt auf ein vernünftiges Maß bringen.Von daher ist das Investitionsprogramm 1999 bis 2002in keiner Weise Rosstäuscherei, sondern das Programmmacht endlich das, was in den Jahren vorher bereitsdringend notwendig gewesen wäre: Es bringt Planungs-klarheit und -sicherheit für den weiteren Fortgang. Dafürwar es allerhöchste Zeit, denn das haben Sie ja wirklichversäumt. Auch die Überarbeitung, die 1997 fällig ge-wesen wäre, haben Sie eben nicht gemacht.
Wir bleiben dabei: Das Problem, dass der Bundesver-kehrswegeplan mit 90 Milliarden DM überfinanziertbzw. untergedeckt war, kann man jetzt nicht einfach mitdem Satz aus der Welt schaffen, das sei eben der Bedarf.Das ist doch nicht wahr. Wir alle wissen aus den Län-dern, dass sie natürlich ihre Planungen und Projekte be-gonnen und angemeldet haben und die Hoffnung haben,dass nicht nur aus den Spatenstichen, sondern auch ausden in der Schublade liegenden Projekten endlich etwaswird. Von daher geht es nicht darum, einfach zu sagen: Dasist Bedarf; so haben wir das nicht gemeint. Vielmehrwollen wir die Verantwortung jetzt wahrnehmen, SchrittDirk Fischer
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für Schritt daraus vernünftige Lösungen abzuleiten. Vondaher kann man nicht von Rosstäuscherei reden, sondernvon der verantwortlichen Fortführung dessen, was Sieuns eingebrockt haben.Wir haben folgende Aufgaben: Wir müssen erstensden Bundesverkehrswegeplan nach Kriterien der Reali-sierbarkeit, der Sinnhaftigkeit, aber auch der kostenmä-ßigen Verantwortbarkeit und der Umweltverträglichkeitüberarbeiten. Wir haben auch die Aufgabe, Verkehrsträ-gerkonkurrenzen, die Sie nicht sonderlich ernst nehmenwollten, sehr genau zu bedenken und abzuwägen, wasan welcher Stelle miteinander verträglich ist. Weiter haben wir beschlossen und realisieren es auch,dass die Ausbauprojekte in Ostdeutschland, die Ver-kehrsprojekte „Deutsche Einheit“ eine klare Prioritäthaben, weil hier der Nachholbedarf noch immer sehrgroß ist. Von daher werden wir uns auch der Absichtentgegenstellen, an diese Aufgabe mit willkürlichenKürzungen heranzugehen.Wir haben aber als Zweites die Aufgabe – dazu ste-hen wir, und das ist Ihnen gestern im Ausschuss sehrdeutlich von Herrn Mehdorn gesagt worden –, die In-vestitionsschere zwischen Straße und Schiene zuschließen. Das wird Jahr für Jahr von Rot-Grün schritt-weise abgebaut werden, weil wir uns dafür einsetzen,dass endlich die Chancengleichheit der Schiene gewähr-leistet wird und die Schiene überhaupt ihren wirtschaft-lichen Spielraum bekommt.
Darüber sind wir uns einig; ich bin froh, dass KollegeOswald das gleich uns positiv gesehen hat. Der dritte Punkt ist: Wir müssen auch noch den Bergder privat vorfinanzierten Verkehrsinvestitionen mit ab-tragen. Auch das ist ein Stück Erbe, mit dem wir nurrealitätsgerecht umgehen können, das man nicht einfachdurch Forderungen nach mehr Geld wegreden kann, wieSie das in Ihrem Antrag getan haben. Mein Kollege Ali Schmidt hat auf den vierten Punktbereits hingewiesen. Wir müssen uns auch verstärkt –mehr noch, als wir das zur Zeit finanziell selbst beimbesten Willen überhaupt tun können – dem Problemstellen, dass wir einen riesigen Berg von Bestands-erneuerungsaufgaben vor uns herschieben, der mehrund mehr Leistungen von uns fordert. Von daher müs-sen wir auch die Prioritäten zwischen Schienenneubauund -netzerweiterung, Straßenneubau und -netzerweite- rung schrittweise zugunsten der Bestandspflege undder Erhaltungs- und Erneuerungsaufwendungen – seies gekoppelt mit Ausbau oder auch nicht – verschie-ben. Das ist eine sehr große und schwierige Aufgabe. Minister Klimmt hat erklärt, dass wir uns dieser Auf-gabe stellen. Das hat auch schon Herr Müntefering sehrdeutlich erklärt. Mit dem „Netz 21“ hat die Bahn AG be-reits den Schwerpunkt vom Neu- und Ausbau zum Un-terhalt verlagert. Sie hat deutlich angekündigt: Neu- undAusbau werden nur dort vorgenommen, wo sich einNutzen für das Gesamtnetz ergibt.Dieser Aufgabe, denke ich, müssen wir uns auch im Straßenbau vermehrt stellen. Es gibt über11 000 Kilometer Autobahnen und über 40 000 Kilo-meter Bundesstraßen. Es gibt einen wachsenden Bedarfan Erhaltung und Erneuerung insbesondere von Brü-cken- und Tunnelbauwerken. Auch Minister Klimmt hatschon darauf hingewiesen: Allein 1990 wurde der jährli-che Bedarf an Erneuerungen im Bereich von Tunnel-und Brückenbauwerken – das gilt nur für die Straße –mit 500 Millionen DM angesetzt. 1998 waren es schon700 Millionen DM. In den nächsten Jahren wird alleindiese Position aufgrund des Bedarfs auf über1 Milliarde DM ansteigen. Trotzdem wird immer weitergebaut. Insofern steigt der Bedarf sowohl aufgrund derAlterung als auch aufgrund der Netzerweiterung.Konkret kommt hinzu: Ingenieure sagen uns einenschnell und umfangreich steigenden Bedarf an Stahlbe-ton- und Spannbetonsanierungen im Straßenbereich vor-aus. Im Schienenbereich gibt es die Notwendigkeit derGrundsanierung vieler Eisenbauwerke aus der Grün-derzeit, bei denen zunehmend das Material ermüdet. Deshalb möchte ich dafür werben, dass wir nicht ein-fach mehr Geld für Ausbau und Erweiterung fordern,wie Sie es in Ihrem Antrag getan haben, sondern dasssich alle Beteiligten gemeinsam – gerade auch die Op-position – dem Thema Bestandserneuerung sehr ernst-haft stellen.
Es spricht jetzt
die Frau Kollegin Blank.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Herr Minister Klimmt, ein Wortzum Transrapid: Ich glaube nach der Debatte in dervergangenen Woche und nach den gestrigen und heuti-gen Äußerungen, dass Sie eigentlich nur noch einenGrabredner suchen und die Frage beantwortet habenwollen, wer die Verantwortung für dieses Trauerspielübernehmen soll.
Wir diskutieren heute nicht nur über die Verkehrsin-vestitionen, sondern auch über den Straßenbaubericht.Ich möchte einige Bemerkungen zum Straßenbaubericht1998 machen, in dem die Verhältnisse von 1997 ge-schildert werden. Damals waren 10,1 Milliarden DMgeplant. Verausgabt wurden fast 10,2 Milliarden DM,rund 31 Millionen DM mehr als vorgesehen. Davonwurden 4,8 Milliarden DM in die alten Bundesländerund 3,6 Milliarden DM in die neuen Bundesländer in-vestiert. Kollege Hiller, das ist eine Beseitigung der Er-blast der SED und des alten DDR-Regimes, und das,was wir Ihnen in der Verkehrspolitik hinterlassen haben,ist keine Erblast.
Franziska Eichstädt-Bohlig
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7757
Zum Kollegen Schmidt: Er behauptet nach wie vor,dass in den Haushalt 1997 nur 8,1 Milliarden DM fürInvestitionen eingestellt worden seien. Das hat er vorherleider wieder behauptet. Aber das stimmt nicht. Eigent-lich müsste er das besser wissen. Tatsächlich wurdengenau 8,377 Milliarden DM ausgegeben. In der Antwortauf eine Anfrage, die er gestellt hat, ist deutlich gewor-den, dass auf der Ist-Seite mehr ausgegeben wurde. Dashabe ich gerade ausgeführt. Der Straßenbaubericht macht klar, dass die Ver-kehrsprojekte „Deutsche Einheit“ Vorrang haben; dennsie dienen ja auch dem Zusammenwachsen Deutsch-lands und vor allen Dingen der Verbesserung des Ost-West-Verkehrs. Wirtschaftswachstum benötigt eine gutausgebaute Verkehrsinfrastruktur. Kollegen von der SPD, ich erinnere mich, dass derdamalige Ministerpräsident des Landes Niedersachsen –der heutige Bundeskanzler – den Wunsch geäußert hat,dass „seine“ Autobahn zur EXPO in Hannover ausge-baut wird, und zwar mit zusätzlichen Mitteln in Höhevon 620 Millionen DM. Wir waren damals in der Lage,ihm diesen Wunsch zu erfüllen – die anderen Bundes-länder sind zurückgetreten –, und haben diese620 Millionen DM lockergemacht. Man sollte vielleichtein kleines Dankeschön dafür sagen, dass der Verkehrzur EXPO 2000 aufgrund entsprechender straßenbauli-cher Maßnahmen gut funktionieren wird.
Zu unserem Antrag. Als exportorientierte Wirt-schaftsnation brauchen wir natürlich eine leistungsfähi-ge Verkehrsinfrastruktur. Das ist eine alte Binsen-weisheit und hoffentlich auch allgemein bekannt; abermanchmal frage ich mich, ob das auch für die derzeitigeRegierungskoalition gilt. Der Verkehrsbereich trägt nacheiner Untersuchung des Verkehrswissenschaftlichen In-stituts der Universität Köln zu 27 Prozent zur inländi-schen Wertschöpfung bei. Ohne Verkehrswachstum wä-re die volkswirtschaftliche Bruttowertschöpfung inDeutschland zum Beispiel 1990 um ein Viertel geringerausgefallen. Unternehmen beurteilen im Zeitalter der Globalisie-rung auch die Qualität der Verkehrsinfrastruktur, bevordie Entscheidung für einen Standort getroffen wird. Bis-her war die gute Verkehrsinfrastruktur in Deutschlandein Standortvorteil. Wir sollten diesen Vorteil nichtleichtsinnig verspielen. Dass Verkehrsinvestitionen Ar-beit schaffen oder erhalten, ist mittlerweile jedem be-kannt. Investitionen in Höhe von 1 Milliarde DM schaf-fen bzw. erhalten circa 12 000 Arbeitsplätze.Bisher hat die rot-grüne Verkehrspolitik allerdingsmehr verwaltet als gestaltet.
Die Verwaltung hatte mit einem politischen Unfall desdamaligen Ministers Müntefering angefangen; er wolltenämlich den Senioren das Autofahren verbieten.
Eine solche Diskriminierung unserer Senioren war fatal.Nach geharnischten Protesten ist der Vorschlag wiederverschwunden. Heute wollen Sie ihn nicht mehr wahr-haben; aber der Vorschlag war da. Allein der Gedanke,dass ältere Menschen auf Mobilität verzichten müssen,ist unfassbar. Er ist nahezu eine Frechheit. Vielleichtliegt ihm die Unkenntnis über die tatsächlichen Unfall-verursacher zugrunde.
Wie wichtig Ihnen Verkehrssicherheit ist, sieht manauch daran, dass Sie im Haushalt die Ausgaben für Ver-kehrssicherheit gekürzt und nicht erhöht haben. Herr Minister Klimmt, da Sie erst wenig über100 Tage im Amt sind, sehe ich Ihnen nach, dass Sienoch nicht so genau wissen, dass der Bundesver-kehrswegeplan ein Bedarfsplan ist.
Aber der SPD sehe ich das nicht mehr nach. Es ist dieVerbreitung einer Lüge. Der Bedarfsplan ist dazu da,dass der Bedarf aus den einzelnen Ländern angemeldetwird. Wenn das geschehen ist, dann werden die Kostenund der Nutzen errechnet.Liebe Kollegen von den Grünen, wenn Ihre Vertreternicht ständig gegen eine Verbindung von A nach B de-monstrieren würden,
dann würden die Baukosten für manche Projekte nichtins Unermessliche steigen; vielmehr könnte man dieProjekte wesentlich früher bauen.
Nun möchte ich einige Worte zum Investitionspro-gramm sagen. Das Programm 1999 – 2002 ist absolutnicht zukunftsweisend, sondern ein groß angelegtesTäuschungsmanöver. Das Programm sollte Klarheit undWahrheit bringen; aber allein die Sprache verrät somanches. Während kurz nach der Regierungsübernahmein Ihrem Programmentwurf noch von einer Aufnahmedes Verkehrs die Rede war, steht jetzt „zur Verkehrsab-wicklung“ im Text. Diese negative Sprache kommt dannauch bei Kürzungen bei Neubaumaßnahmen, aber auchbei Erhaltungsinvestitionen voll zum Ausdruck.Die Auswirkungen auf den staugeplagten Autofah-rer, aber auch auf das Gewerbe sind verheerend. Es gibtfast keine neuen Baubeginne, sondern nur den Weiter-bau.
Das zeigt dieses Investitionsprogramm ganz deutlichauf. Die Wahrheit, die in diesem Programm enthalten istRenate Blank
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– mein Kollege Fischer hat schon darauf hingewiesen –,lässt zu wünschen übrig; denn es wird suggeriert, dass esbis 2002 laufen soll. Aber es läuft natürlich wesentlichlänger.Zur Erinnerung: Wir hatten in unserer mittelfristigenInvestitionsplanung bis zum Jahr 2002 den Betrag von22,3 Milliarden DM vorgesehen. Jetzt sind es nur noch17,4 Milliarden DM, also rund 5 Milliarden DM weni-ger, die in den Straßenbau investiert werden. Ich verwei-se auch auf die Aussage der Verkehrsministerkonferenzder Länder vom 3./4. November. Ich zitiere:Die Verkehrsministerkonferenz fordert den Bundeindringlich auf, zur unverzüglichen Behebung derkritischen Situation im Bundesfernstraßenbau undSchienenwegeausbau entsprechende Vorschläge zuunterbreiten und die Finanzierungsmittel dem tat-sächlichen Bedarf anzupassen.
Nichts ist geschehen. Das Investitionsprogramm – sogeht es weiter im Text – stehe im krassen Widerspruchzu den VMK-Beschlüssen, wonach ein jährlicher Zu-satzbedarf von 4 Milliarden DM erforderlich sei, und –jetzt hören auch Sie zu! – der Ausbau der Verkehrsinfra-struktur außerhalb der Verkehrsprojekte „Deutsche Ein-heit“ könne nicht mehr im notwendigen Umfang fortge-führt werden. Nehmen Sie sich doch die Worte IhrerSPD-Länderverkehrsminister ein bisschen zu Herzen;das wäre gut.
Die Worte der Länderverkehrsminister sprechen einedeutliche Sprache. Ich zitiere ein Beispiel aus Bayern:Bayern erhält bis 2003 für neue Projekte nur noch29,4 Millionen DM. Damit kann man vielleicht 3 Kilo-meter Straße bauen. Die für baureife Projekte erforderli-chen Mittel betragen allein für Bayern rund 3 MilliardenDM.Meine Kolleginnen und Kollegen, Ortsumgehungensind natürlich nicht nur Umweltschutz, sondern auchMenschenschutz. Bei den Investitionen für die Schienenwege ist eben-falls Stillstand eingetreten. Die angebliche Mobilisie-rung zusätzlicher Mittel in Höhe von 5,4 Milliarden DMist eine reine Nebelkerzenaktion. Die erneute Niederlageder Grünen, Kollege Schmidt, sollte damit verschleiertwerden; denn die Grünen hatten die Zustimmung zumInvestitionsprogramm von der Anhebung der Höhe derMittel für die Schiene abhängig gemacht. Kollege Schmidt, Sie hören es nicht gern, aber ichmuss Ihnen sagen:Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich höre Ihnen immer gernzu!)Es sind keine neuen Mittel für die Schiene bereitgestelltworden, sondern es handelt sich um einen plumpen Ver-such, Ihr Einknicken zu kaschieren. Bekannt ist, dass Siefür das privat vorfinanzierte Verkehrsprojekt Nürnberg –München, das Sie eigentlich immer abgelehnt haben,
jetzt 3 Milliarden DM in das Investitionsprogramm ein-stellen. Dem Investitionsprogramm haben Sie zuge-stimmt.
Lassen Sie mich eine Bemerkung zu einer privatenVorfinanzierung machen: Sie übersehen immer denvolkswirtschaftlichen Nutzen und den Gewinn, der dannüber Steuereinnahmen wieder in den Haushalt zurück-fließt. Die Aussagen, die der neue Bahnchef Mehdorn ges-tern im Ausschuss gemacht hat, was zum Beispiel dasSchienenprojekt Stuttgart–München oder auch das Pro-jekt Nürnberg–Erfurt anbelangt, stimmen eigentlich sehrhoffnungsvoll; denn er hat gesagt, es seien schnelleZugverbindungen von einem Verkehrsknoten zum ande-ren erforderlich. Zum Beispiel sollte auf der StreckeMünchen–Berlin eine Fahrzeit von dreieinhalb Stundenerreicht werden, damit mehr Verkehr auf die Schieneverlagert wird.
Meine Damen und Herren von der Koalition, da müs-sen Sie aber noch ziemlich viel umdenken; denn dasVerkehrsprojekt „Deutsche Einheit“ Nürnberg–Erfurt gehört nicht gerade zu Ihren Lieblingsprojekten.Kollege Schmidt, die Grünen haben dieses Konzept ges-tern – das waren ihre Aussagen im Ausschuss – eindeu-tig gebilligt. Wir werden Sie beim Wort nehmen: AuchSie wollen in Zukunft dieses Verkehrsprojekt „DeutscheEinheit“. Das freut uns ganz besonders.
Wir benötigen dringend mehr Geld für Verkehrsin-vestitionen. Ein Weg wäre, Einnahmen aus der Öko-steuer, die den Namen nicht verdient, zweckgebundenfür Investitionen in die Verkehrswege auszugeben.
Frau Kollegin,
ich muss Sie darauf hinweisen, dass Sie zum Schluss
kommen müssen.
Gut. – Ich verhehlenicht, dass es uns als Verkehrspolitikern damals nichtgelungen ist, eine Zweckbindung bei der LKW-Gebührherbeizuführen. Aber, meine Damen und Herren von derKoalition, Sie wollten doch alles besser machen.Renate Blank
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Jetzt können Sie den Beweis antreten, indem Sie eineZweckbindung forcieren. Ihre Verkehrspolitik ist nichtzukunftsgerichtet, sondern ein Schritt in den Abgrund.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen, Liebe Kollegen! Sehr verehrte Frau
Blank, in einen Abgrund werden wir uns ganz sicher-
lich nicht stürzen. Wir sind gerade noch einmal vor dem
Abgrund gestoppt, den Ihre Finanzpolitik uns beschert
hat.
Sie bezeichnen in Ihrem Antrag Mobilität als den
Schlüsselfaktor unserer Entwicklung. Dem ist zuzu-
stimmen. Aber dennoch muss man hier einmal Klarheit
und Wahrheit auf die Tagesordnung bringen.
– Ja, Herr Friedrich, das ist immer gut. Daher bezeichne
ich Ihren und den Antrag der CDU/CSU als Bankrott-
erklärung Ihrer Politik der letzten 16 Jahre.
CDU, CSU und F.D.P. haben auf Kosten künftiger
Generationen Politik gemacht. Sie haben die Staatsver-
schuldung in die Höhe getrieben, sodass wir jährlich
80 Milliarden DM an Zinsen zu bezahlen haben. Wenn
wir doch nur ein Zehntel davon hätten, Herr Friedrich,
also 8 Milliarden DM, so wäre in Ihren damaligen
Haushalten vielleicht anderes möglich gewesen.
Es ist uns gelungen, diese Schuldenspirale zu durch-
brechen.
Trotz der notwendigen Sparmaßnahmen auch im
Haushalt des Ministers für Verkehr, Bauen und Wohnen
ist es aber gelungen – ich möchte hier jetzt wirklich dem
Märchen von der Absenkung der Investitionen begeg-
nen –, den Investitionsanteil gerade auch im Bereich des
Straßenverkehrs stabil zu halten.
Herr Waigel hatte für das Jahr 1997 8,1 Milliarden DM
und für 1998 8,4 Milliarden DM vorgesehen. Wir haben
für den Haushalt 1999 8,4 Milliarden DM, für 2000
8,3 Milliarden DM und für 2001 und 2002 jeweils
8,2 Milli-arden DM Investitionsanteil beim Straßenbau
eingeplant, den Sie hier immer so hervorheben. Von ei-
nem Kahlschlag kann überhaupt keine Rede sein.
Zwei Punkte Ihrer unverantwortlichen Verkehrspoli-
tik möchte ich jetzt herausgreifen, und zwar weil ich aus
Baden-Württemberg komme und wir darunter ganz be-
sonders leiden. Erstens: die unverantwortliche private
Vorfinanzierung. Dies war ein teurer Einkauf von Zeit.
Sie haben kommenden Generationen Gestaltungsspiel-
räume genommen. Weil dies auch immer im theore-
tischen Bereich bleibt, möchte ich jetzt auf die Zahlen,
die zum Beispiel der Engelbergtunnel gekostet hat, ein-
gehen.
600 Millionen DM Baukosten waren angegeben. Er ist
etwas teurer geworden: 800 Millionen DM. Die Planun-
gen im Bundesverkehrswegeplan stimmen eben oft
nicht. Die Kosten werden sich unter dem Strich nach
Rückzahlung der Zinsen für die private Vorfinanzierung
auf 1,3 Milliarden DM belaufen.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fischer?
Aber bitte.
Frau Kolle-
gin, wenn Sie die Konzessionsmodelle ansprechen und
sagen, das sei ein relativ teurer Einkauf von Zeit, dann
möchte ich gerne von Ihnen wissen, welchem Konzessi-
onsmodell die SPD-Bundestagsfraktion im Haus-
haltsausschuss, im Verkehrsausschuss oder im Plenum
widersprochen hat. Gibt es ein einziges Konzessionsmo-
dell, das ohne die Zustimmung der SPD beschlossen
worden wäre?
Der Engelbergtun-
nel ist ein rein privat vorfinanzierter Tunnel. Es wird in
der Zukunft keine Maut erhoben werden. Die Verkehrs-
politiker haben – das wissen Sie ganz genau – allen die-
sen Modellen im Bereich der privaten Vorfinanzierung
immer widersprochen.
Gestatten Sieauch noch eine Nachfrage des Kollegen Fischer?Renate Blank
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7760 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
Nein.
– Das war kein Geeiere.
– Wenn Sie so großen Wert darauf legen. Herr
Fischer, bitte.
Darf ich Sie
darauf hinweisen, dass Sie eben in Ihrer Formulierung
genau die Definition des Konzessionsmodells gewählt
haben? Ist Ihnen bekannt, dass alle Konzessionsmodelle
– es gibt keine Ausnahme – von der SPD-Bundes-
tagsfraktion im Haushaltsausschuss, in den Fachaus-
schüssen und im Plenum mitgetragen worden sind?
Deswegen ist eine Kritik an der Vorgängerregierung in
diesem Zusammenhang zumindest aus Ihrem Munde
unangemessen. Können Sie dem zustimmen?
Nein, dem kann ichnicht zustimmen. Deswegen habe ich zuvor Wert daraufgelegt, dass wir Verkehrspolitiker und -politikerinnender SPD dies immer abgelehnt haben.
– Selbstverständlich. – Das andere, was Sie im Haus-haltsbereich dargestellt haben, ist richtig. Jetzt möchteich aber mit meinen Ausführungen fortfahren.Auf Kosten der Substanz haben Sie auch in einemzweiten Bereich gelebt. Die F.D.P. begründet den vonihr gestellten Antrag mit einer verheerenden Zustands-beschreibung unseres deutschen Straßennetzes. Hier ha-ben Sie nun wirklich einen Offenbarungseid geleistet,Herr Kollege Friedrich. Sie glauben doch nicht im Ernst,dass der Zustand unseres Straßennetzes erst in denletzten 15 Monaten so erschreckend geworden ist, wieSie ihn hier beschreiben. Richtig ist, dass Sie in den ver-gangenen Jahren systematisch die Pflege vorhandenerVerkehrswege vernachlässigt haben und stattdessen Spa-tenstiche an allen Ecken und Enden der Republik vorge-nommen haben, ohne dass die Finanzierung der Bau-maßnahmen langfristig abgesichert gewesen wäre.
300 Millionen DM betrug die Differenz zwischen denfür die Erhaltung notwendigen Mitteln und den tatsäch-lichen Ausgaben alleine für die Ingenieurbauwerke derBundesfernstraßen in den alten Bundesländern. Die Ver-säumnisse der Vergangenheit bestehen darin, dass Siedie steigende Beanspruchung der Straßen durch höhereAchslasten und zunehmenden Verkehr missachtet ha-ben. Die Erhaltungsmaßnahmen spielen dagegen in un-serer Finanzplanung eine wichtige Rolle. Für Erhal-tungsinvestitionen haben wir rund 3,5 Milliarden DM inden Haushalt eingestellt.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion, wenn Sie in Ihrem Antrag schreiben, „Maßstabdarf nicht der gegenwärtige Bedarf sein, sondern das zuerwartende Verkehrsaufkommen“, so ist das ja richtig.Aber der gegenwärtig gültige Bundesverkehrswegeplanist schon lange nicht mehr haltbar. Vorhin wurden schondie für diesen Plan erforderlichen Finanzmittel genannt;in diesem Zusammenhang wurde auch auf die Unterde-ckung in Höhe von 90 bis 100 Milliarden DM hingewie-sen.
Das ist übrigens nicht von der SPD ausgerechnet wor-den, sondern von verschiedenen Verkehrsinstituten. Siemüssten also Herrn Professor Aberle fragen, der diese100 Milliarden DM genannt hat.
– Nein, diese Zahlen müssen Sie einfach zur Kenntnisnehmen.
Deshalb ist ein neuer Bundesverkehrswegeplan drin-gend notwendig. Grundlage hierfür wird ein Verkehrs-bericht 2000 sein, der die aktuellen Verkehrsprognosenaufnehmen wird. Auch sollen die Bewertungskriterienüberarbeitet und ergänzt werden. Umwelt, Raumord-nung und Städtebau bekommen einen neuen Stellenwert.Die Schnittstellen und Verknüpfungen der einzelnenVerkehrsträger werden für die zukünftige Verkehrspla-nung eine größere Rolle spielen müssen.Damit vor dem In-Kraft-Treten des neuen Bundes-verkehrswegeplans Sicherheit und Klarheit einkehrenkönnen, haben wir das Investitionsprogramm aufge-legt, das für die Zeit bis 2002 67 Milliarden DM um-fasst. Dies schafft Planungssicherheit für Länder, Städteund Gemeinden.Ferner wird es darum gehen, die Investitionen für dieBahn zu verstärken. Im Investitionsprogramm 1999 bis2002 ist es uns schon gelungen, 55 Prozent der Mittel inden westlichen Bundesländern auf die Schienenwege zulenken. In einem Gespräch mit Herrn Mehdorn habenwir auch erfahren – dies ist uns schon seit langem klar –,dass es zuallererst darum geht, Chancengleichheit fürdie Bahn herzustellen, was im Hinblick auf den europäi-schen Rahmen umso notwendiger, aber auch umsoschwieriger sein wird.Innerhalb der Europäischen Union ist es jetzt schongelungen, zu verabreden, dass im Bereich der transeuro-päischen Netze der Zugang für Verkehrsunternehmen,die die Sicherheitsvorschriften erfüllen, gewährleistetsein wird, ohne dass nationale Regierungen Einsprucherheben können. Das heißt, wir haben den ersten Schrittin Richtung einer besseren Politik getan, um mehrChancengleichheit für die Bundesbahn zu erreichen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7761
Der zweite Ansatz, den wir einführen werden – Ver-kehrsminister Klimmt hat schon darauf hingewiesen –,ist die kilometerabhängige Autobahngebühr fürLKWs. Diese entfernungsabhängige Gebühr ist fürDeutschland als Transitland ein wichtiges Instrument,um ein Zeichen zu setzen, dass Güter von der Straße aufdie Schiene gehören und dass in dem Wettbewerb derVerkehrsträger auch die Straße die Kosten, die durch ih-re Benutzung entstehen, zum Teil selbst zu tragen hat.Das bisherige System, das Wenigfahrer benachteiligtund Vielfahrer bevorzugt, wird abgeschafft werden.Ein positiver Ausblick: Es wird in Zukunft darum ge-hen, die Verkehrsinfrastruktur in allen Bereichen für alleVerkehrsträger leistungsfähig zu machen. Es geht umden Ausbau und um den Erhalt der europäischen Ver-kehrswege sowie um klare Prioritäten und um eine rea-listische Investitionspolitik. Es geht auch darum, dassdas Investitionsprogramm als Brücke zu einem neuenBundesverkehrswegeplan in diesen Zeiträumen realisiertwird, dass ein verlässliches Planungsinstrument entstehtund dass wir einen Bundesverkehrswegeplan aufstellenwerden, der kein unterfinanzierter Wunschzettel ist, sowie dies in der Vergangenheit bei Ihnen der Fall war.
Frau Kollegin,
ich denke, dies wäre ein schöner Schluss. Ihre Redezeit
ist nämlich abgelaufen.
Ein letzter Satz. Es
wird darum gehen, die Chancengleichheit der Verkehrs-
träger in den Mittelpunkt zukünftiger Verkehrspolitik zu
stellen, die – im Gegensatz zu Ihnen – Wahrheit und
Klarheit in ihren Haushalts- und Investitionsplänen auf-
weist.
Jetzt hat der
Herr Kollege Börnsen das Wort.
FrauPräsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wa-rum ist eine verantwortungsbewusste Verkehrspolitikgerade in Deutschland so wichtig? Wir sind auf unseremKontinent Transitland Nummer eins. Bedingt durch un-sere geographische Lage ist die Bundesrepublik Ver-kehrsdrehscheibe in Europa. Die wirtschaftliche Ent-wicklung unserer Nachbarn in Ost und West, in Nordund Süd ist ganz entscheidend von einer klugen und zu-kunftsorientierten Verkehrspolitik bei uns abhängig. Alsgrößte Exportnation auf diesem Kontinent müssen wirein elementares, ja vitales Interesse an dynamischenMärkten in Deutschland und in unserem Umfeld haben,die Arbeit und Nachfrage sichern. Ein solches Verständnis einer global ausgerichtetenVerkehrspolitik sehe ich derzeit bei der rot-grünen Bun-desregierung nicht. Gegenüber dem Verkehrsetat desJahres 1998 hat sie in ihrem ersten Regierungsjahr denEtat um 6,5 Milliarden DM gekürzt und im zweiten Jahrim Vergleich zu 1998 um 5,3 Milliarden DM. Das be-deutet eine Kürzung von 11,8 Milliarden DM in nurzwei Jahren und damit weniger Ausbau von Schiene,Straße, Wasserstraße und Luftverkehr. Mit diesen drasti-schen Streichungen schadet man unserem und dem eu-ropäischen Arbeitsmarkt. Vergessen wir nicht: Über4 Millionen Arbeitlose allein bei uns erwarten, dass fürdie Schaffung von Arbeitsplätzen gehandelt und nichtgekürzt wird.
Die Politik dieser Regierung ist aktuell unverantwort-lich und mittelfristig von verheerender Auswirkung.Allein in den nächsten zehn Jahren werden die Ver-kehrsleistungen bei uns drastisch steigen, beim Indivi-dualverkehr um 30, bei der Bahn um 41 und im Luftver-kehr um 150 Prozent. Für den Gütertransport lautet diePrognose: 95 Prozent Zunahme für die Straße, 55 Pro-zent Zuwachs für die Bahn und 84 Prozent Zuwachs fürdie Wasserwege. Der europäische Ost-West- und West-Ost-Verkehr wird sich in den kommenden zehn Jahrenverdreißigfachen. Die Frage ist nicht, ob wir die Voraussetzungen fürzügigen Verkehr schaffen, sondern die Frage ist allein,wie wir diese Zukunftsherausforderungen meistern.Schon jetzt sind große Teile unseres Bundesfernstraßen-netzes überlastet, stressige Staus gehören zum Alltag.Die volkswirtschaftlichen Schäden belaufen sich aufüber 200 Milliarden DM pro Jahr. Aber statt Abhilfeund Vorsorge zu betreiben, ist fast Stillstand eingetreten.Ich rufe in Erinnerung: Über 11 Milliarden DM hat dieBundesregierung gegenüber 1998 im Verkehrsbereichgekürzt, nicht zuletzt auf Druck der Bündnisgrünen. Siewollten die Verkehrswende und schaffen, überspitzt ge-sagt, das Verkehrsende.Das Magdeburger Wahlprogramm der Grünen vomMärz 1998 gibt für diese Feststellung reichlich Nahrung.Während dieses Papier auf Konfrontation mit dem bis-herigen Verkehrskurs ausgerichtet ist, bemüht die SPDin ihrem Leipziger Beschluss vom April 1998 mehr dieKontinuität. In der Koalitionsvereinbarung vom Oktober1998 kommen die teilweise gegensätzlichen Stand-punkte zu einem künstlichen Kompromiss. Dieses Di-lemma begleitet seitdem deutsche Verkehrspolitik: Han-deln mit angezogener Handbremse!
Beispiel eins: das Auto. „Wir wollen ein Verkehrs-system, das die Mobilität aller Menschen flächende-ckend ... gewährleistet. ... Die besonderen Anforderun-Karin Rehbock-Zureich
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7762 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
gen an Mobilität gerade im ländlichen Raum werden be-rücksichtigt.“ So der rot-grüne Koalitionsvertrag. Tatsa-che ist: Die Ökosteuer ist eine Strafsteuer für Menschenim ländlichen Raum geworden.
Am 1. April 1999 wurden die ersten sieben Pfennig kas-siert, bis zum Jahre 2003 werden es 35 Pfennig sein. DerADAC spricht von einer Zusatzbelastung für den Auto-fahrer bei 15 000 Jahreskilometern von 1400 DM. DerBund der Steuerzahler, der die Kfz-Steuer mit einrech-net, geht bei einem Pendler mit 27 500 Jahreskilometernund einem Hubraum von 1,8 Litern von einer Zusatz-belastung von jährlich 603,36 DM durchschnittlich aus.Das heißt, fünf Jahre Ökosteuer bedeuten für eine Land-familie 3016,80 DM Mehrausgaben – eine einseitigeMehrbelastung für den, der nicht umsteigen kann. Dasist unfair, das ist ungerecht. Es trifft die Schwächeren inunserer Gesellschaft.
Im März 1998 haben die Bündnisgrünen in ihr Wahl-programm für die Bürger der Bundesrepublik geschrie-ben: „Kommt die Ökosteuer, wird die Kfz-Steuer gestri-chen und ... es kommt zu einem sozialen Ausgleich fürdie Pendler.“ Fehlanzeige für beide Zusagen. In Magde-burg versprochen, in Berlin gebrochen.
Beispiel zwei: die Bahn. „Die Bahn muss beim Gü-ter- und Personenverkehr Vorrang erhalten. Die Wett-bewerbsbedingungen müssen zugunsten der Bahn ver-ändert werden.“ So das SPD-Grundsatzpapier vom April1998 in Leipzig.
Tatsache ist: Der Bahnstrom steigt nach Aussage desneuen Bahnchefs Hartmut Mehdorn um 100 Prozent inden nächsten drei Jahren.
Eine steuerliche Belohnung für umweltgerechtes Han-deln gibt es nicht. Die Bahn wird teurer. Um die Bahn auch beim Gütertransport wettbewerbs-fähig zu machen, wären dreimal so viel Investitionen indas Schienennetz notwendig – so der Bahnchef. DieVerlagerung von Gütern von der Bahn auf die Straßewird also weitergehen. Die zugesagten Wettbewerbsvor-teile für die umweltfreundliche Schiene fallen aus. DasBahn-Fazit: In Leipzig versprochen, in Berlin nicht ein-gehalten!
Beispiel drei: der Transrapid, über den schon ge-sprochen worden ist. „Die Magnet-Schwebebahn ist einehoch entwickelte Technologie. Grundlage für die Reali-sierung ... sind die Vereinbarungen im Eckpunktepa-pier ... vom April 1997.“ So der Koalitionsvertrag. DieGrundlage hat sich bis heute nicht verändert. Erst kürz-lich hat sich Bundeskanzler Schröder wieder eindeutigfür den Transrapid ausgesprochen. Der VerkehrsministerKlimmt, die Minister Eichel und Müller, Herr Müntefe-ring, die Ministerpräsidenten Clement, Runde und Stol-pe, sie alle sind für den Transrapid. Leider sind vieleBündnisgrüne und Frau Simonis in Kiel dagegen. Sie betreiben eine Dauerblockade gegen ein Zukunftspro-jekt, das auf der Welt einmalig ist. Fünfmal ist die Ent-scheidung verschoben worden. Aber über 1 MilliardeDM stehen im Bundesverkehrswegeplan bereit.
Die Strecke Hamburg–Berlin ist fix und fertig ausge-plant. Im Herbst könnte der Bau beginnen, wenn dieBundesregierung zügig zu Potte käme. 17 Monate ist siebereits im Amt; doch die Bündnisgrünen sperren sichimmer noch gegen dieses bedeutendste VerkehrsprojektEuropas und der Welt.
Das Transrapid-Fazit: In Bonn noch gewollt, in Berlinden Bündnisgrünen Tribut gezollt.
Beispiel vier: der ÖPNV. „Wir wollen den ÖPNVdurch ... Modernisierung zu einer Alternative für den In-dividualverkehr ausbauen." – So das grüne Grundsatz-programm. Tatsache ist: Die Ökosteuer bewirkt das Ge-genteil. Sie ist eine Mogelpackung. Bei den Verkehrsbe-trieben in meinem Wahlkreis Schleswig-Flensburg sindbei 185 Bussen Energiemehrkosten von 130 000 DMjährlich entstanden.
Eine Preiserhöhung steht an, die besonders Schüler undRentner trifft. Der Deutsche Städte- und Gemeindebundrechnet mit 500 Millionen DM an ÖPNV-Zusatzkostenfür die betroffenen Gemeinden. Mindestens 5 ProzentFahrpreissteigerung durch die Ökosteuer sind seinePrognose.
Höhere Preise senken die Attraktivität des ÖPNV. DasFazit: Von Grün den Bürgern versprochen, von Grüngebrochen.
Beispiel fünf: „Verkehrsinvestitionen sind für nach-haltiges Wachstum unverzichtbar.“ So der Koalitions-vertrag. Richtig. Tatsache ist: 11,8 Milliarden DM hatman bereits gekürzt. In den kommenden vier Jahren – sodie Hiobsbotschaften aus den Haushaltsunterlagen –werden bei der Straße 1,4 Milliarden DM, bei der Schie-Wolfgang Börnsen
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7763
ne 750 Millionen DM und bei den Wasserstraßen 460Millionen DM gestrichen. Dazu kommen noch jährlicheRegelkürzungen von 900 Millionen DM. Das bedeutet3,5 Milliarden DM weniger für den Ausbau von Ver-kehrswegen. Tatsache ist, dass es auch im Investitionsprogrammzu einer Verlagerung kommt, weil erst im Jahre 2003der Bundesverkehrswegeplan greift. Das bedeutet eineVerlagerung von Investitionen von insgesamt 5 Milliar-den DM. Wer diese Resultate mit Ankündigungen imKoalitionsvertrag vergleicht, der muss feststellen: InBonn formuliert, in Berlin degradiert.
Letztes Beispiel: Schleswig-Holstein.
Alle wichtigen Verkehrsprojekte für das Land zwischenden Meeren seien in trockenen Tüchern, so der damaligeBundesverkehrsminister Franz Müntefering in Kiel.
Tatsache ist: Auch in meinem Heimatland sind diesedrastischen Mittelkürzungen und Planverschiebungenspürbar. Der Ausbau der A 7 ist plakativ angekündigt,aber weder gesetzlich noch finanziell gesichert.
Die westliche Elbquerung ist angekündigt, aber wedergesetzlich noch finanziell gesichert.
Die Fehmarnbeltquerung ist angekündigt, aber wedergesetzlich noch finanziell gesichert. Erst im Jahre 2003 soll nach dem Willen der Bundes-regierung ein neuer Verkehrswegeplan greifen. Das be-deutet für Schleswig-Holstein konkret: Wir diskutierenderzeit Phantomprojekte – nach dem Motto: In Kiel prä-sentiert, in Berlin demontiert.
Diese wenigen Beispiele beweisen: Eine gestaltendeVerkehrspolitik mit europäischer Verantwortung findetderzeit in Deutschland nicht statt. Verkehrswege undVerkehrsträger werden nicht optimiert, sondern redu-ziert.
Der Autofahrer zahlt durch jährliche Steuererhöhungendie Zeche.
Herr Kollege
Börnsen, leider ist auch bei Ihnen die Redezeit abgelau-
fen.
Ich
komme zum Schluss. Würde man nur 10 Pfennige von
der Ökosteuer für den Ausbau von Verkehrsprojekten
nutzen,
hätte der Verkehrsminister 7 Milliarden DM jährlich in
der Kasse.
Das hieße vernünftige Verkehrspolitik.
Auf jeden Fall gilt: Die drastische Rücknahme von
Infrastrukturinvestitionen schadet dem Verkehrsstand-
ort Deutschland, schadet dem Wirtschaftsstandort
Deutschland und letzten Endes auch dem Lebensstand-
ort Deutschland.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Reinhard Weis.
Sehr geehrte FrauPräsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!Verkehrsinfrastrukturinvestitionen sind Schlüsselinves-titionen für die Verbesserung von Standortbedingungen;da sind wir uns hier im Haus einig. Für die ostdeutschenLänder gilt das wegen des noch immer vorhandenen In-frastrukturdefizites in ganz besonderer Weise. Auchdarüber, so denke ich, sind wir uns in diesem Hause ei-nig. Es gibt Wirtschaftsforschungsinstitute, die sagen,dass man deshalb alle besonderen Förderinstrumente fürdie Entwicklung der ostdeutschen Bundesländer infragestellen könnte, die Verkehrsinfrastrukturförderung abernoch mindestens für 10 Jahre bevorzugt aufrechterhaltenmuss.Seit dem Ende der Ost-West-Konfrontation und derWiedervereinigung ist die Bedeutung der Bundesrepu-blik Deutschland und damit der ostdeutschen Länder alsHaupttransitregion in Europa ganz immens gestiegen.Das ist für uns eine positive Entwicklung. Sie stellt aberan die Verkehrspolitik Anforderungen ganz besondererArt. In den neuen Bundesländern kommt eine wichtigeErblast aus der DDR-Zeit, die die Menschen und ihreLebensqualität besonders unmittelbar berührt, hinzu.Trotz enormer Anstrengungen fehlt noch immer eineVielzahl von Ortsumgehungen.Wolfgang Börnsen
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7764 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
Wenn ich von den bereits erbrachten Anstrengungenspreche, dann möchte ich die in den vergangenen Jahrengeleistete Arbeit ausdrücklich würdigen, nicht nur aufder Basis des Straßenbauberichtes 1998, den wir heutemit behandeln, sondern vor allem aus der ganz persönli-chen Erkenntnis der in der Tat verbesserten Verhältnis-se.
Viele Ortsumgehungen sind gebaut, große Verkehrs-belastungen konnten aus den Innenstädten herausgeführtwerden. Das Gleiche gilt für den Bau von Fernstraßenund Bundesautobahnen, auch für die Straßen, die in Ver-anwortung der Länder und Landkreise gebaut bzw. in-stand gesetzt wurden. Daran gibt es nichts auszusetzen.Es gibt aber sehr wohl etwas auszusetzen, wenn ausdieser Sachlage falsche Schlüsse gezogen werden. DasGleiche gilt für den Bau von Fernstraßen und Bundesau-tobahnen, auch für die Straßen, die in Verantwortungder Länder und Landkreise gebaut bzw. instand gesetztwurden. Daran gibt es nichts auszusetzen.Es gibt aber sehr wohl etwas auszusetzen, wenn ausdieser Sachlage falsche Schlüsse gezogen werden. DieKolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, die uns heuteeinen Antrag vorgelegt haben, den wir mit beraten, tundies aber. Dieser Antrag beruht auf falschen Schlüssenund Aussagen.Ich will zwei Punkte, die für uns Ostdeutsche sehrwichtig sind, besonders hervorheben: Sie fordern dieBundesregierung auf, die Investitionsquote für denBundesfernstraßenbau entsprechend der bisherigenund der zu erwartenden Verkehrsleistung des Straßengü-ter- und Straßenpersonenverkehrs zu erhöhen. Sie for-dern auch, die investiven Voraussetzungen für eineweitgehend staufreie Verkehrsabwicklung zu schaffen,wobei der Entlastung von Städten und Gemeinden durchden Bau von Umgehungsstraßen besondere Bedeutungzukommt.
– Das ist an und für sich nicht verkehrt. Wie aber schonin der Ausschussberatung behandelt, suggerieren Sie mitdiesem Antrag und den darin enthaltenden Forderungen,Sie hätten alles getan und die Bundesregierung tue diesnicht. Das kann ich so nicht stehen lassen. Sie ignorierenwider besseres Wissen die Haushaltszahlen sowohl die-ses Jahres als auch des vergangenen Jahres in Bezug aufdie Mittel, die für die neuen Bundesländer bereitgestelltwurden bzw. werden. Auch dies haben wir im Verkehrs-ausschuss besprochen und richtig gestellt. Ich möchtedas in der Öffentlichkeit wiederholen. Der Ansatz von8,2 Milliarden DM für die Sicherung der Straßenver-kehrsinvestitionen – das wurde heute schon angespro-chen –, der exakt in der Größenordnung vergangenerAnsätze liegt, zeigt, dass es keine Kürzungen gibt.1999 wurden allein 18 Prozent der Verkehrsinvestiti-onen für die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ auf-gewendet. Bis 2002 wird sich dieser Anteil auf rund20 Prozent erhöhen – wohlgemerkt nur für die VDE.Von den Straßenbauprojekten des vordringlichen Bedar-fes werden rund 60 Prozent der Investitionen auf dieneuen Bundesländer konzentriert. Bei den Schienenin-vestitionen entfallen bis 2002 45 Prozent der Mittel aufdie neuen Bundesländer. Allein diese Zahlen belegenmeinen eingangs erwähnten Schwerpunkt unserer Ver-kehrspolitik für die ostdeutschen Länder.Wie ich schon sagte, beschäftigt uns Politiker aus denostdeutschen Ländern insbesondere das Thema derOrtsumgehungsstraßen. Es beschäftigt uns allerdingswegen eines besonders ärgerlichen Erbes, das wir jetztzu bewältigen haben, auf ganz besondere Weise. DieSPD hat lange vor Übernahme der Regierungsverant-wortung, nachweislich seit der Diskussion um den Bun-desverkehrswegeplan 1992, immer wieder darauf hin-gewiesen, dass für die Realisierung dieses Bedarfsplaneskeine finanzielle Absicherung gegeben ist.Das Wort von der Unterfinanzierung hören Sie nichtgern. Wir haben das heute mehrfach erfahren. Heute ha-ben wir Ihre Suppe auszulöffeln. Ich kann mir vor-stellen, dass es großen Spaß gemacht hat, von Dorf zuDorf und von Stadt zu Stadt zu ziehen, um als willkom-mener Gast dringend gebrauchte Ortsumgehungen an-zukündigen. Wir können uns das umso besser vorstellen,als wir diejenigen sind, die nun die bitteren Wahrheitenauf den Tisch legen müssen. Wir müssen bei uns zuHause erklären, dass das erforderliche Geld für die vonIhnen versprochenen Ortsumgehungen von Ihnen nichtin erforderlichem Maße eingestellt war.
Herr Staatssekretär Ibrügger hat kürzlich Ihre unsoli-de Finanzierungspraxis dokumentiert. Abgesehen vonden VDE waren nach der mittelfristigen FinanzplanungIhres Finanzministers Waigel 1998 insgesamt 15 Pro-zent der Hauptbautitel nicht gedeckt. Im Jahre 2002 wä-ren es nach Ihrer Finanzplanung bereits 30 Prozent ge-wesen. Was hätten Sie bloß der Bevölkerung gesagtbzw. heute getan, wenn Sie in der Regierungsverantwor-tung geblieben wären?
Damit haben Sie wohl aber wirklich nicht mehr gerech-net, denn Ihre Finanzplanung für die Zeit nach dem Jah-re 1998 folgte offenbar dem Motto: Nach mir die Sint-flut.
Nun komme ich zu den alternativen Finanzie-rungsmöglichkeiten für den Straßenbau, die Sie in Ih-ren Anträgen erwähnt haben. Natürlich möchten auchwir mehr Geld in den Verkehrshaushalt einstellen. Des-halb ist von Bundesminister Klimmt die Kommission insLeben gerufen worden, die die Möglichkeiten zusätzli-cher privater Finanzierung von Bundesstraßen durch-leuchtet. Insofern laufen die Forderungen des F.D.P.-Antrages ins Leere. Wir brauchen heute keinen Be-schluss aus dem hohlen Bauch. Lassen Sie uns die Er-gebnisse der Kommissionsarbeit abwarten und dann ent-scheiden!Reinhard Weis
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Ansonsten möchten die alten Koalitionspartner gerndie Ökosteuer zur Finanzierung von Verkehrsprojektenheranziehen. Sie alle wissen, dass die Ökosteuer zur Ab-senkung der Lohnnebenkosten verwendet wird. Der Fak-tor Arbeit muss billiger werden, wenn wir die Voraus-setzungen für zusätzliche Arbeitsplätze schaffen wollen.
Ich finde es bedauerlich, dass Sie mit der Diffamie-rung unserer Politik hinter Ihren eigenen Erkenntnis-stand von 1997 zurückfallen. Bereits 1997 hat zum Bei-spiel Ihr Parteivorsitzender Wolfgang Schäuble vor demUmweltarbeitskreis der CDU festgestellt – ich zitieredas aus der „Frankfurter Rundschau“ –: Es führt kein Weg daran vorbei: Der Straßenver-kehr, und zwar der Güterverkehr ebenso wie derPersonenverkehr, ist zu billig zu haben. Die Preisespiegeln die wahren Kosten nicht wider.
Wir werden den Straßenverkehr teurer machenmüssen, – so Wolfgang Schäuble! –gerade in Deutschland. In den meisten anderen eu-ropäischen Ländern liegt der Benzinpreis höher alsbei uns.
– Ja, wo er Recht hat, hat er Recht. Zählt die CDU/CSU das Thema Umweltschutz im-merhin noch zu den Kriterien, die bei der Verkehrspoli-tik zu berücksichtigen sind, zeigt der F.D.P.-Antrag hiergar kein Verantwortungsbewusstsein. Der Titel des An-trages „Straßenbau statt Autostau“ erinnert in seiner Ein-falt fatal an den Slogan von gestern „Freie Fahrt für freieBürger“ und an alle in diesem Zusammenhang stehen-den Fehlentwicklungen.
Fazit ist also: Der Bundesverkehrswegeplan von 1992war und ist zweifellos unterfinanziert.
Viele der vollmundig angekündigten Verkehrsprojektewaren von Waigel und Wissmann nicht im Haushalt ab-gesichert.
Der alte Bundesverkehrswegeplan wird deshalb überar-beitet. Für die Übergangszeit hat die Bundesregierungmit ihrem Investitionsprogramm bis 2002 verlässlichePlanungssicherheit geschaffen. Die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ sind zu ih-rer zügigen Fertigstellung finanziell abgesichert. Die Bundesregierung setzt den Aufbau Ost auch beider Infrastrukturentwicklung mit einemüberproportionalen Anteil an den Investitionsmitteln aufunvermindert hohem Niveau fort. Zum Schluss möchte ich mich an Sie, liebe Kollegin-nen und Kollegen von der Opposition, wenden: Herr Fi-scher hat uns völlig überflüssigerweise empfohlen, wirsollten unsere ideologische Betrachtungsweise ablegen.Ich denke, unsere praktische Politik zeigt, dass wir Ver-kehrspolitik nicht nach ideologischen Grundsätzen ma-chen.
Ich sage Ihnen: Wischen Sie sich den Sand, den MinisterWissmann und Minister Waigel in Ihre Augen gestreuthaben, heraus und akzeptieren Sie die verkehrs- und fi-nanzpolitischen Wahrheiten, denen wir uns stellen müs-sen.Danke.
Ich schließedamit die Aussprache zu diesem Punkt.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 14/2360, 14/245, 14/1082 und 14/2262an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüssevorgeschlagen, wobei die Vorlage auf Drucksache14/2262 nicht an den Finanzausschuss überwiesen wer-den soll. Der Entschließungsantrag der Fraktionen vonSPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache14/2576 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen wer-den wie der Straßenbaubericht auf Drucksache 14/245.Sind Sie einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind dieÜberweisungen so beschlossen.Interfraktionell wird ferner vorgeschlagen, den An-trag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/2582 anfolgende Ausschüsse zu überweisen: zur federführendenBeratung an den Ausschuss für Verkehr, Bau- undWohnungswesen und zur Mitberatung an den Finanz-ausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technolo-gie, den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reak-torsicherheit, den Ausschuss für Angelegenheiten derneuen Länder, den Ausschuss für die Angelegenheitender Europäischen Union und den Haushaltsausschuss.Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nichtder Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 und 15 a bis 15 fsowie die Zusatzpunkte 6 a und 6 b auf: 6. Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu-Reinhard Weis
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7766 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
ordnung seuchenrechtlicher Vorschriften
– Drucksache 14/2530 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit
Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 15. Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zudem Übereinkommen vom 4. August 1995zur Durchführung der Bestimmungen desSeerechtsübereinkommens der VereintenNationen vom 10. Dezember 1982 über dieErhaltung und Bewirtschaftung von ge-bietsübergreifenden Fischbeständen undBeständen weit wandernder Fische – Drucksache 14/2421 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit b) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zudem Vertrag vom 25. August 1998 zwi-schen der Bundesrepublik Deutschlandund den Vereinigten Mexikanischen Staa-ten über die Förderung und den gegensei-tigen Schutz von Kapitalanlagen – Drucksache 14/2422 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe c) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zudem Vertrag vom 5. November 1998 zwi-schen der Bundesrepublik Deutschlandund Antiqua und Barbuda über die Förde-rung und den gegenseitigen Schutz vonKapitalanlagen – Drucksache 14/2423 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie d) Beratung des Antrags der AbgeordnetenRenate Diemers, Maria Eichhorn, HanneloreRönsch , weiterer Abgeordneterund der Fraktion der CDU/CSU Initiative zur Schaffung von alternierendenTelearbeitsplätzen für die Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter der Bundestagsabge-ordneten im Rahmen des Umzuges vonBonn nach Berlin – Drucksache 14/1313 – Überweisungsvorschlag: Ältestenrat
Innenausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.Winfried Wolf, Eva-Maria Bulling-Schröter,Carsten Hübner, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der PDS Keine Hermesbürgschaften für den Ilisu-Staudamm in der Türkei – Drucksache 14/2336 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung f) Beratung des Antrags des Bundesministeri-ums für Wirtschaft und Technologie Rechnungslegung über das Sondervermö-gen des Bundes „Ausgleichsfonds zur Si-cherung des Steinkohleneinsatzes“ für dasWirtschaftsjahr 1998 – Drucksache 14/2484 – Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieZP 6 Weitere Überweisungen im vereinfachtenVerfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung atomrechtlicher Vorschriftenfür die Umsetzung von EURATOM-Richtlinien zum Strahlenschutz – Drucksache 14/2443 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit
Ausschuss für Gesundheit b) Beratung des Antrags der Fraktionen SPDund BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Grenzüberschreitende Zusammenarbeitzur Stärkung des Schutzes der Böden – Drucksache 14/2567 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit
Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen zuden Tagesordnungspunkten 6 und 15 a bis 15 f an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überwei-sen, wobei der Antrag auf Drucksache 14/2336 zusätz-lich an den Ausschuss für Menschenrechte und humani-täre Hilfe gehen soll. Einverstanden? – Ja. Dann sind dieÜberweisungen so beschlossen.Zum Zusatzpunkt 6 wird interfraktionell vorgeschla-gen, die Vorlage auf Drucksache 14/2443 zur federfüh-renden Beratung an den Ausschuss für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung anden Ausschuss für Gesundheit zu überweisen. Gibt esVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7767
andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sindauch diese Überweisungen so beschlossen.Die Vorlage auf Drucksache 14/2567 soll zur feder-führenden Beratung an den Ausschuss für Umwelt, Na-turschutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung anden Auswärtigen Ausschuss, den Ausschuss für Ernäh-rung, Landwirtschaft und Forsten, den Ausschuss fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung undden Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi-schen Union überwiesen werden. – Andere Vorschlägesehe ich nicht. Dann ist auch das so beschlossen.Wir kommen jetzt zu den Tagesordnungspunkten16 a bis 16 m sowie zum Zusatzpunkt 7. Es handelt sichum die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keineAussprache vorgesehen ist. Wir werden jetzt eine Reihevon Abstimmungen haben.Tagesordnungspunkte 16 a bis 16 d: Abschließende Beratung ohne Aussprache a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom11. Dezember 1997 zwischen der Bundes-republik Deutschland und der Republik ElSalvador über die Förderung und den ge-genseitigen Schutz von Kapitalanlagen – Drucksache 14/1840 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 14/2539 – Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom28. August 1997 zwischen der Bundesrepu-blik Deutschland und Turkmenistan überdie Förderung und den gegenseitigenSchutz von Kapitalanlagen – Drucksache 14/1842 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
– Drucksache 14/2540 – Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz c) Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommenvom 10. September 1996 zwischen der Re-gierung der Bundesrepublik Deutschlandund der mazedonischen Regierung überdie Förderung und den gegenseitigenSchutz von Kapitalanlagen – Drucksache 14/1843 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 14/2541 – Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz d) Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom21. März 1997 zwischen der Bundesrepu-blik Deutschland und der Republik Kroa-tien über die Förderung und den gegensei-tigen Schutz von Kapitalanlagen – Drucksache 14/1844 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 14/2542 – Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. FritzIch gehe davon aus, dass wir über diese vier Ver-tragsgesetze gemeinsam abstimmen können. – Damitsind Sie offensichtlich einverstanden. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-fiehlt auf den Drucksachen 14/2539, 14/2540, 14/2541und 14/2542, die Gesetzentwürfe unverändert an-zunehmen. Ich bitte diejenigen, die den Gesetzentwürfenzustimmen wollen, sich zu erheben. – Stimmt jemanddagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Die Gesetzentwürfesind damit mit den Stimmen des ganzen Hauses an-genommen worden.Tagesordnungspunkt 16 e: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. GerhardFriedrich , Friedrich Merz, Ilse Aigner,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU Deutschland muss verlässlicher Partner in eu-ropäischer Raumfahrt bleiben – Drucksachen 14/655, 14/1350 – Berichterstattung: Abgeordnete Lothar Fischer
Ilse Aigner Hans-Josef Fell Cornelia Pieper Angela MarquardtDer Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache14/655 in der Ausschussfassung anzunehmen. WerVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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7768 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stim-men von CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden. Tagesordnungspunkt 16 f: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- undWohnungswesen zu dem Antragder Abgeordneten Dirk Fischer , Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Hannelore Rönsch
, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU Satellitennavigationssystem Galileo – Drucksachen 14/945, 14/2217 – Berichterstattung: Abgeordneter Reinhold Hiller
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksa-che 14/945 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung des Ausschusses? – Gegenstimmen?– Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmenvon CDU/CSU und F.D.P. angenommen; die PDS hatsich enthalten.Tagesordnungspunkt 16 g: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Sozialord-nung zu der Unterrichtung überein Unionsdokument gemäß § 93 Abs. 2 GO-BT Entwurf einer Entschließung des Rates zur so-zialen und arbeitsmarktspezifischen Dimen-sion der Informationsgesellschaft – Drucksachen 14/2211 Nr. 2.1, 14/2346 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Irmgard SchwaetzerDer Ausschuss empfiehlt, die Haltung der Bundesre-gierung zu unterstützen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmendes ganzen Hauses angenommen worden.Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen desPetitionsausschusses.Tagesordnungspunkt 16 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 111 zu Petitionen – Drucksache 14/2532 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 111 ist angenommen mitden Stimmen aller Fraktionen bis auf die PDS, die sichder Stimme enthalten hat.Tagesordnungspunkt 16 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 112 zu Petitionen – Drucksache 14/2533 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 112 ist ebenfalls mit demeben festgestellten Stimmenverhältnis angenommenworden, also mit den Stimmen aller Fraktionen bis aufdie PDS, die sich der Stimme enthalten hat.Tagesordnungspunkt 16 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 113 zu Petitionen – Drucksache 14/2534 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 113 ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen gegen alle Oppositions-stimmen angenommen worden. Tagesordnungspunkt 16 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschuss
Sammelübersicht 114 zu Petitionen – Drucksache 14/2535 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 114 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stim-men von CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden.Tagesordnungspunkt 16 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 115 zu Petitionen – Drucksache 14/2536 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 115 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen gegen alle Oppositionsstimmenangenommen worden.Tagesordnungspunkt 16 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 116 zu Petitionen – Drucksache 14/2537 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 116 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der F.D.P.gegen die Stimmen der PDS angenommen worden. Zusatzpunkt 7: Weitere abschließende Beratung ohne Aus-sprache
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7769
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Umsetzung von Richtlinien der Europäi-schen Gemeinschaft auf dem Gebiet des Be-rufsrechts der Rechtsanwälte – Drucksache 14/2269 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechts-ausschusses
– Drucksache 14/2594 – Berichterstattung: Abgeordnete Alfred Hartenbach Norbert Röttgen Rainer FunkeIch bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in derAusschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit denStimmen des ganzen Hauses angenommen worden.Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Ge-setzentwurf mit den Stimmen des ganzen Hauses ange-nommen worden.Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU Haltung der Bundesregierung zu Berichtenüber Defizite bei der Pflegeversicherung undAuswirkungen auf die soziale Sicherheit alterMenschenIch eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächstder Abgeordnete Ulf Fink.
Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Das, wovor ich im Namender CDU/CSU-Fraktion nun schon seit Monaten warneund was von der Regierungskoalition immer abgestrittenwurde, ist jetzt amtlich: Die Finanzentwicklung derPflegeversicherung ist im vergangenen Jahr erstmals seitBestehen der Pflegeversicherung defizitär. Zwar ist das Defizit von 74 Millionen DM im vergangenen Jahrnoch verhältnismäßig gering, aber – das ist das Ent-scheidende – diese Finanzentwicklung belegt auf bestür-zende Weise die Vorausschätzungen des Bundesversi-cherungsamtes vom 18. Oktober vergangenen Jahres.Diese Vorausschätzungen hatten zum Ergebnis, dass dieZahlungsfähigkeit der Pflegeversicherung im Jahre2002, also noch in dieser Legislaturperiode, nicht mehrgewährleistet ist. Meine Damen und Herren von der Regierungskoaliti-on, dies ist nicht lediglich das Ergebnis der zunehmen-den Zahl von Pflegefällen, sondern das Ergebnis IhrerPolitik.
Sie haben sich am Geld der Pflegeversicherung bedient,um den Bundeshaushalt zu sanieren.
400 Millionen DM haben Sie jährlich der Pflegeversi-cherung an Einnahmen entzogen. Ihre Entscheidung, derPflegeversicherung nur noch Beiträge von der Arbeitslo-senhilfe auf der Grundlage des tatsächlichen Zahlbetra-ges und nicht, wie bisher, auf der Grundlage von80 Prozent des früheren Bruttoentgelts zu zahlen, er-weist sich schon jetzt als gänzlich unverantwortlich.
Sie sparen damit zu Lasten der Schwächsten in unse-rer Gesellschaft, nämlich der Pflegebedürftigen, die sichnicht wehren können. Da, wo Sie Widerstand gespürthaben, im Gesundheitswesen, bei den Krankenkassen,sind Sie zurückgezuckt. Da werden nach wie vor Beiträ-ge auf der Grundlage von 80 Prozent des früheren Brut-togehalts gezahlt. Vor den Mächtigen kuschen Sie, beiden Schwachen greifen Sie zu. Das nenne ich eine Sozi-alpolitik nach dem Urwaldprinzip.
Sie haben es zu verantworten, dass die Pflegeversi-cherung selbst zum Pflegefall wird. Marc Hujer kom-mentiert Ihr Vorgehen in der „Süddeutschen Zeitung“vom 18. Januar dieses Jahres damit, dass es gerade dieseHaltung ist, „die die rot-grüne Koalition für ihre weite-ren Vorhaben unglaubwürdig macht“.Er fährt fort:Überall in der Sozialversicherung, insbesondere inder Rentenversicherung, will sie die Zukunftsprob-leme mit Kapitalfonds, Zins und Zinseszins lösen.Den Menschen redet sie ein, dass durch mehr Pri-vatvorsorge die Belastungen, die wegen der Alte-rung der Bevölkerung auf die Sozialsysteme zu-kommen, bewältigt werden können. Doch den ein-zigen Sozialversicherungszweig, der dies bisherbeherzigte, hat sie dafür bestraft.Ich glaube, diesen Worten von Marc Hujer in der „Süd-deutschen Zeitung“ braucht man nichts hinzuzufügen.
Ich frage Sie: Wo soll nun das Geld herkommen, umden Demenzkranken, den Altersverwirrten zu helfen?Sie haben Hilfe für die Demenzkranken in der Regie-rungserklärung angekündigt, und diese ist auch dringendnotwendig. Wir haben eigene Anträge dazu eingebracht.Aber woher soll denn nun das Geld kommen?Zweitens: Die Pflegeversicherung wurde eingeführt,um mit dem unwürdigen Zustand Schluss zu machen,dass die Pflegebedürftigen reihenweise zu über80 Prozent in den Pflegeheimen zu Sozialhilfeempfän-gern wurden. Das war unser gemeinsames Ziel. Aberjetzt schauen Sie tatenlos zu, wie die Preise der Pflege-heime Jahr für Jahr steigen, während die Leistungen derPflegekassen gleich bleiben. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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Mittlerweile liegen die Pflegesätze für die höchstePflegeklasse in den Pflegeheimen in den alten Bundes-ländern zwischen 3 300 und 4 300 DM. Da sind nochnicht die Kosten für Unterkunft und Verpflegung enthal-ten. Diese müssen die Betreffenden sowieso schon allei-ne bezahlen. Die Pflegeversicherung zahlt aber höchs-tens 2 800 DM. Seit 1995/96 sind diese Sätze nicht an-gepasst worden. In allen Vorausschätzungen, auch indenen des Bundesversicherungsamtes, die ich eben zi-tiert habe, ist überhaupt keine Anpassung dieser Leis-tungen für die nächsten Jahre vorgesehen. Was ist dennnun mit dem Ziel, die Pflegebedürftigen sozialhilfefreizu stellen? Drittens: Wie wollen Sie den gesetzlichen Auftrag er-füllen, den Beitragssatz von 1,7 Prozent zur Pflegeversi-cherung nicht zu überschreiten? Die Situation wird dochimmer auswegloser. Sie betreiben eine Vogel-Strauß-Politik. Sie fahren mit Ihrer Politik die Pflegeversiche-rung wissentlich und willentlich an die Wand und sagenimmer nur, es wird vermutlich nicht so schlimm kom-men.
Meine Damen und Herren, wir haben Ihnen ein intak-tes Erbe, eine Pflegeversicherung mit vollen Kassen hin-terlassen.
Mit über 9,5 Milliarden DM waren die Kassen der Pfle-geversicherung gefüllt.
Herr Kollege
Fink, in der Aktuellen Stunde hat man nur fünf Minuten
Redezeit. Wir werden das streng handhaben.
Geben Sie Auskunft darüber,
was Sie mit diesem Erbe angefangen haben. Die Millio-
nen von Pflegeversicherten und Pflegebedürftigen haben
ein Recht darauf.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Regina Schmidt-Zadel.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Herr Fink, das von Ihnen alsAnlass für die heutige Aktuelle Stunde bemühte angeb-liche Defizit in der gesetzlichen Pflegeversicherung istein alter Hut. Das müssten Sie wissen.
Die Entwicklung ist längst bekannt und ist auch voraus-sehbar gewesen. Lesen Sie dazu doch einmal den erstenPflegebericht der Bundesregierung vom März 1998.Dort werden Ihnen – noch unter Norbert Blüm – nebender Finanzschätzung auch die Gründe dafür geliefert,warum in den kommenden Jahren der bisherige jährlicheÜberschuss zu einem Defizit von 670 Millionen DM indiesem Jahr und von 70 Millionen DM im Jahr 2003wird.
– Hören Sie mir bitte zu, ich komme noch darauf zusprechen. Die Gründe dafür sind die Zunahme der kosteninten-siven Pflege, Sachleistungen im ambulanten Bereich,der demographische Faktor und die Mehrkosten durchden Anstieg des Anteils der höheren Pflegestufe.
Die 400 Millionen DM, die der Pflegeversicherungaufgrund der veränderten Bemessungsgrundlage fehlen,sind nur ein Teil der Wahrheit. Auch das wissen Sie.
Natürlich wäre es wünschenswert, wenn wir dieses Geldfür notwendige Verbesserungen zur Verfügung hätten.
Aber die Bewältigung der finanziellen Schieflage, dieSie uns hinterlassen haben,
lässt uns auch in diesem Bereich keinen Spielraum.
Wenn Sie das jetzt kritisieren und in der BevölkerungProteste wegen eines angeblichen Pflegenotstands schü-ren, verschweigen Sie den Bürgerinnen und Bürgern,dass es vor allem die Folge der vorgefundenen finanziel-len Erblasten Ihrer Regierungszeit ist, die wir heute be-wältigen müssen.
Ich denke, dass wir an dieses Thema sachlich heran-gehen sollten. Für Schnellschüsse, wie Sie sie jetzt brin-gen, und für billige Polemik, Herr Fink, oder gar als Ab-lenkung von anderen politischen Debatten ist ein so sen-sibler Bereich wie die Pflegeversicherung nicht geeig-net.
Wenn ich Ihre Erklärungen aus der letzten Zeit betrach-te, Herr Fink, dann drängt sich mir dieser Verdacht auf.Ulf Fink
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7771
Ich denke, er drängt sich nicht nur mir, sondern auchvielen Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land auf.
Ich will einen wunden Punkt ansprechen. Ich kannmich nicht daran erinnern, dass die Zahl der Arbeitslo-sen während Ihrer Regierungszeit merklich gesunkenwäre.
Im Gegenteil, Sie haben den Anstieg auf über400 Millionen Arbeitslose in diesem Land politisch zuverantworten.
– Sie haben den Anstieg auf über 4 Millionen Arbeitslo-se politisch zu verantworten.
Rechnen Sie sich einmal aus, welchen Mittelbestand diePflegeversicherung heute hätte, wenn Sie seinerzeit denKampf gegen die Arbeitslosigkeit ernst genommen hät-ten.
Auch Ihr Vorwurf, für Leistungsverbesserungen seikein Geld da, zielt ins Leere. Wahr ist: Die Koalition hatbereits zu Beginn dieser Legislaturperiode Verbesserun-gen durchgesetzt, die Sie längst hätten durchsetzen müs-sen
und die Sie wegen Ihres Koalitionspartners – Herr Parr,da sind Sie gefragt – damals nicht durchgesetzt haben.Wahr ist: Die Union hat heute das große Wehklagen an-gestimmt – Herr Fink ist der Anführer –, aber ihre Be-hauptung, sie hätte in der letzten Wahlperiode Verbesse-rungen auf den Weg gebracht, wenn es ihr Koalitions-partner nur zugelassen hätte, ist scheinheilig.
Meine Damen und Herren, die Koalition lässt sich diePflegeversicherung nicht schwarz malen.
Das will ich ganz klar sagen. Unsere Devise heißt: Ver-besserungen vornehmen, wo Verbesserungen notwendigsind, und die finanziellen Grundlagen der Pflegeversi-cherung durch Erfolge beim Abbau der Arbeitslosigkeitstabilisieren.
Ich rufe Sie auf – hören Sie mir bitte gut zu –, diePflegeversicherung nicht zum Spielball im politischenTagesgeschäft zu machen.
Nehmen Sie die Pflegebedürftigen und ihre Angehöri-gen ernst. Beteiligen Sie sich sachlich und konstruktivan der Weiterentwicklung der Pflegeversicherung. Billi-ge Wahlkampfpolemik auf dem Rücken der Pflegebe-dürftigen führt zu nichts, meine Damen und Herren.
Die Pflegeversicherung – Herr Fink, hören Sie gut zu – braucht keine Aktuellen Stunden im DeutschenBundestag. Sie benötigt Lesungen von Gesetzentwürfen,die Verbesserungen bringen. Wir werden die Entwürfein nächster Zeit einbringen. Sie haben dann die Gele-genheit, im Interesse der Pflegebedürftigen zu beweisen,wie ernst Ihnen diese Sache ist.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Detlef Parr.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Elisabeth Flickenschildt hat einmal inDüsseldorf gesagt, man spricht von kleinem, großemund mittlerem Echauffement. Ich glaube, Frau Schmidt-Zadel, mit dem großen Echauffement lösen Siedie Probleme nicht, die wir dabei sind hier zu diskutie-ren. Hätten wir die Pflegeversicherung auf andere ord-nungspolitische Säulen gestellt, dann hätten wir uns dieheutige Debatte vielleicht sparen können.
Es sollte anders sein. Nun müssen wir feststellen, dass inden letzten Monaten der Pflegeversicherung vermeidba-re Belastungen zugemutet worden sind. Wir alle wissen,wie das aussieht, und es bedarf keiner hellseherischenFähigkeiten, um erkennen zu können, wohin die Politik,die Sie betreiben, führt.
Woher nehmen Sie, meine Damen und Herren vonder SPD und den Grünen, und Sie, Frau Staatssekretärin,eigentlich Ihren Optimismus, mit einem „Weiter so“ dieerkennbaren Hürden in Angriff zu nehmen? Wir allekennen doch die demographische Entwicklung, wir allekennen die lebensverlängernden Folgen des rasantenmedizinischen Fortschritts. Wie wollen Sie eigentlichdiesen Tatsachen Rechnung tragen? Wie leichtfertig ge-hen Sie eigentlich mit diesen Argumenten um?Wenn Sie sich die Zahlen und Prognosen des Bun-desversicherungsamtes genau anschauen, dann müssteRegina Schmidt-Zadel
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Ihnen doch eigentlich angst und bange werden. DerTrend zu einer wachsenden Zahl von Pflegebedürftigenhält ungebrochen an. 1996 hatten wir circa 1,2 Millio-nen Menschen, die Leistungen aus der Pflegeversiche-rung erhielten. In diesem Jahr ist ihre Zahl bereits auf1,8 Millionen angewachsen. Frau Schmidt-Zadel, wir wissen, dass die ambulantePflege abnimmt, während die stationäre zunimmt. Auchdas wird Kostenfolgen haben. In eine solche Situationhinein setzen Sie einen Verschiebebahnhof zwischenverschiedenen Zweigen der sozialen Sicherung in Gang.Das, was Sie da getan haben, ist leichtfertig.
Sie sorgen damit dafür, die finanzielle Basis für diesoziale Absicherung im Pflegefall zu unterminieren. Esist genau das eingetreten, was wir immer befürchtet undwovor wir immer gewarnt haben. Kollege Fink hat daserwähnt: Wo Gelder im Zugriffsbereich des Staates an-gehäuft werden, entstehen Begehrlichkeiten. In Zeitenknapper Kassen ist dann die Hemmschwelle sehr nied-rig, sich an solchen Töpfen zu vergreifen. Genau das ha-ben Sie getan. Es kommt ja nicht von ungefähr, dassman diesen Weg nur in der Pflegeversicherung beschrit-ten hat, nicht hingegen in der Krankenversicherung.Unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten ist dasnicht zu rechtfertigen, meine Damen und Herren. DerTatsache einer überproportionalen Zunahme ältererMenschen und damit verbunden einer überproportiona-len Zunahme pflegebedürftiger Menschen müssen wiranders Rechnung tragen. Dieses Problem kann ebennicht über eine Reservenbildung in der gesetzlichenPflegeversicherung gelöst werden, denn dieses Geld isteben vor dem Zugriff nicht sicher. Wir müssen etwasanderes tun.Die demographischen Probleme, die wir zurzeit in derRentenversicherung diskutieren, betreffen nämlich diePflegeversicherung in gleichem Maße. Sie werden zugenauso großen Verwerfungen führen, wenn nicht früh-zeitig gehandelt wird. Auch in der Pflegeversicherungmuss klar gesagt werden, dass an einem höheren Maß anEigenvorsorge kein Weg vorbei führt.
Die Pflegeversicherung ist keine Vollkosten- oder Voll-kaskoversicherung. Sie kann es unter den gegebenenUmständen ja auch gar nicht sein.
– Nein, Herr Kirschner, aber das ist vielen Menschennicht bewusst. Ich denke, hier ist mehr Aufklärung er-forderlich, mehr Ehrlichkeit in der Debatte, und das soll-te man den Menschen auch wirklich sagen.
Für die Zukunft heißt das für die F.D.P., die Leistungenaus der Pflegeversicherung auf diejenigen zu konzentrie-ren, die diese Hilfe besonders benötigen. Dazu gehört für uns auch, dass wir für die Demenz-kranken etwas tun müssen. Das ist über die Fraktions-grenzen hinweg völlig unstrittig. Über neue Versor-gungsformen in diesem Bereich denken wir intensivnach. Zum Ausbau teilstationärer Betreuungsangebotegehört zum Beispiel auch die Frage, wie man denTransport in diese Einrichtungen vernünftig organisierenkann.Der Aufbau von betreuten Wohngemeinschaftenscheint ein anderer Erfolg versprechender Ansatz zusein, die Demenzkranken so zu betreuen, dass ihnen einHöchstmaß an Autonomie bleibt. Ich denke, das ist einwichtiges Ziel, meine Damen und Herren.
Die Leistungen sollen also nur dort ausgeweitet werden,wo es wirklich notwendig ist, und auch nur dann, wennes für die Finanzierung entsprechende Deckungsvor-schläge gibt.Ein Weiteres: Statt Überschüsse in anderen Sozial-versicherungszweigen auf Nimmerwiedersehen ver-schwinden zu lassen, sollten sie in die Taschen derjeni-gen zurückfließen, die sie gesammelt haben, damit ihnenmehr Spielraum verbleibt, die Grundleistungen durchEigenvorsorge aufzubessern. Dass zu diesem erweitertenSpielraum auch eine Steuerreform gehört – nach denF.D.P.-Grundsätzen: niedriger, gerechter, einfacher –,versteht sich von selbst. „Weniger Staat, mehr privat“kann dann auch hier unsere Devise sein. Das ist der ein-zige Ausweg, so denke ich, aus einer Sackgasse, in dieSie uns gerade hineinführen. Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Monika Knoche.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Her-ren und Damen! Ich habe Verständnis dafür – Herr Finkund Herr Parr, gestatten Sie mir, dass ich das so sage;ich tue es ohne Polemik –, dass Sie ein Interesse daranhaben, zu sachpolitischen Fragen zurückzukehren. Aberich bezweifle, dass dafür ausgerechnet die Finanzent-wicklung der Pflegeversicherung das geeignete Themaist, zumal es dazu schon Aktuelle Stunden gegeben hatund die Thematik von der Ministerin hinreichend öffent-lich dargestellt worden ist. Ich war wirklich verwundertüber Ihre Rede, Herr Parr. Gut, ideologische Motivekönnen einen oft zu einer fehlgeleiteten Argumentationverführen.
Detlef Parr
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7773
Aber ich weiß genau, dass die Pflegeversicherung einerein von Arbeitnehmern finanzierte Versicherung ist.Wie Sie angesichts dieser Tatsache von privater Zusatz-vorsorge sprechen können, erschließt sich mir überhauptnicht.
Ich erinnere mich sehr gut – ich war seinerzeit dabei –, dass die Gewerkschaften mit der damaligen Re-gierung den Konflikt um den Erhalt von Feiertagen aus-getragen haben, deren Streichung für die Finanzierungder neuen Versicherung vorgesehen war. Damals istnach meiner Meinung richtigerweise die Frage aufge-worfen worden – diese Frage haben Sie, Herr Fink, an-genehmerweise nicht direkt ausgesprochen, aber dochunterschwellig gestellt –: Wie können wir diesem nichtimmer krankenversicherungsgeeigneten Versorgungsbe-reich gerecht werden? Wie können wir das Risiko absi-chern? Es gab Abgrenzungsprobleme und Überlegun-gen, dieses Risiko in die GKV zu übernehmen. Aber diegrundlegende Frage war: Warum soll bei der Pflegever-sicherung aus der Parität ausgestiegen werden? Ange-sichts der Tatsache, dass wir auch schon damals wuss-ten, dass die Erfordernisse einer qualitativ hochwertigenPflege für wachsenden Bedarf sorgen – auch in finan-zieller Hinsicht –, war es richtig – ich vertrete diese Hal-tung auch noch heute –, diesen Versicherungszweig pa-ritätisch anzulegen, um ein sozial-staatliches Selbstver-ständnis zum Ausdruck zu bringen. Ich halte im Rahmender heutigen Diskussion um die Zukunftsfähigkeit desgesamten Sozialversicherungssystems kaum eine Fragefür aktueller und zukunftsweisender als die nach derWeiterentwicklung der paritätischen Finanzierung.
Wenn wir uns so sehr an der Beitragssatzstabilität orien-tieren und die Lohnnebenkosten nicht steigen lassenwollen, dann ist die Erweiterung der solidarischen Ver-sicherung um möglichst breite Erwerbstätigenkreise dierichtige Antwort. Den Beweis hat diese Regierung schondurch die Regelungen zu den 630-Mark-Arbeitsver-hältnissen erbracht.
Eigentlich haben Sie vollkommen Recht – ich stimmeIhnen gerne zu – , dass wir bei der zukünftigen Ausrich-tung diese Frage im Sinne der Modernisierung und derGestaltung der Zukunftsfähigkeit beantworten sollten.Es ist seltsam, wenn Sie die heutige Regierung füretwas kritisieren, was wir in der Opposition der damali-gen Regierung abringen mussten. Damals wollten Sieauf die Rücklagen der Pflegekasse zugreifen. Wir habengesagt: „Tut es nicht! Keine Beitragssatzsenkung, keineFremdverwendung dieser Mittel, weil es Zuwächse ge-ben wird!“
Ich denke an die Sicherheit der heutigen Finanzlage. Ichhabe keinen Anlass, den Ausführungen der Ministerinan dieser Stelle keinen Glauben zu schenken. Über diejetzt noch vorhandene Stabilität und über die jetzt nochvorhandenen Ressourcen verfügen wir – ich sage nicht„ausschließlich“, denn darüber ist auch innerhalb derParteien der heutigen Regierungskoalition stark disku-tiert worden –, weil wir damals den Griff in die Pflege-kassen verhindert haben.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Ilja Seifert.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Die Situation von Menschen, die akti-vierende Begleitung, Hilfe oder etwas Ähnliches brau-chen – manche nennen das „Pflege“ –, ist immer aktu-ell. Insofern ist eine Aktuelle Stunde zu diesem Themajederzeit gerechtfertigt.Wir kommen nicht umhin, festzustellen, dass gegen-wärtig tatsächlich eine Situation eingetreten ist, in deraus einer verhältnismäßig komfortablen finanziellenAusstattung eine rückläufige Kassenlage geworden ist.Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieseRegierung – Frau Knoche, ich muss Ihnen schon sagen:leider – das, was sie in der Opposition mit uns und mitanderen verhindert hat, zu tun anfängt: Sie beschneidetdie Einnahmen der Pflegeversicherung. Man kann auchsagen: Sie fängt an, in die Kasse zu greifen. 400 Mil-lionen DM weniger sind kein Pappenstiel.Das erste Defizit des Jahres ist da. Jedes Jahr400 Millionen DM weniger sind schon eingeplant. De-mente Menschen bleiben unberücksichtigt. Es gibt nochkein einziges Blatt Papier, auf dem steht, wie Sie de-mente Menschen in die Pflegeversicherung einbeziehenwollen. Es gibt jede Menge Papier, auf dem steht, dassSie es tun wollen; aber es gibt kein Blatt Papier, auf demsteht, wie Sie es tun wollen. Dies ist so, weil es eben imSystem der Pflegeversicherung nicht möglich ist.Geistig behinderte Menschen und psychisch krankeMenschen sind in dieser Art Pflegeversicherung – dasgeht an die Adresse der CDU/CSU – einfach nicht vor-gesehen. Was diese Menschen brauchen, kann mit die-sem unglaublich somatischen, unglaublich eingeengtenPflegebegriff überhaupt nicht geleistet werden. Leiderversucht auch die gegenwärtige Regierung nicht, das zuändern.Im Allgemeinen werden Menschen mit Behinderun-gen aus Einrichtungen der Behindertenhilfe zunehmendin Einrichtungen der Pflegeversicherung abgedrängt.Diesen Prozess verzeichnen wir vielerorts. Es ist sehrbedauerlich, wenn pädagogische, soziale und andere ak-tivierende Leistungen einfach ausgeklammert bzw. aus-gegrenzt werden und nur noch Pflege im Sinne vonMonika Knoche
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7774 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
„satt, sauber und trocken“ gewährt wird. Das hat mitMenschenwürde nichts zu tun.
Man muss in jeder Aktuellen Stunde zu dieser The-matik sagen: Erforderlich wäre, dass wir erst einmal ei-nen ganz anderen Pflegebegriff einführen, der die Akti-vierung der Menschen – nicht das „Satt, sauber und tro-cken“ – in den Mittelpunkt stellt.
Ich denke an Aktivierung auch in den Fällen hochgradi-ger Demenz, geistiger Behinderung und körperlicher,psychischer oder sonstiger dauernder Behinderung.Wir brauchen dazu – das kann das Pflegeversiche-rungsgesetz, so wie es angelegt ist, nicht leisten; deshalbhabe ich es nicht gemocht und mag es auch heute nochnicht – ein Leistungsgesetz, das zum Ziel hat, Men-schen, die auf aktivierende Hilfe angewiesen sind, vollam Leben der Gemeinschaft teilhaben zu lassen. Sie ha-ben noch nicht einmal dieses Ziel formuliert. Sie sagen:Ein bisschen mehr, aber nicht, dass Menschen mit Be-hinderungen, Menschen, die auf Pflege, auf Hilfe, aufAssistenz, auf Begleitung angewiesen sind, als Teil derGesellschaft so anerkannt werden, dass sie mitten in derGesellschaft gesehen werden und nicht irgendwo amRande auch noch „mit“ gesehen werden. Darum geht es.
Es ist ein anderes Menschenbild erforderlich. Dannkönnen wir über aktivierende und sinnvolle Pflege re-den.Nun noch ein Wort zu Ihnen von der CDU/CSU. AmAnfang habe ich gesagt, die Aktuelle Stunde ist gerecht-fertigt, weil dieses Thema immer aktuell ist. Am 3. De-zember hatten wir, die PDS, einen entsprechenden Än-derungsantrag hier im Bundestag vorgelegt. Sie, meineDamen und Herren von der CDU/CSU, haben ihn „ganzselbstverständlich“ abgelehnt. Das ist nicht gerade dazuangetan, dass Sie jetzt in populistischer Weise ein Sama-ritergehabe an den Tag legen sollten. Bleiben Sie ehr-lich: Entweder Sie stimmen dann zu, wenn es angesagtist, oder Sie lassen es sein. Eine Sache abzulehnen, nurweil sie von uns kommt, ist ein bisschen am Thema vor-bei.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Eva-Maria Kors.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bereits am 24. Augustvergangenen Jahres brachte die „FAZ“ den Titel: „Pfle-geversicherung drohen hohe Defizite“. Das „Handels-blatt“ folgte im Oktober: „Pflegekassen steuern auf De-fizite zu – Bundesversicherungsamt rügt Fehlbuchungender Krankenkassen“. Am 5. November 1999 folgerte die„FAZ“: „In der Pflegeversicherung können Beiträgesteigen“. Im „Focus“ vom 17. Januar war zu lesen:„Pflegeversicherung – Vom Milliardenüberschuss in dieroten Zahlen“.Angesichts solcher Überschriften, meine Damen undHerren – das ist nur eine kleine Auswahl –, muss mandie Fragen stellen, ob die ansonsten so medien- undpressebewusste Regierung keine Zeitung mehr liest.Oder verschließen Sie bewusst die Augen vor dem Pro-blem?Nehmen Sie Gutachten, wenn Sie schon die Opposi-tion nicht hören wollen, ausgewiesener Experten, wiedie des Bundesversicherungsamtes, gar nicht mehrernst? Ein Sprecher des Hauses hat lapidar verkündet,das Ministerium sehe keinen Anlass, über eine Erhö-hung der Beiträge nachzudenken. Ist das alles, was zudiesem Thema aus dem Hause kommt?Ich sage Ihnen: Wenn die Regierung ihre Politik imBereich der Pflegeversicherung weiterhin so betreibt,dann wird es Anlässe en masse dafür geben, dass Bei-träge erhöht werden müssen.
Sie können auch sicher sein: Die CDU/CSU-Fraktionwird nicht lockerlassen und Sie, wenn es denn nicht an-ders geht, Monat für Monat immer wieder an Ihre Auf-gabe erinnern, die finanziellen Grundlagen der Pflege-versicherung zu stabilisieren und die Pflegeversicherungzukunftsfähig zu machen. Niemand von uns will dasEnde der Pflegeversicherung. Das unterstellen wir Ihnenauch nicht. Aber wir brauchen unverzüglich eine Re-form, damit eine aus gutem Grund geschaffene Säuleunserer sozialen Sicherungssysteme nicht ohne Not denBach heruntergeht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind es denpflegebedürftigen älteren Menschen in unserem Landschuldig, dass das Risiko einer Pflegebedürftigkeit imAlter auf lange Sicht abgesichert ist, also nicht nur fürzwei bis drei Jahre, bis zur nächsten Bundestagswahl.Ich bin nach wie vor der Meinung, dass es eine rich-tige Entscheidung war, die Pflegeversicherung einzufüh-ren. Dies darf auf keinen Fall – auch nicht von Ihnen –fahrlässig aufs Spiel gesetzt werden.Den Jüngeren muss klar sein, dass die politisch Ver-antwortlichen in Deutschland alles daransetzen, die Bei-träge zur Pflegeversicherung stabil zu halten. Wir dürfendaher die Notwendigkeit von Beitragserhöhungen nichtbilligend durch Nichtstun in Kauf nehmen oder gar, wieSie es in Ihrem Sparpaket getan haben, noch fördern.Diesen Vorwurf müssen Sie sich gefallen lassen. Das ist umso weniger zu verstehen, als Sie doch dau-ernd davon reden, die Probleme etwa in der Rentenver-sicherung über den Aufbau eines Kapitalstocks lösen zuwollen. Sie reden ebenso ständig davon, eine stärkereprivate Eigenvorsorge der Bürgerinnen und Bürger tragezur Bewältigung der Probleme bei. Dies ist sicherlichkein falscher Ansatz. Aber gerade da, wo dieses PrinzipDr. Ilja Seifert
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7775
bisher ausreichend beherzigt wurde, nämlich bei derPflegeversicherung, tun Sie genau das Gegenteil.
Es war und ist unverantwortlich, dass es die Regie-rung durch Ihre Maßnahmen im so genannten Sparpaketgrob fahrlässig riskierte, die Pflegeversicherung zum fi-nanziellen Pflegefall werden zu lassen.
– Dass Sie das nicht gerne hören, ist klar. – Es waren al-lein 400 Millionen DM weniger Einnahmen im Jahr in-folge der Kürzungen im Sparpaket. Dies geschah ohneNot, nur zum Zwecke des kurzfristigen Stopfens vonselbst geschaffenen Haushaltslöchern. Frau Ministerinund liebe Frau Kollegin Schmidt-Zadel, wo war da Ihrhörbarer und spürbarer Protest? Ich habe nicht gehört,dass Sie heute das Gegenteil gesagt haben. Wir alle wissen doch, dass die Pflegeversicherung vorweiteren schwierigen Aufgaben steht. Es ist hier schondie Frage einer Einbeziehung von altersverwirrten Men-schen in die Pflegeversicherung genannt worden, ebensodie von der Frau Ministerin so vehement geforderte Dis-kussion über eine verstärkte Qualitätssicherung in derPflege. Meine Damen und Herren von der Regierungs-koalition, stabilisieren Sie erst einmal die Grundlage derPflegeversicherung, sonst brauchen Sie keine Qualitäts-sicherung mehr!Wir von der Union haben bereits zu Beginn des letz-ten Jahres unsere Vorschläge zur langfristigen Sicherungvorgelegt. Unser Konzept, zum Beispiel zur Bildung ei-ner Generationenreserve, liegt Ihnen vor. Ich fordere Sienoch einmal auf: Legen Sie endlich ein eigenes Konzeptvor, und lassen Sie uns dann über den besten Weg zurlangfristigen Stabilisierung der Pflegeversicherung strei-ten!
Aber tun Sie endlich etwas für die pflegebedürftigenMenschen in unserem Land!
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Marga Elser.
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen! Liebe Kollegen! In jedem von uns schlummertein kleiner Robin Hood. Dass sich aber nun Sie, verehrteKolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion, heu-te zum Retter der Witwen und Waisen mit einer Aktuel-len Stunde zur Pflegeversicherung hochstilisieren wol-len,
hat sicher auch seinen Grund darin, dass der Sheriff vonNottingham hinter Ihnen her ist.
In diesem Zusammenhang wäre meine Frage an Sie,was sich bei Ihnen in der Einschätzung seit dem 9. Sep-tember vergangenen Jahres geändert hat. Sie erinnernsich sicher, dass Sie damals zu ebendiesem Thema eineebenso unnötige Aktuelle Stunde veranstaltet haben.Geändert hat sich für Sie, dass Sie damit nicht gerechnethaben, dass wir das Sparpaket fast vollständig durchset-zen werden. Wir sind damit in der Konsolidierung derStaatsfinanzen einen entscheidenden Schritt nach vornegekommen. Sie hatten uns diese Aufgabe freundlicher-weise vererbt. Anstatt uns bei diesen Aufräumarbeitenzu unterstützen, wie es Ihre Pflicht wäre, erschöpfen Siesich in Kritteleien und Aktuellen Stunden.
Um die finanzielle Situation der Pflegeversicherung,meine Damen und Herren von der Opposition, müssenSie sich keine Sorgen machen. Wer behauptet, dass diePflegeversicherung gefährdet sei oder gar Auswirkungenauf die soziale Sicherheit alter Menschen zu befürchtenseien, handelt grob fahrlässig. Es geht um hochgerechnet400 Millionen DM Einnahmeverringerung, die auf dieSenkung des staatlichen Zuschusses bei den Beiträgender Arbeitslosenhilfeempfänger zurückzuführen ist. Siewissen genau, Herr Fink, dass diese Summe nie undnimmer für die Aufnahme der Demenzkranken ausrei-chen wird. Wir sind dabei, dafür andere und bessere Lö-sungen zu finden.
Durch Ihre Panikmache werden gerade die alten, pflege-bedürftigen Menschen und ihre Familien verunsichertund verängstigt werden, denen Sie vorgeblich helfenwollen. Aber das war auch schon bei Ihrer Rentenkam-pagne so zu beobachten; darin haben Sie Übung.Ich erinnere Sie daran, dass es in der Kohl-Regierung1997 sogar Überlegungen gegeben hat, der Pflegeversi-cherung einmal eben 4,5 Milliarden DM zu entziehen.Die F.D.P., für die ein jeder seines Glückes Schmied ist,wollte den Beitragssatz senken und hätte damit langfris-tig enorme Ausfälle in der Größenordnung von 3,6 Mil-liarden zu Lasten der Pflegekasse zu verantworten ge-habt.
Hier aber geht es um eine Veränderung in der Bei-tragsbemessung, die – das will ich Ihnen gerne zugeste-hen – auch uns schmerzt,
aber als Beitrag zur Konsolidierung des Haushaltes un-umgänglich war. Nicht zulässig ist jedoch, diese400 Millionen DM als jährlichen Einnahmeausfall hoch-zurechnen.
Diesen Fehler machen Sie. Zum einen wird auf Jahrehinaus bei einem Beitragssatz von derzeit 1,7 Prozenttrotz dieser Einnahmeverluste ein Mittelbestand vonmehr als 8 Milliarden DM in der Pflegekasse sein. ZumEva-Maria Kors
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anderen gehen wir davon aus, dass die gesamtwirtschaft-liche Entwicklung und unsere aktive Arbeitsmarktpolitikdafür sorgen werden,
dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen – das kann manjetzt schon beobachten – kontinuierlich zurückgeht unddurch mehr Beschäftigung auch mehr Geld in die Pfle-gekasse kommt.
Natürlich werden auch wir die demographische Ent-wicklung nicht aus den Augen lassen. Das haben wirhier immer erklärt. Natürlich wird auch der finanzielleSpielraum bei Leistungsverbesserungen begrenzt sein.Aber daraus eine Gefahr für die soziale Lage alter pfle-gebedürftiger Menschen zu konstruieren, ist schon einstarkes Stück Angstkampagne. Daraus resultieren dannauch von Ihnen so gern zitierte irreführende Pressemel-dungen wie zum Beispiel die im „Focus“, wo unter derÜberschrift „Vom Milliarden-Überschuss in die rotenZahlen“ ein völlig falsches Bild gezeichnet wird.
Bei dieser Gelegenheit abschließend noch der Hin-weis, dass wir es waren, die in der 14. Legislaturperiodefür Änderungen und Klarstellungen von leistungsrechtli-chen Vorschriften in der Pflegeversicherung gesorgt ha-ben, die den Pflegebedürftigen und ihren Familien nunwirklich zugute kommen.
Jetzt hat Herr
Kollege Zöller das Wort.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eines wirdhier, wie ich glaube, übersehen. Warum diskutieren wirheute über die Pflegeversicherung? Rot-Grün hat dieEinnahmeseite der Pflegeversicherung drastisch ver-schlechtert. Das müssen Sie einfach zur Kenntnis neh-men.
In der Koalitionsvereinbarung hat Rot-Grün festge-legt, im Rahmen der Begutachtung zur Feststellung derPflegebedürftigkeit insbesondere im Hinblick auf denBetreuungs- und Beaufsichtigungsbedarf bei demenz-kranken Menschen eine Verbesserung zu erreichen.
Ebenfalls sollte die Bildung eines Kapitalstocks in derPflegeversicherung angestrebt werden. Bis dahin sindwir einer Meinung. Beim 4. Änderungsgesetz wurde je-doch weder etwas für Demenzkranke noch für die Ein-führung eines Kapitalstocks getan.Demgegenüber hatten die Bundesländer Bayern, Ba-den-Württemberg und Sachsen, noch bevor Sie IhrenGesetzentwurf eingebracht hatten, eine Initiative imBundesrat ergriffen: Mit dem so genannten Pflegezu-kunftssicherungsgesetz sollten unter anderem die Bil-dung des Kapitalstocks und eine bessere Absicherungfür Demenzkranke erreicht werden. Unsere damaligeGesetzesinitiative wurde aber schon im Frühjahr 1999bei den seinerzeit bestehenden Mehrheitsverhältnissenim Bundesrat von Ihnen abgelehnt. Auch Folgendes istwahr: Als bei der Beratung im Gesundheitsausschussdiese Thematik von uns wieder aufgegriffen wurde,stimmte Rot-Grün dagegen.Dass Sie diese Vorschläge abgelehnt haben, war fürdie Betroffenen bestimmt sehr bedauerlich. Aber IhreBegründung für die Ablehnung dieser Vorschläge istmehr als ärgerlich. Sie haben nämlich damals diese Vor-schläge nicht aus fachlichen, sondern aus rein finanziel-len Gründen abgelehnt.
Im Ausschuss hieß es, diese rund 500 Millionen DM fürDemenzkranke seien nicht finanzierbar. Nun bedient sich die gleiche Bundesregierung scham-los bei der Pflegeversicherung, indem sie ihr die rund500 Millionen DM zugunsten der Bundesanstalt für Ar-beit entzieht. Das ist es, was wir Ihnen vorwerfen.
Wir werfen Ihnen nicht vor, dass Sie nichts getan haben,sondern wir werfen Ihnen Ihre Begründung vor. Sie isteinfach nicht ehrlich.Damit nicht genug: Das nächste selbst gemachteLoch zeichnet sich schon ab; es ist vorprogrammiert.
– Ich werde Ihnen diese Frage beantworten. – Wenn dieAussagen der gesetzlichen Krankenversicherungenstimmen, dass die von Rot-Grün beschlossene Kürzungder Rentenerhöhung in den nächsten beiden Jahren einenEinnahmeverlust der GKV von rund 2,2 Milliarden DMbedeutet, dann muss es analog dazu in der Pflegeversi-cherung zu einem Fehlbetrag in dreistelliger Millionen-höhe kommen. Das ist das nächste von Ihnen selbst ge-machte Loch. Sie verschlechtern die Einnahmeseite undwundern sich dann, dass für die notwendigen Maßnah-men plötzlich kein Geld mehr da sein soll.
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Re-gierung, ich muss Ihnen sagen: Ihre unredlichen Wahl-versprechungen in diesem Zusammenhang holen Sie ein.Marga Elser
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7777
Auch Rot-Grün wird erkennen müssen: Mit wenigerGeld kann man den Menschen nicht mehr versprechen.
Für die Bun-
desregierung erhält jetzt die Staatssekretärin Christa
Nickels das Wort.
C
Frau Präsidentin! Sehr ge-ehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmalmöchte ich auf das eingehen, was Herr Fink, der für sei-ne Fraktion immer der zuständige Mann für den BereichPflegeversicherung war, gesagt hat. Herr Fink, es ist wirklich ein Jammer mit der Herz-Jesu-Fraktion der CDU/CSU. Nachdem Ihre Vorschlägenach 16 Jahren Regierung Kohl auf dem Altar der Koali-tionsraison zugunsten der F.D.P. geopfert worden sind,haben Sie heute noch nicht einmal die richtigen Zahlenim Kopf. Ich möchte zunächst ein paar Zahlen klarstel-len.Herr Fink, Sie haben erstens gesagt, im Jahr 1999hätte die Bundesregierung der Pflegeversicherung 400Millionen DM entzogen.
– Das haben Sie gesagt. Sie können es im Protokollnachlesen. – In diesem Punkt sind die Gäule mit Ihnendurchgegangen. Diese Aussage ist völlig falsch; so ist esnicht gewesen. Die Einsparung gilt nämlich erst ab die-sem Jahr; sie ist ein Beitrag zur allgemeinen Konsolidie-rung. Es handelt sich nicht um eine sadistische Grau-samkeit. Auch das wissen Sie. Die alte Bundesregierunghat uns einen riesigen Schuldenberg hinterlassen. So ha-ben Bund und Länder insgesamt 1500 Milliarden DMSchulden. Es müssen über 80 Milliarden DM an Zinsenund Tilgung aufgebracht werden.
– Frau Rönsch, schreien Sie doch nicht so! Sonst legenSie immer so viel Wert auf gute Manieren. Es ist so, dass die Sozialversicherungssysteme lang-fristig in die Knie gehen würden, wenn diese Schuldennicht abgebaut werden. Unserem Hause hat diese Maß-nahme weh getan. Aber es war notwendig, dass wir die-sen angemessen Beitrag leisten mussten. Wenn Sie nochnicht einmal die Jahreszahlen auseinander halten kön-nen, Herr Fink, dann muss ich feststellen, dass Sie demErnst der Debatte nicht angemessen diskutieren.Zum zweiten Punkt, den Sie nicht richtig vorgetragenhaben. Sie sind davon ausgegangen, dass es Defizite imletzten Jahr gegeben hat. Sie vergessen aber – wie HerrParr richtig sagte, haben Sie schließlich die ordnungspo-litischen Säulen der Pflegeversicherung mit erarbei-tet –, dass die Überschüsse der Einnahmen der Pflege-versicherung von 1995 bis 1998 in jedem Jahr zu-rückgegangen sind. Diese Entwicklung ist doch nach ei-ner Aufwuchsphase normal.
1998 hatten wir 250 Millionen DM Überschuss. ImJahr davor waren es noch 1,6 Milliarden DM. Es war je-dem klar, dass in dem Maße, wie die Betroffenen – wiegewünscht – diese Pflegeversicherung in Anspruchnehmen, die Überschüsse zurückgehen.
– Sie dürfen hier keine Lügen verbreiten; das ist dasThema. Sie dürfen nicht die Debatte um die Pflegeversi-cherung dazu missbrauchen, um vom Spendensumpf ab-zulenken.
Trotzdem haben wir im letzten Jahr, was wir vonsei-ten der Bundesregierung begrüßen, gemeinsam vierpraktische Punkte umgesetzt – Herr Zöller beklagt siejetzt, weil sie ihm nicht weit genug gehen –, die für diePflegeversicherung wichtig sind und die wir eigentlichalle zusammen schon in der vorletzten Legislaturperiodeumsetzen wollten, was aber an der F.D.P. gescheitert ist.
Das waren 250 Millionen DM im letzten Jahr.
Das wollten wir alle zusammen, und das war richtig guteingesetztes Geld. Man kann nicht einerseits sagen:„Das hätten Sie nicht machen sollen“, und andererseitswie Herr Zöller noch viel mehr verlangen.Jetzt bin ich beim nächsten Punkt, bei Herrn Zöller.Herr Zöller, Sie werfen der Bundesregierung vor, dassdie im Koalitionsvertrag angestrebte Verbesserung derSituation der Dementen nicht eingetreten sei. Wir arbei-ten intensiv daran, müssen uns aber innerhalb der ord-nungspolitischen Säulen des vorgegebenen Pflegeversi-cherungssystems bewegen. Das kann man nicht einfachmit einem Fingerschnipp aus den Angeln heben. Wir ar-beiten intensiv daran und Sie werden in diesem Jahr et-was davon hören. Der Antrag aus Bayern, den Sie als beispielhaft vor-stellen, war überhaupt nicht solide durchgerechnet. Ichhabe ihn mir selber vorgenommen, weil wir ihn auch imGesundheitsausschuss beraten haben. Bayern ist vonÜberschüssen und Reserven in Höhe von 12 MilliardenDM ausgegangen. Das war um knapp 3 Milliarden DMzu hoch geschätzt. Bayern wollte beides: die Einbe-ziehung der Dementen und den Kapitalstock. Das kannnicht innerhalb der ordnungspolitischen Säulen der Pfle-geversicherung geleistet werden, die von Ihrer Regie-Wolfgang Zöller
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7778 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
rung, von Herrn Blüm, nie als Vollabsicherung, sondernals eine Teilfinanzierung der Pflege gedacht war, unterFestlegung eines Beitragssatzes von 1,7 Prozent, wobeiman wusste, dass dies ein begrenzter Beitrag ist. Bayernwollte beides. Ich kann Ihnen gern die Ausschussdruck-sache vorlegen. Es sind Milliardensummen, die dafürnötig wären.
– Das ist nicht richtig, Herr Zöller. Ich zeige Ihnen nocheinmal die Ausschussdrucksache. Bayern hat die Reser-ven um 3 Milliarden DM nach oben gerechnet und dieAusgaben in einer riesengroßen Höhe unterschätzt. Dasist unsolide und ist nicht richtig. Man darf pflegebedürf-tigen Menschen keinen Rosengarten versprechen, wennman ihn nicht schaffen kann. Und man darf sie auchnicht verunsichern, wenn die Sicherheit der Pflege ge-geben ist. Wenn Bayern einen solchen Antrag vorlegt,ist das Populismus, ein Spiel auf dem Rücken der zuPflegenden, und das machen wir nicht mit. Wir gehen inaller Ruhe daran. Ich finde, das, was Sie hier veranstal-ten, nicht richtig.Jetzt möchte ich zu einigen Punkten der aktuellenDiskussion zurückkommen. Meine Kolleginnen habenschon darauf hingewiesen, dass wir das Zahlenspiel, dasSie hier veranstalten, schon von der Aktuellen Stundevom 9. September und von der Fragestunde am 4. No-vember kennen, und wir haben es im Gesundheits- undim Haushaltsausschuss mit im Wesentlichen gleichenZahlen erlebt. Dazu muss man noch einiges sagen. Sie nehmen sichhier immer die Angaben des Bundesversicherungsamtesin der Haushaltsausschussanhörung vor. Dabei ist in derÖffentlichkeit nie gesagt worden, dass es sich bei derEinschätzung der Finanzentwicklung der Pflegeversi-cherung um eine Bandbreite bezüglich der zu erwarten-den Einnahmen handelt. Das heißt, man hat eine Band-breite, die sich zwischen ganz pessimistischen Schät-zungen und optimistischen Schätzungen bewegt, dieaber nicht irgendwo im Kaffeesatz vorgefunden, sondernaufgrund der Hochrechnung von Daten ermittelt wordenist. Wir als Bundesregierung bewegen uns nicht auf derganz pessimistischen, auch nicht auf der ganz optimisti-schen, sondern auf der mittelfristigen Finanzplanungs-schiene und auch auf der Grundlage des Rentenversiche-rungsberichts 1999.
Von diesem Zahlentableau ausgehend kommen wirzu dem Ergebnis, dass aufgrund der erwarteten Ein-kommensentwicklung ab Mitte dieses Jahrzehnts sichwieder Überschüsse in der Pflegeversicherung einstellenkönnen,
dass wir bis dahin einen Rückgang haben, weil die Aus-gaben die Einnahmen übersteigen. Allerdings gehen wirdavon aus – das sollten auch Sie sagen –, dass zu kei-nem einzigen Zeitpunkt die Liquidität der Pflegeversi-cherung eingeschränkt wird oder die Versorgung der zuPflegenden zur Disposition steht. So etwas dürfen Sieauch nicht suggerieren. Das ist ein übles Spiel mit Men-schen, die sich nicht wehren können und die Sie verun-sichern.
Wir gehen nach der mittelfristigen Finanzplanung da-von aus, dass der Mittelbestand der Pflegeversicherungnicht unter 8 Milliarden DM absinkt und die vorge-schriebene Mindestreserve von rund 4 Milliarden DMerhalten bleibt.Nun zu unseren Bemühungen, hier etwas zu verbes-sern. Sie wissen, dass wir zur Verbesserung der Situati-on der zu Pflegenden und vor allem auch der Dementenin zwei Häusern, im Ministerium von Frau Bergmannund im Ministerium von Frau Fischer, also Senioren undGesundheit, zeitgleich eine Novellierung des Heimge-setzes und ein Qualitätssicherungsgesetz erarbeiten, dasin seinen Anlagen mit dazu beiträgt – –
– Man kann auch über Qualitätssicherung, über be-stimmte Regelungen eine Menge tun, um die Betroffe-nen besser zu stellen. Das wird im Frühjahr geschehen.
Der zweite Punkt ist: Wir sind dabei, zu prüfen, wiewir im Rahmen der vorhandenen Mittel in der Situationdes riesengroßen Schuldenbergs, den ich geschildert ha-be, die Situation der Dementen verbessern können. Da-mit muss man sorgsam umgehen; das ist ein schwierigesGeschäft.Herr Fink, auch Sie wussten das einmal. Wahrschein-lich wissen Sie es immer noch. Nur stehen Sie nichtmehr dazu. Sie machen jetzt in Populismus und stellenForderungen auf, die Sie unter Kohl selbst dann nichtgestellt hätten, wenn Sie es gedurft hätten. Wir machendas nicht. Wir gehen damit solide um. Es werden Vor-schläge kommen. Ob auf ganz lange Sicht die ordnungspolitischen Säu-len der Pflegeversicherung, wie Herr Parr gesagt hat,ausreichen, das wird man beim langfristigen Konzeptdiskutieren müssen. Allerdings kann ich Ihnen, HerrParr, eines schon jetzt sagen: Die Vorstellungen, die Siein den Raum stellen, finden nicht die Zustimmung dieserRegierung, weil sie zu Lasten der Schwachen gehen.
Das ist nicht unsere Politik. Danke. Parl. Staatssekretärin Christa Nickels
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7779
Das Wort hat nun
der Kollege Gerald Weiß, CDU/CSU-Fraktion.
Gerald Weiß (CDU/CSU): Frau Präsi-
dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau
Nickels! „Wir arbeiten am Problem“, „Wir sind dabei zu
prüfen“, „Wir werden demnächst“ – ich habe den Ein-
druck, dass die rot-grüne Koalition auch bei der Pflege-
versicherung entnervend konzeptionslos ist.
Keine einzige konkrete Festlegung! Wolkenschieberei-
en! Sie sagen nicht, wie Sie die Versprechungen erfüllen
wollen, die in Ihrem Koalitionsvertrag stehen. Vielmehr
erschweren Sie die Erfüllung dieser Versprechungen
gravierend. Es ist schon eine Ironie des Schicksals, dass
zum Beispiel der sehr beachtenswerte Entwurf Bayerns
und Baden-Württembergs im Bundesrat zur Pflegeleis-
tungsverbesserung für Demenzkranke etwa denselben
Umfang hatte, nämlich 500 Millionen DM, wie das, was
Sie jetzt der Pflegeversicherung durch brutalen Eingriff
abknapsen. Sie kämen sehr viel weiter, wenn Sie mit
diesem Geld gearbeitet hätten.
Sie sprechen von Zahlenspielereien. Frau Knoche be-
stritt die Aktualität der Stunde. Frau Elser sprach von
unnötiger Debatte. – Aktueller kann sie doch nicht sein.
Die Horrorzahlen des Bundesversicherungsamtes sind in
diesen Tagen über uns gekommen und haben das bestä-
tigt, was wir im Herbst vergangenen Jahres bereits zum
Gegenstand einer ersten Debatte gemacht hatten.
Es ist doch eher schlimmer als wir damals gesagt ha-
ben. Im vergangenen Jahr hatten wir, wie, glaube ich,
seit heute feststeht, 74 Millionen DM Defizit in der
Pflegeversicherung. Für das nächste Jahr sagt eine vor-
sichtige Prognose aus, dass Verluste von 850 Millionen
DM zu befürchten seien. Manche Befürchtungen gehen
auf 1 Milliarde DM und mehr.
Frau Nickels, gibt Ihnen die Heuchelei, mit der Sie an
dieses Pult getreten sind, nicht zu denken? Die Hälfte
des Verlustes haben Sie selber mit dem brutalen Griff
Eichels in die Pflegekasse bewirkt. Gibt Ihnen das nicht
zu denken?
In Ihrer Politik passt nichts zusammen. Sie sagen, das
sei ein normaler Vorgang, das hätten Sie fiskalisch tun
müssen und die Absenkung der Bemessungsgrundlage
habe seine Ordnung. Das passt nicht zusammen. Bei der
Krankenversicherung ist es doch, nur weil der Druck
größer war, bei der Bemessung von 80 Prozent Lohn
brutto geblieben.
Mir ist aufgefallen, dass in Ihrem Beitrag der pflegebe-
dürftige Mensch überhaupt nicht vorkam. Weil das
Klientel schwächer und politisch weniger wirksam ist,
haben Sie diesen Eingriff getan.
Nein, Sie sind nicht gerüstet für das, was kommt. Sie
sind nicht darauf vorbereitet, ernsthaft etwas für die
verwirrten und psychisch Kranken zu tun. Sie sind nicht
auf die gewaltigen Verschiebungen im Altersaufbau der
Bevölkerung vorbereitet. Denn daraus wird zwangsläu-
fig mehr Pflegebedarf erwachsen.
Sie sind nicht auf das Problem der Verschiebung des
Pflegebedarfs hin zu aufwendigeren Pflegeformen, zum
Beispiel von der Geldleistung in der ambulanten Pflege
zur Sachleistung, vorbereitet.
Wenn wir die Leistungssätze in der Pflege bei stei-
genden Kosten nicht anpassen, gibt es nur zwei denkba-
re Wirkungen: Entweder sinkt die Qualität der Pflege-
leistung, oder der Pflegebedürftige muss letztendlich als
derjenige, der betroffen ist, zahlen. In jedem Fall trifft es
den Schwachen, den Pflegebedürftigen. Zudem wird ei-
nes der Kernziele der Pflegeversicherung, nämlich die
Absicherung gegen die Abhängigkeit von der Sozialhil-
fe, zunehmend verletzt.
Nein, all das, was die Vorgängerregierung Ihnen hin-
terlassen hat, gefährden Sie durch Nichtstun, durch in-
konsistentes Handeln. Deshalb ist es in dieser Debatte
eine besondere Gemeinheit, wenn von Erblast gespro-
chen wird.
Ich halte fest: CDU/CSU und F.D.P. haben Ihnen ei-
ne stabile Pflegekasse übergeben,
mit Überschüssen und Rücklagen in Höhe von über
9 Milliarden DM. Das ist übrigens nicht vom Himmel
gefallen; dem lag ein kluges Gesetz zugrunde. Norbert
Blüm hat mit diesem Gesetz ganz sicher Sozialgeschich-
te gemacht: mit dem stufenweisen Aufbau von Leistun-
gen, mit Preissystem statt Selbstkostendeckung –
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist begrenzt. Wir befinden uns in einer Aktuel-
len Stunde.
Gerald Weiß (CDU/CSU): – ich
komme zum Schluss –, mit einem klar definierten Leis-
tungsgefüge, mit Markt und Wettbewerb statt über-
zogener Staatsplanung. Das waren die klugen Bausteine
eines klugen vorsorgenden Gesetzes. Rot-Grün aber –
das muss man nach dem Stand dieser Debatte sagen –
steht für Problemverschärfung statt Problemlösung, steht
für Ratlosigkeit statt Konzept.
Danke.
Jetzt erteile ich derKollegin Barbara Imhof, SPD-Fraktion, das Wort.Parl. Staatssekretärin Christa Nickels
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7780 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! In Richtung CDU/CSU sage ichein freundliches Grüezi.
– Das war auf die Wette bezogen.Ich denke, dass wir uns hier im Haus alle darüber ei-nig sind,
dass wir eine bedarfsgerechte, humane und aktivierendePflegeversorgung und Betreuung brauchen und dass wirdie Pflegequalität gesichert und weiterentwickelt wissenwollen.
Dass Sie jetzt aber, meine Damen und Herren auf derrechten Seite, anhand der hinlänglich genannten Zahlenein regelrechtes Horrorszenario entwickeln wollen, dazubesteht nun wirklich kein Grund. Es ist allerdings zu be-fürchten, dass es Ihnen hiermit gelungen ist, die Betrof-fenen einmal mehr zu verunsichern. Halten wir uns doch lieber an die Fakten! Mit dem4. SGB-XI-Änderungsgesetz haben wir eine ganze Rei-he von Verbesserungen auf den Weg gebracht. Ich nen-ne vor allem die Änderungen bei der Tages- und Nacht-pflege, den Pflichtpflegeeinsätzen und der Urlaubs- undder Verhinderungspflege.
Von der letzten Neuregelung haben übrigens insbeson-dere die pflegenden Angehörigen von Demenzkrankenprofitiert. Weitere Verbesserungen für Demenzkranke inder Pflegeversicherung – es wurde gesagt, dass diesehier nicht vorkommen; deshalb erwähne ich sie – stehenals Prüfauftrag in unserer Koalitionsvereinbarung. Daskönnen Sie nachlesen.
Ein Schwerpunkt unserer Arbeit in diesem Jahr wirddie Qualitätssicherung in der Pflege sein. Hier bestehtdie Notwendigkeit – da sind wir uns bestimmt auch ei-nig –, die jetzigen Regelungen noch zu verbessern.Ebenso wird an der Novellierung des Heimgesetzes ge-arbeitet, das mit dem Qualitätssicherungsgesetz abge-stimmt werden muss. Schließlich werden wir auch dieFrage einer Heimpersonalverordnung noch in diesemJahr einer Lösung zuführen.
Ich möchte den Punkt der Qualitätssicherung hervor-heben. Die in der Vergangenheit bekannt gewordenenSkandale über die Misshandlung und Vernachlässigungalter Menschen sind Gott sei Dank kein Spiegelbild desAlltags in den Pflegeheimen und bei den Pflegediensten.Die meisten Pflegekräfte versuchen unter wirklichschwierigen Rahmenbedingungen, mit großem persön-lichen Einsatz die ihnen anvertrauten Pflegebedürftigenzu betreuen.
Eben weil sie die Verantwortung dafür tragen, dass sichdie Bewohner der Heime wohl fühlen, sind Qualitätssi-cherung und -verbesserung zunächst einmal Aufgabe derHeime selbst. Zum Glück setzt sich immer mehr die Er-kenntnis durch, dass die Pflegebedürftigen und ihre An-gehörigen im Mittelpunkt des Pflegewesens stehen müs-sen. Erfahrungen und Einschätzungen gerade dieser Menschen sind ein ganz entscheidender Faktor für einfunktionierendes Qualitätsmanagement. Der gute Rufeines Heimes bietet natürlich auch die Gewähr dafür,dass seine Leistungen nachgefragt werden, und damitdient es letztlich auch der Existenzsicherung dieser Häu-ser.Dies haben die Heime und Verbände vielfach schonselbst erkannt und etliche eigene Initiativen ergriffen.Auch die Erkenntnis, dass eine gute Beratung vor Auf-nahme in eine Einrichtung diesen oft sehr schwierigenSchritt für die Pflegebedürftigen und natürlich auch fürdie Angehörigen leichter macht, setzt sich immer mehrdurch. Ebenso hat die Diskussion um die Einführung vonQualitätssiegeln gezeigt, dass das Bewusstsein zur Qua-litätsverbesserung vor Ort geweckt worden ist. Aber zuviele verschiedene Qualitätssiegel führen dazu, dass dieMenschen verunsichert sind, was nicht der Aufklärungdient. Deshalb würden wir es begrüßen, wenn sich dieBeteiligten auf bundeseinheitliche Vergabekriterien ver-ständigen könnten, damit der Verbraucher letztendlichmit einem Siegel etwas anfangen kann.
Eine verantwortliche Rolle bei der Qualitätssicherunghat der Gesetzgeber auch den Pflegekassen und den Me-dizinischen Diensten zugewiesen. Die Pflegekassen ha-ben gemeinsam mit den Leistungserbringern die Quali-tätsvereinbarungen nach § 80 SGB XI abgeschlossen.Die dadurch angestoßene Diskussion ist wichtig zurWeiterentwicklung der Qualität in allen Pflegeberei-chen. Damit Misshandlungen und Vernachlässigungen, dieich schon angesprochen habe, gar nicht erst entstehenkönnen, müssen die Fragen nach der Verbesserung derAufsicht einer Lösung zugeführt werden.
Neben dem Strafrecht als schärfste Sanktionsmöglich-keit steht zum Schutz der Heimbewohner auch dasHeimgesetz zur Verfügung. Es ist in seiner ordnungs-politischen Funktion zur Gefahrenabwehr ein wichtigesInstrument. An der Novellierung dieses Gesetzes arbei-ten wir ebenso. Darauf habe ich bereits hingewiesen.Für mich ist klar, dass es ein Gesamtkonzept gebenmuss, das die Änderungen auf dem Pflegemarkt berück-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7781
sichtigt. Patienten- und Verbraucherschutz haben in un-serer Politik einen hohen Stellenwert, der sich in diesemGesamtkonzept auch wiederfinden muss.Vielen Dank.
Das Wort hat nun
die Kollegin Hannelore Rönsch, CDU/CSU-Fraktion.
FrauPräsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!Das Thema der Aktuellen Stunde ist die Pflegeversiche-rung und die Haltung der Bundesregierung zu dieserPflegeversicherung. Darauf möchte ich wieder zurück-kommen. Ich kann durchaus verstehen, dass Sie heutedarüber nicht sprechen wollen, denn meine Kolleginnenund Kollegen haben Sie auf die Misere, die Sie veran-lasst haben, schon hingewiesen. Aber wir werden nocheinige Punkte aufgreifen. Wir wollten die Haltung der Bundesregierung zur ak-tuellen Situation in der Pflegeversicherung hören. Wennich zur Regierungsbank schaue und dort eine Staatssek-retärin aus dem Gesundheitsministerium sitzen sehe, diemit einer menschlichen Kälte mit Zahlen jongliert hat,dann ist es mir um die Alten, um die Pflegebedürftigen,um die Wehrlosen in unserer Gesellschaft bange.
Ich vermisse auf der Regierungsbank die Senioren-ministerin. Ich muss davon ausgehen, dass das, was inder Pflegeversicherung veranlasst wurde, im Kabinettberaten wurde und dort auch einstimmig weitergegebenworden ist.
– Frau Kollegin, ich komme auch auf Ihren Beitrag nochzu sprechen. – Ich frage mich: Wie kann es diese Senio-renministerin überhaupt verantworten, ausgerechnet imJahr der Senioren in die Taschen oder – man muss sa-gen – sehr oft in die Nachthemden der Pflegebedürftigenzu greifen
und dort 400 Millionen DM zu nehmen, um die Haus-haltskassen des Bundes zu füllen?
Wir hatten schon einmal, Frau Kollegin, große Ge-meinsamkeit; ich kann mich sehr gut daran erinnern. Inden Jahren 1995, 1996 und dann, zur Einführung derPflegeversicherung, 1997 waren wir uns einig: Wirwollten den alten und älteren Menschen die Sorge neh-men,
dass sie, wenn sie im Alter pflegebedürftig werden, dannnicht von der Sozialhilfe abhängig werden. Wir wolltenihnen die Sorge nehmen, dass sie dann ihren Kindernauf der Tasche liegen.
– Herr Kollege, das habe ich doch gerade gesagt. Wirhatten große Gemeinsamkeiten. Wir waren 1995 und1996 an dem einen oder anderen Punkt in der Diskussi-on ein wenig uneinig, aber wir hatten das gemeinsameZiel, den alten Menschen die Angst vor der Pflegebe-dürftigkeit im Alter zu nehmen.
Wir haben 1997 die Pflegeversicherung eingeführt undwir haben Ihnen die Rücklage überlassen – ich war inGedanken noch bei 8 Milliarden DM Rücklage, aber Ge-rald Weiß hat von 9 Milliarden DM gesprochen –, damitwir in der Zukunft dem demographischen Faktor gerechtwerden können
und damit wir den Entwicklungen in unserer Gesell-schaft, die wir gemeinsam gesehen haben, auch in derZukunft begegnen können und alte Pflegebedürftigeweiterhin versorgen können.
Ich würde mir wünschen, dass Sie ein wenig mehrBesonnenheit und vielleicht auch wieder ein wenig mehrWärme
in die Arbeit und in die Diskussion bringen. Denn die al-ten Menschen haben das, was jetzt hier veranstaltetwird, nicht verdient.
Wir haben im vergangenen Jahr eine Große Anfrageeingebracht, die unlängst von der Seniorenministerin be-antwortet wurde. Jeder von uns kennt die demographi-sche Entwicklung. Gerade in diesen Tagen sind diejüngsten Zahlen bekannt geworden. Die Frauen werdenim Durchschnitt 80 Jahre, die Männer 74,3 Jahre, undBarbara Imhof
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7782 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
das wird sich in der Zukunft weiter steigern, Gott seiDank.Wir wissen aber auch – jetzt will ich einmal aus derAntwort auf die Große Anfrage zitieren –, dass 5 bis6 Prozent der über Fünfundsechzigjährigen unter mittel-schwerer bis schwerer Demenz und 7 bis 8 Prozent unterleichter Demenz leiden.
Wenn Sie sich dann einmal anschauen, wie von For-schern die Entwicklung in der Zukunft gesehen wird,stellen Sie fest, dass damit gerechnet wird, dass Men-schen zwischen 70 und 80 Jahren 2010 einen Anteil ander Bevölkerung von 10 Prozent haben.
– Ich habe darauf gewartet, dass das angesprochen wird,Herr Kollege. Ich bin mein Arbeitsleben lang gewerk-schaftlich organisiert, seit dem 18. Lebensjahr, und warnur für zwei Jahre aus der Gewerkschaft ausgetreten, alsich im Untersuchungsausschuss „Neue Heimat“ war; dawollte ich ihnen keine Mark mehr geben.
Aber ich musste es in diesem Wahlkampf zulassen, dassmit 8 Millionen DM von meinen Beiträgen gegen michWahlkampf gemacht wurde, auf eine sehr schmutzigeArt und Weise. Da wäre ich an Ihrer Stelle ausgespro-chen ruhig.
– Ich verstehe, dass Sie das aufregt. Aber ich möchte Siezum Abschluss noch einmal mahnen: Besinnen Sie sichauf Ihre Koalitionsvereinbarung, die sich ja noch ganzgut anhörte.
– Ich verstehe, dass Sie ablenken wollen; Sie haben al-len Grund dazu, weil Sie sich an den armen, wehrlosenalten Menschen vergreifen.
Sie sind über die
Zeit, Frau Kollegin.
Kommen Sie mit uns wieder zu einem Stück Gemein-
samkeit wie bei der Rente! Auch dort waren Sie belehr-
bar. Lassen Sie die alten Menschen nicht im Stich! Wir
werden ihr Anwalt sein.
Nun hat der Kollege
Dr. Martin Pfaff das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Verehrte Frau Rönsch, wir kön-nen ja verstehen, dass die Devise „Angriff ist die beste Verteidigung“, vor allem in einer schwierigen Si-tuation, auch zum Taktieren führt. Aber was wir heutevon Ihnen, Frau Rönsch, und von den anderen gehörthaben – ich werde das noch einmal wiederholen –, gehtüber das Zumutbare hinaus.
Sie haben nicht nur die Sorgen und Ängste der altenMenschen geschürt, Sie haben an den Grundfesten desKonsenses, der zur Pflegeversicherung führte, gerüttelt.
Sie haben anderen in die Hände gespielt.Ich sage es noch einmal: Die Probleme der Pflegever-sicherung, der alten, pflegebedürftigen Menschen sindviel zu ernst für solche billigen parteitaktischen Spiele.
Frau Rönsch, ist Ihnen und übrigens auch dem ver-ehrten Herrn Kollegen Fink, den ich sonst besondersschätze, denn bewusst, wie verantwortungslos das heuti-ge Vorgehen eigentlich ist? Betrachten Sie doch einmaldie Aussagen beispielsweise des ArbeitgeberpräsidentenHundt. Er sagte, es zeige sich an den sich abzeichnendenDefiziten, dass die Einführung der umlagefinanziertenPflegeversicherung ein schwerer sozialpolitischer Fehlergewesen sei.
Auch die Pflegeversicherung müsse auf die Basissiche-rung konzentriert werden. Und haben Sie gehört, was der Herr Kollege Parr ge-sagt hat? Ist Ihnen bewusst – ich sage das in Anfüh-rungszeichen –, dass Sie mit Ihren Ausführungen hiernicht nur schlafende Hunde wecken, sondern dass Siedenen in die Hände spielen, die das System infrage stel-len?
Aber wenn Sie den Kapitalstock in diesen schwieri-gen Zeiten aufbauen wollen, dann sagen Sie den Men-schen doch auch, dass Sie ihnen eine Doppelbelastungzumuten. Einmal sollen sie Beiträge zum Kapitalstockzahlen, der irgendwann in einigen Jahrzehnten relevantist; andererseits sollen sie jetzt mit ihren Beiträgen fürdie jetzt Pflegebedürftigen zahlen. Seien Sie ehrlich undsagen Sie den Menschen, dass Sie ihnen eine solcheDoppelbelastung zumuten. Dann können wir weiterre-den.Hannelore Rönsch
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7783
Wir finden Ihr Vorgehen übrigens umso erstaunli-cher, als wir die Pflegeversicherung gemeinsam verab-schiedet und die Lücken gemeinsam zu verantwortenhaben. Es wurde schon gesagt, dass wir in dieser Legis-laturperiode schon einige dieser Lücken gemeinsam ent-fernt haben. Und 250 Millionen DM tragen auch zu demangesprochenen Defizit bei.Verehrte Frau Rönsch, ich würde Ihnen wirklichempfehlen, das, was Sie gesagt haben, zurückzunehmen.Wer hier im Deutschen Bundestag behauptet, dieseBundesregierung greife in die Nachthemden der Pflege-bedürftigen, um sich haushaltsmäßig zu sanieren, hatnicht nur einen Irrweg begangen. Ich empfinde das alseine Geschmacklosigkeit, die Sie unbedingt zurückneh-men sollten.
Wir wissen alle, dass beispielsweise die Qualitätssi-cherung verbessert werden muss. Und sie wird verbes-sert werden. Wir alle wissen, dass das Heimgesetz no-velliert werden muss. Und es wird novelliert werden.Wir alle wissen, dass die Problematik der Demenzkran-ken aufgegriffen werden muss. Das ist in Arbeit. Undwenn Sie hier schon im Brustton der Überzeugung redenund sich als moralisch höher stehend präsentieren wol-len, frage ich Sie: Was haben Sie denn in den 16 JahrenIhrer Regierungsverantwortung für die Demenzkrankengetan? Das möchte ich gern wissen. Darüber können Siehier sprechen. Eine Schuldenlast haben Sie uns hinter-lassen.Ich sage auch ganz offen, liebe Kolleginnen und Kol-legen von der Opposition: Die 400 Millionen DM kön-nen keinem Sozial- und Gesundheitspolitiker Freude be-reiten. Natürlich nicht!
– Ich weiche nicht aus! Aber die Wahrheit ist, dass seitdem Zweiten Weltkrieg leider Verschiebebahnhöfe im-mer wieder gang und gäbe waren. Ich nenne einige.Beispiel 1: zweimalige Senkung des Rentenversiche-rungsbeitrages durch Sie bei gleichzeitiger Anhebungdes Beitrags zur Bundesanstalt für Arbeit – Verschiebe-bahnhof 1.Zweitens. Absenkung der Reha-Leistungen der ge-setzlichen Krankenversicherung mit Auswirkungen aufeinen anderen Bereich – Verschiebebahnhof 2.Drittens. Ausgliederung der medizinischen Rehabili-tation, Belastung der Pflegeversicherung – Verschiebe-bahnhof 3.Und was Sie im Zweiten Neuordnungsgesetz mit derhäuslichen Krankenpflege, mit der ambulanten Rehamachen wollten – ich könnte das fortsetzen –:Verschiebebahnhof 4.Das macht es nicht richtiger, wenn in der Not eineRegierung dort hingreift, wo es etwas zu holen gibt. Tatsache ist: Wir sind dabei, unter diesen schwierigenBedingungen das Heimgesetz zu novellieren. Ich kannjetzt nicht ins Detail gehen. Wir sind dabei, die Quali-tätssicherung zu verbessern, und wir sind dabei, auch fürdie schweren Probleme der Demenzkranken etwas zutun.
Alle Prognosen, was die langfristige Entwicklung an-geht, zeigen, dass bis 2015 der Beitragssatz bei absehba-ren Entwicklungen unter 2 Prozent gehalten werdenkann, dass es nach den jetzigen Prognosen nach2020/2030 schwieriger wird, aber dass es für eine Ver-unsicherungskampagne der Art, wie Sie sie vorgestellthaben, keinen sachlichen Grund gibt.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Sozialord-
nung
– zu dem Antrag der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Nationale Armuts- und Reichtumsberichter-
stattung
– zu dem Antrag der Fraktion der PDS
Regelmäßige Vorlage eines Berichts über die
Entwicklung von Armut und Reichtum in der
Bundesrepublik Deutschland
– zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit
Schnieber-Jastram, Wolfgang Mecklenburg,
Hans-Peter Repnik, Peter Weiß
und der Fraktion der CDU/CSU
Bekämpfung der „verdeckten Armut“ in
Deutschland
– Drucksachen 14/999, 14/1069, 14/1213,
14/2562 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Weiß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Kol-
lege Wolfgang Spanier, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wenn sich die Reihen auchlichten, ist heute dennoch ein guter Tag, weil wir endlichmit einer, wie ich denke, klaren parlamentarischenDr. Martin Pfaff
Metadaten/Kopzeile:
7784 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
Mehrheit beschließen, dass ein nationaler Armuts- undReichtumsbericht hier in Auftrag gegeben wird.
Wir folgen damit den Forderungen der nationalenArmutskonferenz, der beiden Kirchen, der Gewerkschaf-ten, der einschlägigen Wissenschaftler, die seit Jahrenfordern, dass wir hier endlich eine verlässliche empiri-sche Grundlage für politisches Handeln haben müssen.
Wir folgen damit auch einem Versprechen der altenBundesregierung, das sie 1995 auf dem Weltsozialgipfelgegeben hat, aber niemals umgesetzt hat.
Meine Damen und Herren, ich habe mich ein weniggewundert, warum Sie Nein sagen zum Reichtums- undArmutsbericht. Ich habe mir noch einmal angeschaut,welche Argumente Sie in der ersten Lesung hier im Par-lament vorgebracht haben, um dieses Nein zu begrün-den.
Es waren nicht sehr viele Argumente, aber dennoch willich sie nennen und auf sie eingehen. Da ist zunächst einmal der Verdacht, dort würden nur„Papierberge, Datenfriedhöfe erzeugt, nur ein qualifi-zierter Satz von Daten in der Verteilung von Armut undReichtum“. Das hängt letztlich vom Parlament ab. Wirwerden entscheiden, wie wir mit diesem nationalen Ar-muts- und Reichtumsbericht umgehen. Wir werden ent-scheiden, ob die Schlussfolgerungen, die Konsequenzen,die dort vorgeschlagen werden, dann auch politisch um-gesetzt werden. Den gleichen Verdacht könnte man natürlich gegenden Agrarbericht, gegen den Kinder- und Jugendberichtusw. erheben. Ich glaube, dass das kein stichhaltiges Ar-gument ist. Ihr zweiter Punkt – er wurde, glaube ich, von Ihnengenannt, Herr Weiß –: Eine wissenschaftlich exakte undvon allen geteilte Armutsdefinition lässt sich so leichtnicht finden. Wie Recht Sie haben! Dennoch gibt es seitJahrzehnten in der Bundesrepublik eine etablierte Ar-mutsforschung. Es lässt sich also sehr wohl wissen-schaftlich-empirisch begründet etwas zu Armut undReichtum sagen.
Auch das ist, denke ich, ein Scheinargument, um dasGanze zurückzuweisen. Sie sagen weiter, es dürfe nicht nur ein Regierungsbe-richt sein, es müsse auch ein Expertenbericht sein.
Bei näherem Hinsehen werden Sie feststellen, dass diesgewährleistet ist.
Selbstverständlich werden Experten an diesem Berichtmitwirken. Ein letztes Argument ist Ihre Alternative, ein Berichtüber verdeckte Armut. Zunächst einmal finde ich es er-freulich, dass auch Sie die verdeckte Armut entdeckt ha-ben. Ich kann mich sehr wohl noch daran erinnern, wieHerr Seehofer, als wir noch im alten Parlament in Bonnüber die Große Anfrage zur Armut diskutiert haben, mitZwischenrufen gefragt hat: Was meinen Sie eigentlichmit verdeckter Armut? Woher wissen Sie das über-haupt? – Das kann ich Ihnen mit den Protokollen nach-weisen. Sie haben also immerhin erkannt, dass es so et-was gibt. Es gibt auch erste Untersuchungen, die letzt-lich zwar nur Schätzungen sind, die aber zeigen, wel-chen dramatischen Umfang das hat. Sie haben nach An-gaben der nationalen Armutskonferenz selbst von zweiMillionen Betroffenen gesprochen.Etwas putzig sind die Argumente der F.D.P. Dasmuss ich hier so sagen.
Sie sagen: Der Begriff Reichtum weckt Neid
und es geht um das Ausspähen, was für die Umvertei-lungspolitik zur Verfügung steht. Vielleicht haben SieAngst um irgendwelche Kassen. Vielleicht haben SieAngst, dass jetzt eine neue Fluchtbewegung nach Liech-tenstein entbrennt. Aber, meine Damen und Herren, ichdenke, das ist ein ganz und gar lächerliches Argument.Der Gipfel des Ganzen ist, dass Sie uns vorwerfen, pa-pier- und diskussionsverliebte Ideologen zu sein.
Das sind Argumente
– Herr Hörster, ich finde es erfreulich, dass Sie sich da-zu zu Wort melden –, die so wenig stichhaltig sind, dassunter dem Strich festzuhalten ist: Sie haben eben keineArgumente, um Ihr Nein zu begründen. Letztlich geht esIhnen nur darum, nicht das Gesicht zu verlieren. Sie – die alte Koalition, die alte Regierung – haben sich ve-hement gegen einen solchen Bericht gewehrt, und dieserLinie wollen Sie treu bleiben. Das ist eigentlich das, wasübrig bleibt.
Was ist das grundsätzlich Neue? Armut war bisherimmer ein typisches Thema der Opposition. Ich finde esgut, dass es jetzt fester Bestandteil der politischen Pro-grammatik der Parlamentsmehrheit und der Regierungist. Die defensive Strategie der alten Regierung in dieserFrage – hier drücke ich mich sehr zurückhaltend aus –Wolfgang Spanier
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7785
wird endlich aufgegeben. Diese Regierung und dieseParlamentsmehrheit stellen sich der Verantwortung. Armut und Reichtum werden endlich als eigenständi-ge Fragestellungen angesehen und durch eine regelmä-ßige differenzierte und wissenschaftlich fundierte Be-richterstattung – dafür wird Sorge getragen – endlichauf die notwendige Grundlage gestellt. Diese Bundesregierung sieht ihre politische Verant-wortung für diesen Bericht. Das ist wichtig. Es darfnicht nur ein Expertenbericht sein. Die Beteiligung derFachreferate ist selbstverständlich. Die wissenschaftli-che Untersuchung wird durch Wissenschaftler durchge-führt, damit handelt es sich auch um einen Expertenbe-richt. Die Beteiligung der nationalen Armutskonferenz,der Kirchen, Wohlfahrtsverbände, der Gewerkschaftenund der Betroffenenorganisationen ist gewährleistet. Esfindet eine öffentliche Begleitung, eine öffentliche Dis-kussion statt. Die Auftaktveranstaltung war – jeder, derdabei war, wird es bezeugen – ein Erfolg und hat ge-zeigt, wie sehr hier die Fachöffentlichkeit und die zu-ständigen Organisationen interessiert sind und sich inden Prozess einmischen.
Die Armutsberichte des Deutschen Gewerkschafts-bunds, des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands,die Berichte der Caritas und der jetzt in Arbeit befindli-che Bericht der Arbeiterwohlfahrt zur Kinderarmut ha-ben ihre eigenen großen Verdienste. Sie haben immerhineine breitere Öffentlichkeit auf diese Thematik aufmerk-sam gemacht. Es ist aber kein Zufall, dass diese Organi-sationen zusätzlich den nationalen Armuts- und Reich-tumsbericht der Bundesregierung gefordert haben. Weildie Möglichkeiten der Berichte des DPWV und derCaritas begrenzt waren, haben sie einen umfassendenund methodisch reflektierten Armuts- undReichtumsbericht gefordert. Ich führe noch einen Punkt an, der neu ist: Schluss-folgerungen und Handlungsoptionen sind selbstver-ständlich auch Teil dieses Berichts. Es liegt in unser al-ler Verantwortung, die gewonnenen Erkenntnisse tat-sächlich umzusetzen. Daran werden wir, die Regierungund die Mehrheit dieses Parlaments, gemessen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schaue auf dieUhr.
– Das ist für Sie sicherlich erfreulich, das kann ich mirvorstellen. – Lassen Sie mich abschließend noch etwasGrundsätzliches sagen. Wir brauchen in unserem Landeine Grundsatzdebatte über die Armut in einem reichenLand. Wir brauchen auch eine Debatte über die Um-bruchsarmut in den neuen Bundesländern. Beides gehörtzusammen. Das hängt mit der Debatte über die Zukunft des So-zialstaats zusammen. Wir müssen in diesem Parlamentüber soziale Ungleichheit und darüber diskutieren, wieviel an sozialer Ungleichheit wir zu akzeptieren bereitsind. Wir müssen über soziale Gerechtigkeit und darüberdiskutieren, ob sie ausschließlich Chancengerechtigkeitsein soll oder ob nicht auch die Verteilungsgerechtigkeiteine wichtige Aufgabe des Parlaments ist.
Es geht hier wirklich nicht nur um einen Bericht,sondern um grundlegende Wertvorstellungen unsererDemokratie, um ihren inneren Zusammenhalt, deswegenbrauchen wir verlässliche empirische Grundlagen. Wirmüssen wegkommen von den Betroffenheitsritualen,von den blinden Vorurteilen, von der Tabuisierung unddem Schlagabtausch. Ich glaube, das ist dringend not-wendig, damit wir in diesem Parlament eine aktive Poli-tik zur Vermeidung von Armut machen können. Herzlichen Dank.
In die Richtung der
Kollegen der F.D.P. möchte ich feststellen, dass der Be-
griff „putzig“ durchaus parlamentarisch ist.
Nun hat der Kollege Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.
Frau Prä-sidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! DieCDU/CSU-Bundestagsfraktion beantragt eine Untersu-chung – das ist schon von Herrn Spanier gesagt wor-den – zu einem Thema, zu dem bislang mehr Vermutun-gen denn handfeste Informationen vorliegen, nämlichzur verdeckten Armut. Gemeint ist jene Gruppe von Menschen, die bislangin den vielen bereits existierenden Berichten ausgeblen-det oder als nicht quantifizierbar behandelt wird.
Es sind dies jene Mitbürgerinnen und Mitbürger, dietrotz eines bestehenden Rechtsanspruchs auf Sozialhilfeihre berechtigten Ansprüche gar nicht geltend machen. Demjenigen, der Sozialhilfe bezieht – das ist die In-tention unseres Bundessozialhilfegesetzes –, wird einmenschenwürdiges Leben oberhalb des Existenzmi-nimums garantiert. Bei jenen, die als verdeckt Arme ausverschiedensten Gründen ihre Ansprüche gar nicht gel-tend machen, besteht tatsächlich das Risiko einer exis-tenziellen Gefährdung. Schätzungen gehen davon aus,dass etwa zwei Millionen Menschen in Deutschland dieihnen zustehende Unterstützung nicht beantragen. Be-sonders gravierend ist, dass die so genannte verdeckteArmut mit der Haushaltsgröße ansteigt und somit Kinderdarunter zu leiden haben.Wissenschaftliche Untersuchungen werden zu diesemThema im Vergleich zum Thema der relativen Einkom-Wolfgang Spanier
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7786 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
mensarmut kaum durchgeführt, und deshalb würde essich tatsächlich lohnen, hierzu einen Bericht in Auftragzu geben. Wer zielgerichtet politisch handeln will, werdenjenigen, die tatsächlich Hilfe brauchen, helfen will,der muss sich mit seinen Untersuchungen auf das Themakonzentrieren, bei dem tatsächlich Forschung notwendigist.
Der von Rot-Grün beantragte Armuts- und Reich-tumsbericht steht dagegen in der Gefahr, zusätzlich zuden bestehenden Untersuchungen und Berichten nocheinmal ein weiteres Zahlengrab zu öffnen
oder eine Ansammlung sozialschwärmerischer Artikelüber Armut und Reichtum zu werden.
Herr Kollege, der
Kollege Grehn möchte eine Zwischenfrage stellen.
Gut, bitte
sehr.
Bitte schön.
Herr Kollege, mich würde
einmal interessieren, welche Unterschiede Sie eigentlich
zwischen versteckter Armut und offener Armut sehen,
und zwar aus Sicht der Betroffenen. Was glauben Sie,
wie sich die versteckt Armen im Unterschied zu den of-
fen Armen fühlen? Ist nicht vielmehr die versteckte Ar-
mut ein Teil der gesamten Armut in diesem Land?
Herr
Grehn, Inhalt und Geist unseres Bundessozialhilfegeset-
zes, 1961 unter einer CDU-geführten Bundesregierung
eingeführt, ist es, jedem in Deutschland ein Leben zu ga-
rantieren, bei dem er nicht in existenzielle Armut fällt.
Das ist die Aufgabe des Bundessozialhilfegesetzes.
Trotz aller Kritik erfüllt dieses Bundessozialhilfegesetz
Gott sei Dank bis zum heutigen Tag diese Funktion.
Verdeckt arm und damit tatsächlich in der Gefahr, in
existenzielle Armut zu geraten, sind diejenigen Men-
schen unter uns, die ihre Ansprüche nach dem Bundes-
sozialhilfegesetz gar nicht geltend machen, die also un-
terhalb des relativen Existenzminimums, das durch die
Leistungen gemäß Bundessozialhilfegesetz garantiert
wird, leben müssen.
Das nennt man verdeckt arm.
– Das war die Antwort.
Der Kollege Grehn
möchte noch eine Zusatzfrage stellen.
Ja, bitte
schön.
Bitte.
Ich sehe davon ab, dass
meine Frage unbefriedigend beantwortet worden ist.
Ist Ihnen bekannt, dass die Betroffenenorganisa-
tionen – insbesondere die Bundesarbeitsgemeinschaft
der Arbeitsloseninitiativen, aber auch die Bun-
desarbeitsgemeinschaft der Obdachlosen – davon ausge-
hen, dass ein großer Teil der Sozialhilfeempfänger, hin-
sichtlich derer Sie davon reden, dass Sie Armut verhin-
dern, tatsächlich Arme sind, oder sind Sie der Meinung,
dass die Obdachlosen nicht unter die Armen fallen?
Mit Ihrer
Frage zielen Sie auf die Definition. Ich wiederhole die
Definition, die wir mit dem Bundessozialhilfegesetz
entwickelt haben: Mit den Leistungen der Sozialhilfe
verhindern wir, dass Menschen unterhalb des Existenz-
minimums leben müssen. Entschuldigung, wenn Sie
mich so anschauen, dann muss ich Ihnen sagen: Auch
das Bundesverfassungsgericht hat die Sozialhilfe als
Existenzminimumsgrenze definiert. Nehmen Sie zur
Kenntnis, dass das höchste deutsche Gericht diese Defi-
nition festgelegt hat! Von nichts anderem sprechen wir.
Nun möchte der
Kollege Spanier eine Zwischenfrage stellen.
Ja.
Herr Kollege Spa-
nier, bitte sehr. Danach lasse ich keine Zwischenfragen
mehr zu, damit wir in der Tagesordnung fortfahren kön-
nen.
Herr Kollege Weiß, ichverstehe, dass Sie hier vehement für Ihren Alternativ-vorschlag, einen Bericht über verdeckte Armut, eintre-ten. Ich gehe davon aus, dass auch Sie in die Konzept-und Umsetzungsstudie des zuständigen MinisteriumsPeter Weiß
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7787
hineingeschaut haben. Wenn Sie das getan haben, danndürfte Ihnen nicht entgangen sein, dass es nicht nur umdie Erfassung von Einkommensarmut, sondern auch umdie Berücksichtigung anderer Lebenslagen geht, zumBeispiel um Unterversorgung im Bereich des Wohnensoder der Gesundheit, und dass selbstverständlich auchdie verdeckte Armut, das heißt, die Situation der Men-schen, die Sozialhilfe – aus welchen Gründen auch im-mer – nicht in Anspruch nehmen, obwohl sie anspruchs-berechtigt sind, und deren Zahl offensichtlich beschä-mend groß ist, in diesem Bericht dargestellt wird. Das istausdrücklich verankert. Ich frage Sie: Was macht Ihneneigentlich Sorge? Besorgt es Sie, dass der Reichtum unddie einzelnen Lebenslagen mit berücksichtigt werden?Das ist doch Konsens in der Armutsforschung. DieWohlfahrtsverbände und gerade auch die Caritas, auf dieich besonders hinweise, stimmen schon seit Jahren darinüberein, dass dies alles dringend im Zusammenhangaufgearbeitet werden muss.
Herr Spa-nier, ich bin mit Ihnen einer Meinung, dass für die Auf-arbeitung des Themas verdeckte Armut – gerade weil esdarüber kein Zahlenmaterial und keine Statistiken gibt –Lebenslagenforschung und Lebenslagenuntersuchungennotwendige Instrumente sind, um einen solchen von unsbeantragten Bericht über die verdeckte Armut zu erstel-len. Ich wiederhole noch einmal das, was ich schon aus-geführt habe: Wir von der CDU/CSU-Fraktion sind derAuffassung, dass wir uns dann, wenn wir eine Untersu-chung in Auftrag geben, auf das Thema konzentrierensollten – das ist die verdeckte Armut –, bei dem tatsäch-lich politischer Handlungsbedarf besteht. Deswegen ha-ben wir unseren Antrag gestellt.
Vielleicht geht es Rot-Grün auch gar nicht darum,mithilfe des Reichtums- und Armutsberichts genauereFakten und Daten zu erheben, sondern darum, mit vielPapier die Diskussion über ihr eigenes Handeln bzw.Nichthandeln zu vernebeln;
denn die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land mes-sen die Politik der Bundesregierung zu Recht daran, wassie wirklich tut, und nicht daran, welche Berichte sieschreiben lässt.
Was haben Sie von Rot-Grün in der Zeit, in der Sieregieren, eigentlich getan, was den Namen Armutsbe-kämpfung verdienen würde?
Sie haben die so genannte Ökosteuer eingeführt. Schonder Name ist ein Betrug. Jedes Jahr tritt eine neue Stufemit Steuererhöhungen in Kraft. Jede dieser Stufen gehteinseitig zulasten der Sozialhilfeempfänger. Ein Sozial-hilfeempfänger hat keinen Ausgleich durch geringereRentenversicherungsbeiträge oder durch eine allgemei-nen Steuerentlastung.
Rot-Grün hat die so genannte originäre Arbeitslo-senhilfe abgeschafft. Sie schicken Zigtausend Menschenzusätzlich in die Sozialhilfe.
– Ich verstehe schon, dass Sie erregt sind, wenn man Ih-nen vor Augen führt, was Sie einmal beschlossen habenund dann tatsächlich getan haben. Rot-Grün kürzt in der Sozialversicherung die Beiträ-ge für Arbeitslosenhilfebezieher.
Es ist absehbar, dass aufgrund dieser Politik in einigenJahren noch mehr Menschen auf Sozialhilfe angewiesensein werden. Ich kenne Ihre Antwort: bedarfsorientierteGrundsicherung.
Diese bringt dem entsprechenden Personenkreis keinezusätzlichen Leistungen. Ihre Sozialhilfe erhält schlicht-weg nur einen anderen Namen: gleiche Leistung, aberneuer Farbanstrich. Das ist keine Politik; das istschlichtweg ein schlechter Werbegag.
Alle politischen Gruppierungen und Experten sindsich einig: Die Sozialhilfe muss reformiert werden. Wirbrauchen ein neues Bedarfsbemessungsschema. DieFrage, wie genau die Sozialhilfe zu bemessen ist, mussneu geregelt werden. Seit 1997 gilt eine Übergangsrege-lung, nach der die Regelsätze der Sozialhilfe in der glei-chen Weise wie in der gesetzlichen Rentenversicherungerhöht werden. Um Zeit für eine Neuregelung zu gewinnen, habenSie, die rot-grüne Regierungskoalition, im vergangenenJahr beschlossen, dass diese Übergangsregelung für wei-tere zwei Jahre, bis 2001, anzuwenden ist.
Als Begründung haben Sie damals angeführt, dass dieVerlängerung dieser Übergangsregelung gegenüber denSozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfängerndeshalb vertretbar sei, weil davon ausgegangen werdenkönne, dass die Renten in den nächsten beiden Jahrenstärker als bisher steigen und dass damit auch die Sozi-alhilfe steigt. Doch das ist jetzt nicht mehr der Fall.Durch Ihren Rentenbetrug ist Ihre eigene Gesetzes-begründung entfallen. Dem Rentenbetrug folgte der So-zialhilfebetrug.
Wolfgang Spanier
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7788 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
– Entschuldigung, Frau Kollegin, das ist die Systematikdes Gesetzes.Doch der einen Schandtat soll bereits die nächste fol-gen. Nach dem von Ihnen beschlossenen Gesetz müsstespätestens zum 1. Juli 2001 ein neues Bedarfsbemes-sungsschema in der Sozialhilfe festgelegt werden; denndavon hängt in der Sozialhilfe alles ab. Doch schon hörtman Stimmen, dass sich die rot-grüne Koalition ein wei-teres Mal eine Übergangsfrist bis 2002 genehmigen las-sen will.
– Nein, die hört man bei Ihnen, Herr Gilges, aus demvon Ihrer Partei geführten Bundesarbeitsministerium.Ich wette, im Frühjahr 2002 fällt Ihnen sicherlich einweiterer so genannter gewichtiger Grund ein, warum Siedie eigentliche Reform des BSHG nochmals, über dasDatum der Bundestagswahl hinaus, verschieben. Das be-deutet, dass Sie bei der eigentlichen Kernfrage der Sozi-alhilfe, nämlich wie und nach welchen Kriterien Sozial-hilferegelsätze zu bemessen sind, kneifen. Ihr Mottoheißt: Zeit schinden, aber ja keinen reinen Wein ein-schenken.
– Herr Gilges, die Opposition sitzt nicht in dem entspre-chenden Arbeitskreis beim Deutschen Verein, der einneues Bedarfsbemessungsschema entwickeln soll.Sie lassen für viel Geld auf viel Papier vieles überArmut und Reichtum in Deutschland schreiben; aberPapier ersetzt eben kein politisches Handeln. Für die an-gebliche Notwendigkeit Ihres Projekts eines Armuts-und Reichtumsberichts nennen Sie als Kronzeugen dieKirchen, die nationale Armutskonferenz und die Wohl-fahrtsverbände. Doch offensichtlich werden diese Ver-bände nur für die plakative Begründung gebraucht.Wenn es konkret wird und zur Sache geht, dann zähltderen Rat nichts mehr. Die nationale Armutskonferenz hat beim – schonerwähnten – vom Bundesarbeitsministerium durchge-führten Forum ein Modell vorgelegt, nach dem der neueArmuts- und Reichtumsbericht zwar unter der politi-schen Verantwortung der Bundesregierung zu erstellenist, nach dem aber für das Berichtsmanagement eineneutrale Geschäftsstelle, zum Beispiel beim DeutschenVerein für öffentliche und private Fürsorge, eingerichtetwerden soll. Die Beschlussfassung der Konzeption unddes Forschungsbedarfs soll in einer Expertenkom-mission mit Vertretern aus Bund, Ländern, Kommunen,Verbänden, Betroffenenorganisationen und Wissen-schaftlern sowie dem Statistischen Bundesamt erfolgen.Die wissenschaftlichen Untersuchungen werden durchWissenschaftler und entsprechende Institute erfolgen.Die rot-grüne Koalition lehnt dies schlichtweg ab. Siewollen einen regierungsamtlichen Bericht. Die Kron-zeugen für die Armuts- und Reichtumsberichterstattungsind desavouiert. Genau das, was die Befürworter einessolchen Berichts in Wissenschaft und Verbänden bezüg-lich der Art und Weise, wie ein solcher Bericht zustandekommen soll – nämlich durch eine unabhängige Exper-tise –, erwartet haben, soll es nicht geben. Sie wollen ei-nen Regierungsbericht und lehnen die Vorschläge dernationalen Armutskonferenz schlichtweg ab.
Von einer neutralen Steuerungsgruppe ist keine Redemehr. Ich finde es übrigens interessant, dass die Frau Kolle-gin Deligöz – sie wird nach mir sprechen – bei jener Ta-gung im Oktober 1999 noch der Auffassung war, dasseine Trennung von unabhängigen Expertisen und Stel-lungnahmen der Bundesregierung sinnvoll sei,
dass ein so erstellter Bericht auch für die interessierteÖffentlichkeit aussagekräftiger und gewichtiger seinwerde. Sie plädierte sogar dafür, das Berichtsmanage-ment dem Deutschen Verein für öffentliche und privateFürsorge zu übertragen. Doch von alldem will jetzt beiRot-Grün niemand mehr etwas wissen.
– Herr Kollege Gilges, Sie haben Recht: Sie wollten esnicht. Insofern haben Sie die arme Frau Kollegin Deli-göz in dieser Frage platt gemacht.
Auf gut Deutsch: Schon heute steht fest, dass diesernationale Armuts- und Reichtumsbericht, den Rot-Gründank ihrer Mehrheit heute beschließen wird, seineGlaubwürdigkeit bereits vor dem Entstehen eingebüßthat. Es ist schade um das viele Papier.Vielen Dank.
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Ekin Deligöz.
FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Weiß, mich wundert es doch sehr, bei einem Blickin Ihren Lebenslauf feststellen zu müssen, dass Sie Kar-riere bei der Caritas gemacht haben.
Angesichts dessen müssten doch gerade Sie wissen, dassHerr Hauser als einer der Beauftragten für die Armuts-Peter Weiß
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7789
berichterstattung für die Caritas nicht nur bei uns imwissenschaftlichen Beratungsgremium eingeplant ist,sondern dass er in der Funktion als Caritas-Mitarbeitereine Armuts- und Reichtumsberichterstattung von derBundesregierung gefordert hat. Als jemand, der von derCaritas kommt, sollten Sie erst einmal in Ihre eigenenUnterlagen hineinschauen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte im Ge-gensatz zu meinen Vorrednern nicht mit dem ThemaArmut, sondern mit dem Thema Reichtum anfangen. Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt.1998 verfügten rund 44 Millionen Privathaushalte überein Geldvermögen von 5,7 Billionen DM. Hinzu kamenImmobilien, Gebrauchswerte, Möbel, Teppiche,Schmuck und Uhren. Dabei hatte jeder Haushalt rechne-risch ein Geldvermögen von rund 153 000 DM und ei-nen Besitz im Wert von 389 000 DM. Aber das, meineDamen und Herren, gilt nur im Durchschnitt.Tatsächlich sind 5 Prozent der Haushalte überschul-det. Fakt ist, dass wir 4 Millionen Arbeitslose haben, de-ren Einkommenssituation meist prekär ist. Fakt ist auch,dass 3,5 Prozent der Bevölkerung von Sozialhilfe leben.Fakt ist, dass wir in Deutschland nach wie vor Men-schen haben, die zwar sozialhilfeberechtigt sind, aberaus Unwissenheit oder Scham auf ihre Ansprüche ver-zichten. Das ist die verdeckte Armut.Offene Armut in Deutschland hat vor allem ein jun-ges Gesicht. Über 1 Million Kinder und Jugendliche le-ben in Haushalten, deren Einkunft Sozialhilfe ist. DieSozialverbände sprechen von zusätzlich 700 000 Kin-dern, die in verdeckter Armut leben. Natürlich wissen wir in Deutschland schon einigesüber Reichtum und auch über Armut. Alle fünf Jahre be-fragt das Statistische Bundesamt mehrere ZehntausendHaushalte über ihr Einkommen; auf freiwilliger Basisfindet auch eine Befragung über die Vermögensverhält-nisse statt. Allerdings werden in dieser Einkommens-und Verbraucherstichprobe weder die Haushalte mit ei-nem Monatseinkommen von über 35 000 DM berück-sichtigt, die diese eindrucksvollen Vermögen besitzen,noch die nicht-deutschen Haushalte, die im Durchschnittweniger gut situiert sind. Diese offiziellen Daten liefernuns deshalb nur eine eingeschränkte Auskunft über dieRealität von Armut und Reichtum in Deutschland.
Auch über verdeckte Armut ist uns in der Tat sehrwenig bekannt. Aber darüber, dass Armut und Reichtumin Deutschland existieren, sind wir uns, denke ich, einig.Es sollte uns allen auch klar sein, dass wir als eines derreichsten Länder der Welt die Armut bekämpfen müssenund dass wir gerade als Politiker hierbei in der Verant-wortung stehen. Aber dann beginnt die Debatte: Wofängt Armut an? Wo hört Armut auf? Sind Menschen,die Sozialhilfe bekommen, arm? Oder stimmen die Aus-sagen von Sozialverbänden, die von einer Bedarfsunter-deckung der Sozialhilfe von 18 Prozent sprechen? Dasist die objektive Seite, die wir noch zu klären haben.Es gibt aber darüber hinaus eine subjektive Seite.Vom jeweiligen Verständnis und der Herangehensweisehängt es ab, was unter Armut verstanden wird. Sicher-lich braucht in Deutschland niemand mehr zu hungern,auch wenn wir, vor allem bei Menschen mit geringemEinkommen, häufig von Fehlernährung und von ernäh-rungsbedingten Krankheiten sprechen. Auch wer inDeutschland Sozialhilfe bezieht, hat zumeist ein Telefonbzw. einen Fernseher. Ebenso ist der materielle Lebens-standard von Arbeitslosen sicherlich um einiges höherals der von vielen Kleinunternehmern in den Entwick-lungsländern. So gesehen ist Armut und so gesehen ist auch Reich-tum relativ. Aber nach unserer Definition ist nicht nurderjenige arm, der nicht genügend Mittel zum physi-schen Überleben hat, sondern auch derjenige, der imVergleich zu den Standards seiner Gesellschaft über nurgeringe Ressourcen verfügt.
Arm sind Menschen, die gesellschaftlich an den Randgedrängt werden, die kaum Chancen auf einen sozialenAufstieg haben und deren Kindern die soziale Randstän-digkeit schon in die Wiege gelegt zu sein scheint. Fürdiese Menschen hat Armut viele Gesichter. Sie beginntbeim Familienurlaub und dann, wenn die Freizeit mitKindern außerhalb der eigenen Wohnung zu einem wah-ren Luxusgut wird. Sie trifft auch die Mutter, die für ihrKind keinen Kindergeburtstag ausrichten kann, weil sienicht genug Geld dafür hat. Zur objektiven Seite der Armut gehört wiederum: Ei-ne Politik, die sich für soziale Gerechtigkeit und für dasGemeinwohl einsetzt, braucht eine solide Informations-grundlage.
Es ist sehr ehrenswert, dass Sie von der Union sichfür die verdeckte Armut interessieren. Aber das ist nurein kleiner Ausschnitt der Gesamtproblematik. Wir dür-fen hier im Parlament nicht nur einen Teilbereich derArmut behandeln. Wir müssen vielmehr die gesamte ge-sellschaftliche Wirklichkeit wahrnehmen. Wir müssenauch über Tabus sprechen, also über Dinge, über dieman angeblich bisher nicht gesprochen hat und auch inZukunft nicht sprechen will. Eine Politik für soziale Gerechtigkeit braucht defini-tiv eine klare Wertentscheidung: Was verstehen wir un-ter Gerechtigkeit? Was verstehen wir unter Menschen-würde? Wir brauchen Informationen über die Verteilungvon Einkommen und Vermögen. Wir brauchen Informa-tionen über deren Fortentwicklung und deren volkswirt-schaftlichen Einsatz.
Beides ist notwendig, um zum Beispiel die anstehendeDebatte über die Neufestlegung der Regelsätze in derEkin Deligöz
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7790 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
Sozialhilfe führen zu können. Beides ist auch notwen-dig, um den künftigen Herausforderungen der Armuts-politik gerecht zu werden. Herr Kollege Weiß, es ist schön, dass Sie sich Sorgenum meine Position machen. Aber arm, so wie Sie dasgesagt haben, bin ich nicht.
Zudem lasse ich mich von guten Konzepten überzeugen. Die Planungen im Bundesarbeitsministerium im Hin-blick auf den Berichtsprozess sind weit vorangeschrit-ten. Im Gegensatz zu Ihnen, die Sie für Werbegags ver-antwortlich sind, schreiten wir lieber zu Taten und tunetwas.
Wir erwarten die Ergebnisse des ersten Armuts- undReichtumsberichts im Frühjahr 2001. Ich freue michsehr über eine wirklich gute und intensive Vorarbeit, diehier bereits geleistet wurde und auch in Zukunft geleistetwerden wird.
Vorhin wurde gefragt, was wir getan haben. Das soll-ten Sie aber wissen. Wer hat die Kindergelderhöhungendurchgesetzt? Wer hat durchgesetzt, dass das erhöhteKindergeld nicht auf die Sozialhilfe angerechnet wird?Das waren nicht Sie, sondern wir, und zwar im vergan-genen Jahr, wenn ich mich richtig erinnere.
– Herr Kollege Niebel, dies ist meine erste Rede hier imBundestag in diesem Jahrtausend und meine fünfte Redeüber Armut, Reichtum und Sozialpolitik, seitdem ichMitglied im zuständigen Ausschuss bin. Ich muss sagen:Das ist eine der Reden, bei der ich von Ihnen wiederumnur unterbrochen werde. Dafür würde ich Ihnen amliebsten den Machopreis des Jahres verleihen.
Lassen Sie mich wieder zum Thema zurückkommen.Wir bevorzugen zwar aus Gründen der Unabhängigkeiteine externe Vergabe. Würden wir aber diesen Berichtextern vergeben, hätten wir ihn frühestens im Jahr 2002.Mit einer solchen Verzögerung könnten wir kaum arbei-ten. Wir möchten nämlich in dieser Wahlperiode nichtnur Ergebnisse haben, sondern über sie auch politischdiskutieren, Konsequenzen aus ihnen ziehen und die ers-ten Maßnahmen in diesem Bereich in die Wege leiten.Für künftige Armuts- und Reichtumsberichte bleibtdie Frage der Organisation noch offen. Ich freue michdarüber, dass es seitens des Ministeriums Signale derOffenheit gibt.
Wir sind bereit, die wissenschaftliche Federführungdes BMA zu akzeptieren, weil das Bundesministeriumgesellschaftliche Institutionen, Fachverbände und kriti-sche Armutsforscher und -forscherinnen – auch HerrnHauser, auch Vertreter der Caritas – in den wissen-schaftlichen Beirat aufnimmt.
Beide Gremien werden den Berichtsprozess in allenFragen intensivst begleiten. Uns ist auch wichtig, engmit den Sozialverbänden zusammenzuarbeiten und eineVerzahnung sicherzustellen.
Soziale Gerechtigkeit ist ein vielschichtiger Begriff.
Es geht in der Tat um Verteilungsgerechtigkeit, abernicht weniger um Generationengerechtigkeit, um Chan-cengerechtigkeit und letztendlich auch um Leistungsge-rechtigkeit. Wir wollen gerade diese Dimensionen nichtgegeneinander ausspielen, sondern in ihrer Vielschich-tigkeit beurteilen und handhaben. Dafür brauchen wirneben inneren Überzeugungen auch eine rationale In-formationsbasis. Das Konzept der Koalition schafft da-für eine unverzichtbare Grundlage.
Manchmal sind sehr
häufig wiederholte Zwischenrufe für den Redner nicht
so ganz einfach, Herr Kollege Niebel, wenn Sie mir er-
lauben, das zu sagen.
Nun hat Herr Kollege Dr. Heinrich Kolb, F.D.P.-
Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit unserer letztenDebatte sind wir durch die Verhandlung im Ausschussfür Arbeit und Sozialordnung und natürlich auch durchdie Tagung „Armut und Reichtum in Deutschland“am 7. Oktober letzten Jahres ein Stück weitergekom-men, was die Behandlung und die Bewertung des Koali-tionsantrages angeht. Herr Kollege Spanier, ich habe mirdie Tagungsdokumentation noch einmal sehr intensivangesehen. Ich muss Ihnen sagen, meine Zweifel, wasEkin Deligöz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7791
Ihre Forderung nach Erstellung eines solchen Berichtesanbelangt, sind nicht kleiner, sondern größer geworden.Gestiegen sind auch meine Zweifel, dass es Ihnen gelin-gen könnte, in einem vertretbaren Zeitraum – zumindestnicht bis 2001 – zu einem aussagekräftigen Datenbe-stand zu kommen. Natürlich ist auch meine Skepsis bes-tätigt, was die Zielrichtung Ihres Wissensdranges anbe-langt. Aber eines nach dem anderen.Die methodischen Fragen – Sie wollten ja konkreteGründe für unsere Ablehnung – nehmen einen breitenRaum bei der Darstellung der Ergebnisse der Vorunter-suchung anlässlich der Tagung „Armut und Reichtum“ein. Bei der Beantwortung der Frage, was Armut ist, gibtes – so das Ergebnis der Voruntersuchung – zwei mögli-che Ansätze, nämlich einen Ressourcenansatz und einenLebenslagenansatz. Beim Ressourcenansatz geht es umdie monetären Aspekte, beim Lebenslagenansatz um dienicht monetären Aspekte von Armut und Reichtum. Beiden monetären Ansätzen wird dann noch zwischen abso-luter, relativer und politisch-normativer Armut unter-schieden.Die Untersuchung der absoluten Armut inDeutschland wäre wenig ergiebig und ist wohl auchnicht das, was Sie von der Koalition anstreben. AuchBundesminister Riester hat auf dem Forum am7. Oktober 1999 gesagt – ich zitiere –:Von einer existenziellen, absoluten Armut, bei derdie Mittel zum physischen Überleben fehlen, kannin Deutschland nur selten gesprochen werden.Relative Armut – ich muss das aus Zeitgründen hierknapp halten – als Ansatz zu wählen und zu beschrei-ben, ist nicht unproblematisch. Darauf weisen DietrichEngels und Christine Sellin von der ISG GmbH hin, diediese Voruntersuchung gemacht haben. Sie sagen – ichzitiere –:Genau genommen ist es ja so, dass eine solche rela-tive Armutsmessung Ungleichheit misst, aber nichtdas, was Armut im strengen Sinne ausmacht. Dasheißt, wenn das Wohlstandsniveau insgesamt an-steigt und wenn es gleichmäßig ansteigt, wird auchdie Armut faktisch zurückgehen, aber die relativeArmut im Vergleich zu den Durchschnitten der Ge-sellschaft wird sich nicht unbedingt verändern. Dassind Gesichtspunkte, die man kritisch im Auge ha-ben muss.Ich denke, das spricht für sich.
Schließlich, Herr Gilges, der Ansatz der politisch-normativ definierten Armut: Als arm in diesem Sinne,so Engels/Sellin, würde man den bezeichnen, der aufSozialhilfe angewiesen ist. Hier muss ich wiederholen,Herr Kollege Gilges, was ich bereits in der Debatte vom30. September gesagt habe. Der Bezug von Sozialhilfeist nicht der Beweis von Armut, sondern er ist der Be-weis von verhinderter Armut. Ich sehe die Sozialhilfenicht als eine Schande unseres Gemeinwesens, sondernals eine Errungenschaft der Sozialpolitik an, auf die wirstolz sein können.
Gleichwohl muss ich zugeben: Es gibt Probleme ne-ben und über der Sozialhilfe, wobei „neben der Sozial-hilfe“ den Sachverhalt der verdeckten Armut beschreibt.Dazu habe ich bereits in der Debatte vom 30. Septemberdas Wesentliche gesagt. „Über der Sozialhilfe“ be-schreibt eine andere interessante Kategorie, der wir viel-leicht seitens der Politik bis jetzt zu wenig Beachtungschenken. Das ist die Kategorie prekärer Wohlstand.Das heißt, von Armut gefährdet sind auch die Personen-gruppen, die knapp oberhalb der Armutsgrenze liegen:Sie werden zwar von der vollen Wucht unseres Steuer-systems getroffen, kommen aber gerade nicht mehr inden Genuss der diversen Transfer- und Sozialleistungen.Nur der Vollständigkeit halber will ich noch die sub-jektive Armut erwähnen. Danach ist arm derjenige, dersich selbst als arm einschätzt. Ich glaube, wir sind unseinig, dass dies eher eine Anspruchsgrenze als eine Ar-mutsgrenze beschreibt. So haben es auch Engels/Sellinin ihrer Untersuchung gesehen. Ich hätte mir schon ge-wünscht, Herr Kollege Spanier, dass Sie heute einmalgesagt hätten, welchen Armutsbegriff Sie zugrunde le-gen wollen. Erscheint das alles schon schwierig, so wird dieReichtumsberichterstattung unter dem monetären Ge-sichtspunkt noch schwieriger. Auch hier stellt sich dieFrage: Gibt es eine absolute Reichtumsgrenze? Die be-fragten Experten plädieren dafür, ein Einkommen, dashöher als 200 Prozent des durchschnittlichen Einkom-mens liegt, als Indikator für Reichtum zu nehmen.
Ich habe mir, Herr Kollege Dreßen, einmal die Mühegemacht, aus der Lohn- und Einkommensteuerstatis-tik, die im Statistischen Jahrbuch 1999 veröffentlichtworden ist, den Median der Einkommensverteilung –das ist die von den Experten bevorzugte Methode – nä-herungsweise zu bestimmen. Das ist natürlich nur eineTendenzaussage. Aber ich glaube, dass die Größenord-nungen stimmen. Deswegen will ich das Ergebnis hiervortragen.In dieser Statistik sind 53,7 Millionen lohn- oder ein-kommensteuerpflichtige Einkommen nach Größenklas-sen aufgeführt. Man stellt fest, dass der Median im Be-reich der Größenklasse zwischen 40 000 und 50 000 DMliegt. Armut, Herr Gilges, beginnt dann demzufolge inder Größenklasse 20 000 bis 25 000 DM, was ja durch-aus noch einsichtig erscheint. Reichtum allerdings be-ginnt schon bei Einkommen von 80 000 bis 100 000DM – wohlgemerkt: jeweils brutto. Da werden sich ei-nige Menschen in der Bundesrepublik mit Recht schonbange fragen, was da möglicherweise auf sie zukommt.
Herr Kollege Gilges, Ihre Haltung ist in dieser Fragewenigstens in sich stimmig. Wenn ich mich nämlichDr. Heinrich L. Kolb
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7792 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
daran erinnere, dass Ihr früherer FraktionsvorsitzenderRudolf Scharping Alleinstehende mit Einkommen von50 000 bis 60 000 DM brutto als Besserverdienende be-zeichnet hat, dann muss ich sagen, dass es nur kon-sequent ist, die Grenze für Reichtum ab einem Ein-kommen von 80 000 bis 100 000 DM beginnen zu las-sen.
All das, was ich für den Bereich der monetären As-pekte der Armut an methodischen Problemen versuchthabe darzustellen, wird noch ungleich komplizierter,aber auch ungleich politischer und weniger exakt be-stimmbar, wenn man an die nicht monetären Aspekteder Unterversorgung herangeht. Gibt es Armut an Ge-sundheit oder an Bildung? Gibt es einen Reichtum dar-an? Ist reich, wer einen – wenn ja, wie – bezahlten Ar-beitsplatz hat, eine Wohnung oder Einfluss? Wie misstman das eigentlich?Meine Damen und Herren von der Koalition, bei al-ledem reden wir bisher nur von Einkommen. Geht es Ih-nen aber nicht auch und gerade um die Vermögen? IstIhr Konzept, Herr Gilges, mit dem Sie sich an die Arbeitmachen wollen, eigentlich richtig? War es nicht IhrePartei, die noch vor dem Berliner Parteitag großspurigangekündigt hat, eine Vermögensabgabe zu erheben?Als Tiger gesprungen, als Bettvorleger gelandet! Allesschon vergessen?Ich werde das Gefühl nicht los, dass Ihr Handeln –wie sollte es auch anders sein – politisch motiviert ist.Der differenzierte Armuts- und Reichtumsbegriff, denFrau Deligöz als „praktikable Grundlage für die Politik“fordert, ist politisch motiviert. Sie, Herr Gilges, habenauf der Konferenz ganz ehrlich gesagt, dass die Vorlagedes Berichts – Zitat – erhebliche symbolische Bedeutung hat, auch dieDiskussion, die sich daran anschließt. Denn damitwird gerade den von Armut Betroffenen signali-siert, dass diese Bundesregierung ihre Problemeernst nimmt und sich nicht darauf zurückzieht, dassArme eigentlich selbst Schuld an ihrem Schicksalhaben.
Ich sage hier ganz deutlich, Herr Gilges: Wenn das soist, dann tun Sie, was Sie tun müssen. Aber erwarten Sievon uns bitte nicht, dass wir Sie auf diesem Weg beglei-ten.Und wenn Sie sich auf den Weg machen, nehmen Siemit, was Abraham Lincoln auf so wunderbare Weiseausgedrückt hat: Ihr werdet die Schwachen nicht stärken, indem ihrdie Starken schwächt. Ihr werdet denen, die ihrenLebensunterhalt verdienen müssen, nicht helfen,indem ihr die ruiniert, die sie bezahlen. Ihr werdetkeine Brüderlichkeit schaffen, indem ihr den Klas-senhass schürt.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Jetzt hat das Wort
die Kollegin Dr. Barbara Höll, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Weiß, Ihr Beitrag vor-
hin war wirklich peinlich. Wenn man sich den Antrag
anguckt, wird es noch peinlicher; denn dies ist nur ein
Bemänteln dessen, was Sie in 16 Jahren Regierungspoli-
tik versäumt haben. Und jetzt fordern Sie dazu auf, mög-
lichst schnell Schritte einzuleiten.
Ihre Antworten deuten Sie in dem Antrag an: Sie
möchten die Informationspolitik für die Sozialhilfeträger
verbessern, Sie möchten den Sozialhilfeempfängern den
Zugang erleichtern, indem Sie sie besser informieren.
Aber das Problem als solches, die Armut insgesamt, be-
trachten Sie nicht. Dem haben Sie sich bisher verwei-
gert. Sie haben nichts getan und haben heute wieder be-
wiesen, dass Sie nicht bereit sind, etwas zu tun.
Da bereits mehrmals in dieser Debatte eine Rolle
spielte, wie Sozialhilfe zu bewerten ist – Sie verweiger-
ten eine Antwort auf diese Frage –, kann man auf keinen
Fall außen vor lassen, dass die Sozialhilfe als System si-
cher eine Errungenschaft war, aber eingeführt wurde in
einer Zeit, da in der alten Bundesrepublik weitgehend
Vollbeschäftigung herrschte. Die Sozialhilfe war ein
Notnagel für Menschen, die – meistens durch äußere
Umstände – tatsächlich in eine akute Notsituation ge-
kommen sind.
Heute heißt Sozialhilfe für viele Menschen sicher
nicht Hunger, aber sie bedeutet zumindest den weitge-
henden Ausschluss vom gesellschaftlichen Leben, Aus-
schluss von gesellschaftlichen Aktivitäten. Und auch das
ist Armut. Wenn ich in Leipzig Freitag abends in die
Kaufhalle gehe, in Connewitz, und neben mir eine Mutti
zu ihrem fünfjährigen Sohn sagt: „Die gefrorene Pizza
für 2,99 DM gibt es nicht, weil sie zu teuer ist“, so weiß
ich natürlich nicht: Hat sie Arbeit? Gehört sie eventuell
zur Gruppe der Niedriglohnempfängerinnen, die von ih-
rer eigenen Arbeit nicht mehr leben können? Gehört sie
zur Gruppe derjenigen, die Sozialhilfe bekommen und
bei denen das Geld trotzdem nicht ausreicht? Oder ge-
hört sie vielleicht zu der Gruppe von Menschen, die
nicht einmal Sozialhilfe beantragen, weil sie Angst da-
vor haben, dass vielleicht ihre Eltern regresspflichtig
sind?
Frau Kollegin, ge-statten Sie eine Zwischenfrage? – Bitte schön. Herr Kol-lege Singhammer.Dr. Heinrich L. Kolb
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7793
Frau Kolle-
gin Dr. Höll, wenn Sie über Reichtum und Armut spre-
chen: Stimmen Sie mir zu, dass ein Reichtumsbericht
der Parteien die PDS, der Sie angehören, als eine der
reichsten Parteien nicht nur Deutschlands, sondern sogar
Europas ausweisen würde?
Entschuldigung, Frau Prä-
sidentin, dass ich lachen musste. Das ist ein etwas un-
parlamentarisches Verhalten. Aber die Frage ist wirklich
lächerlich. Sie kennen die Berichte, Sie können sie sich
angucken. Und Sie wissen, dass kein Großunternehmen
auf die Idee käme, der PDS eine Spende zu überweisen,
ob offiziell oder inoffiziell, weil wir garantiert nicht für
die Interessen dieser Gruppen stehen, sondern für sozia-
le Gerechtigkeit.
Ich möchte aber diese Frage nutzen, von hier aus an
die Vertreter der Regierungskoalition einen Appell zu
richten. Ich meine, die heutige Debatte zeigt auch, dass
wir uns in wesentlichen Punkten einig sind. Die Forde-
rung nach einem Armutsbericht, den zu erstellen sich
die Bundesrepublik 1995 in Kopenhagen verpflichtet
hat, hat eine Geschichte, auch eine parlamentarische Ge-
schichte. In der letzten Legislaturperiode haben unserem
Antrag nur die Grünen zugestimmt. Die SPD verweiger-
te sich damals und brachte danach einen eigenen Antrag
ein. Ich meine, inzwischen haben sich die Positionen
weitgehend angenähert. Wir fordern jeweils in unseren
Anträgen eine Armuts- und Reichtums-berichterstattung,
weil dies zwei Seiten ein und derselben Medaille sind.
Ich meine, es wäre ein demokratisches Zeichen, wenn
man am Ende einer solchen Diskussion, die doch eine
weitgehende Übereinstimmung offenbart, bei der Ab-
stimmung zumindest mit einer Enthaltung auf einen
PDS-Antrag reagieren könnte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, es ist
wichtig, heute noch einmal herauszustellen: Dass wir zu
dieser Debatte gekommen sind, ist nicht alleine und
auch nicht zuerst Verdienst der Politikerinnen und Poli-
tiker. Sie ist aus breitem außerparlamentarischen Druck
entstanden.
Sowohl die beiden großen christlichen Kirchen als auch
viele Initiativen und Verbände wie der Kinderschutz-
bund und Sozialhilfeinitiativen haben daran großen An-
teil. Es ist richtig und wichtig, sie in die weitere Arbeit
einzubeziehen.
Es gibt trotz aller Gemeinsamkeit Unterschiede zwi-
schen den beiden Anträgen. Diese liegen aber in der Be-
gründung. Wir stimmen ja über den Antrag ab und nicht
über die Begründung. Ich glaube, dass schon fast zu viel
Zeit ins Land gegangen ist, wenn der Bericht im Früh-
jahr 2001 kommt. Denn im Jahr 2002 sind Wahlen und
wir wissen, dass im Vorfeld meistens nicht mehr sehr
viel passiert.
Ich denke, es ist wichtig, zu betonen, dass für uns als
PDS Armut und Reichtum keine nationalen Größen
sind. Daher muss der internationale Bezug aufgezeigt
werden.
Bei dieser Diskussion sollte Einigkeit darüber herr-
schen, dass es darum geht, mehr soziale Gerechtigkeit
in dieser Gesellschaft zu erreichen: Recht auf eine sozia-
le Grundsicherung für jeden Menschen, der in der Bun-
desrepublik Deutschland lebt, ohne Bedürftigkeitsprü-
fung.
Es ist für mich keine soziale Gerechtigkeit, Rentenan-
sprüche von Arbeitslosen zu kürzen und die Rentenan-
passung auf den Inflationsausgleich zu begrenzen – wo-
bei CDU/CSU und F.D.P. in dieser Frage wirklich ruhig
sein sollten; denn die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe
haben sie schon probiert, damals aber nicht geschafft.
Soziale Gerechtigkeit wäre es, wenn alle, gerade Be-
zieher hoher Einkommen, in alle Sozialkassen einzahlen
würden. Da besteht Nachholbedarf. Keine soziale Ge-
rechtigkeit ist es für mich, wenn das Kindergeld für alle
ersten und zweiten Kinder um 20 DM erhöht wird, für
die Kinder von sehr gut Verdienenden aber um 400 DM.
Wenn das „Handelsblatt“ die Unternehmensteuerre-
form als „Benefizveranstaltung für das Großkapital“ be-
grüßt, so sollte das einer Partei, die für soziale Gerech-
tigkeit steht, doch sehr zu denken geben.
Ich möchte abschließen mit einem kurzen Zitat aus
der völlig unverdächtigen „Süddeutschen Zeitung“:
Der neue Sozialstaat, der geschaffen werden muss,
ist keineswegs teurer als der alte. Mehr Umvertei-
lung heißt nicht mehr Geld – und angesichts der
gegenwärtigen sozioökonomischen Machtverhält-
nisse wäre es auch töricht, eine solche Forderung
aufzustellen.
Mehr Gerechtigkeit muss dann aber auch durchgesetzt
werden. Dazu werden Sie weiterhin unsere Unterstüt-
zung erhalten.
Ich danke.
Jetzt hat die Kolle-
gin Ute Kumpf, SPD-Fraktion, das Wort.
Verehrte Präsidentin! Kollegenund Kolleginnen! Wer Armen helfen will, muss nicht unbedingt einEngel sein. Eigentlich genügt etwas Menschlich-keit. Ich füge in eigener Sache hinzu: vielleicht auch ein biss-chen mehr Redlichkeit und Ehrlichkeit.
Die ersten zwei Sätze habe ich auf einer Weihnachtskar-te von einem Kollegen von der Evangelischen Gesell-schaft in Stuttgart bekommen. Vielleicht hat Frau Kolle-
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7794 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
gin Reinhardt auch eine solche erhalten. Er hat sie mirals Losung für meine politische Arbeit auf den Weg ge-geben. Mir ist klar, dass wir alle im Parlament – einschließ-lich der Opposition – uns mit unserem Antrag auf einenregelmäßigen Bericht über Armut und Reichtum inDeutschland, den wir heute – das zeichnet sich in derDebatte ab – auf den Weg bringen wollen, nicht zu En-geln machen werden. Das wäre ein teuflischer Ansatz,den wir ganz bestimmt nicht wählen. Wir können aberalle gemeinsam daran arbeiten – auch jeder, der einerPartei mit einem christlichen C angehört, kann dabeimitmachen –, Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Solida-rität zum Maßstab unseres politischen Handelns zu ma-chen.
Worum geht es uns bei dem Armuts- und Reichtums-bericht? Es geht uns darum, ein differenziertes Bild dersozialen Lage und der Verteilung von materiellen Res-sourcen in Deutschland zu zeichnen. An Herrn Kolb und die Adresse der F.D.P., weil sie gerndiese Platte spielen: Wir sind keine Neidhammel. Wirwollen keine Neidkampagne anzetteln, sondern es gehtuns schlichtweg darum, dass wir hier eine Grundlage fürunser politisches Handeln erhalten. Es geht nicht um diskussionsverliebte Ideologie, die nur auf dem Papiersteht.Noch einmal an die F.D.P. gerichtet: Ich habe alsjunge Kommunalpolitikerin noch erlebt, dass sich dieF.D.P. mit der Humanistischen Union auch sozialenThemen in einer ganz anderen Art und Weise gewidmethat, als es ihre Diktionen und Ausführungen heute er-kennen lassen.
Uns, der SPD, geht es darum, mehr Klarheit undWahrheit hinsichtlich der tatsächlichen Einkommens-und Vermögensverhältnisse in Deutschland zu erhal-ten. Klarheit und Wahrheit, tun unserer Politik, aberauch unserer gesamtgesellschaftlichen Debatte gut, weilwir dieses Thema tagtäglich auf der Straße zu hören be-kommen. Es geht eben auch darum, eine Debatte überdie Frage zu führen: Was ist soziale Gerechtigkeit?Eine offene Bestandsaufnahme ist schon längst fällig.Das wurde von verschiedenen Kollegen und Kollegin-nen schon angeführt. Sie als alte Bundesregierung sindIhrer Pflicht nicht nachgekommen, nach dem Welt-sozialgipfel in Kopenhagen 1995 diesen Bericht zuerstellen. Sie waren schlichtweg dröge, schlampig undhaben es verdrängt.
Es gilt zudem – meistens kommt dann der nächsteAngriff – besonders in den Reihen der Opposition alsaltmodisch, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen, wo-bei ich als Gewerkschafterin als traditionalistisch abge-stempelt werde. Zudem ist es unschicklich, diese Vertei-lungsfragen zu stellen, weil es – dies ist immer Ihre Ar-gumentation – in Zeiten der Globalisierung und desWettbewerbsdrucks standortschädigend ist, die Vertei-lungsfrage in den Mittelpunkt zu stellen. Dabei habengerade Sie – das ist das Ärgerliche – ohne öffentlicheKontrolle zwei Jahrzehnte lang kräftig umverteilt. DieBundesrepublik ist durch Ihre Politik, durch Ihr eigenespolitisches Handeln, auf die schiefe Bahn geraten.
Immer mehr Menschen sind unter die Armutsgrenzegerutscht. Die Zahlen sind bekannt: Über eine MillionKinder wachsen unter den Bedingungen der Armut auf.Immer mehr sind dazu verurteilt, ein Leben unter Sozi-alhilfebedingungen zu fristen. Gleichzeitig aber hat sichdie Zahl der Reichen und Superreichen, der Millionäreund gar Milliardäre erhöht. Es stimmt etwas nicht, sagendie Leute auf der Straße, wenn eine derartige Ungleich-verteilung bei uns in der Bundesrepublik festzustellenist.Schon die Kirchen haben uns und Ihnen ins Stamm-buch geschrieben, dass nicht nur Armut, sondern auchReichtum ein Thema der politischen Debatte sein muss:Umverteilung müsse zum Thema gemacht werden; dasGerechtigkeitsempfinden sei erheblich gestört.Uns geht es, wenn wir in Deutschland über Armutsprechen, auch darum, dass der Reichtum nicht ver-schwiegen werden darf. Es geht uns nicht darum, denÜberfluss konkret zu identifizieren, also etwa Reicheund Superreiche namentlich mit ihrem Lebensstil vorzu-führen. Das ist nicht unser Anliegen. Dafür müssen Sieweiter zu den bunt-goldenen Blättern greifen. Da kön-nen Sie sich bedienen.Wir alle wissen: Wir müssen uns vergegenwärtigen –dazu verpflichtet uns unser Grundgesetz –, dass Eigen-tum, persönlicher Besitz und Vermögen, dem besonde-ren Schutz des Staates zu unterstellen ist. Das ist inArt. 14 unserer Verfassung verankert. Aber neben demRecht gibt es auch eine Pflicht. Das übersehen wir ger-ne. In Art. 14 steht eben auch: „Eigentum verpflichtet.Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemein-heit dienen.“Aber ich frage mich: Wie soll es dem Wohl der All-gemeinheit dienen, wenn es im Verborgenen bleibt undwir selbst keinen Sachstand haben, wie sich diese Ver-mögenssituation darstellt? Geld hat man, darüber sprichtman nicht. Das ist offenbar nicht nur im Schwabenlandso, sondern geht anscheinend über die schwäbischenGrenzen hinweg.
Der Reichtumsforscher Ernst-Ulrich Huster sagt:Wahrscheinlich gibt es einen großen ZusammenhangUte Kumpf
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7795
zwischen Unkenntnis über hohe Einkommen und großeVermögen und deren Existenz. Unter Umständen istUnkenntnis eine Grundvoraussetzung dafür, damit sieüberhaupt blühen und sich entwickeln können.Beim Reichtum sind die Dinge sehr im Verborgenen.Wir haben erstens ein Problem, zwischen Einkommenund Vermögen zu unterscheiden. Zweitens ist die Daten-lage, was den Reichtum anbelangt, noch schlechter alsbei der Armut. Selbst das Statistische Bundesamt hat beider Anhörung die Datenlage als unzureichend und ver-besserungsbedürftig bewertet.
Wir können uns gerade einmal auf zwei Statistikenbeziehen, wenn es um die Reichtumsbetrachtung geht:auf die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe mit70 000 Haushalten und auf die Vermögenssteuerstatis-tik, die uns auch dahinschwinden wird, weil die Vermö-genssteuer schlichtweg abgeschafft wurde und uns des-wegen die Grundlage für diese Erhebung fehlt. Windeln, Wäschetrockner und Waschmaschinen, Mi-krowelle und Maschendrahtzaun, der Verzehr vonSpeck, Schinken und Kaiserfleisch, Schalen- und Tro-ckenobst und Kleingebäck aus Brotteig – dies alles fin-det sich im Statistischen Jahrbuch. Wenn man dort ein-mal hineinsieht, findet man Angaben darüber, wie vielwir davon verzehren und wie die Haushalte ausgestattetsind. Dies ist eine wahre Fundgrube für Kuriositäten.Aber über die wahren Verhältnisse von Einkommens-und Vermögensreichtum in den deutschen Haushaltenfinden wir nichts – Fehlanzeige. Es gibt zwei dürre Datensätze, die bislang in den Dis-kussionen gehandelt werden; sie wurden schon genannt.Zum einen sind dies die Durchschnittswerte für dasprivate Vermögen, die das Statistische Bundesamt er-hebt.
Danach müssten Sie, Herr Kolb 150 000 DM Immobi-lienvermögen haben, 90 000 DM Geldvermögen und40 000 DM Betriebsvermögen. Ich weiß nicht, ob Siedas haben; ich habe es nicht. Das ist aber immer so beiDurchschnittsbetrachtungen. Jeder weiß, dass die Wirk-lichkeit anders aussieht: Wenige haben viel, viele habenwenig und andere haben überhaupt nichts. Es gehtschlichtweg darum, diesen Sachverhalt statistisch ge-nauer und unter wissenschaftlicher Begleitung zu durch-leuchten. Die dürren Datenäste, die bisher in diesem Bereichentwickelt wurden, gilt es entsprechend zum Blühen zubringen. Deswegen setzen wir bei der Berichterstattungzu unserem Armuts- und Reichtumsbericht vor allem aufden Grundsatz: Wer Armut bekämpfen will, darf zumrealen Reichtum in Deutschland nicht schweigen.
Um aber vernünftig reden zu können, brauchen wir aus-sagekräftige Daten und Informationen. Dies dürfte ange-sichts der oft zitierten gewollten und gewünschten In-formationsgesellschaft selbstverständlich sein und Ih-nen, die Sie doch so darauf setzen, nicht schwer fallen. Wir erwarten von der Berichterstattung, dass sie zueiner Versachlichung der Diskussion und der öffentli-chen Debatte über Armut und Reichtum beiträgt, dasssie uns differenzierte Informationen zum Thema Armutund Reichtum liefert, mit denen wir im Parlament prob-lemlösungsorientiert arbeiten können, dass der Berichtkeine Eintagsfliege wird, sondern dass es sich – wie derName schon sagt – um einen Prozess handelt und regel-mäßig Berichte vorgelegt werden und dass wir allenSachverstand, intern wie extern, bündeln und die Be-richterstattung unter Einbeziehung von Kirchen, Wohl-fahrtsverbänden und betroffenen Organisationen entwi-ckeln und aufbauen.Wir hoffen und rechnen damit, den Grundstein dafürzu legen, die Debatte um die Zukunft von sozialer Ge-rechtigkeit und sozialem Anstand auch in Zeiten von In-dividualisierung und Globalisierung in dieser Gesell-schaft erfolgreich zu führen.Danke schön.
Das Wort hat nun
der Kollege Matthäus Strebl, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Werte Kolleginnen und Kollegen! Heute diskutieren wirden nationalen Armuts- und Reichtumsbericht. Wer dieZukunft gestalten will, darf Vergangenes nicht verges-sen. Da erinnere ich an 1961, als das Bundessozialhil-fegesetz als Ergebnis einer unionsgeführten Bundesre-gierung eingeführt wurde.
Es garantiert allen, auch den Schwächsten, ein men-schenwürdiges Leben und hat die Armut in Deutschlandweitgehend zurückgedrängt. Auch die Pflegeversiche-rung trägt die Unterschrift eines christdemokratischenKanzlers. Sie hat die in den Siebzigerjahren unter demSPD-Kanzler Schmidt zunehmende Altersarmut weitge-hend beseitigt.
Das neue Vermögensbeteiligungsgesetz, mit dem sichin bunten Broschüren Walter Riester schmückt, stammtebenfalls aus der Feder eines Christlich-Sozialen, näm-lich von Norbert Blüm.
Die jetzige Bundesregierung hält es jedoch nicht einmalfür nötig, den Investivlohn in die Gespräche über ein „Bündnis für Arbeit“ einzubringen. Stattdessen Ute Kumpf
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7796 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
gibt es viele Ankündigungen, aber bisher keine Ergeb-nisse.Die Kirchen fordern in ihrem Sozialwort mit dem Ti-tel „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“eine „strukturelle und moralische Erneuerung“ dersozialen Marktwirtschaft.
Sie sehen Reformbedarf im Steuerrecht und in der Ver-mögensbildung.
Dabei dürfe „Besitzstandswahrung“ nicht zu einem„Kampfbegriff in der Diskussion um den Umbau desSozialstaates werden“. So das Sozialwort.Die Union hat im inhaltlichen und zeitlichen Ein-klang mit den Kirchen gearbeitet. Die CDU/CSU hattebereits 1996 eine umfassende Steuerreform entwickelt,die Sie von der Sozialdemokratie aus kalten, machttakti-schen Gründen verhindert haben.
Schröder, Lafontaine,
der wegen „Fahrerflucht“ nicht mehr zu belangen ist,und Eichel haben ihr Parteibuch vor die Interessen unse-res Gemeinwesens und die Interessen der Arbeits-losigkeit gestellt.
Jeder Wirtschaftswissenschaftler bestätigt Ihnen von derSPD – da Sie gerade so lauthals schreien –, dass eineSteuerreform nach unserem Konzept eine massive Bele-bung der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes nach sichziehen würde.
Sie aber berufen sich auf die Kirchen und wollen einenArmuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung.Wie dieser Bericht aus Ihrer Feder aussehen würde,kann ich Ihnen sagen: wie die Ergebnisse der Gesprächedes „Bündnisses für Rhetorik“, nämlich rosarot, mit we-nig Substanz, großen Worten und kleinen Taten, vielPapier und geringer Durchschlagskraft.
Mir bleibt schleierhaft, werte Kolleginnen und Kolle-gen von der SPD, was die Zielsetzung eines Reichtums-berichts sein soll, wahrscheinlich eine neue Neiddebattein der Republik.
In keinem Land der Europäischen Union wird Geld fürderartige Berichte verwendet. Wichtiger als Papier sindkonkrete Handlungen, die ich bei Ihnen aber vermisse.
Wenn Sie das Sozialwort der Kirchen vollständig le-sen würden und nicht nur in selektiver Wahrnehmungdas herausgriffen, was Ihnen gefällt, dann hätten Sie diePolitik der alten Bundesregierung unterstützen müssen,statt sie zu blockieren. Diesen Vorwurf mache ich Ihnen.
Mir ist es recht, wenn unabhängige Sozialverbände,wie zum Beispiel der Caritasverband, regelmäßig Ar-mutsberichte vorlegen. Auch die Vermögensverteilungist ein ständiges Thema der Veröffentlichungen.
Was wirklich fehlt, sind Forschungsergebnisse über dieBekämpfung verdeckter Armut. Dabei geht es auchdarum, wie wir gemeinsam Armut in Deutschland defi-nieren und mit ihr umgehen und wie wir Strategien undZielsetzungen erarbeiten.
Das Gesicht der Armut ist vielschichtig wie das Le-ben. Wie gehen wir mit den Menschen um, die, aus wel-chen Gründen auch immer, mit unserem Sozialsystemgebrochen haben,
Menschen, die obdachlos vagabundieren oder ausScham den Gang zum Sozialamt meiden?
Hier müssen neue Wege gefunden werden, die wir nichtaus parteitaktischen Gründen beschreiten dürfen, son-dern deshalb beschreiten müssen, weil sie von der wirk-lich unabhängigen Forschung empfohlen werden.Die Arbeitnehmer in der Union, CDA und CSA, for-dern, dass auch die Arbeitslosen, beispielsweise über dieKirchen, an den Gesprächen des „Bündnisses für Ar-beit“ teilnehmen können.
Sie von der Koalition haben diese Forderung nicht ein-mal beantwortet. Sie schmücken sich hier und heute miteinem Sozialwort der Kirchen, bei dem ich davon aus-gehe, dass Sie es nicht einmal gelesen haben.Matthäus Strebl
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7797
Die Kirchen fordern einen Umbau des Sozialstaates.Norbert Blüm war hier Vorkämpfer. Aber Sie haben ihnin der letzten Legislaturperiode mit Steinen beworfen.Was Herr Riester derzeit zum Beispiel mit der Renteanstellt, riecht nach Systemwechsel: weg von der leis-tungsbezogenen Rente, hin zu einer Almosenrente.
Wenn Kanzler Schröder im Februar 1999 in Vilshofenerklärt hat, dass an der Rente nicht gerüttelt werde undes bei der nettolohnbezogenen Rente bleibe, die Halt-barkeitsdauer dieser Aussage aber nicht einmal ein hal-bes Jahr beträgt, muss ich sagen: Das ist das gebrocheneWort von Kanzler Schröder.
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Nickels?
Frau Präsidentin, ich
möchte im Zusammenhang vortragen.
Sie kürzen die Renten- und die Pflegeversicherungs-
beiträge der Arbeitslosen und der Sozialhilfeempfänger
und schaffen damit neue Armut, die Sie dann mit einem
neuen Gesetz bekämpfen wollen.
Ich will es einmal aufzählen, werte Kolleginnen und
Kollegen: Die Kirchen fordern Reformen innerhalb des
Rentensystems. Norbert Blüm hat gehandelt, Sie haben
polemisiert, außer Kraft gesetzt und fahren den Renten-
karren krachend gegen die Wand.
Die Kirchen fordern eine durchgreifende Steuerre-
form. Theo Waigel hat sie vorgelegt, Sie haben blockiert
und kommen nun mit der Ökosteuer in einem Reform-
Wischiwaschi daher.
Die Kirchen fordern eine bessere Vermögensbeteili-
gung. Norbert Blüm hat gehandelt und ein Gesetz vorge-
legt, das die Tarifpartner mit Leben ausfüllen könnten.
Was leisten Sie? Sie legen Broschüren auf und verges-
sen die politische Umsetzung.
Die Kirchen forderten die Einführung einer stabilen
europäischen Währung. Helmut Kohl und Theo Waigel
haben den Euro gegen den Widerstand aus Ihren Reihen,
auch gegen Schröder, durchgesetzt.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen der
rot-grünen Koalition, –
ich rate Ihnen: Wenn Sie die Kirchen ernst nehmen,
dann setzen Sie den Investivlohn auf die Tagesordnung
der nächsten Runde über ein „Bündnis für Arbeit!“.
Von 1985 bis 1996 – das muss man wissen – stieg in
der Bundesrepublik Deutschland das Pro-Kopf-Ein-
kommen um 19 Prozent. Auch die Kirchen bestätigen in
ihrem Sozialwort, dass der deutsche Sozialstaat der gro-
ßen Mehrheit der Bevölkerung soziale Sicherheit auf
hohem Niveau garantiert. Das ist doch ein tolles Lob für
Norbert Blüm und die von der Union entwi-
ckelte Sozialpolitik.
Seit 1992 steigen die Kapitaleinkünfte fünfmal so
schnell wie die Arbeitseinkommen. Das ist jedoch kein
böser Wille von irgendeiner Regierung,
sondern hat etwas mit Rationalisierung und Globalisie-
rung zu tun. Den Arbeitnehmer am Produktivkapital zu
beteiligen, wäre ein Ausweg aus der Lohnfalle.
Herr Kollege, den-
ken Sie bitte an Ihre Redezeit. Sie ist abgelaufen.
Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen, alle Instrumente zur Ar-
mutsbekämpfung und für eine Vermögenspolitik der so-
zialen Marktwirtschaft sind hier zu ergreifen. Arbeiten
Sie mit diesen Instrumenten! Setzen Sie nicht weiter
darauf, dass durch die geburtenschwachen Jahrgänge die
Arbeitskrise von selbst bewältigt wird! Daher sage ich:
Sozial ist, was Beschäftigung schafft. Setzen Sie daher
auch die richtigen politischen Rahmenbedingungen!
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich der Kollegin Nickels das Wort.
Herr Kollege Strebl, wir haben zwar nicht das hohe „C“im Parteinamen, aber trotzdem sind uns die Äußerungender Kirche gerade im Bereich Armut und Sicherung derZukunft der Arbeit sehr, sehr wichtig. Bündnis 90/DieGrünen arbeiten seit Jahren intensiv mit den Kirchen zu-sammen. Das ist keine Eintagsfliege. Ich selbst habe zum Beispiel 1996 federführend fürBündnis 90/Die Grünen eine Kooperationstagung zurZukunft der Arbeit in der Akademie organisiert. DabeiMatthäus Strebl
Metadaten/Kopzeile:
7798 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
waren Fridtjof Bergmann und zahlreiche Politiker derLandesebene anwesend. Wir haben 1997 einen Studien-tag in Münster gemacht, an dem namhafte Vertreter derEvangelischen und Katholischen Kirche teilnahmen, undzwar expressis verbis zu dem gemeinsamen Wort derKirchen.Ich habe mich sehr gefreut, dass ich auch meine Kol-leginnen und Kollegen in der Partei dazu bewegen konn-te, bundesweit, in allen Bundesländern – auch in denneuen Bundesländern, wo wir bekanntermaßen eine sehrdünne Mitgliederdecke haben, entsprechende Veranstal-tungen durchzuführen. Die Kirchen haben sich darübersehr gefreut.Das waren natürlich nicht Veranstaltungen, bei denenes Einstimmigkeit gab, sondern da hat man durchaussehr kritisch und offen miteinander geredet. Aber das hatuns, glaube ich, insgesamt neue Erkenntnisse gebracht,auch neue Möglichkeiten in dem Sinne, dass Partei undPolitik wirklich über die Grenzen der Institutionen hin-weg zusammenarbeiten.Ich kann Ihnen eines sagen, was mir noch sehr imOhr ist: Kirchenvertreter haben mir gesagt, sie wür-den sich wünschen – sie hätten es leider Gottes nicht er-lebt –, dass ihnen auch die anderen Parteien in diesemAusmaß die Gelegenheit geben würden, ihre Vorstellun-gen den Parteien nahe zu bringen und mit Ihnen zu dis-kutieren.Ich würde Sie also bitten, das zurückzunehmen, wasSie hier gesagt haben.
Ich erteile dem Ab-
geordneten Strebl zu einer Entgegnung das Wort
Frau Präsidentin,
meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Frau
Nickels, ich nehme zur Kenntnis, dass Sie so engagiert
arbeiten. Ich wünschte mir aber, dass Sie auch bei ande-
ren, genauso wichtigen Themen ebenso mit den Kirchen
zusammenarbeiten würden.
Nun erteile ich der
Parlamentarischen Staatssekretärin Ulrike Mascher das
Wort.
U
Frau Präsi-dentin! Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Herr Strebl,vielleicht ist es Ihnen entgangen, dass sich 1997, als diebeiden großen Kirchen ihr gemeinsames Sozialwort ver-öffentlicht haben, zum Beispiel die Forderung, die tat-sächliche Armut endlich zur Kenntnis zu nehmen, an ei-ne von CDU/CSU und F.D.P. – geführte Regierung ge-richtet hat.
Ich sage dies nur um der historischen Wirklichkeit wil-len.Aber ich finde es bemerkenswert, Herr Weiß, dass dieCDU/CSU in ihrem Antrag nun ausdrücklich bestätigt,dass es verdeckte Armut gibt.
In der letzten Legislaturperiode gab es nur bekämpfteArmut.
Vielleicht hat dies auch etwas damit zu tun, dass Siejetzt einen etwas schärferen Blick mitten in die Gesell-schaft werfen und festgestellt haben, dass es Armut gibt,zwar noch mit dem schönen Eigenschaftswort „ver-schämt“ oder „verdeckt“ erweitert, aber immerhin.Also: Verdeckte Armut gibt es in unserem Land. Siebeziehen sich sogar ausdrücklich auf die nationale Ar-mutskonferenz, deren Forderungen Sie, solange Sienoch Regierungsfraktionen waren, immer abgelehnt ha-ben. Aber ich begrüße diese Erkenntnis ausdrücklich. Verdeckte Armut ist selbstverständlich ein Aspekt,dem sich der Armuts- und Reichtumsbericht der Bun-desregierung widmen wird; denn für die Bundes-regierung ist die Bekämpfung der Armut, der verdecktenund der offenen Armut, in all ihren Ausprägungen einSchwerpunkt ihrer Politik. Dazu brauchen wir endlicheine zuverlässige Bestandsaufnahme der sozialen Lagein unserem Land. Grundlage hierfür ist ein Armuts- undReichtumsbericht.Eine nationale Armuts- und Reichtumsberichterstat-tung hat drei wesentliche Anforderungen zu erfüllen. Siedient der Analyse von materieller Armut und Unterver-sorgung und – das darf nicht vergessen werden – auchder Untersuchung der Strukturen der Reichtumsvertei-lung. Meine Kollegin Frau Kumpf hat schon deutlichgemacht: Wir finden im Statistischen Jahrbuch alles, nurkeine verlässlichen, keine detaillierten Daten über dieReichtumsverteilung.
– Herr Dr. Kolb, dann haben Sie vielleicht ein anderesStatistisches Jahrbuch als wir.
Die Berichterstattung soll Hinweise geben für dieEntwicklung geeigneter politischer Instrumente zurVermeidung und Beseitigung von Armut. Sie hat durcheine kontinuierliche Berichterstattung die Aufgabe einesControlling. Sie soll die Wirkungsweise und Effizienzdieser Instrumente dokumentieren.Christa Nickels
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7799
Herr Dr. Kolb, nur noch ein Hinweis: Unter seriösenWissenschaftlern ist es völlig unumstritten, dass die Da-tenlage, was die Reichtumsverteilung in der Bundesre-publik betrifft, verglichen mit anderen europäischenLändern, Substandard hat und dass wir hier dringendenNachholbedarf haben.
– Ja, es ist schwierig, aber wir sind sehr ehrgeizig. Eine Berichterstattung unter diesen Vorgaben ist einanspruchsvolles Vorhaben. Das Projekt in einer Legisla-turperiode erfolgreich zu schultern ist eine riesige Auf-gabe. Ich bin realistisch genug, um zu wissen, dass dererste Bericht nicht alle Aspekte von Armut und Reich-tum abschließend und erschöpfend beleuchten kann, ge-rade auch unter Berücksichtigung der miserablen Da-tenlage in der Frage der Reichtumsverteilung, die Sie jagar nicht bestreiten.Was wir aber leisten können und wollen, ist ein Ein-stieg in eine kontinuierliche Berichterstattung. Der ersteBericht kann ein Rahmen und ein erster Entwurf sein fürein Bild, das Schritt für Schritt vervollständigt werdenmuss.Die Vorarbeiten für die Armuts- und Reichtumsbe-richterstattung wurden in den vergangenen Monaten ge-leistet. Wir haben dabei die Diskussion über diegeeigneten und notwendigen Konzepte, überMöglichkeiten und Perspektiven, aber auch überGrenzen des Berichtsprojekts öffentlich geführt. HerrDr. Kolb, Sie haben deswegen auch die Chance, Ihrekritischen Anmerkungen mit Zitaten über dieseöffentliche Diskussion und die öffentliche Vorstellungunserer Konzeption hier nachzuvollziehen.
Nach diesem intensiven Beratungsprozess lassen sichnun die Grundlinien für den Bericht festlegen. Der ersteBericht soll von der Bundesregierung erstellt wer-den. Dies ist im Sinne der Koalitionsvereinbarung unddes gemeinsamen Antrags der Regierungskoalitionen,der heute beraten wird. Diese Aufgabe ist aber nicht zumeistern ohne Unterstützung der Wissenschaft und Be-ratung durch die Organisationen,
die sich seit langem mit der Frage sozialer Ausgrenzung,aber auch mit der Frage der Verteilung von Armut undReichtum beschäftigen.
Frau Staatssekretä-
rin, es besteht der Wunsch nach einer Zwischenfrage.
Gestatten Sie diese?
U
Ja.
Bitte sehr.
Frau
Staatssekretärin, nachdem Sie auf die Vorstellung der
Konzeption in der öffentlichen Diskussion bei der Ta-
gung im Oktober hingewiesen haben, möchte ich Sie
fragen: Können Sie bestätigen, dass die Vertreter der na-
tionalen Armutskonferenz und die Verbände mehrheit-
lich ein Modell zur Erstellung des Armuts- und Reich-
tumsberichts vorgestellt und vertreten haben, das nun-
mehr von der Bundesregierung abgelehnt wird, weil sie
ein anderes Modell präferiert?
Können Sie bestätigen, dass die Beteiligung der Ver-
bände, die Sie nun nicht in einer unabhängigen Steue-
rungsgruppe, sondern in einem so genannten Berater-
kreis vornehmen lassen wollen, dazu geführt hat, dass
der Vorsitzende der nationalen Armutskonferenz, Herr
Professor Specht, an Ihren Minister Riester einen Brief
geschrieben hat, in dem er darum bittet, dass er ihm, be-
vor er einen Berater für den Beraterkreis benennt, sagt,
welche Aufgabe er eigentlich hat, ob er nur raten oder
auch beraten soll?
U
Herr Weiß,
wir haben für diesen Beraterkreis – ich hätte das noch
weiter ausgeführt – auch die Vertreter der nationalen
Armutskonferenz eingeladen. Wir werden mit ihnen be-
raten, was die Funktion des Beraterkreises ist. Ich bin
ganz sicher, dass sich die Vertreter der Armutskonferenz
daran beteiligen werden, denn wir haben schon im Vor-
feld mit ihnen darüber gesprochen.
Wir haben auf der öffentlichen Vorstellung unter-
schiedlicher Konzepte für die Armuts- und Reichtums-
berichterstattung ein Konzept, das von einem Institut,
dem ISG, entwickelt worden ist, als Muster für die erste
Berichterstattung, die wir vornehmen wollen, herange-
zogen. Ich denke, dass wir, wenn wir den Bericht vorle-
gen, mit all denjenigen, die sich auf der Konferenz kri-
tisch mit dem Konzept dieses Berichts auseinander ge-
setzt haben, gern diskutieren werden. Ich bin ganz si-
cher, dass wir hier eine positive Resonanz bekommen
werden.
Ich lasse jetzt keine
weiteren Zwischenfragen mehr zu, denn wir kommen in
Zeitverzug. Ich bitte Sie um Verständnis, Herr Kollege,
aber die nachfolgenden Debattenbeiträge stehen an und
wir sind ein wenig in Verzug.
Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort.
U
Wir werdeneinen ständigen Beraterkreis einrichten, der den Berichtbegleitet. Dem Beraterkreis werden Verbände und Or-Parl. Staatssekretärin Ulrike Mascher
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7800 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
ganisationen, die Erfahrungen mit Armutsberichten ha-ben – die Caritas, die Arbeiterwohlfahrt, der DeutscheParitätische Wohlfahrtsverband, der DGB, aber auch diebetroffenen Organisationen wie die nationale Armuts-konferenz –, angehören. Wir werden natürlich auchLänder und Kommunen einbeziehen. Der Beraterkreiswird intensiv in den Berichtsprozess eingebunden, undes wird ein inhaltlicher Austausch mit den beteiligtenWissenschaftlern stattfinden. Wir werden renommierte Armuts- und Reichtumsfor-scher mit den wissenschaftlichen Untersuchungen beauf-tragen. Sie werden ein wissenschaftliches Gutachter-gremium bilden. Dort werden sie ihre Forschungskon-zeptionen vorstellen und regelmäßig über den Fortgangihrer Arbeiten berichten. Hier soll die wissenschaftlicheDiskussion über inhaltliche und methodische Fragen ge-führt werden. Die Gruppe der wissenschaftlichen Exper-ten berät und begleitet die Bundesregierung in allen Fra-gen der Berichterstattung. Es wird eine enge Verknüp-fung mit dem Beraterkreis geben; das habe ich schon ge-sagt. Der Bericht selbst wird von einer Projektgruppe imArbeitsministerium erstellt werden. Grundlage dafürsind die wissenschaftlichen Gutachten und die Diskussi-on im Beratergremium. Ich bin ganz sicher, dass wir denFehler der Bayerischen Staatsregierung, kritische Be-richte in der Schublade verschwinden zu lassen, nichtmachen werden.
Das führt zwar zu einer unglaublichen Verbreitung sol-cher Berichte, aber ich denke, das kann nicht der Sinnder Sache sein. Ich glaube, Sie können den renommier-ten Forschern, die wir beauftragen werden, nicht un-terstellen, dass sie keine unabhängigen Gutachten erstel-len. Ich glaube, das können selbst Sie nicht behaupten.
Ich bin mir durchaus bewusst, dass es auch andereStrukturen bei der Armuts- und Reichtumsberichterstat-tung hätte geben können; aber keine Lösung kann alleErwartungen und Ansprüche zufrieden stellen. Für denStart jedoch war es uns wichtig, ein realisierbares undzügig umsetzbares Konzept zu finden. Unsere Planun-gen sind hierfür eine gute Basis. Ich betone noch einmal: Wir werden zu Beginn derBerichterstattung nicht alle Fragen aufarbeiten können.Wir wollen aber einen Anfang machen. Gleichwohlmuss der erste Bericht unabdingbare Qualitätsmerkmalebeachten. Ich will nur zwei wesentliche Merkmale nen-nen: Wir brauchen keine Sammlung und Anhäufung vonleblosen Zahlen. Wir wollen keinen Datenfriedhof. Waswir uns wünschen, ist die Beschreibung und Analyse so-zialer Wirklichkeit, die auf solidem und verlässlichemDatenmaterial beruht.
Wir möchten auch keinen endlosen Streit um Definitio-nen und keine abstrakte Methodendiskussion, mit derSie immer die Forderung nach einer Armutsbe-richterstattung zurückgewiesen haben.
Was wir wollen, ist die Verständigung auf wissenschaft-lich nachvollziehbare und akzeptierte Methoden undStandards, die ein hohes wissenschaftliches Niveau desBerichts und eine Vergleichbarkeit der einzelnen Be-richtsteile garantieren. Meine Damen und Herren, unser Projekt Armuts- undReichtumsberichterstattung ist ehrgeizig. Unter denskizzierten Rahmenbedingungen können wir das Projektaber auf einen guten Weg bringen. Dafür werden wir mitunserem ganzen Engagement arbeiten. Ich freue michauf die Diskussionen im Gutachtergremium, im Berater-kreis und dann, wenn wir den Bericht vorlegen, auchhier im Parlament. Ich bin ganz sicher: Das wird einespannende, eine fundierte Diskussion auf der Basis vonMaterial, das die alte Bundesregierung leider nie vorge-legt hat. Danke.
Ich schließe dieAussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antragder Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/DieGrünen zu einer nationalen Armuts- und Reichtumsbe-richterstattung, Drucksache 14/2562, Buchstabe a. DerAusschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/999anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Gegen dieStimmen von CDU/CSU und F.D.P. ist diese Beschluss-empfehlung angenommen.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antragder Fraktion der PDS zu einer regelmäßigen Vorlage ei-nes Berichtes über die Entwicklung von Armut undReichtum in Deutschland, Drucksache 14/2562, Buch-stabe b. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag aufDrucksache 14/1069 abzulehnen. Wer folgt der Be-schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Auch diese Beschlussempfehlung ist angenommen, undzwar gegen die Stimmen der PDS. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antragder Fraktion der CDU/CSU zur Bekämpfung der ver-deckten Armut in Deutschland, Drucksache 14/2562,Buchstabe c. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag aufDrucksache 14/1213 abzulehnen. Wer folgt dieser Be-schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Bei Enthaltung der F.D.P. und Ablehnung derCDU/CSU ist die Beschlussempfehlung angenommen.Parl. Staatssekretärin Ulrike Mascher
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7801
Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung auf: Beratung des Antrages der Abgeordneten BirgitHomburger, Horst Friedrich , Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der F.D.P. Übergangsregelung für das neue Führer-scheinrecht– Drucksache 14/2370 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
InnenausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenInterfraktionell ist vereinbart worden, dass die Rede-beiträge zu Protokoll gegeben werden.* Das ist natürlichsehr schade, aber Sie sind offensichtlich damit einver-standen. – Dann ist das so beschlossen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlageauf Drucksache 14/2370 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Des Weiterensoll die Vorlage auch an den Ausschuss für die Angele-genheiten der Europäischen Union überwiesen werden.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Damitist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 9 a und b auf. a) Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts des Ausschusses für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit
zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-rung Entschließung des Europäischen Parla-ments zu endokrine Störungen verursa-chenden chemischen Stoffen – Drucksachen 14/309 Nr. 1.11; 14/1471 – Berichterstattung: Abgeordnete Jutta Müller
Bernward Müller
Winfried Hermann Ulrike Flach Eva Bulling-Schröterb) Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts des Ausschusses für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit
zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-rungzu der Mitteilung der Kommission an denRat und das Europäische Parlament: Stra-tegie für das Auslaufen der Verwendungvon FCKW in Dosieraerosolen– Drucksachen 14/309 Nr. 2.43, 14/1472 –Berichterstattung: Abgeordnete Monika GanseforthDr. Peter PaziorekDr. Reinhard LoskeBirgit HomburgerEva Bulling-SchröterNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Dazu höre ichkeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Jutta Müller, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heuteüber eine Entschließung des Europäischen Parlamentszu Chemikalien – für diejenigen Kolleginnen und Kolle-gen, die nicht im Ausschuss sind, will ich es einmal et-was einfacher ausdrücken –, die das Hormonsystem desMenschen belasten. Vor dem Hintergrund, dass wir in diesem Monat inden Medien erfahren haben, dass man solche Stoffe bei-spielsweise in Sportbekleidung und Fischkonserven ge-funden hat, wird die Aktualität des Themas für jeden of-fenkundig.Das Institut für Toxikologie der Universität Kiel hatbereits 1997 im Auftrag des Bundesumweltamtes eineLiteraturstudie über Substanzen mit endokriner Wirkungin Oberflächengewässern veröffentlicht. Zum ersten Malwurde damals der aktuelle Kenntnisstand bezüglich über200 Chemikalien ausgewertet, die im Verdacht stehen,hormonell wirksam zu sein. Dabei erwiesen sich einigeStoffe als besonders auffällig. Dazu gehört auch Tribu-tylzinn, das berühmte TBT, das in den Fußballtrikotsgefunden wurde. Das Bundesinstitut für gesundheitli-chen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin hat TBT-Verbindungen schon vor Jahren als Stoffe eingestuft,von denen ernste Gesundheitsschäden für den Menschenausgehen können.Seit Anfang der 90er-Jahre ist TBT in deutschenHolzschutzmitteln bereits verboten. Das Gleiche giltauch für Schiffsanstriche von Booten unter 25 Metern,die sich überwiegend in Binnengewässern bewegen.Trotz dieser schon seit mehreren Jahren durchgesetztenReglementierungen konnten in aktuellen Gewässerpro-ben weiterhin erhöhte Konzentrationen nachgewiesenwerden. Nicht zuletzt deshalb begrüßen wir ausdrücklichdie Ankündigung des Bundesumweltministeriums, hin-sichtlich der Verwendung dieser Stoffe in Klei-dungsstücken ein sofortiges Verbot auszusprechen undbei den Schiffsanstrichen zu schnelleren Lösungen alsangestrebt zu kommen. International soll TBT beiSchiffsanstrichen bis 2003 verboten werden. Wir wollenmit unserem Entschließungsantrag das Bemühen derBundesregierung, schneller zu internationalen Lösungenzu kommen, unterstützen.
Die für das Frühjahr geplante Anhörung des Gesund-heitsausschusses wird uns gerade im Hinblick auf diegesundheitlichen Risiken sicherlich noch weitere Er-kenntnisse vermitteln. Die Verunsicherung der Verbraucher über den Gradder Gefährdung muss endlich beendet werden. Wir ha-ben es im Zusammenhang mit den Fußballtrikots erlebt:Vizepräsidentin Anke Fuchs
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7802 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
Zunächst wird behauptet, es sei schädlich. Danach habendie Kaufhäuser einen Verkaufsstopp, den sie selber ver-hängt haben, wieder mit der Begründung aufgehoben, essei doch nicht so schlimm. Professor Wassermann – erist sicherlich ein renommierter Wissenschaftler – hat al-lerdings dann erklärt, dass diese Substanzen sehr wohlüber die Haut vom Körper aufgenommen werden kön-nen und dass sie dort das Immunsystem schwächen oderMissbildungen auslösen können. Es ist sicherlich ein Problem, dass wir es im Bereichder Stoffe, die endokrine Wirkungen zeigen, immerwieder mit einer Kumulation zu tun haben. Menschennehmen die Substanzen auf mehrfachem Wege auf, zumBeispiel über das Fußballtrikot und über die Nahrungs-mittel. Man hat festgestellt, dass man dann, wenn manden Inhalt einer 200-g-Fischkonserve isst – das ist ja nicht außergewöhnlich viel –, schon 36 Prozent desvon der Weltgesundheitsorganisation aufgestelltenGrenzwertes zu sich nimmt. Dieser Grenzwert beziehtsich ausdrücklich nur auf die Effekte, die TBT im Im-munsystem auslöst. Die hormonelle Wirksamkeit, dieschon bei der Aufnahme wesentlich geringerer Konzent-rationen gegeben sein kann, ist dabei noch gar nicht be-achtet. Bei Schwangeren und Kindern ist die Gefahr beson-ders groß, da hormonelle Schadstoffe bereits in gerings-ten Konzentrationen in das Hormonsystem beispielswei-se von Ungeborenen und Kleinkindern eingreifen undschwere Entwicklungsstörungen des Wachstums und deszentralen Nervensystems hervorrufen können und damitdas spätere Verhalten und die Fortpflanzungsfähigkeitbeeinträchtigen können.Weitere mögliche Effekte bei Menschen bestehen in derVermännlichung von Frauen, in der Unfruchtbarkeit bishin zu nachlassender Qualität der Spermien. Auch dieFunktion der Immunzellen zur Bekämpfung von In-fektionen kann gestört werden. Doch nicht allein das hochgiftige TBT birgt unabseh-bare Risiken für uns.
Auch der Gruppe der Alkylphenole, die bei Waschmit-teln, Industriereinigern und Kosmetika eingesetzt wer-den, konnten östrogene Eigenschaften nachgewiesenwerden. Obwohl sich die deutsche Industrie 1986 eineSelbstverpflichtung auferlegt hat, werden in der Umweltweiterhin hohe Konzentrationen festgestellt. Offensicht-lich gelangen diese Stoffe über den Importsektor auchauf den deutschen Markt. Wir sollten nicht unbedingt eine EU-weite Regelungabwarten. Da diese Stoffe beispielsweise in der Schweiznicht mehr in Wasch- und Reinigungsmitteln verwandtwerden dürfen und in der Schweiz offensichtlich trotz-dem sauber gewaschen wird, bin ich der Meinung, dassauch wir uns ein Verbot dieser Bestandteile leisten kön-nen.
Die dritte Substanz, die wahrscheinlich auch hormo-nelle Wirkungen hat, sind die Phthalate, die überwie-gend als Weichmacher in Schläuchen, Folien und Fuß-bodenbelägen vorkommen. Das Bundesgesundheitsmi-nisterium hat bereits in einer Verordnung ein Verbot desPhthalates in Kinderspielzeug aus Weichplastik erstellt.Ich war ziemlich entsetzt, dass man das verbieten muss-te, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass man solchechemischen Stoffe in Beißringen für Babys verwendet.Es ist schlimm, dass der Gesetzgeber hier eingreifenmuss und dass es in der Industrie nicht genügend Ver-antwortung gibt, so etwas von vornherein gar nicht zuproduzieren.
Wir sollten auch im Interesse der Verbraucher fort-fahren, den Eintrag von Chemikalien, die nachweislichendokrine Wirkungen haben, drastisch zu verringern. Esbesteht über die Fraktionsgrenzen hinweg Einvernehmendarüber, dass wir nach den schon jetzt vorliegenden Er-kenntnissen über die gesundheitlichen Wirkungen dieserStoffe zu einer Lösung des Problems kommen müssen.Wir verfolgen mit unserem Entschließungsantragauch das Ziel, eine andere Politik einzuleiten, also nichtmehr erst dann mit gesetzlichen Regelungen zu begin-nen, wenn das Kind sozusagen schon in den Brunnengefallen ist, wenn Menschen hochgradig erkrankt sind.Wir wollen vielmehr den Wechsel zu einer vorsorgen-den Umweltpolitik, damit man bereits dann, wenn einVerdacht besteht, eingreifen kann, um Erkrankungen zuverhindern.Das muss nicht unbedingt im Gegensatz zur Industriegeschehen. Ich weiß, dass uns immer wieder vorgehaltenwird: Daran hängen Arbeitsplätze; wir müssen das pro-duzieren und wenn ihr das verbietet, dann müssen wirviele Menschen entlassen. Diese bekannten Totschlag-argumente kennen wir mittlerweile. In der chemischenIndustrie gibt es sicherlich hochintelligente Spezialisten.Wir sollten uns mit ihnen einmal zusammensetzen undüberlegen, was für einen Ersatz es gibt und wie man et-was anders produzieren kann.Bisher liefen solche Gespräche immer nach dem glei-chen Muster ab. Auch in der Diskussion über Formalde-hyd – vielleicht erinnern Sie sich – hieß es anfangs: Dasmacht überhaupt nichts; davon wird gar keiner krank.Erst als die Wirkungen wirklich nachgewiesen wurden,mussten nach einem längeren Zeitraum ungefähr30 Produkte sofort vom Markt genommen werden.
Es ist auch für die Arbeitsplätze schlecht, wenn manimmer bis ganz zum Schluss wartet und Dinge plötzlichvom Markt nehmen muss. Es liegt in der Verantwortungder Industrie, mit uns darüber nachzudenken, wie wirvorsorgende Umweltpolitik machen können, die sich aufdie Gesundheit der Menschen positiv auswirkt. Dasspart im Übrigen auch Geld und viel Ärger.Jutta Müller
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7803
Deshalb möchte ich an dieser Stelle sagen: Wir ladendie chemische Industrie ausdrücklich ein, beim Prozessder Reduktion von Schadstoffen mitzuwirken und mituns darüber zu diskutieren. Wenn das geschieht, dannwollen wir die Forschung gerne unterstützen.Danke schön.
Ich gebe dem Kol-
legen Bernward Müller das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrterHerr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Frau Müller, es war wohl in der letzten Woche, alsdie Kollegin Deichmann aus Ihrer Fraktion gesagt hat:Es ist nicht der Stoff, sondern die Dosis, die giftigmacht. Dies ist meine kurze Antwort auf Ihren Redebei-trag. Aber wir kommen darauf zurück.Wir sprechen heute über die eben beschriebene Prob-lematik. Es geht um Substanzen, die endokrine Störun-gen verursachen können. Gestatten Sie mir am Anfangeinen kurzen historischen Rückblick. Seit Anfang der 90er-Jahre wird diese Problematiksowohl in der Wissenschaft als auch in der Öffentlich-keit und der Politik diskutiert. In der Öffentlichkeit wa-ren damals Verdachtsmomente der Wissenschaft übermögliche hormonähnliche Wirkungen bestimmter Che-mikalien in der Umwelt bekannt geworden. In natürli-chen Lebensräumen verschiedener Tierarten wurden beieinigen Spezies auffällige Veränderungen wie Repro-duktions- und Entwicklungsstörungen beobachtet. Un-tersuchungen ergaben in diesen Fällen eine erheblicheBelastung der Umwelt durch synthetische Chemikalienmit hormonähnlicher Wirkung.In den USA wurde nach der Verunreinigung des LakeApopka in Florida mit Insektiziden 1981 über Störungenberichtet, die die Entwicklung der Sexualorgane von Al-ligatoren betrafen. In England stellte man Anfang der90er-Jahre Geschlechtsverschiebungen bei Forellen fest,die in der Nähe von Klärwerkseinläufen gehalten wur-den. Auch Arzneimittel, die in der Human- und Veteri-närmedizin Verwendung finden und über menschlicheund tierische Ausscheidungen in das Abwasser gelan-gen, können solche endokrinen Effekte verursachen.Sie haben vor knapp drei Jahren – genau am 30. Ja-nuar 1997 – im Deutschen Bundestag über die Studieder Kopenhagener Forschungsgruppe von 1992 disku-tiert. Frau Müller, Sie haben es gerade angesprochen. Esging dabei um die Feststellung in dieser Studie, dass dieMenge an Spermien zurückgeht. Aber es gibt weitereEntwicklungen, es gibt neue Erkenntnisse. Ich kann Sieinsofern beruhigen: Es gibt heute hierzu eine ganze Rei-he von Untersuchungen, die genau das Gegenteil dazufeststellen. Ich will den amerikanischen Forscher HarryFisch nennen, der in seinen Forschungen, die er im Zeit-raum von 1970 bis 1994 durchgeführt hat, registriert hat,dass die damals festgestellte beklagenswerte Entwick-lung mittlerweile gegenläufig ist. Gleichwohl wurde in-folge solcher Beobachtungen postuliert, dass derartigeStoffe nicht nur in Bezug auf die Tierwelt relevant sind,sondern auch von Einfluss auf die menschliche Gesund-heit sein könnten. Wie ist der wissenschaftliche Erkenntnisstand heu-te? Dazu kurz drei Zitate. Das erste Zitat stammt vomWissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages,veröffentlicht in „Der aktuelle Begriff“ Nr. 10/99. DerWissenschaftliche Dienst stellt fest:Insgesamt ist das Gebiet der endokrin wirksamenStoffe nur wenig erforscht, sodass abschließendeBewertungen nicht möglich sind. Insbesondere dieZusammenhänge zur vermuteten Spermienabnahmeund zum vermehrten Auftreten von Brust- und Ho-denkrebs sind jedoch noch nicht abschließend ge-klärt. Anerkannte standardisierte Testverfahren zurBeurteilung einer endokrinen Wirksamkeit werdennoch weiterentwickelt. Deren Relevanz für denMenschen und die Ökosysteme bedarf aber nocheiner Bewertung. Das zweite Zitat stammt aus der Zeitschrift „Tierge-sundheit“ vom September 1999:Der Verdacht, bestimmte endokrin wirksame che-mische Stoffe führten zu schwerwiegenden Störun-gen im Hormonhaushalt von Menschen und Tieren,kann immer mehr entkräftet werden.Das letzte Zitat stammt aus dem noch druckfrischenSondergutachten des Rates von Sachverständigen fürUmweltfragen „Umwelt und Gesundheit – Risiken rich-tig einschätzen“ Drucksache 14/2300, ich denke, wirwerden hier auch noch darüber reden. Dort ist zu lesen:Die Ergebnisse aller bisher vorliegenden Studienzeigen, dass die Möglichkeit des Auftretens vonschädlichen Wirkungen durch hormonähnlich wir-kende Stoffe auf den menschlichen Organismus e-her als gering einzuschätzen ist. Zusammenfassend heißt das: Die Forschung sieht ih-ren Anfangsverdacht, nämlich die Übertragbarkeit vonBeobachtungen aus der Tierwelt auf die Menschen, zu-nehmend entkräftet. Endgültige Aussagen können auf-grund des derzeitigen Forschungsstandes jedoch nochnicht getroffen werden.
– Ja, Herr Kollege. Aber es ging um die Frage, ob dasAuswirkungen auf den menschlichen Organismus hat.Meine Damen und Herren von der Regierungskoaliti-on, auch wenn Sie der Meinung sind – Sie haben es imAusschuss so dargelegt –, es handele sich um eines derältesten Umweltthemen, man habe sich daher nun schonlange genug mit diesem Thema auseinander setzen kön-nen und nun müsse – koste es, was es wolle – ein Be-schluss her, werden wir Ihren Antrag nicht mittragen. Jutta Müller
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7804 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
Ich will das kurz begründen.
– Hören Sie sich doch die Begründung an, bevor Siewerten.Zu viele Fragen sind in diesem Problemfeld nochnicht wissenschaftlich einwandfrei geklärt.
In solch einen sensiblen Bereich, wo es um den Schutzdes Menschen und der Umwelt geht, wollen Sie, einfachweil es Ihnen an der Zeit zu sein scheint, hineinregeln.Ich will Ihnen sagen, was dabei herauskommt: Eskommt eine Beschlussempfehlung heraus, die an unaus-gegorenen Vorschlägen und wissenschaftlichen Ge-meinplätzen kaum zu überbieten ist.
Ich bin der Meinung: Weitere Forschung ist dringend er-forderlich. Ich glaube, das haben Sie im Ausschuss auchgesagt. Es wäre erfreulich gewesen, wenn Sie diesemAnsatz in den Haushalten der zuständigen MinisterienRechnung getragen hätten und die Forschung auf diesemGebiet – Sie haben es als einen Schwerpunkt Ihrer Re-gierungsarbeit definiert – entsprechend fördern würden.Solche Fragen treten jedoch angesichts Ihrer Be-schlusshysterie völlig in den Hintergrund. Ich sage des-halb noch einmal: Wir brauchen mehr Forschung. Wirwerden Ihren Vorschlag so nicht mittragen. Frau Müller,Sie haben ja die Notwendigkeit von Forschungsrichtli-nien angesprochen. Ich stimme dem zu. Die Wirksam-keit im Hinblick auf Risikogruppen wie zum Beispielungeborene Kinder, aber auch die Zusammenhänge zwi-schen endokrinen Stoffen und der Häufigkeit von Tu-morerkrankungen müssen wirklich untersucht und aufein sicheres Fundament gestellt werden, um entscheidenzu können.
Niemandem – weder der Umwelt, den Tieren oderden Menschen – ist durch Verbote geholfen, die sich le-diglich aus Verdachtsmomenten ableiten. Wie bittewollen Sie die Verhältnismäßigkeit zwischen Eingriffs-intensität und den tatsächlichen Gefahrenpotenzialenwahren, wenn sie die Beschlussempfehlung nicht einmalauf die Grundlage einer ausreichenden Datenmenge unddaraus resultierender Risikobewertungen stellen kön-nen? Ich zitiere noch einmal den Rat der Sachverständigen: Hinsichtlich der menschlichen Gesundheit ergebensich aufgrund der vorliegenden Datenlage ... keineVerdachtsmomente von solcher Plausibilität, dassein unmittelbarer Handlungsbedarf besteht.Schieben Sie also bitte nicht die – im Übrigen nochvon der CDU/CSU-geführten Bundesregierung 1986formulierten – „Leitlinien Umweltvorsorge“ vor, wennSie jetzt auf die Annahme dieser Beschlussempfehlungdrängen. Das hat mit dem Vorsorgegedanken, dem sichauch die CDU/CSU besonders verpflichtet fühlt, nichtszu tun.
Ich möchte Ihnen sagen, was ich vermute:
– Nein, das ist keine Verschwörung. – Es geht Ihnendarum, mit diesem Beschluss wieder einmal als Retterder gefährdeten Menschen aufzutreten.
– Genauso ist es: Es stehen Wahlkämpfe an. – Hier se-hen Sie eine Möglichkeit – diese Wahrheiten müssen Siesich gefallen lassen –, sich wieder einmal als Gutmenschzu präsentieren,
um den Bereich der Bevölkerung, den Sie mit IhrerÖkosteuer und Ihrer Rentenlüge verprellt haben, wiederfür sich zu gewinnen. Dies ist ja nicht abwegig. Siebrauchen nur die aktuelle Diskussion zu verfolgen. Icherinnere Sie an den Politzirkus, den Sie beim Ausstiegaus der Atomenergie veranstalten.
Man erlebt das ja jeden Tag. Sie brauchen nur nachNordrhein-Westfalen zu schauen und zur Kenntnis zunehmen, was die dortige Umweltministerin gestern ge-sagt hat.
– So ändern sich Ihre Vorstellungen.
Der CDU/CSU liegt der Vorsorgegedanke am Her-zen. Wir setzen uns für den Schutz von Mensch undUmwelt ein. Das gehört zu den Grundsätzen unserer Po-litik. Sie sollten eines nicht vergessen: Es war dieCDU/CSU-geführte Bundesregierung, die bis zur letztenBundestagswahl die Forschungen auf dem Gebiet derEndokrinologie intensiv gefördert und finanziert hat,und das europaweit und weltweit. Ich hätte mir ge-wünscht, das wäre unter Ihrer Regierung genauso. Aberin den entsprechenden Haushaltsansätzen ist davonnichts zu spüren. Ich denke, die von Ihnen vorgelegteBeschlussempfehlung ist, wie ich schon gesagt habe, indieser politischen Hinsicht zu beurteilen. Bernward Müller
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7805
Ich will zum Schluss kommen; denn meine Redezeitist abgelaufen. Die mögliche Gefährdung von Menschund Tier durch endokrin wirksame Chemikalien ist einsehr ernst zu nehmendes Thema, bei dem es immer nocherhebliche Wissenslücken gibt. Überlegungen und Be-schlüsse über angemessene Maßnahmen bei möglichenRisiken können nur auf der Grundlage von wissen-schaftlichen Fakten erfolgen. Hier ist nicht blinder Akti-onismus gefragt, sondern politisch verantwortungsvollesund besonnenes Handeln. Verantwortungslos ist sowohlder, der mit wissenschaftlich unbelegten Hypothesen inder Öffentlichkeit Ängste schürt, als auch derjenige, derdie Problematik der endokrin wirksamen Stoffe herun-terspielt. Beides darf nicht geschehen.Vielen Dank.
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Winfried
Hermann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! „Von impotenten Schnecken und einer tauben Bun-desregierung“ betitelte vor einigen Jahren „Die Zeit“ ei-ne Glosse über die Initiative der Grünen-Fraktion zumThema endokrine Stoffe. In anderen Zeitungen lautetendie Überschriften: „Angriffe auf die Männlichkeit“ und„Kleinere Hoden, weniger Spermien“; Sie, Herr Kolle-ge, haben Ähnliches zitiert. All dies, was so reißerischdaherkommt, verweist, wie Sie selbst gesagt haben, aufein ernsthaftes Problem. Sie haben mit Recht daraufhingewiesen, dass wir noch nicht alles wissen. Aber wirwissen schon eine ganze Menge, und das ziemlich si-cher.Warum sind diese Stoffe gefährlich? Weil sie einehormonähnliche Struktur haben und sehr persistent sind,also dauerhaft in der Umwelt verbleiben und auf dieseArt und Weise in den Organismus des Menschen kom-men können. Weil sie hormonähnliche Strukturen ha-ben, können sie auf das menschliche Hormonsystemwirken und damit den Organismus und seine Entwick-lung gefährden. Das wissen wir, Herr Müller; das kannman nicht bestreiten. Schlimmer noch: Wir haben auchAnzeichen dafür, dass diese Stoffe beispielsweise diePlazenta-Barriere überwinden können und so auf denEmbryo einwirken können. Die Plazenta kann also denEmbryo nicht mehr vor den schädlichen Chemikalienschützen. Die Folgen sind – Sie haben es selbst genannt– zurückgehende Zeugungsfähigkeit und ein Nachlassender Spermienqualität bei Männern, eine Zunahme vonMissbildungen auch der Geschlechtsorgane und eineZunahme von Brust- und Hodenkrebsfällen.Nun kann man sagen, das alles sei wissenschaftlichnoch nicht endgültig und eindeutig erwiesen. In der Tatgibt es Belege, die nicht eindeutig sind. Nur, Herr Müller, daraus die Konsequenz zu ziehen und zu sagen,wir sollten abwarten, bis die Befunde endgültig geklärtsind, das ist hoch riskant. Das können wir uns nicht län-ger erlauben.
Die Indizien sind so eindeutig, dass wir vorsorglich han-deln müssen.Was tun wir? Wir haben nicht einfach ein generellesVerbot erlassen, sondern eine Konzeption erarbeitet, dieeine effiziente Reglementierung dieser hoch brisantenStoffe bis hin zum Verbot zum Ziel hat. Es geht alsonicht um ein generelles Verbot, sondern um eine Regle-mentierung, die in Einzelfällen ein Verbot einschließt.Das gilt zum Beispiel für die organischen Zinnverbin-dungen wie TBT und DBT, die kürzlich eine Rolle ge-spielt haben, weil sie in Sporttrikots oder Fischkonser-ven gefunden wurden. Diese Stoffe wollen wir jetzt fürdie Bereiche Textilien, Holzschutzmittel und Schiffbauverbieten. Daran arbeitet das Umweltministerium. DasGesundheitsministerium hat schon in den letzten Mona-ten bei Babyspielzeug – unter anderem bei Beißringen –dafür gesorgt, dass bestimmte Weichmacher verbotensind. Es ist einfach nicht einsichtig, dass solche Stoffeausgerechnet dort enthalten sein sollen, wenn man weiß,dass sie gefährlich sein könnten.Dennoch müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass wirerst am Anfang stehen. Es gibt in jedem Jahr an die 300Neuentwicklungen und es gibt an die 100 000 Altstoffe.Denken Sie nur an die starke Anreicherung von PVC.PVC-Böden bestehen bis zu 30 Prozent aus Weichma-chern. Hier gibt es überall Risiken, weil diese Stoffewomöglich auch ins Grundwasser und damit in den bio-logischen Kreislauf und letztlich in den menschlichenOrganismus gelangen.
Zugegeben, diese Entwicklung gleicht einer Hydra.Politik tut sich da schwer. Wir müssen unseren Weg fin-den. Das aber setzt voraus, ihn erst einmal zu suchen.Wir dürfen nicht immer das Risiko herunterreden, wieSie es getan haben.
Herr Müller, Sie haben die Geschichte zitiert. Sie sindleider ein paar Jahre zu wenig zurückgegangen. Bereitsin den 60er-Jahren hat Rachel Carson in ihrem Klassiker„The Silent Spring“ in sehr anschaulicher Weise be-schrieben, wie diese gefährlichen Chemikalien wirken.Sie hat gezeigt, wie sich Fischarten in manchen fischrei-chen Gewässern völlig verändert haben und wie sich inder Folge auch vieles bei den Menschen verändert hat.Dazu schrieb sie:Wir setzen ganze Bevölkerungen dem Einfluss vonChemikalien aus, von denen wir aus Tierstudien– natürlich nur aus Tierstudien –wissen, dass sie ungemein giftig sind und dass sichdiese Effekte in manchen Fällen sogar addieren. ...Bernward Müller
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7806 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
Diese Belastung beginnt inzwischen schon vor oderbei der Geburt und dauert ... bei den heute lebendenMenschen ein Leben lang.Niemand weiß, wie die Ergebnisse dieses Experi-ments aussehen werden.Diese Erkenntnisse gab es also schon in den 60er-Jahren. Danach gab es einen Zeitraum, in dem sowohldie Industrie als auch die Wissenschaft immer wiederdagegen argumentiert haben und versucht haben, zu be-weisen, dass diese Stoffe doch nicht so gefährlich sind.Ich meine, das Prinzip des Vorsorgens mahnt uns –dieser Punkt wurde schon angesprochen –, wirklich et-was zu tun, endlich etwas zu ändern und nicht immerwieder Ausreden zu suchen; denn sonst bleibt das Prin-zip, zu dem Sie sich immer wieder gerne bekennen,nämlich das Vorsorgeprinzip, ein reines Lippenbekennt-nis.
Denken Sie daran, wie lange man etwa im Fall Conter-gan gewartet hat, bis man endlich den Beweis für dieschädliche Wirkung hatte! Viele Tausende von Men-schen haben dieses Warten mit ihrem schweren Schick-sal bezahlen müssen. Ich finde, daraus sollte man lernen.Die Koalitionsfraktionen haben im vergangenenSommer aufgrund dieser Einschätzung der Problematikund aufgrund des Anstoßes aus dem Europäischen Par-lament von der Regierung ein Gesamtkonzept mit Ver-bots- und Reduktionsvorschlägen, bezogen auf das ge-samte Spektrum dieser endokrin wirkenden Chemika-lien, verlangt. Wir haben feststellen müssen, dass diechemische Industrie diese Entwicklung sehr wachsambeobachtet. Sie von der CDU/CSU und von der F.D.P.können ein Lied davon singen, wie die Lobbyisten aktivgeworden sind und wie sie versucht haben, auf Sie –auch auf uns – Einfluss zu nehmen, damit das Themavon der Tagesordnung genommen wird.Ich sage heute ganz deutlich: Die chemische Industriemacht Werbung mit dem Prinzip „responsible care“,verantwortlich und vorsorgend handelnde Chemieindus-trie. Ich sage Ihnen: Schluss mit riskanten Chemikalien.Wer sein eigenes Prinzip ernst nimmt, muss auch sagen:Schluss mit Schadstoffen in Trikots und im Nahrungs-mittelkreislauf, von denen wir wissen, dass sie hoch ris-kant sind. Für einen fragwürdigen Gag – der Grund fürdiesen Inhaltsstoff ist ja banal: das Trikot sollte besseraussehen und das Gewebe sollte weniger leicht schim-meln – nimmt man ein hohes ökologisches Risiko inKauf. Ich meine, dass wir von der Politik diese Verant-wortungslosigkeit beenden müssen.Die Einzelhändler haben in den vergangen Wochenbewiesen, dass sie verantwortungsvoll handeln können.Auch die Verbraucher haben deutlich gemacht, dassman diesen „Luxus“, der mit einem hohen Risiko ver-bunden ist, nicht braucht. Ich sage Ihnen: Responsiblecare – lassen Sie uns dieses Motto ernst nehmen!Herr Müller, zu guter Letzt: Damals wurde „von im-potenten Schnecken und einer tauben Bundesregierung“gesprochen. Sie hätten jetzt die Chance, zu beweisen,dass Sie nicht auch eine taube Opposition sind.
Für die Fraktion der
F.D.P. spricht nun die Kollegin Ulrike Flach.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Taube Opposition hin, taube Oppositionher: Herr Hermann, es liegen uns heute zwei Beschluss-empfehlungen vor. Lassen Sie mich aus diesem Grundwenigstens kurz auf den anderen Teil eingehen, nämlichden, der sich mit FCKW beschäftigt! Schließlich ist daseiner der wenigen Fälle, in denen wir uns als Oppositionund als Regierung völlig einig waren.Weltweit werden jährlich noch rund 10 000 TonnenFCKW in Dosieraerosolen abgefüllt, davon circa1 000 Tonnen in Deutschland. Ungefähr ein Drittel gehtdabei in die Therapie chronischer Atemwegserkrankun-gen. Diese ozonschädigende Wirkung – das wissen wiralle – übertrifft bei weitem die Wirkung der FCKW-Emissionen aus kälte- und klimatechnischen Anwen-dungen.In Deutschland und Europa stehen inzwischen Alter-nativen zur Verfügung, zum Beispiel Dosieraerosole mitFKW statt FCKW. Die vorliegende Strategie der EU-Kommission legt Kriterien für Alternativen fest undstellt für die deutschen Zulassungsbehörden die Grund-lage dar, Ausnahmegenehmigungen in Zukunft abzuleh-nen.Wichtig für uns Liberale ist, dass weiter an Alternati-ven gearbeitet und für FCKW-freie Aerosole geworbenwird. Für uns ist vorstellbar – diesen Punkt möchte ichan dieser Stelle besonders betonen –, umweltfreundli-chere Aerosole aus dem Arzneimittelbudget herauszu-nehmen, um wirtschaftliche Anreize zu schaffen, denFCKW-Ausstieg zu beschleunigen. Wir haben in unse-rem Votum besonderen Wert darauf gelegt, dass derAusstieg keine Nachteile für die Patienten bringt. Das istoffensichtlich jetzt der Fall. Wir stimmen der Vorlagezu.
Meine Damen und Herren, die Entschließung des EU-Parlaments zu Stoffen, die möglicherweise Störungendes hormonellen Systems verursachen, und die Be-schlussempfehlung des Umweltausschusses beschäftigensich – wir haben es gerade sehr deutlich bemerkt – miteinem äußerst komplexen Thema. Der Nachweis, dasseinzelne Stoffe das Hormonsystem beeinflussen undwie das geschieht, ist außerordentlich schwer. Alle Ex-perten sagen, dass wir nach wie vor zu wenig Kenntnis-se über die Wirkungsweise des hormonellen Systems beiMensch und Tier haben und es unheimlich schwer ist,zwischen natürlichen, körpereigenen Hormonproduktio-nen – die gibt es ja schließlich auch – und äußeren Ein-flüssen zu differenzieren. Winfried Hermann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7807
Bei TBT in Schiffslacken haben wir bereits ein Aus-stiegsszenario, meine Damen und Herren, über das Sieimmer so gerne hinwegreden. Innerhalb der EU habenwir ein Anwendungsverbot für Schiffe mit einer Längevon unter 25 Metern. Eine Vereinbarung der IMO siehtvor, TBT-haltige Schiffslacke ab 1. Januar 2003 zu ver-bieten. Ab 2008 dürfen Schiffe keinen TBT-haltigenAnstrich mehr haben. Ersatzstoffe stehen bereits zurVerfügung oder befinden sich in der Erprobungsphase.Hier möchte ich auf einen gemeinsamen Pilotversuchdes WWF, des VCI und des niedersächsischen Um-weltministeriums mit biozidfreien Schiffsanstrichenhinweisen, der Erfolg versprechende Zwischener-gebnisse gebracht hat.Meine Damen und Herren, die IMO-Vereinbarung istaber noch keineswegs in trockenen Tüchern. Wenn dieBundesregierung hier Druck macht, kann sie dabei si-cher voll auf unsere Unterstützung rechnen. Ich wärefroh, wenn sie auch anwesend wäre. Wenn die Minister Trittin und Fischer sich aber voll-mundig hier hinstellen und ein Verbot von TBT fordern,so ist mir das zu undifferenziert. Wollen Sie die Ver-wendung von TBT verbieten oder seine Produktion?Wollen Sie Schiffe, die zukünftig in deutsche Hoheits-gewässer einfahren, auf TBT-haltige Anstriche kontrol-lieren? Und vor allem: Wollen Sie alle Organozinnver-bindungen verbieten?
Denn Experten weisen darauf hin, dass man auf TBTdurchaus verzichten kann, auf Mono- und Dibutylzinnjedoch nicht. In diesen Stoffen gibt es nun einmal leiderherstellungsbedingt Verunreinigungen durch TBT. Dasganze Thema ist leider nicht so einfach zu handhaben,wie Herr Hermann uns das eben gesagt hat, und auchnicht so einfach wie der Chemiebaukasten von JürgenTrittin, den er offensichtlich in seiner Jugend gehabt hat.
Die Nachricht, dass in Sporttrikots TBT nachgewie-sen wurde, hat viele Verbraucher verunsichert. Dabei istbis heute nicht klar, ob das TBT in der Faser selbst waroder ob es durch ein Desinfektionsmittel bei der Lage-rung oder durch einen Anstrich der Kisten beim Trans-port in die Trikots gekommen ist. Deshalb auch hiermeine sehr, sehr dringende Bitte: Verunsichern Sie dieVerbraucher nicht weiter, um ein neues kernkraftähnli-ches Thema zu bekommen.
Der Verband der Chemischen Industrie hat klarge-stellt, dass TBT von den elf Chemiefaserherstellernnicht verwendet wird. Auch von den rund 50 Pro-duzenten von chemischen Textilhilfsmitteln wird esnicht als antibakterieller Zusatz verwendet. Der Nach-weis von TBT ist nun einmal extrem schwierig, weil dieMengen, die ein gesunder Mensch zu sich nehmen kann,so gering sind: 15 Mikrogramm pro Tag. Wir dürfenaber auch die Hypothese, die der Bonner Hormonfor-scher Klingenmüller aufgestellt hat, nicht ignorieren,wonach bereits im Nanogrammbereich hormonelle Ein-flüsse nicht auszuschließen sind.Also – zusammenfassend –: Wie wollen Sie TBT inImportwaren nachweisen? Soll zukünftig jede LieferungSporttrikots, Badematten, Schwämme und andere Nässe-textilien auf TBT überprüft werden?
Diese Untersuchungen, Frau Ganseforth, sind sehr kos-ten- und zeitaufwändig.
Meine Damen und Herren, die Verbotskeule, die inder Beschlussvorlage nicht nur für TBT, sondern auchhinsichtlich von Phtalaten und Alkylphenolen ausge-packt wird, löst das Problem nicht. Ähnlich wie beiSchiffslacken brauchen wir auch bei anderen Verwen-dungen chemischer Stoffe weltweite Vereinbarungenüber Ersatzstoffe.
Dabei halten wir mehr davon, auf freiwillige Selbst-verpflichtungen zu setzen, wie sie zum Beispiel dieWaschmittelindustrie in Deutschland eingegangen ist,anstatt unsere eigenen Emotionen auf die internationaleEbene zu übertragen. Wir brauchen vor allem eine deutliche Intensivierungder Forschung auf diesem Gebiet, meine Damen undHerren, und da stimme ich Ihnen zu. Und bitte: Wenn Sie davon reden, dass es überall Er-satzstoffe gibt, dann ist Vorsicht geboten. Bei denSchiffslacken stimmt das mit Einschränkungen. In ande-ren Verwendungsbereichen sind die Ersatzstoffe dannzum Beispiel nicht hormonell wirksam, sondern toxisch.Das kann es ja wohl nicht sein. Die F.D.P. hat auch im Umweltausschuss betont, dasswir der EU-Vorlage durchaus zustimmen können, dassdie Beschlussvorlage, die SPD und Grüne dazu einge-bracht haben, aber zu undifferenziert ist und die Verbraucher nicht wirklich schützt. Wir lehnen sie des-halb ab.
Ich gebe das Wort
der Kollegin Eva Bulling-Schröter für die Fraktion der
PDS.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ziemlich genau vor drei Jah-ren haben wir schon einmal über endokrine Stoffe undihre Folgen für Mensch und Umwelt im Bundestag dis-Ulrike Flach
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7808 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
kutiert. Damals hatten die Anträge von SPD und Grü-nen, welche den Schutz vor hormonell wirksamen Stof-fen deutlich erhöhen sollten, keine Chance. CDU/CSUund F.D.P. argumentierten ungefähr, das Ganze sei si-cher ein ernst zu nehmendes Thema, aber es gebe nocherhebliche Wissenslücken und deshalb dürften keinevoreiligen Schlüsse gezogen werden, also kein unange-brachter Aktionismus. – Ihre Position hat sich offen-sichtlich nicht sehr verändert.
Auch von uns unterstützte Anträge wurden damals leiderabgeschmettert. Heute können wir ausnahmsweise einmal feststellen,dass der Regierungswechsel nicht ganz umsonst war.
Sie von der CDU/CSU-Fraktion sollten endlich Realitä-ten zur Kenntnis nehmen,
Realitäten wie die Tatsache, dass inzwischen einigeSchiffswerften auf den Einsatz von TBT-haltigenSchiffsanstrichen verzichten. Eine freiwillige Selbst-verpflichtung – das wäre doch etwas für Sie, Frau Flach.Diese Anstriche mit dem Wirkstoff Tributylzinn warenkürzlich allerdings auch Ziel einer erfolgreichen Green-peace-Kampagne, die sowohl Teilen der Wirtschaft alsauch der Politik auf die Sprünge geholfen hat. Wir mei-nen, dieses Beispiel zeigt einmal mehr, dass die Rollevon Umwelt-NGOs gar nicht überschätzt werden kann. Bei den endokrinen Stoffen haben wir es mit einerbesonders üblen Stoffgruppe zu tun. Sie werden nichtnur in der Industrie angewendet, sondern sind auch All-tagschemikalien. Über Farben, Weichmacher von Kunst-stoffen, Reinigungsmittel, Konservendosenbeschichtun-gen, Arzneimittel oder über die Nahrungskette gelangensie in unsere Körper und in die Körper von Tieren. Ei-nige Hundert meist langlebige Chemikalien parken wirin unseren Organismen als Sammelstellen für die Ne-benprodukte der so genannten Wohlstandsgesellschaft. Etliche dieser Substanzen stören den Hormonhaus-halt, und zwar in einer Konzentration, die teilweise ei-nige Tausend Mal über der natürlichen Konzentrationder frei verfügbaren Hormone wie zum Beispiel des bio-logisch aktiven Östrogens liegt. Aber bereits viel gerin-gere Mengen können die fötale Entwicklung im Mutter-leib nachhaltig schädigen. Der von mir sehr geschätzteProfessor Dr. Rochlitz hatte schon vor drei Jahren daraufhingewiesen, dass erhöhte Brust- und Hodenkrebsraten,ein vermehrtes Auftreten von Hodenhochstand undHarnröhrenspalte und sogar schwere Verhaltensstörun-gen Folgen solcher Prozesse sein können und dass zweiDrittel der Brustkrebsfälle weder auf Veranlagung nochauf die bekannten Risikofaktoren zurückzuführen sind.Mit großer Wahrscheinlichkeit fußen sie auf hormonellwirksamen Stoffen. Es ist umso erschütternder, dass auch deutsche Nord-seehäfen wie Hamburg, Bremerhaven und Emden TBT-verseucht sind. Es ist die Frage, was wir damit machen.Die Verklappung TBT-haltiger Schlämme kann wohlkaum als sicherer Entsorgungsweg bezeichnet werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei den Strategiengegen die Belastung mit endokrinen Stoffen muss derVorsorgegrundsatz, wie auch in der Beschluss-empfehlung formuliert, klar vor der Gefahrenabwehrstehen. Das Verbot beziehungsweise die drastische Ein-schränkung der Verwendung ganzer Stoffgruppen istdeshalb zu verantworten und zu befürworten. Schließ-lich geht es um nicht weniger als die ungestörte Repro-duktionsfähigkeit der Gattung Mensch, aber auch vielerTierarten. Die Suche nach dem letzten wissenschaftlichen Be-weis der Schädlichkeit, auf die sich die wirtschaftsnahePolitik und Wissenschaft gerne machen, ist dagegen un-verantwortlich, Herr Müller. Tragödien um Conterganoder Holzschutzmittel dürfen sich nicht wiederholen,auch nicht schleichend.Zur Frage der Untersuchung hätte die PDS-Fraktionjetzt noch einen Vorschlag. Wir könnten hier im Plenumgleich mit der gegenseitigen Untersuchung unsererKlamotten anfangen. Vielleicht sind dann das nächsteMal bei diesen Debatten mehr Leute im Plenum.Danke.
Die Bundesregie-
rung legt für das Protokoll Wert auf die Feststellung,
dass die beiden Ressorts Bundesministerium für Um-
welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und Bundesmi-
nisterium für Gesundheit auf der Regierungsbank vertre-
ten sind, möglicherweise gerade nicht bei Ihrer Rede,
Frau Kollegin Flach.
Damit ist diese Sache, denke ich, klargestellt und im
Protokoll ordnungsgemäß vermerkt.
Dann gebe ich das Wort an die Kollegin Monika
Ganseforth für die SPD-Bundestagsfraktion weiter.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Es geht heute auch um dieStrategie für das Auslaufen der Verwendung von FCKWin Dosieraerosolen, das heißt in Asthmasprays.Wenn man Menschen fragt, was sie von FCKW hal-ten, dann sind die meisten der Meinung, wir hätten dieProduktion und die Anwendung von FCKW längst be-endet, und es gebe das gar nicht mehr. Dabei trifft manauf Erstaunen, dass immer noch FCKW angewendetwerden; denn vor 15 Jahren, im Jahr 1985, wurde dieWiener Konvention zum Schutz der Ozonschichtverabschiedet. Dies wurde dann im Montrealer Protokoll1987 konkretisiert; das ist also schon ziemlich lange her.Damit wurde an sich die Produktion und AnwendungEva Bulling-Schröter
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7809
ozonschichtzerstörender Chemikalien, besonders derFCKW, beendet.In Deutschland ist es etwas später gewesen: ZehnJahre ist es her. Damals haben wir erst einmal den ver-geblichen Versuch gemacht, Frau Flach, den Sie uns an-dienen, nämlich mit der chemischen Industrie überSelbstverpflichtungen zum Verbot oder zur Beendigungder FCKW-Nutzung zu kommen. Das hat nicht ge-klappt. Wir sind hingehalten worden. Dann musste dieFCKW-Halon-Verbots-Verordnung erlassen werden. Siebesteht nun schon seit über zehn Jahren, und zwar nichtzum Spaß, sondern wir haben es mit einem sehr großenProblem zu tun. Die langlebigen Chemikalien, dieFCKW, haben eine Lebensdauer zwischen 60 und 400Jahren. Während dieses Zeitraums sammeln sie sich inder Stratosphäre, also in der Atmosphäre, an, sozusagenin den oberen Etagen.Sie zerstören unter bestimmten Bedingungen rasantdie schützende Ozonschicht. Die bestimmten Bedingun-gen sind niedrige Temperaturen und der Beginn derSonneneinstrahlung nach dem arktischen oder antarkti-schen Winter. Diese Ozonausdünnung entsteht über denPolen. Von Jahr zu Jahr wird diese Ausdünnung oderdas so genannte Ozonloch größer. Es fängt eher an undschließt sich später. Das nimmt kontinuierlich zu. Ichkann Ihnen sagen: Wir werden in wenigen Wochen,wenn der arktische Winter zu Ende ist, wieder hören,dass über der Nordhemisphäre der rasante Ozonabbaustattfindet und die schützende Ozonschicht abgebautwird.
Die Folge ist, dass die harte ultraviolette Strahlungdann auf die Erde, also in die Troposphäre gelangenkann, dass sie am Boden ihre zerstörerische Wirkungentfalten kann. Flora und Fauna werden dadurch ge-schädigt. Beim Menschen nehmen Hautkrebs, Augenlei-den und Immunschwächen zu. Trotz der vielen interna-tionalen Vereinbarungen zum Schutz der Ozonschicht,über die ich eben gesprochen habe, wird sich der schüt-zende Ozonmantel frühestens am Ende dieses Jahrhun-derts wieder erholt haben. Das liegt auch daran, dassimmer noch zu viele ozonschichtzerstörende Substanzenemittiert werden und dass es zu viele Ausnahmen undSchlupflöcher gibt.Heute wollen wir über solch ein Schlupfloch spre-chen, nämlich die Verwendung von FCKW in Asthma-sprays. Auf internationaler und nationaler Ebene wurdeim Abkommen wegen des Schutzes der menschlichenGesundheit eine Ausnahmegenehmigung vom allgemei-nen FCKW-Verbot vereinbart, allerdings nur bis zurVerfügbarkeit vertretbarer Alternativen in den Asthma-sprays.Das ist jetzt 15 Jahre her. Ich frage mich: Musste eswirklich so lange dauern, bis diese Alternativen gefun-den worden sind? Das legt doch den Verdacht nahe, dassdas Thema FCKW-Ausstieg und Schutz von Klima undOzonschicht nicht die nötige Priorität in der Forschungund in der Wissenschaft hatte. Von einem Hightech-Land im Medizinbereich hätte man erwarten können,dass man die Lösung dieses Problems, das kein großesProblem ist, diese Sprays nämlich durch nicht ozonzer-störende Substanzen zu ersetzen, eher findet und dafürkeine 15 Jahre benötigt. Die Europäische Gemeinschaft ist nach wie vor dergrößte Hersteller. 25 Prozent der hergestellten FCKW-Menge werden sowohl in Industrie- als auch in Entwick-lungsländer exportiert. In diesem Bereich ist Deutsch-land mit 1 000 Tonnen FCKW der größte Produzent, dasheißt, wir haben immer noch 10 Prozent der Weltpro-duktion. Die eine Hälfte der abgefüllten Sprays wird ex-portiert und die andere Hälfte wird in Deutschland frei-gesetzt. Damit ist FCKW aus Dosieraerosolen der größteinländische Emissionsherd dieser ozon-schichtzerstörenden Verbindung. Das sind erschrecken-de Zahlen. Das ist auch heute noch so, nachdem so vieleVereinbarungen getroffen wurden.Der heutige Beschluss, den wir vorlegen, ist ein Fort-schritt. Er ist überfällig und schließt endlich diesesSchlupfloch. Die vorige Regierung hat immer gesagt, wir seien ander Spitze der Bewegung und seien vorbildlich, was die-sen Bereich angeht. Wenn man konkret hinsieht, kannman das wirklich nicht sagen. Der Fortschritt ist eineSchnecke und das, was wir heute beschließen werden,ist überfällig.
Was sind nun die Alternativen für den gefährlichenTreibstoff FCKW in Asthmasprays? Es gibt drei Mög-lichkeiten. Zum einen kann R 134 a genommen werden,das FKW, das nur noch einen Treibhauseffekt und keinOzonzerstörungspotenzial hat. Das wird von der Chemieam liebsten genommen. Die Ersatzstoffe bewegen sichviel zu stark in diese Richtung. Die zweite und bessere Möglichkeit ist der Gebrauchvon Kohlenwasserstoffen als Treibstoff, weil sie wederOzonzerstörungspotenzial haben noch zum Treibhausef-fekt beitragen. Sie befinden sich aber noch im Antrags-verfahren. Das dauert in Deutschland sehr lange. Esbleibt zu hoffen, dass die Zulassung bald erteilt wird.Die dritte und beste Möglichkeit schließlich sind diePulverinhalatoren, dass also gar kein Spray mehr ge-nommen wird. Diese tragen weder zum Treibhauseffektnoch zum Ozonabbau bei. All diese Verfahren sind verfügbar und werden beiuns viel zu wenig genutzt. Zum Beispiel liegt der Anteilder Pulverinhalatoren für Asthmasprays in den Nieder-landen und in Skandinavien bei 75 bis 85 Prozent. Eswerden also nur noch 15 bis 25 Prozent Sprays benutzt.Davon ist nur ein ganz kleiner Teil mit FCKW abgefüllt.Schon seit vielen Jahren bewegen sich Skandinavien unddie Niederlande in diese Richtung, während bei uns im-mer noch das umgekehrte Verhältnis existiert. Wir be-nutzen etwa nur ein Drittel der Pulverinhalatoren undder nicht mit FCKW abgefüllten Asthmasprays. Wirsind also weit davon entfernt, ein Musterknabe zu sein,was uns von der alten Regierung immer wieder geschil-Monika Ganseforth
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7810 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000
dert wurde. Wir haben viel nachzuholen. Schaffen wirskandinavische Verhältnisse, was das angeht! Das nütztder Ozonschicht und das nützt dem Klima.
Als problematisch erweist sich in diesem Zusammen-hang, dass die Mehrheit der Ärzte am Umweltschutzkaum interessiert ist und nicht so sehr viel darüber weiß.Wir brauchen für diese Umstellung die Mitwirkung derÄrzteschaft. Wir brauchen die Patientinnen und Patien-ten, die Apothekerinnen und Apotheker.
– Es gibt eine kleine Gruppe engagierter Ärzte, aber dieMehrzahl der Ärzte – ich habe es nur einschränkend ge-sagt – legt auf Umweltschutz keinen besonderen Wert.Das liegt ihnen fern.
– Ein besonderes Ärgernis möchte ich zum Schluss an-sprechen, Herr Hirche. Da brauchen Sie sich gar nichtaufzuregen. Das Gesundheitsministerium ist bei diesem Themader Adressat. Ich bin sehr froh, Frau Nickels, dass Siehier sind. Frau Flach hat vorhin das Thema schon einmalangesprochen. Ich wollte es gar nicht mehr erwähnen,nachdem sich Herr Hirche so aufgeregt hat. Während esin Deutschland mit Beginn dieses Jahres endlich keineNeuzulassungen FCKW-haltiger Dosieraerosole mehrgibt – das ist jetzt ausgelaufen –, werden verstärkt Na-chahmepräparate, also Generika, in der Atemwegs- the-rapie eingesetzt. Diese sind dann wieder FCKW-getrieben. Die Ursache ist das Arzneimittelspar-programm, denn die Generika sind erheblich preiswerterals die Pulverinhalatoren. Das führt dazu, dass das, wasmöglich wäre und was es inzwischen gibt, zu wenigeingesetzt wird.
Die Budgetierung bevorzugt die Generika. Da müssteman aus der Sicht des Ausstiegs aus der FCKW-Verwendung etwas machen. Es muss schnell eine Lö-sung in dieser Richtung gefunden werden.
Der Antrag, den wir heute beschließen, beseitigt eineAltlast, bringt einen Fortschritt, ist aber gleichzeitig eineAufforderung zum schnellen Handeln.Schönen Dank.
Ich gebe das Wort
der Kollegin Marie-Luise Dött für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Der Mensch verändert vorallem durch seine industrielle Tätigkeit weltweit dieAtmosphäre und damit das Klima, und zwar durch denAusstoß von Gasen und Aerosolen. Die rund 250 Kilo-meter dicke Ionosphäre – das ist die äußerste Schicht derAtmosphäre – wird alle fünf Jahre um etwa einen Kilo-meter dünner. Zu diesem Ergebnis kamen 1998 Wissen-schaftler des „British Antarctic Survey“, die Daten derletzten 38 Jahre ausgewertet haben.Ursache ist der Treibhauseffekt. Doch ohne den na-türlichen Treibhauseffekt des Wasserdampfes und desKohlendioxids wäre es auf der Erde um etwa 30 Gradkälter. In unserer Verantwortung liegt der vom Men-schen zusätzlich verursachte Treibhauseffekt, der zu50 Prozent auf Kohlendioxid aus der Verbrennung vonfossilen Brennstoffen wie Kohle, Erdöl und Erdgas
und zu 25 Prozent auf FCKW und ähnlichen Gasen be-ruht.Zielsetzung muss sein, die Ozonschicht zu schützen.
Gerade deshalb ist das Zustandekommen des MontrealerProtokolls zum Schutz der Ozonschicht, das am 16. Sep-tember 1987 unterzeichnet worden ist, von ganz beson-derer Bedeutung.
Denn hier einigte sich die Völkergemeinschaft darüber,die Produktion der Fluorkohlenwasserstoffe einzu-schränken und stufenweise auslaufen zu lassen. Der ehemalige CDU-Umweltminister Töpfer hat in dieserThematik eine federführende Rolle gespielt.
Was das ozonschädigende FCKW angeht, stehen wirheute vor dem letzten Schritt, nämlich die Ausnahmege-nehmigungen zur Herstellung und Nutzung FCKW-haltiger Dosierzerstäuber für Industrieländer zu been-den. Um Patienten, die auf bronchialerweiternde undentzündungshemmende Arzneistoffe mit FCKW-haltigen Dosierzerstäubern angewiesen waren, nicht zugefährden, ist ursprünglich ein Sonderfahrplan für denAusstieg beschlossen worden, der im Jahr 2003 ausläuft.Alle Beteiligten, Industrie, pharmazeutische Wissen-schaft, Ärzte, Apotheker und Pflegepersonal, sind inDeutschland schon längst in diesen Prozess der Vermei-dung von FCKW-haltigen Dosierzerstäubern eingebun-den und tragen dazu bei, dass die Behandlung von Atemwegserkrankungen zunehmend mit umweltfreund-lichen Alternativpräparaten durchgeführt wird.
Monika Ganseforth
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7811
Die Voraussetzungen für den Verzicht auf FCKW-haltige Arzneimittel sind in Deutschland damit weitge-hend bereits heute erfüllt. Ich freue mich daher beson-ders, dass die Politik der Überzeugungsarbeit und derSelbstverpflichtung sowohl bei Herstellern wie auch beiNutzern FCKW-haltiger Dosieraerosole dazu geführthat, die geforderten Auslauffristen noch zu unterschrei-ten. Dies zeigt eindrucksvoll, dass man Umweltpolitik inDeutschland auch ganz kooperativ betreiben kann.
Es geht auch ohne Verbotsstrategien und Gesetzesfluten.
Zu überlegen bleibt, ob es erforderlich ist – da gebeich Ihnen Recht, Frau Ganseforth –, die Ersatzmittel fürFCKW-haltige Dosierzerstäuber, die im Regelfall teurersind, aus dem Arzneimittelbudget der Ärzte herauszu-nehmen, denn die günstigen FCKW-haltigen Generikawerden unter Sparzwang verordnet. Das würde natürlichwirtschaftliche Anreize für die Pharma-Industrie schaf-fen, den FCKW-Ausstieg zu beschleunigen.Wir sind uns über Fraktionsgrenzen hinweg einig,dass der nachhaltige Schutz der Ozonschicht eine dervordringlichsten umweltpolitischen Aufgaben darstellt.Das Bewahren der lebenserhaltenden Ozonschicht ist ei-ne Verpflichtung, die wir gegenüber den kommendenGenerationen zu erfüllen haben. Unserer Zielsetzung „FCKW – ade“ sind wir einenrichtigen und bedeutenden Schritt näher gekommen.Wenn wir uns auf unsere Verantwortung für den vonuns Menschen zusätzlich verursachten Treibhauseffektbesinnen, der auf 50 Prozent Kohlendioxid aus derVerbrennung von fossilen Brennstoffen und auf 25 Pro-zent FCKW und ähnlichen Gasen beruht, ist dies nur einSchritt in die richtige Richtung. Wir sollten in diesemZusammenhang nicht die Diskussion um den richtigenWeg zur Erfüllung des Kioto-Abkommens vernachlässi-gen, den Kohlendioxid-Ausstoß in Deutschland bis2005 gegenüber 1990 um 25 Prozent zu reduzieren. Da-zu reichen die Schritte der derzeitigen Regierung bedau-erlicherweise nicht aus und gehen in die verkehrte Rich-tung.
Das war die erste
Rede der Kollegin Marie-Luise Dött. Ich darf ihr im
Namen des Hauses dazu gratulieren.
Nun gebe ich der Kollegin Sylvia Voß für die Frakti-
on Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehrgeehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Arthur Schopenhauer hat einmal gesagt: Jederdumme Junge kann einen Käfer zertreten, aber alle Pro-fessoren dieser Welt können keinen herstellen. – Auchwir können eine neue Atmosphäre für unsere Erde nichtherstellen.Aufgrund des Bestandteils „Schicht“ im Wort „Ozon-schicht“ hört es sich immer so an, als wenn das irgend-ein dickes Gebilde wäre. Es ist ein ungeheuer fragiles,zartes Häutchen, das uns vor der tödlichen Strahlung ausdem Weltraum schützt. Diese tödliche Strahlung – FrauProfessor Ganseforth hat es vorhin erwähnt – kommtdurch die ständig zunehmende Größe der Ozonlöcherschon in erhöhtem Maße auf die Erde. Wissen Sie, ich kann das aus der Erfahrung sagen, daich Hautärztin bin und, als ich noch in der Klinik tätigwar, junge Leute sterben sah. Und dies nimmt zu! Ichglaube, wer so etwas miterlebt, der fragt sich dann: Wa-rum dauert es denn so lange, bis wir wirklich Schrittetun, um da etwas zu unternehmen, wo es wirklichschnell notwendig wäre? Der Ausstieg aus der ozonschichtzerstörenden undklimabelastenden Anwendung von Fluorchlorkohlen-wasserstoffen – FCKWs – wurde in Folge der Umset-zung der FCKW-Halon-Verbotsverordnung vom 6. Mai1991 Ende 1994 in Deutschland nur mit einem halbenSchritt getan; denn ausgenommen davon blieb derFCKW-Verbrauch der Pharmaindustrie.So gelangten noch 1998 knapp 10 000 Tonnen der inden Industrieländern sonst generell verbotenen harten,nämlich voll halogenierten FCKWs der Typen 11, 12und 114 wieder als Treibgas in Asthmasprays. 10 Pro-zent dieses die Ozonschicht zerstörenden Stoffes werdenbisher allein durch deutsche Produkte auf diese Weise indie Atmosphäre frei gesetzt. 400 Tonnen werden immernoch im Inland emittiert. Da frage ich mich, Frau Dött:Wo bleibt denn da die Freiwilligkeit bei den Verpflich-tungen? FCKWs in Asthmasprays gelten im öffentlichenBewusstsein immer noch als zu vernachlässigende Grö-ße, zumal sie zur Linderung eines schweren Leidenseingesetzt werden. Asthmakranke müssen eben sehrhäufig und manchmal mehrmals täglich Wirkstoffe inihre Lunge inhalieren. Dafür tragen sie meistens diesekleinen Sprays bei sich. Da sagt man sich: Das ist ja nurso ein kleines Spray. – Die Wirkung aber ist verheerend.Unbekannt ist zumeist nicht nur Patienten, sondern auchso manchem Arzt und so mancher Ärztin, dass dieseSpraydosen die entzündungshemmenden und bronchial-erweiternden Wirkstoffe sowie die harten FCKWs 11,12 und 114 im Verhältnis von 1 : 99 enthalten; 99 Pro-zent des Inhalts einer solchen Spraydose sind Treibgas.Wenn man dann noch berücksichtigt, dass in Deutsch-land circa 4 Millionen Menschen, 10 Prozent der kindli-chen und 5 Prozent der Erwachsenenbevölkerung, unterAsthma bronchiale leiden, dann wird auch verständlich
– ja, das nimmt zu, klar –, dass für 40 Prozent der Ozon-schichtzerstörung, die durch FCKW-Emmissionen aus-gelöst wurden, im Jahre 1995 – das ist, wie gesagt,schon eine ältere Zahl; die Zahl ist noch angestiegen –die Dosiersprays aus der Asthmabehandlung verantwort-Marie-Luise Dött
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lich waren. Darin sind noch nicht einmal die Anwen-dungen enthalten, die auch zunehmen, nämlich bei denimmer häufigeren Allergien im Bereich der oberenLuftwege, wo auch solche Sprays zum Einsatz kommenund in den letzten Jahren immer stärker eingesetzt wer-den.Die jährliche Nutzung der Asthmasprays ergab eineKlimabelastung von knapp 10 Millionen Tonnen Koh-lendioxidäquivalent. Das belegt, dass es sich bei denAsthmasprays keinesfalls um ökologische Peanuts han-delt.
1996 schätzte die damalige Bundesregierung in einerAntwort auf eine Anfrage meiner Fraktion ein, dass dieFKW-Verwendung überwiegend entbehrlich sei. Sieschloss sich hier den Äußerungen des Sachverständigen-rates für Umweltfragen an. Zu diesem Zeitpunkt betrugder Marktanteil von Pulverinhalatoren in Deutschlandjedoch nur 10 Prozent. In Skandinavien betrug er damalsschon zwischen 70 und 90 Prozent.Verschärfend zu diesem Missverhältnis kam hinzu,dass in Deutschland die klima- und ozonschichtfeindli-chen FCKW-Präparate um die Hälfte günstiger zu erhal-ten waren als die umweltfreundlichen Ersatzprodukte.Eine Kennzeichnung FCKW- und FKW-haltiger Pro-dukte unterblieb obendrein. Die These, dass treibgasbetriebene Asthmaspraysmedizinisch notwendig seien, war zu diesem Zeitpunktlängst wissenschaftlich widerlegt. Klare Vorgaben fürden Ausstieg aus den FCKW-haltigen Asthmaspraysblieb die damalige Bundesregierung entgegen ihrem ei-genen Erkenntnisstand jedoch schuldig.Sie hat sich allzu lange von den lautstarken sprayori-entierten Pharmafirmen paralysieren lassen. Zulassungs-behörde und Gesundheitsministerium hatten weiterhinFCKW-haltige Medikamente zugelassen, indem sie sichstets auf die Ausnahmeregelung beriefen, wonach eineweitere Zulassung solcher Arzneimittel möglich sei, so-lange dies für die Gesundheit erforderlich ist und keinetechnisch und wirtschaftlich möglichen Alternativen zurVerfügung stehen.Diese Alternativen gab und gibt es jedoch. Für jedenSchweregrad der Erkrankung stehen solche Pulverinha-latoren zur Verfügung. Die Beschleunigung des Pulver-trends, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist auch der ö-kologischen Kritik an den Spray-Treibgasen zu verdan-ken, wie sie glücklicherweise immer wieder aus denUmwelt- und Verbraucherverbänden, ja selbst aus Pati-entenorganisationen heraus und auch von den Grünenimmer wieder vorgetragen wurde. Aber auch die Pharmaindustrie ist in den Fragen derAsthmasprays inzwischen kein monolithischer Blockmehr. Heute arbeiten auch Pharmaunternehmen, Fach-ärzte, Apotheker, Patientenvertreter und Umweltschüt-zer zusammen. Das ist ein ermutigendes Zeichen undhoffentlich auch zur Lösung von Problemen in anderenZusammenhängen beispielgebend.Der Verzicht auf FCKW-haltige Asthmasprays ist einguter und nicht zu unterschätzender Beitrag zur Umset-zung unserer Verpflichtungen im Rahmen des Montrea-ler Abkommens, die Herstellung und den Verbrauch vonSubstanzen zu verbieten, die zum Abbau der Ozon-schicht führen. Nachdem der federführende Umweltausschuss undder mitberatende Ausschuss für Gesundheit einen Be-richt und eine einstimmige Beschlussempfehlung vorge-legt hatten, hat die rot-grüne Bundesregierung unverzüg-lich mit der Prüfung der Umsetzbarkeit begonnen. Be-reits Ende vergangenen Jahres wurde entschieden, Neu-zulassungen von FCKW-haltigen Dosieraerosolen nichtmehr zu erteilen. Für kurz wirksame Spezialpräparategilt eine Ausnahmeregelung für das Jahr 2000, ohneChance auf Verlängerung. Damit werden ab 2001 inDeutschland keine solchen Präparate mehr zur Anwen-dung kommen, denn neben der Herstellung ist dann auchder Import verboten. Nach den internationalen Beschlüssen ist ein Verbotin der EU erst spätestens 2003, in den anderen Indus-trieländern sogar erst 2005 vorgesehen. Die Bundesre-publik kommt damit in der Erreichung des Klimaschutz-zieles endlich einen deutlichen Schritt voran.Danke schön.
Ich schließe dieAussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen. Zunächst zuTagesordnungspunkt 9 a: Beschlussempfehlung desAusschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-sicherheit zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-rung über die Entschließung des Europäischen Parla-ments zu bestimmten chemischen Stoffen, Drucksache14/1471. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-schlussempfehlung, die Entschließung des EuropäischenParlaments zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal-tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men des Hauses gegen die Stimmen der F.D.P. ange-nommen. 1)Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 14/1471 die An-nahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen vonSPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stim-men von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 9 b: Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung durch dieBundesregierung zur Beendigung der Verwendung vonFCKW, Drucksache 14/1472. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-schlussempfehlung, die Mitteilung der Kommission zurSylvia Voß
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Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 2 seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 14/1472 die An-nahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig ange-nommen. Interfraktionell ist vereinbart worden, dass Zusatzta-gesordnungspunkt 10 vor Zusatztagesordnungspunkt 9aufgerufen wird. – Ich gehe davon aus, dass Sie damiteinverstanden sind. Wir verfahren so. Ich rufe Zusatzpunkt 10 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung und Ergänzung des Strafver-fahrensrechts – Strafverfahrensänderungsge-setz 1999
– Drucksache 14/1484 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechts-ausschusses
– Drucksache 14/2595 – Berichterstattung: Abgeordnete Jörg van Essen Dr. Jürgen Meyer
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten Dr. Evelyn Kenzler Hans-Christian Ströbele1)Interfraktionell ist vereinbart, die Redebeiträge zuProtokoll zu geben.2) – Damit sind Sie einverstanden.Dann ist so beschlossen. Wir kommen deshalb gleich zur Abstimmung überden von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzent-wurf zur Änderung und Ergänzung des Strafverfahrens-rechts, Drucksachen 14/1484 und 14/2595. Ich bitte die-jenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassungzustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist da-mit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitiongegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Ent-haltung der PDS angenommen. Wir kommen zur dritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz__________1) Anlage 22) Anlage 4entwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wiebei der zweiten Beratung angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachtenEntwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderungdes Weingesetzes– Drucksache 14/2566 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war ur-sprünglich für die Aussprache eine halbe Stunde vorge-sehen. Die Kolleginnen und Kollegen haben aber über-einstimmend beschlossen, den Wein lieber zu trinken,statt über ihn zu reden.
– Ich höre weit und breit keinen Widerspruch, sondernnur Zustimmung. Die Reden werden zu Protokoll ge-nommen.3)
– Herr Kollege Hirche, haben Sie noch eine Bemerkungzu machen? – Nein, dann geben wir das zu Protokoll,wenn Sie Ihr Abstimmungsverhalten noch geändert se-hen möchten. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage aufDrucksache 14/2566 zur federführenden Beratung anden Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Fors-ten und zur Mitberatung an den Rechtsausschuss, denFinanzausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft undTechnologie, den Ausschuss für Gesundheit, den Aus-schuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit –sind wir beim Weingesetz? –, den Ausschuss für dieAngelegenheiten der Europäischen Union und an denHaushaltsausschuss zu überweisen. Mir fehlt eigentlichnoch der Ausschuss für Tourismus, aber er ist nicht vor-gesehen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Dasist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-sen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit sind wir amSchluss der heutigen Tagesordnung. Ich berufe dienächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen,Freitag, den 28. Januar 2000, 9.00 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche einen schö-nen Abend.