Protokoll:
14084

insert_drive_file

Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 84

  • date_rangeDatum: 27. Januar 2000

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 12:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:09 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 14/84 (neu) Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 84. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 I n h a l t : Erweiterung der Tagesordnung ....................... 7709 A Nachträgliche Ausschussüberweisung............. 7710 B Tagesordnungspunkt 3: Abgabe einer Regierungserklärung zum Stabilitätspakt Südosteuropa - Stand und Perspektiven ...................................... 7710 C in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 8: a) Antrag der Fraktion PDS: Aufhebung der Sanktionen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (Drucksache 14/2387) .......... 7710 C b) Antrag der Fraktion PDS: Schiffbarma- chung der Donau und Wiederaufbau der zerstörten Donaubrücken (Drucksache 14/2388)................................ 7710 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Antrag der Fraktionen SPD und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Unterstützung des Stabilitätspaktes Südosteuropa (Drucksache 14/2569) ................................ 7710 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Antrag der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion F.D.P.: Für eine zügige Umsetzung und Vertiefung des Stabilitätspaktes Südosteuropa (Drucksache 14/2584)................................. 7710 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Antrag der Fraktion PDS: Aufhebung des Öl-Embargos gegen Jugoslawien (Drucksache 14/2573) ................................ 7710 D Joseph Fischer, Bundesminister AA ................ 7711 A Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU .............. 7714 B Gernot Erler SPD ............................................. 7716 B Dr. Klaus Kinkel F.D.P. ................................... 7718 C Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN ................................................................. 7720 D Wolfgang Gehrcke PDS................................... 7724 A Dr. Eberhard Brecht SPD................................. 7725 B Peter Hintze CDU/CSU.................................... 7726 C Uwe Hiksch PDS.............................................. 7728 D Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministe- rin BMZ............................................................ 7729 D Peter Hintze CDU/CSU................................ 7731 B Peter Weiß (Emmendingen) CDU/CSU........... 7732 B Tagesordnungspunkt 4: a) Antrag der Abgeordneten Eduard Oswald, Dirk Fischer (Hamburg), weiterer Abge- ordneter und der Fraktion CDU/CSU: Zu- kunft sichern – Verkehrsinfrastruktur- II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 investitionen verstärken (Drucksache 14/2360) ............................... 7734 B b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Straßenbaubericht 1998 (Drucksache 14/245) ................................. 7734 C c) Antrag der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Christine Ostrowski, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion PDS: Ge- schwindigkeitsbegrenzung auf 130 km/h auf Autobahnen (Drucksache 14/1082).... 7734 C d) Antrag der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Christine Ostrowski, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion PDS: Für eine sozial, finanziell und ökologisch nach- haltige Bundesverkehrswegeplanung (Drucksache 14/2262) ..................... .......... 7734 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Horst Friedrich (Bayreuth), Hans-Michael Goldmann, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Straßenbau statt Autostau (Drucksache 14/2582) ................................ 7734 D Eduard Oswald CDU/CSU .............................. 7735 A Reinhold Hiller (Lübeck) SPD......................... 7736 D Horst Friedrich (Bayreuth) F.D.P. ................... 7738 C Albert Schmidt (Hitzhofen) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ................................................ 7741 C Dr. Winfried Wolf PDS ................................... 7744 A Reinhard Klimmt, Bundesminister BMVBW.. 7746 B Hannelore Rönsch (Wiesbaden) CDU/CSU 7747 A Renate Blank CDU/CSU ............................. 7748 A Wolfgang Dehnel CDU/CSU....................... 7749 A Dirk Fischer (Hamburg) CDU/CSU ................ 7751 B Albert Schmidt (Hitzhofen) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN................................................. 7754 B Dirk Fischer (Hamburg) CDU/CSU ................ 7754 D Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN................................................. 7755 C Renate Blank CDU/CSU ................................. 7756 D Karin Rehbock-Zureich SPD ........................... 7759 A Dirk Fischer (Hamburg) CDU/CSU ............ 7759 D Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU....... 7761 C Reinhard Weis (Stendal) SPD.......................... 7763 D Tagesordnungspunkt 6: Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften (Seuchenrechtsneuordnungs- gesetz) (Drucksache 14/2530) .................... 7766 A in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 15: Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Übereinkommen vom 4. Au- gust 1995 zur Durchführung der Be- stimmungen des Seerechtsübereinkom- mens der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1982 über die Erhaltung und Bewirtschaftung von gebietsüber- greifenden Fischbeständen und Bestän- den weit wandernder Fische (Drucksache 14/2421) ................................ 7766 A b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Vertrag vom 25. August 1998 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Mexi- kanischen Staaten über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapi- talanlagen (Drucksache 14/2422).............. 7766 B c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Vertrag vom 5. November 1998 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Antigua und Barbuda über die Förderung und den gegenseiti- gen Schutz von Kapitalanlagen (Drucksache 14/2423)................................. 7766 B d) Antrag der Abgeordneten Renate Diemers, Maria Eichhorn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Initiative zur Schaffung von alternierenden Tele- arbeitsplätzen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundestagsabge- ordneten im Rahmen des Umzuges von Bonn nach Berlin (Drucksache 14/1313).. 7766 B e) Antrag der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Eva Bulling-Schröter, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion PDS: Keine Hermesbürgschaften für den Ilisu-Stau- damm in der Türkei (Drucksache 14/2336) ................................ 7766 C Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 III f) Antrag des Bundesministeriums für Wirt- schaft und Technologie: Rechnungsle- gung über das Sondervermögen des Bundes „Ausgleichsfonds zur Sicherung des Steinkohleneinsatzes“ für das Wirt- schaftsjahr 1998 (Drucksache 14/2484) ... 7766 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Weitere Überweisungen im vereinfach- ten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung atomrechtlicher Vor- schriften für die Umsetzung von EURATOM-Richtlinien zum Strahlen- schutz (Drucksache 14/2443) ................... 7766 D b) Antrag der Fraktionen SPD und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Grenzüber- schreitende Zusammenarbeit zur Stär- kung des Schutzes der Böden (Drucksache 14/2567)................................ 7766 D Tagesordnungspunkt 16: Abschließende Beratungen ohne Aus- sprache a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- trag vom 11. Dezember 1997 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik El Salvador über die För- derung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen (Drucksachen 14/1840, 14/2539) ............... 7767 B b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- trag vom 28. August 1997 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Turkmenistan über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalan- lagen (Drucksachen 14/1842, 14/2540) ..... 7767 B c) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 10. September 1996 zwi- schen der Regierung der Bundesrepu- blik Deutschland und der mazedoni- schen Regierung über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapi- talanlagen (Drucksachen 14/1843,14/2541) ............... 7767 C d) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- trag vom 21. März 1997 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Kroatien über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapi- talanlagen (Drucksachen 14/1844, 14/2542) ............... 7767 C e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen), Friedrich Merz, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion CDU/CSU: Deutschland muss verläßlicher Partner in europäischer Raumfahrt bleiben (Drucksachen 14/655, 14/1350).................. 7767 D f) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- nungswesen zu dem Antrag der Abgeord- neten Dirk Fischer (Hamburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Satellitennavigationssystem Galileo (Drucksachen 14/945, 14/2217).................. 7768 A g) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu der Unterrichtung über ein Unionsdo- kument gemäß § 93 Abs. 2 GO-BT: Ent- wurf einer Entschließung des Rates zur sozialen und arbeitsmarktspezifischen Dimension der Informationsgesellschaft (Drucksachen 14/2211 Nr. 2.1, 14/2346) ... 7768 B h) - m) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses Sammelübersichten 111, 112, 113, 114, 115, 116 zu Petitionen (Drucksachen 14/2532, 14/2533, 14/2534, 14/2535, 14/2536, 14/2537)........................ 7768 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung von Richtlinien der Europäischen Gemein- schaft auf dem Gebiet des Berufsrechts der Rechtsanwälte (Drucksachen 14/2269, 14/2594)................ 7769 A IV Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 Zusatztagesordnungspunkt 8: Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bun- desregierung zu Berichten über Defizite bei der Pflegeversicherung und Auswir- kungen auf die soziale Sicherheit alter Menschen Ulf Fink CDU/CSU ......................................... 7769 B Regina Schmidt-Zadel SPD ............................. 7770 C Detlef Parr F.D.P. ............................................ 7771 D Monika Knoche BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN................................................................. 7772 D Dr. Ilja Seifert PDS.......................................... 7773 C Eva-Maria Kors CDU/CSU ............................. 7774 C Marga Elser SPD ............................................. 7775 B Wolfgang Zöller CDU/CSU ............................ 7776 B Christa Nickels, Parl. Staatssekretärin BMG .. 7777 A Gerald Weiß (Groß-Gerau) CDU/CSU............ 7779 D Barbara Imhof SPD.......................................... 7780 A Hannelore Rönsch (Wiesbaden) CDU/CSU .... 7781 A Dr. Martin Pfaff SPD....................................... 7782 C Tagesordnungspunkt 5: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung – zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Nationale Armuts- und Reichtums- berichterstattung – zu dem Antrag der Fraktion PDS: Re- gelmäßige Vorlage eines Berichts über die Entwicklung von Armut und Reichtum in der Bundesrepu- blik Deutschland – zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Schnieber-Jastram, Wolfgang Meckelburg, weiterer Abgeordneter der Fraktion CDU/CSU: Bekämpfung der „verdeckten Armut“ in Deutsch- land (Drucksachen 14/999, 14/1069, 14/1213, 14/2562) ..................................................... 7783 D Wolfgang Spanier SPD.................................... 7784 A Peter Weiß (Emmendingen) CDU/CSU .......... 7785 D Dr. Klaus Grehn PDS................................... 7786 B Wolfgang Spanier SPD................................ 7787 A Ekin Deligöz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ... 7788 D Dr. Heinrich L. Kolb F.D.P.............................. 7790 D Dr. Barbara Höll PDS ...................................... 7792 C Johannes Singhammer CDU/CSU................ 7793 A Ute Kumpf SPD ............................................... 7794 A Matthäus Strebl CDU/CSU .............................. 7795 D Christa Nickels BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 7798 A Matthäus Strebl CDU/CSU .............................. 7798 B Ulrike Mascher, Parl. Staatssekretärin BMA ... 7798 C Peter Weiß (Emmendingen) CDU/CSU....... 7799C Tagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Birgit Hombur- ger, Horst Friedrich (Bayreuth), weiterer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Übergangsregelung für das neue Füh- rerscheinrecht (Drucksache 14/2370)....... 7801 A Tagesordnungspunkt 9: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Entschlie- ßung des Europäischen Parlaments zu endokrine Störungen verursachenden chemischen Stoffen (Drucksachen 14/309 Nr. 1.11, 14/1471) ... 7801 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung zu der Mittei- lung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament: Strategie für das Auslaufen der Verwendung von FCKW in Dosieraerosolen (Drucksachen 14/309 Nr. 2.43, 14/1472) ... 7801 C Jutta Müller (Völklingen) SPD ....................... 7801 D Bernward Müller (Jena) CDU/CSU ................. 7803 B Winfried Hermann BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN ................................................................. 7805 B Ulrike Flach F.D.P. .......................................... 7806 D Eva Bulling-Schröter PDS ............................... 7808 A Monika Ganseforth SPD .................................. 7809 A Marie-Luise Dött CDU/CSU............................ 7810 C Sylvia Voß BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN....... 7811 C Zusatztagesordnungspunkt 9: Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 V eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Weingeset- zes (Drucksache 14/2566) .......................... 7813 C Zusatztagesordnungspunkt 10: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Er- gänzung des Strafverfahrensrechts - Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 (StVÄG 1999) (Drucksache 14/1484; 14/2595) ............... 7813 B Nächste Sitzung ............................................... 7814 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten............ 7815 A Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Walter Hirche (F.D.P.) zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Na- turschutz und Reaktorsicherheit zu der Unter- richtung durch die Bundesregierung: Ent- schließung des Europäischen Parlaments zu endokrine Störungen verursachenden chemi- schen Stoffen (Tagesordnungspunkt 9 a)......... 7816 A Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Übergangsregelung für das neue Führerscheinrecht (Tagesordnungspunkt 7) Birgit Homburger F.D.P. ................................ 7816 A Heide Mattischeck SPD.................................... 7816 C Eduard Lintner CDU/CSU............................... 7817 C Helmut Wilhelm (Amberg) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ......................................................... 7818 B Dr. Winfried Wolf PDS .................................... 7819 A Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Än- derung des Weingesetzes (Zusatztagesord- nungspunkt 9) Gustav Herzog SPD ......................................... 7819 B Heidemarie Wright SPD................................... 7820 A Norbert Schindler CDU/CSU .......................... 7821 A Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.... 7821 D Marita Sehn F.D.P. .......................................... 7822 D Kersten Naumann PDS ................................... 7823 B Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Strafverfahrensrechts (Zu- satztagesordnungspunkt 10) Dr.Jürgen Meyer (Ulm) SPD ........................... 7824 C Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/CSU ........................................................ 7826 A Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ......................................................... 7827 C Dr. Evelyn Kenzler PDS ................................. 7828 C Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ .... 7829 B Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7709 (B) (D) 84. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 Beginn: 12.00 Uhr
  • folderAnlagen
    __________ 3) Anlage 5 Vizepräsident Rudolf Seiters 7814 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich Adam, Ulrich CDU/CSU 27.01.2000 * Beck (Bremen), Marieluise BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 27.01.2000 Beck (Köln), Volker BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 27.01.2000 Behrendt, Wolfgang SPD 27.01.2000 * Bernhardt, Otto CDU/CSU 27.01.2000 Bindig, Rudolf SPD 27.01.2000 * Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 27.01.2000 * Fischer (Berlin), Andrea BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 27.01.2000 Fograscher, Gabriele SPD 27.01.2000 Frick, Gisela F.D.P. 27.01.2000 Friedrich (Altenburg), Peter SPD 27.01.2000 Gebhardt, Fred PDS 27.01.2000 Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 27.01.2000 Göring-Eckardt, Katrin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 27.01.2000 Gröhe, Hermann CDU/CSU 27.01.2000 Hoffmann (Chemnitz), Jelena SPD 27.01.2000 Hollerith, Josef CDU/CSU 27.01.2000 Dr. Hornhues, Karl-Heinz CDU/CSU 27.01.2000 * Jünger, Sabine PDS 27.01.2000 Dr. Kohl, Helmut CDU/CSU 27.01.2000 Leidinger, Robert SPD 27.01.2000 Lintner, Eduard CDU/CSU 27.01.2000 * Lippmann, Heidi PDS 27.01.2000 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Lörcher, Christa SPD 27.01.2000 * Michels, Meinolf CDU/CSU 27.01.2000 * Neuhäuser, Rosel PDS 27.01.2000 Neumann (Gotha), Gerhard SPD 27.01.2000 * Repnik, Hans-Peter CDU/CSU 27.01.2000 Rübenkönig, Gerhard SPD 27.01.2000 Rühe, Volker CDU/CSU 27.01.2000 Schaich-Walch, Gudrun SPD 27.01.2000 Schmidt (Eisleben), Silvia SPD 27.01.2000 Dr.-Ing. Schmidt (Halsbrücke), Joachim CDU/CSU 27.01.2000 Schmitz (Baesweiler), Hans Peter CDU/CSU 27.01.2000 von Schmude, Michael CDU/CSU 27.01.2000 * Schur, Gustav-Adolf PDS 27.01.2000 Dr. Schwarz-Schilling, Christian CDU/CSU 27.01.2000 Siebert, Bernd CDU/CSU 27.01.2000 * Simm, Erika SPD 27.01.2000 Dr. Spielmann, Margrit SPD 27.01.2000 Dr. Volmer, Ludger BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 27.01.2000 Willner, Gert CDU/CSU 27.01.2000 Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 27.01.2000 * Zapf, Uta SPD 27.01.2000 Zierer, Benno CDU/CSU 27.01.2000 * __________ *) für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- lung des Europarates Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7815 (A) (B) (C) (D) Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Walter Hirche (F.D.P.) zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Re- aktorsicherheit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Entschließung des Europäi- schen Parlaments zu endokrine Störungen ver- ursachenden chemischen Stoffen (Tagesord- nungspunkt 9 a) Die F.D.P. stimmt der Kenntnisnahme der Entschlie- ßung des Europäischen Parlaments zu. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Übergangsregelung für das neue Führerscheinrecht (Tagesordnungspunkt 7) Birgit Homburger (F.D.P.): In der vergangenen Wahlperiode wurde das Straßenverkehrsrecht in weitge- hender politischer Übereinstimmung novelliert. Auch die damit verbundene Einführung von neuen Führer- scheinklassen im Rahmen der Umsetzung der EU- Führerscheinrichtlinie war nicht umstritten. Heute zeigt sich, dass damals die Auswirkungen der Neueinteilung der Führerscheine nicht hinreichend klar waren. Insbesondere die Begrenzung der Pkw- Fahrerlaubnis für Fahrzeuge mit einem zulässigen Ge- samtgewicht von nunmehr 3,5 Tonnen statt bisher 7,5 Tonnen schafft mehr Übergangsprobleme als ange- nommen. 715 000 Fahrzeuge zwischen 3,5 und 7,5 Ton- nen sind zukünftig nicht mehr mit dem PKW- Führerschein zu führen, sondern nur noch mit dem neu- en LKW-Führerschein der Klasse C1. Diesen erhalten zwar die Inhaber von alten PKW-Führerscheinen auto- matisch, Führerscheinneulinge jedoch kommen regel- mäßig nur noch mit der neuen PKW-Fahrerlaubnis auf den Arbeitsmarkt. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion ist den Organisationen der Rettungsdienste, technischen Hilfsdienste und Feu- erwehren für den Hinweis auf ihre spezielle Problematik in diesem Zusammenhang dankbar. Dort sind mehr als 20 000 Feuerwehr-, Rettungs- und Krankenkraftwagen zugelassen, deren ehrenamtliche Fahrer zukünftig einen teuren LKW-Führerschein machen müssen, um die Einsatzfahrzeuge überhaupt bewegen zu dürfen. Diese zusätzliche Ausgabe kostet Geld, das die betroffenen Gebietskörperschaften oder Organisationen ohne Er- werbscharakter nicht haben. Die F.D.P. spricht sich in diesen Fällen dafür aus, das Führerscheinrecht mit einer Ausnahmeregelung auszu- statten, nach der auch Inhaber des Führerscheins der Klasse B für die Dauer der ehrenamtlichen Tätigkeit die Erlaubnis erhalten, die betroffenen Einsatzfahrzeuge bis zu 7,5 Tonnen zu führen. Die Fahrer erhalten ohnehin eine Einweisung in das Fahrzeug, sodass Sicherheitsbe- denken in diesen wenigen Fällen unbegründet sind. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion will zusätzlich von der Bundesregierung wissen, in welchem Umfang kleine mittelständische Betriebe durch die Umstellung auf das Führerscheinrecht belastet werden und in welchem Um- fang Landwirtschaft und Kommunen mit Blick auf die neuen Führerscheinklassen für Traktoren und Zugma- schinen mit Mehrkosten belastet werden. Aus dem Be- richt sind gegebenenfalls Vorschläge zur Entlastung der Betroffenen zu entwickeln. Die F.D.P. ist bereit, erkann- te Fehler und Unzulänglichkeiten beim neuen Führer- scheinrecht durch notwendige Ausnahme- und Über- gangsregelungen zu korrigieren. Sie appelliert an die Mitglieder des Bundestages und an die Bundesregie- rung, sie dabei zu unterstützen. Heide Mattischeck (SPD): Die Fakten sind: Erstens. Die 2. EU-Führerscheinrichtlinie vom 29. Ju- li 1991, 91/439/EWG, schreibt die international übliche Einteilung der Fahrerlaubnisklassen verbindlich vor. Danach liegt die Grenze zwischen PKW- und LKW- Klasse nicht wie bisher nach deutschem Recht bei 7,5 Tonnen, sondern EU-einheitlich bei 3,5 Tonnen. Die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht ist am 1. Januar 1999 in Kraft getreten. Zweitens. Der Antrag der FDP zielt – wie wir bereits gehört haben – darauf ab, Ausnahmen für bestimmte Personengruppen sowie kleine und mittelständische Be- triebe zuzulassen, damit diese auch weiterhin mit dem „PKW-Führerschein“ der Klasse B Fahrzeuge bis zu 7,5 Tonnen zulässige Gesamtmasse fahren können. Das be- trifft Angehörige von freiwilligen Feuerwehren, techni- schen Hilfsdiensten, Kommunen. Ein ähnlicher Antrag des Landes Hessen ist im Verkehrsausschuss des Bun- desrates wegen zweifelhafter Vereinbarung mit EU- Recht abgelehnt worden, und zwar 1:13:2. Die Bundes- regierung ist aber um Prüfung einer entsprechenden Re- gelung gebeten worden. Zur Historie. Die nationale Umsetzung war für 1996 vorgesehen. Aber erst Ende 1997 wurde die Umsetzung im Rahmen eines Artikelgesetzes in zweiter und dritter Lesung im Bundestag auf den Weg gebracht. Dabei ist es hilfreich, im Protokoll über die Debatte im Plenum am 14. November 1997 nachzulesen. Horst Friedrich sagte am 14. November 1997: Im Hinblick auf die Zweite EU-Führerscheinricht- linie wird nämlich einiges verändert. Es gibt zum einen eine Neubenennung der Führerscheinklassen. ... Darüber hinaus wird – das ist wesentlich unter dem Aspekt der Sicherheit zu sehen ... – ein neuer Anhängerführerschein eingeführt. Es wird der Un- terschied zwischen PKW und LKW deutlich ge- macht. Bisher war es ja möglich, mit einem Führer- schein der Klasse 3, den man auf einem Kleinwa- gen gemacht hat, einen LKW mit einem Gesamt- gewicht bis zu 7,5 Tonnen plus Anhänger zu fah- ren. 7816 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 (A) (B) (C) (D) Und der Kollege Wissmann, damaliger Bundesver- kehrsminister, sagte: ... in einem gemeinsamen Europa brauchen wir ein- heitliche Bedingungen beim Erwerb und bei der gegenseitigen Anerkennung der Fahrerlaubnis. Nun zur Forderung der F.D.P.-Fraktion. Die Forde- rung der F.D.P.-Fraktion, bestimmten Personenkreisen mit der Fahrerlaubnisklasse B auch weiterhin das Fahren von 7,5 Tonnern zu erlauben, ist EU-rechtswidrig. Das müssten Sie eigentlich wissen. Denn die EU- Führerscheinrichtlinie sieht keine generelle Abweichung von den vorgesehenen Klasseneinteilungen vor. Ich meine: Die Forderungen nach einer Übergangsre- gelung sind nicht stichhaltig. Die EU-Richtlinie ist am 24. August 1991 veröffentlicht worden. Die nationale Umsetzung ist erst zum 1. Januar 1999 erfolgt – obwohl die EU-Richtlinie eine Umsetzung bis zum 1. Juli 1996 vorsah –, sodass sich alle Beteiligten über einen langen Zeitraum auf die neue Regelung einstellen konnten. Im Übrigen ist in der amtlichen Begründung zur Fahrerlaubnisverordnung, FeV, ausdrücklich auf die er- höhten finanziellen Aufwendungen für die Gemeinden, Feuerwehren, Hilfsdienste, Wirtschaft sowie Bürgerin- nen und Bürger aufgrund der neuen Klasseneinteilung hingewiesen worden. Kein Wort über Mehrkosten, künf- tige Personalprobleme etc. in der damaligen Debatte, kein Antrag seitens der F.D.P. für den Mittelstand, für gemeinnützige Hilfsorganisationen, für die freiwillige Feuerwehr. Darüber hinaus wurden Bewerbern, die bis zum 31. Dezember 1998 den Antrag auf Erteilung der Fahrer- laubnis gestellt hatten, bis zu diesem Tag das geltende Mindestalter erreicht hatten und bis zum 30. Juni 1999 die Fahrerlaubnisprüfung bestanden hatten, die Fahrer- laubnis unter den bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Voraussetzungen erteilt. National sind weit gehende Besitzstandsvorschriften erlassen worden, sodass es auch weiterhin möglich ist, mit einem bis zum 31. Dezember 1998 erworbenen Füh- rerschein der früheren Klasse 3 Fahrzeuge bis zu einer zulässigen Gesamtmasse von 7,5 Tonnen zu führen, vor- ausgesetzt, sie tauschen rechtzeitig bis zum 31. Dezem- ber 2000 ihren alten Führerschein in einen neuen EU- Führerschein um. Wir alle wissen um die aufopferungsvolle und unver- zichtbare Aufgabe der freiwilligen Feuerwehren und der technischen Hilfsdienste. Es ist aber nicht nachvollzieh- bar, dass gerade für Einsätze unter erschwerten Bedin- gungen geringere Sicherheitsanforderungen gelten sol- len als anderorts. Den Städten und Kommunen sind die Ausrüstungen ihrer freiwilligen Feuerwehr immer ein wichtiges Anlie- gen. Sie erhalten immer – das weiß ich aus langer kom- munalpolitischer Erfahrung – jede nur mögliche Unter- stützung. Es geht um die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger. Da wird der zusätzliche Aufwand gewiss auch akzeptiert werden. Und die betroffenen jungen Men- schen werden in die Lage versetzt, als kleinen Ausgleich für ihren verantwortungsvollen Einsatz einen „richtigen“ LKW-Führerschein zu erwerben. Um noch einmal den Kollegen Friedrich zu zitieren: Das alles dient der Verkehrssicherheit und nichts ande- rem. Dem ist nichts hinzuzufügen. Wo er Recht hat, hat er Recht. Eduard Lintner (CDU/CSU): Mit ihrer Anfrage von 16. Dezember 1999 hat die F.D.P. Probleme aufge- griffen, die auch die zuständige Arbeitsgruppe der CDU/CSU bereits im Herbst letzten Jahres beschäftigt haben, nämlich Folgeprobleme nach der Umsetzung der EU-Führerscheinrichtlinie in nationales Recht zum 1. Januar 1999. Seither wird auch in der Bundesrepublik Deutschland die international übliche Einteilung der Fahrerlaubnisklassen praktiziert. Die Grenze zwischen PKW und LKW liegt damit jetzt bei 3,5 Tonnen Gesamtgewicht und nicht mehr – wie bisher – bei 7,5 Tonnen. Dafür gibt es nun die neue Führerscheinklasse C 1. Wer also ein Fahrzeug mit einem Gesamtgewicht zwischen 3,5 und 7,5 Tonnen fahren will, muss seit 1. Januar auch eine Fahrerlaubnis C 1 erwerben. Das schafft Probleme vor allem in jenen Bereichen, in denen vor allem junge Menschen in für die gesamte Gemeinschaft wichtigen Hilfsdiensten, Katastrophenschutzeinrichtungen und Wohltätigkeits- organisationen, zum Beispiel den Feuerwehren, ehren- amtlich Dienst tun. Dort sollen sie mit vorhandenen LKWs bis zu 7,5 Tonnen fahren, was seit 1. Januar 1999 eben einen eigenen Führerschein erfordert. Einen solchen brauchen sie in aller Regel nicht im privaten Bereich, sodass sie meistens nicht bereit sind, die Kosten für diese zusätzliche Prüfung selbst zu tragen. Aber auch die Hilfsorganisationen, wie Rotes Kreuz, THW oder die vielen freiwilligen Feuerwehren, haben keine gefüllten Kassen, aus denen sie die Kosten für ei- ne solche Prüfung ersetzen könnten. Da aber das Enga- gement vor allem auch jüngerer Menschen für diese Art Gemeinwohl höchst wünschenswert, ja unverzichtbar ist, ist es notwendig, einen gangbaren Ausweg aus dieser Misere zu schaffen. Leider gibt es die an sich vernünftigste Regelung nicht, nämlich einfach eine Ausnahme von der Regel zu machen. Die Richtlinie sieht keine Ausnahmen vor, das heißt, auch die Fahrerinnen und Fahrer in solchen Orga- nisationen brauchen diese besondere Erlaubnis. Da die Bundesregierung, laut ihrer Antwort auf eine Frage des Kollegen Dr. Meister, es ablehnt, einen so ge- nannten „Feuerwehrführerschein“ einzuführen – wie Ös- terreich – und auch sonstige abweichende Sonderrege- lungen nicht möglich sind, weil sie die EU-Richtlinie nicht zulässt, bleibt uns eigentlich nur noch der Weg, in den betroffenen Diensten selbst eine Möglichkeit zum Erwerb der Führerscheinklasse C 1 zu schaffen. Zum Beispiel dürfte es für die Feuerwehren kein unüberwind- liches Problem sein, entsprechende Führerscheinausbil- dungen zu organisieren und eine ordnungsgemäße Prü- fung durchzuführen. Gleiches gilt für die Katastrophen- schutz- und Sanitätsorganisationen. Gegebenenfalls Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7817 (A) (B) (C) (D) könnten sich Feuerwehren und diese Organisationen zu- sammentun, um gemeinsam eine solche Möglichkeit zu schaffen. Die Tatsache, dass die Führerscheinrichtlinie selbst keine Ausnahmen vorsieht, sollte aber auch die Bundesregierung nicht davon abhalten, solche Wege zu prüfen und gegebenenfalls zu beschreiten. Dabei sollte genau beobachtet werden, welche Schritte die EU im Falle der österreichischen Sonderregelung unternimmt. Ebenfalls bedenkenswert sind die Probleme, die durch die Neuregelung bei kleineren und mittleren Fir- men entstehen. Auch dort kann es durch die jetzt zusätz- lich anfallenden Kosten für die Ablegung einer Prüfung der Führerscheinkategorie C 1 zu ernst zu nehmenden, neuen Belastungen kommen, zumal es viele Betriebe geben dürfte, die speziell LKWs zwischen 3,5 und 7,5 Tonnen einsetzen. Ähnliches gilt für den Bereich der Landwirtschaft. Dort sind alleine 675 000 Zugmaschinen vorhanden, die künftig mit neuen Führerscheinen der Klassen T und L gefahren werden müssen. Auch da ist es denkbar, dass es zu Kostenmehrungen kommt, die von den Betrieben nicht einfach weggesteckt werden können. In beiden Fällen ist es richtig, sich zunächst einen genauen Über- blick über die Höhe und den Umfang der entstehenden Belastungen zu verschaffen, bevor konkrete Schritte zur konkreten Entlastung überlegt und vorgenommen wer- den. Da die Bundesregierung ohnehin die Hausaufgabe hat, dem Deutschen Bundestag darüber einen Bericht bis 30. Juni 2000 zusammen mit Vorschlägen über entlas- tende Übergangsregelungen vorzulegen, kann ich es heute bei der Erinnerung an diese Pflicht belassen und hoffen, dass die Bundesregierung den Schaden dadurch möglichst klein hält, dass sie den Termin ernst nimmt und uns rechtzeitig die erbetenen Vorschläge vorlegt. Es soll nicht verkannt werden, dass trotz dieser Probleme ein einheitliches Führerscheinrecht innerhalb der EU ein echter Fortschritt ist und viele alltägliche konkrete Prob- leme beim Fahren mit Kraftfahrzeugen in anderen EU- Ländern damit bereinigt werden. Das ist auch der Grund dafür, dass die Abwägung der Vor- und Nachteile einer europäischen Regelung zugunsten der europaweit gel- tenden Vorschriften ausgeht. Wenn es noch gelingt, die geschilderten Probleme zu bereinigen, zumindest aber zu reduzieren, dann wäre die neue europaweite Regelung noch leichter zu rechtferti- gen, als dies jetzt der Fall ist. Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „Tödliche Verletzungen erlitt eine 37- jährige Radfahrerin am Montagmittag, als sie in Köln- Marienburg von einem im Einsatz befindlichen Ret- tungsfahrzeug der Feuerwehr angefahren wurde“, hieß es am vergangenen Dienstag nüchtern in einer Presseer- klärung der Polizei. Zwar ist die Schuldfrage bislang ungeklärt, aber es ist festzustellen, dass Rettungsfahr- zeuge im Einsatz leider immer wieder in schwere Unfäl- le verwickelt sind, in Köln allein 300-mal im Jahr – Grund genug für den TÜV, erstmals ein Fahrertraining für Führer von Rettungsfahrzeugen anzubieten. Der tragische Unfall zeigt: Das Führen von größeren Fahrzeugen – gerade im Einsatz zur Rettung von Leben, zum Löschen von Bränden, in Katastrophensituationen – erfordert enorme Fähigkeiten der helfenden Fahrzeug- führer. Sie sind einer besonderen Stresssituation ausge- setzt und dürfen bei aller Hektik nie die Übersicht ver- lieren. Genau hier, bei der Schulung und dem Training der Fahrzeugführer bestehen Risikominderungspotentia- le. Das hat der TÜV erkannt und will darum handeln, indem er Fahrertraining anbieten will. Das hat auch die EU-Führerscheinrichtlinie vom 29. Juli 1991 im Sinn, wenn sie die Grenze zwischen der PKW-Klasse und der LKW-Klasse bei 3,5 Tonnen fest- setzt. Denn mit der Größe des Fahrzeuges steigen die Anforderungen an die Fahrzeuglenker hinsichtlich Um- sichtigkeit, Reaktionsvermögen und fahrerischem Kön- nen. Das kann nicht ernsthaft bestritten werden. Bei der Richtlinie von 1991 geht es um ein Stück Verkehrssicherheit bei einem immer höher werdenden Verkehrsaufkommen. Wer große Fahrzeuge von über 3,5 Tonnen fahren will, muss besondere Fähigkeiten nachweisen. Dies ist sinnvoll und wird von Ihnen, ver- ehrte Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., ja auch nicht bestritten. Warum denn aber Ihre Forderung nach Ausnahmen von dieser Regelung, die helfen soll, schreckliche Unfälle wie den eingangs von mir geschil- derten in Köln zu vermeiden? „Das Rettungswesen und die Hilfsdienste in Deutsch- land werden durch die neue Führerscheinregelung be- hindert, belastet oder gar in ihrem Bestand gefährdet“, behaupten Sie in dem letzten Satz Ihres Antrags. Sie fordern eine Ausnahmeregelung, damit „neu dort tätiges Personal für die Dauer der Tätigkeit die Erlaubnis erhält, die betroffenen Fahrzeuge auch mit einem Führerschein der Klasse B führen zu dürfen“. Wieso für neu dort täti- ges Personal? Für Inhaber von älteren deutschen Fahrer- laubnissen der Klasse III gilt auch unter europäischem Recht, dass dieser Personenkreis – der in der Vergan- genheit ja schon Erfahrungen mit dem Führen größerer Fahrzeuge bis 7,5 Tonnen erworben hat –, das auch wei- terhin tun darf. Sonderrechte also nur für unerfahrene Fahrzeuglenker? Lieber doch wohl nicht! „Für die Dauer der Tätigkeit“ bedeutet auch: Sie ver- langen allen Ernstes, dass Personen während ihrer zeiti- gen Tätigkeit unter den oben erwähnten Stressanforde- rungen, die ein Einsatz im Ernstfall mit sich bringt, grö- ßere Fahrzeuge lenken dürfen als außerhalb ihres Diens- tes, und dies dann auch noch unter Inanspruchnahme der Sonderrechte nach der StVO. Nach dem Motto: „Mor- gens mit Blaulicht und Vollgas auf dem 7,5-Tonner durch die Innenstadt, und abends muss der Umzug mit dem Kleinbus unternommen werden“? Außerdem ist es nicht zu vermitteln, wieso an einen Rettungsfahrer, der Sonderrechte in Anspruch nehmen darf, geringere An- forderungen zu stellen sind als an einen Brummi-Fahrer, der mit langer Erfahrung Güter transportiert. Sie sehen, Ihr Antrag ist in sich widersprüchlich. Der Hinweis auf das in seinem Bestand angeblich gefährdete Rettungswesen vermag diesen Widerspruch nicht aufzu- lösen. Die EU-Richtlinie datiert vom 24. Septem- 7818 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 (A) (B) (C) (D) ber 1991. Alle Beteiligten – auch die kleinste freiwillige Feuerwehr – konnten sich lange Zeit auf die Verände- rung einstellen. Auch mutet Ihre persönliche Besorgnis etwas merkwürdig an, weil die Umsetzung der Richtli- nie durch die FahrerlaubnisVO vom 18. August 1998 bekanntlich in Ihre Regierungszeit fällt. Offenbar haben Sie damals die Problemlage noch etwas realer gesehen. Den Rettungsdiensten hohen Dank für ihren selbstlo- sen Einsatz beim „Löschen – Retten – Bergen“ – aber mit Sicherheit! Dr. Winfried Wolf (PDS): Der F.D.P.-Antrag scheint ein reales Problem aufzuzeigen und plausible Lösungswege zu skizzieren. Es bleibt der Beratung zu den Ausschüssen vorbehal- ten, den Antrag daraufhin zu untersuchen, inwieweit er Fußangeln enthält, inwieweit der Teufel im Detail steckt und inwieweit er mit dem sinnvollen Ziel einer EU- Harmonisierung übereinstimmt. Insofern sollte auch der Ausschuss für die Angele- genheiten der EU mit der Beratung des Antrags befasst sein. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Ände- rung des Weingesetzes (Zusatztagesordnungs- punkt 9) Gustav Herzog (SPD): Diese Debatte, die uns die F.D.P. heute Abend beschert hat, ist eine Debatte der Art, wo man sich fragen muss: Was nützt es der deut- schen Weinwirtschaft, wenn wir zu dieser Zeit, in der man besser Wein trinken würde – und zwar am besten pfälzischen –, über Wein reden, statt Wein zu trinken? Deshalb stellt sich die Frage, warum bei einer im Grunde unstrittigen Sache zwischen Bund, Ländern und Weinbauverbänden wie der punktgenauen Umsetzung der Beschlüsse der Agenda 2000 in nationales Recht ei- ne Debatte bei der 1. Lesung beantragt worden ist. Einen Grund kann ich akzeptieren: Die Situation vie- ler Winzer, insbesondere rheinland-pfälzischer Winzer an der Mosel, ist schwierig. Darauf hinzuweisen ist rich- tig. Diese Situation hat aber originär nichts mit der neuen EU-Verordnung und der anstehenden Umsetzung in nationales Recht zu tun. Dabei will ich daran erinnern, dass u. a. Rheinland- Pfalz eine Verschiebung der Hektarhöchstertragsrege- lung auf 2002 erreicht hat. Wir alle wissen, dass bei einer großen Novellierung des Weinrechtes fast nichts unumstritten sein wird. Ich war zwar bei der letzten Runde in der 13. Wahl- periode noch nicht dabei, habe mir aber eindrucksvoll erzählen lassen, was für eine mühsame Sache das war. Beim Wein gilt kein gängiges Freund-Feind-Bild, es werden nur noch Einzelinteressen vertreten. Das eine Land gegen das andere, ja sogar benachbarte Weinbau- regionen haben unterschiedliche Interessen, die Wein- bauverbände geben widersprüchliche Stellungnahmen ab. Niemand konnte also bei der Umsetzung des EU- Rechtes weder von der Bundesregierung noch von uns erwarten, dass wir hier unter Zeitdruck heiße Eisen an- packen und den deutschen Winzern damit circa 18 Mil- lionen DM Fördergelder durch die Lappen gehen lassen. Wir werden noch in dieser Legislaturperiode die um- fassende Novelle des Weinrechtes in Gang setzen. Dazu wird es umfangreiche Anhörungen aller Beteiligten ge- ben müssen und ich muss kein Prophet sein, um voraus- zusagen, dass es ein zähes und langwieriges Ringen zwi- schen den Beteiligten werden wird. Die Politik kann sich hier eine schrecklich blutige Nase holen, wenn wir uns vor den regionalen Karren spannen lassen und wenn wir mit einem absolut schädli- chen Kurzzeitgedächtnis ans Werk gehen. Über allem, was wir demnächst neu ins Weingesetz schreiben, sollte der Leitsatz stehen: Qualität geht vor Masse! Alle Forderungen, die dem Qualitätsprinzip direkt entgegen stehen, egal an welcher Stelle, werden bei mir und hoffentlich bei Ihnen allen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ins Leere laufen. Die Wettbewerbssituation der deutschen Weinwirt- schaft erfordert dringend Reformen im Bereich der Strukturen: Erzeugungsmengen, Qualitätskriterien, und der Produktpräsentation; zu dem Letzteren möchte ich auf die von allen Beteiligten unbedingt geforderte Re- form des Bezeichungsrechtes eingehen. Unstrittig ist die Notwendigkeit, das viel zu komplizierte deutsche Sys- tem weiterzuentwickeln. Handel und Konsumenten sind vor allem im Ausland von der Vielfalt der möglichen Angaben auf einer deutschen Weinflasche einfach über- fordert, sehen wir von den wenigen Wein-Enthusiasten ab. Richtig klar geworden ist das durch das immer weiter steigende Weinangebot anderer Länder. Da ist alles viel simpler, unter einem Cabernet Sauvignon kann sich der normale Verbraucher sicher ein konkretes Geschmacks- und Qualitätsangebot vorstellen. Und wie sieht es mit einem „1998er Zeller Schnep- fenpflug vom Zellertal, Portugieser Rotwein trocken, Qualitätswein bestimmtes Anbaugebiet“ aus? Ein guter Wein, beschrieben mit einem Wortungetüm. Da ist aber auch die ganz wichtige Frage der Höchst- erträge, Übermengen und Überlagerung. Die Zahl der Vorschläge ist ebenso riesig wie die Bandbreite. Von Status quo, über Marktspaltung bis absolute Überlage- rungsgrenzen gehen die Vorschläge. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7819 (A) (B) (C) (D) Da ist nicht zuletzt die Übertragung von Bepflan- zungsrechten aus einem Weinbaugebiet in ein anderes sowie von Steillagen auf Flachlagen und Erleichterun- gen bei der Beregnung. Die Kernfrage lautet wieder: dient das der Qualität und der Stabilisierung der Erträ- ge? Die Antwort ist mit einiger Sicherheit zumeist „Nein“. Mein Angebot an die Kolleginnen und Kollegen: Lassen Sie uns gemeinsam den Diskussionsprozess in den Fachverbänden begleiten und zu einem vernünftigen Ergebnis in dieser Wahlperiode kommen. Wir würden alle gut daran tun, die Botschaft mög- lichst bald und breit zu streuen: „Mit uns, den Parlamen- tariern, wird es nur Veränderungen des Weingesetzes geben, die der Weinqualität und der Struktur der Wein- vermarktung dienen“. Wir würden uns damit viel Arbeit und Ärger ersparen und dem deutschen Wein einen großen Dienst erweisen. Heidi Wright (SPD): Schön, dass wir heute als letz- ten Tagesordnungspunkt die Änderung des Weingeset- zes behandeln. Das ist ein guter Abschluss zum Tag- werk; denn das schafft eine gute Voraussetzung für un- sere Winzerinnen und Winzer in den Weinregionen un- seres Landes. Die heute zu beschließende Änderung des Weinge- setzes ist notwendig, um mit Wirkung zum 1. August 2000 die vorherige gemeinsame Marktorganisation für Wein abzulösen. Die Voraussetzungen hierfür wurden mit den Beschlüssen der Agenda 2000 geschaffen, die inzwischen mit Hinblick auf die WTO-Verhandlungen allgemein als positiv bewertet wurden, insbesondere aber im Bereich Wein von allem Anfang an positiv auf- genommen wurden. Das ging beim Wein schnell und zügig. Es gilt, hier auch den Deutschen Weinbauverband zu loben, der diese positive Beschlussfassung in die einzel- nen Mitgliedsverbände getragen hat und dies sicherlich auch weiterhin tun wird. Die deutschen Interessen wur- den bei den Verhandlungen zur Weinmarktreform in Brüssel weitgehend berücksichtigt. Durch die Reform wird sich die europäische Weinbauproduktion künftig stärker am Markt auszurichten haben und ihre internati- onale Wettbewerbsfähigkeit verbessern können. Das heißt, auch für den deutschen Wein wird es Produkti- onsverbesserungen geben, die stärker auf eine nachhalti- ge und ertragreiche Marktteilnahme abzustimmen sind. „Ertragreich“ meine ich hier nicht in Bezug auf die quantitativen Erträge, sondern insbesondere auf den qua- litativen Ertrag und auch den finanziellen Ertrag. Mit viel Wein läßt sich nicht unbedingt viel Ertrag machen. Deshalb sind mir auch Bemühungen von Kollegen im Ausschuss, die den Weinseen und damit einer fatalen Preisentwicklung nicht zu jeder Zeit entgegenwirken, nicht verständlich. Was kurzfristig nützt, ist mittelfristig äußerst schädlich. Die neue europäische Weinmarktordnung verfolgt – und sie muß es verfolgen – doch gerade das Ziel, das Marktgleichgewicht und somit auch ein Preisgleichge- wicht zu erhalten. Diese europäischen Bemühungen dür- fen dann auch nicht regional – unter Anführung aller möglichen besonderen Umstände – aufgeweicht werden. Dies werden wir mit aller Deutlichkeit in einer weiteren in diesem Jahr anzugehenden größeren Novelle des Weingesetzes deutlich machen müssen, wenn es um die Hektarhöchstertragsregelungen und um die Überlage- rungsmöglichkeiten geht. Lassen Sie mich zu den mit dieser Gesetzesänderung anstehenden Verbesserungen und Veränderungen für unsere Weinbauregionen kurz sprechen. Zunächst ein- mal zu dem Thema der Überproduktion. Hier wären die vereinfachten Destillationsmöglichkeiten und die neu geschaffene Krisendestillation zu nennen, um Marktstö- rungen zu vermeiden. Wir kommen weg von der obliga- torischen Destillation und haben somit mehr Spielraum, aber auch mehr Verantwortung. Wir kommen europä- isch weg von der Produktion für die Destillation und hin zur Destillation als einem Instrument zur Marktanpas- sung. Ganz klar: Destillation rentiert sich zwar nicht, Nichtdestillation im Falle der Krise aber schadet dem Markt. Darüber muss man sich auch in den deutschen Weinbauregionen bewusst werden. Wirkliche Verbesserungen erreichen wir mit der Etablierung von Umstrukturierungs- und Umstellungs- maßnahmen. Hier investiert die EU wirklich in die sinn- volle und nachhaltige Verbesserung der europäischen Weinbauregionen. Unsere deutschen Weinbauregionen werden in der Marktreflexion dieses Instrument sicher- lich sinnvoll nutzen, und zwar indem die Bewirtschaf- tung der Steillagen verbessert, die Sortenumstellung be- trieben und die Wirtschaftlichkeit im Wingert vorange- bracht wird. Um den europäischen Wein – wovon allerdings nur 3 Prozent Rebflächenanteil in Deutschland liegt – ge- genüber den amerikanischen, australischen, afrikani- schen Mitbewerbern wettbewerbsfester zu machen, wer- den für den Bereich der Umstrukturierung 2001 380 Millionen Euro und ansteigend bis zum Jahr 2005 443 Millionen Euro zur Verfügung stehen. Insgesamt wendet die EU für den Sektor Wein knapp unter 1,3 Milliarden Euro auf. Wie hoch der deutsche Anteil hier sein kann, lässt sich nicht genau festlegen. Vorplanungsberechnun- gen gehen allein bei den Umstellungshilfen von 15 Millionen in 2001 bis circa 18 Millionen in 2005, also in fünf Jahren mehr als 80 Millionen DM. Daraus das Bes- te zu machen wird verantwortliche Umsetzungsaufgabe in den Weinbauregionen sein. Ich denke, die Bundesregierung und Landwirt- schaftsminister Funke haben bei den Agenda- Verhandlungen auch den deutschen Weinbau im Sinne gehabt und gute Beschlüsse erwirkt. Die heutige Vorla- ge des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Weingeset- zes ist der freudige Vollzug und die Schaffung der Grundlage für nationale und föderale Umsetzung. Ihnen kann ich viele schöne Weinabende und Exkur- sionen durch die Vielfältigkeit der deutschen Winzer- und Kellerwirtschaft wünschen – im besten Sinne zu Ih- rem Wohle und zum Wohle des deutschen Weins. 7820 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 (A) (B) (C) (D) Norbert Schindler (CDU/CSU):Heute steigen wir zum ersten Mal in die parlamentarische Beratung zur Änderung des Weingesetzes ein und ich möchte deshalb zu diesem gesamten Thema nur das Allernotwendigste ansprechen. Dieser Entwurf geht nicht weit genug! Über die ein- zelnen Punkte, die durch die Agenda zwingend notwen- dig geworden und vorgeschrieben worden sind – die Angleichung des deutschen Rechts an das EU-Recht –, gibt es, glaube ich, fraktionsübergreifend keine Mei- nungsverschiedenheiten. Ich finde es gut, daß derzeit die Diskussion wegen der Übertragung von Rebpflanzen- rechten bei Steil- und Flachlagen noch nicht abgeschlos- sen ist. Auch der Punkt Beregnung muß ebenfalls noch mit den Weinbauverbänden und den Bundesländern ab- gestimmt werden, um ein einheitliches Meinungsbild zu erhalten. Die Zurückhaltung in diesen beiden Themen ist also auch für uns, die Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion, mehr als verständlich. Aber in einem anderen Punkt, dem Hektarhöchstertrag, besteht noch großer Bera- tungsbedarf. Hier sollte sowohl im Ausschuss wie auch in einem besonders angesetzten Hearing allen Beteilig- ten ein Forum zum Meinungsaustausch geboten werden. Eine entsprechende Anhörung im Ausschuss ELF forde- re ich hiermit ausdrücklich ein. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist offen für eine zusätzliche Gesamthektarertragsstufe mit Flächen- verbrauch für Industrieverarbeitungswein; dieser Begriff ist sicherlich im Moment noch ein Hilfskonstrukt. Diese Weine dürfen aber nicht in Konkurrenz zu den Quali- tätsweinvermarktungswegen stehen. Ich greife aber ein- fach eine Zahl, um Ihnen dies an einem Beispiel zu ver- deutlichen: 20 000 Liter Vermarktungskontingent für Essiggrundweine und Traubensaft aus deutscher Her- kunft sollten zugelassen werden. Damit würden wir in den möglichen Spitzenjahren ein zusätzliches Ventil schaffen, um bestimmte Mengen konkurrenzlos am normalen Weinweg vorbei auf einen anderen Absatz- markt zu bringen. Deutscher Traubensaft aus solchen klassischen Übermengen bis hin zum Hengstenberg- Essig würde dann natürlich nur zu Geringstpreisen, aber dafür in Deutschland mit entsprechender Herkunft pro- duziert werden können. Dies sollte jedoch noch en detail abgestimmt werden. Einen weiteren Punkt stelle ich hier ausdrücklich nur zur Diskussion: Sollten solche namenlosen Tafelweine als Ersatz für ausländische Sektgrundweine auch Ver- wendung finden? Wir haben dazu noch keine abge- schlossene Meinung und ich hoffe, Sie, meine Damen und Herren der Koalition, sind hier auch noch nicht festgelegt. Die Beratungen der nächsten Wochen sollten auch hierüber Aufschluß geben. Der oben angeführte Vorschlag wäre absolut neu und beträfe uns, den Bundesgesetzgeber. Dies würde den Ländern die Möglichkeit geben, diese Mehrmengen pro Hektar in einen bestimmten Vermarktungsweg zu kana- lisieren. Ein anderes Thema möchte ich noch kurz anschlie- ßen: die wahlweise Ausweisung von Tafelweinbetrieben – natürlich auf freiwilliger Basis – und die Aufnahme von neuen Begriffsbezeichnungen wie „Selektion“ und „Klassik“. Wenn die Wirtschaft überzeugt ist, mit diesen Begriffen eine neue positive Vermarktungsschiene zu fahren, sollte man ihr als Gesetzgeber auch die Chance dazu geben. Die Ausweisung von Tafelweinbetrieben, das heißt der Wahlmöglichkeit der Betriebe, sich zum Beispiel fünf Jahre lang auf die Produktion von Tafelwein festzu- legen, unterliegt dabei aber ausschließlich – und dies muß hier deutlich gesagt werden – dem EU-Regime. Diese Möglichkeit sollte doch auch in der laufenden Be- ratung mit berücksichtigt werden. Ich rege diese beiden Punkte ausdrücklich nur an, damit hier nicht nur Brüssel pflichtgemäß gehuldigt und alles abgenickt wird. Eine Antwort für den Herbst 2000 muß jetzt schon mit auf den Weg gegeben werden, da- mit wir bei den oben genannten Punkten keine Zeit ver- lieren. Wir, die Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion, sind of- fen für eine Diskussion der unterschiedlichen Stand- punkte. Wir sollten daher mit allen Beteiligten konse- quent und konstruktiv zusammenarbeiten, um diese Ge- setzesvorlage mit einem guten Ergebnis in den nächsten Monaten abschließen zu können. Ich bin mir sicher, daß sich auch die Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün meinen Ausführungen anschließen werden. Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit der heute vorgelegten Novelle des Weingesetzes wird die notwendige Anpassung an die Agenda 2000 vorge- nommen. Die neue EG-Weinmarktordnung über die ge- meinsame Marktorganisation für Wein tritt ab dem 1. August 2000 in Kraft. Wir haben den Gesetzesent- wurf so rechtzeitig eingebracht, dass die Länder in der Lage sind, die auf das Weingesetz gestützten Landes- verordnungen fristgerecht zu erlassen. Damit wird die Diskussion um die Zukunft des Weinbaus keinesfalls beendet sein. Durch die Umsetzung der Agenda 2000 wird die eu- ropäische Weinproduktion künftig stärker am Markt ausgerichtet und ihre internationale Wettbewerbsfähig- keit verbessert. Die Einführung von Maßnahmen zu Umstellung und Umstrukturierung von Rebflächen dient der Anpassung der Erzeugung an die Marktnachfrage. Die an der binneneuropäischen Nachfrage vorbeige- hende Überproduktion an Wein wurde in den zurücklie- genden Jahrzehnten durch immer kostenintensivere, haushaltsbelastende und bürokratieaufwendige Interven- tionssysteme der EU gestützt. Die Weinproduktion gan- zer Regionen Europas wurde auf die Verlässlichkeit staatlicher Interventionsmaßnahmen hin ausgerichtet. Auch in Deutschland wurde in der Vergangenheit in Jahren ausufernder Erntemengen – 1982-83, 1992 – durch eine Abstufung von Qualitätsweinen das europäi- sche Interventionssystem zur Überschussbeseitigung in Anspruch genommen und die Teilnahme an Interventi- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7821 (A) (B) (C) (D) onsmaßnahmen von einzelnen Bundesländern finanziell und organisatorisch unterstützt. Gleichzeitig ist festzustellen, dass unterschiedliche wirtschaftliche, soziale und umweltbezogene Rahmen- bedingungen für die Weinwirtschaft in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten ungleiche Wettbewerbsbedingungen geschaffen haben. Der Preisverfall im Herbst hat erneut die Strukturschwäche des deutschen Erzeugermarktes offen gelegt. Damit werden die Bemühungen der Win- zer, das Image des deutschen Weins zu verbessern, kon- terkariert. Verschärft wird diese Situation durch einen zunehmenden internationalen Wettbewerb, insbesondere durch verstärkte Weinimporte aus Überseeländern wie Kalifornien, Neuseeland, Australien, Südafrika und Südamerika. Die geplante EU-Osterweiterung stellt eine weitere Herausforderung in dieser Hinsicht dar. Die vorhandenen Probleme sind nicht den Winzern zuzuschreiben. Es war die Politik, die mit ihren bürokra- tischen Anforderungen und Interventionsregelungen die betriebswirtschaftlichen Rahmen gesetzt hat. Sehen Sie sich die Situation an der Mosel an. Ende des Jahres 1999 lagern dort 30 Millionen Liter Wein aus den letzten Jah- ren, gleichzeitig kauft eine der größten Kellereien 50 Millionen Liter so genannten „Verarbeitungswein“ (für weinhaltige Getränke) aus Italien ein. Wie absurd! Die heutige Umsetzung der EU-Beschlüsse schafft nun zunächst eine Basis für ein stabileres Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Gemein- schaftsmarkt und eröffnet den Erzeugern Möglichkeiten, neue Märkte zu erschließen. Durch von der EG finan- zierte Programme zur Umstrukturierung und Umstellung von Rebflächen – Sortenumstellung, Modernisierung der Produktionstechniken – soll eine bessere Anpassung der Erzeugung an die Marktnachfrage bewirkt werden. Die Aufteilung der entsprechenden Mittel zwischen den Mitgliedsstaaten orientiert sich am Rebflächenanteil der jeweiligen Mitgliedstaaten an der Gesamtrebfläche; der Anteil Deutschlands beträgt circa 3 Prozent. Im Jahre 2003 und in der Folge alle drei Jahre soll der Rat auf der Basis eines Berichts der Kommission entscheiden, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die Marktlage weitere Neuanpflanzungen rechtfertigt. Die Verordnung regelt, dass bis zum Jahre 2003 Neu- anpflanzungsrechte in Höhe von insgesamt 2 Prozent der Gemeinschaftsrebfläche gewährt werden sollen. Davon werden 1,5 Prozent den Mitgliedsstaaten direkt zugeteilt – auf Deutschland entfallen dabei 1.534 ha – und 0,5 Prozent in eine EU-Reserve eingestellt. Der Rat behält die Kompetenz für den Erlass der we- sentlichen Vorschriften im Bereich der Etikettierung und der ökologischen Verfahren. Der Rat genehmigt – wie der Weinbauverband vorschlug – weiterhin die einzel- nen önologischen Verfahren, während die Kommission die Toleranzbereiche und Obergrenzen zunächst auf ih- rem derzeitigen Niveau festlegt. Die Grenzwerte für den Schwefeldioxidgehalt verbleiben jedoch in der Zustän- digkeit des Rates. Dazu gehören zudem die Grenzwerte für Sorbinsäure und Kaliumsorbat. Insgesamt ist diese Reform und die Umsetzung in dem vorliegenden Weingesetz ein Schritt zur Verbesse- rung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wein- wirtschaft. Mit dem Gesetz schaffen wir die Vorausset- zungen, dass die Winzerinnen und Winzer von Anfang an voll von den Begünstigungen der geänderten Wein- marktordnung profitieren können. Die Lösungen für die aktuellen Probleme zum Bei- spiel an der Mosel, die Fragen der Neuorientierung der Strukturpolitik über die Agenda 2000 hinaus, der Mo- dernisierung von Etiketten und Kennzeichnung müssen in einem zweiten Schritt nach einer breiten inhaltlichen Diskussion mit den Betroffenen und nach einer Anhö- rung zur Zukunft des Weinbaus in einer 2. Novelle des Weingesetzes angegangen werden. An dieser Stelle werden dann auch strittige Themen wie Beregnung, Übertragung von Pflanzenrechten, Mengenregulierung, Lagenbezeichnungen, Ausgleich von Flach- und Steilla- gen, Destillation, Vermarktung und Deutscher Wein- fonds diskutiert. Weitere Diskussionen und Reformen sind notwendig zur Sicherung der Zukunft des Weinbaus. 0,50 bis 0,60 DM an der Mosel oder in der Pfalz für Qualitäts- moste können keine Existenzsicherung sein. Wir als Bündnis 90/Die Grünen möchten uns besonders darauf konzentrieren, die Arbeitsplätze, Betriebe und die Kul- turlandschaft dadurch zu sichern, dass hohe Qualitäts- standards in der Erzeugung, Verarbeitung und einer dar- auf ausgelegten Vermarktung verankert werden, dass die Ertragsmengenbegrenzung durch ökologischen Weinbau verstärkt gefördert wird und dass Verbraucher und Verb- raucherinnen wieder vermehrt Gefallen am heimischen Wein mit seinen vielen wunderbaren Angeboten finden. Und dazu noch eines: Das Produkt „Wein“ lebt von sei- nen kulturellen, traditionellen und regionalen Bindun- gen, seiner speziellen Ausprägung durch die natürlichen Grundlagen und winzerisches Können. Das sind die ent- scheidenden Argumente im Wettbewerb. Das heißt auch: Die Landschaftszerstörung durch den unsinnigen Bau einer Hochmoselbrücke richtet sich gegen den Weinbau. Das müssen wir verhindern. Noch ein letztes Wort zur Weinbau-Forschung: Schon das Rahmenprogramm zur Bundesforschung der alten Bundesregierung und Landwirtschaftsminister Borchert haben das Institut in Bernkastel-Kues und seine Möglichkeiten zu eigenständiger Forschung erheblich geschwächt. Eine Stärkung des Standortes Siebeldingen mag nun sinnvoll sein, um die Weinbau-Forschung ins- gesamt zukunftsfähig zu machen. Wir setzen uns aber auf jeden Fall für die Fortsetzung der Steillagen- Forschung und den Erhalt der Arbeitsplätze an der Mo- sel ein. Das kann auch unter einem neuen Träger mög- lich sein. Marita Sehn (F.D.P): Der vorliegende Gesetzent- wurf der Fraktionen von SPD und Grünen ist aus unserer Sicht unterstützenswert: Einerseits wird die notwendige technische Umsetzung der EU-Weinmarktreform be- schleunigt; andererseits erhält die Sachdiskussion über die Übertragung von Wiederbepflanzungsrechten und Landesreserven sowie die Beregnungsbestimmungen die Zeit, die notwendig ist, um zusammen mit den Betroffe- 7822 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 (A) (B) (C) (D) nen die besten Lösungen zu finden und einen Konsens zu erreichen. Dies ist bei der EU-Weinmarktreform weitest gehend gelungen, auch wenn an der einen oder anderen Stelle noch Verbesserungen wünschenswert gewesen wären – etwa durch die Ausdehnung der Gültigkeitsfrist für Pflanzenrechte auf 15 Jahre. Unverzichtbar für den Konsens der Politik mit der Weinwirtschaft ist, dass sich die betroffenen Winzer und Weinbauverbände selber über die Rahmenbedingungen einig sind, unter denen sie produzieren und vermarkten wollen. Ich kann mich noch gut an die Schwierigkeiten erinnern, die bei der Weinrechtsnovelle 1994 eine Eini- gung lange verhindert haben. Auch jetzt habe ich nach dem Einbruch der Preise für Faßweine bei meinen vielen Gesprächen mit Betroffe- nen höchst unterschiedliche Signale empfangen – von Region zu Region, von Bundesland zu Bundesland. Die Reizworte lauten: Marktspaltung zwischen Qualitäts-, Tafel- und Ver- arbeitungsweinen, Anhebung der Mindestmostgewichte für QbA-Weine, Begrenzung der Überlagerung und Senkung der Hektarertragsmengen. Welche der genannten Maßnahmen den bestmögli- chen Schutz gegen einen erneuten Einbruch der Preise bietet, der leider nie ganz ausgeschlossen werden kann, werden wir intensiv vor Ort diskutieren müssen. Aber eines ist klar: Staatliche Marktinterventionen sollten auch in Zukunft nur das letzte Mittel sein, um in kritischen Situationen den Markt zu stabilisieren. Klar ist auch, dass an der Zuständigkeit der Bundesländer für den Qualitätsweinbereich nicht gerüttelt werden darf. Vor dem Genuss kommt die Erzeugung und vor der Erzeugung die Forschung. Aus diesem Grund kämpfen wir gegen die Schließung des Institutes für Pflanzen- schutz im Weinbau, das die Biologische Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft in Bernkastel-Kues unter- hält. Die dort vorhandene Expertise ist für den Weinbau, besonders den landschaftsprägenden Anbau in Steillagen überall in Deutschland, unverzichtbar und kann nicht durch eine Verlagerung des Institutes an den Standort Siebeldingen ersetzt werden. Nachdem die Entscheidung im Bundeslandwirtschaftsministerium schon gefallen war, hat die Bundesregierung auf unsere Initiative hin zugesichert, die Angelegenheit bis zum 29. Februar noch einmal zu überprüfen. Dies begrüßen wir ausdrücklich. „Der Wein steigt in das Gehirn, macht es sinnig, schnell und erfinderisch“, heißt es bei Shakespeare. Bei den anstehenden Beratungen über die Weinrechtsno- velle im Ausschuss wollen wir es aber so halten, erst schnell und erfinderisch zu sein und dann Wein zu trin- ken. Der hervorragende Jahrgang 1999 bietet dazu allen Anlass. Kersten Naumann (PDS): Mit dem zweiten Gesetz zur Änderung des Weingesetzes soll das nationale Recht an das neue Gemeinschaftsrecht der Weinmarktordnung angepasst werden. Die Agenda 2000 mit ihrer Zielstel- lung der weiteren Liberalisierung von Agrarmärkten und Harmonisierung im Binnenmarkt wirkt nunmehr auch für die deutschen Weinbauern. Die Abschaffung von 22 den Weinsektor betreffenden EG-Verordnungen ist sehr zu begrüßen. Aber nicht anders als auch mit den Ände- rungen der Marktordnungen für Milch, Rindfleisch und Getreide versuchen die Betroffenen nun zu retten, was zu retten ist. Erklärtes Ziel der Marktordnung ist zu- nächst die Schaffung eines stabileren Gleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Gemein- schaftsmarkt. Das ist angesichts der Produktion natürli- cher Güter mit erheblichen Schwankungen von Jahr zu Jahr und Region zu Region auf der Angebotsseite ziem- lich illusorisch. Die EU produziert zuviel Wein mit er- heblichen nationalen Unterschieden. Deshalb sollte die Weinmenge bereits dort gedrosselt werden, wo der Überschuss entsteht, und zwar in den Südländern. Es kann nicht Sinn der Sache sein, mit sehr viel zusätzli- cher Energie rektifiziertes Traubensaftkonzentrat, RKS, in den Südländern aus Überschuss herzustellen und da- mit regionale Marken in den Nordländern zu verschnei- den. Erstens gibt es nach Aussagen des Weinbauverban- des Saale/Unstrut mikrobiologische Bedenklichkeiten und zweitens ist es bewährte Tradition, Saccharose zur Alkoholerhöhung im Wein einzusetzen. Zudem hat es den Effekt, die Zuckerrübenproduzenten zu unterstützen und damit Produkte aus regionalen Kreisläufen zu ver- werten. Angebot und Nachfrage deutscher Produktion halten sich in Deutschland mit einigen Schwankungen die Waage, mit einer Ausnahme – das sei hier nicht ohne Stolz erwähnt –: Die Nachfrage nach Saale/Unstrut und Meißner Markenweinen kann bei weitem nicht gedeckt werden. Sie ist immer noch bzw. wieder Mangelware. Ihre Nische bleibt mit Sicherheit beständig, denn auch hier wird die ostdeutsche Tradition von den neuen Bundesländern – mittlerweile auch zunehmend von den eingeflogenen Beamten – anerkannt. Sicherlich könnte auch hier im Marketingbereich, insbesondere für eine kostendeckende Produktion und für die Sicherung von Qualitätsweinen sowie regionalen Marken, etwas gegen das Überschwemmen mit billigeren Importen getan werden. Immerhin ist Deutschland größter Importeur. Allerdings – so muss man hinzufügen – gehört diese Gaumenfreude zu denen, die man aufgrund steigenden Alkoholkonsums moderat sehen sollte. Der deutsche Weinbau ist nur zu retten, wenn die Weintrinker den Wein wegen seiner Qualität kaufen. Auch beim Weinbau ist zu berücksichtigen, dass er erheblich zur Pflege und Erhaltung der Kulturlandschaft beiträgt. Wein ist ein Kulturgut und damit ein Maßstab für das Zivilisationsniveau. Auf der Verbraucher- oder Nachfrageseite besteht trotz erheblicher Kontrollen das Problem z. T. jahrelan- gen Etikettenschwindels, und das nicht nur in den Süd- ländern wie im Fall des Glykolskandals. Erinnert sei an das Beispiel Moselwinzer der Lage „Zeller Schwarze Katz“ oder Winzer der Großlage „Piesporter Michels- berg“. Diese Probleme lassen sich durch keine Richtlinie, Regelung und kein Weingesetz außer Kraft setzten, denn Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7823 (A) (B) (C) (D) sie entstehen aus Kosten- und Preisdruck, aus Profitgier und Marktmacht. Ein weiteres erklärtes Ziel der Marktordnung und ih- rer nationalen Umsetzung durch die Bundesregierung ist die Eröffnung der Möglichkeit für die Erzeuger, neue Märkte zu erschließen. Machen wir uns nichts vor, das bedeutet auch, dass alte Marktteilnehmer im Inland wie im Binnenmarkt verdrängt werden. Was wird für sie getan? Zur sozialen Abfederung fin- det sich kein Wort im Gesetzesentwurf. Wieso ist es nicht möglich, ähnlich den Aufga- be(renten)regelungen der Landbauern auch in der natio- nalen Regelung des Weingesetzes darauf hinzuwirken, dass Regelungen zur Umsetzung der Bestimmungen ü- ber Prämien für die endgültige Aufgabe des Weinbaus einbezogen werden? So kommt der Entwurf von SPD und Grünen weniger lieblich als eher trocken und nüchtern daher. Denn die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des Weinsek- tors bedeutet auch hier schärferen Wind in Weinanbau- gebieten bezüglich des Kosten- und Preisdrucks. Die Abschaffung der Intervention als günstigste Absatzmög- lichkeit für Überschüsse macht das Problem im Weinbau wie in der Landwirtschaft deutlich: Die Ertragsfähigkeit und -leistungen liegen bei weitem über den Regulie- rungsgrenzen. Nach Auffassung der PDS ist auch hier geboten: so wenig Regulierung und Eingriff durch den Staat wie möglich, aber soviel wie notwendig, um den Weinbau- ern für die Zukunft eine Existenzsicherung und - sicherheit zu schaffen. Der Intention der großen Weinbauverbände, den Landesregierungen mehr Entscheidungsbefugnis zu ge- ben, was die Festsetzung der Hektarhöchstertragsrege- lungen, die Übertragung von Wiederbepflanzungsrech- ten und das Reservesystem in den weinbaubetreibenden Bundesländern betrifft, entspricht den Prinzipien von Subsidiarität und ist deshalb zu unterstützen. Nicht einverstanden können wir uns damit erklären, Hektarhöchsterträge bei Überschreitung von Qualitäts- wein in Tafelwein herabzustufen. Das verstößt gegen die Interessen der Winzer. Bezüglich der Reservenbildung von Pflanzungsrech- ten ist hinzuzufügen, dass entweder bundeseinheitlich keine Reserven vergeben werden oder sie in Landesho- heit und damit auch in deren Verwaltungs- und Bestim- mungsbefugnis gegeben werden. Damit werden auch die Verbände in die Pflicht ge- nommen. Eine übergeordnete Behörde – vorgesehen vom BML – muss dann abgelehnt werden. Auch die Erteilung von Neuanpflanzungsgenehmi- gungen kann aus der Sicht der Landesregierung im Zu- sammenwirken mit dem jeweiligen Weinbauverband und den betroffenen Weinbauern am besten übersehen, beurteilt und entschieden werden. Hier sind im Ernäh- rungsausschuß noch Nachbesserungen zu diskutieren. Was die Höchstertragsregelungen betrifft, wird in den Hauptertragslagen wie Rheinland-Pfalz das Kräftemes- sen eine Rolle spielen. Die beiden Verbände in Ost- deutschland für die Gebietsweinwerbung, Weinbauver- band Saale-Unstrut für die Länder Thüringen und Sach- sen-Anhalt sowie der Weinbauverband Sachsen, können damit sehr gut leben. Einen Schutz vor dem Markt und damit der erbar- mungslosen Konkurrenz zwischen Regionen, insbeson- dere aber zwischen den Mitgliedsstaaten und der Kon- kurrenz auf dem Weltmarkt wird es auch in diesem Sek- tor nicht geben. Die Bundesregierung ist daher aufgefordert, den nati- onalen und regionalen Gestaltungsspielraum für die eu- ropäischen Rahmenregelungen soweit wie möglich im Sinne sozialökologischer Anforderungen der Zukunft auszuschöpfen. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Strafverfahrens- rechts (Zusatztagesordnungspunkt 10) Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (SPD): Die heute anste- hende Verabschiedung des Strafverfahrensänderungsge- setzes 1999 durch den Deutschen Bundestag ist eine gu- te Stunde für die Effektivität der Strafrechtspflege und zugleich für den Grundrechtsschutz in Deutschland. Bei der ersten Lesung des Regierungsentwurfes am 7. Okto- ber des vergangenen Jahres hatte ich die vergeblichen Anläufe zur Umsetzung des bekannten Volkszäh- lungsurteils des Bundesverfassungsgerichts vom 15. De- zember 1983 in Erinnerung gerufen. 16 Jahre hatten der Kohl-Regierung und der früheren Parlamentsmehrheit nicht ausgereicht, um das StVÄG zu verabschieden. Der letzte Fehlversuch war der so genannte Flughafenkom- promiss, dem im August 1998 neben der SPD und der CDU/CSU sowie der FDP auch die Vertreter der A- und B-Länder zugestimmt hatten. Der damalige bayerische Justizminister Leeb hatte die Verabschiedung des voll- ständig ausformulierten Gesetzestextes noch vor der letzten Bundestagswahl durch einen Brief mit faden- scheiniger Begründung verhindert, der sich leider die CDU/CSU-Fraktion angeschlossen hat. Kurioserweise haben sich im Rahmen der Ausschuss- beratungen und des Berichterstattergespräches die CDU/CSU- und die F.D.P.-Fraktion gegen Veränderun- gen des Regierungsentwurfes gewehrt, der seinerseits auf dem Flughafenkompromiss beruht. Interessant ist dabei, dass sich die CDU/CSU gewissermaßen zur nach- träglichen Gesichtswahrung auch die seinerzeitige Kritik aus Bayern an den Absätzen 2 und 3 von § 161 StPO in der Fassung des Regierungsentwurfs zu Eigen macht. Es geht dabei um die Verwertung von Präventivdaten, die durch spezielle polizeirechtliche Maßnahmen erlangt worden sind. Mit der Kommentarliteratur, wonach derartige Erkenntnisse einem Verwertungsverbot 7824 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 (A) (B) (C) (D) artige Erkenntnisse einem Verwertungsverbot unterlie- gen, wenn sie unter Umgehung der strafprozessualen Beschränkungen erlangt worden sind, setzt sich die Op- position nicht auseinander. Geradezu abwegig ist die Begründung für den Antrag auf Streichung von Abs. 3, in dem es um die Verwertung personenbezogener In- formationen aus dem Einsatz technischer Mittel zur Ei- gensicherung in Wohnungen geht. Die Opposition über- sieht, dass die vorgesehene Verwertungsbeschränkung der seit 1998 geltenden Neufassung von Art. 13 Abs. 5 Satz 2 Grundgesetz entspricht, wonach eine anderweiti- ge Verwertung der erlangten Erkenntnisse nur zulässig ist, wenn zuvor die Rechtmäßigkeit der Maßnahme rich- terlich festgestellt worden ist. Die Wiederholung der Einwendung aus dem Jahre 1998 macht noch einmal deutlich, wie dürftig die dama- lige Begründung für die Ablehnung des Flughafenkom- promisses gewesen ist. Inzwischen ist durch die Säumigkeit der früheren Re- gierungskoalition eine immer schwieriger werdende La- ge entstanden. Mehr und mehr setzt sich die Auffassung durch, dass die Übergangsfrist zur Umsetzung des Volkszählungsurteils abgelaufen ist. Damit fehlt es aber an einer gesetzlichen Grundlage für die Übermittlung von Daten, die zur Aufklärung von Straftaten benötigt werden. Das kann der Gesetzgeber nicht länger verant- worten. Geradezu aberwitzig ist, dass ausgerechnet die Landesregierung von Bayern sich unter Hinweis auf die abgelaufene Übergangsfrist weigert, Strafakten für die wissenschaftliche Untersuchung der Praxis der Telefon- überwachung nach § 100 a StPO an das von der Bundes- regierung beauftragte Forschungsinstitut herauszugeben. Angeblich gäbe es für einen derartigen Datentransfer keine gesetzliche Grundlage. Im Bundestag wird die Überprüfung des § 100 a StPO aber mit Nachdruck ge- rade auch von der CDU/CSU-Fraktion verlangt. Und die Fraktion hat den von der neuen Bundesregierung erteil- ten Auftrag zur Aktenauswertung ausdrücklich begrüßt. Bei der intensiven Beratung des Regierungsentwurfes hat die Regierungskoalition in enger Abstimmung mit dem federführenden Bundesjustizministerium als auch dem Innenministerium von Nordrhein-Westfalen eine Reihe von Änderungen vereinbart, die ich bereits in meiner Rede vom 7. Oktober angekündigt hatte. Bei un- seren Vorschlägen gehen wir von drei Grundsätzen aus. Erstens ist es Aufgabe und Verpflichtung des Gesetz- gebers, die praktische Konkordanz zwischen den Erfor- dernissen der Strafrechtspflege und dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung durch eine eigene Abwägung bei jeder der notwendigen Regelungen her- zustellen. Das gilt genauso für die Verwendung von Er- kenntnissen aus besonderen polizeirechtlichen Maß- nahmen wie für die Zulässigkeit längerfristiger Observa- tion oder die Auskunftsansprüche des Betroffenen oder die Erteilung von Aktenauskünften für Gerichte, Staats- anwaltschaften, Behörden, um nur einige Beispiele zu nennen. Der Gesetzgeber wäre seiner Verantwortung nicht gerecht geworden, wenn er die bereits vor dem Volkszählungsurteil geltenden untergesetzlichen Rege- lungen etwa in den Richtlinien für das Straf- und Buß- geldverfahren wortwörtlich übernommen und in Geset- zesrang erhoben hätte. Zum einen ist die Sprache der RiStVB keine Gesetzessprache und zum anderen und vor allem musste der Gesetzgeber eine eigenständige Güterabwägung durchführen. Zweitens musste in jedem einzelnen Fall wegen der Notwendigkeit, die Effektivität der Strafrechtspflege zu beachten, der Fundus der Erfahrungen in der Praxis be- achtet werden. Das geschah in zahlreichen Besprechun- gen mit den beteiligten Justiz- und Innenressorts, deren Mitwirkung von besonderem Wert war. Als Berichter- statter der SPD-Fraktion habe ich für diese Unterstüt- zung besonders zu danken. Drittens war die schwierige Aufgabe zu lösen, Wer- tungswidersprüche mit der gesetzlichen Regelung ver- gleichbarer Grundrechtseingriffe, wie sie bereits in an- derem Zusammenhang getroffen worden war, unter allen Umständen zu vermeiden. Dieses war der maßgebliche Gesichtspunkt bei der kritischen Überprüfung der Frage, inwieweit die Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft bei Gefahr im Verzuge die Kompetenz zur Anordnung ins- besondere einer Öffentlichkeitsfahndung erhalten oder behalten sollten. Eine derartige Kompetenz musste ver- hältnismaßig problemlos bei Fahndungsmaßnahmen wie der Ausschreibung zur Festnahme erscheinen, war aber bereits deutlich einzugrenzen bei der Regelung der längerfristigen Observation. Als besonders schwierig erwies sich in diesem Zusammenhang aber die Kompe- tenz für eine Öffentlichkeitsfahndung. Vor allem die Fernsehfahndung war nach Auffassung der Berichter- statter mit ihrer möglicherweise lange im Gedächtnis haftenden Prangerwirkung durchaus vergleichbar mit der Beeinträchtigung von Persönlichkeitsrechten durch die jahrelang kontrovers diskutierte akustische Überwa- chung von Wohnungen. Für jene hat der Verfassungsge- ber bekanntlich in Art. 13 Abs. 3 Grundgesetz einen strengen Richtervorbehalt festgelegt, weshalb auch bei Gefahr im Verzuge eine derartige Anordnung nur durch einen Richter getroffen werden kann. Ähnliches gilt für die Anordnung der DNA-Analyse zur Erstellung eines so genannten genetischen Fingerabdrucks, wofür eben- falls einfachgesetzlich ein strenger Richtervorbehalt gilt. Deshalb haben wir uns dafür entschieden, dass die Verantwortung für die verschiedenen Formen der Öf- fentlichkeitsfahndung grundsätzlich von der Staatsan- waltschaft als für das Ermittlungsverfahren verantwort- licher Behörde zu übernehmen ist. Eine Eilkompetenz für Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft kann es für die Inanspruchnahme des Fernsehens nicht geben. Für ande- re Formen der Öffentlichkeitsfahndung, also etwa Laut- sprecherfahndung, Radiofahndung, Fahndungsaufrufe per Zeitung oder Handzettel, haben wir enge Grenzen vorgesehen, in denen Hilfsbeamte der Staatsanwalt- schaft eine sofortige Anordnung treffen dürfen, wenn ein Festgenommener sich der Bewachung entzieht und der Ermittlungsrichter oder der zuständige Staatsanwalt nicht rechtzeitig erreichbar sind. Außerdem muss die Entscheidung der Staatsanwaltschaft in diesen Fällen unverzüglich herbeigeführt werden. Und die Anordnung tritt außer Kraft, wenn die notwendige Bestätigung nicht binnen 24 Stunden erfolgt. In Übereinstimmung mit den Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7825 (A) (B) (C) (D) beteiligten Ressorts sind die Berichterstatter der Regie- rungskoalition davon überzeugt, eine Regelung der Zu- ständigkeit für die Öffentlichkeitsfahndung gefunden zu haben, die den Schutz der Persönlichkeitsrechte des Be- schuldigten und die Effektivität der Strafrechtspflege in angemessener Weise berücksichtigt. Es ist ein großer Erfolg der Bundesregierung und der Regierungskoalition, dass das StVÄG knapp vier Mona- te nach der ersten Lesung und nach intensiven Beratun- gen nunmehr in zweiter und dritter Lesung verabschie- det werden kann. Was die Kohl-Regierung in 16 Jahren nicht geschafft hat, gelingt der neuen Bundesregierung nunmehr binnen 15 Monaten nach dem Regierungs- wechsel. Der Entwurf, den ich nur mit einigen Beispie- len erläutern konnte, und die beigefügte Begründung sowohl des Regierungsentwurfes als auch der vom Rechtsausschuss mit Zustimmung des Innenausschusses vorgeschlagenen Änderungen sprechen für sich. Die Ge- fahr, dass es durch fehlende gesetzliche Grundlagen für den notwendigen Datentransfer zu fehlerhaften Frei- sprüchen oder auch Verurteilungen kommt, ist gebannt. Die Bundesregierung und die Regierungskoalition haben in einem zentral wichtigen Bereich der Kriminalpolitik ihre Handlungsfähigkeit bewiesen. Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU): Heute soll hier abgeschlossen werden, was seit vielen Jahren das Parlament beschäftigt und dringend abge- schlossen werden sollte. Die rot-grüne Koalition wird behaupten, „was lange währt, wird endlich gut“, und sich den Erfolg auf ihre Fahnen schreiben wollen. Diese Auffassung ist nur teilweise richtig, meine Damen und Herren der Regierungsfraktionen, denn es muss die Fra- ge gestattet sein: Cui bono? – Zu wessen Nutzen? Bei sorgfältiger Analyse der heutigen Vorlage kommen wir teilweise zu der Schlussfolgerung, hier gelte der Grund- satz „Datenschutz vor Opferschutz und effektiver Straf- verfolgung“. Wären Sie doch, meine Damen und Herren der SPD, bei Ihrem ursprünglichen Regierungsentwurf geblieben. Dann wäre vielleicht der erhoffte Erfolg ge- kommen. Sie haben sich aber offensichtlich den unsin- nigen Forderungen ihres Koalitionspartners, den Grü- nen, unterworfen und haben somit die Chance vertan. Zu den Einzelheiten der Kritik will ich nachher kommen. Vorab noch etwas Grundsätzliches: Der Auslöser für unsere heutige Debatte ist, wie Sie alle wissen, ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1983, welches klargestellt hat, dass das allgemeine Persönlich- keitsrecht in Art. 1 des Grundgesetzes den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung und Verwen- dung seiner persönlichen Daten umfasst und dass Ein- schränkungen dieses Rechts nur bei überwiegendem all- gemeinen Interesse zulässig sind und einer gesetzlichen Grundlage bedürfen. Das danach notwendig gewordene Strafverfahrensänderungsgesetz beschäftigt uns bereits seit vielen Jahren, ohne dass bisher eine Einigung ge- lungen ist. Dadurch besteht die Gefahr, dass die Rechts- sprechung die automatisierte Datenverarbeitung der Staatsanwaltschaft wegen Fehlens einer gesetzlichen Grundlage für nicht mehr zulässig erklärt. Damit wird die Funktionsfähigkeit der Strafverfolgung akut in Frage gestellt. Wegen der vergangenen Zeit ist Eile geboten. Ein wesentlicher Gesichtspunkt, den wir meines Er- achtens keinen Augenblick aus dem Auge verlieren dür- fen, ist die Tatsache, dass es in unserem Staat in Zeiten, in denen wir mit Personalvermehrung nicht rechnen können, vielmehr Personalreduzierungen hinnehmen müssen, eine ganz besondere Verantwortung für die Wahrung der Effizienz der Strafverfolgung gibt. Es geht da-rum, in einer vorsichtigen Abwägung einerseits rechtsstaatlichen Bedingungen wie rechtliches Gehör, justizförmiges Strafverfahren, Belange des Datenschut- zes und des Rechts auf informationelle Selbstbestim- mung zu sichern, aber diesem Staat andererseits auch die Instrumente zu lassen, die er braucht, um im Kampf ge- gen die Kriminalität zu bestehen. Die innere Sicherheit muss eine Daueraufgabe von höchster politischer Priorität im demokratischen Staat sein. Glaubwürdige Erfolge bei der Kriminalitätsbe- kämpfung lassen sich nur erzielen, wenn die politisch Verantwortlichen die innere Sicherheit als eine solche Daueraufgabe im Interesse der Menschen verstehen. In- nere Sicherheit ist die Grundlage unserer Freiheit. Nur wer sicher sein kann vor Angriffen auf Leib, Leben, Ge- sundheit und Eigentum, kann seine Grundrechte in unse- rem freiheitlichen Staat auch nutzen. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten daher zu Recht vom Staat den bestmöglichen Schutz vor Gewalttätern und sonstigen Kriminellen. Zur Bewahrung von Recht und Ordnung gehört insbesondere, dass strafbares Unrecht konsequent und effektiv verfolgt wird. Die Angst der Menschen vor Verbrechen ist meines Erachtens größer als die Furcht vor Verletzung der informationellen Selbstbestimmung. Mit den von der Regierungskoalition zum ursprüngli- chen Gesetzentwurf vorgeschlagenen Änderungen er- schweren Sie die Strafverfolgung mehr, als es notwen- dig gewesen wäre. Sie verlassen in diesem wichtigen Bereich der eben aufgezeigten gebotenen Abwägung von Datenschutz und Strafverfolgung den früher prakti- zierten Konsens – einen Konsens zwischen den Fraktio- nen dieses Hauses und auch zwischen Bund und Landes- justizverwaltungen. Die Vorschläge der vergangenen Jahre sind in dem Bemühen um diesen übergreifenden Konsens gescheitert. Dass wir jetzt zu einem Ergebnis kommen mussten, war klar. Der ursprüngliche Gesetz- entwurf war auch nahezu vollständig konsensfähig. Die nunmehr vorgenommenen Änderungen sind es nicht mehr, sie erschweren die Strafverfolgung unnötig. Zu einigen unserer Kritikpunkte im Einzelnen: Trotz intensiver Bemühungen und langer Gespräche – auch mit den Landesjustizverwaltungen – fiel ein Regie- rungsentwurf der damaligen Koalition im Herbst 1998 der Diskontinuität zum Opfer. Wir standen damals kurz vor dem Ziel und haben den Kompromiss doch nicht ge- schafft, weil bei der Vielzahl von begrüßenswerten und notwendigen Vorschlägen ein Knackpunkt übrig blieb, über den eine Verständigung nicht möglich war. Es ging um die Frage, ob die Verwendung von Präventivdaten der Polizei bei der Strafverfolgung möglich sein soll. Darf die Polizei rechtmäßig gewonnene Erkenntnisse 7826 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 (A) (B) (C) (D) aus ihrer Präventivarbeit auch anschließend bei der Strafverfolgung, das heißt repressiv, nutzen? Oder sollte die Verwendung der polizeilichen Erkenntnisse grund- sätzlich aufgespaltet werden? Die jetzt in § 161 Abs. 2 und 3 des Gesetzentwurfs getroffenen Regelungen widersprechen insoweit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die die Ver- wendung von Präventivdaten grundsätzlich unbe- schränkt zulässt. Informationen, die bei der Polizei zur Verfügung stehen, müssen auch für die Strafverfolgung grundsätzlich unbeschränkt verfügbar sein. Die Rege- lung, die der Entwurf vorschlägt, führt auch zu Abgren- zungsschwierigkeiten bei der Klärung, woher die Infor- mationen kommen. Aus gutem Grund äußert sich die Strafprozessordnung nicht zum Präventivbereich. Die von der Koalition vorgenommene Erschwerung der Verwendung von Daten, die polizeirechtlich rechtmäßig erhoben sind, ist der Öffentlichkeit zu Recht nicht ver- mittelbar. Strikt abzulehnen ist auch die nachträglich vorge- nommene Änderung zu § 131 c StPO, mit der die Eilzu- ständigkeit der Polizei, das heißt der Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft, für die Anordnung der Öffentlich- keitsfahndung zur Aufenthaltsfeststellung gestrichen wurde. Die jetzt dort vorgesehenen Regelungen abge- stufter Zuständigkeiten zeugen von Misstrauen gegen- über der Polizei, sind nicht praktikabel und führen zu ei- nem enormen bürokratischen Aufwand. Der gleiche Vorwurf ergibt sich für das Aktenein- sichtsrecht bei § 147 Abs. 5 StPO. Auch hier besteht die Gefahr von erheblichem zusätzlichen Aufwand. Hinzu kommt, dass nach der Rechtsprechung des Bundesver- fassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs Beschul- digte, die sich nicht auf freiem Fuß befinden, bereits ei- nen Anspruch darauf haben, über den zugrunde liegen- den Vorwurf im erforderlichen Maß unterrichtet zu wer- den. Gerade in diesen Fällen ist es nicht notwendig, ein zusätzliches Beschwerderecht zu geben. Auch aufgrund des Beschleunigungsgrundsatzes, der zur effektiven Strafverfolgung gehört, sollten die Ermittlungen im Üb- rigen nicht unnötig beeinträchtigt werden. Es ist des Weiteren zu befürchten, dass auch die Än- derung bei den Voraussetzungen für die Auskunftsertei- lung, das heißt bei § 475 StPO, mit einem erheblichen zusätzlichen Aufwand verbunden ist. Gerade die Zivil- rechtspflege wird dadurch entlastet, dass in Strafakten Akteneinsicht gewährt wird. Die engere Formulierung für die Akteneinsicht wird darüber hinaus zu Streitfra- gen führen, ob ein Antragsteller nur ein „berechtigtes“ oder schon ein „rechtliches“ Interesse hat, etwa wenn erst Anspruchsgrundlagen zu klären wären. Auch das von Ihnen vorgesehene Erfordernis einer vorherigen Stellungnahme durch den früheren Beschul- digten bei Auskunftsersuchen führt zu einem erhebli- chen zusätzlichen Aufwand. Im Übrigen werden derarti- ge Regelungen mit Sicherheit Nachfolgeforderungen nach sich ziehen, in anderen Bereichen regelmäßig vor Erteilung von Auskünften formell Gelegenheit zur Stel- lungnahme zu geben, wenn der Aufenthaltsort bekannt ist. Dies könnte die Rechtspflege massiv beeinträchtigen und ist auch verfassungsrechtlich nicht geboten. Wir begrüßen es sehr, dass nach den Jahren der Dis- kussion nun endlich ein Gesetz zum Datenschutz bei der Strafverfolgung verabschiedet wird. Die nähere Ausges- taltung wird von uns aber kritisiert. Ihre Bemühungen um Datenschutz, meine Damen und Herren der Regie- rungskoalition, sind über das Ziel hinausgeschossen. Insgesamt kann festgestellt werden, dass die von Ihnen vorgenommenen Änderungen zum ursprünglichen Ge- setzentwurf eindeutig eine massive Erschwerung der Strafverfolgung sind. Wir bedauern daher außerordent- lich, dass wir das ursprünglich von uns initiierte Gesetz in der vorliegenden Form ablehnen müssen. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit dem Gesetzentwurf von Anfang 1999 hatte die Bundesregierung die überfälligen Konsequen- zen aus dem Volkszählungsurteil des BVerfG aus dem Jahr 1983 gezogen und die Verwendung personenbezo- gener Daten im Strafverfahren entsprechend den Anfor- derungen dieses Urteils geregelt. Der Entwurf eines Strafverfahrensänderungsgesetzes beseitigt eine Altlast der alten Bundesregierung. Diese hat seit dem Volkszählungsurteil des Bundesverfas- sungsgerichts von 1983 über ihre 16 Jahre lange Amts- zeit hin einen praktisch „rechtsfreien Raum“ geduldet und es nicht geschafft, gemäß dem Karlsruher Auftrag die Verarbeitung personenbezogener Daten im Strafver- fahren ordentlich gesetzlich zu regeln. Rechtsunsicher- heit sowie divergierende Behördenpraxis und Recht- sprechung waren die Folge. Inzwischen ist es schon so weit, dass Gerichte und Landesbehörden die Weitergabe von Akten und Daten verweigern, weil eine gesetzliche Grundlage fehlt. Eile ist daher geboten. Unser Gesetzentwurf regelt die strafprozessuale Er- mittlungstätigkeit, die Verwendung und Mitteilungen der in einem Strafverfahren erhobenen personenbezoge- nen Daten sowie deren Verarbeitung in Dateien erstmals grundrechtskonform und transparent. Dabei ist ein an- gemessener Ausgleich getroffen worden zwischen den berechtigten Interessen der Gerichte, Strafverfolgungs- behörden, Beschuldigten und drittbeteiligten Stellen. Lassen Sie mich drei von uns initiierte konkrete Ver- besserungen gegenüber den Vorarbeiten der letzten Wahlperiode beispielhaft nennen: Erstens. Die besonders sensiblen Öffentlichkeitsfahn- dungen nach Beschuldigten oder Zeugen dürfen anders als geplant nicht einfach durch die Polizei veranlasst werden, sondern grundsätzlich nur durch den Richter, lediglich im Eilfall befristet durch die Staatsanwalt- schaft. Zweitens. Von großer Bedeutung für Inhaftierte und ihre Verteidiger ist die Neuerung, dass Akteneinsicht nicht einfach durch die Staatsanwaltschaft gewährt oder versagt werden darf, sondern dass dagegen im Fall der Inhaftierung des Beschuldigten eine gerichtliche Über- prüfung möglich ist. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7827 (A) (B) (C) (D) Drittens. Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte wurde auch die Forderung der Datenschutzbeauftragten aufge- griffen, dass nach Freisprüchen Akteneinsicht an Dritte nicht ohne vorherige Anhörung der Betroffenen gewährt werden darf. Den über fünfzig Änderungswünschen des Bundesra- tes zum Regierungsentwurf konnte überwiegend nicht gefolgt werden, soweit diese darauf zielten, die notwen- digen datenschutzrechtlichen Präzisierungen wieder auf- zuweichen. Bündnis 90/Die Grünen haben großen Wert darauf gelegt, zusätzliche Verbesserungen gegenüber dem Regierungsentwurf zu vereinbaren. Diese sind als Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen zum Regie- rungsentwurf in die Ausschussberatungen eingebracht sowie mehrheitlich gestern beschlossen worden und lie- gen heute als Beschlussempfehlung vor. Diese Ände- rungen beinhalten unter anderem Folgendes: Erstens. Eine Ausschreibung zur Festnahme oder Aufenthaltsermittlung darf – statt auch durch die Polizei – grundsätzlich nur durch die Staatsanwaltschaft und bei öffentlicher Ausschreibung nur durch den Richter – im Eilfall auch durch die Staatsanwaltschaft – angeordnet werden. Dies betrifft § 131 StPO. Zweitens. Zum Schutz von Zeugen werden die Vor- aussetzungen für deren öffentliche Ausschreibung auf die für Beschuldigte geltenden angehoben. Dies betrifft § 131 a Abs. 3 StPO. Drittens. Wenn die Staatsanwaltschaft vor Schluss der Ermittlungen eine beantragte Akteneinsicht ablehnt, steht dem nicht auf freiem Fuß befindlichen Beschuldig- ten dagegen die Beschwerde beim zuständigen Gericht offen. Das betrifft § 147 Abs. 5 StPO. Viertens. Längerfristige Observationen dürfen nur durch die Staatsanwaltschaft – statt auch durch die Poli- zei – angeordnet werden. Dies betrifft § 163 f. StPO. Fünftens. Dem Anwalt des Verletzten wird Einsicht in Strafverfahrensakten bei Nachweis eines rechtlichen Interesses hieran gewährt. Dies betrifft § 475 Abs. 1 StPO. Sechstens. Auch Informationen, die durch polizeili- che Beobachtung oder längerfristige Observationen er- langt wurden, dürfen anderen Behörden nur unter eben- so engen Bedingungen mitgeteilt werden wie Daten aus anderen gleichschweren Ermittlungsmaßnahmen. Dies betrifft § 477 Abs. 2 StPO. Siebtens. Vor Auskünften aus Strafverfahrensakten an Dritte hat die Staatsanwaltschaft den früheren Be- schuldigten anzuhören, soweit dessen Adresse bekannt ist. Dies betrifft § 477 Abs. 3 StPO. Die Befugnisse der Strafverfolgungsbehörden zur Verwendung von Justizdaten bis hin zur Öffentlichkeits- fahndung sind nach Anhörung von Praktikern und den Bedürfnissen der Praxis entsprechend ausgestaltet wor- den. Wenn hiergegen eingewendet wird, hier könne es zu übermäßigen Einschränkungen kommen und Verbre- cher nicht gefasst werden, entbehrt dies einer tatsächli- chen Grundlage. In der modernen Kommunikationsge- sellschaft muss ein Staatsanwalt im Notdienst rund um die Uhr für seine Hilfsbeamten erreichbar sein, notfalls per Handy. Entscheidend war für mich, die eindeutige Veranwortlichkeit der Staatsanwaltschaft im Ermitt- lungsverfahren für alle Fälle sicherzustellen. Die Staats- anwaltschaft aber kann nur als Herrin des Verfahrens für solche Ermittlungen veranwortlich sein, die sie kennt und selbst getroffen hat. Gerade bei Öffentlichkeitsver- handlungen ist das alleinige Entscheidungsrecht der Staatsanwaltschaft wichtig, weil es sich wegen der Prangerwirkung um schwerste, irreparable Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht der Betroffenen handelt. Akteneinsicht war dem Verteidiger des Beschuldigten bereits nach geltendem Recht nach Abschluss der Er- mittlungen stets zu gewähren, und bei etwaiger Verwei- gerung bestand die Rechtsschutzmöglichkeit nach § 23 EGGVG. Der Europäische Gerichtshof hat hierzu eine Ergänzung angemahnt, welche die Belange vor al- lem inhaftierter Beschuldigter besser wahrt. Diese Vor- gabe haben wir umgesetzt und die Rechtsschutzmög- lichkeit für jene Fälle erweitert. Einwände hiergegen lassen sowohl die Gegebenheiten des geltenden Rechts als auch Vorgaben von MRK und EuGH außer Acht. Ich bitte, der Beschlussempfehlung zuzustimmen, und hoffe, dass auch der Bundesrat nun rasch den Weg frei macht, damit diese Regelungen zügig in Kraft treten und auch praktisch den am Justizverfahren Beteiligten nutzbar gemacht werden können. Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Endlich ist das Straf- verfahrensänderungsgesetz fertig, das die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts aus dem so genannten Volkszählungsurteil von 1983 umsetzt. Die alte Regie- rung hat dies in 16 Jahren nicht geschafft. Bislang fehlen weit gehend gesetzliche Regelungen zur Fahndung in der Öffentlichkeit sowie zur Speicherung von personen- bezogenen Daten in verfahrensübergreifenden Dateien. Beim Akteneinsichtsrecht besteht ein akuter Handlungs- bedarf. Deutlich gesagt: In sensiblen Rechtsbereichen fehlen seit Jahren gesicherte Rechtsgrundlagen. Die Schaffung bzw. Präzisierung strafprozessualer Eingriffsermächtigungen für herkömmliche Ermitt- lungsmaßnahmen wie Ausschreibung zur Fahndung, Observation, Einsichtnahme in Akten ist aber – wie wir alle wissen – nicht nur für eine geordnete Strafverfol- gung wichtig, sondern berührt in erheblichem Maße die Rechte der Betroffenen. Hier gilt es insbesondere, das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung sowie die Grunderfordernisse des Datenschutzes ins Verhältnis zu den Notwendigkeiten einer effektiven Strafverfol- gung zu setzen. Dabei dürfen grundsätzlich Bürgerrechte und Strafverfolgung nicht gegeneinander ausgespielt werden; denn dies geht so oder so zu Lasten des Rechts- staates. Sicher darf Datenschutz nicht zum Tatenschutz wer- den. Aber Täterverfolgung darf auch nicht Persönlich- keitsrechte missachten, auch nicht für einen scheinbar höheren Rechtswert, das Sicherheitsinteresse. Da halte ich es mit Benjamin Franklin, der gesagt hat: „Der Mensch, der bereit ist, seine Freiheit aufzugeben, um Si- cherheit zu gewinnen, wird beides verlieren.“ 7828 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 (A) (B) (C) (D) Im Gegensatz zu den Vorläufern dieses Gesetzent- wurfes, die nicht zuletzt von den Datenschutzbeauftrag- ten des Bundes und der Länder zu Recht schwer kriti- siert wurden, bemüht sich dieser Entwurf um einen weit gehenden Schutz der Persönlichkeitsrechte der Bürger. Der Sicherheits- und Kontrollstaat, wie ihn einst Herr Kanther in Law-and-order-Manier favorisierte, wird mit diesem Gesetz nicht weiterentwickelt. Dennoch kann ich auch diesem Entwurf nicht zustimmen. Wir werden uns der Stimme enthalten. Abgesehen von der nicht glücklich gestalteten, un- übersichtlichen Gesamtregelung, die hoffentlich diejeni- gen verstehen, die sie anwenden sollen, werfen die zahl- reichen Einzelregelungen bei mir verschiedene Fragen auf: Einige möchte ich stellen: Ist eine Generalermitt- lungsklausel als umfassende Eingriffsermächtigung – wie sie § 161 vorsieht – für die Erfüllung der den Straf- verfolgungsbehörden zugewiesenen Aufgaben wirklich unumgänglich? Ich bezweifle das. § 131 a Abs. 3 sieht eine Fahndung in der Öffentlich- keit vor, wenn der Beschuldigte „einer Straftat von er- heblicher Bedeutung dringend verdächtig ist“. Warum sind hier die Tatbestände und nicht die Voraussetzungen benannt? In diesem Zusammenhang kann auch die Re- gelung der Ausschreibung und öffentliche Abbildung von Zeugen hinsichtlich ihres Persönlichkeitsschutzes als auch der von Unbeteiligten nicht befriedigen. Die Gefahr, von der Öffentlichkeit als vermeintlicher Tat- verdächtiger oder gar vorschnell schon als potenzieller Täter erfasst zu werden, ist groß. Hier müssen höhere Anforderungen gelten als bei einem Beschuldigten. Die Sicherstellung der Unverwechselbarkeit von Beschul- digten und Zeugen ist durch diesen Gesetzentwurf nicht gesichert. § 492 regelt den Auskunftsanspruch des Betroffenen. Was ist aber mit Berichtigungs-, Sperrungs- und Lö- schungsansprüchen? Dabei geht es nicht nur um die „Richtigkeit“ der Daten, sondern auch um deren richtige Aktualität. Das Strafverfahrensänderungsgesetz ist nicht zuletzt deshalb ein längst überfälliges Gesetz, weil es die überaus schwierige Gratwanderung zwischen einer ef- fektiven Strafverfolgung und der Wahrung der Bürger- rechte bewältigen muss, in der Tat keine leichte Aufga- be. Dem Gesetzentwurf ist diese Gratwanderung teilwei- se gelungen, an manchen Stellen sehe ich jedoch die Ge- fahr des Abrutschens. Nachdem das Gesetz so lange ü- berfällig war, hätte in diesem Stadium etwas weniger Ei- le im Interesse der Klärung dieser oder jener Frage si- cher auch keinen erheblichen Schaden mehr bedeutet. Die Praxis wird die Stärken und Schwachstellen dieses Gesetzes gewiss bald offenbaren. Sollte sich herausstel- len, dass Bürgerrechte beeinträchtigt oder gar verletzt werden, so werde ich mich für eine Nachbesserung ein- setzen. Dr. Eckhart Pick, Parlamentarischer Staatssekre- tär bei der Bundesministerin für Justiz: Mit dem Gesetz- entwurf für das Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 bereinigen wir heute ein schlimmes Versäumnis der frü- heren Regierungskoalition. Wie hinreichend bekannt ist, sollen mit diesem Entwurf die Vorgaben des Bundesver- fassungsgerichts aus dem Volkszählungsurteil vom 15. Dezember 1983 für den Bereich des Strafverfahrens umgesetzt werden. Mit dieser Entscheidung hat das Bundesverfassungs- gericht klipp und klar festgestellt, dass die Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe persönlicher Daten vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Grund- gesetzes umfasst ist und Einschränkungen dieses Rechts einer verfassungsgemäßen rechtlichen Grundlage bedür- fen, die dem Gebot der Normenklarheit entspricht. Über 16 Jahre sind seit dieser Entscheidung vergan- gen und noch immer fehlen für den besonders sensiblen Bereich des Strafverfahrens die erforderlichen gesetzli- chen Grundlagen. Die frühere Bundesregierung hat erst nach 14 Jahren einen entsprechenden Entwurf vorgelegt. Er wies allerdings derart gravierende Mängel auf, dass der Rechtsausschuss in vielen Berichterstattergesprä- chen nachbessern musste. Letztendlich scheiterte das Vorhaben im Sommer 1998 endgültig, da sich die Baye- rische Landesregierung dem gefundenen Kompromiss verweigerte. Die neue Bundesregierung hat sich der hinterlassenen Aufgabe unverzüglich angenommen und die Verantwor- tung für den Gesetzgeber ernst genommen. Der Persön- lichkeitsschutz der Betroffenen erfordert endlich nor- menklare Regelungen im Strafverfahren. Als eines ihrer ersten Vorhaben hat die Bundesregie- rung daher bereits im Januar 1999 den Gesetzentwurf für das Strafverfahrenänderungsgesetz 1999 beschlos- sen. Dieser Entwurf knüpft bewusst in allen wesentli- chen Punkten an den Kompromiss vom Sommer 1998 an. Zum einen stellt dieser einen insgesamt angemesse- nen und tragfähigen Ausgleich zwischen Interessen der Praxis der Strafverfolgung und datenschutzrechtlichen Standards dar. Zum anderen hat die Bundesregierung diesen Weg gewählt, weil er die größte Chance bietet, den erforderlichen Konsens mit den Ländern zu erzielen. Die Beratungen der Ausschüsse des Deutschen Bun- destages haben zu einigen Änderungsempfehlungen ge- führt, die insgesamt den Persönlichkeitsschutz derjeni- gen stärken, die von eingriffsintensiven Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden betroffen sind. Ich möchte hier insbesondere die erhöhten Anforderungen nennen, die an eine Öffentlichkeitsfahndung nach Beschuldigten und Zeugen gestellt werden sollten, ohne dabei das Inte- resse an effektiver Strafverfolgung zu vernachlässigen. Diese Änderungsanträge, die das Ergebnis intensiver Beratungen sind, finden meine Unterstützung. Ich finde es insbesondere sachgerecht, dass die Fahn- dung nach Zeugen und Beschuldigten unter Inanspruch- nahme moderner Massenmedien, bei denen die Gefahr nicht zu unterschätzen ist, dass der Betroffene in der Öf- fentlichkeit vorschnell und irreparabel in Misskredit ge- rät, grundsätzlich nur durch Richter und Staatsanwalt und nur bei erheblichen Straftaten zulässig sein soll. Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich noch einmal ganz kurz den Inhalt des Entwurfs stichpunktartig zusammenfassen: Er regelt präzise die Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2000 7829 (A) (C) Voraussetzungen für die Ermittlungsmaßnahmen der Fahndung und der längerfristigen Observation. Die Verwendung von im Strafverfahren erhobenen Daten wird klar geregelt, insbesondere die Frage, wer zu wel- chem Zweck und unter welchen Voraussetzungen Ak- teneinsicht erhält. Nicht zuletzt enthält der Entwurf um- fassende Regelungen für die Dateien von Gerichten und Staatsanwaltschaften. Ich möchte bereits an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, auch den Bundesrat zu bitten, das Seine beizu- tragen, damit dieses dringend notwendige Gesetz mög- lichst bald in Kraft treten kann. Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin 53003 Bonn, Telefon: 02 28/3 82 08 40, Telefax: 02 28/3 82 08 44 20
Gesamtes Protokol
Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408400000
Die Sitzung ist
eröffnet.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punk-
te sind in der folgenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P. ge-

mäß Anlage 5 Nummer 1 Buchstabe b GO-BT zu den Ant-
worten der Bundesregierung auf die Fragen 35 bis 38 in
Drucksache 14/2552 zur Medienpolitik (siehe 83. Sitzung)


2. Beratung des Antrags der Fraktion SPD und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN: Unterstützung des Stabilitätspaktes Süd-
osteuropa – Drucksache 14/2569 –

Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-

lung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut

Haussmann, Ulrich Irmer, Hildebrecht Braun (Augsburg),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Für eine
zügige Umsetzung und Vertiefung des Stabilitätspaktes
Südosteuropa – Drucksache 14/2584 –

Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-

lung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
4. Beratung des Antrags der Fraktion der PDS: Aufhebung des

Ölembargos gegen Jugoslawien – Drucksache 14/2573 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich


(Bayreuth), Hans-Michael Goldmann, Dr. Karlheinz

Guttmacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
F.D.P.: Straßenbau statt Autostau – Drucksache 14/2582 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss


(Ergänzung zu TOP 15.)


a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung atomrecht-
licher Vorschriften für die Umsetzung von
EURATOM-Richtlinien zum Strahlenschutz – Druck-
sache 14/2443 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-

heit (f)

Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung des Antrags der Fraktion SPD und BÜND-

NIS 90/DIE GRÜNEN: Grenzüberschreitende Zu-
sammenarbeit zur Stärkung des Schutzes der Böden –
Drucksache 14/2567 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-

heit (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-

wicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen

Union

(Ergän zung zu TOP 16.)

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung ein-

gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung
von Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft auf
dem Gebiet des Berufsrechts der Rechtsanwälte –
Drucksache 14/2269 – (Erste Beratung 79. Sitzung)


Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
– Drucksache 14/2594 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Alfred Hartenbach
Norbert Röttgen
Rainer Funke
8. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:

Haltung der Bundesregierung zu Berichten über Defizite
bei der Pflegeversicherung und Auswirkungen auf die
soziale Sicherheit alter Menschen

9. Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zwei-
ten Gesetzes zur Änderung des Weingesetzes – Drucksache
14/2566 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (f)

Rechtsausschuss






(A)



(B)



(C)



(D)


Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
10. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung ein-

gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Er-
gänzung des Strafverfahrensrechts – Strafverfahrensän-
derungsgesetz 1999 (StVÄG 1999) – Drucksache 14/2595 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg van Essen
Dr. Jürgen Meyer (Ulm)

Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
Dr. Evelyn Kenzler
Hans-Christian Ströbele
11. Beratung des Antrags der Fraktion SPD und BÜNDNIS 90/

DIE GRÜNEN: Fortführung der Beratungen zum Endbe-
richt der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und
Psychogruppen“ – Drucksache 14/2568 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-

schätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
12. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Die

Ergebnisse des Russland-Besuches des deutschen Außen-
ministers Joseph Fischer am 20. Januar 2000 und die Hal-
tung der Bundesregierung zum Tschetschenien-Krieg

Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – so-
weit erforderlich – abgewichen werden. Darüber hinaus
soll der Tagesordnungspunkt 8 a und b – es handelt sich
um Anträge zu Jugoslawien – zusammen mit der Aus-
sprache zur Regierungserklärung aufgerufen sowie
das Seuchenrechtsneuordnungsgesetz – Tagesordnungs-
punkt 6 – mit den Beratungen ohne Aussprache behan-
delt werden.

Des Weiteren mache ich auf die folgende nachträgli-
che Überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-
merksam:
Der in der 69. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-
lich dem Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung zur
Mitberatung überwiesen werden:
Gesetzentwurf der Abgeordneten Dr. Guido Wes-

terwelle, Günther Friedrich Nolting, Hildebrecht
Braun (Augsburg), weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der F.D.P. zur Änderung des
Grundgesetzes (Artikel 12a) (gleichberechtigter
Zugang von Frauen zur Bundeswehr) – Drucksa-
che 14/1728 (neu)

Überweisungsvorschläge:
Rechtausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlos-
sen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 und 8 sowie die
Zusatzpunkte 2 bis 4 auf:
3. Abgabe einer Erklärung der Bundesregie-

rung
Der Stabilitätspakt Südosteuropa – Stand

und Perspektiven
8 a) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS

Aufhebung der Sanktionen gegen die Bun-
desrepublik Jugoslawien

– Drucksache 14/2387 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
8 b) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS

Schiffbarmachung der Donau und Wieder-
aufbau der zerstörten Donaubrücken

– Drucksache 14/2388 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungwesen

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit

Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung

ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktion SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Unterstützung des Stabilitätspaktes Südeu-
ropa

– Drucksache 14/2569 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)


Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, Hilde-
brecht Braun (Augsburg), weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der F.D.P

Für eine zügige Umsetzung und Vertiefung
des Stabilitätspaktes Südosteuropa

– Drucksache 14/2584 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-

wicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen

Union
ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktion der PDS:
Aufhebung des Ölembargos gegen Jugo-

slawien
– Drucksache 14/2573 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen,

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer






(A)



(B)



(C)



(D)


Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit

Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der

SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen vor. Nach einer
interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache
eineinhalb Stunden vorgesehen. Die PDS soll eine Rede-
zeit von zehn Minuten erhalten. – Kein Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
zunächst der Bundesminister des Auswärtigen, Joschka
Fischer.


Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408400100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als am
10. Juni vergangenen Jahres der Stabilitätspakt für Süd-
osteuropa in Köln beschlossen wurde, lag das Ende des
Kosovo-Krieges nur wenige Stunden zurück. Die aus
dem Kosovo abrückende jugoslawische Armee hinter-
ließ ein verwüstetes Land und eine zutiefst traumatisier-
te Bevölkerung. Der Krieg im Kosovo war der vierte
Krieg im ehemaligen Jugoslawien in weniger als einem
Jahrzehnt. Seit 1991/92 waren Hunderttausende ermor-
det und Millionen Menschen vertrieben worden – eine
furchtbare Bilanz.

In Bosnien hatte die Staatengemeinschaft viel zu spät
und viel zu zaghaft gehandelt. Durch das Eingreifen im
Kosovo konnten wir verhindern, dass Milosevic sein
Ziel der totalen Vertreibung erreichte und die Region
immer tiefer in den Abgrund riss. Aber für die Hundert-
tausenden, die vertrieben, umgebracht, gefoltert oder
vergewaltigt wurden, kamen wir auch dieses Mal zu
spät.

Die wichtigste Lehre aus dem Kosovo-Krieg musste
und muss deshalb heißen, nicht wieder erst dann zu rea-
gieren, wenn es schon zu spät ist, sondern mit einer um-
fassenden, massiven, lang andauernden Kraftanstren-
gung präventiv zu handeln, um den Teufelskreis von
Gewalt, Unterdrückung und Instabilität endlich und
endgültig zu durchbrechen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Bundesregierung hat deshalb die Initiative zu
dem Stabilitätspakt ergriffen.

Der Stabilitätspakt befindet sich gegenwärtig in einer
entscheidenden Phase. Eine gute Basis ist in den ver-
gangenen Monaten gelegt worden. Doch darüber, ob der
Pakt auch wirklich den tief greifenden Wandel bewirken
kann, den wir uns alle erhoffen, werden maßgeblich die
kommenden Wochen und Monate entscheiden, in denen
es um die Umsetzung des Vereinbarten und vor allem
um die Bereitschaft geht, sich hierfür langfristig, auch
und gerade finanziell, zu engagieren.

Ich möchte diese Erklärung zum Anlass nehmen, um
an Sie den dringenden Appell zu richten, jetzt nicht zur
Tagesordnung überzugehen, sondern sich weiter aktiv
hinter den präventiven Ansatz des Stabilitätspaktes zu
stellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wie oft wurde das große Wort Prävention beschwo-
ren, wenn es um die Vermeidung von Konflikten gerade
auf dem Balkan ging! Mit dem Stabilitätspakt müssen
wir beweisen, dass wir es mit unserem Engagement
ernst meinen. Dies ist auch eine Frage der politischen
Glaubwürdigkeit der deutschen und der europäischen
Außenpolitik.

Seit dem Startschuss in Köln haben viele Konferen-
zen stattgefunden und zahlreiche Einzelprojekte sind
vereinbart worden. Die wichtigste bisherige Leistung ist
jedoch, dass es gelungen ist, unter den 50 Beteiligten ei-
nen politischen Konsens über die Ziele und Methoden
des Stabilitätspaktes herzustellen. Dies ist in hohem
Maße das Verdienst des Sonderbeauftragten Bodo
Hombach und seines Teams, die diese Leistung in we-
nigen Monaten in einer äußerst komplizierten internati-
onalen Struktur und unter allem anderen als einfachen
Startbedingungen erbracht haben. Bodo Hombach ge-
bührt dafür nicht nörgelnde, kleinkrämerische Kritik
oder die Übertragung innenpolitischer Kritik auf seine
jetzige Aufgabe, sondern die Anerkennung des Deut-
schen Bundestages.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Der Stabilitätspakt muss jetzt von der Planungs- in
die Realisierungsphase eintreten. Die auf dem Tisch lie-
genden Projekte müssen so rasch wie möglich zu kon-
kreten Baustellen werden. Zentrale Bedeutung wird die
Ende März stattfindende Finanzierungskonferenz ha-
ben. Im Mittelpunkt werden dabei die Finanzierung von
Großprojekten mit Symbolkraft, so genannte Leucht-
turmprojekte, stehen, außerdem so genannte Schnell-
start-, oder, wie es auf Neudeutsch heißt, „Quick-start-
Pakete“, mit sofort abfließenden Geldern sowie eventu-
ell die Einrichtung eines Trust-Fund. Die Bundesregie-
rung hat hierfür soeben ein Gesamtkonzept erarbeitet
und, über vier Jahre verteilt, 1,2 Milliarden DM bereit-
gestellt.

Mehrere von Finanzierungsvorbehalten unabhängige
Projekte wurden bereits an den Arbeitstischen abge-
schlossen. So hat der Wirtschaftstisch eine Investment-
charta verabschiedet, in der politische Ziele für alle
Länder der Region festgelegt sind, einschließlich kon-
kreter länderspezifischer Fahrpläne und Zieldaten. Die-
ses Projekt wird eine für private Investoren außerordent-
lich wichtige Grundlage bilden, um Planungs- und
Rechtssicherheit herzustellen und damit Investitionen zu
ermöglichen.

Privatwirtschaftlichem Engagement, Know-how- und
Kapitaltransfer kommt eine Schlüsselrolle für die Ent-
stehung dauerhaft wettbewerbsfähiger Wirtschafts-
strukturen in der Region zu. Die Bundesregierung hält
deswegen eine praxisnahe Beratung vonseiten der Wirt-
schaft für unverzichtbar. Auf unsere Initiative wurde in
der vergangenen Woche in Berlin ein „Business Advi-
sory Council“ gegründet, der die Regierungen beraten
und die Perspektive der Wirtschaft in den Reformpro-
zess einbringen soll. Dem Ausschuss sitzen je ein deut-

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer






(A)



(B)



(C)



(D)


scher und ein französischer Spitzenmanager vor und ihm
gehören Mitglieder aus zahlreichen Stabilitätspaktlän-
dern an, auch aus Südosteuropa.
Ziel ist die Herausbildung effizienter, sich selbst tragen-
der marktwirtschaftlicher Strukturen und die Schaffung
eines regionalen, nach außen offenen Marktes. Dies ist
auch die Konsequenz der Negativerfahrungen, die in
Bosnien gemacht wurden.

Am Tisch für Demokratie und Zivilgesellschaft
wurde eine Mediencharta erarbeitet, die zum Kern ei-
ner Mediengesetzgebung nach westlichem Muster wer-
den kann. Eine freie Medienlandschaft ist eine der ganz
wichtigen, zentralen Voraussetzungen für die Demokra-
tisierung. In vielen Ländern besteht jedoch noch kein
oder nur ein sehr schwacher Schutz für Journalisten.
Diese werden immer wieder Repressionen ausgesetzt.
Um unsere verfügbaren Mittel optimal zu nutzen, wurde
auf Initiative der Bundesregierung eine Clearing-Stelle
für Medienhilfe im Rahmen des Stabilitätspaktes beim
Bayerischen Rundfunk eingerichtet.

Weitere Aktivitäten am Demokratietisch zielen auf
die Schaffung einer starken Zivilgesellschaft, eines
wirksamen Minderheitenschutzes, eine intensivierte Zu-
sammenarbeit der Parlamente sowie eine Verbesserung
der Bildungsinfrastruktur. Hervorheben möchte ich die
Reform der Geschichtsbücher. Investitionen sind hier
von größter Wichtigkeit, um die in der Region noch
stark verankerten nationalen – um nicht zu sagen: natio-
nalistischen – Denkmuster überwinden zu helfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Im Bereich der inneren Sicherheit wurden ebenfalls
mehrere Projekte auf den Weg gebracht, darunter eine
Antikorruptionsinitiative. Von den Regierungen in der
Region wurde das Thema Kleinwaffen auf die Tages-
ordnung gesetzt, das für sie ein großes Problem bei der
inneren Sicherheit darstellt.

Insgesamt ist es beachtlich, wie schnell der Stabili-
tätspakt die Staaten der Region dazu ermutigt hat, in ei-
gener Regie Projektvorschläge vorzulegen. Ohne den
neuen Rahmen wäre dies so nicht vorstellbar gewesen.
Ich möchte hier – ein sehr wichtiger Punkt – auf die
griechisch-mazedonisch-albanische Zusammenarbeit
hinweisen, ebenso auf die gemeinsamen Projektvor-
schläge Bulgariens, Albaniens und Mazedoniens. Er-
freulich ist auch, dass Montenegro sich einigen dieser
Initiativen angeschlossen hat. Die Beteiligten haben da-
bei ausdrücklich erklärt, dass sie im übergeordneten In-
teresse der Zusammenarbeit bereit sind, bestehende bila-
terale Konflikte zurückzustellen. Dies ist genau der rich-
tige und erwünschte Ansatz, um das gegenseitige
Grundvertrauen in der Region zu fördern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Meine Damen und Herren, der politische Richtungs-
wechsel in Kroatien ist von allergrößter Bedeutung für
Kroatien selbst wie für seine Nachbarn, gerade auch für
Serbien. Kroatien hat sich in einem überzeugenden Vo-
tum vom Nationalismus Franjo Tudjmans frei gemacht.

Es hat damit alle Chancen, die Weichen in Richtung
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu stellen und damit
den Anschluss an Europa zu finden.

Nach jahrelanger politisch-mentaler Isolation und in
desolater wirtschaftlicher Lage wird dies Zeit und auch
unsere Hilfe brauchen. Doch die Entwicklung in Slowe-
nien zeigt bei allen Unterschieden, dass dieser Prozess
schneller gehen kann, als viele erwarten. Die Bundesre-
gierung und ihre EU-Partner sind entschlossen, den Kurs
der neuen, demokratischen Führung in Kroatien zu un-
terstützen, gerade auch im Rahmen des Stabilitätspaktes.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir werden dabei darauf drängen, dass unter der neu-
en Führung endlich auch Bewegung in die Frage der
Flüchtlingsrückkehr in die Krajina kommt. Dieses
wird vor allen Dingen für die Demokratisierung in Bel-
grad von überragender Bedeutung sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Damit wird hoffentlich auch die Blockade in anderen
Teilen der Region überwunden werden können.

Die Schlüsselfrage für die Zukunft der Region ist oh-
ne Zweifel die Demokratisierung der Bundesrepublik
Jugoslawien. Hierbei kann und muss der Stabilitätspakt
einen zentralen Beitrag leisten. Es muss klar werden,
dass mit dem Stabilitätspakt keine Mauer um das serbi-
sche Volk gebaut wird – im Gegenteil!


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Wir stehen diesbezüglich in einem fortdauernden Dialog
mit der demokratischen serbischen Opposition und mit
der montenegrinischen Führung.

Unser gemeinsames Ziel ist die Durchführung freier,
unabhängiger und fairer Wahlen in Serbien. Alle serbi-
schen Oppositionsgruppen haben Milosevic am 10. Ja-
nuar aufgefordert, Wahlen auf allen Ebenen bis Ende
April durchzuführen. Die Bundesregierung und ihre EU-
Partner unterstützen, zusammen mit den USA, diesen
Appell mit allem Nachdruck.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Entscheidend ist, dass die serbische Opposition jetzt
geschlossen auftritt, um der Bevölkerung eine glaub-
würdige Alternative zu Milosevic zu bieten. Die jüngs-
ten Erklärungen, künftig gemeinsam vorzugehen, sind
ermutigend. Sie sind im Übrigen maßgeblich auf das
Treffen in Berlin am 17. Dezember zurückzuführen. Zur
Unterstützung der serbischen Opposition wird die Bun-
desregierung bilateral und mit unseren EU-Partnern die
Maßnahmen humanitärer Hilfe und zur Stärkung der un-
abhängigen Medien fortsetzen und noch weiter ausbau-
en.

Ein wichtiges Instrument zur Realisierung solcher
Projekte sind Städtepartnerschaften. Eine entspre-
chende Initiative ist das erste konkrete Projekt des

Bundesminister Joseph Fischer






(A)



(B)



(C)



(D)


Stabilitätspaktes. Auf meine Anregung hin sind die
deutschen Städte zur Mitarbeit im Rahmen von deutsch-
serbisch-montenegrinischen Projektpartnerschaften ein-
geladen und ein Sonderbeauftragter hierfür, Herr Jupp
Vosen, ist ernannt worden. Bisher haben zehn deutsche
Städte Interesse daran bekundet. Wir bauen dabei auch
auf die Unterstützung des Deutschen Bundestages.

Als Antwort auf die gemeinsamen Forderungen der
serbischen Opposition müssen wir unsere Sanktionspoli-
tik jetzt überprüfen. Die Bundesregierung setzt sich ak-
tiv für eine Verschärfung der direkt gegen das Milose-
vic-Regime und seine Freunde gerichteten Sanktionen,
die übrigens schon heute sehr wirksam sind, vor allem
Visa-Listen und ein Einfrieren der Bankkonten im Aus-
land, ein.

Gleichzeitig aber wollen wir die Embargomaßnah-
men, die in erster Linie die Bevölkerung treffen, lo-
ckern: zunächst die Aufhebung des Flugverbots und in
einem zweiten Schritt die Aufhebung oder Suspendie-
rung des Ölembargos. Wie Sie wissen, wird diese Mei-
nung bisher noch nicht von allen EU-Partnern geteilt,
aber wir werden uns in der Union weiter für diesen Kurs
einsetzen. Solange das Ölembargo noch besteht, unter-
stützt die Bundesregierung zudem einen Ausbau des
Programms „Energy for Democracy“.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich denke, das ist ein sehr wichtiger Punkt, auch im
Zusammenhang mit der Veränderung der politischen
Lage in Kroatien: Wir müssen hier klug vorgehen, um
der neuen kroatischen Regierung zu helfen, die Wirt-
schaftskrise zu meistern, während Kroatien gleichzeitig
Ernst machen muss mit seiner Verpflichtung, die Rück-
kehr der Flüchtlinge aus der Krajina zuzulassen und die-
se auch entsprechend praktisch umzusetzen. Gleichzeitig
müssen wir jetzt, nachdem die Opposition in Serbien zur
Einheit gefunden hat, diese Opposition unterstützen,
Montenegro unterstützen und gleichzeitig die Forderung
der Opposition, die inneren Sanktionen aufzuheben, um-
setzen. Dann, so denke ich mir, werden wir eine völlig
andere Lage im Innern Serbiens haben. Dann sind auch
die Chancen, dass die demokratische Opposition wirk-
lich in die Offensive Richtung Neuwahlen kommt und
diese Neuwahlen auch gewinnen kann, sehr gut. Genau
das ist das Ziel unserer Politik, und hierbei hat der Stabi-
litätspakt eine zentrale Funktion.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sehr wichtig ist deshalb jetzt auch die Wiederherstel-
lung der Schiffbarkeit der Donau. Die Donau ist für
die Region eine überragende Verkehrsstraße angesichts
der schwachen landseitigen Verkehrsinfrastruktur. Wir
haben uns für eine Unterstützung der Europäischen Uni-
on bei der Räumung der Fahrrinne der Donau eingesetzt.
Die Union ist dazu grundsätzlich bereit. Die Bundesre-
gierung prüft darüber hinaus ganz konkret die Möglich-
keiten, zum Bau einer Behelfsfußgängerbrücke bei Novi
Sad beizutragen.

Besonderes Augenmerk muss der Entwicklung in
Montenegro im Rahmen der territorialen Integrität der
Bundesrepublik Jugoslawien gelten. Verläuft diese de-
mokratische Entwicklung erfolgreich, so kann sie eine
Schaufensterfunktion für Serbien ausüben. Hier kann
aber auch ein weiteres potenzielles Pulverfass für die
gesamte Region liegen. Die Bundesrepublik hat sich
deshalb von Anfang an für eine Mitwirkung Monteneg-
ros am Stabilitätspakt eingesetzt.

Jetzt geht es vor allem darum, Montenegro bei der
Überwindung seiner großen wirtschaftlichen Schwierig-
keiten zu helfen. Wir müssen die internationalen Finanz-
institutionen, denen bisher aufgrund technischer Prob-
leme die Hände gebunden sind, handlungsfähig machen
und wir müssen natürlich auch selbst handlungsfähig
werden. Die Bundesregierung prüft deshalb gegenwärtig
eigene Möglichkeiten wirtschaftlicher und finanzieller
Zusammenarbeit mit Montenegro.

Auch die weitere Entwicklung im Kosovo wird star-
ke Auswirkungen auf Serbien wie auf Montenegro ha-
ben. Nach den ersten sechs Monaten sind beachtliche
Fortschritte zu verzeichnen: Die äußere Sicherheit ist
dank KFOR gewährleistet. Eine Interimsverwaltung
konnte endlich in diesem Monat aufs Gleis gesetzt wer-
den. Aber die Probleme, denen sich die VN-Mission
UNMIK und die KFOR-Soldaten unter General Rein-
hardt gegenübersehen, sind enorm. Die Arbeit der VN-
Mission steht und fällt mit der Unterstützung, und zwar
mit der materiellen und finanziellen, die sie von der in-
ternationalen Gemeinschaft erhält.

Um der akuten Finanznot der VN-Mission abzuhel-
fen, hat das Auswärtige Amt im letzten Monat
19 Millionen DM aus seinem Haushalt in den Kosovo-
Trust-Fund der Vereinten Nationen überwiesen. Wir
stehen damit an der Spitze der Geber und werden auch
weiterhin unseren Beitrag zur Stabilisierung des Kosovo
leisten.

Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, aber
auch die Gelegenheit nutzen, mich sowohl bei General
Reinhardt als auch bei Herrn Koenigs für die geleistete
vorzügliche Arbeit, die sie im Kosovo im Auftrag der
Vereinten Nationen leisten, recht herzlich zu bedanken.
Ich kann Ihnen auch weiterhin unsere Unterstützung
versichern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Im Stabilitätspakt wird für Südosteuropa erstmals ei-
ne, wenn auch langfristig angelegte, konkrete Perspekti-
ve für den Beitritt zu den euroatlantischen Strukturen
aufgezeigt. Nicht umsonst hat jetzt die Türkei einen Sta-
bilitätspakt für den Kaukasus vorgeschlagen. Die Bedeu-
tung dieser Perspektive kann gar nicht hoch genug ver-
anschlagt werden. Sie wirkt sich – wie es gerade die
jüngsten Beispiele der Slowakei und Kroatiens ein-
drucksvoll zeigen – unmittelbar auf die Demokratisie-
rung dieser Staaten aus.

Die EU steht auch deshalb in besonderer Verantwor-
tung für den Stabilitätspakt. Wir sind aber sehr froh über

Bundesminister Joseph Fischer






(A)



(B)



(C)



(D)


die breite Unterstützung seitens der vielen anderen in-
ternationalen Organisationen, der G 8, unter anderem
durch die Steuerungsgruppe der Finanzminister, der
NATO, der OSZE, der Vereinten Nationen, der OECD
und vor allem auch der internationalen Finanzinstitutio-
nen. Es ist besonders erfreulich, dass sich die USA auch
finanziell so nachhaltig engagieren. Gleiches gilt für Ja-
pan, das – trotz der geographischen Entfernung – die
wirklich beachtliche Summe von über 2 Milliarden Euro
für den Wiederaufbau in Südosteuropa zur Verfügung
gestellt hat. Wir sind hierfür sehr dankbar.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, der Stabilitätspakt als Ge-
samtkonzept für die politische Zukunft Südosteuropas
ist ein ehrgeiziges Projekt. Es ist völlig klar, dass seine
Realisierung eine lange Zeit brauchen wird. Es geht hier
um die Überwindung von tief verwurzelten Denkkatego-
rien und Konfliktursachen, aber auch von erheblichen
institutionellen und ökonomischen Defiziten.

Südosteuropa ist jedoch genauso wenig wie andere
Teile Europas vom Schicksal zu Instabilität, Gewalt und
immer neuen ethnischen Vertreibungen verdammt. Das
zeigen schon die beeindruckenden Fortschritte einzelner
südosteuropäischer Staaten, die bereits jetzt stabilisie-
rend auf ihre Umgebung ausstrahlen. Doch um diesen
Prozess weiterzuführen und zu beschleunigen, braucht
es anhaltende und nachhaltige Unterstützung von außen.

Der Balkan, der in der Geschichte immer wieder eine
Quelle von Instabilität und Krieg auf unserem Kontinent
war, muss endlich zur Ruhe kommen. Das wird er nur,
wenn wir auch diese Region an das Europa der Integra-
tion heranführen. Mit der Arbeit an dem Stabilitätspakt
können wir einen entscheidenden Beitrag für den Frie-
den in Europa leisten.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408400200
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt.


Christian Schmidt (CSU):
Rede ID: ID1408400300
Frau Präsi-
dentin! Meine Damen und Herren! Ein halbes Jahr nach
dem Gipfel von Sarajevo, der durch seinen Ablauf – An-
flug, Gruppenfoto, kurze Reden, Abflug – ein kleines
Schlaglicht auf die Probleme der westlichen Welt im
nachhaltigen Umgang mit Südosteuropa geworfen hat,
ist es an der Zeit, Zwischenbilanz zu ziehen und An-
spruch und Wirklichkeit des Stabilitätspaktes zu unter-
suchen. Man muss sortieren: Was war mit diesem Pakt
geplant, wo war er von vornherein unrealistisch und was
wird den Wirklichkeitstest bestehen? Ich befürchte, dass
wir mit krisenhaften Entwicklungen auf dem Balkan, die
durch den Stabilitätspakt allein nicht verhindert werden,
auch in Zukunft werden rechnen müssen.

Herr Bundesaußenminister, der Ansatz des Stabili-
tätspaktes geht allerdings in die richtige Richtung. Inso-
fern gehen auch wir nicht zur Tagesordnung über. Die
Unterstützung für eine stabile Entwicklung in dieser Re-
gion Europas ist auch für unsere eigene Stabilität ent-
scheidend.
Allerdings ist es dem Stabilitätspakt bisher nicht gelun-
gen, den zugrunde liegenden Teufelskreis zwischen ö-
konomischem Desaster, ethnischer Feindseligkeit und
dem Abhandenkommen tragfähiger Verwaltungsstruktu-
ren zu entkommen. Das liegt sicher zum Teil am hetero-
genen Teilnehmerkreis. Wenn man allein an die große
Anzahl der internationalen Organisationen – 15 an der
Zahl – denkt, bekommt jedermann einen Eindruck da-
von.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wohl wahr!)

Diese Organisationen spiegeln ja nicht nur die Vielfalt
der Möglichkeiten wider, sondern auch die Vielfalt der
unterschiedlichsten Interessen. Es ist auch bisher nicht
recht gelungen, sie glaubwürdig auf eine gemeinsame
Strategie festzulegen.

Ich will das nicht ausschließlich an der Person des
Sonderkoordinators Hombach festmachen. Es leiden
nicht nur die Länder in der Region, die vom Stabilitäts-
pakt profitieren sollen, an der fahrigen Arbeitsweise à la
Sarajevo-Gipfel, die eine Idee an die andere knüpft, die
Ideen aber nicht richtig miteinander verknüpft, sondern
auch daran, dass Herr Hombach – dafür kann er nun
nichts – ein Sonderkoordinator zwar mit Titel, aber ohne
Mittel ist. Die Bereitstellung der Mittel war ja doch sehr
schwierig. Wenn ein Sonderkoordinator zuerst einmal
alle seine Auftraggeber koordinieren muss, dann beste-
hen bei dem Einsatz vielleicht doch wenig Möglichkei-
ten, um das zu tun, was er eigentlich tun sollte.

Die Einigkeit, die Sie, Herr Außenminister, beschwo-
ren haben, scheint nun wirklich nicht in diesem Ausma-
ße vorhanden zu sein, angesichts der Tatsache, dass Frau
Albright gestern in einer öffentlichen Rede die Europäer
ermahnte, sie sollten endlich ihren Verpflichtungen – sie
meinte wohl vor allem die monetären, aber auch andere
Verpflichtungen – in Bezug auf Kosovo nachkommen.
Ich will das nun nicht kommentieren, ich will das nur
einfach darstellen, weil hier doch offensichtlich unter-
schiedliche Akzente gesetzt werden.

Es gibt ja auch, – dies stellt man fest, wenn man
beispielsweise die Verlautbarungen aus Bulgarien ver-
folgt – eine starke Ungeduld in den Mitgliedstaaten des
Solidaritätspaktes. Deswegen stimme ich Ihnen zu: Die
Geberkonferenz im März muss klare Zeichen setzen.
Sie muss finanzielle Mittel bereitstellen – und zwar aus-
gewogen und ohne einseitig zu belasten – und sie muss
dieses Geld schnellstmöglich in Projekte umsetzen.

Es fragt sich aber trotzdem, ob dieser Stabilitätspakt
das Ziel, das wir alle mit ihm mehr oder weniger verbin-
den, wirklich mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung
stehen, und mit der Philosophie, die ihm zugrunde liegt,
erreichen kann. Leuchtturmprojekte und Quick-start-
Pakete – sie scheint Bill Gates mit entwickelt zu haben –
sind sehr interessant, aber sie umreißen eigentlich nicht

Bundesminister Joseph Fischer






(A)



(B)



(C)



(D)


mehr als ein Symbol. Sie geben ein Leuchtfeuer ab, aber
sie überbrücken deswegen noch längst nicht den Ozean
und die reißenden Fluten.

Das grobe Ziel ist umrissen. Man will einen befriede-
ten, dem friedlichen Handel und Wandel geöffneten
Balkan, in dem Konflikte nach den Mechanismen der
Prävention, der Verhandlung und des Ausgleichs gelöst
werden und nicht durch Gewalt und Repression. Da-
rüber sind wir uns völlig einig; das kann niemand ernst-
haft anders wollen. Aber das ist noch keine Strategie.
Die Skizzierung der Schritte zur Erreichung dieses Ziels,
die der Stabilitätspakt vorgibt, mag in die richtige Rich-
tung gehen; entscheidende Fragen kann sie nicht be-
antworten.

Zutreffenderweise schrieb neulich Susan Woodward,
dass der Stabilitätspakt „eine Hülle ohne Strategie“ blei-
be. Damit hat sie wohl Recht. Eine Strategie müsste sich
auch den Fragen stellen, die über das rein Kommunika-
tive und Investive hinausgehen, zum Beispiel der Frage,
wie die politische Gliederung des Balkans zukünftig
aussehen soll. Ohne alle Staaten auf die EU-
Mitgliedschaft zu vertrösten, muss vorher klar werden,
wie beispielsweise der Kosovo staatlich gegliedert wer-
den soll.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Es muss die Frage der weiteren Behandlung der
Minderheiten – das, was im Balladur-Plan angedacht
war – geklärt werden: Wie kann die Verknüpfung zwi-
schen territorialer Situation und ethnischer Diversifika-
tion erreicht werden? Auf diese Frage finde ich im An-
satz des Stabilitätspaktes zwar hochwohllöbliches Den-
ken, aber wir müssen konstatieren, dass er uns bisher
nicht in einer Weise Antworten geben konnte, die wir
erwarten müssten.

Ein Konzept für eine Zeit nicht nur nach Milosevic,
sondern für eine Zeit, in der sich die KFOR-Truppen
wieder zurückziehen können, muss vorhanden sein,
wenn Sie so wollen – damit soll es mit der Computer-
sprache aber sein Bewenden haben – eine Exit-Strategie
genauso wie eine Input-Strategie.
Ich meine damit eine Strategie, mit der versucht wird,
für die Zeit danach tragfähige und nicht nur für den Au-
genblick nützliche Grundlagen zu schaffen. Dieses Kon-
zept erfordert, dass wir uns auch mit der Frage der Prä-
senz europäischer Truppen auf dem Balkan auseinan-
der setzen, etwa ob nach Ansicht der Bundesregierung
eine Dauerstationierung wie in Zypern notwendig sein
wird und welche Strategien zum Rückzug bestehen.
Wenn ein baldiger Rückzug der Truppen als unrealis-
tisch angesehen wird, dann muss die Bundesregierung
dies jetzt auch der Bevölkerung offen sagen. Gespannt
bin ich, welche Vorschläge zur Finanzierung der Bun-
deswehr dann von dieser Bundesregierung präsentiert
werden; denn das wird nicht billig sein. Ich möchte das
nur in den Raum stellen. Das ist eine ganz wichtige Fra-
ge, die immer öfter gestellt wird. Vor einem halben Jahr
haben wir begonnen, uns im Kosovo zu engagieren. In
Bosnien engagieren wir uns schon seit Jahren. Wie soll

der Weg aus dieser Situation heraus aussehen und was
soll nach dem Abzug geschehen? Das ist ein wichtiger
Punkt, über den diskutiert werden muss. Er ist sogar ent-
scheidend, nicht nur für unsere Soldaten. Es muss ein
Übergang von der bloßen Befriedung hin zu einer trag-
fähigen Struktur, auf deren Grundlage die Konflikte so
gelöst werden können, wie es der Bundesaußenminister
in den letzten Sätzen seiner Regierungserklärung be-
schrieben hat, gefunden werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Die nächste Frage ist, ob das Konzept einer ethni-
schen Separierung Grundlage für die Zukunft des Bal-
kans sein darf oder nicht. Das ist eine schwierige, sehr
komplizierte Frage. Wir spüren die Schwierigkeiten,
wenn wir uns angesichts der Entwicklung im Kosovo
die Frage stellen: Kann die KFOR die serbische Min-
derheit im Lande schützen und halten?

In der Frage der Rücksiedlung der Krajina-Serben
nach Kroatien stimme ich Ihnen zu, Herr Außenminister.
Wir erwarten in der Tat von der Führung in Kroatien,
dass sie eine neue Entwicklung einleitet und die Dinge
ernsthafter und konsequenter als bisher angeht. Dahinter
stecken natürlich Grundsatzfragen, die eigentlich den
ganzen Balkan betreffen. Ein Teil unseres Kontinents
war immer schon ein Durchgangsgebiet, in dem sich
schon aus Gründen der Topographie in den verschiede-
nen Tälern andere Ethnien angesiedelt haben. So leben
beispielsweise in Nordserbien – wir reden immer nur
von der ungarischen Minderheit – insgesamt 40 ver-
schiedene ethnische Volksgruppen, die zum Teil sehr
klein sind und die sich auch die Frage stellen: Wie kön-
nen wir in Zukunft in Sicherheit leben, ohne befürchten
zu müssen, dass unser Haus angezündet wird?

Wenn der Stabilitätspakt etwas leisten will, dann
muss er über das hinausgehen, was bisher von Herrn
Hombach vorgelegt worden ist. Aber der Stabilitäts-
pakt – damit komme ich zur Frage der wirtschaftlichen
Beteiligung und der Lösung der fortbestehenden öko-
nomischen Katastrophe – darf sich nicht auf die Frage
der öffentlichen Finanzierung des Wiederaufbaus auf
dem Balkan beschränken; vielmehr muss er versuchen,
Kräfte wirtschaftlicher Dynamik zu entfalten. Deswegen
unterstützen wir ausdrücklich den Versuch des Business
Advisory Council, auch für privates Investment in einer
Situation zu sorgen, in der Unsicherheiten bestehen, die
aber von staatlicher Seite allein auch mit noch so viel
Geld nicht überwunden werden können. Hier bedarf es
der Aktivierung der Kräfte des Marktes mit Flankierung
und Unterstützung durch die öffentliche Seite.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ich glaube, dass wir auf dem richtigen Weg sind, der
eine entsprechende Entwicklung auslösen wird. Aller-
dings steht auch hier der Test noch aus. Wir sind ge-
spannt, was uns der „Wirtschaftstisch“ in seinen nächs-
ten Sitzungen präsentieren wird und wo investiert wer-
den soll. Man darf auch nicht aus der Ferne einen Zaun
um Jugoslawien herum ziehen. Das ist völlig richtig.

Christian Schmidt (Fürth)







(A)



(B)



(C)



(D)


Ich komme zu der von Ihnen angesprochenen Em-
bargopolitik. Ein Embargo ist meistens dann wirksam,
wenn es angedroht wird, und nicht dann, wenn es durch-
geführt wird. Was Jugoslawien und Milosevic betrifft:
Ich stimme zu, dass vom Embargo einiges Sinnvolles
ausgegangen ist. Was allerdings die Aufhebung des
Flugembargos betrifft, so ist schon ganz interessant zu
sehen, dass sich Großbritannien, das zu Beginn dieses
Embargos eine ganz andere Position eingenommen hat,
nun anders verhält. Man muss fragen, was dahinter
steckt. Unter der Überschrift „Einigkeit der Europäer
und der transatlantischen Partner“ wäre es interessant,
darüber nachzudenken.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408400400
Herr Abgeord-
neter, denken Sie an die Redezeit, bitte.


Christian Schmidt (CSU):
Rede ID: ID1408400500
Frau Präsi-
dentin, ich komme zum Schluss.

Der Stabilitätspakt ist ein von uns im Ansatz unter-
stützter Schritt. Er darf nicht überfrachtet werden, weil
er das wahre Problem der ethnischen Gliederung und der
staatlichen Ordnung des Balkans nicht löst. Deswegen
muss da sehr viel mehr „Butter bei die Fische“.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408400600
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gernot Erler.


Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1408400700
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Der Stabilitätspakt für Südost-
europa ist eine Antwort auf Erfahrungen der letzten
zehn Jahre. Diese Erfahrungen waren unterschiedlich.
Es gab Fortschritte bei der europäischen Integration und
bei der Entwicklung der Europäischen Union. Es gab die
Vorbereitungen auf den Erweiterungsprozess, erste
Schritte zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheits-
politik und erfolgreiche Transformations- und Reform-
prozesse in einigen Ländern Osteuropas, Mitteleuropas
und auch Südosteuropas.

Auf der anderen Seite gab es in Südosteuropa aber
ein regelrechtes Desaster: nacheinander vier Kriege im
Auflösungsprozess der Bundesrepublik Jugoslawien,
zweimal mit militärischer Intervention und Beteiligung
des Westens. Dazu kamen unerhört kostspielige Wieder-
aufbaumaßnahmen, die uns lehren, dass Reparatur im-
mer teurer ist als Prävention,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


und eine Fortdauer der Instabilität. Jederzeit können
neue Konflikte, Krisen und auch Kriege in dieser Region
ausbrechen. Das sind die Erfahrungen dieser zehn Jahre.

Insofern stehen folgende Erkenntnisse hinter der Ini-
tiative des Stabilitätspakts. Wir konnten Fehlentwick-
lungen nicht vermeiden, weil es eine Gemeinsame Au-
ßen- und Sicherheitspolitik Europas und des Westens
nicht gab und weil unsere präventiven Instrumente zu

schwach ausgebildet waren. Die Anreize und die Per-
spektiven für die Staaten und die Menschen Südosteuro-
pas waren für ein anderes Verhalten, für eine andere Art
von Konfliktlösung nicht ausreichend. Im Zeitalter der
europäischen Integration und der Globalisierung kann es
ein stabiles Europa aber nur mit einem stabilen Südost-
europa geben; anders ist dies nicht möglich.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Insofern besteht ein Handlungszwang. Die Existenz
einer „Kriegsgeburtsgrotte“, um einen Begriff von Peter
Handke für den Balkan aufzunehmen, ist mit Europas
Zukunft nicht vereinbar.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die gemeinsame Politik Europas und der Weltgemein-
schaft, diese jetzt in Südosteuropa stattfindende Initiati-
ve ist insofern ohne Alternative. Das Drehbuch zu dieser
Politik ist der Stabilitätspakt.

Wie ist der Status im Augenblick? Die wichtigste
Botschaft dieser Debatte sollte sein: Bundesregierung
und Bundestag unterstützen nachdrücklich den Ansatz,
den Weg und die Umsetzung des Stabilitätspakts – gera-
de jetzt in einer schwierigen und kritischen Phase seiner
Genese. Wir sind zu erheblichen Anstrengungen bereit.
Wir erwarten solche aber auch von unseren anderen eu-
ropäischen Nachbarn und Freunden. Wir sind der Mei-
nung, dass die Parlamente in dieser Frage eine wichtige
Rolle spielen sollen, ebenso wie die internationalen Fi-
nanzorganisationen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wo stehen wir heute? Es ist schon gesagt worden:
Die Idee des Stabilitätspaktes kam während des Kosovo-
Kriegs aus Deutschland. Am 10. Juni fand der Kölner
Gipfel statt. Am 30. Juli fand die große Konferenz in Sa-
rajevo statt. 31 Staats- bzw. Ministerpräsidenten und
17 internationale Organisationen haben da ein spektaku-
läres Commitment, eine Selbstverpflichtung, zum Aus-
druck gebracht, die uns bindet. Sie hat Erwartungen ge-
weckt. Diese Erwartungen dürfen nicht enttäuscht wer-
den. Das ist ein ganz entscheidender Punkt.

Seither ist ein halbes Jahr vergangen. Herr Schmidt,
ich danke Ihnen wirklich für Ihre abwägende und sachli-
che Rede, in der Sie zu Recht gesagt haben, dass noch
nicht alle Aufgaben des Stabilitätspaktes erfüllt worden
sind. Aber das Büro des Sonderbeauftragten in Brüssel
hat mit 28 Mitarbeitern eine gute Vorarbeit geleistet.
Auch die drei Tische und der Regionaltisch, die vom
Koordinator selbst geleitet werden, sowie die internatio-
nalen Organisationen haben intensive Arbeit geleistet.

Herr Kollege Schmidt, ich möchte Ihnen ausdrücklich
dafür danken, dass Sie – anders, als es der eine oder an-
dere hier vielleicht erwartet hat – nicht die Person des
Sonderkoordinators in den Mittelpunkt der Auseinan-
dersetzung gerückt haben. Ich möchte meinen Dank aber
mit einer Bitte an Ihre Fraktion verbinden: Sagen Sie
doch einmal Ihren Kollegen im Europäischen Parlament,

Christian Schmidt (Fürth)







(A)



(B)



(C)



(D)


dass es einfach beschämend ist, wenn deutsche Parla-
mentarier in Europa immer wieder so tun, als ob das
Wichtigste am Stabilitätspakt die Nutzung von unbewie-
senen Vorwürfen gegen Herrn Hombach sei. Das lenkt
von der eigentlichen Hauptsache ab und gehört sich ein-
fach auch nicht. Parlamentarier im Ausland sollten sich
nicht so benehmen. Ich wollte Sie einfach bitten, das zu
tun.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Bundestag und Bundesregierung haben dadurch, dass
sie für die nächsten vier Jahre 1,2 Milliarden DM bewil-
ligt und in den Bundeshaushalt eingestellt haben, eine
gute Vorleistung erbracht, der Signalwirkung zukommt.
Dies geschah in der Hoffnung, dass andere dies nachma-
chen. Jetzt befinden wir uns in der entscheidenden Vor-
bereitungsphase für die Finanzierungskonferenz am
29. und 30. März dieses Jahres.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Prozess der De-
finition der regional bedeutsamen Projekte läuft auf
Hochtouren. Wir sind von über 400 solcher Projekte
ausgegangen. Jetzt sind noch 118 in der engeren Prü-
fung. Es ist bemerkenswert, dass 89 davon aus der Regi-
on heraus formuliert worden sind. Die Teilnehmerstaa-
ten des Stabilitätspakts bereiten sich jetzt darauf vor, ih-
re Reform- und Transformationsprojekte auf dieser Fi-
nanzierungskonferenz im März zu präsentieren. Beides
gehört zusammen.

Ich freue mich, Herr Kollege Schmidt, dass Konsens
über die Bedeutung des Business Advisory Council be-
steht, der auf deutsche Initiative hin jetzt die Arbeit auf-
genommen hat; denn es ist in der Tat wichtig, dass füh-
rende europäische Wirtschaftsvertreter die Projekte eva-
luieren, dass sie versuchen, Konzepte zu finden, um das
Investitionsklima in den Ländern zu verbessern, damit
das berühmte Prinzip der „Public-Private-Partner-ship“
Realität werden kann.

Das Ganze allerdings – auch das hat Ihre Rede ge-
zeigt – findet jetzt in einem Umfeld ungeduldiger Er-
wartung statt. Letztes Wochenende haben sich sieben
Regierungschefs aus Südosteuropa – das waren die von
Albanien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Kroatien,
Mazedonien, Rumänien und Ungarn – im bulgarischen
Hissarja getroffen und haben noch einmal diese Unge-
duld und Erwartung zum Ausdruck gebracht.

Auch die Fragen bei uns werden drängender: Wann
wird denn aus den Projekten das, was man Baustellen-
oder Leuchtturmprojekte – das ist ein tolles Wort –
nennt? Das heißt nichts anderes, als dass es Projekte
sind, die den Leuten zeigen sollen, dass – etwa durch
Brückenbau, Straßenbau, Verkehrsverbindungen, Kom-
munikationsverbindungen – konkret etwas für diese Re-
gion passiert.

Ich denke, in dieser Zeit verstärkter Erwartung ist es
unsere Pflicht, die Übersicht zu behalten. Das heißt, wir
müssen erkennen, wie wichtig es war, mit dem Stabili-
tätspakt die politischen Antworten auf den Kosovo-
Krieg zu institutionalisieren. Wir müssen heute doch
von einer Karawane der internationalen Politik sprechen.

Diese Karawane ist längst von Südosteuropa zu anderen
Schauplätzen, nach Osttimor oder nach Tschetschenien,
weitergezogen. Jetzt zeigt sich, wie richtig und wichtig
es war, hier eine Institutionalisierung vorzunehmen.

Es ist wichtig zu unterstreichen, dass wir die Lehren
aus den Erfahrungen mit dem Wiederaufbauprozess in
Bosnien-Herzegowina ziehen müssen. Dort sind schon
mehr als 4 Milliarden Dollar investiert worden. Aber po-
litische Stabilität und wirkliche Perspektiven sind nicht
entstanden. Das hängt auch mit der Vorbereitung dieses
Aufbauprozesses zusammen. Das darf sich beim Sta-
bilitätspakt nicht wiederholen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deswegen war es richtig, eine andere Reihenfolge zu
wählen, die jetzt allerdings Ungeduld auslöst. Diese an-
dere Reihenfolge heißt: Erst werden solche Projekte, bei
denen grenzüberschreitend gearbeitet wird und die etwas
für die Region bringen, definiert, geprüft und Prioritäten
festgelegt. Erst dann wird auf der geplanten Finanzie-
rungskonferenz konkret für jedes einzelne Projekt die
Finanzierung sichergestellt. Das bedeutet: Der Prozess
selber ist schon ein Fortschritt und Fortschritt ist nicht
nur die Summe des am Ende Erreichten. Denn die Frage
der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit soll bei die-
sen Projekten immer eine Rolle spielen. Das beinhaltet
natürlich die Erwartung, aber auch die realistische
Chance, dass unmittelbar nach der Finanzierungskonfe-
renz die Umsetzung, also etwa die Eröffnung von Bau-
stellen, beginnt und dass dann nicht noch einmal ein
langer Verzögerungsprozess einsetzt.

Notwendig ist ebenso – auch das gehört zu dieser
Übersicht –, dass wir für die Reformprozesse bzw. für
die Transformationsprojekte in den jeweiligen Ländern
Finanzierungsregeln finden. Das ist schwierig. Denn
das gehört nicht zur Normalfinanzierung der internatio-
nalen Finanzinstitutionen. Es wird hier an Fondslösun-
gen gedacht. Ich sehe, dass das auf einem guten Weg ist.

Allen, die ungeduldig sind, rufen wir zu: Auch wir
sind es. Aber letztlich führt nur gründliche Vorbereitung
zum Erfolg. Die ist im Gange. Auf dieser guten Basis
muss die Finanzierungskonferenz dann die nächste Pha-
se, nämlich die der konkreten Umsetzung, einleiten.

Natürlich gibt es – darauf haben auch Sie, Herr
Schmidt, hingewiesen – eine ganze Reihe von noch un-
geklärten Fragen und Herausforderungen. Kroatien hat
bisher wenig Projekte grenzüberschreitender Natur defi-
niert. Wir begrüßen den politischen Wechsel, der dort
jetzt stattfindet. Aber das heißt auch, dass wir uns jetzt
beeilen müssen, bis zum März dieses Jahres noch Pro-
jekte zu finden, an deren Durchführung Kroatien sinn-
vollerweise beteiligt werden kann.

Herr Bundesaußenminister, wir begrüßen ausdrück-
lich, dass Sie und die Bundesregierung jetzt erhebliche
Anstrengungen unternehmen, um die Sanktionen und
das Embargo gegenüber der Bundesrepublik Jugosla-
wien zu lockern und aufzuheben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Gernot Erler






(A)



(B)



(C)



(D)


Schon lange haben wir den Eindruck, dass diese Maß-
nahmen mittlerweile eher zur Stabilisierung von
Milosevic und seiner politischen Klasse in Belgrad bei-
tragen, – und zwar auf dem Rücken der Bevölkerung –,
als dass sie als Anreiz für einen Erfolg der Opposition
wirken.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Szeged-
Prozess, also das Bestreben, mit weiteren Städten in der
Bundesrepublik Jugoslawien – ich meine nicht Städte, in
denen die Opposition regiert, sondern jene, die sich zu
den Zielen des Stabilitätspaktes bekennen – Städtepart-
nerschaften zu schließen. Wir wünschen unserem ehe-
maligen Kollegen Jupp Vosen Erfolg dabei. Es ist er-
staunlich: Bereits zehn Orte haben ihre Bereitschaft er-
klärt, neue Städtepartnerschaften einzugehen. Ich nenne
beispielsweise Dortmund, Jena und München. Wir wün-
schen uns, dass das so weitergeht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir müssen einen Weg finden, damit die durch die
Finanzierungsregeln der EIB, der Europäischen Investi-
tionsbank, ausgelöste Selbstblockade aufgehoben wird,
um Montenegro einbeziehen zu können. Diese Regeln
müsste man vielleicht ändern bzw. man müsste andere
bilaterale Maßnahmen treffen. Denn wir alle wissen –
ich will das hier nicht vertiefen –, welche friedenspoliti-
sche Bedeutung das für diese Region hat.

Natürlich ist unsere wichtigste Hoffnung nach wie
vor, dass die Menschen in der Bundesrepublik Jugo-
slawien die Kraft haben und auch Wege finden, dass in
Zukunft Änderungen stattfinden, die das ganze Land an
dem Prozess, der von diesem Stabilitätspakt ausgeht,
teilnehmen lassen. Denn eines ist sicher: Wir können
dem Stabilitätspakt zu einem Erfolg verhelfen; aber dau-
erhafte Stabilität in dieser Region ist ohne die Einbezie-
hung der Bundesrepublik Jugoslawien nicht möglich.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein Projekt möchte ich noch ansprechen – in diesem
Zusammenhang appelliere ich an die Regierungen von
Bulgarien und Rumänien –: Der Bau einer neuen Brücke
über die Donau ist eine unendliche Geschichte. Jetzt be-
steht die Chance – denn es handelt sich dabei um ein
grenzüberschreitendes Projekt –, endlich die Standorte
festzulegen, damit dies zu einem der ersten – jetzt ver-
wende ich noch einmal dieses Wort – Leuchtturmprojek-
te des Stabilitätspaktes wird. Dieses Projekt ist wirklich
überfällig. Ich appelliere an die zuständigen Regierun-
gen, dies umzusetzen.

Meine Damen und Herren, der Stabilitätspakt hat für
meine Fraktion eine besondere Bedeutung. Er ist ein
entscheidender Baustein für eine neue, vorausschauende
Friedenspolitik sowie für eine wirksame Krisenpräventi-
on und er ist für uns zugleich die wichtigste Lehre aus
dem Kosovo-Krieg.

Das ist nicht nur ein verbales Bekenntnis. Wir haben
in unserer Fraktion eine Taskforce für den Stabilitäts-
pakt für Südosteuropa mit Vertretern aus acht verschie-
denen Ausschüssen des Bundestages gebildet, die re-

gelmäßig die Arbeit des Stabilitätspaktes begleiten. Wir
haben im September hier in Berlin eine Konferenz mit
deutschen Experten durchgeführt. Wir haben im Oktober
hier eine Parlamentarierkonferenz mit 20 Abgeordneten
aus acht Ländern des Stabilitätspaktes durchgeführt und
bereiten eine zweite für das erste Halbjahr dieses Jahres
vor. Deswegen kann ich abschließend sagen: Wir setzen
auf die Signalwirkung dieser Aktivitäten und dieser
Bundestagsdebatte in den anderen europäischen Län-
dern. Die Hoffnungen der Menschen in Südosteuropa
auf den Stabilitätspakt dürfen auf keinen Fall enttäuscht
werden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408400800
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Kinkel.


Dr. Klaus Kinkel (FDP):
Rede ID: ID1408400900
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich habe jetzt 14 Monate
lang ruhig auf meinem „Resozialisierungssitz“ auf der
Oppositionsbank gesessen


(Heiterkeit)

und in Ruhe und Gelassenheit beobachtet, wie sich die
Außenpolitik in Deutschland entwickelt hat.

Lieber Herr Kollege Fischer, ich möchte mich in
meinen elf Minuten Redezeit ganz besonders an Sie
wenden. Wenn ich Sie reden höre, sehe ich Sie immer
noch auf Ihrem Abgeordnetenplatz sitzen. Dann erinnere
ich mich an manche päpstliche Attitüde, die Sie –
manchmal lautstark, manchmal herablassend und man-
chmal auch hochmütig – eingenommen haben. Das hat
sich in eine staatsmännische Attitüde gewandelt: sor-
genzerfurcht und von der Verantwortung niederge-
drückt.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Die Last der ganzen Welt!)


Dazu kann ich nur sagen: Das ist gut so, aber Sie dürfen
nicht alles vergessen, lieber Herr Kollege Fischer. Damit
Sie das nicht tun, möchte ich ein paar Bemerkungen ma-
chen und auch ein paar Fragen an Sie richten.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist gut, dass wir heute den Stabilitätspakt für Süd-
osteuropa erörtern. Er ist eine gute Idee, keine Frage.
Das haben wir damals alles begrüßt. Dennoch muss ich
Ihnen dezidiert und deutlich zwei Vorwürfe machen:
Erstens ist nicht ausreichend nachgearbeitet und umge-
setzt worden, was beschlossen worden ist. Zweitens
kommt die für März vorgesehene Finanzierungskonfe-
renz mit weitem Abstand zu spät.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich nehme an, dass die meisten von Ihnen heute die

„FAZ“ gelesen haben. Dort lautet eine Überschrift – das
ist schon erwähnt worden –: „Das teuerste Familienfoto

Gernot Erler






(A)



(B)



(C)



(D)


der Geschichte: Vom Stabilitätspakt in Südosteuropa ist
noch wenig zu spüren“. Das stammt von Matthias Rüb,
einem Kenner der Region. Er schreibt:

Nach dem mit großem Pomp inszenierten Gipfel
von Sarajevo haben sich rasch die Mühen der Ebe-
ne eingestellt.

Genauso ist es. Dem ist im Prinzip nichts hinzuzufügen.
Ich kritisiere nicht, dass Herr Hombach noch nicht

alles erreicht hat, was er erreichen muss. Ich kritisiere,
dass er damals abgeschoben und als der falsche Mann
dorthin geschickt wurde. Ich kritisiere auch, dass man
ihm zumutet, hin und her zu reisen und zu rasen, ohne
über aureichende Mittel und die notwendige Unterstüt-
zung zu verfügen. Man kann den eigenen Mann nicht so
herumrennen lassen, wie es hier geschieht; man sollte
ihn auch etwas rumrennen lassen, wie es hier geschieht;
man sollte ihm auch etwas mitgeben und ihn genügend
unterstützen. Wenn die heutige Regierungserklärung die
Unterstützung für Hombach darstellen soll, dann hätte
ich den Zeitpunkt für diese Erklärung ein bisschen frü-
her gewählt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Seit acht Monaten sind die Militäraktionen vorbei. Das
war zwar viel Zeit für diejenigen in der Regierung, die
nach- und abarbeiten müssen. Ich bleibe dabei: Das ging
zu langsam.

Die Menschen auf dem Balkan erwarten jetzt keine
großspurigen Ankündigungen, sondern tatsächliche Hil-
fe, damit die Region zur Ruhe und wieder auf die Beine
kommen kann. Das müssen wir bewältigen; das ist viel
wichtiger als großspurige Ankündigungen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Aufhebung des Ölembargos für Jugoslawien: Herr

Kollege Fischer, Sie wollen es lockern. Die F.D.P. und
ich halten das zum jetzigen Zeitpunkt für falsch. Ich
räume ein, dass man darüber unterschiedlicher Meinung
sein kann. Ich sage Ihnen, warum wir es für falsch hal-
ten: nicht, weil die Amerikaner, die Briten und die Nie-
derländer anderer Meinung als Sie sind und unsere Auf-
fassung unterstützen, sondern deswegen, weil wir glau-
ben, dass Sie mit dem, was Sie erreichen wollen, nicht
zurande kommen werden. Sie werden dadurch nicht die
Opposition zusammenführen können; Sie werden das
Gegenteil erreichen. Das ist unsere Auffassung. Milose-
vic wird dadurch gestützt. Mit Nachgeben wird man die-
sen Mann nicht los; man geht ihm höchstens auf den
Leim. Ich habe diesbezüglich meine eigenen Erfahrun-
gen. Milosevic hat als Hauptverantwortlicher vier Krie-
ge angezettelt. Er ist für vielfachen Völkermord verant-
wortlich und er gehört endlich nach Den Haag. Ihm soll-
te nicht entgegengekommen werden. Das ist meine Mei-
nung.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Noch ein Wort zur Bevölkerung, Herr Kollege

Fischer. Wir teilen Ihre Meinung, dass den Menschen

geholfen werden soll. Aber man muss ein klein wenig
unterscheiden: Die Bevölkerung des Irak etwa kann ih-
ren Anführer nicht selbst wählen. Die Serben aber ha-
ben – zum Teil mit sehr großer Mehrheit – Herrn Milo-
sevic gewählt. Deshalb ist die Situation dort ein klein
wenig anders. Der ohnehin tief gespaltenen jugoslawi-
schen Opposition wäre durch die Aufhebung des Öl-
und Flugembargos nicht gedient. Deshalb sind wir der
Meinung, dass diese Aufhebung nicht richtig wäre.

Die heutige Debatte kann nicht ohne ein Wort zu
Tschetschenien geführt werden, Herr Kollege Fischer.
Ich muss Ihnen vorhalten: Von der wortgewaltigen Rhe-
torik des Menschenrechtlers Fischer ist nicht sehr viel
übrig geblieben.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich habe einmal nachgelesen, was Sie uns 1995 vor-
gehalten haben – deshalb die Erinnerung an Ihre Zeit auf
der Oppositionsbank –: Fischer sprach mit emphatischer
Gebärde von barbarischen Kriegen und grausamen Mor-
den einer nuklearen Supermacht gegen ein kleines kau-
kasisches Volk. Er beschwor mit ungeheurer Geste die
damalige Regierung, endlich eine westliche Initiative
gegen Moskau zu ergreifen.

Herr Fischer, ich kann heute nur sagen: Sie waren in
der ersten Reihe der westlichen Politiker, die nach Mos-
kau gereist sind und die dem – ich sage das bewusst so –
Kriegsherrn im Kreml die Aufwartung gemacht haben.
Sie warnen davor, Russland zu isolieren. Außer verbaler
Verurteilung haben Sie aber nicht viel unternommen.
Ich weiß, wie schwierig diese Frage ist. In diesem Punkt
sind wir uns einig.


(Zuruf der Abg. Angelika Beer BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


– Was zur Debatte gehört, können wir selber entschei-
den. Im Übrigen hat sich auch Herr Fischer früher nicht
immer an das Thema gehalten.


(Lachen bei der SPD)

Heute sieht die Welt ein klein wenig anders aus. Sie

haben es nicht einmal erwogen – das halte ich Ihnen
vor –, im Europarat für die Suspendierung der Mitglied-
schaft Russlands einzutreten und zum Beispiel mit dem
IWF über wirtschaftliche Sanktionen zu reden. Also
kleine Münze und schwache Erklärungen im Vergleich
zu dem, was Sie früher großmundig erklärt haben.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Im Übrigen wettert Cap Anamur nicht umsonst. Es ist

offensichtlich sehr schwierig, Hilfslieferungen in diese
Region zu bringen. Ich möchte Sie fragen: Was tun das
Auswärtige Amt und speziell Sie, damit dort die huma-
nitären Maßnahmen durchgeführt werden können? Im
Hinblick auf das, was Sie mir früher vorgeworfen haben,
müssen Sie sich schon vorhalten lassen – ich sage
das ganz ruhig –: Aus dem Menschenrechtsgladiator
Joschka Fischer ist dann doch ein Menschenrechtsdäum-
ling geworden, und zwar in vielerlei Hinsicht.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Dr. Klaus Kinkel






(A)



(B)



(C)



(D)


Nur auf die Türkei, Herr Kollege Fischer, wird drauf-
gehauen. Auf der einen Seite wird der Kandidatenstatus
unterstützt – ich persönlich bin dafür – und auf der ande-
ren Seite wird aus innenpolitischen Gründen wegen der
Grünen die Leo-2-Frage in den Vordergrund gestellt. Es
wird außerdem mitgeteilt, wie im Bundessicherheitsrat
entschieden wurde. Damit wird deutsche Außenpolitik
als Schwerpunkt der Tätigkeit des Außenministers sozu-
sagen zur Politik der Grünen in den Kreisverbänden.
Das kritisieren wir und halten wir Ihnen vor.

Im Übrigen möchte ich Ihnen eine Frage stellen, die
mir sehr wichtig ist. Ich hatte den Eindruck, dass Sie
sich ungeheuer stark auf die Fragen fokussieren, die in-
nenpolitisch für Sie von Bedeutung sind. Wenn wir uns
die Weltlage anschauen, Herr Fischer, dann können wir
erkennen, dass die Welt – Deutschland übrigens auch –
andere Probleme hat. Ein klein wenig erinnert mich Ihre
Politik an „CNN-Außenpolitik“ – eine CNN-Außenpoli-
tik zum Wohlgefallen grüner Kreisverbände. Dort ein
Zückerchen für die Fundis, hier ein Zückerchen für die
Realos.


(Dr. Eberhard Brecht [SPD]: Quatsch! Nein!)

– Sie müssen sich das schon anhören.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Herr Fischer, Sie haben jetzt zum vierten Mal – hören

Sie genau zu; Ihr Lachen ist fast wieder so hochmütig
wie zur Zeit der Opposition; Ihre staatsmännische Atti-
tüde sollte eine andere Haltung zulassen, gerade dann,
wenn Sie nur so angegriffen werden, wie Sie es früher
selbst getan haben –


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

eine Afrikareise abgesagt, diesmal mit der Begründung,
Sie müssten Wahlkampf in Schleswig-Holstein machen.

Ich frage Sie: Wo bleibt Ihr Engagement für Afrika,
den gepeinigten Kontinent mit 800 Millionen Menschen,
der 23 Prozent der Erdoberfläche bedeckt? Wo bleibt Ihr
Engagement für Lateinamerika? Wo bleibt Ihr Engage-
ment für den asiatisch-pazifischen Raum? Wo bleibt Ihr
Engagement für den arabischen Raum? Still ruht der
See, kaum ein Wort in 14 Monaten.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Dr. Eberhard Brecht [SPD]: Gehört Afrika zum Balkan?)


– Ja, zum Balkan gehört vor allen Dingen der Punkt, den
ich noch vorbringen möchte.

Wo ist Ihre Unterstützung für die deutsche Wirt-
schaft in Außenhandelsfragen, auch was den Balkan
anbelangt?


(Zuruf des Abg. Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Der Fraktionsvorsitzende der Grünen hat immer be-
sondere Stärken, wenn er hinten sitzt.


(Lachen bei der F.D.P.)

Deutschland ist die drittgrößte Wirtschaftskraft, die

zweitgrößte Exportnation der Welt. Herr Fischer, ich

frage Sie: Haben Sie in 14 Monaten ein einziges Mal ei-
nen Wirtschaftsvertreter in Ihrem Flugzeug mitgenom-
men, auch in die Regionen, über die wir gerade reden,
wo Aufbau stattfinden soll und wo wir daran interessiert
sind, dass insbesondere auch deutsche Wirtschaftsvertre-
ter ihre Chance haben?


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich komme zum Schluss. Der Balkan braucht keine
Sonntagsreden,


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So eine, wie Sie sie gerade gehalten haben!)


sondern Aktionen. Jugoslawien braucht keine unüber-
legte Aufhebung der Sanktionen, Frau Beer, zum fal-
schen Zeitpunkt, sondern muss vielmehr Milosevic los-
werden. Wir brauchen vor allem keine Menschenrechts-
rhetorik und keine eventorientierte, sondern eine solide
Außenpolitik, und wir brauchen kontinuierliche, be-
sonnene und durchdachte außenpolitische Arbeit.

(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN]: Sagt der gescheiterte Außenminister!)

Herr Kollege Fischer, hören Sie es sich an! Ich muss-

te es mir früher auch anhören. Es reicht nicht aus, das ei-
gene Image zu verwalten. Was wir von Ihnen erwarten,
ist, deutsche Außenpolitik zu gestalten, die diesen Na-
men verdient.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das macht er mehr, als Sie es zu Ihrer Zeit getan haben!)


Ich möchte, liebe Frau Beer, sagen: Vielleicht ist der
Heiligenschein doch ein klein wenig angekratzt. Ich
würde empfehlen, ihn wieder ein bisschen aufzupolie-
ren.
– Vielen Dank.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: Ungenügend, Herr Kollege, Thema verfehlt!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408401000
Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, ich möchte noch einmal auf Fol-
gendes hinweisen: Im Verlauf dieser Debatte haben
dreimal Handys geklingelt. Wir hatten vereinbart, dass
Handys in diesem Raum nicht benutzt werden, weder
passiv noch aktiv.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wir setzen die Debatte fort. Der Kollege Lippelt hat
das Wort.


Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408401100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Alt-
außenminister,


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dr. Klaus Kinkel






(A)



(B)



(C)



(D)


bei dem, was ich eben gehört habe,

(Zurufe von der F.D.P.: War gut. – War Spitze!)

habe ich mir gesagt: 14 Monate Wunden geleckt, mein
Gott, wie tief muss das gesessen haben!


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

Jetzt komme ich mit ein paar Fragen; das lässt sich ja

ein bisschen substantiieren. Sie haben gesagt: Ankündi-
gungen und nichts folgte. Herr Kinkel, dieser Außenmi-
nister, diese Regierung hat das Problem Kosovo in ei-
nem Moment übernommen, als neun Monate versäumt
worden waren, wo durchaus eine aktive, präventive Au-
ßenpolitik hätte eingreifen können – nicht militärisch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zweitens. Es sind fünf Jahre seit Dayton versäumt
worden. Vielleicht erinnern Sie sich an eine Sitzung
des Auswärtigen Ausschusses, wo ich die Ehre hatte, Ih-
ren Bericht über das Normalisierungsgespräch mit
Milosevic zu hören. Was Sie dem Ausschuss
berichteten, war: „Ich habe ihm gesagt, er muss nun aber
sofort die abgelehnten Asylbewerber zurücknehmen.“
Sie erinnern sich vielleicht an das, was wir Ihnen damals
parteiübergreifend, CDU/CSU inklusive, gesagt haben,
und Sie erinnern sich vielleicht an das, was Ihnen Herr
Schwarz-Schilling damals gesagt hat. Herr Kinkel, Sie
wissen doch, dass drei Viertel dieser Abzuschiebenden
Kosovo-Albaner sind.
Die wollten Sie in eine Situation zurückschicken


(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


– ja, so war das damals –, die politisch nicht gelöst war.
Warum haben Sie nicht zu Milosevic gesagt: „Lösen Sie
das Kosovo-Problem erst einmal politisch!“? Damals
war es anzupacken gewesen. Jetzt zu kommen und zu
sagen, es hat nur Ankündigungen gegeben und der Sta-
bilitätspakt läuft nicht – lieber Herr Kinkel, das geht
nicht. Sie haben fünf Jahre verpasst und erheben hier
nun Vorwürfe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Sie haben doch jetzt die Verantwortung! Sie regieren! – Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Getroffene bellen!)


– Ich bin nicht getroffen. Aber ich kann doch wohl solch
pharisäerhaftes Verhalten, an das ich mich erinnere, an-
sprechen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn jemand getroffen sein sollte, schlage ich vor: Wir
können uns einmal unterhalten. Sie sind der Sache so
fern wie ich. Lassen wir das jetzt hier.

Jetzt aber zu dem, was ich sagen wollte.

(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Zur Sache!)


Selten hat sich der Termin einer zuvor zwischen den
Fraktionen und der Regierung vereinbarten Debatte als
so glücklich gewählt erwiesen wie der heutige. Warum?
Vereinbart hatten wir diese Debatte unter dem Gesichts-
punkt, dass es sich bei dem Stabilitätspakt um ein ganz
wichtiges Teil gerade von Deutschland den europäi-
schen Partnern vorgeschlagener gemeinsamer Außenpo-
litik handelt. Das parlamentarisch zu begleiten steht
deshalb diesem Bundestag gut an. Die Anerkennung,
Herr Kinkel, dass hier wirklich einmal eine hand-
werklich gute Politik gemacht worden ist, habe ich ver-
misst.

Vereinbart hatten wir die Debatte unter dem Ein-
druck, dass der Außenminister und sein Amt von Beginn
des Krieges an sehr intensiv nach Friedensmöglichkeiten
gesucht und diese auch gefunden hatten, zugleich aber
auch an die Planung einer Nachkriegspolitik schon in
Kriegszeiten gegangen waren, dass dieser Nachkriegs-
planung die Einsicht zugrunde lag, dass das Regime
Milosevic nur deshalb Massenmord und Vertreibung
hatte entfesseln können, weil es Gegensätze, die sich aus
multiethnischem Zusammenleben in jeder Gesellschaft
ergeben können, ausgenutzt, ja angeheizt hatte,
Gegensätze, die in ihrem Entstehen weit, bis zum Ersten
und Zweiten Balkankrieg zu Beginn des vorigen
Jahrhunderts, zurückreichen, und dass deren
Überwindung deshalb auch einer Langfriststrategie
bedarf, eines langfris-tigen politischen und
ökonomischen Engagements Europas.

Der Stabilitätspakt ist entworfen worden als ein
kunstvolles Geflecht von runden Tischen: drei Hauptti-
sche – Demokratie, Minderheiten, wirtschaftlicher
Wiederaufbau, Sicherheit – und eine Reihe von Unter-
tischen – all dies mit rotierendem Kovorsitz von je ei-
nem EU-Mitglied und regionalen Mitgliedern des Pak-
tes, mit der Ausnahme Serbiens, solange es noch unter
der Milosevic-Regierung steht.

Herr Schmidt, Sie haben ja vorhin zwischen den Mit-
teln und der Philosophie des Stabilitätspaktes unter-
schieden. Sie haben gesagt, die Mittel seien – darin
stimmen wir ja überein – immer eher zu wenig vorhan-
den. Ich habe nicht recht verstanden, was Sie in diesem
Zusammenhang mit Philosophie meinten. Denn Sie sag-
ten dann: Eine Strategie ist nicht da. Sie machten das an
der Frage des ungeklärten Status des Kosovo fest.


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Nicht nur!)


– Ja, auch an anderen Punkten. Ich will jetzt hier nicht
darauf eingehen. Das war aber der Hauptpunkt.

Ich weise auf Folgendes hin: Wir beide haben doch
die Verhandlungen von Rambouillet und den Vertrag
miterlebt. Dort wurde die Frage des Status des Kosovo
auf fünf Jahre verschoben. Jetzt zu sagen: „Wir können
in diesen komplizierten Prozess der Neuordnung der
Balkan-Verhältnisse nur einsteigen, wenn wir diese Fra-
ge vorher lösen“, das wird den Problemen nicht gerecht.

Der Stabilitätspakt, wenn man ihn recht betrachtet, ist
ein langfristiger Prozess, wie das der Kollege Erler ja
auch schon gesagt hat. Er ist in seiner Zeitplanung und

Dr. Helmut Lippelt






(A)



(B)



(C)



(D)


seiner Bedeutung mit dem KSZE-Prozess zu verglei-
chen. Dass dieser KSZE-Prozess die Welt verändert hat,
das wissen wir. Wir haben davon, Gott sei Dank, profi-
tieren können. Dass der Stabilitätspakt seinerseits den
Balkan verändern wird und ihn zu Europa führen wird,
das hoffen wir, und deshalb müssen wir ihn auf jeden
Fall intensiv unterstützen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir dürfen aber von ihm nicht die Beantwortung von
Fragen verlangen, deren Beantwortung, gerade weil es
sich um einen Prozess handelt, in diesem Moment gera-
dezu schädlich wäre. Es wäre gewiss sehr schädlich, ge-
rade die Frage, die Sie aufgeworfen haben, zu beantwor-
ten.

Dieser Stabilitätspakt bedarf in der Tat der begleiten-
den Debatte, weil er bei nachlassendem öffentlichen In-
teresse in der Gefahr steht, in der diplomatisch-
bürokratischen Routine ins Leere zu laufen. Deshalb
sind wir für diese Debatte dankbar und müssen heute –
gelegentlich nimmt mir mein Außenminister die besten
Gedanken weg;


(Zurufe von der F.D.P.: Oh! – Dr. Eberhard Brecht [SPD]: Unerhört!)


er hat es schon erwähnt, einem Abgeordneten bleibt
aber, dies zu vertiefen – darüber diskutieren, welche Be-
deutung die kroatischen Wahlen für den Stabilitätspakt
haben, und darüber reden, ob sie eine Neuakzentuierung
der Politik des Stabilitätspaktes möglich und erforder-
lich machen.

Sehen Sie, Herr Schmidt, so schnell muss man den
neuen Prozesscharakter einbeziehen: zunächst den Tod
Tudjmans, des Gegenspielers und doch auch Komplizen
von Milosevic, des Bruders im Geiste nationaler Auto-
kratie, dann die nationalen Wahlen mit dem Triumph der
Opposition, dem Durchbruch zur Demokratie und nun
die erste Runde der Präsidentenwahl, wonach sich der
für den zweiten Wahlgang ausgeschiedene moderate
Parteigenosse Tudjmans, Außenminister Granic, fragt,
ob er mit vorheriger Niederlegung seiner Parteiämter
nicht viel zu langsam vom untergehenden Schiff der
Herrschaftspartei abgesprungen sei und nicht stattdessen
den radikaleren Schritt des Austritts hätte machen müs-
sen.

Wir erleben zurzeit die Selbstauflösung des Herr-
schaftsinstruments der HDZ des Herrn Tudjman. Wir er-
leben insofern einen enormen, aufregenden Struktur-
wandel, etwas, was für uns vor zwei Monaten, als
Tudjman Bosnien zerstören wollte mit der Forderung,
auch die Herzegowina müsste jetzt die dritte Entität
werden, unvorstellbar war. Wir erleben die Abwendung
vom Ungeist nationalistischer Isolierung, die Erkenntnis
der Wähler, dass die wirtschaftliche Malaise der Selbst-
isolierung dem Regime Tudjman zu verdanken ist, und
die Hinwendung der Wähler nach Europa, zu den Prin-
zipien demokratischer Kooperation.

Das bedeutet – zaghaft haben die noch im Rennen um
die Präsidentschaft befindlichen beiden Kandidaten und
der zukünftige Ministerpräsident Racan das Wort ja

auch in den Mund genommen – die Anerkennung des
UNHCR-Prinzips der Rückkehr der Flüchtlinge in ih-
re Heimat. Das bedeutet also, auf das Kernproblem zu-
gespitzt, die jetzt mögliche und durchzusetzende Rück-
kehr der Krajina-Flüchtlinge, den Bruch mit der Flücht-
lingspolitik Tudjmans, die eine Politik nationalistischer
Sabotage einer solchen Rückkehr war.


(Christian Schmidt hoffe, dass Sie Recht haben!)


– Das können wir gemeinsam in Auftrag geben. Wir
sind dabei.

Wer die Berichte des UNHCR, die dieser dem runden
Tisch eins vorgelegt hat, liest, der weiß, dass es noch
1,5 Millionen interner Flüchtlinge im ehemaligen Jugos-
lawien gibt, der liest von ersten vom UNHCR identifi-
zierten Gruppen, etwa von 14 500 bosnischen Kroaten,
die aus Kroatien zurück in ihre Heimat Bosnien wollen,
oder von 16 000 Serben, die zurück in ihre Heimat
Kroatien möchten, oder von Kroaten, die zurück in ihre
Heimat in die jetzige Republika Srpska wollen. Die
Rückkehr der Krajina-Flüchtlinge ist deshalb die
Schlüsselfrage. Überall, insbesondere in Bosnien-Herze-
gowina und in der Republika Srpska, blockieren einsit-
zende Flüchtlinge die Rückkehr der Geflohenen. Überall
blockieren nationale Parteien und Regierungen den
Ringtausch von Wohnungen – der Kollege Schwarz-
Schilling hat dies in seinen Berichten anschaulich darge-
stellt –, offensichtlich weil eine Rückkehr wieder zu
multiethnischem Zusammenleben führen würde, was die
zurzeit noch Herrschenden absolut nicht wollen.

Selbst der im Dayton-Vertrag als exemplarisch vor-
geschlagene und besonders leicht durchführbare Aus-
tausch der Flüchtlinge in Jajce und Bugojno ist noch
nicht über kümmerliche Anfänge hinausgekommen.
Deshalb: Die Chance muss genutzt werden, Hilfen für
wirtschaftliche Aufbauprojekte in Kroatien – es müssen
sehr viel mehr auf den Weg gebracht werden; denn wir
haben hier eine neue Situation – mit der Rückkehr der
Krajina-Flüchtlinge zu konditionieren. Darauf müssen
wir vorübergehend die Energien und die Mittel des Sta-
bilitätspaktes konzentrieren. Davon würde eine große
Ausstrahlung auf Bosnien und Restjugoslawien, auf das
Kosovo, ausgehen.

Damit bin ich beim zweiten Thema. Ich muss es jetzt
nicht mehr, wie ich gedacht habe, nur unter Bezugnah-
me auf die Anträge der PDS behandeln, denn es wurde
hierüber schon reichlich diskutiert. Die Frage ist: Wie
gliedert man Serbien, obwohl es noch unter dem Re-
gime eines in Den Haag angeklagten Präsidenten steht,
in die Politik des Stabilitätspaktes ein? Die PDS spricht
– sie hat das mehrfach gefordert – von einer Aufhebung
der Sanktionen. Dies ist richtig, aber – wie auch schon
gesagt wurde – die Nomenklatura-Sanktionen – Sper-
rung der privaten Auslandskonten der Betroffenen und
der Visa für Auslandsreisen – müssen doch wohl beste-
hen bleiben.


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Geschenkt, kein Problem!)


– Okay.

Dr. Helmut Lippelt






(A)



(B)



(C)



(D)


Im Übrigen ist es richtig – das kann weiter begründet
werden –, dass die Wirtschaftssanktionen – und dies
mit Blick auf die F.D.P. – nur dem Regime und einer pa-
rasitär-mafiösen Schicht zugute kommen. Benzin kann
man in Belgrad – ich war kürzlich dort – an jeder Ecke
kaufen, nur eben sehr viel teurer. Der Chef der Mord-
kommandos, Arcan, der jetzt umgebracht wurde, be-
herrschte circa 20 Prozent des gesamten jugoslawischen
Ex- und Importhandels. Sanktionen können eine jugos-
lawische Exportwirtschaft kaum noch treffen, weil es
eine solche nicht mehr gibt. Sanktionen eignen sich aber
hervorragend, die Schuld an einer wirtschaftlichen Mise-
re der internationalen Gemeinschaft zuzuschieben.

Jugoslawien befindet sich auf dem Weg in irakische
Verhältnisse. Sanktionen erhalten dem Diktator die Loy-
alität einer apathischen Bevölkerung,


(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [PDS])

weil sie immer wieder ein überzeugendes Argument für
den demagogischen Hinweis auf äußere Feinde abgeben.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Dem Regime werden kroatische Erkenntnisse, die die
kroatischen Wähler jetzt haben, über die eigene Regie-
rung als politischen Verursacher der wirtschaftlichen
Malaise erspart, solange man das Land unter Sanktion
stellt.

Jetzt zu den Donaubrücken: Ja, in Novi Sad fließt die
Donau über drei Brücken statt unter ihnen hindurch.
Nur, auch hier ist es wieder etwas komplizierter, als die
PDS – mit Verlaub – meint.


(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [PDS])

Die Trümmer würde die Donau-Schifffahrtskommission
ja räumen – dazu bedarf es keiner Aufforderung an die
Bundesregierung –, allerdings will Belgrad die Brücken
erst wieder gebaut sehen und dann der Räumung der
Trümmer zustimmen. Und zum Wiederaufbau wird sich
keine westliche Regierung von einem Regime erpressen
lassen, das die Spirale der Gewalt im Kosovo in Gang
setzte. Da ist es schon sinnvoller – als solch leicht da-
hingeschriebene Anträge, verehrter Kollege –, was die
Stadt Dortmund tut. Sie ist mit Novi Sad durch Städte-
partnerschaft verbunden. Sie sammelt Geld für die erste
Brücke und wird sie bauen.

Es ist auch wichtig, dass bei Eisgang – man sagt in
Novi Sad, die Wahrscheinlichkeit liegt bei einmal in
zehn Jahren – nicht nur das Umland betroffen ist, son-
dern die ganze Altstadt unter Wasser steht und absäuft.
Deshalb muss bei einem möglichen strengeren nächsten
Winter die Donau tatsächlich geräumt sein. Nur, das ist
nicht die vordringliche Sorge des Regimes. Wer mit der
Zerstörung Jugoslawiens in Slowenien und im Kosovo
begann, wird damit in Montenegro, im Sandschak und
der Vojvodina enden. Wir sprechen damit über die ge-
fährliche Zuspitzung der innenpolitischen Verhältnisse
in Serbien.

Doch zunächst ist darauf hinzuweisen – was auch
schon geschehen –, dass es gerade deshalb richtig ist, die

Isolierung der serbischen Gesellschaft zu durchbrechen,
und zwar auf jeder nur möglichen Ebene. Die Bundesre-
gierung bemüht sich zusammen mit anderen Regierun-
gen der EU darum. Dazu gehört vor allem die Förderung
der Kontakte zu jenen Städten, die seit den Lokalwahlen
1997 oppositionelle Mehrheiten haben und trotzdem
unterschiedslos von den Bomben getroffen wurden. Ich
zähle nur beispielhaft auf: Novi Sad mit erheblichen
Umweltschäden, Pancevo – 8 Tonnen Quecksilber sind
in die Erde gegangen – oder Kragujevac mit den zerstör-
ten Zavasta-Autowerken oder eben Niš.

Es ist richtig, dass die EU die demokratischen Reprä-
sentanten dieser Städte mehrfach zu Konferenzen lud,
dass aber mehr als die Erdöllieferungen im Winter nach
Niš und Pivot bisher nicht möglich waren und dass mit
solchen Konferenzen die Bürgermeister und andere Ver-
treter der Opposition dem Spott des Regimes immer
mehr ausgeliefert werden. Das muss man klar sehen. Je
öfter sie zu diesen Konferenzen ohne vorzeigbare Er-
gebnisse kommen, umso mehr werden sie zu Hohnfigu-
ren der Regierungspropaganda.

Wenn wir aber von der Zuspitzung der innenpoliti-
schen Lage in Serbien selbst sprechen, so müssen wir
sagen: Der Mord an dem Kriegsverbrecher Arkan mag
ja noch der Rivalität mafiöser Gruppen zuzuschreiben
sein; das versuchte Attentat gegen Draskovic war je-
doch von ganz anderer Art. Selbst wenn sich die Urhe-
berschaft des staatlichen Geheimdienstes nicht zweifels-
frei nachweisen lässt, Draskovics eigene Anhänger
glauben daran und sie nehmen das Gewehr wieder in die
Hand.

Wenn Draskovic als inzwischen wichtigster Opposi-
tionspolitiker die Bekanntgabe eines Wahltermins bis
Ende April fordert und wenn andererseits das Regime
nicht daran denkt, so etwas vor Ende dieses Jahres zu
tun – wenn überhaupt –, so sehen wir einem sehr heißen
Sommer entgegen. Wenn die Spannungen hinsichtlich
Montenegro dazugerechnet werden, müssen wir feststel-
len: Wir stehen vor einem Bürgerkrieg, in den politisch
zu intervenieren kaum möglich sein wird, solange es
keine diplomatischen Beziehungen gibt, und in den mili-
tärisch zu intervenieren völlig ausgeschlossen ist.

Deshalb sind intensive Ausstrahlungen von Erfolgen
des Stabilitätspakts in Kroatien und in Bosnien auf den
Rest Jugoslawiens dringend erforderlich. Es ist die ein-
zige Art zurzeit möglicher präventiver Außenpolitik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Nochmals: Die Bundesregierung, ihr Außenminister,
hat sehr früh ein vorzügliches Gerüst für eine Politik zur
Heilung der Balkanprobleme entworfen. Wir müssen
diese Politik unterstützen und sie vorantreiben.

Ein letzter Punkt. Ein Finger weist dann doch auf uns
selbst. 300 000 Flüchtlinge sind nach Bosnien zurück-
gekehrt, 30 000 sind noch hier. Es handelt sich zum
größten Teil um Traumatisierte und um Leute, die als
Augenzeugen für Den Haag von großem Gewicht wä-
ren.

Dr. Helmut Lippelt






(A)



(B)



(C)



(D)


Der Innenminister ist leider nicht mehr da, aber ich
appelliere an die Bundesregierung, diesen Gruppen end-
lich Bleiberecht zu geben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Sonst würden wir eine Politik diskreditieren, mit der
wir – bei allen Problemen, die sie jedem Einzelnen von
uns bereitet hat – in europäischer Gemeinsamkeit die
hoffentlich letzte große Krise Europas bewältigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408401200
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1408401300
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mir zu Beginn
meiner Rede eine knappe Bemerkung zum Beitrag des
verehrten Kollegen Kinkel erlauben. Es drängt mich ein
bisschen danach und man soll ja manchmal einem Drän-
gen nachgeben, auch in einer solchen Frage.


(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Wie meinen Sie das?)


– Mehrdeutig meine ich das, Herr Westerwelle.
Natürlich ist es Ihr Recht, jederzeit und zu allen Fra-

gen in diesem Parlament zu diskutieren. Das kann und
sollte Ihnen keiner bestreiten. Aber vielleicht wären Sie
etwas klüger beraten gewesen, wenn Sie zu den außen-
politischen Fragen etwas länger geschwiegen hätten.


(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Das hätten Sie wohl gern!)


Ihr Beitrag hat ehrlich gesagt einen Gestus gehabt wie
„Was ich schon immer einmal sagen wollte“. Ich glaube,
bei einem solchen Gestus mischen sich auch Fragen un-
ter, die in dieser Art und Weise nicht dazugehören.

Was ich wiederum gut daran finde, dass Sie zu au-
ßenpolitischen Fragen gesprochen haben, ist: Man weiß
wieder, was man verloren hat. Es ist wichtig, dass man
das weiß und schätzen kann. Das macht ja auch Freude.


(Heiterkeit bei der PDS)

Jetzt zum eigentlichen Thema. Die bisherige Bilanz

des Stabilitätspaktes wird aus meiner Sicht auch da-
durch nicht besser, dass sich die Bundesregierung dazu
erklärt und die Fraktionen von SPD und Grünen hier ei-
nen Antrag einreichen, dessen Hauptinhalt ehrlich ge-
sagt darin besteht, der Regierung auf die Schulter zu
klopfen. Gerade weil die Ausgangslage sehr kompliziert
war und niemand Wunder erwartete, wäre eine kritische,
die Probleme benennende Analyse doch angebracht ge-
wesen. Doch diese Analyse fehlt, und das ist kein Zufall.
Meines Erachtens war der Stabilitätspakt von Anfang an
in einer Schieflage und ist daraus auch nicht herausge-
kommen. Ich will Ihnen die Gründe nennen, die mich zu
diesem Urteil bringen.

Erstens. Der Stabilitätspakt war der Versuch einer po-
litischen Antwort auf den Kosovo-Krieg, aber er ist
selbst durch den Krieg gezeichnet und deformiert. Wenn
es aber heute, fast ein Jahr nach dem Krieg, im Antrag
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen heißt – ich zitiere
das –, dass „sich die Geschlossenheit der NATO beson-
ders bewährt“ habe, könnte es einem doch die Sprache
verschlagen, tut es mir aber nicht. Ich will Sie gar nicht
auf das verweisen, was die PDS immer wieder vorgetra-
gen hat, aber ich will deutlich wiederholen: Ich bin mir
heute sicherer denn je, dass unser Nein zum Krieg po-
litisch, juristisch und moralisch begründet und richtig
war.


(Beifall bei der PDS)

Ich finde, Ihnen müssen doch die Ohren klingen,

wenn die „FAZ“ vom 20. Januar 2000 schreibt – ich zi-
tiere zwei Dinge daraus –, dass der Bundestag „aufgrund
einer unzureichenden Informationslage“ einem Krieg-
seinsatz zugestimmt habe und „der Krieg im Kosovo zu
keiner entscheidenden Verbesserung der Menschen-
rechtssituation der dortigen Bevölkerung geführt hat“.


(Dr. Eberhard Brecht [SPD]: Sehr mutig!)

Zweitens. Dass der Stabilitätspakt durch den Krieg

gezeichnet und deformiert wurde, zeigt sich schon darin,
dass Jugoslawien ausgeschlossen und zusätzlich mit
Sanktionen belegt wurde. So konnte der Pakt auch als
Anti-Serbien-Pakt verstanden oder missverstanden wer-
den. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang feststel-
len: Es ist an der Zeit, dass die Embargos und die Sank-
tionen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien aufgeho-
ben werden.


(Beifall bei der PDS)

Der Sonderberichterstatter des UN-Generalsekretärs

für die Lage der Menschenrechte in der Region, Jiri
Dienstbier – dieser Name dürfte Ihnen ja geläufig sein –,
stellt dazu in seinem Bericht fest:

Einige Unzulänglichkeiten kann man schon jetzt
bei der Durchführung des Stabilitätspaktes erken-
nen, so zum Beispiel die Tendenz, Serbien zu iso-
lieren, das den geographischen und wirtschaftlichen
Mittelpunkt der Region darstellt. Der Sonderbe-
richterstatter ist der Überzeugung, dass Embargos
und ähnliche Maßnahmen der internationalen Ge-
meinschaft nur dazu beitragen können, anti-
demokratische Regimes in der Region zu stärken,
und sie stellen selbst einen groben Verstoß gegen
die Menschenrechte dar.

Herr Außenminister, es sollte Sie doch nachdenklich
machen, wenn der UN-Sonderbeauftragte in Ihrer Politik
einen groben Verstoß gegen die Menschenrechte sieht.

Nun ist, was die Embargopolitik angeht, eine Ver-
änderung in der Position der Bundesregierung zu erken-
nen. Ich finde, dass diese Worte und diese Ankündigung
auch unter Beweis gestellt werden sollten. Nach dem
Debattenbeitrag, den Kollege Lippelt gehalten hat, gehe
ich mit der Hoffnung schwanger, dass man endlich kon-
struktiv mit unseren Anträgen umgehen wird.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)


Dr. Helmut Lippelt






(A)



(B)



(C)



(D)


Wenn Sie also gegen die Fortsetzung des Ölembargos
sind, wird diese Forderung nicht deswegen falsch, weil
wir als PDS die Aufhebung beantragt haben. Sie können
damit umgehen.

Was die zerstörten Donaubrücken angeht: Sie müssen
geräumt und wieder aufgebaut werden. Kollege Lippelt,
es wird doch jeder einsehen, dass man von der Bundes-
republik Jugoslawien nicht erwarten kann, zur Brücken-
räumung Ja zu sagen ohne Hoffnung auf Wiederaufbau.
Da kommt doch kein Sinn hinein.


(Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, nein!)


Ich glaube auch, dass man festhalten muss, wer unter
dem Embargo in Serbien leidet. Das sind die einfachen
Menschen, die hungern, die frieren, die unterdrückt
werden, die keine Perspektive haben.


(Beifall bei der PDS)

Unter dem Embargo leidet doch nicht die Nomenklatura.
Vor allem deswegen muss dieses Embargo aufgehoben
werden.

Was den Kosovo angeht, so sollte sich gerade der
Außenminister noch einmal die Äußerung des von ihm
hier gewürdigten Generals Reinhardt vor Augen halten,
der das Geld, das in den Krieg gesteckt worden ist, mit
dem Geld verglichen hat, das zum Wiederaufbau im Ko-
sovo fehlt. Er hat gesagt, dies sei eine riesengroße
Dummheit gewesen. Der ganze Krieg war eine riesen-
große Dummheit.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408401400
Das Wort hat
jetzt der Kollege Eberhard Brecht.


Dr. Eberhard Brecht (SPD):
Rede ID: ID1408401500
Sehr geehrte Frau Prä-
sidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kolle-
gen! Es gibt kein Ende der Geschichte und schon gar
kein Ende der Geschichte des Balkans. Das ist die Er-
fahrung, die wir in Europa gemacht haben. Das Konzept
„Eine Nation – ein Staat“ hat zu vielen blutigen Kriegen
geführt. Heute hatten wir eine Gedenkstunde, und diese
Gedenkstunde hat auch daran erinnert, dass nationales
Denken in die Katastrophe führen kann.

Deshalb orientieren wir uns heute in der Europäi-
schen Union an einem Integrationskonzept. Denn wer
miteinander Sicherheit teilt, wer miteinander kulturell
kommuniziert, wer miteinander Handel treibt, der hat
keinen Grund, aufeinander zu schießen. Die große Zahl
erfolgreicher Minderheitengesetze und Autonomierege-
lungen in Europa beweist, dass sich scheinbar unlösbare
ethnische Konflikte am Ende relativieren.

Meine Damen und Herren, Südosteuropa hat in der
Vergangenheit nach dem Zusammenbruch des sozialisti-
schen Systems und mit dem Zerfall Jugoslawiens zu-
nächst einen anderen Weg gewählt. Als Antwort auf
Demokratiedefizite, auf zentralistische Bevormundung

feierte eine alte Idee ihre Renaissance, nämlich die
Transformation multiethnischer Staaten in eine Land-
schaft ethnisch homogener Nationalstaaten.

Eine nationalstaatliche Abgrenzung ist aber kaum in
Übereinstimmung mit allen Ethnien in einer Region
möglich. Wenn nämlich das Recht auf Selbstbestim-
mung – das wird immer wieder eingefordert – egozent-
risch nur auf die eigene Nation konzentriert bleibt, ent-
stehen neue sicherheitspolitische Risiken. Solche Risi-
ken werden noch erhöht, wenn Nationalökonomien sich
abschotten und damit natürlich die wirtschaftliche Pros-
perität behindert wird.

Meine Damen und Herren, derzeit werden wir mit
Bestrebungen aus Montenegro und Kosovo konfron-
tiert, die Bundesrepublik Jugoslawien verlassen zu
wollen und einen eigenen Nationalstaat zu begründen.
Die Fälle liegen ziemlich verschieden. Trotz dieser Un-
terschiede gibt es eine Reihe von Argumenten, die man
zu hören bekommt, wenn man nach Podgorica oder nach
Pristina reist. Da wird ein vermeintliches Recht auf
Selbstbestimmung – in Klammern: Sezession – einge-
klagt. Da wird hingewiesen auf die Ungewissheit einer
Demokratisierung des Milosevic-Regimes. Und wer
weiß – so argumentieren die entsprechenden Politiker in
Pristina und Podgorica –, was nach Milosevic kommt?

Da wird die Gefahr beschworen, dass auch diese bei-
den Regionen in den Strudel des wirtschaftlichen Ab-
wärtstrends Belgrads hineingezogen werden, und da
wird die Hoffnung geäußert, noch viel mehr in den Sta-
bilitätspakt einbezogen werden zu können.

Bereist man jedoch weitere südosteuropäische Staa-
ten, wird man angesichts solcher Träume mit klaren Re-
alitäten, mit klaren realen Ängsten konfrontiert, da man
sich im Fall eines sich ablösenden Montenegros Bürger-
kriegsunruhen ausrechnen kann. In Skopje zum Beispiel
befürchtet man eine Implosion Mazedoniens, gäbe es ei-
ne unabhängige Republik Kosovo. Ich denke, in diesem
Raum glaubt auch niemand an die Beteuerungen, die wir
aus den Kreisen der Albaner in Mazedonien immer
wieder hören, es würde nie einen Anschluss an eine sol-
che Republik Kosovo geben. Ich erinnere auch daran,
dass die ethnischen Zentrifugalkräfte in Bosnien-
Herzegowina, die durch Dayton leidlich eingefangen
wurden, wieder neuen Auftrieb bekämen, käme es zur
Bildung von weiteren Nationalstaaten.

Meine Damen und Herren, der von SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen vorgelegte Entschließungsantrag plä-
diert daher für den integrativen Ansatz, auch und gerade
für Südosteuropa. Es führt nämlich kein Weg vorbei an
einem friedlichen Nebeneinander, wenn schon bei-
spielsweise ein Miteinander im Kosovo derzeit undenk-
bar zu sein scheint.

Eine Lösung der bestehenden Sicherheits-, Wirt-
schafts- und Sozialprobleme in Jugoslawien ist nicht
durch eine weitere Abgrenzung voneinander erreichbar,
sondern nur durch die Entwicklung von Demokratie,
Menschen- und insbesondere Minderheitenrechten, wie
sie in der Kopenhagener Erklärung 1990 niederge-
schrieben worden sind, und die Ermöglichung eines

Wolfgang Gehrcke






(A)



(B)



(C)



(D)


freien Handels. Genau dies ist auch der Ansatz des Sta-
bilitätspaktes.

Natürlich kann die westliche Gemeinschaft Menschen
nicht dazu zwingen, miteinander zu kooperieren, aber
sie kann, der Philosophie des Stabilitätspaktes folgend,
jene Kräfte in Serbien unterstützen, die künftig als de-
mokratische Kooperationspartner ihren Nachbarn zur
Verfügung stehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, ich möchte noch auf die
Bemerkungen von Herrn Gehrcke eingehen. Natürlich
wird Serbien nicht isoliert. Es gibt viele Beziehungen,
von denen auch der Bundesaußenminister gesprochen
hat. Es existieren Städtepartnerschaften, und auch das
Energieprogramm wird durch uns gefördert. Meines Er-
achtens – das ist die Antwort – kann es nicht darum ge-
hen, in einen Dialog mit einem verbrecherischen Re-
gime einzutreten. Herr Gysi hat diesen Dialog einmal
begonnen, aber ich glaube, wir müssen auf eine andere
Karte, nämlich auf die demokratischen Kräfte in Ser-
bien, setzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zurufe von der PDS)


Die Ablösung des verbrecherischen Regimes von
Slobodan Milosevic erzwingt man andererseits nicht da-
durch, dass Sanktionen aufrechterhalten werden. Hier
möchte ich Herrn Kinkel widersprechen: Es geht nicht
nur um den von außen erzwungenen Solidarisierungsef-
fekt des serbischen Volkes, das darbt und in Lethargie
verbleibt, mit Milosevic, sondern es geht – das sagen die
Experten immer wieder – auch um eine massive Unter-
stützung der organisierten Kriminalität und des
Schwarzhandels, der auf dem Balkan durch dieses Sank-
tionsregime neue Blüten treibt. Ich glaube, es ist höchste
Zeit, über die Sinnhaftigkeit eines solchen Sanktionsre-
gimes nachzudenken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Damit komme ich zu einem anderen Antrag der PDS,
in dem die volle Einbeziehung des Regimes in Belgrad
in die Unterstützungsprogramme des Stabilitätspaktes
gefordert wird. Ich kann mir kaum vorstellen, dass wir
Herrn Milosevic dieselbe Unterstützung gewähren wie
den Staaten, die den Weg der Demokratisierung ge-
gangen sind.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich zusammenfassen: Wir sollten der Versuchung wi-
derstehen, einer scheinbar schnellen Lösung der Kon-
flikte auf dem Balkan durch eine muntere Nationalstaa-
tenbildung den Vorzug zu geben. Wir sollten vielmehr
auf eine nachhaltige Politik der Integration, der Unter-
stützung demokratischer Staaten setzen. Wir sollten den
Stabilitätspakt aktiv begleiten und ihn unterstützen, da-
mit wir langfristig zum Frieden auf dem Balkan kom-
men.

Ich bedanke mich.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408401600
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Peter Hintze.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1408401700
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Vorweg: Ich finde es
gut, dass wir diese Parlamentsdebatte haben, und ich
glaube, dass das Thema öffentliche Aufmerksamkeit
verdient. Das Thema verdient vielleicht sogar mehr
Aufmerksamkeit, als es im Moment im Plenum erfährt.
Ich finde es gut, dass unsere Regierung dazu eine Regie-
rungserklärung abgegeben hat.

Es hat ein wenig Aufregung gegeben, als der frühere
Bundesaußenminister Kinkel hier das Wort ergriffen hat.


(Gernot Erler [SPD]: Weil er das Thema verfehlt hat!)


Es hat dazu bereits einige unsachliche Kommentare ge-
geben. Ich finde erstens, er hat hier einen sehr guten
Beitrag geleistet,


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Wolfgang Gehrcke [PDS]: Oberlehrer! Zensuren erteilen!)


und zweitens kritisieren wir ja nicht das, was die Bun-
desregierung in der Frage der Außen- oder Europapolitik
falsch macht. Wir sagen noch nicht einmal, dass sie in
der Europa- oder Außenpolitik alles falsch macht. Nein,
ich sage sogar, sie macht in der Europa- und Außenpoli-
tik sehr viele Dinge richtig.

Der Kollege Erler hat schon verwirrt darauf reagiert,
dass wir auf die Person des Koordinators nicht einge-
gangen sind. Das tun wir in dieser Debatte auch nicht.
Die Regierung macht in der Sache sehr vieles richtig.
Uns beschwert aber, Herr Außenminister Fischer – das
hat Herr Kinkel sehr schön herausgearbeitet –,


(Gernot Erler [SPD]: Was hat er?)

dass sich hinter oder – schlimmer noch – vor eine
manchmal durchaus richtige und interessante Politik ein
allzu großes Stück Selbstverliebtheit unseres Bundes-
außenministers schiebt


(Zuruf von der PDS: Das ist Ihnen ja völlig fremd!)


Das ist das, was wir hier kritisieren.

(Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: Das Wort Südosteuropa ist noch gar nicht gefallen!)


In den letzten 10 Jahren hat kaum ein Thema so viel
europäische Kraft gefordert wie das Thema Südosteuro-
pa. Herr Kinkel hat davon gesprochen, der Bundes-
außenminister hat davon gesprochen. Wir haben hie-
rüber viele Debatten geführt, und ich finde es auch gut,
dass wir heute über den Stand der Dinge Rechenschaft
ablegen.

Dr. Eberhard Brecht






(A)



(B)



(C)



(D)



(Gernot Erler [SPD]: Kommen Sie doch mal zur Sache!)


Die Europäische Union und Deutschland haben
enorm viel Kraft in diese Sache hineingesteckt. Wir ha-
ben politische, finanzielle und militärische Ressourcen
mobilisiert, und wir haben durch die Aufnahme von
Hunderttausenden von Flüchtlingen auch einen großen
Beitrag dazu geleistet, dass dieses Problem gelöst wer-
den konnte.

Ich finde, in diese Debatte gehört auch ein Dank an
die vielen Helfer, an unsere Bundeswehrsoldaten, an die
Polizeibeamten, an die ehrenamtlichen Helfer der Orga-
nisationen, die unter Rückstellung manch anderer Dinge
in die Krisengebiete gegangen sind und dort geholfen
haben.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Nun hat der Bundesaußenminister in seiner Rede ge-
sagt, der Stabilitätspakt komme jetzt in eine entschei-
dende Phase. Das ist ohne Frage richtig. Wir debattieren
hier darüber, welche Entscheidungen fallen, was also
entschieden wird.

Wir haben heute gehört, es geht um schnell startende
Leuchttürme. Zugegeben, der Bundesaußenminister hat
bei den Worten „Leuchttürme“ und „Quickstart“ selbst
geschmunzelt. Ich meine, die Menschen dort brauchen
keine Leuchttürme und Quickstarts; sie brauchen Stra-
ßen, Arbeitsplätze, Schulbücher, und das im Rahmen ei-
nes vernünftigen Gesamtkonzepts. Ich hoffe, dass sich
hinter dem glanzvollen Symbol des Leuchtturms kon-
krete Dinge wie Straßen, Arbeitsplätze und Schulbücher
auch tatsächlich verbergen, damit dem pompösen Gipfel
und den großen Worten jetzt auch vernünftige Taten, die
den Menschen helfen, folgen. Wenn diese Taten geplant
sind, sind wir bereit, die Bundesregierung darin zu un-
terstützen, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Gernot Erler [SPD]: Darauf können wir einen nehmen!)


Schmerzhaft hat die Europäische Union im vergange-
nen Jahrzehnt ihre Unzulänglichkeit erfahren müssen,
und vollständig haben wir sie noch nicht überwunden.
Anfang der 90er-Jahre waren die Einsicht und die Fä-
higkeit, Stabilität auf dem Balkan herzustellen, das
Richtige zu tun, noch nicht gegeben. Ich erinnere mich
daran, dass andere europäische Partner sagten, dort mili-
tärisch etwas zu unternehmen, das sei zu teuer. Heute
wissen wir, dass es zu teuer war, am Anfang nichts zu
tun. Das ist eine Erkenntnis, die in Europa gewachsen
ist, und es ist positiv, dass wir heute sagen können, dass
sich das verändert hat.

An Südosteuropa zeigte sich die politische Schwäche
der Europäischen Union, und an Südosteuropa zeigt sich
auch, was wir hier noch zu leisten haben. Wir sind als
Europäische Union sehr stark im Export von Waren und
Dienstleistungen; wir müssen einfach im Export von
Stabilität noch stärker werden. Das wäre der größte
Dienst, den wir in Europa und an Europa leisten können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Nun, meine sehr geehrten Damen und Herren, für uns
gilt der Grundsatz: Es kann uns nicht auf Dauer gut ge-
hen, wenn es unseren Nachbarn auf Dauer schlecht geht.
Deswegen will ich auch Rednern aller Parteien Recht
geben, die hier sagten: Wir können nicht immer die
Aufmerksamkeit von Krisenherd zu Krisenherd lenken,
sondern müssen jetzt schauen, dass nach dem öffent-
lichkeitswirksamen Gipfel auch tatsächlich die Dinge
vor Ort betrieben werden.

Herr Bundesaußenminister, wir hörten gestern in un-
serer Anhörung im EU-Ausschuss, dass die 3 Millionen
US-Dollar, die Bosnien für die Übernahme der Gipfel-
kosten versprochen worden sind, noch nicht bezahlt
worden seien. Ich weiß nicht, ob das zutrifft, aber ich
wäre dankbar, wenn die Regierung in dieser Debatte da-
zu noch etwas sagte. Gleich spricht noch die Frau Minis-
terin für Entwicklungszusammenarbeit, und vielleicht
kann sie dazu etwas sagen.

Das wäre natürlich hammerhart, wenn es stimmte,
wie es gestern in unserer Anhörung gesagt wurde: Man
veranstaltet einen großen Gipfel – Christian Schmidt hat
ihn ja eben ein bisschen beschrieben –, der eine Menge
Kosten verursacht – das haben Gipfel so an sich –, aber
Bosnien-Herzegowina, das wirklich auf die letzte Mark
angewiesen ist, wartet noch auf 3 Millionen US-Dollar.
Ich wäre der Regierung dankbar, wenn sie uns darüber
Auskunft geben könnte, ob dies so zutrifft, wie es ges-
tern in der Anhörung im Europaausschuss gesagt wurde.


(Gernot Erler [SPD]: Einmal Geschäftsführer, immer Geschäftsführer!)


Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt die Bemühungen
der Bundesregierung, der Europäischen Union und der
internationalen Gemeinschaft, Frieden, Freiheit, De-
mokratie und Minderheitenschutz in Südosteuropa zu
verankern. Nur dort, wo es für alle Freiheit und gesi-
cherte Verhältnisse gibt, herrschen auch Stabilität und
Frieden. Der Stabilitätspakt kann dazu einen wichtigen
Beitrag leisten, wenn er richtig angelegt wird.

Nun will ich auf einen weiteren kritischen Punkt zu
sprechen kommen. Wir unterstützen das Projekt, aber
wir erlauben uns Kritik im Detail. Deswegen, liebe Kol-
legen von der SPD, sind auch die Zwischenrufe absolut
unangebracht, denn man kann ja nicht sagen: Die Sache
ist richtig; deswegen ist eine Kritik im Detail nicht er-
laubt.


(Gernot Erler [SPD]: Sagt doch gar keiner!)

Ich möchte also einen kritischen Punkt im Detail als

Beispiel bringen. In der Erkenntnis der Notwendigkeit
der Sache ist ein Konferenzmechanismus in Gang ge-
setzt worden, und zwar nach dem Motto: Die Konferen-
zen werden immer größer, aber die Effizienz der Konfe-
renzen wird immer geringer. Man muss die Frage stel-
len – deswegen ist die von Herrn Kinkel zitierte „FAZ“-
Überschrift mehr als berechtigt –, ob dem Anspruch tat-
sächlich die Wirklichkeit entspricht. Man muss auch
fragen, ob man sich nicht mit der Konstruktion, immer
mehr Institutionen einzubinden, die dann wieder koordi-

Peter Hintze






(A)



(B)



(C)



(D)


niert werden müssen, wobei für die Koordination dann
wieder ein Koordinator eingesetzt werden muss, zu sehr
in Selbstbeschäftigung verstrickt, die bei den Menschen
vor Ort zu wenig ankommen lässt und die bei den Staa-
ten der Region, die mitwirken können und wollen, das
ungute Gefühl verstärkt, hier werde Geopolitik ohne ihre
eigene Beteiligung gemacht. Wir wollen – nur dann gibt
es eine tragfähige Lösung –, dass die Menschen und die
Staaten vor Ort tatsächlich beteiligt werden.

Damit komme ich auf die Frage zu sprechen, die sehr
schmerzt: Wie kann sichergestellt werden, dass die
Menschen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden, dort
wieder leben können? Es ist eine große bleibende Wun-
de – das ist in Bosnien und im Kosovo so, dass ethni-
sche Minderheiten bei der Rückkehr in ihre Dörfer und
Häuser keine reale Chance haben. Das ist ein Riesen-
problem. Wir stellen fest – auch ich habe kein Patentre-
zept –, dass man mit Zwang offensichtlich nicht das not-
wendige Vertrauen stiften kann. Wir stellen fest, dass in
diesem Problem der Keim für ein neues Problem liegt:
Wenn Gruppen, die in ihrer Heimat nicht mehr leben
können, in andere Regionen verbracht werden – denken
wir zum Beispiel an die Vojvodina –, dann gefährdet
dies die Balance in diesen Regionen und sorgt für die
Entstehung neuer Konflikte.


(Dr. Eberhard Brecht [SPD]: Was empfehlen Sie denn?)


– Das habe ich eben geschildert. – An diesem Problem
müssen wir gemeinsam arbeiten. Wir schaffen dafür nur
dann eine Lösung, wenn wir die Staaten der Region
beteiligen, wenn wir – das möchte ich klipp und klar sa-
gen; darin soll kein Hauch der Bevormundung liegen –
für ein demokratisches Serbien sorgen und wenn wir die
demokratischen Kräfte in Serbien stärken.


(Zuruf von der PDS)

– Sie sind da die allerschlechtesten Ratgeber; das möch-
te ich Ihnen sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Verehrter Herr Zwischenrufer, es waren doch die kom-
munistischen Kräfte in diesem Hause, die sich mit Herrn
Milosevic zusammengesetzt haben und die in ihm ihren
Bündnispartner gesucht haben. Sie müssen sich also
ganz zurückhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der PDS: Herr Hintze, hören Sie auf, über Geld zu reden!)


Eine der zentralen und entscheidenden Aufgaben ist,
dafür zu sorgen, dass die Menschen in ihre Heimat zu-
rückkehren können, dass sie ihr Schicksal selbst in die
Hand nehmen können und dass wir unsere Hilfe so leis-
ten, dass dort eine eigenständige wirtschaftliche Ent-
wicklung möglich ist. Es stimmt nachdenklich, dass un-
sere Hilfe etwa 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
von Bosnien-Herzegowina ausmacht – es ist positiv,
dass wir helfen –, dass dieser Prozentsatz auch noch
durch das, was die dort eingesetzten Soldaten und
Beamten ausgeben, erhöht wird, dass aber die Arbeitslo-
sigkeit gewaltig ansteigt.

Lassen Sie mich zum Schluss noch Folgendes sagen:
Über dem 20. Jahrhundert stand der Satz: Der Balkan
produziert mehr Geschichte, als der Rest Europas ver-
dauen kann. Wir haben im 21. Jahrhundert die Chance,
das Tor zu einer Friedensordnung für Südosteuropa
aufzuschließen. Der Stabilitätspakt ist dafür ein Schlüs-
sel. Wir wollen, dass mit diesem Schlüssel sinnvoll um-
gegangen wird, dass das Tor aufgestoßen wird, dass jetzt
auf der Grundlage der Ergebnisse der Beratungen und
Konferenzen konkrete Projekte entstehen, dass Straßen
gebaut werden – denken wir nur an den Verkehrskorri-
dor Nr. 8, die Straßenverbindung von der albanischen
Küste über Skopje nach Bulgarien –, dass der Vorschlag
der Konferenz der Anrainerstaaten, die in der vorigen
Woche in Bulgarien stattgefunden hat, aufgegriffen
wird, nicht nur zu schauen, wie viel Geld überhaupt be-
reitgestellt werden kann, sondern das Geld auch so be-
reitzustellen, dass Investitionen getätigt werden und Ar-
beitsplätze entstehen. Wir wünschen uns, dass sich diese
Region im 21. Jahrhundert mit Europa verbunden fühlt
und dass wir uns mit ihr verbunden fühlen und dass die
Kriege auf den Balkan, die den Anfang und das Ende
des 20. Jahrhunderts bestimmt haben, der Vergangenheit
angehören. Wenn das der Stabilitätspakt schafft, dann
sind wir von der CDU/CSU bereit, ihn mit Herz und
Verstand zu unterstützen, dann schauen wir über Detail-
fehler hinweg, obwohl wir sie weiter benennen werden,
und dann können wir auch einen Koordinator verkraften,
selbst wenn wir der Meinung sind, dass es Vorschläge in
Europa gab, die vielleicht zu einer besseren Lösung ge-
führt hätten.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408401800
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Uwe Hiksch.


Uwe Hiksch (PDS):
Rede ID: ID1408401900
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Das Haus eint, dass wir alle mei-
nen: Die Region Südosteuropa braucht einen Stabilitäts-
pakt, der dafür sorgt, dass in der Region alles unterstützt
wird, was einen sozialen, einen wirtschaftlichen und ei-
nen zivilgesellschaftlichen Wandel hin zu demokrati-
schen und vor allen Dingen friedlichen Strukturen er-
möglicht. Dennoch unterscheiden uns die Vorstellungen
sowohl von der Form als auch vom Inhalt dieses Stabili-
tätspaktes.

Sehr geehrter Herr Außenminister, ich glaube, auch
Sie wissen, dass die Entstehung des Stabilitätspaktes
kein präventiver, sondern ein reaktiver Ansatz war, der
entstanden ist, als der Krieg auf seinem Höhepunkt war
und als Bomben auf Fabriken, auf Menschen und auch
auf die Infrastruktur geschmissen wurden. Daraufhin
wurde überlegt, wie man aus dieser falschen Politik he-
rauskommt.

Wir alle wissen auch, dass dieser Stabilitätspakt ei-
gentlich schon vor fast zehn Jahren notwendig gewesen
wäre, nämlich damals, als aus der Bundesrepublik

Peter Hintze






(A)



(B)



(C)



(D)


Deutschland die falsche Anerkennung der Sezessions-
tendenzen gekommen ist. Ich empfehle allen, die visio-
näre Rede von Günter Verheugen zu lesen. Er hat sie
gehalten, als damals die Regierung Kohl die Sezessions-
tendenzen anerkannt hatte. In dieser Rede hat er gesagt,
ein solcher Stabilitätspakt sei notwendig, Sezession aber
führe zum Krieg.


(Beifall bei der PDS)

Lieber Kollege Brecht, ich glaube, Sie liegen falsch,

wenn Sie glauben, dass ein Stabilitätspakt dadurch in
Gang gesetzt werden kann, dass man ausgrenzt, indem
man einer Regierung sagt: Du darfst aber nicht mitma-
chen, du wirst ausgeschlossen. Genau das Gegenteil
steht auf der Tagesordnung. Man muss sich einmal an-
schauen, wie der KSZE-Prozess gegen den Widerstand
einer Seite dieses Hauses aufgebaut wurde. Man muss
sich einmal anschauen, wie damals Egon Bahr, Olof
Palme und auch Willy Brandt deutlich gemacht haben,
dass es nicht darum gehen kann, Regierungen auszu-
grenzen.

Diese Haltung hat nichts damit zu tun, dass man eine
Regierung gut findet und dass man mit den Strukturen
eines Landes einverstanden ist, sondern damit, dass Sta-
bilität nur entstehen kann, wenn alle in dieser Region
ernst genommen werden und sich keiner ausgegrenzt,
sondern jeder einbezogen fühlt.


(Beifall bei der PDS)

Deshalb ist dieser Stabilitätspakt nur dann ein wirklicher
Stabilitätspakt, wenn es kein Embargo gibt, wenn alle
betroffenen Regionen einbezogen werden und wenn
auch die jugoslawische Regierung, die wir alle gern ab-
gelöst sähen, mit in diesen Stabilitätspakt einbezogen
wird.


(Beifall bei der PDS)

Wir wissen auch, dass die Menschen in dieser Region

– sei es im Kosovo, sei es in Mazedonien oder in der
Bundesrepublik Jugoslawien – auf diesen Stabilitätspakt
angewiesen sind. Wer liest, wie schlecht es den Men-
schen im Kosovo oder in Jugoslawien geht, wer liest,
welch dramatische wirtschaftliche und soziale Situation
auch in der Bundesrepublik Jugoslawien herrscht, der
muss in Interesse der Menschen diese Region voll und
ganz mit einbeziehen und dieses Embargo endlich been-
den.

Kollege Lippelt, ich halte es für problematisch, da-
rauf hinzuweisen, dass man überall Benzin kaufen kann
– was stimmt –, nur der Preis sei etwas überhöht. Wer
kann denn diesen überhöhten Preis nicht zahlen? Das
sind doch nicht die Menschen aus der Nomenklatura,
das sind doch nicht die Menschen der Regierung. Viel-
mehr trifft es die einfachen Menschen, die kleinen
Handwerksbetriebe und die Industrie, die versucht, in
diesen Regionen wieder auf die Beine zu kommen. Wir
müssen dafür sorgen, dass die wirtschaftliche Basis da-
für geschaffen wird, dass sich auch die Bundesrepublik
Jugoslawien wieder entwickeln und ökonomisch Fuß
fassen kann.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)


Wir verstehen unter „Stabilitätspakt“ auch, dass diese
Region demilitarisiert werden muss. Es muss darüber
geredet werden, wie die Abschaffung der Armeen in
dieser Region als Beispiel für einen Stabilitätspakt er-
folgen kann. Es darf nicht wieder das „Gleichgewicht
des Schreckens“ geschaffen werden; vielmehr muss in
dieser Region endlich einmal Abrüstung durchgesetzt
werden.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Eigentlich ist es ja eine Schande, zu sehen, wie

schnell Milliarden zur Verfügung gestellt wurden, um
einen Krieg zu führen, wie schnell es möglich war, mili-
tärische Aktionen durchzusetzen, und wie schwierig es
ist, jetzt, wo es darum geht, Aufbau zu leisten, eine Ge-
berkonferenz möglich zu machen und die Geberländer
dazu zu bringen, großzügig Geld zur Verfügung zu stel-
len. Wenn man sich das anschaut, dann merkt man, dass
wir noch immer in den Denkstrukturen des Militärs sind.
Für Militär ist – egal was es kostet – Geld da; für Auf-
bau muss verhandelt werden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, zum Schluss
ein Zitat. Der deutsche General Reinhardt hat richtiger-
weise gesagt – ich zitiere –:

Das gesamte Kosovo-Budget der UN lag für 1999
bei 125 Millionen DM. Das ist ein Viertel dessen,
was die NATO an einem Tag für Geld verbombt
hat. Es ist abenteuerlich und dumm, dass wir da-
mals die Finanzen aufbrachten. Doch jetzt, wo es
um Wiederaufbau geht, fehlen sie.

Dem ist nichts hinzuzufügen.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408402000
Das Wort hat
jetzt die Frau Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-
Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Sta-
bilitätspakt hat – das ist in allen Diskussionsbeiträgen
immer wieder deutlich geworden; ich bin in dieser Frage
dafür, dass wir auch die Gemeinsamkeiten benennen –
Bedeutung für Gesamteuropa und leistet einen Beitrag
zur Stabilität auf dem gesamten Kontinent. Er wird auch
globale Auswirkungen haben.

Wir sollten die Gelegenheit nicht versäumen, in einer
solchen Diskussion deutlich zu machen, dass damit zum
ersten Mal in der Geschichte dieser Region den Völkern
in Südosteuropa überhaupt die Chance eröffnet wird, ih-
re Interessen im friedlichen Miteinander auszugleichen.
Diese Chance sollten wir nutzen und wir sollten alles,
was wir dazu beitragen können, auch tun.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist richtig – das ist in der Debatte immer wieder
deutlich geworden –: Wiederaufbau und Prävention
sind schwieriger als Krieg führen. Deshalb müssen wir

Uwe Hiksch






(A)



(B)



(C)



(D)


jetzt alles dafür tun, dass mit dem präventiven Ansatz
Ernst gemacht wird, dass wir all unser Engagement da-
für aufbringen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich möchte an dieser Stelle all denjenigen danken, die

vor Ort im Sinne dieses Ziels Präventionsarbeit leisten:
etwa dem Technischen Hilfswerk, der GTZ, der Kredit-
anstalt für Wiederaufbau. Auch unseren Soldaten und
den Polizisten, die dort in diesem Sinne tätig sind, sage
ich ein Dankeschön dafür, dass sie dort praktische Prä-
ventionsarbeit leisten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Es wird ersichtlich, dass die Entwicklungspolitik ei-
ne unverzichtbare und auch eigenständige Rolle gerade
im Rahmen dieses Stabilitätspaktes erfüllt.

Übrigens will ich für die Kolleginnen und Kollegen,
die hier über einen Mangel an Geld geklagt haben, dar-
auf hinweisen: Außerhalb des Stabilitätspaktes stellen
wir im Rahmen der bilateralen Entwicklungszusammen-
arbeit für die beteiligten Länder 160 Millionen DM zur
Verfügung, und zwar in ganz praktischen Arbeitsfel-
dern, die wir mit den Maßnahmen des Stabilitätspaktes
verknüpfen.

Ich bin davon überzeugt, dass wir unsere außen- und
sicherheitspolitischen Ziele nur erreichen, wenn wir in
den beteiligten Ländern vor Ort das notwendige Ent-
wicklungsfundament schaffen.

In dem Gesamtkonzept, das die Bundesregierung für
die Umsetzung des Stabilitätspaktes vorgelegt hat und
das unser Ministerium gemeinsam mit dem Auswärtigen
Amt formuliert hat, wird deutlich: Die Bundesregierung
nimmt ihre Verantwortung wahr. Sie leistet trotz ange-
spannter Haushaltslage einen erheblichen Beitrag, um
die Ziele des Stabilitätspaktes zu verwirklichen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich meine, es wird vor allem darauf ankommen, dass
die Millionen Menschen in der betroffenen Region, in
Südosteuropa, in sehr unterschiedlichen Ländern, den
Nutzen des Vertrages unmittelbar im Alltag erfahren,
indem eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen er-
reicht wird. Ich bin sicher: Sie werden persönlich erle-
ben – das ist doch unsere Hoffnung: das Ausstrahlen der
europäischen Idee –, dass es zu guter Nachbarschaft,
zu Verständigung, zu Ausgleich und Versöhnung kei-
ne sinnvolle Alternative gibt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das wird die Erfahrung mit diesem Stabilitätspakt sein.

Ich möchte auf die Frage, was mein Ministerium
praktisch und auch im Rahmen des Stabilitätspaktes
tut – Herr Hintze hat ja danach gefragt –, antworten,
dass wir alle Instrumente einsetzen, die für die Errei-
chung der Ziele, Arbeit zu schaffen sowie eine produkti-
ve Wirtschaft und vor allen Dingen eine Demokrati-

sierung herzustellen, notwendig sind. Dies betrifft zum
einen den Bereich der Energie- und Wasserversorgung.
Wir helfen beim Aufbau der entsprechenden Strukturen,
und zwar sowohl auf regionaler Ebene als auch auf Lan-
desebene. Denn die regionalen Projekte sind ja diejeni-
gen, die dazu beitragen, Menschen in Arbeit zu bringen.
Wir leisten durch Beratung Hilfe beim Aufbau öffentli-
cher Kommunalverwaltungen. Ebenso wird über die
Carl-Duisberg-Gesellschaft und über die Deutsche Stif-
tung für internationale Entwicklung Unterstützung gebo-
ten bei Ausbildungsmaßnahmen und bei Vorbereitungen
der Qualifizierung der Beschäftigten im öffentlichen
Sektor, damit die Menschen die erforderlichen Voraus-
setzungen und Chancen haben. Jeder, der Schwierigkei-
ten beim Aufbau der zivilen Verwaltung im Kosovo
kennt, weiß, wie wichtig eine solche Arbeit ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In diesem Zusammenhang sind besonders auch die
politischen Stiftungen zu nennen, an die hohe Erwar-
tungen gerichtet werden. Denn sie werden einen wesent-
lichen Beitrag leisten, um in den südosteuropäischen
Ländern Demokratie und Pluralismus zu fördern sowie
gesellschaftliche Organisationen wie zum Beispiel Ge-
werkschaften mit aufbauen zu helfen, unabhängig zu be-
raten und zu unterstützen. Diese Arbeit leisten wir mit
den Instrumenten der Entwicklungszusammenarbeit.


(V o r s i t z : Vizepräsidentin Anke Fuchs)

Das Ziel ist, dass sich diese Völker zu pluralen, zu

sozial gerechten Gesellschaften entwickeln. An dieser
Stelle möchte ich betonen: Alle Formen des Austau-
sches, auch des persönlichen Austausches zwischen Ju-
gendlichen – ich denke im Übrigen auch an den parla-
mentarischen Austausch – sind wichtig, um den Stabili-
tätspakt mit wirklichem Leben zu erfüllen.

Vorhin hat Herr Kinkel gefragt: Was ist mit der Wirt-
schaft? Manchmal habe ich das Gefühl, ein Teil der
Entwicklung geht an einigen vorbei. Eine ganz wichtige
Zusammenarbeit besteht unter dem Stichwort „Ent-
wicklungspartnerschaft mit der Wirtschaft“. Gerade in
der letzten Woche hat mein Ministerium in Zusammen-
arbeit mit einem Konsortium, dem auch eine deutsche
Bank angehört, die erste Bank in Kosovo eröffnet. Sie
wird insbesondere kleine Betriebe mit Beratungsangebo-
ten und finanzieller Starthilfe unterstützen. Das schafft
Arbeitsplätze, eine konkrete Perspektive und Hoffnung.
Dies ist eine konkrete Zusammenarbeit mit der Wirt-
schaft. Es wird dort also Arbeit geleistet; man muss sie
nur zur Kenntnis nehmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Vor allen Dingen geht es darum, dass das, was dort
geleistet wird, der Motor des Wiederaufbaus ist. Wir le-
gen mit dieser Arbeit in den betroffenen Ländern, insbe-
sondere im Kosovo, die Grundlagen für den Wiederauf-
bau aus eigener Kraft.

In Pristina besteht übrigens getragen von der Kredit-
anstalt für Wiederaufbau, der GTZ und anderen Institu-
tionen eine Anlaufstelle für alle Unternehmen und

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul






(A)



(B)



(C)



(D)


Nichtregierungsorganisationen. Dies möchte ich hier
dem einen oder anderen, der über diese Informationen
bisher nicht verfügt hat, zur Kenntnis geben.

Wir haben mit dem Deutschen Industrie- und Han-
delstag eine Konferenz zu Südosteuropa durchgeführt –
ich selbst habe zusammen mit Bodo Hombach teilge-
nommen, der übrigens in diesem Prozess ein ganz her-
vorragende Rolle gespielt hat und spielt –, an der die
Vertreter der betroffenen Länder und Unternehmen aus
Deutschland und aus Südosteuropa teilgenommen und
konkrete Verabredungen für eine Zusammenarbeit erar-
beitet haben. Ich weiß, das alles ist weniger spannend als
die großen politischen Entscheidungen. Aber dies ist die
Realität in Bezug auf die Beantwortung der Frage, ob
daraus Frieden entsteht oder ob die Konflikte weiter be-
stehen. Deshalb sind diese kleinen Schritte so notwen-
dig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zum Schluss möchte ich zwei Punkte, die mir beson-
ders am Herzen liegen und von denen bisher auch hier
nicht gesprochen worden ist, nennen.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408402100
Frau Ministerin,
Herr Hintze möchte eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie
damit einverstanden?

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Herr
Hintze, lassen Sie mich doch bitte erst meine Ausfüh-
rungen beenden. Danach können wir darüber sprechen,
falls es noch notwendig sein sollte.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408402200
Er wollte eigentlich
nur eine Frage stellen. Ich empfehle Ihnen, die Frage zu-
zulassen; denn das verlängert Ihre Redezeit, Frau Minis-
terin.

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:
Wenn das so ist, dann ist das in Ordnung.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408402300
Herr Hintze, bitte.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1408402400
Frau Ministerin, ich habe
die Bitte – ich muss diese Frage jetzt stellen; denn Sie
wollten gerade zum Schluss kommen –, dass Sie noch
einmal auf die Frage, die im Europaausschuss themati-
siert wurde, ob die Kosten für diese Konferenz erstattet
werden, eingehen.

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Herr
Hintze, betraf das den Punkt mit den 3 Millionen DM?


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1408402500
Ja.

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Ich
habe diese Frage hier zur Kenntnis genommen. Sie wur-
de mir nicht aus dem Europaausschuss berichtet. Der
Außenminister hat gesagt, das werde geprüft. Nach die-
ser Prüfung wird eine entsprechende Antwort erfolgen.


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Schönen Dank!)

Frau Präsidentin, ich bedanke mich bei Ihnen.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408402600
Bitte sehr, Frau Mi-
nisterin.

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Lie-
be Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte einen weite-
ren Punkt ansprechen: Natürlich sind die großen Inves-
titionen, die „Leuchttürme“, wichtig. Aber wichtig ist
auch eine wirkliche Versöhnung vor Ort. Deswegen ha-
ben wir ein Konzept vorgeschlagen, das vor allen Din-
gen die Schaffung eines regionalen Netzwerkes in ganz
Südosteuropa vorsieht, das zur Versöhnung, zur Bewäl-
tigung individueller und kollektiver Traumata, zur be-
hutsamen Aufarbeitung von Gewalt- und Gräueltaten
und zur offenen Begegnung von Menschen und Völkern
beiträgt. Wir möchten ein solches regionales Netzwerk
in den Stabilitätspakt einbringen. Ich habe dieses Vor-
haben dem Koordinator Bodo Hombach übergeben. Wir
sind dabei, dieses Konzept auch inhaltlich auszufüllen.
Ich bin ganz sicher, dass solche Vorhaben genauso wirk-
sam zum friedlichen Zusammenleben wie Tausende Ki-
lometer von Straßen oder Eisenbahnstrecken oder Vor-
kehrungen für die Telekommunikation beitragen, so
wichtig sie auch sind. An die Ausarbeitung und Ver-
wirklichung eines Netzwerkes der Versöhnung knüpfen
wir große Hoffnungen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zum Schluss möchte ich einen Punkt ansprechen, der
in der heutigen Diskussion noch keine Rolle gespielt hat,
der aber dafür, wie ich mich zum Thema Kosovo verhal-
te, erhebliche Bedeutung hatte und hat. Die militärische
Intervention im Kosovo hat erreicht, dass die Vertrei-
bung der Kosovo-Albaner beendet wurde und Vertrie-
bene und Flüchtlinge zurückkehren konnten. Aber es ist
auch klar, dass es Frieden und Stabilität im Kosovo erst
geben wird, wenn die Gewaltanwendung gegen andere
Volksgruppen aufhört und Demokratie und Rechtsstaat-
lichkeit verwirklicht sind.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Die Situation der Roma und Aschkali im Kosovo ist
noch immer unerträglich.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Sie werden vielfach auf dramatische Weise diskrimi-
niert. Sie dürfen nicht in ihre angestammten Dörfer zu-

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul






(A)



(B)



(C)



(D)


rückkehren. Sie werden von der Lebensmittelversorgung
ausgeschlossen. Frauen und Kinder werden häufig ge-
nug von den wenigen Krankenhäusern und Gesundheits-
stationen abgewiesen. In dieser Volksgruppe, die wie al-
le anderen ein angestammtes Anrecht auf Heimat und
Gemeinwesen hat, herrschen unsägliches Leid und blan-
ke Angst. Auf die dramatische Situation der Roma und
Aschkali hat die Gesellschaft für bedrohte Völker – ich
stehe immer mit Tilman Zülch von dieser Organisation
in Verbindung – aufmerksam gemacht. Wir unterstützen
deren Initiative mit all unseren Möglichkeiten. Die in-
ternationale Gemeinschaft darf nicht zusehen, wie dort
vorgegangen wird. Der Krieg ist auch deswegen geführt
worden, damit Vertreibungen, insbesondere ethnische
Vertreibungen, aufhören. Es ist jetzt die Pflicht von uns
allen, dazu beizutragen, dass es in dieser Region keine
Vertreibung ethnischer Gruppen mehr geben wird.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Dazu müssen wir all unsere Möglichkeiten einsetzen.
Auch das ist ein Ziel, das die Bundesregierung nach
Kräften und mit nennenswerten Beiträgen fördert und
begleitet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, daran, ob wir bei
den kleinen Umsetzungsschritten zäh und hartnäckig
bleiben, entscheidet sich, ob Südosteuropa eine Chance
hat, Frieden zu entwickeln. Wenn wir zäh und hartnä-
ckig an diesen kleinen Schritten arbeiten, sie praktisch
umsetzen und eine europäische Perspektive vermitteln,
dann hat die Region eine gute Chance.

Ich bedanke mich sehr.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408402700
Das Wort hat jetzt
der Kollege Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1408402800
Frau Prä-
sidentin! Meine Damen und Herren! In der Debatte ist
deutlich geworden, dass mit dem Stabilitätspakt für
Südosteuropa große Hoffnungen verbunden sind. Die in
den dortigen Ländern lebenden Menschen wollen jedoch
nicht nur etwas über Konferenzen, für die offensichtlich
die Kosten noch nicht bezahlt worden sind, über Regie-
rungserklärungen sowie über staatstragende Reden und
Debatten erfahren, sondern sie wollen endlich Taten se-
hen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.])


Die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt in dieser Woche
zu Recht:

Bislang konnte der im Juli in Sarajevo von mehr als
30 Staats- und Regierungschefs aus der Taufe ge-
hobene Stabilitätspakt die Hoffnungen nicht erfül-
len. In der Region wächst die Ungeduld und der
Koordinator Bodo Hombach steht immer wieder in
der Kritik.

Ich finde, es hat schon viel zu lange gedauert, bis jetzt
Ende März endlich die so genannte Geberkonferenz
stattfindet. Die „FAZ“ schreibt heute zu Recht, dass dies
die „Stunde der Wahrheit für den Stabilitätspakt“ Süd-
osteuropa wird.

Herr Bundesaußenminister, „Leuchtturmprojekte“
und „Quickstart-Pakete“ – diese tollen Bezeichnungen
sind schon mehrfach zitiert worden – sollen auf dieser
Konferenz beschlossen werden. Ich glaube, man sollte
sich davor hüten, nur auf die gute Publicity solcher Pro-
jekte zu achten. Aus der Entwicklungszusammenarbeit
der letzten Jahrzehnte kann man meines Erachtens eines
lernen: Die Großprojekte haben sich oft als diejenigen
Projekte erwiesen, die zu einem großen Reinfall wurden.

Viel wichtiger sind die kleinen Schritte, die situati-
onsgerechten Projekte, die Selbsthilfe und Selbstorgani-
sation der Betroffenen aktivieren. Es kann auch nicht
darum gehen, das Füllhorn wahllos auszuschütten. Ent-
scheidend ist die Einhaltung von Konditionen einer ent-
wicklungsorientierten Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Länder müssen sich zuallererst selbst bewegen und
Reformen einleiten.

Nun stellt Deutschland, ausweislich unseres Bundes-
haushaltes, drei Jahre lang jährlich 300 Millionen DM
zur Verfügung. Wir können damit zeigen, wie durch ei-
ne zielgerichtete und sinnvolle Entwicklungszusammen-
arbeit die Stabilität in Südosteuropa gestärkt werden
kann.

Frau Bundesministerin Wieczorek-Zeul, ganz ver-
standen habe ich die lobende Erwähnung Ihrer eigenen
Tätigkeit und die Ihres Ministeriums nicht. Wenn ich
mich recht erinnere, haben Sie für Ihr Ressort den jährli-
chen Mittelbedarf für Südosteuropa auf 400 Millio-
nen DM beziffert. Ich halte es langsam, aber sicher für
einen Skandal, dass zwei Monate, nachdem der Bundes-
haushalt beschlossen wurde, heute immer noch nicht
klar ist, wie die 300 Millionen DM unter den Ressorts
aufgeteilt werden.


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Das ist üblich! Lauter Kuddelmuddel!)


So wie es aussieht, werden Sie weniger als die Hälfte
dessen, was Sie selber einmal für notwendig erachtet
haben, für das BMZ zur Verfügung haben.

Aber auch im Stab von Bodo Hombach ist kein Ver-
treter aus dem Bereich der wirtschaftlichen Zusammen-
arbeit; in der Südosteuropa-Agentur gibt es ebenfalls
keinen Vertreter aus diesem Bereich – von der angeblich
so großen Bedeutung der deutschen Entwicklungszu-
sammenarbeit und Ihres Hauses also keine Spur.

Ziel unserer Entwicklungszusammenarbeit mit den
Ländern Südosteuropas muss eine nachhaltige und
selbsttragende Entwicklung in der Region sein. We-
sentliche Voraussetzung dafür – in diesem Punkt, Frau
Ministerin, sind wir mit Ihnen einig – ist ein Prozess der
Demokratisierung. Legitimierte, akzeptierte und hand-
lungsfähige politische Strukturen sind zentrale Voraus-

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul






(A)



(B)



(C)



(D)


setzungen für die Stabilität und für die wirtschaftliche
Entwicklung. Aus der bisherigen Erfahrung mit den
Transformationsprozessen in Mittel- und Osteuropa wis-
sen wir, dass nur durch eine entschlossene Reformpoli-
tik die von den westlichen Staaten zur Verfügung ge-
stellten Mittel wirklich sinnvoll eingesetzt werden kön-
nen. Deshalb sollte sich die deutsche Entwicklungszu-
sammenarbeit vorrangig darauf konzentrieren, den De-
mokratisierungsprozess zu unterstützen und Hilfen für
den Aufbau funktionsfähiger Verwaltungen und des
Rechtswesens zu entwickeln.

Erfolge sind jedoch nur möglich, wenn dieser Prozess
der Demokratisierung nicht allein eine Frage des forma-
len Staatsaufbaus und demokratischer Institutionen ist.
Ohne gesellschaftliche Verankerung bleiben freie Wah-
len und auch freie Märkte lediglich formale Ordnungs-
strukturen, die dann erst recht von mafiosen Strukturen
missbraucht werden können.

Deshalb sind für uns der Aufbau und die Stärkung zi-
vilgesellschaftlicher Strukturen in den Ländern Süd-
osteuropas ein zentraler Angelpunkt für den Erfolg der
Entwicklungszusammenarbeit und damit auch des Stabi-
litätspaktes Südosteuropa. Aufgrund von Traditionen
und Mentalität ist das in vielen Ländern Südosteuropas
zum Teil sehr schwierig. Aber gerade deswegen sollten
wir einen Großteil der Mittel aus der deutschen Ent-
wicklungszusammenarbeit für die Arbeit der politischen
Stiftungen, der Kirchen, der Nichtregierungsorganisa-
tionen und deren Partner vor Ort einsetzen, um in die
Breite wirkend diesen Demokratisierungsprozess und
den Aufbau einer Zivilgesellschaft durch entsprechende
Programme zu unterstützen und zu begleiten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Den Weg einer erfolgreichen wirtschaftlichen Ent-

wicklung werden die Länder Südosteuropas nur ein-
schlagen, wenn die notwendigen wirtschaftlichen Re-
formen ernsthaft durchgeführt werden und soziale
Marktwirtschaft nicht nur ein Lippenbekenntnis der Po-
litiker ist, sondern tatsächlich im Wirtschaftsleben und
in der Gesetzgebung stattfindet.

Nach wie vor ist die Privatisierung in vielen Län-
dern nur unzureichend vorangekommen. Die wirtschaft-
liche Entwicklung muss die eigenen Anstrengungen der
Bevölkerung stützen. Sie wird sich nur entfalten, wenn
Politik und Verwaltung den Investoren und Unterneh-
men Planungssicherheit und Berechenbarkeit bieten, in-
dem sie Eigentumsrechte praktisch schützen, Rahmen-
gesetze geben und durchsetzen, eine stabile Währung
bieten und die Eigenanstrengung durch eine angemesse-
ne Wirtschaftsreform begleiten. Dazu gehört etwas, was
wir auch in Deutschland dringend brauchen: ein transpa-
rentes und einfaches Steuersystem. Dies alles sind auch
entscheidende Voraussetzungen dafür, dass sich die Pri-
vatwirtschaft in dem auch von der Bundesregierung ge-
wünschten Maß stärker in Südosteuropa engagiert.

Sehr unterschiedlich, meine Damen und Herren, ge-
staltet sich die Situation der einzelnen Länder Südosteu-
ropas hinsichtlich deren Fähigkeit, die eingesetzten und
angebotenen Mittel tatsächlich zeitgerecht und in sinn-
voller Weise umzusetzen. Vielfach ist festzustellen, dass

die staatlichen Institutionen, aber auch die privaten nur
ungenügend in der Lage sind, Projekte zu entwickeln
und umzusetzen. Deshalb, finde ich, ist es in jedem Fall
wichtig, dass wir nicht aus politischen Gründen jetzt auf
einen schnellen Mittelabfluss dringen. Sonst könnte es
geschehen, dass die Südosteuropahilfe sehr bald in
Misskredit gerät und erst recht die Korruption fördert.
Deshalb sollte die Anregung des Deutschen Instituts für
Entwicklungspolitik aufgegriffen werden, so genannte
Länderfonds einzurichten.

Meine Damen und Herren, die Reformpolitik in den
Ländern Südosteuropas kann sinnvoll unterstützt wer-
den, indem ihnen eine Perspektive für einen Eintritt in
die Europäische Union eröffnet wird. Die politisch
Verantwortlichen in den meisten Ländern Südosteuropas
wollen jedoch einzeln, möglichst ohne Rücksichtnahme
auf die Entwicklung im Nachbarland den Weg nach Eu-
ropa gehen. Leider ist das politische Denken trotz man-
cher gemeinsamer Konferenzen nach wie vor davon ge-
prägt, nicht auf regionale Integration, sondern eher auf
Abgrenzung zu setzen. Jeder will der Erste auf dem Weg
nach Europa sein. Durch unsere Außen- und Entwick-
lungspolitik können wir dazu beitragen, dass die Länder
Südosteuropas zunächst einmal ihre eigenen Chancen in
der regionalen Zusammenarbeit erkennen und nutzen.
Mit Sicherheit lässt sich der Weg nach Europa gemein-
sam leichter gehen als jeweils getrennt.


(Beifall bei der CDU/CSU Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Eins nach dem anderen!)


Angesichts der Vielzahl von Teilnehmern des Süd-
osteuropapaktes ist eine effiziente Koordination not-
wendig. Ich finde es allerdings sehr fraglich, ob mit der
Schaffung neuer Institutionen tatsächlich ein Fortschritt
erzielt worden ist. Weil Sie so oft Bodo Hombach an-
sprechen und loben mussten, möchte ich nur eines dazu
feststellen – das ist einfach ein Fakt –: Bodo Hombach
ist der falsche Mann am falschen Ort.


(Dr. Christine Lucyga [SPD]: Sie auch! – Gernot Erler [SPD]: Jetzt kommt es doch noch!)


Ohnehin, unabhängig von der Person, Herr Erler, finde
ich, ein EU-Koordinator für Südosteuropa gehört nicht
auf die weichen Sessel in Brüssel, sondern auf die harte
Bank des Balkan, nach Skopje, Pristina oder Sarajevo.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. – Gernot Erler [SPD]: Der ist doch da ständig!)


Für einen partnerschaftlichen Umgang mit den Län-
dern Südosteuropas gilt wie auch sonst im Leben: Das
eigene gute Beispiel wirkt ansteckend und überzeugend.
Wir fordern von den Ländern Südosteuropas Effektivi-
tät, schlanke Verwaltung, schnelle Entscheidungen, per-
fekte Organisation, Reformbereitschaft, Koordinations-
fähigkeit und empfehlen beratend unsere Dienste. Und
sie stellen zu Recht die Rückfrage an uns: „Was macht
eigentlich ihr mit uns?“ Ist das, was wir Europäer da an
Organisation, an Koordination, an Beauftragtentum auf-
gebaut haben, nicht ein Lehrstück, das dem, was wir den
Ländern selbst empfehlen, diametral entgegensteht?

Peter Weiß (Emmendingen)







(A)



(B)



(C)



(D)


In einem Gespräch mit deutschen Parlamentariern
fragte der mittlerweile nach innenpolitischen Querelen
gestürzte Ministerpräsident Albaniens mit einem ironi-
schen Unterton: „Der Stabilitätspakt – was ist das?“ Ich
befürchte, wenn man alles nur schönredet, wird dieser
ironische Unterton weiter bestehen bleiben. Die „FAZ“
schreibt heute:

Und doch nährt der Stabilitätspakt nach einem hal-
ben Jahr seiner fast unsichtbaren Existenz eher
Verdruss als Hoffnung.

Meine Damen und Herren, wir sollten gemeinsam alles
daransetzen, dass sich in Südosteuropa die Hoffnung
durchsetzt und nicht der Verdruss.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408402900
Ich schließe die
Aussprache.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Anträge der
Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 14/2569 und der Fraktion der F.D.P. auf
Drucksache 14/2584 sowie den Entschließungsantrag
der Koalitionsfraktionen auf Drucksache 14/2575 zur
federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuss
und zur Mitberatung an den Ausschuss für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und den
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union zu überweisen, wobei der Entschließungsantrag
nicht an den letztgenannten Ausschuss überwiesen wer-
den soll. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das
ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.

Weiterhin wird vorgeschlagen, die Anträge der PDS
auf den Drucksachen 14/2387 und 14/2388 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie an den
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung zu überweisen. – Damit sind Sie einverstan-
den. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Der Antrag der PDS auf Drucksache 14/2573 soll zur
federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuss
und zur Mitberatung an den Ausschuss für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen, den Ausschuss für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit und den Ausschuss
für Menschenrechte und humanitäre Hilfe überwiesen
werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das
ist nicht der Fall. Dann ist auch diese Überweisung so
beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis d sowie Zu-
satzpunkt 5 auf:
4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten

Eduard Oswald, Dirk Fischer (Hamburg),
Dr.-Ing. Dietmar Kansy, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der CDU/CSU

Zukunft sichern – Verkehrsinfrastruktur-
investitionen verstärken

– Drucksache 14/2360 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit

Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union

Haushaltsausschuss
4 b) Beratung der Unterrichtung durch die

Bundesregierung
Straßenbaubericht 1998
– Drucksache 14/245 –
Überweisungsvorschag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-

heit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
4 c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.

Winfried Wolf, Christine Ostrowski, Dr.
Gregor Gysi und der Fraktion der PDS

Geschwindigkeitsbegrenzung auf 130 km/h
auf Autobahnen

– Drucksache 14/1082 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)


Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit

4 d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Winfried Wolf, Christine Ostrowski, Dr.
Gregor Gysi und der Fraktion der PDS

Für eine sozial, finanziell und ökologisch
nachhaltige Bundesverkehrswegeplanung

– Drucksache 14/2262 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit

Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union

Haushaltsausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten

Horst Friedrich (Bayreuth), Hans-Michael
Goldmann, Dr. Karlheinz Guttmacher, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.

Straßenbau statt Autostau
– Drucksache 14/2582 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit

Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder

Peter Weiß (Emmendingen)







(A)



(B)



(C)



(D)


Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union

Haushaltsausschuss
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der

SPD und Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für

die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Eduard Oswald, CDU/CSU-Fraktion.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1408403000
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich mich um-
blicke und sehe, dass der Herr Bundesminister noch
nicht da ist, gehe ich davon aus, dass er noch im Stau
steht, wie auch der eine oder andere der Kolleginnen
und Kollegen. Nur so kann ich mir das erklären. Auch
das ist eines der Themen, derentwegen wir eine umfang-
reiche Verkehrsdebatte führen. Es ist gut, dass wir uns
Zeit nehmen, ausführlich über die Verkehrspolitik zu
sprechen.

Mit unserem Antrag „Zukunft sichern – Verkehrsinf-
rastrukturinvestitionen verstärken“ wollen wir deutlich
machen, dass in einer durch Arbeitsteilung und Globali-
sierung geprägten Wirtschaft Mobilität ein Schlüsselfak-
tor für die künftige Entwicklung des Standortes
Deutschland ist. Nur eine gut ausgebaute Infrastruktur,
die eine schnelle, flexible, zuverlässige und kostengüns-
tige Mobilität von Gütern und Personen ermöglicht, bie-
tet die Chance, im internationalen Wettbewerb mithalten
zu können.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, gegenwärtig stellt
sich die Lage für den Verkehrsteilnehmer so dar: Er
wird zur Kasse gebeten und beim Straßen- und Eisen-
bahnbau wird massiv gekürzt. Ihr Investitionsprogramm
1999 bis 2002 ist Stillstand statt Offensive.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Unser Antrag enthält zahlreiche Anstöße zur Verbes-

serung der Verkehrsinfrastruktur des Bundes und dies ist
notwendig. Der Bundesminister, Reinhard Klimmt, hat
kürzlich in einem Interview klar gesagt: Ich werde um
jede Mark kämpfen. Das ist gut so; unser Antrag wird
ihm dabei helfen. Ich bitte, ihm das mitzuteilen.

Wir meinen, dass es sinnvoll ist, die Mineralölsteuer
in festzulegenden Anteilen zweckgebunden für den
Bundesfernstraßenbau zu verwenden, nicht nur, um mit
dem durch den Straßenverkehr erbrachten Aufkom-
men Finanzierungslücken im Bundesfernstraßenbau zu
schließen, sondern auch, um dem Autofahrer das Be-
wusstsein zu vermitteln, dass ihm die Mineralölsteuer zu
einem großen Teil wieder zugute kommt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Tatsache ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass

die gegenwärtige Finanzausstattung nicht ausreicht, um
weitere dringlichste Vorhaben aus dem Bedarfsplan für
den Ausbau der Bundesfernstraßen und aus dem Schie-
nenwegeausbauprogramm zu realisieren. Als besonders

gravierend erweist sich die Finanzlücke im Bundesfern-
straßenbau. Die Straße mit ihren auch künftig zu erwar-
tenden Zuwächsen ist der Verkehrsträger Nummer eins.
Deswegen brauchen wir mehr Investitionen.

Nach Ihren eigenen Aussagen ist der Stau auf den
Straßen zu 40 Prozent auf nicht ausreichende Straßen-
kapazitäten zurückzuführen. Die Zeitverluste schlagen
volkswirtschaftlich mit Kosten in Milliardenhöhe durch.
Die Universität Köln hat in einer Studie nachgewiesen,
dass jede D-Mark, die beim Ausbau des Straßennetzes
eingespart wird, einen volkswirtschaftlichen Verlust von
3 DM nach sich zieht. Tatsache ist: Die Qualität unserer
Verkehrsinfrastruktur bestimmt die Qualität des Stand-
ortes Deutschland. Die Länderverkehrsminister haben
errechnet, dass nach dem vorliegenden Investitionspro-
gramm für die Jahre 1999 bis 2002 allein im Bundes-
fernstraßenbau eine jährliche Finanzierungslücke von
4 Milliarden DM bleibt. Sie wissen doch aus Ihren
Wahlkreisen, wie hoch der tatsächliche Bedarf ist. Den-
ken Sie nur an die zahlreichen notwendigen Ortsumfah-
rungen! Hier ist Straßenbau Menschenschutz, liebe Kol-
leginnen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir müssen die Straße als Rückgrat unseres gesamten

Verkehrssystems anerkennen und als Konsequenz den
ökologisch und ökonomisch ausgewogenen Neu- und
Ausbau des Bundesstraßennetzes weiter vorantreiben.
Übrigens: Bereits mit einem Pfennig aus dem Mineral-
ölsteueraufkommen kann der Bundesfernstraßenetat um
rund 700 Millionen DM aufgestockt werden.

Da Bundesminister Reinhard Klimmt – zu Recht –
gesagt hat: „Ich werde um jede Mark kämpfen!“, möchte
ich ihm vorschlagen, die zusätzlichen Einnahmen aus
dem Mehrwertsteueraufkommen des Bundes durch den
Anstieg der Kraftstoffpreise zugunsten von Investiti-
onsmaßnahmen in den Verkehrssektor zurückfließen zu
lassen.


(Zuruf von der F.D.P.: Gute Idee!)

Nach Verteilung des Mehrwertsteueraufkommens auf
Bund und Länder verbleiben dem Bund mindestens
1,8 Milliarden DM mehr in der Staatskasse. Wir fordern
dies gerne laufend, damit es der Finanzminister immer
wieder hört.

Wenn man zudem berücksichtigt, dass 1 Milliar-
de DM an Investitionsvolumen 12 000 bis 15 000
Arbeitsplätze im Bau- und Zulieferbereich bindet,
bedeutet dies gleichzeitig einen wertvollen Beitrag für
unseren Arbeitsmarkt.

Wir begrüßen, dass die Bundesregierung in einer Ex-
pertenkommission über neue Finanzierungsmodelle
nachdenken lässt. Vieles deutet darauf hin, dass Sie neue
Wege gehen wollen.


(Klaus Hasenfratz [SPD]: So ist das!)

Nur, jeder muss wissen, dass dann der Autofahrer mög-
licherweise zweimal zur Kasse gebeten wird: einmal
durch die Mineralölsteuer und dann noch einmal über

Vizepräsidentin Anke Fuchs






(A)



(B)



(C)



(D)


mögliche zusätzliche Gebühren. Ein zweimaliges Kas-
sieren kommt für uns nicht infrage.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Mit Interesse warten wir auf Ihre Vorschläge, auch auf
die koalitionsinternen Debatten dazu. Jetzt sind Sie am
Zug.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Nachfrage nach
Mobilität wird auch in Zukunft steigen. Die Mobilität
von Bevölkerung und Wirtschaft ist eine wichtige, ja
entscheidende Voraussetzung für die Produktivität einer
Volkswirtschaft. Verkehr ist Wirtschaftsmotor und kein
Selbstzweck; dies kann man nicht oft genug wiederho-
len.

Wenn wir wissen, dass in jedem Jahr die Verkehrs-
menge um 2 bis 3 Prozent steigt, und wenn wir wissen,
dass sich die Verteilung auf die Verkehrsträger nur ge-
ringfügig verändert, dann ist es unsere Aufgabe, auch in
ein leistungsfähiges Schienennetz zu investieren.

Wir haben gestern im Ausschuss für Verkehr, Bau-
und Wohnungswesen über vier Stunden – das kann ich
allgemein sagen – ein wertvolles, wichtiges Gespräch
mit dem neuen Bahnvorstand Hartmut Mehdorn geführt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen die
Leistungsfähigkeit der Bahn verbessern, indem wir die
Rahmenbedingungen für den Eisenbahnverkehr insge-
samt verbessern und indem die Investitionen es der
Bahn ermöglichen, ihr Streckennetz zu modernisieren
und zu erweitern, um einen größeren Anteil des allge-
meinen Verkehrszuwachses aufzunehmen. Eine der gro-
ßen Schlüsselfragen ist, ob wir in Europa für die Bahn
die Netzöffnung schaffen. Ich halte dies schlechthin für
die Zukunftsfrage des Rad-Schienen-Systems.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir werden alle Vorschläge zu einer möglicherweise

neuen Politik der Bahn nach Folgendem beurteilen: Ers-
tens. Was bringen sie für den Bahnkunden?

Zweitens werden wir auch an der grundsätzlichen
Frage festhalten: Kommen durch diese Politik zusätzli-
che Verkehre auf die Schiene?

Drittens. Für uns wird es wichtig sein, dass alle Regi-
onen der Republik an das Fernschienennetz angebunden
und eingebunden sind. Uns geht es um die gleichmäßige
Erschließung aller Räume in unserem Lande, um die Er-
schließung der Fläche. Ein einseitiges Schielen nur auf
die Zentren wäre und ist nicht unsere Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Viertens. Der Schlüssel für eine neue Bahnpolitik

liegt in den Antworten für den Güterverkehr. Hier ist ei-
ne Verlagerung von der Straße auf die Schiene gerade
im Langstreckenbereich notwendig. Wir müssen uns
immer wieder vergegenwärtigen, dass der LKW für uns
alle unverzichtbar bleibt. 80 Prozent aller LKW-Fahrten
finden in einem Bereich bis zu 100 km statt. Daher wis-
sen wir um die Grenzen der Verlagerung.

Wir alle wissen, dass wir die Straßen nicht so ausbau-
en können wie der Verkehr wächst. Deswegen muss die

Bahn gerade im Güterverkehr einen gewaltigen Sprung
nach vorne machen. Natürlich müssen wir uns darüber
im Klaren sein, dass eine Verlagerung von lediglich
10 Prozent der Straßengütertransporte auf die Schiene
ein Wachstum der dort erbrachten Verkehrsleistung von
50 Prozent erfordert. Dem Güterverkehr muss also unse-
re besondere Aufmerksamkeit gelten. Wir müssen hier
die Schiene verbessern, ohne die Straße zu verteuern.
Denn die internationale Konkurrenz ist da.

Der Gütertransport auf der Schiene muss schneller
und billiger werden. Dies geht nur mit mehr Logistik
und möglicherweise mit mehr Wettbewerb. Die Vernet-
zung der Verkehrsträger muss stärker vorangetrieben
werden. Unser Ziel muss der Aufbau einer Ver-
kehrsinfrastruktur sein, in der sich die jeweiligen Syste-
me stärker ergänzen, in der das Gesamtsystem Verkehr
gestärkt wird. Die Mobilitätsbedürfnisse der Zukunft
lassen sich nur mit integrierten Verkehrssystemen be-
friedigen, die allerdings eine intelligente Infrastruktur
voraussetzen. Gemeinsam wissen wir, dass Infrastruk-
turkapazitäten nicht beliebig vermehrbar sind. Es gilt,
Verkehre zu vermeiden, Verkehre zu verlagern und
Verkehre verträglicher abzuwickeln.

Aber eines wissen wir: Ohne einen Ausbau der Ver-
kehrsinfrastruktur wird es nicht gehen. Dazu braucht
man mehr Geld. Wir wollen die Mobilität sichern, den
Standort stärken, eine leistungsfähige Verkehrsinfra-
struktur schaffen und erhalten und die Sicherheit auf all
unseren Verkehrswegen verbessern. Unterstützen Sie
unseren Antrag!

Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408403100
Ich erteile nun dem
Kollegen Reinhold Hiller, SPD-Fraktion, das Wort.


Reinhold Hiller (SPD):
Rede ID: ID1408403200
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Ganz zum Schluss, lieber
Kollege Oswald, hätte ich fast geklatscht,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

denn Ihre Ausführungen zur Bahnpolitik finden, schätze
ich, die Zustimmung des ganzen Hauses. Das kann man
nicht bestreiten und das sollte man dann auch sagen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Allerdings ist Ihr Antrag eher der verzweifelte Ver-

such, die gescheiterte Verkehrspolitik der alten Regie-
rung aufzuarbeiten.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das sollten Sie zurücknehmen! – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das war doch Verkehrspolitik und kein Abbruchunternehmen!)


Denn vieles von dem, was in dem Antrag steht, hätten
Sie tun können, haben es aber leider versäumt. Das muss
man Ihnen sagen.

Eduard Oswald






(A)



(B)



(C)



(D)



(Beifall bei der SPD)

Sie machen den Eindruck, als wenn Sie kurzatmig einer
neuen erfolgreichen Politik der Regierung in Berlin,
aber auch der Landesregierung in Kiel hinterherhecheln.

Bei einigen Bildern, die mir ins Bewusstsein kom-
men, muss ich die F.D.P. anschauen. Das ist eine Partei,
die seit 1969 an jeder Mineralölsteuererhöhung betei-
ligt war. Sie haben es geschafft, auf 1,90 DM zu kom-
men. Ein Jahr später machen Sie diese lächerliche Tank-
stellenaktion. Ich finde, so leicht kann man sich von der
eigenen Vergangenheit nicht verabschieden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass wir mit einer
schwierigen Erblast zu kämpfen haben. Jahrelang haben
Sie immer neue Ortsumgehungen und Autobahnab-
schnitte versprochen. Sehr häufig waren die Spatensti-
che Ihre einzigen Aktionen hinsichtlich Ihrer Verspre-
chungen. Dabei mussten Sie schon damals wissen, dass
Sie viele Ankündigungen und Versprechungen nicht
würden einhalten können. Sie haben bewusst ungedeckte
Schecks auf die Zukunft ausgestellt und den Bruch von
Wahlversprechungen zumindest billigend in Kauf ge-
nommen.

Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dass
Ihre Aktionen finanziell nicht abgesichert waren.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Weil Sie jetzt Ihre Investitionen massiv kürzen! 5 Milliarden DM bei der Straße fahren Sie in den Keller!)


Kollege Börnsen ist ja jetzt hier eingetroffen. Ich will
Ihnen das gerne am Beispiel Schleswig-Holsteins vor-
rechnen.

Die tatsächlich getätigten Investitionen in Schleswig-
Holstein sanken zwischen 1994 und 1998 von 239 Mil-
lionen DM auf 210 Millionen DM. Das sind die Fakten.
Dass Sie jetzt unruhig werden, kann ich verstehen.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Weil neue Maßnahmen blockiert werden!)


Die neue Regierung hat dieser Benachteiligung
Schleswig-Holsteins ein Ende gemacht.


(Beifall bei der SPD)

1999 wurden in diesem Bundesland – das gilt für die
anderen Bundesländer teilweise genauso –


(Zuruf von der F.D.P.: Aber nur teilweise!)

247 Millionen DM investiert. Das sind 40 Millionen DM
mehr als bei der alten Bundesregierung.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/ CSU]: Das ist doch nur der Vollzug der A 20! Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“!)


Allein für Schleswig-Holstein betrugen die Luftbuchun-
gen der Regierung Kohl für diese Legislaturperiode
193 Millionen DM. 1999 waren nur 32 Prozent des tat-

sächlichen Bedarfs gedeckt und auch im Jahr 2002 wird
es nur ein Drittel sein. Es scheint also so, dass bei den
Verkehrsinvestitionen die chronische Unterdeckung
durch großherzige Versprechungen und Ankündigungen
ausgeglichen werden soll.

Diese verheerende Ausgangslage haben wir vorge-
funden. Deshalb ist es absurd, dass die CDU und die
F.D.P. jetzt in Schleswig-Holstein den Vorwurf erheben,
wir hätten das Land Schleswig-Holstein bei der Ver-
kehrspolitik vernachlässigt. Sie wissen ganz genau – ich
will es hier gerne noch einmal sagen –: Die Ostseeauto-
bahn A 20 im Raum Lübeck ist im Bau. Davon können
Sie sich, wenn Sie das nicht wissen, alle selber überzeu-
gen, indem Sie sich das anschauen. Die technischen
Bauwerke sind in der Landschaft deutlich sichtbar und
der Lückenschluss zwischen Lübeck und der mecklen-
burgischen Nachbarschaft wird spätestens im Jahr 2002
fertig gestellt werden.

Diese Mittel sind auch im Sofortprogramm niederge-
legt. Als regional Beteiligter will ich Ihnen einmal sa-
gen: Ich kenne eigentlich in Westdeutschland keine ein-
zige Autobahn, die so schnell von der Planung bis zur
Fertigstellung gekommen wäre. Das muss man leider so
sagen. Daran haben auch Sie Ihren Anteil, aber das soll-
te man vor allem den Verkehrspolitikern wirklich aner-
kennen. Denn die Menschen in Mecklenburg-Vor-
pommern brauchen diese Verkehrsverbindung ganz
dringend. Ich glaube, darüber besteht Einigkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Deshalb appelliere ich an Sie, damit aufzuhören, diese
Dinge ständig infrage zu stellen.

Dann haben Sie – das tun Sie jetzt im Wahlkampf
auch immer – die Frage gestellt, wie es mit dem Weiter-
bau der A 20 mit der Elbquerung westlich von Ham-
burg aussieht. Es stimmt, dass dieser Streckenabschnitt
nicht im Sofortprogramm bis zum Jahr 2002 enthalten
ist, was zu vielen Irritationen in Schleswig-Holstein ge-
führt hat. Das liegt aber daran, dass in dieses Programm
nur Vorhaben aufgenommen worden sind, die bereits
baureif und gerichtsfest sind. Ich finde, das ist eine seri-
öse Politik. Sie können die Urteile zum Bau der A 20
selbst durchlesen und werden erkennen, welche Gefah-
ren im Rahmen dieser Infrastruktur letztlich bestehen,
wenn man dabei bleibt, Ankündigungen zu machen, oh-
ne dass man gerichtsfeste und baureife Planungen hat.
Insofern gibt es auch da keinen Anlass für Kritik an die-
ser Bundesregierung.

Wir als SPD-Fraktion unterstützen eindeutig die posi-
tiven Aussagen von Bundesverkehrsminister Klimmt
zum Weiterbau der A 20. Das können Sie auch im
Wahlkampf nicht zerreden.


(Beifall bei der SPD)

Dies gilt natürlich auch für die Landesregierung. Ich

glaube, auch darüber gibt es, wenn man bei der Sache
bleibt, überhaupt keinen Streit. Deshalb bin ich der Mei-
nung, dass sich diese Dinge gar nicht so sehr für den
Wahlkampf eignen.

Reinhold Hiller (Lübeck)







(A)



(B)



(C)



(D)


Trotz leerer Kassen sind darüber hinaus wesentliche
Projekte in Schleswig-Holstein abgesichert worden, die
vorher nicht abgesichert waren. Das betrifft die Ortsum-
gehung in Neumünster oder auch die Verlegung der
B 207 in Groß Grönau im Zusammenhang mit der A 20.
Ich will die Projekte jetzt nicht im Einzelnen nennen.

Wir werden diesen Weg weitergehen. Zum ersten
Mal ist ein Bundeskanzler in Schleswig-Holstein gewe-
sen, der sich in Übereinstimmung mit der dänischen Re-
gierung für den Bau einer festen Beltquerung ausgespro-
chen hat. Das sollten Sie auch einmal anerkennen.


(Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann [F.D.P.])


– Ich finde es ganz toll, dass Sie klatschen. Damit sind
Sie jetzt wieder auf der Linie der schleswig-holsteini-
schen F.D.P. Neulich bei einer Begegnung mit däni-
schen Kolleginnen und Kollegen hat das bei Ihnen, Herr
Kollege Friedrich, ganz anders geklungen.


(Zuruf des Abg. Hans-Michael Goldmann [F.D.P.] – Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Er war dabei!)


– Dies ist erfreulich. Und wenn Sie dem zustimmen,
dann sollten Sie dies auch so tun und sich nicht so un-
diplomatisch verhalten, wie es Herr Rühe in Schleswig-
Holstein tut, indem er sich höhnisch über die Gäste aus
Skandinavien geäußert hat. Ich finde, wenn es positive
Dinge gibt, dann sollte man diese letztlich auch positiv
herausstellen.


(Zuruf von der F.D.P.)

– Sie haben Recht. Deshalb haben Sie auch Ihren Antrag
eingebracht, und deshalb haben wir auch Ihre diesbe-
züglichen Äußerungen zu den verkehrspolitischen The-
men in Schleswig-Holstein vernommen. Daher begrüße
ich, dass ich bei dieser Gelegenheit etwas dazu sagen
kann.

Zur Ostsee-Kooperation ist in dieser Woche auf ei-
ner Veranstaltung der schleswig-holsteinischen Landes-
regierung vom Botschafter der USA ein dickes Lob für
die Landesregierung in Kiel ausgesprochen worden, das
auch geopolitische Bedeutung hat. Ich glaube, dass man
darauf besonders stolz sein kann.

Meine Damen und Herren, auch bei der Schiene hat
man sich seitens der Bundesregierung und seitens der
Landesregierung darauf verständigt, die Planungskosten
für die Elektrifizierung der Strecke Hamburg – Lübeck
zu teilen. Das ist etwas Neues und dafür sollte man der
Bundesregierung Dank sagen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Denn Sie haben es in der Vergangenheit lediglich ge-
schafft, über dieses Projekt zu reden.

Sie, Herr Kollege Oswald, haben die Verknüpfungen
angesprochen. Das betrifft insbesondere die Häfen, über
die in diesem Hause viel zu wenig gesprochen wird.
Auch in diesem Falle ist es so, dass sich der Bund an der
Entwicklung von KLV-Terminals in den Häfen nicht

nur in Schleswig-Holstein, sondern überall an der Küste
beteiligt. Auch das muss man hier einmal sagen. Das ist
sehr erfreulich. 28 Millionen DM sind bewilligt worden,
um zum Beispiel in Lübeck ein Terminal für den kom-
binierten Ladungsverkehr zu bauen und Trailer-
Wechselbehälter und Container schnell und wirtschaft-
lich umschlagen zu können.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Investi-
tionen im Verkehrsbereich – auch da kann ich meinem
Vorredner zustimmen – dienen nicht nur der Infrastruk-
tur, sondern sie schaffen auch Arbeitsplätze. Auf diese
Bundesregierung kann man sich verlassen und deshalb
darf ich meine Ausführungen mit einem Dank an Ver-
kehrsminister Klimmt beenden.

Danke.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Sie haben vergessen, Frau Simonis zu danken!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408403300
Jetzt hat der Kollege
Horst Friedrich, F.D.P.-Fraktion, das Wort.


Horst Friedrich (FDP):
Rede ID: ID1408403400
Frau Präsiden-
tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen!
Lieber Kollege Hiller, das war eine gelungene Wahl-
kampfrede, allerdings offensichtlich im falschen Parla-
ment. Es wäre besser gewesen, sie in Schleswig-
Holstein zu halten.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Das wäre auch nicht besser gewesen! Die Rede war schlecht!)


Das Muster war ein bisschen kleinkariert.
Um wenigstens bei den Fakten zu bleiben: Dass die

Mineralölsteuer 1,90 DM beträgt, kann man in diesem
Haus nicht so stehen lassen.


(Zurufe von der SPD: Oh!)

Wir haben die Mineralölsteuer von 49 auf 98 Pfenni-

ge angehoben. Das ist richtig. Dazu stehen wir auch.
Wir haben im Gegenzug dem Autofahrer damals aber
auch immer das Kilometergeld erhöht, um zumindest in
der Fläche die Möglichkeit des Ausgleichs zu schaffen,
was Sie bis jetzt schuldig geblieben sind.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ihr Motto zur Erhöhung der Ökosteuer lautet ja: Ra-

sen für die Rente, damit Entsprechendes in der Kasse
bleibt. Der Autofahrer wird abgezockt, ohne dafür etwas
zu bekommen. Ihre mittelfristige Finanzplanung unter-
mauert dies, denn die Investitionen im Verkehrsbereich
werden abgesenkt.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Genau!)

Zur A 20, lieber Kollege Hiller, kann ich sagen: Sie

waren immer dafür. Ich freue mich auch, dass Sie akzep-
tieren, dass man so etwas schnell bauen kann. Ich will
hier nur noch einmal feststellen: Das Verkehrswegepla-

Reinhold Hiller (Lübeck)







(A)



(B)



(C)



(D)


nungsbeschleunigungsgesetz wurde gegen die Stimmen
der SPD durchgesetzt


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Hört! Hört!)


und die Investitionsmaßnahmengesetze im Zusammen-
hang mit der A 20 auch. Offensichtlich hatten wir doch
die besseren Argumente damals.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Wieso nur damals?)


Wenn Sie mich schon bei der festen Fehmarnbelt-
querung in die Pflicht nehmen wollen: Erstens habe ich
gesagt, wir müssen über das Thema ordentlich nachden-
ken. Ich glaube nicht, dass es in Deutschland erste Prio-
rität hat. Ich sehe momentan auch noch nicht die abgesi-
cherte Finanzierung für diese Maßnahme.


(Angelika Mertens [SPD]: Da spricht wieder der Bayer!)


Insofern sollte man vielleicht Gästen aus Dänemark
nicht etwas versprechen, was in dieser Form in keiner
einzigen Planung, auch von Ihnen nicht, bisher im In-
vestitionsplan abgesichert ist.

Meine Damen und Herren!
Der Bundesverkehrswegeplan ist fürchterlich unter-
finanziert. Er liest sich seit Jahren wie ein Mär-
chenbuch. Wir müssen endlich einen ehrlichen Plan
aufstellen. Es ist fraglich, ob wir genug Geld haben,
um die Infrastruktur auszubauen und auf Dauer zu
unterhalten.
An diese Fragen wird der Verkehrsminister ganz
grundsätzlich drangehen. Das kann zu weitreichen-
den Konsequenzen führen, etwa zum Privatbetrieb
oder zur privaten Errichtung von Straßen, Schienen
oder Verkehrswegen. Denn eines kann sich die
Bundesrepublik auf keinen Fall leisten: eine unge-
nügende Infrastruktur.


(Beifall bei der F.D.P.)

Sie werden sich jetzt wundern: Ich habe soeben den
Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel, aus einem
Interview zitiert, das er im Juni letzten Jahres dem
„Stern“ gegeben hat.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Ja, so was!)


In einem hat er Recht: Wir können es uns nicht leis-
ten, eine ungenügende Infrastruktur zu haben.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn ich allerdings die Messlatte seines Haushaltes und
der Dotierung des Investitionsplanes an dem messe, was
er dem „Stern“ gesagt hat, kann ich nur sagen: Ziel klas-
sisch verfehlt.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Genau!)

Das Letzte, was wir uns in Deutschland im globalen

Wettbewerb leisten können, ist eine schlechte Infrastruk-

tur, insbesondere aber auch schlechte Straßen, da nur
flexible Transportleistungen der Arbeitsteiligkeit der
Wirtschaft dienen und damit auch die entsprechenden
Beschäftigungseffekte und Arbeitsplatzsicherheit schaf-
fen.

Die tatsächliche Entwicklung des Straßenverkehrs in
Deutschland hat aus mehreren Gründen alle Prognosen
bei der Erstellung des Bundesverkehrswegeplans 1992
bereits weit übertroffen. Wirklich verantwortliche Poli-
tik muss sich deswegen auch an den tatsächlichen Ver-
kehrsmengen und -strömen orientieren.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. – Angelika Mertens [SPD]: Richtig!)


Alle seriösen Prognosen von ernst zu nehmenden In-
stituten, angefangen beim Ifo-Institut, weisen darauf hin,
dass der Personenverkehr bis zum Jahr 2010 um weitere
30 Prozent und der Güterverkehr auf deutschen Straßen
um weitere 60 Prozent zunehmen werden. Deswegen
müssen die Investitionen dem Bedarf einer arbeitsteili-
gen Volkswirtschaft angepasst werden und dürfen nicht
nach unten gefahren werden.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Das ist Logik!)


Der Schienenverkehr kann bei allen Anstrengungen,
Hilfen und Investitionen keine wesentliche, spürbare
Entlastung bringen. Wenn er in der Lage sein soll, den
prognostizierten Zuwachs aufzunehmen, müsste er sich
gegenüber dem jetzigen Stand fast verdreifachen. Der-
zeit besteht ein Verhältnis von 60 : 20 zwischen Straße
und Schiene im Güterverkehr, beim Personenverkehr
liegt das Verhältnis klassisch bei 90 : 8.

Das Entscheidende – das hat Herr Mehdorn gestern
im Verkehrsausschuss zugegeben – ist, dass die Bahn
derzeit kein in sich schlüssiges Logistikkonzept anbie-
ten kann. Sie wird es auf Dauer auch nicht anbieten
können, und genau das ist das eigentliche Problem. Es
nützt doch nichts, einen Verkehrsträger zu bestrafen,
ohne dass der andere in Zukunft in der Lage ist, über-
haupt Güter in signifikantem Umfang zu übernehmen.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Es sei denn, wir hätten die Regierung!)


Darüber hinaus – das ist bereits vom Vorsitzenden
des Verkehrsausschusses gesagt worden – muss man ak-
zeptieren, dass der Großteil der Güter über Entfernungen
von unter 100 Kilometern oder nur knapp darüber trans-
portiert wird. Das ist eine klassische nicht bahnaffine
Entfernung. Der Anteil der Güter, der auf dieser Strecke
transportiert wird, wird zunehmen, weil die Verlagerung
der Transporte von schweren Massengütern wie Kohle
oder Stahl hin zu hochwertigen Kaufmannsgütern, die
zeit- und kostenempfindlich sind, zunimmt. Deswegen
werden auch die Verteilungsströme kleinteiliger. Auf
diese Tendenzen muss man Antworten geben. Das kann
man nicht dadurch tun, dass man die Straßeninfrastruk-
tur in den jetzigen Planungen zusätzlich vernachlässigt.
Angeblich haben Sie doch schon erkannt, wo der Pferde-
fuß ist.

Horst Friedrich (Bayreuth)







(A)



(B)



(C)



(D)



(Angelika Mertens [SPD]: Was haben Sie eigentlich in den letzten Jahren gemacht? – Karin Rehbock-Zureich [SPD]: Wo waren Sie denn?)


– Sie können uns noch eine Zeit lang vorwerfen, wir hät-
ten unseren Verkehrshaushalt ungenügend dotiert. Ich
gehe jetzt die Aufstellung in der Fragestunde durch, die
der Kollege Ibrügger bezüglich der Frage des Kollegen
Fischer aufgeführt hat. Bei dem Vergleich der Zahlen
stellt sich heraus, dass wir mehr Investitionsmittel zur
Verfügung gestellt haben, als Sie es derzeit tun.


(Beifall bei der F.D.P. – Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Das ist die Wahrheit!)


Dabei haben Sie jetzt bereits zweimal zusätzlich in
die Taschen der Autofahrer gegriffen. Der Kollege
Schmidt behauptet nach wie vor, in den Jahren 1999 und
2000 würde es mehr Investitionsmittel geben. Betrach-
ten wir es wirklich ernsthaft: Die Steigerung in 1999 ist
ausschließlich darauf zurückzuführen, dass es 100 Mil-
lionen DM mehr für den Ausbau von Eisenbahnkreu-
zungen, einer Last, die von den Kommunen auf den
Straßenbauhaushalt übertragen worden ist, gegeben hat.


(Zuruf von der SPD: Ist das mehr oder ist das weniger?)


– Es ist verschoben worden. Es kommt keine Mark in
den Straßenbau. Es werden Aufgaben in den Straßen-
bautitel verschoben, die vorher ganz woanders waren.
Wenn das Ihr Rechenexempel ist, dann ist das ein wenig
kurz gehüpft.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wo ist die Kürzung?)


Tatsächlich haben Sie schon 30 Millionen DM weniger
ausgegeben.


(Zuruf von der SPD: 100 Millionen DM mehr!)


Fakt ist: Sie erhöhen mit Ihren Ökosteuerschritten die
Zahllast für den Autofahrer auf 110 Milliarden DM. Sie
haben eine mittelfristige Finanzplanung vorgelegt, in der
die investiven Ansätze auf 22 Milliarden DM im Jahre
2003 reduziert werden. Das heißt, Sie ignorieren nach
wie vor den mittlerweile dreimal gefassten Beschluss
der Verkehrsminister des Bundes und der Länder, dass
für die Finanzierung der Straßeninfrastruktur 4 Milliar-
den DM zu wenig zur Verfügung stehen: 1 Milliar-
de DM für den Erhalt der bestehenden Infrastruktur und
3 Milliarden DM für den Ausbau. Diese Beschlüsse sind
immer einstimmig von allen Verkehrsministern, egal,
welcher parteipolitischen Couleur sie angehört haben,
gefasst worden.


(Zuruf von der SPD: 1997 schon!)

Das Einzige, was zutrifft, ist Folgendes: Der deutsche

Autofahrer hat einen Trost: Die Luft im Stau wird bes-
ser. Prägnanter kann man die Ergebnisse einer Shell-
Studie nicht zusammenfassen, in der steht, dass die Zahl
der PKW demnächst von 42 Millionen auf 51 Millionen

zunimmt, aber die Schadstoffbelastung geringer ist als
Anfang der 90er-Jahre.

Ich sage es noch einmal: Das ist angesichts der von
Ihnen veranlassten Abzockerei der Autofahrer ein billi-
ger Trost; denn der Stau ist nun einmal nicht wegzudis-
kutieren. Die Verkehrsentwicklung hat seit 1960 um sa-
ge und schreibe 900 Prozent zugenommen, die Entwick-
lung der Infrastruktur gerade einmal um 50 Prozent.
Deswegen haben wir, die F.D.P., einen Vorschlag in un-
serem Antrag „Straßenbau statt Autostau“ gemacht, der
schrittweise systemgerechte Verstärkungen der Investi-
tionsmittel vorsieht.


(Beifall bei der F.D.P. – Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Sehr vernünftig!)


Wir fordern in einem ersten Schritt eine Aufstockung
des Straßenbautitels des Bundes um 1,3 Milliarden DM.
Um dem Vorwurf der Unseriosität bei diesem Vorschlag
zu entgehen, haben wir natürlich auch gleich die Gegen-
finanzierung vorgelegt. Wir fordern Sie hier auf, die
bisher vorliegende zeitbezogene Vignette für den LKW
in eine zweckgebundene Vignette umzuwandeln – das
sind immerhin knapp 800 Millionen DM – und endlich
das Wibera-II-Gutachten für die Zahllast für den Nah-
verkehr zwischen Bund und Ländern gesetzlich umzu-
setzen. In diesem Gutachten, das einvernehmlich von
Bund und Ländern akzeptiert worden ist, wird festge-
stellt, dass der Bund, gemessen am Status-quo-Verkehr
1992, für den Nahverkehr jährlich eigentlich 500 Millio-
nen DM zu viel an die Länder bezahlt.

Um auch dem nächsten Vorwurf gleich entgegenzu-
treten: Das heißt nicht, dass wir uns aus der Finanzie-
rungsverantwortung des Bundes zurückziehen wollten;
wir bleiben ja bei über 12 Milliarden DM. Es geht da-
rum, das im Gesetz festgelegte Verfahren endlich umzu-
setzen. Man kann das auch sein lassen. Dann muss man
es aber als Regierung ebenso gesetzlich festlegen und
sagen: Wir möchten den Vollzug dieser 500 Millio-
nen DM nicht. Auch das kann man dem Autofahrer er-
klären, denn auch diese Abgaben werden aus der Mine-
ralölsteuer finanziert.


(Zurufe von der F.D.P.: Richtig! Ja!)

Auch das muss besprochen und festgestellt werden.

Das zweite Element ist die Forderung, dass der Bun-
desverkehrsminister sein Programm zur Beseitigung
von Engpässen und Stauschwerpunkten nicht erst im
Jahr 2003 auflegt, sondern es auf das Jahr 2001 vor-
zieht.


(Beifall bei der F.D.P.)

Im langen Weg ist das für uns ein Einstieg zur lang-

fristigen Umstellung der Finanzierung der Straßenver-
kehrsinfrastruktur auf ein verursachergerechtes und effi-
zientes System in „Public-Private-Partnership“ unter
Einbeziehung ausländischer Nutzer. Auf dem Weg dahin
fordern wir, dass erstens die Möglichkeiten des seit 1994
bestehenden Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetzes
zielgerichtet erweitert werden sollen, um entsprechende
Erfahrungen zu sammeln, dass zweitens unverzüglich

Horst Friedrich (Bayreuth)







(A)



(B)



(C)



(D)


mit der Ausschreibung von Modellprojekten begonnen
wird


(Zurufe von der F.D.P.: Richtig! – Sehr gut! – Lobenswert!)


und dass drittens im Zusammenhang mit den Modellpro-
jekten und der Gesetzesänderung ein Zeitplan zur Um-
stellung des Systems der Finanzierung der Straßeninfra-
struktur aufzustellen ist.

Das ist, meine Damen und Herren Kollegen, schon
deshalb notwendig, weil das EU-Recht ja verbietet,
gleichzeitig zeitbezogene Vignetten und nutzer-
abhängige Entgelte auf der gleichen Strecke einzufüh-
ren. Das heißt im Endeffekt: Wir werden uns dann über-
legen müssen – auch, wenn es Modellprojekte im Detail
sind –, ob das EU-Recht nicht unter Umständen bereits
gegen eine solche gleichzeitige Einführung steht. Des-
wegen muss das zügig und im Zusammenhang darge-
stellt werden.

Ziel der ganzen Operation muss es sein, dem Auto-
fahrer in Deutschland zu signalisieren, dass er von der
von ihm finanzierten gigantischen Summe von
110 Milliarden DM wenigstens den Anteil zurückbe-
kommt, der einigermaßen dem bereits seit 1960 beste-
henden Gesetz entspricht, wonach Steuern und Abgaben
zweckgebunden dem Straßenverkehr zurückzugeben
sind.


(Zuruf von der F.D.P.: Sehr gut! – Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt keine zweckgebundene Steuer in Deutschland!)


– Herr Kollege Schmidt, es war 1960 in Deutschland be-
reits Gesetz, dass so etwas zweckgebunden ist. Sie sa-
gen, es gibt keine zweckgebundene Steuer. Die Mineral-
ölsteuer ist zweckgebunden, zumindest zum Beispiel zur
Finanzierung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgeset-
zes.

Wir sollten uns hier nicht gegenseitig mit Halbwahr-
heiten überzeugen wollen. Eine Zweckbindung muss
vorgenommen werden, und das ist auch möglich, wenn
der politische Wille dazu vorhanden ist. Dieser Wille ist
bei Ihnen nur nicht vorhanden. Sie nutzen den Autofah-
rer in Deutschland als billige Melkmaschine,


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Als Melkkuh! Nicht als Melkmaschine!)


was die Finanzierung angeht, um Ihre Versprechen ein-
zulösen, und senken gleichzeitig die Investitionen in die
Infrastruktur aller Verkehrsträger.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Straßenbaufinanzierungsgesetz vom 28. März 1960!)


Das ist eigentlich das, was man Ihnen politisch vorwer-
fen muss.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wie war das nun mit der Melkmaschine gemeint?)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408403500
Nun erteile ich dem
Kollegen Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.

Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Wir sollten weniger über landwirt-
schaftliche Geräte sprechen, sondern besser über den
Verkehr. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie, liebe Kol-
leginnen und Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion und
aus der PDS-Fraktion, mit Ihren Anträgen die Gelegen-
heit schaffen, im Hohen Haus eine längere Verkehrsde-
batte durchführen zu können.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Da seht ihr einmal, wie wichtig wir sind!)


Ich glaube, es gibt jenseits aller notwendigen und si-
cher immer wieder deutlich sichtbaren Differenzen auch
eine ganze Menge an Aussagen, die ich bisher gehört
habe, die man unterstreichen kann. Besonders dann,
wenn Kollege Oswald spricht, muss ich mich direkt im-
mer zusammennehmen, damit ich nicht an der falschen
Stelle klatsche.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Reden Sie nicht so viel, sonst schaden Sie mir! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Das ist gefährlich! – Machen Sie doch aus Ihrem Herzen keine Mördergrube!)


Aber im Ernst: Ich glaube, wir können uns darauf
verständigen, dass die zweifellos große und notwendi-
gerweise zu lösende Aufgabe, das dichte Verkehrsnetz –
Straße und Schiene – in einem vernünftigen Zustand zu
erhalten und es dort, wo es notwendig ist, sogar noch
auszubauen, von Jahr zu Jahr schwieriger geworden ist
und noch schwieriger werden wird, und zwar – das be-
haupte ich einfach – ganz egal, ob der Finanzminister
rot, grün oder schwarz ist. Wenn wir das konzedieren,
dann müssen wir uns fragen, warum das so ist. Der eine
Grund ist sicherlich der: Je länger und je älter das Ver-
kehrsnetz wird – es wird ja täglich und jährlich älter –,
desto größer wird von Jahr zu Jahr der Aufwand für den
schieren Erhalt und für die Sicherung des Bestands –
meine Kollegin Eichstädt-Bohlig wird darauf noch im
Detail eingehen – sowie für die Erneuerung von Bau-
werken wie Tunneln und Brücken. Das ist keine politi-
sche Angelegenheit, sondern einfach ein Fakt.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Deswegen muss man Geld zur Verfügung stellen!)


– Ich komme darauf noch zu sprechen, Herr Kollege.
Bitte haben Sie einen Moment Geduld, bis ich meinen
Gedankengang zu Ende entwickelt habe.

Der zweite Grund, warum es von Jahr zu Jahr schwie-
riger wird, dieser Aufgabe ausreichend nachzukommen
– auch darauf werden wir uns verständigen können –,
ist, dass wir gezwungen sind, generell den Haushalt zu
konsolidieren, und dass wir uns nicht damit abfinden
dürfen und wollen, durch eine immer größer werdende
Neuverschuldung den Schuldenrucksack für künftige
Generationen dauernd schwerer werden zu lassen. Auch

Horst Friedrich (Bayreuth)







(A)



(B)



(C)



(D)


der Ausweg in immer mehr Schulden scheidet also aus,
jedenfalls für uns. Für uns gilt der Grundsatz der Nach-
haltigkeit nicht nur in der Umweltpolitik, sondern auch
in der Finanzpolitik.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Völlig richtig! Aber sparen Sie doch erst mal!)


Auch ein anderer Ausweg verbietet sich: Die private
Vorfinanzierung verursacht dem Finanzminister zwar
zunächst keine Kosten. Aber die Jahresraten verteuern
das fertig gestellte Verkehrsprojekt, wenn es zurückge-
kauft wird. Das gilt nicht nur für Autobahnprojekte,
sondern auch für Schienenprojekte. Sie alle kennen als
Musterbeispiel die ICE-Neubaustrecke über Ingolstadt.
Dieses Projekt wird durch die Rückzahlung von
622 Millionen DM pro Jahr über 15 Jahre zum Schluss
9,6 Milliarden DM kosten. Die geplante Bausumme liegt
eigentlich nur bei 3,8 Milliarden DM. Ein solcher Aus-
weg scheidet für uns auch aus.

Wir müssen nüchtern feststellen, dass ein ungebrems-
ter und immer weiterer Ausbau der Verkehrsinfrastruk-
tur – das ist unabhängig von der parteipolitischen Cou-
leur – nicht nur an ökologische Grenzen, sondern auch
ökonomische Grenzen stößt. Wer dies heute noch ver-
schleiern will, der gesteht sich eine Tatsache nicht ein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Gerade weil es so schwierig ist, der von mir beschrie-
benen Aufgabe nachzukommen, ist es eine ungeheure
Leistung dieser Bundesregierung, im Rahmen des Inves-
titionsprogramms 1998 bis 2002 mit einem Gesamtvo-
lumen in Höhe von 67 Milliarden DM Investitionen in
die Verkehrsinfrastruktur zu sichern und gleichzeitig
ganz bewusst und sehr gezielt mindestens die Hälfte die-
ses Kapitals in den Bestand der Netze zu investieren.
Das ist ein Paradigmenwechsel, mit dem die Realitäten
anerkannt werden. Das sollte man nicht kritisieren, son-
dern anerkennen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie haben darüber geklagt – dafür habe ich Verständ-
nis –, dass auch das Verkehrsministerium prinzipiell
nicht von den allgemeinen Konsolidierungszwängen
ausgenommen worden sei. Aber Sie müssen auch ganz
nüchtern konzedieren, dass in den vier Jahren der letzten
Legislaturperiode zum Beispiel der Investivansatz für
den Straßenbau von 8,7 Milliarden DM auf 8,1 Milliar-
den DM reduziert worden ist, obwohl die Mineralölsteu-
er erhöht worden ist und obwohl die Schulden jedes Jahr
mehr geworden sind. Das ist der Unterschied zu dieser
Bundesregierung: Wir verringern die Staatsverschul-
dung; wir betreiben keine bedenkenlose Steuererhö-
hungspolitik. Trotzdem sorgen wir für Investitionen in
den Ausbau und Erhalt des Straßen- und Schienennet-
zes.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Sie erhöhen sogar um 30 Pfennig in vier Jahren!)


Mit begleitenden Maßnahmen zum Investitionspro-
gramm – auch das möchte ich bei dieser Gelegenheit in
Erinnerung rufen – hat sich das Bundeskabinett am
3. November 1999 befasst. Die dort versammelte Runde
der Ministerinnen und Minister hat damals zusätzlich
zum Investitionsprogramm Folgendes beschlossen.

Wir halten noch einmal fest – –

(Unruhe bei der SPD und der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408403600
Meine Damen und
Herren, überwiegend hat der Kollege Schmidt das Wort.

Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Aber ich finde es ganz interessant, wenn
Frau Rönsch mit Herrn Schlauch streitet.

Ich rufe noch einmal in Erinnerung, dass das Kabinett
am 3. November letzten Jahres, zusammen mit diesem
Investitionsprogramm, Folgendes beraten und beschlos-
sen hat: Es wurde erstens festgelegt, dass gemäß der
Vereinbarung im Koalitionsvertrag der Investitionsanteil
Schiene am gesamten Investivvolumen auch künftig
kontinuierlich gesteigert werden solle, dass zweitens bei
den globalen Minderausgaben der Bereich der Bahn we-
gen der allgemein anerkannten Nachholinvestitionen
möglichst verschont bleiben solle und dass drittens nicht
verausgabte Mittel für andere Projekte schwerpunktmä-
ßig auch der Ertüchtigung der Schiene zugute kommen
sollten.

Darüber hinaus wurde die Realisierung einer Reihe
von Projekten bekräftigt und festgeschrieben. Diese Pro-
jekte sind nicht Teil des Investitionsprogramms.
Gleichwohl soll in dem Programmzeitraum in der Grö-
ßenordnung von 5,4 Milliarden DM zusätzlich in das
Schienennetz investiert werden. Das muss ehrlicher-
weise zum Schienenanteil addiert werden, um zu einer
richtigen Bilanz zu kommen.

Dies alles zusammen ist für uns als Koalitionspartner
eine sehr akzeptable Grundlage, obwohl ich nicht ver-
hehle – das sage ich genauso offen –, dass uns bei ein-
zelnen Autobahnprojekten – ich nenne eines, das uns be-
sonders wehtut, nämlich die A 71/A 73, die Autobahn
durch den Thüringer Wald – eine abgespeckte Planung,
ein verkehrs- und bedarfsgerechter Ausbau von Bun-
desstraßen, inklusive Ortsumfahrungen und Überholspu-
ren am Berg, ökologisch verträglicher und ökonomisch
verkraftbarer als eine Neutrassierung durch den Wald
erscheint.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber so ist es in einer Koalition. Ich muss Ihnen von der
F.D.P. doch nicht erzählen, dass man sich nicht immer
durchsetzt.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Das ist doch kein Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“, Herr Schmidt! Sie lügen sich doch selbst was vor!)


– Man kann auch Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“
modifizieren. Das nicht zu tun, sollte kein Dogma sein.

Albert Schmidt (Hitzhofen)







(A)



(B)



(C)



(D)


Ich möchte auf die Frage der Finanzierung von Infra-
struktur im Zusammenhang mit der Kommission, die
vor kurzem ihre Arbeit aufgenommen hat – die so ge-
nannte Pällmann-Kommission – zurückkommen. Diese
Kommission soll im Auftrag des Bundesverkehrsminis-
ters nach Wegen der Verkehrsfinanzierung für die Zu-
kunft suchen.

Wir müssen uns alle – das sage ich, damit wir uns
richtig verstehen, auch an die Adresse der eigenen Frak-
tion und der eigenen Partei – auf neue Debatten einstel-
len. Wir werden uns einer Diskussion über eine echte
Privatfinanzierung im Sinne von Road-Pricing, sozu-
sagen im Sinne einer streckenbezogenen Maut für be-
sonders teure Infrastrukturabschnitte, nicht verschließen
können. Wir werden allen Ernstes darüber sprechen
müssen, ob und unter welchen Bedingungen so etwas
sogar verursachergerecht und sinnvoll sein kann.

Wir werden außerdem miteinander die Frage zu erör-
tern haben, was eigentlich aus den Einnahmen der stre-
ckenbezogenen LKW-Benutzungsgebühr, die wir, so-
weit ich sehe, alle gemeinsam wollen, wird. Unsere
Fraktion unterstützt die Position des Verkehrsministers,
der die Auffassung vertritt, dass es am besten wäre, die-
ses Geld in die Verkehrswegeinfrastruktur zu reinvestie-
ren. Man kann sich darüber unterhalten, in welchem
Umfang und für welchen Verkehrsträger dies geschehen
soll. Das wird sicherlich eine spannende Debatte sein.
Aber für uns Verkehrspolitiker muss gelten, dass wir
gemeinsam für Beiträge zur Verkehrswegeinfrastruktur
eintreten.

Wir werden aber auch eine viel härtere Debatte über
die Setzung von Prioritäten erleben, gerade in der Dis-
kussion über den neuen Verkehrswegeplan. Wir sollten
uns auch mit Konzepten zu einem reduzierten Ausbau
anfreunden. Ein starres Festhalten an Maximallösungen
beim Straßenbau schafft kein Geld; vielmehr schafft es
möglicherweise nur endlose und haltlose Versprechun-
gen und Verzögerungen. Das kennen wir aus der Ver-
gangenheit zur Genüge. Man sollte auch bei Straßen-
bauprojekten, überall wo es möglich ist, Ausbaustan-
dards reduzieren, um kostengünstiger zu realisieren.


(Zuruf von der CDU/CSU: Nur nicht auf Kosten der Sicherheit!)


– Nicht auf Kosten der Sicherheit, Frau Kollegin. Sie
wissen sehr gut, dass der damalige Verkehrsminister
Wissmann das Wort von der Streckung und der Straf-
fung von Projekten im Munde geführt hat.

Obwohl ich es eigentlich gar nicht vorhatte, will ich
zur aktuellen Situation der Bahn Stellung nehmen,
nachdem auch meine Vorredner dies getan haben. Die
Bahn ist auf eine zuverlässige Investitionsplanung sehr
stark angewiesen. Ich möchte nur Folgendes sagen: Wir
unterstützen ausdrücklich den Ansatz des neuen
Bahnchefs Hartmut Mehdorn, der gesagt hat: Wir müs-
sen in einem Zweiklang dazu beitragen, dass aus dem
Sanierungsfall ein Erfolgsmodell wird, nämlich Kosten-
senkung einerseits – besser und effizienter werden in der
Erbringung und Anbietung von Leistung –, andererseits
zugleich Umsatzsteigerung durch höhere Attraktivität,

durch besseres Marketing und qualitative Verbesserun-
gen.

Zugleich müssen wir aber dafür sorgen – das füge ich
als Drittes hinzu; das geht an unsere eigene Adresse –,
dass unsere verkehrspolitischen Hausaufgaben gemacht
werden, dass für die Bahn als Verkehrsträger Chan-
cengleichheit auf dem Verkehrsmarkt besteht. Da ist
noch einiges zu tun. Das wird nur schrittweise gehen.
Ich bin, wie der Kollege Oswald weiß, Realpolitiker. Ich
glaube nicht, dass das von heute auf morgen geht. Aber
wir müssen problematisieren, warum der Luftverkehr bis
heute – ich halte das für einen Skandal – von jeglicher
Mineralölsteuer befreit ist, während die Bahn die Mine-
ralölsteuer treudoof bezahlen muss. Das ist nicht in Ord-
nung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das muss europäisch angegangen werden; das werden
wir tun. Ob das eine Steuer oder eine Abgabe ist, ist da-
bei sekundär.

Wir müssen die Frage der Mehrwertsteuer proble-
matisieren. Ich bin dankbar dafür, dass das – wie ich mit
Interesse festgestellt habe – neuerdings sogar die
CDU/CSU tut. Wir sind das einzige Land Europas, das
der Bahn im Fernverkehr auferlegt, den vollen Mehr-
wertsteuersatz zu entrichten. In allen anderen Ländern
gilt der halbe oder ein noch niedrigerer Steuersatz.

Des Weiteren müssen wir die Frage der Wegekosten,
Trassenpreise problematisieren. Ich bin nach wie vor der
Auffassung, dass die Trassenpreise gerade im Güterver-
kehr auf der Schiene zu hoch sind – sie liegen um das
Doppelte höher als im Rest Europas –, während die Kos-
ten auf der Straße zu niedrig sind. Wir wollen die Bahn
nicht bevorzugen oder den LKW-Verkehr bestrafen, wie
Sie, Kollege Friedrich, ein bisschen unterstellen, son-
dern wir wollen Waffengleichheit herstellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Das unterstelle ich nicht, das sind Fakten!)


Die Schwerverkehrsabgabe muss eine reale Bezugs-
größe zu den verursachten Schäden sein, und zwar als
Wegekostendeckung im engeren Sinne. Wenn ein
40-Tonner mit einer einzigen Achse das 160 000fache
dessen an Schäden verursacht wie ein PKW, weil die
Beanspruchung der Straße exponential mit der Achslast
steigt, dann wird klar, dass da ganz anders herangegan-
gen werden muss. Wir brauchen eine völlig andere Art
und Höhe der Wegekostenbelastung.

Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zur Öko-
steuer. Ich habe viel Verständnis dafür, dass man im
Wahlkampf besonders gegen die Ökosteuer zu Felde
zieht und sagt, dass eine Steuer erhöht wird usw. Das ist
alles in Ordnung. Aber was mich an dieser Diskussion
fast erbittert – das möchte ich deutlich sagen –, ist, dass
Leute von Ihnen, die ich eigentlich sehr schätze, vor Jah-
ren etwas ganz anderes gewusst und gesagt haben als
heute. Ich nenne die damalige Umweltministerin Angela
Merkel, die – ich habe es selbst erlebt – in Kioto buch-

Albert Schmidt (Hitzhofen)







(A)



(B)



(C)



(D)


stäblich Tag und Nacht mit den Umweltministern der
anderen Länder über das Kioto-Protokoll verhandelt hat,
in dem die Eco Taxes ausdrücklich drinstehen. Kollegin
Angela Merkel, die damals die maßvolle Ökosteuer be-
fürwortet hat, entblödet sich heute nicht, auf das Niveau
von Hintze herabzusinken und wider besseren Wissens
gegen eine Mineralölsteuererhöhung von 6 Pfennig ei-
nen Scheinfeldzug zu beginnen. Das finde ich unglaub-
würdig bis sonst wohin.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Mogelpackung! – Weitere Zurufe)


Ein allerletzter Satz, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ich freue mich, dass die PDS uns Gelegenheit gibt, noch
einmal über Tempo 130 zu diskutieren, zumal die SPD
diese Forderung auf dem letzten Parteitag in Berlin,
wenn ich richtig informiert bin, auch beschlossen und
mindestens als Material an die Bundestagsfraktion über-
wiesen hat. Auf diese Diskussion freue ich mich sehr.
Das ist eine Forderung, die mir sehr sympathisch ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408403700
Ich erteile nun das
Wort dem Kollegen Winfried Wolf, PDS-Fraktion.


Dr. Winfried Wolf (PDS):
Rede ID: ID1408403800
Sehr geehrte Frau Präsi-
dentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es gibt in je-
der Verkehrsdebatte drei zentrale Irrtümer. Der erste Irr-
tum betrifft das Verständnis von Mobilität, der zweite
die Gleichsetzung von Verkehrswachstum mit einem
Mehr an Auto- und Luftverkehr. Der dritte ist das Tot-
schlagargument mit den Arbeitsplätzen.

Zum Ersten. Vor acht Tagen saßen ein Dutzend Ver-
kehrsmenschen in der Redaktion der „Reformwerkstatt“
der Zeitung „Die Zeit“ in Hamburg. Das Thema hieß
Mobilität. Das erste, was wir dort diskutierten, war die
Definition von Mobilität. Es gab natürlich unterschiedli-
che Auffassungen, zum Beispiel zwischen dem Daimler-
Chrysler-Vertreter, einer Testpilotin, einem Jugendfor-
scher, einem Werbefachmann und den Verkehrswissen-
schaftlern. Mehrheitlich wurde jedoch akzeptiert, dass
die rein quantitative Definition von Mobilität problema-
tisch sei. Professor Holzapfel und ich sprachen sich in
der Runde darüber hinaus für eine strikt qualitative Be-
stimmung von Mobilität aus.

Ganz anders verhält es sich bei den hier zur Debatte
stehenden Anträgen von CDU/CSU und F.D.P. Darin
wird Verkehrswachstum weitgehend mit Mobilitätsge-
winn gleichgesetzt. Warum, so frage ich Sie von der
F.D.P. und der CDU/CSU, beginnen Sie nicht mit einem
Zugriff auf Ihre geistige Festplatte, Datei „Großes Lati-
num“?
Kommt das Wort „Mobilität“ nicht von „mobilis“, was
so viel wie „beweglich“ bedeutet? Nicht anders ist das
beim Verb „movere“, das mit „bewegen“ übersetzt wird,
und beim Substantiv „mobilitas“, das „Beweglichkeit“
und „Biegsamkeit“ heißt.


(Lachen und Beifall bei der F.D.P.)

– Ich bedanke mich bei der Fraktion des großen Lati-
nums. – Übertragen heißt das also, sich ausreichend um
den eigenen Lebensmittelpunkt biegen bzw. bewegen zu
können.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Da kommt der Herr Wolf und gibt Nachhilfeunterricht in Latein! Herrlich!)


Es geht bei Mobilität nicht darum, ob wir pro Jahr
möglichst viele Kilometer zurücklegen oder ob ein Jo-
ghurtbecher möglichst viele Kilometer weit transportiert
wurde. Es geht um Lebensqualität und Produktgüte.


(Beifall bei der PDS sowie des Abg. HansChristian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es geht darum, ob der Mensch über eine ausreichende
Beweglichkeit verfügt, um die lebensnotwendigen und
die Lebensfreude bringenden Dinge mit akzeptablem
Zeitaufwand zu erledigen: Gelangt er in passabler Zeit
zum Arbeits- oder Ausbildungsplatz? Gibt es Freizeit-
möglichkeiten, Kulturangebote und Kindergärten in pas-
sabler Entfernung? Sind die Wege zum Einkaufen, zu
Verwaltungen oder zum Psychologen ausreichend kurz?

Es gibt heute in Westeuropa Menschen, die pro Jahr
5 000 Kilometer zurücklegen und sich als zufriedenstel-
lend mobil bezeichnen.


(Zuruf des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.])


Es gibt andere Menschen, die pro Jahr 15 000 Kilometer
zurücklegen, aber erklären, ihre Mobilität, Herr
Friedrich, sei stark eingeschränkt.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Wir brauchen aber keinen Psychologen!)


Das Rätsel löst sich dadurch auf, dass im zweiten Fall
jeweils die Länge der Wege einem Vielfachen der We-
gelängen des ersten Mobilitätstyps entspricht.

In unserem heute ebenfalls zur Debatte stehenden
Antrag zum Bundesverkehrswegeplan schreiben wir –
ich zitiere –:

Wasserleitungen im Haushalt sind bekanntlich
nicht dafür gedacht, möglichst große Mengen an
Wasser durchzuleiten, sondern dazu, eine weitge-
hend konstante Menge von Wasch-, Spül- und
Kochvorgängen zu ermöglichen. So gesehen sollten
auch Verkehrswege nicht dazu da sein, größtmögli-
che Verkehrsmengen zu bewältigen, sondern als
Leitungssystem für die Gewährleistung von Mo-
bilität, die sich kaum verändert hat. Seit mehr als
hundert Jahren

– so weiter der Text –
ist ... nicht nur die von den Menschen im Verkehr
verbrachte Zeit annähernd gleich geblieben. Auch
die Zahl der Zielbewegungen pro Person und Jahr
liegt praktisch unverändert bei dem runden Wert
von etwa tausend ...

Albert Schmidt (Hitzhofen)







(A)



(B)



(C)



(D)



(Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])

Auf dieser Grundlage fordern wir eine Strukturpoli-

tik, die kurze Wege begünstigt. Vor diesem Hintergrund
klagen wir die längst ausstehende Neudefinition der für
die Bewertung eines Bundesverkehrswegeplans erfor-
derlichen Kriterien ein und wir bedauern, dass sich die
Regierung von SPD und Grünen dafür eine volle Legis-
laturperiode Zeit lassen will. Wir meinen, dass es hier
einer Verkehrswende bedarf.

Der zweite Irrtum betrifft die Art des Verkehrs-
wachstums. Für CDU/CSU und F.D.P. geht es in ihren
Anträgen primär um das Wachstum des Straßen- und
Luftverkehrs, wobei es schon grotesk ist, wenn ange-
sichts der Tatsache, dass die CDU/CSU 16 Jahre die
Verkehrsminister stellte, 16 Monate nach Bildung einer
neuen Regierung die Autofahrernation im Jammertal
und dort im Stau stehend sieht und die F.D.P. von einem
„Dauerstau mit passabler Luftqualität“ spricht.


(Beifall bei der PDS – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Die CDU/CSU-Fraktion fordert, dass die Schiene ei-
nen größeren Anteil am Verkehrszuwachs einnimmt,
wohlgemerkt: am Zuwachs und nicht am Verkehrs-
markt. Diese Sicht entspricht leider der Verkehrsrealität.
Der heute mit debattierte Straßenbaubericht dokumen-
tiert erneut die Anteilsverluste der Schiene und die Ge-
winne von Luftfahrt und Straße. In den Jahren von 1982
bis 1998 hat sich auf dem Verkehrsmarkt der Anteil der
Schiene im Personenverkehr bei 7 Prozent – dem nied-
rigsten Wert bisher – stabilisiert. Im öffentlichen Nah-
verkehr hat sich der Anteil der Schiene um ein Drittel,
und zwar auf 8,1 Prozent, und im Güterverkehr um
40 Prozent auf jetzt 15,7 Prozent reduziert.

Gestern bekamen wir, wie Kollege Oswald es schon
ausgeführt hat, im Verkehrs- und Bauausschuss einen
Einblick darin, wie es um die Deutsche Bahn AG wirk-
lich steht. Der neue Vorstandsvorsitzende der Bahn,
Mehdorn, bilanzierte knallhart, dass die Bahn erneut mit
20 Milliarden DM verschuldet sei, dass sie ihr Kapital
weitgehend aufgezehrt habe, dass sie im operativen Ge-
schäft längst rote Zahlen schreibe und dass sie erneut ein
Sanierungsfall sei. Was Mehdorn dann an weit reichen-
den Vorschlägen zur erneuten „Sanierung“ der Bahn
vortrug, findet nicht unsere Zustimmung.

So viel ist jedoch festzuhalten: Als wir im Jahre 1993
als einzige Bundestagspartei die Bahnprivatisierung ab-
gelehnt haben, sprachen wir exakt von einer solchen
Perspektive, und zwar von noch mehr Marktverlusten,
neuen Schulden und davon, dass bis Ende der 90er-Jahre
ein neuer Sanierungsfall Bahn entstehe. Das ist kein
Grund zu Schadenfreude und Rechthaberei; aber so war
es und so ist es.

Zu unseren Forderungen, wie eine wirkliche Ver-
kehrswende erreicht und wie Mobilität in diesem quali-
tativen Sinne gesichert werden kann, gehört – Kollege
Schmidt hat darauf hingewiesen – nicht zuletzt auch ei-
ne Geschwindigkeitsbegrenzung. Diese haben nicht
nur die Grünen immer vehement eingefordert. Dazu sag-

te vielmehr im Jahre 1992 ein bereits damals prominen-
ter Politiker:

Das Tempolimit ist ein Gebot der Vernunft. Nun
wird es hoffentlich auch der verkehrspolitischen
Betonriege in der Bundesregierung klar sein: Die
Zeit der unbegrenzten Raserei auf Deutschlands
Autobahnen ist vorbei. Wir brauchen eine Rück-
kehr zum menschlichen Maß.

Das war Gerhard Schröder. Ziemlich exakt so lautet un-
ser heute ebenfalls debattierter Antrag:


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)


zurück zum menschlichen Maß, Maximalgeschwindig-
keit 130 als Angleichung an Rest-Europa.


(Beifall bei der PDS)

Der dritte Irrtum: Die Anträge von CDU/CSU und

F.D.P. setzen Verkehrswachstum mit Wohlstand und
Arbeitsplätzen gleich. Das ist volkswirtschaftlich ein-
fach Unsinn. Dazu nur zwei Hinweise: In der Schweiz
legt ein Durchschnittsbürger ein Drittel weniger Kilome-
ter pro Jahr mit dem Pkw zurück.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Wie sieht es denn mit Liechtenstein aus?)


Die Schiene hält einen doppelt so hohen Anteil am Per-
sonen- und Güterverkehr. Doch es gibt halb so viele Ar-
beitslose und mehr Wohlstand als hierzulande. Die
Gründe für Letzteres sind natürlich höchst unterschiedli-
che. Doch Sie von SPD und Grünen stimmen mir wohl
zu: Der Schluss, den die Anträge von CDU/CSU und
F.D.P. nahe legen – hätten die Schweizerinnen und
Schweizer mehr Straßen und mehr Autoverkehr, wären
sie mobiler und wohlhabender und hätten sie sogar noch
weniger Arbeitslose –, ist nicht logisch, sondern ein
Trugschluss.


(Beifall der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS] und des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Zweiter Hinweis: Bei den Arbeitsplätzen sind immer
nur sehr spezielle im Blick. Wir fragen: Was ist mit den
250 000 Jobs, die seit 1990 bei der Bahn abgebaut wur-
den? Was ist mit den 70 000 Jobs, die Herr Mehdorn
künftig bei der Bahn abbauen will? Was ist mit den
100 000 Jobs, die bei den öffentlichen Verkehren in den
Städten unter anderem auf Grund der EU-Libe-
ralisierung zur Disposition stehen? Was ist mit der deut-
schen Bahnindustrie, mit Adtranz, Bombardier und Sie-
mens, wo jährlich 1 000 Jobs wegfallen?


(Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Die haben auch klassische Überkapazitäten!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der eingangs zi-
tierten „Reformwerkstatt“ der „Zeit“ hat die Runde am
Ende der sechsstündigen Debatte den Verkehr der Zu-
kunft erörtert. Einiges klang dabei futuristisch; an vie-
lem hätten die Technikfetischisten, die es in allen Partei-
en gibt, also die Leute, die auf S und M – schneller und
mehr – stehen, ihre helle Freude gehabt. Ich bin da er-

Dr. Winfried Wolf






(A)



(B)



(C)



(D)


heblich bodenständiger. Ich sagte in Hamburg und ich
sage hier heute: Es gibt bereits den Verkehr der Zu-
kunft; wir müssen nur die Mosaiksteine zum Puzzle
Verkehr in der Stadt und Verkehr im Land zusammen-
setzen, und zwar eins zu eins und nicht als kleines Mo-
dell.

Nehmen wir die vorbildliche Struktur des Fußgänger-
und Fahrradverkehrs, wie sie in Münster existiert. Kom-
binieren wir dies mit dem hervorragenden öffentlichen
Nahverkehr der Stadt Zürich mit der Tram als Rückgrat
und dem schönen Slogan „Wo wir fahren, lebt Zürich!“
Fügen wir die Erschließung der Region hinzu, wie sie in
Karlsruhe mit der Straßenbahn existiert, die sogar weit
in den Schwarzwald hinein fährt. Denken wir uns zu-
sätzlich einen Schienenverkehr, wie er in der Schweiz,
aber ansatzweise auch – dank Herrn Brüderle – in
Rheinland-Pfalz mit einer engen Vernetzung und Ver-
taktung von Nah-, Regional- und Fernverkehr existiert.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Brüderle, F.D.P.!)


Dann, wenn diese real existierenden Verkehrswelten zu-
sammengefügt werden, können wir noch darüber disku-
tieren, ob wir ein bisschen Elektronik, ein paar Fahrplä-
ne im Internet und ein bisschen Telematik in der Tram
hineinmischen.


(Beifall bei der PDS)

Eine solche Verkehrsrealität anzusteuern, wäre ein

herausragendes Ziel für eine SPD-Grünen-Regierung.
Das brächte Arbeitsplätze, Umweltschutz und ein Stim-
menplus. Das Umweltbundesamt hat errechnet, dass im
Jahre 1994 70 Prozent der Bevölkerung für ein Tempo-
limit eingetreten sind. Doch es sieht nicht nach einer
solchen Politik aus.

Werte Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss erin-
nere ich an die Behauptung, der Enkel von Willy Brandt
habe etwas gründlich missverstanden: Während Willy
Brandt von „Mehr Demokratie wagen“ gesprochen habe,
wolle Gerhard Schröder nur „mehr Volks-Wagen“. Wir
sollten mehr Demokratie wagen und den anderen Ver-
kehr, eine Verkehrswende, wagen.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408403900
Ich erteile dem Mi-
nister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Herrn
Reinhard Klimmt, das Wort.

Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Bei der wichtigsten Aufgabe, die
wir wohl alle bei unserer politischen Arbeit sehen, näm-
lich für mehr Beschäftigung zu sorgen und die Arbeits-
losigkeit bei uns im Lande in den Griff zu bekommen,
spielt selbstverständlich die Infrastrukturpolitik eine
wichtige und wesentliche Rolle. Sie spielt einmal eine
wichtige und wesentliche Rolle, da sie direkt zu Be-
schäftigung führt. Es ist schon von Herrn Oswald gesagt

worden, dass jede Milliarde, die wir in die Infrastruktur
investieren, unmittelbar zu zwischen 10 000 und 12 000
Arbeitsplätzen führt. Das ist eine nennenswerte Zahl;
hier wirken die Investitionen bereits von sich aus.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Der zweite Grund, warum wir den Verkehr und seine

Weiterentwicklung brauchen, ist der, dass es sehr wohl
einen Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Ent-
wicklung und dem Verkehr von Gütern und Personen
gibt. Sicherlich gibt es eine ganze Reihe von Möglich-
keiten, sich mithilfe der neuen Techniken Verkehr zu er-
sparen. Aber stellen wir uns einmal vor, wir würden nur
noch in Form von Videokonferenzen die Sitzungen des
Deutschen Bundestages abhalten! Was würde sich da-
raus wohl für ein Klima entwickeln?


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Horrorvision!)


Es ist daher gut, dass wir aus allen Teilen des Landes
hier zusammenkommen, um über die wichtigen Angele-
genheiten unseres Landes zu reden. Wir brauchen die
Mobilität.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wer in der Nähe wohnt, kommt zu Fuß oder mit dem
Fahrrad. Andere müssen sich der Bahn, des Automobils
oder auch des Flugzeuges bedienen.

Es handelt sich um eine Selbstverständlichkeit, unser
gesellschaftliches und politisches Leben weiterzuentwi-
ckeln. Das gilt auch für den Güterverkehr. Natürlich
kann ich einen Kühlschrank über das Internet bestellen.
Aber er muss immer noch geliefert werden, weil wir die
Technik des Beamens noch nicht beherrschen. Daher
wird es die entsprechende Mobilität weiterhin geben
müssen.

Dabei kommt es darauf an, dass wir die Mobili-
tät sinnvoll einsetzen – diese Forderung ist absolut rich-
tig –, und darauf, dass wir die verschiedenen Verkehrs-
träger ihren Möglichkeiten entsprechend nutzen. Wenn
wir darüber nachdenken, in welcher Weise wir bei uns
die Verkehrsinfrastruktur ausbauen wollen, müssen wir
auch dafür Sorge tragen, dass dabei insgesamt nicht nur
volkswirtschaftliche Überlegungen eine Rolle spielen –
die Bequemlichkeit werden wir den Menschen nicht aus-
treiben können –, sondern dass auch die Frage der Öko-
logie berücksichtigt wird. Es ist wichtig, die Wasserstra-
ßen auszubauen und die Schiene weiterzuentwickeln.
Wir haben nämlich nicht nur das Automobil als Trans-
portmittel.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408404000
Herr Minister, ge-
statten Sie eine Frage der Kollegin Rönsch?

Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Ja.

Dr. Winfried Wolf






(A)



(B)



(C)



(D)



Hannelore Rönsch (CDU):
Rede ID: ID1408404100
Herr
Minister, Sie befinden sich mit Ihren Kollegen in der
Kontinuität der Schaffung von Arbeitsplätzen. Wie beur-
teilen Sie aber, dass der Wirtschaftsminister die Refe-
renzstrecke für den Transrapid einfach ins Ausland ver-
legen will?


(Widerspruch bei der SPD – Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das will er doch gar nicht!)


Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Das Thema Transrapid hat
uns bereits beschäftigt. Wir waren uns hier alle darüber
einig, dass ein Bau im Inland in den nächsten 10 bis 20
Jahren nur eine Ergänzungsfunktion von geringem ver-
kehrspolitischen Wert haben kann. In 50 Jahren mag es
vielleicht anders aussehen. In der näheren Zukunft wird
das aber der Fall sein, weil wir alle gemeinsam auf das
Rad-Schiene-System gesetzt haben.

Es geht jedoch darum, einen Exportmarkt für unsere
technologische Entwicklung zu schaffen. Dafür braucht
man Referenzstrecken. Warum soll es nicht möglich
sein, dass vonseiten des Bundeswirtschaftministers für
den Fall, dass bei uns die Strecke nicht zustande käme –
ich gehe nicht davon aus; wir führen noch entsprechende
Gespräche –, daran gedacht wird, eine Verbindung über
die Grenzen beispielsweise nach Holland zu bauen?
Momentan befinden wir uns aber in einer anderen Phase
der Diskussion. Ich werbe dafür, dass wir gemeinsam in
einem Spitzengespräch der Beteiligten zu einer Lösung
kommen, sodass die Strecke Hamburg – Berlin verwirk-
licht werden kann.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Falls das nicht gelingen sollte – auch das habe ich ge-
sagt –, wollen wir eine andere Strecke im Inneren unse-
res Landes suchen, um auf diese Weise ein Exemplum
zu liefern, mit dem wir nach außen deutlich zeigen kön-
nen, zu welchen Leistungen die deutschen Ingenieure
fähig sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408404200
Frau Rönsch möchte
noch eine Frage stellen.

Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Ja.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408404300
Bitte sehr.


Hannelore Rönsch (CDU):
Rede ID: ID1408404400
War
Ihre Antwort als Ja zum Transrapid in Deutschland zu
verstehen?


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)


Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Ja, natürlich.


(Beifall bei der F.D.P.)



Hannelore Rönsch (CDU):
Rede ID: ID1408404500
Wä-
ren Sie auch bereit, wie es der Wirtschaftsminister ge-
sagt hat, 6,1 Milliarden DM ins Ausland zu geben, damit
dort die Referenzstrecke gebaut wird?


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat er nicht gesagt!)


Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Das hat er nicht gesagt. In
diesem Fall wäre ich mit ihm nicht einverstanden gewe-
sen.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Doch! Das hat er gesagt!)


– Nein, das hat er nicht gesagt. Wir reden ja miteinan-
der. Insofern kann ich das ganz authentisch wiederge-
ben, was wir zu diesem Thema verabredet haben.

Es ging um den Fall, dass es andere Interessenten gibt
und diese dann eventuell noch einen kleinen Anreiz
brauchen, um die entsprechende Investition zu tätigen.
Aber von 6,1 Milliarden DM war keine Rede. Ich glau-
be, wir streiten uns jetzt auf einem falschen Feld. Wir
sind uns doch darüber im Klaren, dass wir die Techno-
logie und Innovationen fördern wollen und dass wir
Technologie exportieren wollen. Es geht daher darum,
einen vertretbaren, hier untereinander abgestimmten
Weg zur Durchsetzung dieses gemeinsamen Ziels zu
finden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!)

In diesem Stadium befinden wir uns noch. Wir werden
aber die Probleme entsprechend lösen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: In vier Wochen ist der Zauber vorbei!)


Integrierte Verkehrspolitik – alle Systeme sinnvoll
einsetzen und miteinander kombinieren –, das ist das
Ziel.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408404600
Herr Minister, die
Kollegin Blank möchte noch eine Zwischenfrage stellen.

Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Ja, ich lasse sie zu, aber ich
möchte auch irgendwann zum Schluss kommen; ich ha-
be ja kaum mit dem Eigentlichen angefangen.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408404700
Ich darf Sie beruhi-
gen: Diese Ausführungen werden nicht auf Ihre Redezeit
angerechnet.






(A)



(B)



(C)



(D)


Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Dann sage ich jetzt gleich:
Das ist vorerst die letzte Zwischenfrage, die ich zulasse
– damit niemand das persönlich nehmen muss.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das sind alles nur Damen!)


– Deswegen fällt es mir ja leicht zuzustimmen.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408404800
Was heißt „nur Da-
men“, Herr Kollege? – Frau Kollegin, Sie haben das
Wort.


Renate Blank (CSU):
Rede ID: ID1408404900
Herr Minister, ich
komme auf das Thema Transrapid zurück. Wie bewerten
Sie denn die Aussage des Bahnchefs Mehdorn gestern
im Ausschuss, dass sich die Strecke Hamburg – Berlin
absolut nicht rechne und er im Grunde genommen dage-
gen sei?

Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Das ist ja nun keine unbe-
dingte Neuigkeit. Wir werden im Spitzengespräch mit
den Beteiligten, um die es geht, diese Frage erörtern. Da
ist die Bahn nun einmal dabei. Denn erstens kann die
Bundesregierung das System nicht betreiben – das ist
nicht unsere Aufgabe – und zweitens ist das Industrie-
konsortium nicht bereit, von sich aus das System zu be-
treiben. Deshalb geht es darum, jemanden zu haben, der
bereit ist, dies zu tun. Das kann nur die Bahn sein; denn
eventuell noch jemand anderen damit beauftragen zu
wollen, hielte ich für einen schweren strategischen Feh-
ler.

Insofern müssen wir uns jetzt zusammensetzen und
werden im Gespräch zwischen Konsortium, Bahn und
Bundesregierung feststellen, ob die Strecke Hamburg –
Berlin für den Transrapid geeignet ist. Falls die Aussage
ist, dass dies nicht der Fall ist, werden wir gemeinsam
nach einer Alternativstrecke – das ist meine Absicht und
mein Ziel – im Inland suchen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ich freue mich übrigens bei den Anträgen über die
grundsätzliche Unterstützung, die geleistet wird. Ich
nehme das gerne zur Kenntnis, möchte aber auch nicht
verhehlen, dass vielleicht doch die eine oder andere
Krokodilsträne dabei ist. Ein Vorschlag ist, für die Mi-
neralölsteuer jetzt eine Zweckbindung einzuführen.
Wem würde es, ganz gleich, welchen Etat man zu ver-
antworten hat, nicht zusagen, wenn auf diese Art und
Weise die Finanzierung gesichert würde? Aber auch Sie
haben das zu Ihrer Zeit nicht verfolgt. Die Tatsache,
dass der entsprechende Passus im Haushaltsgesetz im-
mer wieder aufgehoben worden ist, ist keine Übung der
rot-grünen Koalition gewesen. Das haben wir von Ihnen
übernommen. Insofern stehen wir in diesem Fall in Ihrer
Kontinuität.


(Beifall bei der SPD)

Sie sollten es deswegen nicht so intensiv kritisieren. Die
Notwendigkeit der Konsolidierung der Haushaltsmittel,

die zur Verfügung stehen, ist eine Aufgabe, die Sie uns
hinterlassen haben. Denn die Schwierigkeiten, unter de-
nen der Bundeshaushalt leidet, bestehen nicht darin, dass
man jetzt Finanzierungen finden muss, um die Schul-
denlast zurückzuführen. Nein, wir sind ja dabei, in die-
ser Legislaturperiode zu erreichen, dass die Neu-
verschuldung zurückgeführt wird, damit am Ende der
Anstrengungen keine zusätzliche Verschuldung mehr
nötig ist. Das schränkt selbstverständlich die Bewe-
gungsspielräume von uns allen ein. Mehr als
80 Milliarden DM nur für Zinsen! Wie gerne würden ich
und alle anderen diese Mittel ausgeben: im Bereich des
Städtebaus, für die Infrastruktur im Bereich des Ver-
kehrs. Aber leider stehen uns diese Mittel aufgrund Ihrer
Hinterlassenschaft nicht zur Verfügung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir kämpfen mit der privaten Vorfinanzierung. die
momentan unsere finanziellen Spielräume einengt und
worin sehr viel Geld steckt, das den Banken zugewiesen
werden muss. Deswegen ist bei der grundsätzlichen
Diskussion um Vorfinanzierung, in der wir uns derzeit
noch befinden, völlig klar: Dies kommt nur infrage,
wenn auf diese Art und Weise nicht zusätzliche Zinsbe-
lastungen entstehen, die später aus dem Bundeshaushalt
finanziert werden müssen.

Wir müssen damit fertig werden, dass der Bundes-
verkehrswegeplan, an dem wir auch unser Investitions-
programm orientiert haben, hoffnungslos unterfinanziert
gewesen ist. Für den Zeitraum bis zum Jahr 2012 besteht
eine Finanzierungslücke von 100 Milliarden DM. Inso-
fern kämpfen wir um zusätzliche Spielräume im Haus-
halt. Sicherlich ist auch der Finanzminister mit dabei,
wenn es darum geht, Investitionen im Rahmen des Ver-
fügbaren sicherzustellen.
Ich bedaure sehr, dass wir es in dem Haushalt unseres
Ministeriums – immerhin mit circa 50 Milliarden DM
ein sehr dicker Brocken – nicht schaffen können, einen
höheren Anteil als 55 Prozent für Investitionen zu errei-
chen, unter anderem weil wir mit Belastungen aus der
Vergangenheit fertig werden müssen.

Allein 14 Milliarden DM müssen an das Bundesei-
senbahnvermögen überwiesen werden. Das ist eine
Verpflichtung, zu der wir gerne stehen, weil sie hier ge-
meinsam vereinbart worden ist. Aber es geht um die
Bewältigung von Altlasten und die Mittel stehen nicht
für zusätzliche Investitionen zur Verfügung. Wir haben
das getan, um der Bahn zu ermöglichen, aus eigener
Kraft wirtschaftlich zu arbeiten, und in der Hoffnung,
dass die Bahn in der Lage ist, im investiven Bereich
durch wirtschaftlichen Erfolg selber etwas beizutragen.
Deswegen müssen wir erwarten, dass die Bahn auch un-
ter dem neuen Chef Mehdorn die Wirtschaftlichkeit in
den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellt, um auf diese
Art und Weise zu erreichen, dass wir nicht erneut in eine
Sanierungsdiskussion kommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Abg. Wolfgang Dehnel [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)







(A)



(B)



(C)



(D)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408405000
Herr Minister, nun
möchte schon wieder jemand eine Zwischenfrage stel-
len.

Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Wir müssen außerdem die
Standards überprüfen, mit denen wir unsere Verkehrs-
wege – –


(Abg. Wolfgang Dehnel [CDU/CSU] meldet sich weiterhin zu einer Zwischenfrage)


– Lassen Sie mich gerade einmal einen Gedanken zu
Ende führen.


(Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Ich habe schon gewartet! Darf ich?)


– Ja.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408405100
Bitte sehr, Herr Kol-
lege.


Wolfgang Dehnel (CDU):
Rede ID: ID1408405200
Vielen Dank, Herr
Minister, Frau Präsidentin.

Sie haben im Dezember der Zeitschrift eines Verban-
des, der Millionen Kraftfahrer vertritt, ein Interview ge-
geben. Da steht in der Überschrift: „Ich werde um jede
Mark kämpfen.“ Sie haben das gerade wieder angeführt:
„Ich werde um jede Mark kämpfen.“ Sie haben dann
auch vom Investitionsplan gesprochen. Wie können Sie
angesichts dessen diesem Haus die enormen Kürzungen
erklären, die in diesem Investitionsplan vorgesehen sind,
gerade auch für unser Land Sachsen? Sie sagen, dass Sie
um jede Mark kämpfen werden. Wie sehen Ihre Pläne,
dort etwas aufzusatteln, konkret aus? Welche Abspra-
chen mit dem Finanzminister sind getroffen worden?

Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Wir brauchen, wie gesagt,
ein möglichst hohes Investitionsniveau.Wenn es darum
geht, mit den knappen Mitteln zurechtzukommen, dann
ist meine Empfehlung: Lasst uns über Standards reden!
Ich bin schon in anderen Teilen der Welt herumgekom-
men. Auch dort funktioniert der Verkehr.


(Beifall des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Sicher haben wir die höchste Qualität deutscher Ingeni-
eurleistungen zu bieten. Aber das ist, glaube ich,
manchmal fast des Guten zu viel und sehr teuer.

Wir haben die Investitionen – 26,1 Milliarden DM
werden in unserem Ministerium für Investitionen so-
wohl im Verkehrs- als auch im Baubereich ausgege-
ben – im Jahre 2000 noch einmal um immerhin eine
halbe Milliarde DM steigern können.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408405300
Nun besteht noch
ein Fragewunsch, Herr Minister: bei Herrn Seifert.

Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Ich nehme einen Anlauf zu
der Frage, weil ich zu dem angesprochenen Investitions-
programm und einem weiteren Thema meiner Rede
noch etwas sagen will. Sie sind sicherlich einverstanden,
wenn ich diese beiden Fragen im Zusammenhang dar-
stelle.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408405400
Der Kollege Seifert
von der PDS wollte noch eine Frage stellen.

Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Ich möchte jetzt die Dinge
im Zusammenhang darstellen können. Sonst wird die
Rede zu sehr zerfleddert. Trotz all der Gnade, die ich
von der Präsidentin erfahre, sehe ich, dass meine Rede-
zeit knapp wird und ich befürchten muss, dass ich einige
wichtige Punkte vielleicht nicht mehr vortragen kann.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408405500
Herr Minister, ich
nehme zur Kenntnis, dass Sie keine weiteren Zwischen-
fragen zulassen. Dann ist das für uns alle klar und ich
muss Sie auch nicht mehr unterbrechen.

Sie haben das Wort.

Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Wir haben mit dem Investi-
tionsprogramm ein Gesamtinvestitionsvolumen von
64,5 Milliarden DM festgelegt. Dabei geht es um die
hoch prioritären Maßnahmen; wir hoffen, dass wir hier
der globalen Minderausgabe des Finanzministers entge-
hen können. Es ist festgelegt, dass 2,85 Milliarden DM
für den Bereich der prioritären Maßnahmen zur Verfü-
gung stehen, um auf diese Weise zusätzliche wichtige
und notwendige Maßnahmen durchführen zu können.

Das Entscheidende ist – das richtet sich insbesondere
an Sachsen –, dass bei diesem Investitionsprogramm die
Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ ganz weit vorne
stehen. Das führt dazu, dass der Großteil der Mittel für
die neuen Bundesländer ausgegeben wird,


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das merken wir in Baden-Württemberg!)


was natürlich von den alten Bundesländern – zum Bei-
spiel in Baden-Württemberg, aber auch in Nordrhein-
Westfalen – teilweise kritisiert wurde. Deswegen halte
ich es nicht für angemessen, wenn vonseiten Sachsens,
das nun wirklich gut bedient ist, in Bezug auf dieses In-
vestitionsprogramm, was den Autobahnausbau und die
Bereiche des Schienenverkehrs angeht, so getan wird,
als ob man ihnen einen Tort angetan hätte. Das ist nicht
der Fall.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Weil wir in der Vergangenheit in der Bundesrepublik
mehr in die Verkehrsinfrastruktur investiert haben und
dies in der DDR vernachlässigt wurde, muss der Aufbau
Ost erste Priorität haben. Dies muss weitergeführt wer-






(A)



(B)



(C)



(D)


den; das tun wir auch. Deshalb geht der größere Teil der
Mittel in die neuen Bundesländer.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir haben angefangene Projekte. Diese lassen uns

natürlich nicht viel Spielraum, um etwas ganz Neues an-
zufangen. Das ist das Problem, mit dem wir augenblick-
lich zu kämpfen haben.

Ich möchte auf einen anderen Umstand hinweisen,
der oft nicht bedacht wird. Wir haben aus der Vergan-
genheit noch ein anderes Problem: Wir haben zwar ein
wirklich weit entwickeltes Netz an Verkehrsinfrastruk-
tur, aber dieses Netz muss gepflegt werden. Mit jedem
Kilometer, den wir neu bauen, wächst natürlich auch die
Notwendigkeit zum Erhalt und das kostet Geld. In der
nächsten Zeit benötigen wir aber auch noch zusätzliche
Mittel. Der Bedarf steigt. Auch für die Sanierung der
Brückenbauwerke brauchen wir eine entsprechende fi-
nanzielle Unterlegung.

Wir haben daher zu Recht überlegt: Was kann man
eigentlich zusätzlich tun, um an den nötigsten Stellen,
die erkennbar sind, noch Verbesserungen zu erreichen?
Es geht darum, Engpässe, die in unserem Verkehrssys-
tem zweifellos vorhanden sind – man kann es drehen,
wie man will –, zu überwinden. Man kann bestimmte
Kennziffern anlegen, zum Beispiel wie viele Autos auf
einem Autobahnabschnitt fahren oder wie stark die Ge-
schwindigkeit eines Zuges gemindert ist aufgrund der
Tatsache, dass er auf einer Strecke fahren muss, die
nicht ausreichend gepflegt ist. Wir wollen ein zusätzli-
ches Programm auflegen – allerdings im Rahmen des-
sen, was uns momentan im Anschluss an das Investiti-
onsprogramm zur Verfügung steht –, um weitere Eng-
pässe sowohl im Bereich der Schiene als auch im Be-
reich der Autobahnen und der Wasserstraßen zu beseiti-
gen. Auf diese Weise wollen wir erreichen, dass dort,
wo es am nötigsten ist, Abhilfe geschaffen werden kann.

Wir werden vonseiten des Ministeriums, mit den
Fachleuten abgestimmt, in absehbarer Zeit ein entspre-
chendes Programm vorlegen, über das man sich nachher
konkret unterhalten kann. Selbstverständlich muss dies
finanziert werden können. Das entscheidende Thema,
mit dem wir uns zukünftig zu befassen haben, ist: Wie
können wir auch dann, wenn die Mittel in den öffentli-
chen Haushalten nicht ausreichen – das ist erkennbar –,
allen Ansprüchen und Notwendigkeiten gerecht werden?

Das Ministerium hat eine Kommission eingesetzt, die
unabhängig von irgendwelchen Weisungen oder Vorga-
ben daran arbeitet, welche zusätzlichen Finanzierungs-
möglichkeiten es gibt. Richtig ist auch der Hinweis, dass
wir bereits eine entsprechende gesetzliche Grundlage
haben, die wir nutzen wollen, um mit dem Element der
privaten Organisation und Finanzierung bestimmte Eng-
pässe zu beseitigen, beispielsweise auch mit dem Hilfs-
mittel Maut.

Es gibt Projekte, beispielsweise die Moselquerung in
Rheinland-Pfalz oder die Warnowquerung in Rostock,
wo man vorher bezahlt hat, wenn man mit der Fähre ge-
fahren ist. Man wird demnächst bezahlen, wenn man

den Tunnel nutzt, um unter der Warnow hindurchzufah-
ren. Es muss in jeder Hinsicht sorgfältig überprüft wer-
den, wie wir diese Projekte erweitern können und in
welchen Bereichen wir das anwenden können.

Wir hoffen – dies ist bereits von Ihnen angesprochen
worden –, mithilfe der Telematik zu erreichen, dass wir
sehr bald, möglichst ab dem Jahre 2002, bei den LKWs
eine entfernungsbezogene Gebühr erheben können,
damit in dem Maße, wie unsere Autobahnen genutzt
werden, auch die entsprechende Gebühr bezahlt wird.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich bin sehr froh darüber, dass ich im gesamten Haus
die Unterstützung dafür habe, dass das Geld, das diese
Gebühr erbringt, dem Verkehrshaushalt zusätzlich
zweckgebunden zur Verfügung steht – also nicht in den
Topf hineingerührt wird –, damit wir zusätzliche Wün-
sche finanzieren können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, ich möchte den Hinweis
auf die Telematik noch einmal aufgreifen. Die Telema-
tik ist nicht nur ein Spielzeug, das ganz nett ist, um sich
eventuell als Computerfreak zu betätigen. Nein, diese
Technik wird von uns in dem Sinne zu nutzen sein, dass
wir den knappen Verkehrsraum, den wir haben, besser
ausnutzen. Wenn es richtig ist, dass wir mit dem System
CIR-ELKE erreichen können, zum Beispiel den Schie-
nenverkehr auf der Strecke zwischen Karlsruhe und Ba-
sel um 30 Prozent steigern zu können, dann ist das von
großer Bedeutung. Das gilt übrigens auch für die Auto-
bahnen. Wenn wir auf diese Art und Weise unsere Ver-
kehrsströme besser lenken können, sparen wir Investiti-
onen am falschen Platz. Wir können mit den kostbaren
Investitionsmitteln dann noch viel rationeller umgehen,
als es bis jetzt der Fall ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und mit der Landschaft auch!)


Einen letzten Punkt, meine Damen und Herren,
möchte ich gerne aufgreifen – neben all den Themen,
die wir an anderer Stelle diskutieren müssen, zum Bei-
spiel wie wir eine ökologische Verkehrspolitik durch
andere Kraftstoffe betreiben könnten und was zum
Thema Tempolimit zu sagen ist –: Es geht mir jetzt um
die Bahn. Die Bahn kann meines Erachtens nur dann ei-
ne erfolgreiche Arbeit machen – das ist auch schon ge-
sagt worden –, wenn wir es schaffen, die im europäi-
schen Bereich vorhandenen Hindernisse auszuräumen.
Ich komme gerade aus Griechenland zurück, wo ich mit
dem dortigen Verkehrsminister geredet habe. Dort haben
wir Strategien überlegt, wie man den Korridor 10, der
durch das ehemalige Jugoslawien, durch Serbien, führt,
wieder öffnen kann. Das ist keine verkehrspolitische,
sondern eine außenpolitische Frage, die hier hinein-
spielt. Gleiches gilt für die Frage, wie man den Korri-
dor 4 praktikabel machen kann, um auf diese Art und

Bundesminister Reinhard Klimmt






(A)



(B)



(C)



(D)


Weise den Güterverkehr auf der Schiene wirklich
schnell abzuwickeln. Denn es ist das Elend der Vergan-
genheit, dass wir aufgrund einer immer noch in den
Köpfen vorhandenen Kleinstaaterei im Bahnwesen nicht
mit Schnelligkeit und Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit
haben auftrumpfen können. Es geht jetzt darum, diese
europäischen Netze zu definieren, um auf diese Art und
Weise zu erreichen, dass die Bahn auf der langen Stre-
cke ihre ganze Kraft und ihre ganze Qualität entfalten
kann und so die entsprechenden Chancen und Möglich-
keiten genutzt werden. Dazu müssen wir nicht nur die
gesetzlichen Hinderungen, die noch auf EU-Ebene und
in anderen Staaten bestehen, bewältigen, sondern auch
für Kooperationsbereitschaft der Bahnen sorgen, damit
dieses wichtige Verkehrsmittel wirklich die Chance hat,
mehr vom erwarteten Zuwachs des Güteraufkommens
aufzunehmen, als es bis dato der Fall war. Das ist ein
ganz wichtiges Ziel unserer Politik.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir werden kontinuierlich weiterdiskutieren. Wir
werden noch in diesem Jahr den Verkehrsbericht 2000
vorlegen. Dort wird etwas mehr über die Kriterien aus-
gesagt werden, die bei der Weiterentwicklung des Bun-
desverkehrswegeplans modifiziert worden sind, damit
man weiß, auf welcher Grundlage das geschieht.

Ich bedanke mich bei Ihnen für die Beiträge, aber vor
allem für das, was in den Anträgen steht. Es gibt man-
ches, bei dem wir nicht übereinstimmen – vielleicht war
das eine oder andere auch vergiftend gemeint –, aber das
meiste – das muss ich ganz ehrlich sagen – empfinde ich
als hilfreich und dafür bedanke ich mich.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408405600
Das Wort hat der
Kollege Dirk Fischer, CDU/CSU-Fraktion.


Dirk Fischer (CDU):
Rede ID: ID1408405700
Frau Präsi-
dentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich
hatte eigentlich nicht vor, heute etwas zum Thema
Transrapid zu sagen; das habe ich erst am letzten Don-
nerstag gemacht.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Bitte, ja! Das wäre nett!)


Aber ich komme nicht ganz daran vorbei, Herr Minister,
Sie darauf hinzuweisen, dass, als Sie gerade Worte ge-
funden hatten, die eigentlich für den Unkundigen, Au-
ßenstehenden ermutigend waren,


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie waren für alle ermutigend!)


der verkehrspolitische Sprecher Ihres Koalitionspartners
den Zwischenruf machte: „Transrapid ist mausetot“.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das habe ich nicht gesagt! Das ist eine Lüge! Das ist gelogen!)


– Das haben viele gehört, Herr Kollege, das ist das Prob-
lem.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ich habe gesagt, wir suchen die Referenzstrecke im Innern!)


Das haben Sie eben auch nicht zum ersten Mal gesagt.
Sie haben das schon im Ausschuss und in der Öffent-
lichkeit gesagt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nein! Diese Diktion habe ich nie gewählt!)


Auch in der Debatte am letzten Donnerstag haben Sie
das gesagt.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nein, auch da habe ich das nicht gesagt! Das können Sie im Protokoll nachlesen! Das steht nicht im Protokoll!)


Das macht deutlich, welches Verwirrspiel in der Koa-
lition bei diesem Thema herrscht. Man gewinnt gele-
gentlich den Eindruck, Bundeskanzler Schröder hätte
Ihnen gesagt: „Machen Sie ihn ruhig tot, aber nicht vor
der Schleswig-Holstein-Wahl“.


(Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Unerhört, was Sie behaupten!)


Außerdem sind Sie ganz offenbar dabei, den schwar-
zen Peter aus der Hand des Bundes jemand anderem in
die Hand zu drücken, um am Ende für dieses einmalige
Desaster und den Skandal, dass diese Zukunftstechnolo-
gie in Deutschland totgemacht wird, die Verantwortung
nicht übernehmen zu müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ich sage Ihnen ganz freimütig: Ich habe persönlich
ein großes Interesse daran, im Moment möglichst viele
derartige Zitate in das Protokoll des Deutschen Bun-
destages zu bringen, die ich mit ziemlicher Sicherheit
sehr bald noch sehr gut gebrauchen kann. Ich möchte zu
diesem Thema nur sagen: Nach meiner Auffassung wer-
den wir darüber in der allernächsten Zeit Endgültiges
hören.

Zum eigentlichen Thema. Die Mobilität ist ein zentra-
ler Bestandteil unserer Wirtschafts- und Gesellschafts-
ordnung und von Freiheit und Wohlstand. Wenn ich den
Antrag der Sozialdemokraten lese, stelle ich fest, dass
im Hause darüber Einigkeit zu herrschen scheint. Ver-
kehrsinfrastruktur ist von entscheidendem Einfluss auf
die Lebensqualität unserer Bürger. Eine gute Verkehrs-
infrastruktur ist auch ein Garant für die Leis-tungs- und
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft.

Vor diesem Hintergrund ist es schlimm, dass bei den
Ministern Müntefering und Klimmt, in Koproduktion
mit den Finanzministern Lafontaine und Eichel, in gut

Bundesminister Reinhard Klimmt






(A)



(B)



(C)



(D)


15 Monaten rot-grüner Regierungsverantwortung eine
verkehrs- und finanzpolitische Fehlleistung die nächste
jagte.

Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie ha-
ben, wenn Sie es mit der Zukunft unseres Landes sowie
Europas gut meinen, allen Grund, sich von Ihren ideo-
logischen Zwängen – die hörte man bei Ihnen in jedem
Satz, Herr Schmidt –


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was?)


zu lösen. Deutschland muss mobil bleiben können. Des-
halb müssen wir verstärkt und unvermindert in Ver-
kehrsinfrastruktur investieren.

Ihre Märchenstunde Haushalt ist längst widerlegt.
Lafontaine hat den Haushalt 1999 um 31,2 Mil-
liarden DM erhöht, um Wahlversprechen zu bezahlen.
Minister Eichel will genau diesen Betrag wieder einspa-
ren. Aber im Vergleich zu 1998 gibt er im Haushalt
2000 immer noch 22 Milliarden DM mehr aus, während
die alte Koalition ab 1995 Schrumpfhaushalte gemacht
hat, wirklich gespart hat und jeder Folgehaushalt niedri-
ger war als der vorhergehende. Das ist Sparen!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Klar, dass Sie diese Haushaltslöcher bei der desolaten

Politik Ihrer Regierung nur noch durch unsystematische,
kopflose Kürzungen stopfen können.

Besonders tragisch ist Folgendes: Erhöhungen im
konsumtiven Bereich; Streichungen, Einsparungen im
investiven Bereich, insbesondere bei den Verkehrsinfra-
strukturinvestitionen Straße/Schiene. Das so genannte
Investitionsprogramm 1999 bis 2002 verdient seinen
Namen nicht, es müsste „Investitionskürzungsprogramm
für den Straßenbau“ heißen. Sie betreiben hier eine se-
mantische Verdummung der Bevölkerung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Denn Sie werden nicht bestreiten können, dass dieses
Programm Kürzungen in einer Größenordnung von etwa
5 Milliarden DM gegenüber der mittelfristigen Finanz-
planung der Vorgängerregierung beinhaltet.

Sie behaupten in Ihrem Antrag, dass der von uns ver-
abschiedete Bundesverkehrswegeplan mit seinem
Zielhorizont bis 2012 mit mehr als 90 Milliarden DM
unterfinanziert sei.


(Zuruf von der SPD: Das stimmt doch!)

Das ist eine gewaltige Rosstäuscherei. Der Bundesver-
kehrswegeplan – so bestätigt das Bundesverkehrsminis-
terium permanent – ist kein Finanzplan, sondern nur ein
Bedarfsplan.


(Widerspruch bei der SPD)

Der Minister hat eben bestätigt, dass der Bedarf immer
größer ist, als die Haushaltsmöglichkeiten es erlauben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deswegen kann das gar nicht anders sein.
Im Übrigen war das auch noch nie anders. Der erste

Bundesverkehrswegeplan war der von Lauritz Lauritzen
aus dem Jahre 1976, und nachdem die Periode herum
war, hat es einen Überhang nicht gebauter Projekte in
Höhe von 26 Milliarden DM – und das zu damaligen
Preisen – gegeben. Der nächste von 1985/86 hatte, so-
weit ich weiß, auch einen Überhang von etwa 40 Milli-
arden DM. Das liegt in der Systematik begründet. Sonst
muss der Bedarfsplan mit dem Finanzplan identisch
sein. Rein logisch ist das gar nicht anders möglich.

Aber nun das Dreisteste: Obwohl Sie schon eine Un-
terfinanzierung beklagen, ist Ihre Antwort auf Unterfi-
nanzierung eine drastische Kürzung der Mittel. Da fasst
man sich an den Kopf und fragt: Sind die von allen gu-
ten Geistern verlassen? In diesem Bereich vergießen Sie
Krokodilstränen – total unglaubwürdig!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Denn in Wahrheit jubelt Herr Schmidt – so wie er gere-
det hat –, hüpft das Herz, dass das so ist.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was wissen Sie von meinem Herzen?)


Er freut sich ja über jede Unterfinanzierung und beklagt
sie nicht, weil er Straßenbau nicht will. Deswegen ist er
im Grunde genommen dem Ziel seiner Träume ziemlich
nahe gekommen. Das ist die Wirklichkeit.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Woher kennen Sie denn meine Träume?)


Bei dem Programm handelt es sich in Wahrheit um
einen ziemlich plumpen Täuschungsversuch; denn statt
bis 2002 läuft das Programm in Wirklichkeit bis 2010
und länger. Der Zeitraum ist eben nicht 1999 bis 2002,
sondern 1999 bis 2010 – wegen Kostensteigerungen und
Planungsverbesserungen wahrscheinlich länger. Ich be-
fürchte sogar, er geht über den Zeitraum 2012, den End-
zeitpunkt des jetzigen Bundesverkehrswegeplanes, hin-
aus. Denn zwei Drittel der Gesamtmittel fallen nach dem
Programm von vornherein erst nach 2002 an. Ich frage
mich die ganze Zeit: Was soll eigentlich in der von Ih-
nen angekündigten Fortschreibung des Bundesver-
kehrswegeplanes noch Neues stehen? Sie haben mit sei-
ner Bewältigung doch genug Arbeit.


(Karin Rehbock-Zureich [SPD]: Das ist richtig!)


Alle in dem Programm nur als „prioritär“ eingestuf-
ten Maßnahmen im Straßenbau werden nicht realisiert.
Sie fallen mit einem Anteil von 1,3 Milliarden DM der
globalen Minderausgabe zum Opfer. Und es ist ja gar
nicht zufällig, sondern Absicht, dass das Volumen der so
genannten prioritären Maßnahmen mit dem Volumen
der globalen Minderausgabe Straße auf den Pfennig
identisch ist.
„Prioritär“ heißt also bei Ihnen „vorrangig zu streichen“
und nicht „vorrangig zu bauen“.

Dirk Fischer (Hamburg)







(A)



(B)



(C)



(D)



(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf von der F.D.P.: Das ist die Wahrheit!)


Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist die
„neue Rechtschreibung“ von Rot-Grün, an die sich das
Land erst einmal gewöhnen muss.

Unklar ist zudem, wo der Anteil der globalen Min-
derausgabe nun erbracht wird, der – so haben Sie ent-
schieden – nicht mehr der Schiene auferlegt werden soll.
Also noch einmal 1,3 Milliarden DM! Die Folge: Erneut
wird der Straßenbauhaushalt der Steinbruch sein. Das ist
doch ganz unabweisbar.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Der Transrapid!)



(V o r s i t z : Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)


Wie können Sie da die Unverfrorenheit besitzen, in
Ihrem Entschließungsantrag zu behaupten, dass die Pro-
jekte des vordringlichen Bedarfs, die in diesem Pro-
gramm zusammengestellt sind, realisiert werden? Die
Wahrheit ist: Das Investitionsprogramm ist Makulatur.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Karin Rehbock-Zureich [SPD]: Das stimmt nicht!)


Von Verlässlichkeit der Infrastrukturplanung, wie es
in Ihrem Antrag heißt, kann überhaupt keine Rede sein.
Dringliche Maßnahmen des Straßenbaus sind massiv ge-
fährdet, 100 000 Arbeitsplätze im Tiefbaubereich akut
bedroht.


(Angelika Mertens [SPD]: Sie reden einen wirklichen Unsinn!)


Unvertretbar gegenüber Bürgerinnen und Bürgern ist es,
die Mehrbelastung des Autofahrers durch permanente
Mineralölsteuererhöhungen und zusätzliches Abkassie-
ren von 47 Milliarden DM bis 2003 zu praktizieren


(Peter Dreßen [SPD]: Das konntet ihr noch besser!)


und gleichzeitig die Investitionen in den Straßenbau in
den Keller zu fahren. Das ist unverantwortlich.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Das einzige Verhältnis, das Sie emotional zum Stra-
ßenverkehr haben, ist, dass er sich als Schröpfbereich
eignet, aber für ihn tun wollen Sie nichts. Die Folgen
des Programms sind schwer wiegende volkswirtschaftli-
che Schäden.


(Zurufe von der SPD: Oh!)

Im Hinblick auf den Arbeitsmarkt muss man bedenken,
dass der Verkehrssektor direkt und indirekt rund
4,3 Millionen Erwerbstätige beschäftigt. Es gibt volks-
wirtschaftliche Verluste als Folge allgemeiner Überlas-
tungen durch Staus in zweistelliger Milliardenhöhe pro
Jahr. Ein unverantwortlicher Kahlschlag im Verkehrs-

haushalt wird die Leistungsfähigkeit unseres Sys-tems
nicht steigern, im Gegenteil. Das müssen Sie endlich
begreifen.

Nun haben einige Kollegen von dem berühmten Be-
schluss der Länderverkehrsminister gesprochen. Den
haben die schon dreimal gefasst, im November 1997, im
April 1998 und im November 1999.


(Angelika Mertens [SPD]: 1997! Da waren wir noch gar nicht dabei!)


Das Pikante daran ist: Die Initiative stammt aus dem
Kabinett des Ministerpräsidenten Gerhard Schröder und
ist von seinem damaligen Verkehrsminister Peter
Fischer initiiert worden. Das besonders Reizvolle daran
ist nach meiner Auffassung: Sie haben gesagt,
4 Milliarden DM im Jahr mehr, aber


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie haben nicht gesagt, woher!)


Sie haben nicht gesagt, 5 Milliarden DM weniger. Das
müssen Sie begreifen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Angelika Mertens [SPD]: Warum haben Sie das nicht ausgeführt?)


Ich komme zu unseren Forderungen: Die Haushalts-
ansätze aus dem mittelfristigen Finanzplan von Matthias
Wissmann müssen wiederhergestellt werden. Beginnend
mit dem Haushalt 2001 muss die Zweckbindung des
Straßenbaufinanzierungsgesetzes von 1960 ausgeführt
werden und darf nicht durch das Haushaltsgesetz jähr-
lich aufgehoben werden.

Es müssen neue Modelle der Finanzierung, also der
Privatfinanzierung entwickelt werden. Herr Minister,
das ist wunderbar. Wir unterstützen Sie dabei. Das Ge-
setz haben wir schon gemacht, damals gegen den Wider-
stand von SPD und Grünen. Aber wir müssen das EU-
Recht, das zu eng ist, ausweiten. Sie gehen jetzt nach
der Methode vor: Wenn ich nicht weiter weiß, mache
ich einen Arbeitskreis. Er liefert bis Mitte 2000 seine
Ergebnisse. Ich habe Ihnen gesagt: Gehen Sie in Europa
an das Aufbrechen des zu engen Rechtsrahmens heran.
Sie haben gesagt: Das mache ich erst hinterher. Also
wird die Folge sein: In dieser Legislaturperiode passiert
gar nichts


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das wird spannend!)


und in der nächsten sind Sie eh nicht mehr da.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. – Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann passiert es ja nie!)


Das heißt, Sie haben heute weiße Salbe aufgetragen.
Meine Damen und Herren, wir brauchen eine leis-

tungsfähige und moderne Verkehrsinfrastruktur in den
neuen Ländern. Da sind wir uns einig. Wir brauchen ei-
ne zügige Realisierung dieser Projekte. Verkehrsinvesti-

Dirk Fischer (Hamburg)







(A)



(B)



(C)



(D)


tionen werden auch in der Zukunft Motor für wirtschaft-
liche Entwicklung und Angleichung der Lebensverhält-
nisse sein.

Lassen Sie mich zum Schluss sagen – ich glaube, das
ist außerordentlich wichtig –: Wir brauchen – das war
immer Ziel unserer Politik – ein wirksames Miteinander
von Straße, Schiene, Wasser und Luft in einer gesamt-
vernetzten Verkehrssystematik. Das geht ohne Inves-
titionen nicht. Dieses Ziel wird durch Ihre Investitions-
Kahlschlagpolitik zerstört,


(Angelika Mertens [SPD]: Quatsch!)

mit schweren Folgen für das deutsche und das europäi-
sche Verkehrssystem.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408405800
Herr Kollege!


Dirk Fischer (CDU):
Rede ID: ID1408405900
Der Ver-
kehrskollaps ist programmiert. Eine andere Politik muss
her, wie es in unserem Antrag steht: Zukunft sichern –
Verkehrsinfrastrukturinvestitionen steigern.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ideologische Zwangsvorstellungen!)


Stimmen Sie diesem vernünftigen und überzeugenden
Antrag zu!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf von der SPD: So eine Kirmesrede habe ich selten gehört!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408406000
Das Wort zu
einer Kurzintervention erhält der Kollege Schmidt.

Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Herr Kollege Fischer, Sie haben in Ihrer
Rede soeben behauptet, ich hätte während der Rede des
Ministers den Zwischenruf gemacht: Der Transrapid ist
mausetot!


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Ja! Haben wir alle gehört!)


Ich sitze hier vorne in der ersten Reihe. Jeder einzelne
Zwischenruf ist protokolliert worden. Ich stelle hier fest,
dass ich weder dem Sinne noch dem Worte nach einen
solchen Zwischenruf gemacht habe, weder heute noch
sonst irgendwann.


(Lachen bei der F.D.P.)

Diese Diktion habe ich nicht benutzt. Darauf lege ich
großen Wert.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Was haben Sie denn gesagt?)


Herr Kollege, ich sage Ihnen heute zum vierten
Mal – das können Sie schon in drei Bundestagsprotokol-
len nachlesen –: Es haben sich inzwischen zwei Unter-
nehmer deutlich erklärt. Der eine heißt Hartmut Meh-
dorn und ist Chef der Deutschen Bahn Aktiengesell-

schaft. Sie haben gestern Vormittag im Ausschuss selbst
hören können, dass er gesagt hat: Das Ding ist nicht
wirtschaftlich.

Es hat sich ein weiterer Unternehmer öffentlich er-
klärt, und zwar Rolf Rexrodt von Adtranz, einem der
Hersteller des Systems.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Eckrodt!)


– Eckrodt, habe ich doch gesagt.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Rexrodt hast du gesagt!)

– Herr Eckrodt hat es nicht verdient, dass ich ihn mit
Herrn Rexrodt verwechsle. So viel Unterschied muss
auch nach der Rechtschreibreform noch sein.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Der Letzte ist besser als der Erste!)


Auch Herr Eckrodt hat sich öffentlich erklärt. Beide
Unternehmer haben gesagt: Lasst uns das Abenteuer be-
enden, es ist unwirtschaftlich. – Ihnen scheint das nicht
zu gefallen. Sie wünschen sich anscheinend einen
Staatskommissar, der wie in alten Zeiten die Bahn an-
weist, ein unwirtschaftliches Projekt zu realisieren. Das
scheint Ihre Vorstellung von Marktwirtschaft zu sein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich kann Ihnen sagen: Nach der Bahnreform sind die-

se Zeiten Gott sei Dank vorbei. Wir werden eine rationa-
le Entscheidung nach dem abschließenden Treffen, bei
dem alle Projektbeteiligten an einem Tisch sitzen und in
abschließender Runde die Datenlage bewerten, fällen.
Ich sage Ihnen heute zum vierten Mal: Ich bin sehr zu-
versichtlich, dass die richtige Entscheidung getroffen
wird.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408406100
Zur Antwort
der Kollege Fischer.


Dirk Fischer (CDU):
Rede ID: ID1408406200
Frau Präsi-
dentin! Herr Kollege Schmidt, offenbar muss die Akus-
tik zwischen dort und hier schlecht sein.


(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Na, das weise ich zurück! – Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Aber ich denke, ich sollte mich darüber freuen, dass Sie
jetzt vor dem Deutschen Bundestag erklärt haben, dass
Sie den Transrapid nicht für mausetot halten und das,
was Sie in der Vergangenheit häufig dazu gesagt haben,
zurücknehmen. Wir als CDU/CSU-Fraktion stellen mit
Freude fest: Der Kollege Schmidt hält den Transrapid
für kerngesund und lebendig.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [F.D.P.] – Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich wieder nicht gesagt! Sie sollten Ihre Ohren spitzen!)


Dirk Fischer (Hamburg)







(A)



(B)



(C)



(D)


Dies ist eine gute Botschaft zum Tage.
Im Übrigen muss ich Ihnen eines sagen. Sie haben

Recht: Als erster hat der Bund unter Ihrer Regierung das
Eckpunktepapier verworfen, indem er sich verpflichtet
hat, den Fahrweg in eigener Verantwortung zu bauen,
und indem er völlig unrealistische Schätzpreise, die
durch Ihre Koalition zu Endpreisen erklärt wurden, an-
gesetzt hat.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das hat doch der Wissmann getan! Der Wissmann war Verkehrsminister! Das ist der Fluch der bösen Taten, der sich rächt!)


Auch bei der Neubaustrecke Köln–Rhein/Main wird
der Schätzpreis für diese Strecke der Rad-Schiene-
Technologie im Ergebnis dreimal höher abgerechnet
werden, wogegen Sie weder als Abgeordneter noch als
Aufsichtsratsmitglied der DB AG interveniert haben. Sie
zahlen vielmehr alles und Sie ignorieren die Aufforde-
rung, gleiches Recht für den Transrapid herzustellen,
konsequent. Das steht im Widerspruch zu Ihrem heuti-
gen, soeben nachgeschobenen klaren Bekenntnis zur
Anwendung des Transrapid auf der Strecke Hamburg-
Berlin.

Letztlich hat Herr Eckrodt in Wort und Schrift sein
klares Bekenntnis zu seinen Verpflichtungen aus dem
Konsortium bekundet.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir brauchen Wirtschaftlichkeitsberechnungen!)


Sie wissen genau, dass Herr Eckrodt weniger ein Prob-
lem mit dem Transrapid hat, sondern eher damit, dass er
mit seinem Unternehmen pro Jahr eine Dreiviertelmilli-
arde DM Verlust schreibt und der Daimler-Chrysler-
Konzern dieses Unternehmen deswegen lieber heute als
morgen verkaufen möchte.


(Beifall des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.])


Eckrodt hat also keine Puste, um ein solch vernünftiges
Konzept bis zum Jahr 2007 durchzustehen.

Sie sollten nicht die Probleme eines Unternehmens zu
Problemen eines hervorragenden und zukunftsweisen-
den technologischen Systems machen und beide in einen
Topf schmeißen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408406300
Jetzt fahren
wir in der Debatte fort. Die Kollegin Franziska Eich-
städt-Bohlig hat das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kollegen! Lieber Herr Kollege Fischer, ich habe nach
Ihrer Rede den Eindruck, dass Sie noch nicht einmal in
der seinerzeitigen Realität des Kollegen Wissmann an-
gekommen sind,


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Da ist kein Millimeter dazwischen!)


denn das Problem des Bundesverkehrswegeplans von
1992 war und ist bis heute, dass er auf so vielen Illusio-
nen aufgebaut hat und über so lange Zeit hinweg Gelder
und Straßenbauvorhaben bindet, dass schon Wissmann
nicht anders konnte, als hier und dort und da einen Spa-
tenstich zu machen, ohne zu wissen, wie die Projekte
überhaupt sinnvoll zu einem Ende kommen sollten.

Es ist doch gerade das Problem, dass die verkehrli-
chen Notwendigkeiten, die ökologische Verträglichkeit
und die finanzielle Machbarkeit in den vergangenen Jah-
ren einfach so oft missachtet worden sind, dass wir tat-
sächlich – da haben Sie mit Ihrer Äußerung Recht, nur
andersherum, als Sie es eigentlich gewollt und gemeint
haben – an diesem Erbe sehr lange tragen müssen und
jetzt sehr lange sehr sorgfältig in der Verkehrsplanung
eine Feinabstimmung vornehmen müssen, wo und wie
weitergebaut werden kann und weitergebaut werden
muss. Wir müssen diesen riesigen Berg abtragen und das
zu einem guten Ende bringen.

Von daher ist auch klar: Rot-Grün wird nicht einfach
einen Strich ziehen können.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Dazu braucht man ein Lineal!)


Deswegen muss ich auch von hier aus all die Bürgerini-
tiativen, die natürlich die Hoffnung hatten, wir könnten
einen schnellen Stopp von bestimmten Verkehrsprojek-
ten, die wir für ökologisch problematisch halten, ver-
anlassen, um Nachsicht bitten. So schnell kann man die-
sen schweren Tanker, den Sie uns hinterlassen, nicht
umsteuern.

Ein Teil der Hauptarbeit besteht auch darin, dass wir
Schritt für Schritt die Planungen, die Sie uns hinterlas-
sen haben, überhaupt auf ein vernünftiges Maß bringen.
Von daher ist das Investitionsprogramm 1999 bis 2002
in keiner Weise Rosstäuscherei, sondern das Programm
macht endlich das, was in den Jahren vorher bereits
dringend notwendig gewesen wäre: Es bringt Planungs-
klarheit und -sicherheit für den weiteren Fortgang. Dafür
war es allerhöchste Zeit, denn das haben Sie ja wirklich
versäumt. Auch die Überarbeitung, die 1997 fällig ge-
wesen wäre, haben Sie eben nicht gemacht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir bleiben dabei: Das Problem, dass der Bundesver-
kehrswegeplan mit 90 Milliarden DM überfinanziert
bzw. untergedeckt war, kann man jetzt nicht einfach mit
dem Satz aus der Welt schaffen, das sei eben der Bedarf.
Das ist doch nicht wahr. Wir alle wissen aus den Län-
dern, dass sie natürlich ihre Planungen und Projekte be-
gonnen und angemeldet haben und die Hoffnung haben,
dass nicht nur aus den Spatenstichen, sondern auch aus
den in der Schublade liegenden Projekten endlich etwas
wird.

Von daher geht es nicht darum, einfach zu sagen: Das
ist Bedarf; so haben wir das nicht gemeint. Vielmehr
wollen wir die Verantwortung jetzt wahrnehmen, Schritt

Dirk Fischer (Hamburg)







(A)



(B)



(C)



(D)


für Schritt daraus vernünftige Lösungen abzuleiten. Von
daher kann man nicht von Rosstäuscherei reden, sondern
von der verantwortlichen Fortführung dessen, was Sie
uns eingebrockt haben.

Wir haben folgende Aufgaben: Wir müssen erstens
den Bundesverkehrswegeplan nach Kriterien der Reali-
sierbarkeit, der Sinnhaftigkeit, aber auch der kostenmä-
ßigen Verantwortbarkeit und der Umweltverträglichkeit
überarbeiten. Wir haben auch die Aufgabe, Verkehrsträ-
gerkonkurrenzen, die Sie nicht sonderlich ernst nehmen
wollten, sehr genau zu bedenken und abzuwägen, was
an welcher Stelle miteinander verträglich ist.

Weiter haben wir beschlossen und realisieren es auch,
dass die Ausbauprojekte in Ostdeutschland, die Ver-
kehrsprojekte „Deutsche Einheit“ eine klare Priorität
haben, weil hier der Nachholbedarf noch immer sehr
groß ist. Von daher werden wir uns auch der Absicht
entgegenstellen, an diese Aufgabe mit willkürlichen
Kürzungen heranzugehen.

Wir haben aber als Zweites die Aufgabe – dazu ste-
hen wir, und das ist Ihnen gestern im Ausschuss sehr
deutlich von Herrn Mehdorn gesagt worden –, die In-
vestitionsschere zwischen Straße und Schiene zu
schließen. Das wird Jahr für Jahr von Rot-Grün schritt-
weise abgebaut werden, weil wir uns dafür einsetzen,
dass endlich die Chancengleichheit der Schiene gewähr-
leistet wird und die Schiene überhaupt ihren wirtschaft-
lichen Spielraum bekommt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Darüber sind wir uns einig; ich bin froh, dass Kollege
Oswald das gleich uns positiv gesehen hat.

Der dritte Punkt ist: Wir müssen auch noch den Berg
der privat vorfinanzierten Verkehrsinvestitionen mit ab-
tragen. Auch das ist ein Stück Erbe, mit dem wir nur
realitätsgerecht umgehen können, das man nicht einfach
durch Forderungen nach mehr Geld wegreden kann, wie
Sie das in Ihrem Antrag getan haben.

Mein Kollege Ali Schmidt hat auf den vierten Punkt
bereits hingewiesen. Wir müssen uns auch verstärkt –
mehr noch, als wir das zur Zeit finanziell selbst beim
besten Willen überhaupt tun können – dem Problem
stellen, dass wir einen riesigen Berg von Bestands-
erneuerungsaufgaben vor uns herschieben, der mehr
und mehr Leistungen von uns fordert. Von daher müs-
sen wir auch die Prioritäten zwischen Schienenneubau
und -netzerweiterung, Straßenneubau und -netzerweite-
rung schrittweise zugunsten der Bestandspflege und
der Erhaltungs- und Erneuerungsaufwendungen – sei
es gekoppelt mit Ausbau oder auch nicht – verschie-
ben. Das ist eine sehr große und schwierige Aufgabe.
Minister Klimmt hat erklärt, dass wir uns dieser Auf-
gabe stellen. Das hat auch schon Herr Müntefering sehr
deutlich erklärt. Mit dem „Netz 21“ hat die Bahn AG be-
reits den Schwerpunkt vom Neu- und Ausbau zum Un-
terhalt verlagert. Sie hat deutlich angekündigt: Neu- und
Ausbau werden nur dort vorgenommen, wo sich ein
Nutzen für das Gesamtnetz ergibt.

Dieser Aufgabe, denke ich, müssen wir uns auch
im Straßenbau vermehrt stellen. Es gibt über
11 000 Kilometer Autobahnen und über 40 000 Kilo-
meter Bundesstraßen. Es gibt einen wachsenden Bedarf
an Erhaltung und Erneuerung insbesondere von Brü-
cken- und Tunnelbauwerken. Auch Minister Klimmt hat
schon darauf hingewiesen: Allein 1990 wurde der jährli-
che Bedarf an Erneuerungen im Bereich von Tunnel-
und Brückenbauwerken – das gilt nur für die Straße –
mit 500 Millionen DM angesetzt. 1998 waren es schon
700 Millionen DM. In den nächsten Jahren wird allein
diese Position aufgrund des Bedarfs auf über
1 Milliarde DM ansteigen. Trotzdem wird immer weiter
gebaut. Insofern steigt der Bedarf sowohl aufgrund der
Alterung als auch aufgrund der Netzerweiterung.

Konkret kommt hinzu: Ingenieure sagen uns einen
schnell und umfangreich steigenden Bedarf an Stahlbe-
ton- und Spannbetonsanierungen im Straßenbereich vor-
aus. Im Schienenbereich gibt es die Notwendigkeit der
Grundsanierung vieler Eisenbauwerke aus der Grün-
derzeit, bei denen zunehmend das Material ermüdet.

Deshalb möchte ich dafür werben, dass wir nicht ein-
fach mehr Geld für Ausbau und Erweiterung fordern,
wie Sie es in Ihrem Antrag getan haben, sondern dass
sich alle Beteiligten gemeinsam – gerade auch die Op-
position – dem Thema Bestandserneuerung sehr ernst-
haft stellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408406400
Es spricht jetzt
die Frau Kollegin Blank.


Renate Blank (CSU):
Rede ID: ID1408406500
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Herr Minister Klimmt, ein Wort
zum Transrapid: Ich glaube nach der Debatte in der
vergangenen Woche und nach den gestrigen und heuti-
gen Äußerungen, dass Sie eigentlich nur noch einen
Grabredner suchen und die Frage beantwortet haben
wollen, wer die Verantwortung für dieses Trauerspiel
übernehmen soll.


(Zuruf von der SPD: Wissmann!)

Wir diskutieren heute nicht nur über die Verkehrsin-

vestitionen, sondern auch über den Straßenbaubericht.
Ich möchte einige Bemerkungen zum Straßenbaubericht
1998 machen, in dem die Verhältnisse von 1997 ge-
schildert werden. Damals waren 10,1 Milliarden DM
geplant. Verausgabt wurden fast 10,2 Milliarden DM,
rund 31 Millionen DM mehr als vorgesehen. Davon
wurden 4,8 Milliarden DM in die alten Bundesländer
und 3,6 Milliarden DM in die neuen Bundesländer in-
vestiert. Kollege Hiller, das ist eine Beseitigung der Er-
blast der SED und des alten DDR-Regimes, und das,
was wir Ihnen in der Verkehrspolitik hinterlassen haben,
ist keine Erblast.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Franziska Eichstädt-Bohlig






(A)



(B)



(C)



(D)


Zum Kollegen Schmidt: Er behauptet nach wie vor,
dass in den Haushalt 1997 nur 8,1 Milliarden DM für
Investitionen eingestellt worden seien. Das hat er vorher
leider wieder behauptet. Aber das stimmt nicht. Eigent-
lich müsste er das besser wissen. Tatsächlich wurden
genau 8,377 Milliarden DM ausgegeben. In der Antwort
auf eine Anfrage, die er gestellt hat, ist deutlich gewor-
den, dass auf der Ist-Seite mehr ausgegeben wurde. Das
habe ich gerade ausgeführt.

Der Straßenbaubericht macht klar, dass die Ver-
kehrsprojekte „Deutsche Einheit“ Vorrang haben; denn
sie dienen ja auch dem Zusammenwachsen Deutsch-
lands und vor allen Dingen der Verbesserung des Ost-
West-Verkehrs. Wirtschaftswachstum benötigt eine gut
ausgebaute Verkehrsinfrastruktur.

Kollegen von der SPD, ich erinnere mich, dass der
damalige Ministerpräsident des Landes Niedersachsen –
der heutige Bundeskanzler – den Wunsch geäußert hat,
dass „seine“ Autobahn zur EXPO in Hannover ausge-
baut wird, und zwar mit zusätzlichen Mitteln in Höhe
von 620 Millionen DM. Wir waren damals in der Lage,
ihm diesen Wunsch zu erfüllen – die anderen Bundes-
länder sind zurückgetreten –, und haben diese
620 Millionen DM lockergemacht. Man sollte vielleicht
ein kleines Dankeschön dafür sagen, dass der Verkehr
zur EXPO 2000 aufgrund entsprechender straßenbauli-
cher Maßnahmen gut funktionieren wird.


(Zuruf von der SPD: Sagen Sie doch einmal die Wahrheit! „Die anderen Länder sind zurückgetreten!“)


Zu unserem Antrag. Als exportorientierte Wirt-
schaftsnation brauchen wir natürlich eine leistungsfähi-
ge Verkehrsinfrastruktur. Das ist eine alte Binsen-
weisheit und hoffentlich auch allgemein bekannt; aber
manchmal frage ich mich, ob das auch für die derzeitige
Regierungskoalition gilt. Der Verkehrsbereich trägt nach
einer Untersuchung des Verkehrswissenschaftlichen In-
stituts der Universität Köln zu 27 Prozent zur inländi-
schen Wertschöpfung bei. Ohne Verkehrswachstum wä-
re die volkswirtschaftliche Bruttowertschöpfung in
Deutschland zum Beispiel 1990 um ein Viertel geringer
ausgefallen.

Unternehmen beurteilen im Zeitalter der Globalisie-
rung auch die Qualität der Verkehrsinfrastruktur, bevor
die Entscheidung für einen Standort getroffen wird. Bis-
her war die gute Verkehrsinfrastruktur in Deutschland
ein Standortvorteil. Wir sollten diesen Vorteil nicht
leichtsinnig verspielen. Dass Verkehrsinvestitionen Ar-
beit schaffen oder erhalten, ist mittlerweile jedem be-
kannt. Investitionen in Höhe von 1 Milliarde DM schaf-
fen bzw. erhalten circa 12 000 Arbeitsplätze.

Bisher hat die rot-grüne Verkehrspolitik allerdings
mehr verwaltet als gestaltet.


(Zuruf von der SPD: Ja, was denn nun?)

Die Verwaltung hatte mit einem politischen Unfall des
damaligen Ministers Müntefering angefangen; er wollte
nämlich den Senioren das Autofahren verbieten.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – HansChristian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?)


Eine solche Diskriminierung unserer Senioren war fatal.
Nach geharnischten Protesten ist der Vorschlag wieder
verschwunden. Heute wollen Sie ihn nicht mehr wahr-
haben; aber der Vorschlag war da. Allein der Gedanke,
dass ältere Menschen auf Mobilität verzichten müssen,
ist unfassbar. Er ist nahezu eine Frechheit. Vielleicht
liegt ihm die Unkenntnis über die tatsächlichen Unfall-
verursacher zugrunde.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wie wichtig Ihnen Verkehrssicherheit ist, sieht man
auch daran, dass Sie im Haushalt die Ausgaben für Ver-
kehrssicherheit gekürzt und nicht erhöht haben.

Herr Minister Klimmt, da Sie erst wenig über
100 Tage im Amt sind, sehe ich Ihnen nach, dass Sie
noch nicht so genau wissen, dass der Bundesver-
kehrswegeplan ein Bedarfsplan ist.


(Widerspruch bei der SPD)

Aber der SPD sehe ich das nicht mehr nach. Es ist die
Verbreitung einer Lüge. Der Bedarfsplan ist dazu da,
dass der Bedarf aus den einzelnen Ländern angemeldet
wird. Wenn das geschehen ist, dann werden die Kosten
und der Nutzen errechnet.

Liebe Kollegen von den Grünen, wenn Ihre Vertreter
nicht ständig gegen eine Verbindung von A nach B de-
monstrieren würden,


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Und auch nach C!)


dann würden die Baukosten für manche Projekte nicht
ins Unermessliche steigen; vielmehr könnte man die
Projekte wesentlich früher bauen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Nun möchte ich einige Worte zum Investitionspro-

gramm sagen. Das Programm 1999 – 2002 ist absolut
nicht zukunftsweisend, sondern ein groß angelegtes
Täuschungsmanöver. Das Programm sollte Klarheit und
Wahrheit bringen; aber allein die Sprache verrät so
manches. Während kurz nach der Regierungsübernahme
in Ihrem Programmentwurf noch von einer Aufnahme
des Verkehrs die Rede war, steht jetzt „zur Verkehrsab-
wicklung“ im Text. Diese negative Sprache kommt dann
auch bei Kürzungen bei Neubaumaßnahmen, aber auch
bei Erhaltungsinvestitionen voll zum Ausdruck.

Die Auswirkungen auf den staugeplagten Autofah-
rer, aber auch auf das Gewerbe sind verheerend. Es gibt
fast keine neuen Baubeginne, sondern nur den Weiter-
bau.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sollen wir nicht weiterbauen?)


Das zeigt dieses Investitionsprogramm ganz deutlich
auf. Die Wahrheit, die in diesem Programm enthalten ist

Renate Blank






(A)



(B)



(C)



(D)


– mein Kollege Fischer hat schon darauf hingewiesen –,
lässt zu wünschen übrig; denn es wird suggeriert, dass es
bis 2002 laufen soll. Aber es läuft natürlich wesentlich
länger.

Zur Erinnerung: Wir hatten in unserer mittelfristigen
Investitionsplanung bis zum Jahr 2002 den Betrag von
22,3 Milliarden DM vorgesehen. Jetzt sind es nur noch
17,4 Milliarden DM, also rund 5 Milliarden DM weni-
ger, die in den Straßenbau investiert werden. Ich verwei-
se auch auf die Aussage der Verkehrsministerkonferenz
der Länder vom 3./4. November. Ich zitiere:

Die Verkehrsministerkonferenz fordert den Bund
eindringlich auf, zur unverzüglichen Behebung der
kritischen Situation im Bundesfernstraßenbau und
Schienenwegeausbau entsprechende Vorschläge zu
unterbreiten und die Finanzierungsmittel dem tat-
sächlichen Bedarf anzupassen.

(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Einstimmig be schlossen!)

Nichts ist geschehen. Das Investitionsprogramm – so
geht es weiter im Text – stehe im krassen Widerspruch
zu den VMK-Beschlüssen, wonach ein jährlicher Zu-
satzbedarf von 4 Milliarden DM erforderlich sei, und –
jetzt hören auch Sie zu! – der Ausbau der Verkehrsinfra-
struktur außerhalb der Verkehrsprojekte „Deutsche Ein-
heit“ könne nicht mehr im notwendigen Umfang fortge-
führt werden. Nehmen Sie sich doch die Worte Ihrer
SPD-Länderverkehrsminister ein bisschen zu Herzen;
das wäre gut.


(Angelika Mertens [SPD]: Das machen wir immer!)


Die Worte der Länderverkehrsminister sprechen eine
deutliche Sprache. Ich zitiere ein Beispiel aus Bayern:
Bayern erhält bis 2003 für neue Projekte nur noch
29,4 Millionen DM. Damit kann man vielleicht 3 Kilo-
meter Straße bauen. Die für baureife Projekte erforderli-
chen Mittel betragen allein für Bayern rund 3 Milliarden
DM.

Meine Kolleginnen und Kollegen, Ortsumgehungen
sind natürlich nicht nur Umweltschutz, sondern auch
Menschenschutz.

Bei den Investitionen für die Schienenwege ist eben-
falls Stillstand eingetreten. Die angebliche Mobilisie-
rung zusätzlicher Mittel in Höhe von 5,4 Milliarden DM
ist eine reine Nebelkerzenaktion. Die erneute Niederlage
der Grünen, Kollege Schmidt, sollte damit verschleiert
werden; denn die Grünen hatten die Zustimmung zum
Investitionsprogramm von der Anhebung der Höhe der
Mittel für die Schiene abhängig gemacht.

Kollege Schmidt, Sie hören es nicht gern, aber ich
muss Ihnen sagen:

Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Ich höre Ihnen immer gern
zu!)

Es sind keine neuen Mittel für die Schiene bereitgestellt
worden, sondern es handelt sich um einen plumpen Ver-
such, Ihr Einknicken zu kaschieren. Bekannt ist, dass Sie

für das privat vorfinanzierte Verkehrsprojekt Nürnberg –
München, das Sie eigentlich immer abgelehnt haben,


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Kostet das nichts? Das kostet trotzdem was, auch wenn ich es abgelehnt habe!)


jetzt 3 Milliarden DM in das Investitionsprogramm ein-
stellen. Dem Investitionsprogramm haben Sie zuge-
stimmt.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Es wird doch schon gebaut, liebe Frau!)


Lassen Sie mich eine Bemerkung zu einer privaten
Vorfinanzierung machen: Sie übersehen immer den
volkswirtschaftlichen Nutzen und den Gewinn, der dann
über Steuereinnahmen wieder in den Haushalt zurück-
fließt.

Die Aussagen, die der neue Bahnchef Mehdorn ges-
tern im Ausschuss gemacht hat, was zum Beispiel das
Schienenprojekt Stuttgart–München oder auch das Pro-
jekt Nürnberg–Erfurt anbelangt, stimmen eigentlich sehr
hoffnungsvoll; denn er hat gesagt, es seien schnelle
Zugverbindungen von einem Verkehrsknoten zum ande-
ren erforderlich. Zum Beispiel sollte auf der Strecke
München–Berlin eine Fahrzeit von dreieinhalb Stunden
erreicht werden, damit mehr Verkehr auf die Schiene
verlagert wird.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Bis 2020, hat er gesagt!)


Meine Damen und Herren von der Koalition, da müs-
sen Sie aber noch ziemlich viel umdenken; denn das
Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“ Nürnberg–
Erfurt gehört nicht gerade zu Ihren Lieblingsprojekten.
Kollege Schmidt, die Grünen haben dieses Konzept ges-
tern – das waren ihre Aussagen im Ausschuss – eindeu-
tig gebilligt. Wir werden Sie beim Wort nehmen: Auch
Sie wollen in Zukunft dieses Verkehrsprojekt „Deutsche
Einheit“. Das freut uns ganz besonders.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir benötigen dringend mehr Geld für Verkehrsin-

vestitionen. Ein Weg wäre, Einnahmen aus der Öko-
steuer, die den Namen nicht verdient, zweckgebunden
für Investitionen in die Verkehrswege auszugeben.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Woher wollen Sie es denn nehmen?)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408406600
Frau Kollegin,
ich muss Sie darauf hinweisen, dass Sie zum Schluss
kommen müssen.


Renate Blank (CSU):
Rede ID: ID1408406700
Gut. – Ich verhehle
nicht, dass es uns als Verkehrspolitikern damals nicht
gelungen ist, eine Zweckbindung bei der LKW-Gebühr
herbeizuführen. Aber, meine Damen und Herren von der
Koalition, Sie wollten doch alles besser machen.

Renate Blank






(A)



(B)



(C)



(D)



(Zuruf von der SPD: Das machen wir auch!)

Jetzt können Sie den Beweis antreten, indem Sie eine
Zweckbindung forcieren. Ihre Verkehrspolitik ist nicht
zukunftsgerichtet, sondern ein Schritt in den Abgrund.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die letzte Bemerkung war stark untertrieben!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408406800
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Es spricht aus dem Abgrund die Abgeordnete Rehbock-Zureich!)



Karin Rehbock-Zureich (SPD):
Rede ID: ID1408406900
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen, Liebe Kollegen! Sehr verehrte Frau
Blank, in einen Abgrund werden wir uns ganz sicher-
lich nicht stürzen. Wir sind gerade noch einmal vor dem
Abgrund gestoppt, den Ihre Finanzpolitik uns beschert
hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Wir wollen Sie ja retten, Frau Kollegin!)


Sie bezeichnen in Ihrem Antrag Mobilität als den
Schlüsselfaktor unserer Entwicklung. Dem ist zuzu-
stimmen. Aber dennoch muss man hier einmal Klarheit
und Wahrheit auf die Tagesordnung bringen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Immer gut!)


– Ja, Herr Friedrich, das ist immer gut. Daher bezeichne
ich Ihren und den Antrag der CDU/CSU als Bankrott-
erklärung Ihrer Politik der letzten 16 Jahre.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


CDU, CSU und F.D.P. haben auf Kosten künftiger
Generationen Politik gemacht. Sie haben die Staatsver-
schuldung in die Höhe getrieben, sodass wir jährlich
80 Milliarden DM an Zinsen zu bezahlen haben. Wenn
wir doch nur ein Zehntel davon hätten, Herr Friedrich,
also 8 Milliarden DM, so wäre in Ihren damaligen
Haushalten vielleicht anderes möglich gewesen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Wie hätten Sie sonst die deutsche Einheit finanzieren wollen? Geben Sie doch einmal eine gute Antwort darauf!)


Es ist uns gelungen, diese Schuldenspirale zu durch-
brechen.

Trotz der notwendigen Sparmaßnahmen auch im
Haushalt des Ministers für Verkehr, Bauen und Wohnen
ist es aber gelungen – ich möchte hier jetzt wirklich dem
Märchen von der Absenkung der Investitionen begeg-

nen –, den Investitionsanteil gerade auch im Bereich des
Straßenverkehrs stabil zu halten.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Sie müssen doch die Gesamtperiode bis 2003 betrachten!)


Herr Waigel hatte für das Jahr 1997 8,1 Milliarden DM
und für 1998 8,4 Milliarden DM vorgesehen. Wir haben
für den Haushalt 1999 8,4 Milliarden DM, für 2000
8,3 Milliarden DM und für 2001 und 2002 jeweils
8,2 Milli-arden DM Investitionsanteil beim Straßenbau
eingeplant, den Sie hier immer so hervorheben. Von ei-
nem Kahlschlag kann überhaupt keine Rede sein.


(Beifall bei der SPD – Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Das ist aber nur die Prognose!)


Zwei Punkte Ihrer unverantwortlichen Verkehrspoli-
tik möchte ich jetzt herausgreifen, und zwar weil ich aus
Baden-Württemberg komme und wir darunter ganz be-
sonders leiden. Erstens: die unverantwortliche private
Vorfinanzierung. Dies war ein teurer Einkauf von Zeit.
Sie haben kommenden Generationen Gestaltungsspiel-
räume genommen. Weil dies auch immer im theore-
tischen Bereich bleibt, möchte ich jetzt auf die Zahlen,
die zum Beispiel der Engelbergtunnel gekostet hat, ein-
gehen.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Sie haben doch zugestimmt, Frau Kollegin!)


600 Millionen DM Baukosten waren angegeben. Er ist
etwas teurer geworden: 800 Millionen DM. Die Planun-
gen im Bundesverkehrswegeplan stimmen eben oft
nicht. Die Kosten werden sich unter dem Strich nach
Rückzahlung der Zinsen für die private Vorfinanzierung
auf 1,3 Milliarden DM belaufen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408407000
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fischer?


Karin Rehbock-Zureich (SPD):
Rede ID: ID1408407100
Aber bitte.

Dirk Fischer (CDU):
Rede ID: ID1408407200
Frau Kolle-

gin, wenn Sie die Konzessionsmodelle ansprechen und
sagen, das sei ein relativ teurer Einkauf von Zeit, dann
möchte ich gerne von Ihnen wissen, welchem Konzessi-
onsmodell die SPD-Bundestagsfraktion im Haus-
haltsausschuss, im Verkehrsausschuss oder im Plenum
widersprochen hat. Gibt es ein einziges Konzessionsmo-
dell, das ohne die Zustimmung der SPD beschlossen
worden wäre?


Karin Rehbock-Zureich (SPD):
Rede ID: ID1408407300
Der Engelbergtun-
nel ist ein rein privat vorfinanzierter Tunnel. Es wird in
der Zukunft keine Maut erhoben werden. Die Verkehrs-
politiker haben – das wissen Sie ganz genau – allen die-
sen Modellen im Bereich der privaten Vorfinanzierung
immer widersprochen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408407400
Gestatten Sie
auch noch eine Nachfrage des Kollegen Fischer?

Renate Blank






(A)



(B)



(C)



(D)



Karin Rehbock-Zureich (SPD):
Rede ID: ID1408407500
Nein.

(Lachen bei der CDU/CSU Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Weil Sie nichts wissen! Das war ein Riesengeeiere!)

– Das war kein Geeiere.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Frau Kollegin, mir geht es nur um ein Faktum!)


– Wenn Sie so großen Wert darauf legen. Herr
Fischer, bitte.


Dirk Fischer (CDU):
Rede ID: ID1408407600
Darf ich Sie
darauf hinweisen, dass Sie eben in Ihrer Formulierung
genau die Definition des Konzessionsmodells gewählt
haben? Ist Ihnen bekannt, dass alle Konzessionsmodelle
– es gibt keine Ausnahme – von der SPD-Bundes-
tagsfraktion im Haushaltsausschuss, in den Fachaus-
schüssen und im Plenum mitgetragen worden sind?
Deswegen ist eine Kritik an der Vorgängerregierung in
diesem Zusammenhang zumindest aus Ihrem Munde
unangemessen. Können Sie dem zustimmen?


Karin Rehbock-Zureich (SPD):
Rede ID: ID1408407700
Nein, dem kann ich
nicht zustimmen. Deswegen habe ich zuvor Wert darauf
gelegt, dass wir Verkehrspolitiker und -politikerinnen
der SPD dies immer abgelehnt haben.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)

– Selbstverständlich. – Das andere, was Sie im Haus-
haltsbereich dargestellt haben, ist richtig. Jetzt möchte
ich aber mit meinen Ausführungen fortfahren.

Auf Kosten der Substanz haben Sie auch in einem
zweiten Bereich gelebt. Die F.D.P. begründet den von
ihr gestellten Antrag mit einer verheerenden Zustands-
beschreibung unseres deutschen Straßennetzes. Hier ha-
ben Sie nun wirklich einen Offenbarungseid geleistet,
Herr Kollege Friedrich. Sie glauben doch nicht im Ernst,
dass der Zustand unseres Straßennetzes erst in den
letzten 15 Monaten so erschreckend geworden ist, wie
Sie ihn hier beschreiben. Richtig ist, dass Sie in den ver-
gangenen Jahren systematisch die Pflege vorhandener
Verkehrswege vernachlässigt haben und stattdessen Spa-
tenstiche an allen Ecken und Enden der Republik vorge-
nommen haben, ohne dass die Finanzierung der Bau-
maßnahmen langfristig abgesichert gewesen wäre.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Wir sind Verkehrspolitiker und keine Landschaftsgärtner!)


300 Millionen DM betrug die Differenz zwischen den
für die Erhaltung notwendigen Mitteln und den tatsäch-
lichen Ausgaben alleine für die Ingenieurbauwerke der
Bundesfernstraßen in den alten Bundesländern. Die Ver-
säumnisse der Vergangenheit bestehen darin, dass Sie
die steigende Beanspruchung der Straßen durch höhere
Achslasten und zunehmenden Verkehr missachtet ha-
ben. Die Erhaltungsmaßnahmen spielen dagegen in un-
serer Finanzplanung eine wichtige Rolle. Für Erhal-
tungsinvestitionen haben wir rund 3,5 Milliarden DM in
den Haushalt eingestellt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-
Fraktion, wenn Sie in Ihrem Antrag schreiben, „Maßstab
darf nicht der gegenwärtige Bedarf sein, sondern das zu
erwartende Verkehrsaufkommen“, so ist das ja richtig.
Aber der gegenwärtig gültige Bundesverkehrswegeplan
ist schon lange nicht mehr haltbar. Vorhin wurden schon
die für diesen Plan erforderlichen Finanzmittel genannt;
in diesem Zusammenhang wurde auch auf die Unterde-
ckung in Höhe von 90 bis 100 Milliarden DM hingewie-
sen.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das wird ja immer mehr! Bei Müntefering waren es 80 Milliarden DM! Jetzt sind es schon 100!)


Das ist übrigens nicht von der SPD ausgerechnet wor-
den, sondern von verschiedenen Verkehrsinstituten. Sie
müssten also Herrn Professor Aberle fragen, der diese
100 Milliarden DM genannt hat.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Sie jonglieren mit Zahlen, als wären Sie im Zirkus!)


– Nein, diese Zahlen müssen Sie einfach zur Kenntnis
nehmen.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das ist ja wie im Zirkus! Bei jedem Ministerwechsel wird es mehr!)


Deshalb ist ein neuer Bundesverkehrswegeplan drin-
gend notwendig. Grundlage hierfür wird ein Verkehrs-
bericht 2000 sein, der die aktuellen Verkehrsprognosen
aufnehmen wird. Auch sollen die Bewertungskriterien
überarbeitet und ergänzt werden. Umwelt, Raumord-
nung und Städtebau bekommen einen neuen Stellenwert.
Die Schnittstellen und Verknüpfungen der einzelnen
Verkehrsträger werden für die zukünftige Verkehrspla-
nung eine größere Rolle spielen müssen.

Damit vor dem In-Kraft-Treten des neuen Bundes-
verkehrswegeplans Sicherheit und Klarheit einkehren
können, haben wir das Investitionsprogramm aufge-
legt, das für die Zeit bis 2002 67 Milliarden DM um-
fasst. Dies schafft Planungssicherheit für Länder, Städte
und Gemeinden.

Ferner wird es darum gehen, die Investitionen für die
Bahn zu verstärken. Im Investitionsprogramm 1999 bis
2002 ist es uns schon gelungen, 55 Prozent der Mittel in
den westlichen Bundesländern auf die Schienenwege zu
lenken. In einem Gespräch mit Herrn Mehdorn haben
wir auch erfahren – dies ist uns schon seit langem klar –,
dass es zuallererst darum geht, Chancengleichheit für
die Bahn herzustellen, was im Hinblick auf den europäi-
schen Rahmen umso notwendiger, aber auch umso
schwieriger sein wird.

Innerhalb der Europäischen Union ist es jetzt schon
gelungen, zu verabreden, dass im Bereich der transeuro-
päischen Netze der Zugang für Verkehrsunternehmen,
die die Sicherheitsvorschriften erfüllen, gewährleistet
sein wird, ohne dass nationale Regierungen Einspruch
erheben können. Das heißt, wir haben den ersten Schritt
in Richtung einer besseren Politik getan, um mehr
Chancengleichheit für die Bundesbahn zu erreichen.






(A)



(B)



(C)



(D)



(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der zweite Ansatz, den wir einführen werden – Ver-
kehrsminister Klimmt hat schon darauf hingewiesen –,
ist die kilometerabhängige Autobahngebühr für
LKWs. Diese entfernungsabhängige Gebühr ist für
Deutschland als Transitland ein wichtiges Instrument,
um ein Zeichen zu setzen, dass Güter von der Straße auf
die Schiene gehören und dass in dem Wettbewerb der
Verkehrsträger auch die Straße die Kosten, die durch ih-
re Benutzung entstehen, zum Teil selbst zu tragen hat.
Das bisherige System, das Wenigfahrer benachteiligt
und Vielfahrer bevorzugt, wird abgeschafft werden.

Ein positiver Ausblick: Es wird in Zukunft darum ge-
hen, die Verkehrsinfrastruktur in allen Bereichen für alle
Verkehrsträger leistungsfähig zu machen. Es geht um
den Ausbau und um den Erhalt der europäischen Ver-
kehrswege sowie um klare Prioritäten und um eine rea-
listische Investitionspolitik. Es geht auch darum, dass
das Investitionsprogramm als Brücke zu einem neuen
Bundesverkehrswegeplan in diesen Zeiträumen realisiert
wird, dass ein verlässliches Planungsinstrument entsteht
und dass wir einen Bundesverkehrswegeplan aufstellen
werden, der kein unterfinanzierter Wunschzettel ist, so
wie dies in der Vergangenheit bei Ihnen der Fall war.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Auch bei Ihnen wird es so sein!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408407800
Frau Kollegin,
ich denke, dies wäre ein schöner Schluss. Ihre Redezeit
ist nämlich abgelaufen.


Karin Rehbock-Zureich (SPD):
Rede ID: ID1408407900
Ein letzter Satz. Es
wird darum gehen, die Chancengleichheit der Verkehrs-
träger in den Mittelpunkt zukünftiger Verkehrspolitik zu
stellen, die – im Gegensatz zu Ihnen – Wahrheit und
Klarheit in ihren Haushalts- und Investitionsplänen auf-
weist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408408000
Jetzt hat der
Herr Kollege Börnsen das Wort.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Erklären Sie bitte mal, wie das mit dem Abgrund gemeint war!)



Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1408408100
Frau
Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wa-
rum ist eine verantwortungsbewusste Verkehrspolitik
gerade in Deutschland so wichtig? Wir sind auf unserem
Kontinent Transitland Nummer eins. Bedingt durch un-
sere geographische Lage ist die Bundesrepublik Ver-
kehrsdrehscheibe in Europa. Die wirtschaftliche Ent-
wicklung unserer Nachbarn in Ost und West, in Nord
und Süd ist ganz entscheidend von einer klugen und zu-

kunftsorientierten Verkehrspolitik bei uns abhängig. Als
größte Exportnation auf diesem Kontinent müssen wir
ein elementares, ja vitales Interesse an dynamischen
Märkten in Deutschland und in unserem Umfeld haben,
die Arbeit und Nachfrage sichern.

Ein solches Verständnis einer global ausgerichteten
Verkehrspolitik sehe ich derzeit bei der rot-grünen Bun-
desregierung nicht. Gegenüber dem Verkehrsetat des
Jahres 1998 hat sie in ihrem ersten Regierungsjahr den
Etat um 6,5 Milliarden DM gekürzt und im zweiten Jahr
im Vergleich zu 1998 um 5,3 Milliarden DM. Das be-
deutet eine Kürzung von 11,8 Milliarden DM in nur
zwei Jahren und damit weniger Ausbau von Schiene,
Straße, Wasserstraße und Luftverkehr. Mit diesen drasti-
schen Streichungen schadet man unserem und dem eu-
ropäischen Arbeitsmarkt. Vergessen wir nicht: Über
4 Millionen Arbeitlose allein bei uns erwarten, dass für
die Schaffung von Arbeitsplätzen gehandelt und nicht
gekürzt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Politik dieser Regierung ist aktuell unverantwort-

lich und mittelfristig von verheerender Auswirkung.
Allein in den nächsten zehn Jahren werden die Ver-

kehrsleistungen bei uns drastisch steigen, beim Indivi-
dualverkehr um 30, bei der Bahn um 41 und im Luftver-
kehr um 150 Prozent. Für den Gütertransport lautet die
Prognose: 95 Prozent Zunahme für die Straße, 55 Pro-
zent Zuwachs für die Bahn und 84 Prozent Zuwachs für
die Wasserwege. Der europäische Ost-West- und West-
Ost-Verkehr wird sich in den kommenden zehn Jahren
verdreißigfachen.

Die Frage ist nicht, ob wir die Voraussetzungen für
zügigen Verkehr schaffen, sondern die Frage ist allein,
wie wir diese Zukunftsherausforderungen meistern.
Schon jetzt sind große Teile unseres Bundesfernstraßen-
netzes überlastet, stressige Staus gehören zum Alltag.
Die volkswirtschaftlichen Schäden belaufen sich auf
über 200 Milliarden DM pro Jahr. Aber statt Abhilfe
und Vorsorge zu betreiben, ist fast Stillstand eingetreten.
Ich rufe in Erinnerung: Über 11 Milliarden DM hat die
Bundesregierung gegenüber 1998 im Verkehrsbereich
gekürzt, nicht zuletzt auf Druck der Bündnisgrünen. Sie
wollten die Verkehrswende und schaffen, überspitzt ge-
sagt, das Verkehrsende.

Das Magdeburger Wahlprogramm der Grünen vom
März 1998 gibt für diese Feststellung reichlich Nahrung.
Während dieses Papier auf Konfrontation mit dem bis-
herigen Verkehrskurs ausgerichtet ist, bemüht die SPD
in ihrem Leipziger Beschluss vom April 1998 mehr die
Kontinuität. In der Koalitionsvereinbarung vom Oktober
1998 kommen die teilweise gegensätzlichen Stand-
punkte zu einem künstlichen Kompromiss. Dieses Di-
lemma begleitet seitdem deutsche Verkehrspolitik: Han-
deln mit angezogener Handbremse!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Beispiel eins: das Auto. „Wir wollen ein Verkehrs-
system, das die Mobilität aller Menschen flächende-
ckend ... gewährleistet. ... Die besonderen Anforderun-

Karin Rehbock-Zureich






(A)



(B)



(C)



(D)


gen an Mobilität gerade im ländlichen Raum werden be-
rücksichtigt.“ So der rot-grüne Koalitionsvertrag. Tatsa-
che ist: Die Ökosteuer ist eine Strafsteuer für Menschen
im ländlichen Raum geworden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Am 1. April 1999 wurden die ersten sieben Pfennig kas-
siert, bis zum Jahre 2003 werden es 35 Pfennig sein. Der
ADAC spricht von einer Zusatzbelastung für den Auto-
fahrer bei 15 000 Jahreskilometern von 1400 DM. Der
Bund der Steuerzahler, der die Kfz-Steuer mit einrech-
net, geht bei einem Pendler mit 27 500 Jahreskilometern
und einem Hubraum von 1,8 Litern von einer Zusatz-
belastung von jährlich 603,36 DM durchschnittlich aus.
Das heißt, fünf Jahre Ökosteuer bedeuten für eine Land-
familie 3016,80 DM Mehrausgaben – eine einseitige
Mehrbelastung für den, der nicht umsteigen kann. Das
ist unfair, das ist ungerecht. Es trifft die Schwächeren in
unserer Gesellschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Im März 1998 haben die Bündnisgrünen in ihr Wahl-

programm für die Bürger der Bundesrepublik geschrie-
ben: „Kommt die Ökosteuer, wird die Kfz-Steuer gestri-
chen und ... es kommt zu einem sozialen Ausgleich für
die Pendler.“ Fehlanzeige für beide Zusagen. In Magde-
burg versprochen, in Berlin gebrochen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Beispiel zwei: die Bahn. „Die Bahn muss beim Gü-

ter- und Personenverkehr Vorrang erhalten. Die Wett-
bewerbsbedingungen müssen zugunsten der Bahn ver-
ändert werden.“ So das SPD-Grundsatzpapier vom April
1998 in Leipzig.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Tatsache ist: Der Bahnstrom steigt nach Aussage des
neuen Bahnchefs Hartmut Mehdorn um 100 Prozent in
den nächsten drei Jahren.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: So ein Schmarren! Hat er nicht gesagt!)


Eine steuerliche Belohnung für umweltgerechtes Han-
deln gibt es nicht. Die Bahn wird teurer.

Um die Bahn auch beim Gütertransport wettbewerbs-
fähig zu machen, wären dreimal so viel Investitionen in
das Schienennetz notwendig – so der Bahnchef. Die
Verlagerung von Gütern von der Bahn auf die Straße
wird also weitergehen. Die zugesagten Wettbewerbsvor-
teile für die umweltfreundliche Schiene fallen aus. Das
Bahn-Fazit: In Leipzig versprochen, in Berlin nicht ein-
gehalten!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.– Monika Ganseforth [SPD]: Das wird durch Wiederholung nicht richtiger!)


Beispiel drei: der Transrapid, über den schon ge-
sprochen worden ist. „Die Magnet-Schwebebahn ist eine
hoch entwickelte Technologie. Grundlage für die Reali-
sierung ... sind die Vereinbarungen im Eckpunktepa-

pier ... vom April 1997.“ So der Koalitionsvertrag. Die
Grundlage hat sich bis heute nicht verändert. Erst kürz-
lich hat sich Bundeskanzler Schröder wieder eindeutig
für den Transrapid ausgesprochen. Der Verkehrsminister
Klimmt, die Minister Eichel und Müller, Herr Müntefe-
ring, die Ministerpräsidenten Clement, Runde und Stol-
pe, sie alle sind für den Transrapid. Leider sind viele
Bündnisgrüne und Frau Simonis in Kiel dagegen. Sie betreiben eine Dauerblockade gegen ein Zukunftspro-
jekt, das auf der Welt einmalig ist. Fünfmal ist die Ent-
scheidung verschoben worden. Aber über 1 Milliarde
DM stehen im Bundesverkehrswegeplan bereit.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das haben Sie letztes Mal schon gesagt! Sie wiederholen sich!)


Die Strecke Hamburg–Berlin ist fix und fertig ausge-
plant. Im Herbst könnte der Bau beginnen, wenn die
Bundesregierung zügig zu Potte käme. 17 Monate ist sie
bereits im Amt; doch die Bündnisgrünen sperren sich
immer noch gegen dieses bedeutendste Verkehrsprojekt
Europas und der Welt.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: O Gott!)


Das Transrapid-Fazit: In Bonn noch gewollt, in Berlin
den Bündnisgrünen Tribut gezollt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Schöne Büttenrede!)


Beispiel vier: der ÖPNV. „Wir wollen den ÖPNV
durch ... Modernisierung zu einer Alternative für den In-
dividualverkehr ausbauen." – So das grüne Grundsatz-
programm. Tatsache ist: Die Ökosteuer bewirkt das Ge-
genteil. Sie ist eine Mogelpackung. Bei den Verkehrsbe-
trieben in meinem Wahlkreis Schleswig-Flensburg sind
bei 185 Bussen Energiemehrkosten von 130 000 DM
jährlich entstanden.


(Monika Ganseforth [SPD]: Und die Lohnnebenkosten sind gesunken!)


Eine Preiserhöhung steht an, die besonders Schüler und
Rentner trifft. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund
rechnet mit 500 Millionen DM an ÖPNV-Zusatzkosten
für die betroffenen Gemeinden. Mindestens 5 Prozent
Fahrpreissteigerung durch die Ökosteuer sind seine
Prognose.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Quatsch!)


Höhere Preise senken die Attraktivität des ÖPNV. Das
Fazit: Von Grün den Bürgern versprochen, von Grün
gebrochen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Beispiel fünf: „Verkehrsinvestitionen sind für nach-

haltiges Wachstum unverzichtbar.“ So der Koalitions-
vertrag. Richtig. Tatsache ist: 11,8 Milliarden DM hat
man bereits gekürzt. In den kommenden vier Jahren – so
die Hiobsbotschaften aus den Haushaltsunterlagen –
werden bei der Straße 1,4 Milliarden DM, bei der Schie-

Wolfgang Börnsen (Bönstrup)







(A)



(B)



(C)



(D)


ne 750 Millionen DM und bei den Wasserstraßen 460
Millionen DM gestrichen. Dazu kommen noch jährliche
Regelkürzungen von 900 Millionen DM. Das bedeutet
3,5 Milliarden DM weniger für den Ausbau von Ver-
kehrswegen.

Tatsache ist, dass es auch im Investitionsprogramm
zu einer Verlagerung kommt, weil erst im Jahre 2003
der Bundesverkehrswegeplan greift. Das bedeutet eine
Verlagerung von Investitionen von insgesamt 5 Milliar-
den DM. Wer diese Resultate mit Ankündigungen im
Koalitionsvertrag vergleicht, der muss feststellen: In
Bonn formuliert, in Berlin degradiert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Letztes Beispiel: Schleswig-Holstein.

(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: In Bonn gesichtet, in Berlin gedichtet!)


Alle wichtigen Verkehrsprojekte für das Land zwischen
den Meeren seien in trockenen Tüchern, so der damalige
Bundesverkehrsminister Franz Müntefering in Kiel.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie sind ja ein Dichter!)


Tatsache ist: Auch in meinem Heimatland sind diese
drastischen Mittelkürzungen und Planverschiebungen
spürbar. Der Ausbau der A 7 ist plakativ angekündigt,
aber weder gesetzlich noch finanziell gesichert.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wie bei Wissmann!)


Die westliche Elbquerung ist angekündigt, aber weder
gesetzlich noch finanziell gesichert.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wie bei Wissmann!)


Die Fehmarnbeltquerung ist angekündigt, aber weder
gesetzlich noch finanziell gesichert.

Erst im Jahre 2003 soll nach dem Willen der Bundes-
regierung ein neuer Verkehrswegeplan greifen. Das be-
deutet für Schleswig-Holstein konkret: Wir diskutieren
derzeit Phantomprojekte – nach dem Motto: In Kiel prä-
sentiert, in Berlin demontiert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wenn Se woll’n, dann hör’n Se, es spricht Kollege Börnse’!)


Diese wenigen Beispiele beweisen: Eine gestaltende
Verkehrspolitik mit europäischer Verantwortung findet
derzeit in Deutschland nicht statt. Verkehrswege und
Verkehrsträger werden nicht optimiert, sondern redu-
ziert.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Degradiert und demobilisiert!)


Der Autofahrer zahlt durch jährliche Steuererhöhungen
die Zeche.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408408200
Herr Kollege
Börnsen, leider ist auch bei Ihnen die Redezeit abgelau-
fen.


Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1408408300
Ich
komme zum Schluss. Würde man nur 10 Pfennige von
der Ökosteuer für den Ausbau von Verkehrsprojekten
nutzen,


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: So viel haben wir ja noch gar nicht eingeführt!)


hätte der Verkehrsminister 7 Milliarden DM jährlich in
der Kasse.


(Ilse Janz [SPD]: Wir mussten die Lohnnebenkosten senken! Das ist das Problem! Das haben Sie nie geschafft!)


Das hieße vernünftige Verkehrspolitik.
Auf jeden Fall gilt: Die drastische Rücknahme von

Infrastrukturinvestitionen schadet dem Verkehrsstand-
ort Deutschland, schadet dem Wirtschaftsstandort
Deutschland und letzten Endes auch dem Lebensstand-
ort Deutschland.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408408400
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Reinhard Weis.


Reinhard Weis (SPD):
Rede ID: ID1408408500
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Verkehrsinfrastrukturinvestitionen sind Schlüsselinves-
titionen für die Verbesserung von Standortbedingungen;
da sind wir uns hier im Haus einig. Für die ostdeutschen
Länder gilt das wegen des noch immer vorhandenen In-
frastrukturdefizites in ganz besonderer Weise. Auch
darüber, so denke ich, sind wir uns in diesem Hause ei-
nig. Es gibt Wirtschaftsforschungsinstitute, die sagen,
dass man deshalb alle besonderen Förderinstrumente für
die Entwicklung der ostdeutschen Bundesländer infrage
stellen könnte, die Verkehrsinfrastrukturförderung aber
noch mindestens für 10 Jahre bevorzugt aufrechterhalten
muss.

Seit dem Ende der Ost-West-Konfrontation und der
Wiedervereinigung ist die Bedeutung der Bundesrepu-
blik Deutschland und damit der ostdeutschen Länder als
Haupttransitregion in Europa ganz immens gestiegen.
Das ist für uns eine positive Entwicklung. Sie stellt aber
an die Verkehrspolitik Anforderungen ganz besonderer
Art. In den neuen Bundesländern kommt eine wichtige
Erblast aus der DDR-Zeit, die die Menschen und ihre
Lebensqualität besonders unmittelbar berührt, hinzu.
Trotz enormer Anstrengungen fehlt noch immer eine
Vielzahl von Ortsumgehungen.

Wolfgang Börnsen (Bönstrup)







(A)



(B)



(C)



(D)


Wenn ich von den bereits erbrachten Anstrengungen
spreche, dann möchte ich die in den vergangenen Jahren
geleistete Arbeit ausdrücklich würdigen, nicht nur auf
der Basis des Straßenbauberichtes 1998, den wir heute
mit behandeln, sondern vor allem aus der ganz persönli-
chen Erkenntnis der in der Tat verbesserten Verhältnis-
se.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Viele Ortsumgehungen sind gebaut, große Verkehrs-

belastungen konnten aus den Innenstädten herausgeführt
werden. Das Gleiche gilt für den Bau von Fernstraßen
und Bundesautobahnen, auch für die Straßen, die in Ver-
anwortung der Länder und Landkreise gebaut bzw. in-
stand gesetzt wurden. Daran gibt es nichts auszusetzen.

Es gibt aber sehr wohl etwas auszusetzen, wenn aus
dieser Sachlage falsche Schlüsse gezogen werden. Das
Gleiche gilt für den Bau von Fernstraßen und Bundesau-
tobahnen, auch für die Straßen, die in Verantwortung
der Länder und Landkreise gebaut bzw. instand gesetzt
wurden. Daran gibt es nichts auszusetzen.

Es gibt aber sehr wohl etwas auszusetzen, wenn aus
dieser Sachlage falsche Schlüsse gezogen werden. Die
Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, die uns heute
einen Antrag vorgelegt haben, den wir mit beraten, tun
dies aber. Dieser Antrag beruht auf falschen Schlüssen
und Aussagen.

Ich will zwei Punkte, die für uns Ostdeutsche sehr
wichtig sind, besonders hervorheben: Sie fordern die
Bundesregierung auf, die Investitionsquote für den
Bundesfernstraßenbau entsprechend der bisherigen
und der zu erwartenden Verkehrsleistung des Straßengü-
ter- und Straßenpersonenverkehrs zu erhöhen. Sie for-
dern auch, die investiven Voraussetzungen für eine
weitgehend staufreie Verkehrsabwicklung zu schaffen,
wobei der Entlastung von Städten und Gemeinden durch
den Bau von Umgehungsstraßen besondere Bedeutung
zukommt.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Und was ist daran falsch?)


– Das ist an und für sich nicht verkehrt. Wie aber schon
in der Ausschussberatung behandelt, suggerieren Sie mit
diesem Antrag und den darin enthaltenden Forderungen,
Sie hätten alles getan und die Bundesregierung tue dies
nicht. Das kann ich so nicht stehen lassen. Sie ignorieren
wider besseres Wissen die Haushaltszahlen sowohl die-
ses Jahres als auch des vergangenen Jahres in Bezug auf
die Mittel, die für die neuen Bundesländer bereitgestellt
wurden bzw. werden. Auch dies haben wir im Verkehrs-
ausschuss besprochen und richtig gestellt. Ich möchte
das in der Öffentlichkeit wiederholen. Der Ansatz von
8,2 Milliarden DM für die Sicherung der Straßenver-
kehrsinvestitionen – das wurde heute schon angespro-
chen –, der exakt in der Größenordnung vergangener
Ansätze liegt, zeigt, dass es keine Kürzungen gibt.

1999 wurden allein 18 Prozent der Verkehrsinvestiti-
onen für die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ auf-
gewendet. Bis 2002 wird sich dieser Anteil auf rund
20 Prozent erhöhen – wohlgemerkt nur für die VDE.
Von den Straßenbauprojekten des vordringlichen Bedar-

fes werden rund 60 Prozent der Investitionen auf die
neuen Bundesländer konzentriert. Bei den Schienenin-
vestitionen entfallen bis 2002 45 Prozent der Mittel auf
die neuen Bundesländer. Allein diese Zahlen belegen
meinen eingangs erwähnten Schwerpunkt unserer Ver-
kehrspolitik für die ostdeutschen Länder.

Wie ich schon sagte, beschäftigt uns Politiker aus den
ostdeutschen Ländern insbesondere das Thema der
Ortsumgehungsstraßen. Es beschäftigt uns allerdings
wegen eines besonders ärgerlichen Erbes, das wir jetzt
zu bewältigen haben, auf ganz besondere Weise. Die
SPD hat lange vor Übernahme der Regierungsverant-
wortung, nachweislich seit der Diskussion um den Bun-
desverkehrswegeplan 1992, immer wieder darauf hin-
gewiesen, dass für die Realisierung dieses Bedarfsplanes
keine finanzielle Absicherung gegeben ist.
Das Wort von der Unterfinanzierung hören Sie nicht
gern. Wir haben das heute mehrfach erfahren. Heute ha-
ben wir Ihre Suppe auszulöffeln. Ich kann mir vor-
stellen, dass es großen Spaß gemacht hat, von Dorf zu
Dorf und von Stadt zu Stadt zu ziehen, um als willkom-
mener Gast dringend gebrauchte Ortsumgehungen an-
zukündigen. Wir können uns das umso besser vorstellen,
als wir diejenigen sind, die nun die bitteren Wahrheiten
auf den Tisch legen müssen. Wir müssen bei uns zu
Hause erklären, dass das erforderliche Geld für die von
Ihnen versprochenen Ortsumgehungen von Ihnen nicht
in erforderlichem Maße eingestellt war.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DEN GRÜNEN)


Herr Staatssekretär Ibrügger hat kürzlich Ihre unsoli-
de Finanzierungspraxis dokumentiert. Abgesehen von
den VDE waren nach der mittelfristigen Finanzplanung
Ihres Finanzministers Waigel 1998 insgesamt 15 Pro-
zent der Hauptbautitel nicht gedeckt. Im Jahre 2002 wä-
ren es nach Ihrer Finanzplanung bereits 30 Prozent ge-
wesen. Was hätten Sie bloß der Bevölkerung gesagt
bzw. heute getan, wenn Sie in der Regierungsverantwor-
tung geblieben wären?


(Zuruf des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.])


Damit haben Sie wohl aber wirklich nicht mehr gerech-
net, denn Ihre Finanzplanung für die Zeit nach dem Jah-
re 1998 folgte offenbar dem Motto: Nach mir die Sint-
flut.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Nun komme ich zu den alternativen Finanzie-
rungsmöglichkeiten für den Straßenbau, die Sie in Ih-
ren Anträgen erwähnt haben. Natürlich möchten auch
wir mehr Geld in den Verkehrshaushalt einstellen. Des-
halb ist von Bundesminister Klimmt die Kommission ins
Leben gerufen worden, die die Möglichkeiten zusätzli-
cher privater Finanzierung von Bundesstraßen durch-
leuchtet. Insofern laufen die Forderungen des F.D.P.-
Antrages ins Leere. Wir brauchen heute keinen Be-
schluss aus dem hohlen Bauch. Lassen Sie uns die Er-
gebnisse der Kommissionsarbeit abwarten und dann ent-
scheiden!

Reinhard Weis (Stendal)







(A)



(B)



(C)



(D)


Ansonsten möchten die alten Koalitionspartner gern
die Ökosteuer zur Finanzierung von Verkehrsprojekten
heranziehen. Sie alle wissen, dass die Ökosteuer zur Ab-
senkung der Lohnnebenkosten verwendet wird. Der Fak-
tor Arbeit muss billiger werden, wenn wir die Voraus-
setzungen für zusätzliche Arbeitsplätze schaffen wollen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Das klappt aber leider nicht!)


Ich finde es bedauerlich, dass Sie mit der Diffamie-
rung unserer Politik hinter Ihren eigenen Erkenntnis-
stand von 1997 zurückfallen. Bereits 1997 hat zum Bei-
spiel Ihr Parteivorsitzender Wolfgang Schäuble vor dem
Umweltarbeitskreis der CDU festgestellt – ich zitiere
das aus der „Frankfurter Rundschau“ –:

Es führt kein Weg daran vorbei: Der Straßenver-
kehr, und zwar der Güterverkehr ebenso wie der
Personenverkehr, ist zu billig zu haben. Die Preise
spiegeln die wahren Kosten nicht wider.

(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: So ist das!)

Wir werden den Straßenverkehr teurer machen
müssen,

– so Wolfgang Schäuble! –
gerade in Deutschland. In den meisten anderen eu-
ropäischen Ländern liegt der Benzinpreis höher als
bei uns.

(Beifall des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Zuruf von der SPD: Da hat er Recht!)


– Ja, wo er Recht hat, hat er Recht.
Zählt die CDU/CSU das Thema Umweltschutz im-

merhin noch zu den Kriterien, die bei der Verkehrspoli-
tik zu berücksichtigen sind, zeigt der F.D.P.-Antrag hier
gar kein Verantwortungsbewusstsein. Der Titel des An-
trages „Straßenbau statt Autostau“ erinnert in seiner Ein-
falt fatal an den Slogan von gestern „Freie Fahrt für freie
Bürger“ und an alle in diesem Zusammenhang stehen-
den Fehlentwicklungen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Fazit ist also: Der Bundesverkehrswegeplan von 1992
war und ist zweifellos unterfinanziert.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Sie haben ihn offensichtlich nicht gelesen!)


Viele der vollmundig angekündigten Verkehrsprojekte
waren von Waigel und Wissmann nicht im Haushalt ab-
gesichert.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Einer der besten Anträge in diesem Hause!)


Der alte Bundesverkehrswegeplan wird deshalb überar-
beitet. Für die Übergangszeit hat die Bundesregierung

mit ihrem Investitionsprogramm bis 2002 verlässliche
Planungssicherheit geschaffen.

Die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ sind zu ih-
rer zügigen Fertigstellung finanziell abgesichert.

Die Bundesregierung setzt den Aufbau Ost auch bei
der Infrastrukturentwicklung mit einem
überproportionalen Anteil an den Investitionsmitteln auf
unvermindert hohem Niveau fort.

Zum Schluss möchte ich mich an Sie, liebe Kollegin-
nen und Kollegen von der Opposition, wenden: Herr Fi-
scher hat uns völlig überflüssigerweise empfohlen, wir
sollten unsere ideologische Betrachtungsweise ablegen.
Ich denke, unsere praktische Politik zeigt, dass wir Ver-
kehrspolitik nicht nach ideologischen Grundsätzen ma-
chen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Überhaupt nicht!)


Ich sage Ihnen: Wischen Sie sich den Sand, den Minister
Wissmann und Minister Waigel in Ihre Augen gestreut
haben, heraus und akzeptieren Sie die verkehrs- und fi-
nanzpolitischen Wahrheiten, denen wir uns stellen müs-
sen.

Danke.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408408600
Ich schließe
damit die Aussprache zu diesem Punkt.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/2360, 14/245, 14/1082 und 14/2262
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen, wobei die Vorlage auf Drucksache
14/2262 nicht an den Finanzausschuss überwiesen wer-
den soll. Der Entschließungsantrag der Fraktionen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
14/2576 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen wer-
den wie der Straßenbaubericht auf Drucksache 14/245.
Sind Sie einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.

Interfraktionell wird ferner vorgeschlagen, den An-
trag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/2582 an
folgende Ausschüsse zu überweisen: zur federführenden
Beratung an den Ausschuss für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen und zur Mitberatung an den Finanz-
ausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technolo-
gie, den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reak-
torsicherheit, den Ausschuss für Angelegenheiten der
neuen Länder, den Ausschuss für die Angelegenheiten
der Europäischen Union und den Haushaltsausschuss.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 und 15 a bis 15 f
sowie die Zusatzpunkte 6 a und 6 b auf:
6. Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-

gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu-

Reinhard Weis (Stendal)







(A)



(B)



(C)



(D)


ordnung seuchenrechtlicher Vorschriften

(Seuchenrechtsneuordnungsgesetz SeuchRNeuG)


– Drucksache 14/2530 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
15. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung

eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Übereinkommen vom 4. August 1995
zur Durchführung der Bestimmungen des
Seerechtsübereinkommens der Vereinten
Nationen vom 10. Dezember 1982 über die
Erhaltung und Bewirtschaftung von ge-
bietsübergreifenden Fischbeständen und
Beständen weit wandernder Fische

– Drucksache 14/2421 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-

heit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung

eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Vertrag vom 25. August 1998 zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland
und den Vereinigten Mexikanischen Staa-
ten über die Förderung und den gegensei-
tigen Schutz von Kapitalanlagen

– Drucksache 14/2422 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung

eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Vertrag vom 5. November 1998 zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland
und Antiqua und Barbuda über die Förde-
rung und den gegenseitigen Schutz von
Kapitalanlagen

– Drucksache 14/2423 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten

Renate Diemers, Maria Eichhorn, Hannelore
Rönsch (Wiesbaden), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU

Initiative zur Schaffung von alternierenden
Telearbeitsplätzen für die Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter der Bundestagsabge-
ordneten im Rahmen des Umzuges von
Bonn nach Berlin

– Drucksache 14/1313 –
Überweisungsvorschlag:
Ältestenrat (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Winfried Wolf, Eva-Maria Bulling-Schröter,
Carsten Hübner, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der PDS

Keine Hermesbürgschaften für den Ilisu-
Staudamm in der Türkei

– Drucksache 14/2336 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-

heit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-

wicklung
f) Beratung des Antrags des Bundesministeri-

ums für Wirtschaft und Technologie
Rechnungslegung über das Sondervermö-

gen des Bundes „Ausgleichsfonds zur Si-
cherung des Steinkohleneinsatzes“ für das
Wirtschaftsjahr 1998

– Drucksache 14/2484 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 6 Weitere Überweisungen im vereinfachten

Verfahren (Ergänzung zu TOP 15.)

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung

eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung atomrechtlicher Vorschriften
für die Umsetzung von EURATOM-
Richtlinien zum Strahlenschutz

– Drucksache 14/2443 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-

heit (f)

Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD

und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Grenzüberschreitende Zusammenarbeit

zur Stärkung des Schutzes der Böden
– Drucksache 14/2567 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-

heit (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-

wicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen

Union
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen zu

den Tagesordnungspunkten 6 und 15 a bis 15 f an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überwei-
sen, wobei der Antrag auf Drucksache 14/2336 zusätz-
lich an den Ausschuss für Menschenrechte und humani-
täre Hilfe gehen soll. Einverstanden? – Ja. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.

Zum Zusatzpunkt 6 wird interfraktionell vorgeschla-
gen, die Vorlage auf Drucksache 14/2443 zur federfüh-
renden Beratung an den Ausschuss für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung an
den Ausschuss für Gesundheit zu überweisen. Gibt es

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer






(A)



(B)



(C)



(D)


andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind
auch diese Überweisungen so beschlossen.

Die Vorlage auf Drucksache 14/2567 soll zur feder-
führenden Beratung an den Ausschuss für Umwelt, Na-
turschutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung an
den Auswärtigen Ausschuss, den Ausschuss für Ernäh-
rung, Landwirtschaft und Forsten, den Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und
den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi-
schen Union überwiesen werden. – Andere Vorschläge
sehe ich nicht. Dann ist auch das so beschlossen.

Wir kommen jetzt zu den Tagesordnungspunkten
16 a bis 16 m sowie zum Zusatzpunkt 7. Es handelt sich
um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine
Aussprache vorgesehen ist. Wir werden jetzt eine Reihe
von Abstimmungen haben.

Tagesordnungspunkte 16 a bis 16 d:
Abschließende Beratung ohne Aussprache
a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des

von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom
11. Dezember 1997 zwischen der Bundes-
republik Deutschland und der Republik El
Salvador über die Förderung und den ge-
genseitigen Schutz von Kapitalanlagen

– Drucksache 14/1840 –

(Erste Beratung 66. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-

schusses für Wirtschaft und Technologie

(9. Ausschuss)


– Drucksache 14/2539 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des

von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom
28. August 1997 zwischen der Bundesrepu-
blik Deutschland und Turkmenistan über
die Förderung und den gegenseitigen
Schutz von Kapitalanlagen

– Drucksache 14/1842 –

(Erste Beratung 66. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-


(9. Ausschuss)


– Drucksache 14/2540 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
c) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des

von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen
vom 10. September 1996 zwischen der Re-
gierung der Bundesrepublik Deutschland
und der mazedonischen Regierung über

die Förderung und den gegenseitigen
Schutz von Kapitalanlagen

– Drucksache 14/1843 –

(Erste Beratung 66. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-

schusses für Wirtschaft und Technologie

(9. Ausschuss)


– Drucksache 14/2541 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
d) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des

von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom
21. März 1997 zwischen der Bundesrepu-
blik Deutschland und der Republik Kroa-
tien über die Förderung und den gegensei-
tigen Schutz von Kapitalanlagen

– Drucksache 14/1844 –

(Erste Beratung 66. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-

schusses für Wirtschaft und Technologie

(9. Ausschuss)


– Drucksache 14/2542 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz

Ich gehe davon aus, dass wir über diese vier Ver-
tragsgesetze gemeinsam abstimmen können. – Damit
sind Sie offensichtlich einverstanden.

Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt auf den Drucksachen 14/2539, 14/2540, 14/2541
und 14/2542, die Gesetzentwürfe unverändert an-
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die den Gesetzentwürfen
zustimmen wollen, sich zu erheben. – Stimmt jemand
dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Die Gesetzentwürfe
sind damit mit den Stimmen des ganzen Hauses an-
genommen worden.

Tagesordnungspunkt 16 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung (19. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard
Friedrich (Erlangen), Friedrich Merz, Ilse Aigner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU

Deutschland muss verlässlicher Partner in eu-
ropäischer Raumfahrt bleiben

– Drucksachen 14/655, 14/1350 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Lothar Fischer (Homburg)

Ilse Aigner
Hans-Josef Fell
Cornelia Pieper
Angela Marquardt

Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
14/655 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer






(A)



(B)



(C)



(D)


stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stim-
men von CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 16 f:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen (15. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Dirk Fischer (Hamburg),
Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Hannelore Rönsch

(Wiesbaden), weiterer Abgeordneter und der

Fraktion der CDU/CSU

Satellitennavigationssystem Galileo
– Drucksachen 14/945, 14/2217 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Reinhold Hiller (Lübeck)


Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksa-
che 14/945 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung des Ausschusses? – Gegenstimmen?
– Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von CDU/CSU und F.D.P. angenommen; die PDS hat
sich enthalten.

Tagesordnungspunkt 16 g:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

richts des Ausschusses für Arbeit und Sozialord-
nung (11. Ausschuss) zu der Unterrichtung über
ein Unionsdokument gemäß § 93 Abs. 2 GO-BT

Entwurf einer Entschließung des Rates zur so-
zialen und arbeitsmarktspezifischen Dimen-
sion der Informationsgesellschaft

– Drucksachen 14/2211 Nr. 2.1, 14/2346 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Irmgard Schwaetzer

Der Ausschuss empfiehlt, die Haltung der Bundesre-
gierung zu unterstützen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen worden.

Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 16 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-

onsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 111 zu Petitionen
– Drucksache 14/2532 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 111 ist angenommen mit
den Stimmen aller Fraktionen bis auf die PDS, die sich
der Stimme enthalten hat.

Tagesordnungspunkt 16 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-

onsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 112 zu Petitionen
– Drucksache 14/2533 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 112 ist ebenfalls mit dem
eben festgestellten Stimmenverhältnis angenommen
worden, also mit den Stimmen aller Fraktionen bis auf
die PDS, die sich der Stimme enthalten hat.

Tagesordnungspunkt 16 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-

onsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 113 zu Petitionen
– Drucksache 14/2534 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 113 ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen alle Oppositions-
stimmen angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 16 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-

onsausschuss (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 114 zu Petitionen
– Drucksache 14/2535 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 114 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stim-
men von CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 16 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-

onsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 115 zu Petitionen
– Drucksache 14/2536 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 115 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen alle Oppositionsstimmen
angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 16 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-

onsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 116 zu Petitionen
– Drucksache 14/2537 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 116 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der F.D.P.
gegen die Stimmen der PDS angenommen worden.

Zusatzpunkt 7:
Weitere abschließende Beratung ohne Aus-

sprache (Ergänzung zu TOP 16.)


Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer






(A)



(B)



(C)



(D)


Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung von Richtlinien der Europäi-
schen Gemeinschaft auf dem Gebiet des Be-
rufsrechts der Rechtsanwälte

– Drucksache 14/2269 –

(Erste Beratung 79. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechts-

ausschusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 14/2594 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Alfred Hartenbach
Norbert Röttgen
Rainer Funke

Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Ge-
setzentwurf mit den Stimmen des ganzen Hauses ange-
nommen worden.

Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
Haltung der Bundesregierung zu Berichten

über Defizite bei der Pflegeversicherung und
Auswirkungen auf die soziale Sicherheit alter
Menschen

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Ulf Fink.


Ulf Fink (CDU):
Rede ID: ID1408408700
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Das, wovor ich im Namen
der CDU/CSU-Fraktion nun schon seit Monaten warne
und was von der Regierungskoalition immer abgestritten
wurde, ist jetzt amtlich: Die Finanzentwicklung der
Pflegeversicherung ist im vergangenen Jahr erstmals seit
Bestehen der Pflegeversicherung defizitär. Zwar ist
das Defizit von 74 Millionen DM im vergangenen Jahr
noch verhältnismäßig gering, aber – das ist das Ent-
scheidende – diese Finanzentwicklung belegt auf bestür-
zende Weise die Vorausschätzungen des Bundesversi-
cherungsamtes vom 18. Oktober vergangenen Jahres.
Diese Vorausschätzungen hatten zum Ergebnis, dass die
Zahlungsfähigkeit der Pflegeversicherung im Jahre
2002, also noch in dieser Legislaturperiode, nicht mehr
gewährleistet ist.

Meine Damen und Herren von der Regierungskoaliti-
on, dies ist nicht lediglich das Ergebnis der zunehmen-
den Zahl von Pflegefällen, sondern das Ergebnis Ihrer
Politik.


(Detlef Parr [F.D.P.]: So ist es!)


Sie haben sich am Geld der Pflegeversicherung bedient,
um den Bundeshaushalt zu sanieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Detlef Parr [F.D.P.]: Leichtfertig!)


400 Millionen DM haben Sie jährlich der Pflegeversi-
cherung an Einnahmen entzogen. Ihre Entscheidung, der
Pflegeversicherung nur noch Beiträge von der Arbeitslo-
senhilfe auf der Grundlage des tatsächlichen Zahlbetra-
ges und nicht, wie bisher, auf der Grundlage von
80 Prozent des früheren Bruttoentgelts zu zahlen, er-
weist sich schon jetzt als gänzlich unverantwortlich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)


Sie sparen damit zu Lasten der Schwächsten in unse-
rer Gesellschaft, nämlich der Pflegebedürftigen, die sich
nicht wehren können. Da, wo Sie Widerstand gespürt
haben, im Gesundheitswesen, bei den Krankenkassen,
sind Sie zurückgezuckt. Da werden nach wie vor Beiträ-
ge auf der Grundlage von 80 Prozent des früheren Brut-
togehalts gezahlt. Vor den Mächtigen kuschen Sie, bei
den Schwachen greifen Sie zu. Das nenne ich eine Sozi-
alpolitik nach dem Urwaldprinzip.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie haben es zu verantworten, dass die Pflegeversi-

cherung selbst zum Pflegefall wird. Marc Hujer kom-
mentiert Ihr Vorgehen in der „Süddeutschen Zeitung“
vom 18. Januar dieses Jahres damit, dass es gerade diese
Haltung ist, „die die rot-grüne Koalition für ihre weite-
ren Vorhaben unglaubwürdig macht“.

Er fährt fort:
Überall in der Sozialversicherung, insbesondere in
der Rentenversicherung, will sie die Zukunftsprob-
leme mit Kapitalfonds, Zins und Zinseszins lösen.
Den Menschen redet sie ein, dass durch mehr Pri-
vatvorsorge die Belastungen, die wegen der Alte-
rung der Bevölkerung auf die Sozialsysteme zu-
kommen, bewältigt werden können. Doch den ein-
zigen Sozialversicherungszweig, der dies bisher
beherzigte, hat sie dafür bestraft.

Ich glaube, diesen Worten von Marc Hujer in der „Süd-
deutschen Zeitung“ braucht man nichts hinzuzufügen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich frage Sie: Wo soll nun das Geld herkommen, um

den Demenzkranken, den Altersverwirrten zu helfen?
Sie haben Hilfe für die Demenzkranken in der Regie-
rungserklärung angekündigt, und diese ist auch dringend
notwendig. Wir haben eigene Anträge dazu eingebracht.
Aber woher soll denn nun das Geld kommen?

Zweitens: Die Pflegeversicherung wurde eingeführt,
um mit dem unwürdigen Zustand Schluss zu machen,
dass die Pflegebedürftigen reihenweise zu über
80 Prozent in den Pflegeheimen zu Sozialhilfeempfän-
gern wurden. Das war unser gemeinsames Ziel. Aber
jetzt schauen Sie tatenlos zu, wie die Preise der Pflege-
heime Jahr für Jahr steigen, während die Leistungen der
Pflegekassen gleich bleiben.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer






(A)



(B)



(C)



(D)


Mittlerweile liegen die Pflegesätze für die höchste
Pflegeklasse in den Pflegeheimen in den alten Bundes-
ländern zwischen 3 300 und 4 300 DM. Da sind noch
nicht die Kosten für Unterkunft und Verpflegung enthal-
ten. Diese müssen die Betreffenden sowieso schon allei-
ne bezahlen. Die Pflegeversicherung zahlt aber höchs-
tens 2 800 DM. Seit 1995/96 sind diese Sätze nicht an-
gepasst worden. In allen Vorausschätzungen, auch in
denen des Bundesversicherungsamtes, die ich eben zi-
tiert habe, ist überhaupt keine Anpassung dieser Leis-
tungen für die nächsten Jahre vorgesehen. Was ist denn
nun mit dem Ziel, die Pflegebedürftigen sozialhilfefrei
zu stellen?

Drittens: Wie wollen Sie den gesetzlichen Auftrag er-
füllen, den Beitragssatz von 1,7 Prozent zur Pflegeversi-
cherung nicht zu überschreiten? Die Situation wird doch
immer auswegloser. Sie betreiben eine Vogel-Strauß-
Politik. Sie fahren mit Ihrer Politik die Pflegeversiche-
rung wissentlich und willentlich an die Wand und sagen
immer nur, es wird vermutlich nicht so schlimm kom-
men.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Meine Damen und Herren, wir haben Ihnen ein intak-
tes Erbe, eine Pflegeversicherung mit vollen Kassen hin-
terlassen.


(Lachen bei der SPD)

Mit über 9,5 Milliarden DM waren die Kassen der Pfle-
geversicherung gefüllt.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408408800
Herr Kollege
Fink, in der Aktuellen Stunde hat man nur fünf Minuten
Redezeit. Wir werden das streng handhaben.


Ulf Fink (CDU):
Rede ID: ID1408408900
Geben Sie Auskunft darüber,
was Sie mit diesem Erbe angefangen haben. Die Millio-
nen von Pflegeversicherten und Pflegebedürftigen haben
ein Recht darauf.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Gerd Andres [SPD]: Das war die pure Heuchelei! Das war ein typischer Fink!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408409000
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Regina Schmidt-Zadel.


Regina Schmidt-Zadel (SPD):
Rede ID: ID1408409100
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Herr Fink, das von Ihnen als
Anlass für die heutige Aktuelle Stunde bemühte angeb-
liche Defizit in der gesetzlichen Pflegeversicherung ist
ein alter Hut. Das müssten Sie wissen.


(Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Das ist ein neuer Hut!)


Die Entwicklung ist längst bekannt und ist auch voraus-
sehbar gewesen. Lesen Sie dazu doch einmal den ersten
Pflegebericht der Bundesregierung vom März 1998.

Dort werden Ihnen – noch unter Norbert Blüm – neben
der Finanzschätzung auch die Gründe dafür geliefert,
warum in den kommenden Jahren der bisherige jährliche
Überschuss zu einem Defizit von 670 Millionen DM in
diesem Jahr und von 70 Millionen DM im Jahr 2003
wird.


(Ulf Fink [CDU/CSU]: Und dann nehmen Sie noch 400 Millionen DM zusätzlich weg!)


– Hören Sie mir bitte zu, ich komme noch darauf zu
sprechen.

Die Gründe dafür sind die Zunahme der kosteninten-
siven Pflege, Sachleistungen im ambulanten Bereich,
der demographische Faktor und die Mehrkosten durch
den Anstieg des Anteils der höheren Pflegestufe.


(Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Was tun Sie denn dagegen? – Ulf Fink [CDU/CSU]: Ja, umso unverantwortlicher ist es, ihr Geld wegzunehmen!)


Die 400 Millionen DM, die der Pflegeversicherung
aufgrund der veränderten Bemessungsgrundlage fehlen,
sind nur ein Teil der Wahrheit. Auch das wissen Sie.


(Aribert Wolf [CDU/CSU]: Aber es ist die Wahrheit!)


Natürlich wäre es wünschenswert, wenn wir dieses Geld
für notwendige Verbesserungen zur Verfügung hätten.


(Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Das haben Sie doch versprochen!)


Aber die Bewältigung der finanziellen Schieflage, die
Sie uns hinterlassen haben,


(Beifall bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU)


lässt uns auch in diesem Bereich keinen Spielraum.

(Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: 400 Millionen DM!)

Wenn Sie das jetzt kritisieren und in der Bevölkerung

Proteste wegen eines angeblichen Pflegenotstands schü-
ren, verschweigen Sie den Bürgerinnen und Bürgern,
dass es vor allem die Folge der vorgefundenen finanziel-
len Erblasten Ihrer Regierungszeit ist, die wir heute be-
wältigen müssen.


(Beifall bei der SPD – Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Das ist doch Unsinn! – Gerd Andres [SPD]: Der Blüm hat immer falsch gerechnet!)


Ich denke, dass wir an dieses Thema sachlich heran-
gehen sollten. Für Schnellschüsse, wie Sie sie jetzt brin-
gen, und für billige Polemik, Herr Fink, oder gar als Ab-
lenkung von anderen politischen Debatten ist ein so sen-
sibler Bereich wie die Pflegeversicherung nicht geeig-
net.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn ich Ihre Erklärungen aus der letzten Zeit betrach-
te, Herr Fink, dann drängt sich mir dieser Verdacht auf.

Ulf Fink






(A)



(B)



(C)



(D)


Ich denke, er drängt sich nicht nur mir, sondern auch
vielen Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land auf.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich will einen wunden Punkt ansprechen. Ich kann

mich nicht daran erinnern, dass die Zahl der Arbeitslo-
sen während Ihrer Regierungszeit merklich gesunken
wäre.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ulf Fink [CDU/CSU]: Doch! Bei Ihnen steigt sie wieder!)


Im Gegenteil, Sie haben den Anstieg auf über
400 Millionen Arbeitslose in diesem Land politisch zu
verantworten.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: 400 Millionen? So viele Bürger haben wir gar nicht!)


– Sie haben den Anstieg auf über 4 Millionen Arbeitslo-
se politisch zu verantworten.


(Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: 400 Millionen haben Sie herausgenommen!)


Rechnen Sie sich einmal aus, welchen Mittelbestand die
Pflegeversicherung heute hätte, wenn Sie seinerzeit den
Kampf gegen die Arbeitslosigkeit ernst genommen hät-
ten.


(Beifall bei der SPD – Ulf Fink [CDU/CSU]: 9,5 Milliarden DM Vermögen!)


Auch Ihr Vorwurf, für Leistungsverbesserungen sei
kein Geld da, zielt ins Leere. Wahr ist: Die Koalition hat
bereits zu Beginn dieser Legislaturperiode Verbesserun-
gen durchgesetzt, die Sie längst hätten durchsetzen müs-
sen


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


und die Sie wegen Ihres Koalitionspartners – Herr Parr,
da sind Sie gefragt – damals nicht durchgesetzt haben.
Wahr ist: Die Union hat heute das große Wehklagen an-
gestimmt – Herr Fink ist der Anführer –, aber ihre Be-
hauptung, sie hätte in der letzten Wahlperiode Verbesse-
rungen auf den Weg gebracht, wenn es ihr Koalitions-
partner nur zugelassen hätte, ist scheinheilig.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, die Koalition lässt sich die

Pflegeversicherung nicht schwarz malen.

(Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Ja, ihr habt rote Zahlen!)

Das will ich ganz klar sagen. Unsere Devise heißt: Ver-
besserungen vornehmen, wo Verbesserungen notwendig
sind, und die finanziellen Grundlagen der Pflegeversi-
cherung durch Erfolge beim Abbau der Arbeitslosigkeit
stabilisieren.


(Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Es geht ja nicht voran!)


Ich rufe Sie auf – hören Sie mir bitte gut zu –, die
Pflegeversicherung nicht zum Spielball im politischen
Tagesgeschäft zu machen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das habt ihr doch gemacht!)


Nehmen Sie die Pflegebedürftigen und ihre Angehöri-
gen ernst. Beteiligen Sie sich sachlich und konstruktiv
an der Weiterentwicklung der Pflegeversicherung. Billi-
ge Wahlkampfpolemik auf dem Rücken der Pflegebe-
dürftigen führt zu nichts, meine Damen und Herren.


(Ulf Fink [CDU/CSU]: Wo sind die 400 Millionen DM?)


Die Pflegeversicherung – Herr Fink, hören Sie gut
zu – braucht keine Aktuellen Stunden im Deutschen
Bundestag. Sie benötigt Lesungen von Gesetzentwürfen,
die Verbesserungen bringen. Wir werden die Entwürfe
in nächster Zeit einbringen. Sie haben dann die Gele-
genheit, im Interesse der Pflegebedürftigen zu beweisen,
wie ernst Ihnen diese Sache ist.


(Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Warum schreien Sie immer so?)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408409200
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Detlef Parr.


(Uwe Hiksch [PDS]: Der entschuldigt sich jetzt erst einmal für die Rede von Ulf Fink!)



Detlef Parr (FDP):
Rede ID: ID1408409300
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Elisabeth Flickenschildt hat einmal in
Düsseldorf gesagt, man spricht von kleinem, großem
und mittlerem Echauffement. Ich glaube, Frau
Schmidt-Zadel, mit dem großen Echauffement lösen Sie
die Probleme nicht, die wir dabei sind hier zu diskutie-
ren.

Hätten wir die Pflegeversicherung auf andere ord-
nungspolitische Säulen gestellt, dann hätten wir uns die
heutige Debatte vielleicht sparen können.


(Beifall bei der F.D.P.)

Es sollte anders sein. Nun müssen wir feststellen, dass in
den letzten Monaten der Pflegeversicherung vermeidba-
re Belastungen zugemutet worden sind. Wir alle wissen,
wie das aussieht, und es bedarf keiner hellseherischen
Fähigkeiten, um erkennen zu können, wohin die Politik,
die Sie betreiben, führt.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Woher nehmen Sie, meine Damen und Herren von

der SPD und den Grünen, und Sie, Frau Staatssekretärin,
eigentlich Ihren Optimismus, mit einem „Weiter so“ die
erkennbaren Hürden in Angriff zu nehmen? Wir alle
kennen doch die demographische Entwicklung, wir alle
kennen die lebensverlängernden Folgen des rasanten
medizinischen Fortschritts. Wie wollen Sie eigentlich
diesen Tatsachen Rechnung tragen? Wie leichtfertig ge-
hen Sie eigentlich mit diesen Argumenten um?

Wenn Sie sich die Zahlen und Prognosen des Bun-
desversicherungsamtes genau anschauen, dann müsste

Regina Schmidt-Zadel






(A)



(B)



(C)



(D)


Ihnen doch eigentlich angst und bange werden. Der
Trend zu einer wachsenden Zahl von Pflegebedürftigen
hält ungebrochen an. 1996 hatten wir circa 1,2 Millio-
nen Menschen, die Leistungen aus der Pflegeversiche-
rung erhielten. In diesem Jahr ist ihre Zahl bereits auf
1,8 Millionen angewachsen.

Frau Schmidt-Zadel, wir wissen, dass die ambulante
Pflege abnimmt, während die stationäre zunimmt. Auch
das wird Kostenfolgen haben. In eine solche Situation
hinein setzen Sie einen Verschiebebahnhof zwischen
verschiedenen Zweigen der sozialen Sicherung in Gang.
Das, was Sie da getan haben, ist leichtfertig.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie sorgen damit dafür, die finanzielle Basis für die
soziale Absicherung im Pflegefall zu unterminieren. Es
ist genau das eingetreten, was wir immer befürchtet und
wovor wir immer gewarnt haben. Kollege Fink hat das
erwähnt: Wo Gelder im Zugriffsbereich des Staates an-
gehäuft werden, entstehen Begehrlichkeiten. In Zeiten
knapper Kassen ist dann die Hemmschwelle sehr nied-
rig, sich an solchen Töpfen zu vergreifen. Genau das ha-
ben Sie getan. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass
man diesen Weg nur in der Pflegeversicherung beschrit-
ten hat, nicht hingegen in der Krankenversicherung.

Unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten ist das
nicht zu rechtfertigen, meine Damen und Herren. Der
Tatsache einer überproportionalen Zunahme älterer
Menschen und damit verbunden einer überproportiona-
len Zunahme pflegebedürftiger Menschen müssen wir
anders Rechnung tragen. Dieses Problem kann eben
nicht über eine Reservenbildung in der gesetzlichen
Pflegeversicherung gelöst werden, denn dieses Geld ist
eben vor dem Zugriff nicht sicher. Wir müssen etwas
anderes tun.

Die demographischen Probleme, die wir zurzeit in der
Rentenversicherung diskutieren, betreffen nämlich die
Pflegeversicherung in gleichem Maße. Sie werden zu
genauso großen Verwerfungen führen, wenn nicht früh-
zeitig gehandelt wird. Auch in der Pflegeversicherung
muss klar gesagt werden, dass an einem höheren Maß an
Eigenvorsorge kein Weg vorbei führt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Pflegeversicherung ist keine Vollkosten- oder Voll-
kaskoversicherung. Sie kann es unter den gegebenen
Umständen ja auch gar nicht sein.


(Klaus Kirschner [SPD]: Das war sie noch nie!)


– Nein, Herr Kirschner, aber das ist vielen Menschen
nicht bewusst. Ich denke, hier ist mehr Aufklärung er-
forderlich, mehr Ehrlichkeit in der Debatte, und das soll-
te man den Menschen auch wirklich sagen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Für die Zukunft heißt das für die F.D.P., die Leistungen
aus der Pflegeversicherung auf diejenigen zu konzentrie-
ren, die diese Hilfe besonders benötigen.

Dazu gehört für uns auch, dass wir für die Demenz-
kranken etwas tun müssen. Das ist über die Fraktions-
grenzen hinweg völlig unstrittig. Über neue Versor-
gungsformen in diesem Bereich denken wir intensiv
nach. Zum Ausbau teilstationärer Betreuungsangebote
gehört zum Beispiel auch die Frage, wie man den
Transport in diese Einrichtungen vernünftig organisieren
kann.

Der Aufbau von betreuten Wohngemeinschaften
scheint ein anderer Erfolg versprechender Ansatz zu
sein, die Demenzkranken so zu betreuen, dass ihnen ein
Höchstmaß an Autonomie bleibt. Ich denke, das ist ein
wichtiges Ziel, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der F.D.P.)

Die Leistungen sollen also nur dort ausgeweitet werden,
wo es wirklich notwendig ist, und auch nur dann, wenn
es für die Finanzierung entsprechende Deckungsvor-
schläge gibt.

Ein Weiteres: Statt Überschüsse in anderen Sozial-
versicherungszweigen auf Nimmerwiedersehen ver-
schwinden zu lassen, sollten sie in die Taschen derjeni-
gen zurückfließen, die sie gesammelt haben, damit ihnen
mehr Spielraum verbleibt, die Grundleistungen durch
Eigenvorsorge aufzubessern. Dass zu diesem erweiterten
Spielraum auch eine Steuerreform gehört – nach den
F.D.P.-Grundsätzen: niedriger, gerechter, einfacher –,
versteht sich von selbst. „Weniger Staat, mehr privat“
kann dann auch hier unsere Devise sein. Das ist der ein-
zige Ausweg, so denke ich, aus einer Sackgasse, in die
Sie uns gerade hineinführen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408409400
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Monika Knoche.


Monika Knoche (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1408409500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Her-
ren und Damen! Ich habe Verständnis dafür – Herr Fink
und Herr Parr, gestatten Sie mir, dass ich das so sage;
ich tue es ohne Polemik –, dass Sie ein Interesse daran
haben, zu sachpolitischen Fragen zurückzukehren. Aber
ich bezweifle, dass dafür ausgerechnet die Finanzent-
wicklung der Pflegeversicherung das geeignete Thema
ist, zumal es dazu schon Aktuelle Stunden gegeben hat
und die Thematik von der Ministerin hinreichend öffent-
lich dargestellt worden ist. Ich war wirklich verwundert
über Ihre Rede, Herr Parr. Gut, ideologische Motive
können einen oft zu einer fehlgeleiteten Argumentation
verführen.


(Detlef Parr [F.D.P.]: Ideologien gibt es bei uns nicht!)


Detlef Parr






(A)



(B)



(C)



(D)


Aber ich weiß genau, dass die Pflegeversicherung eine
rein von Arbeitnehmern finanzierte Versicherung ist.
Wie Sie angesichts dieser Tatsache von privater Zusatz-
vorsorge sprechen können, erschließt sich mir überhaupt
nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD und der PDS – Detlef Parr [F.D.P.]: Das haben Sie missverstanden!)


Ich erinnere mich sehr gut – ich war seinerzeit
dabei –, dass die Gewerkschaften mit der damaligen Re-
gierung den Konflikt um den Erhalt von Feiertagen aus-
getragen haben, deren Streichung für die Finanzierung
der neuen Versicherung vorgesehen war. Damals ist
nach meiner Meinung richtigerweise die Frage aufge-
worfen worden – diese Frage haben Sie, Herr Fink, an-
genehmerweise nicht direkt ausgesprochen, aber doch
unterschwellig gestellt –: Wie können wir diesem nicht
immer krankenversicherungsgeeigneten Versorgungsbe-
reich gerecht werden? Wie können wir das Risiko absi-
chern? Es gab Abgrenzungsprobleme und Überlegun-
gen, dieses Risiko in die GKV zu übernehmen. Aber die
grundlegende Frage war: Warum soll bei der Pflegever-
sicherung aus der Parität ausgestiegen werden? Ange-
sichts der Tatsache, dass wir auch schon damals wuss-
ten, dass die Erfordernisse einer qualitativ hochwertigen
Pflege für wachsenden Bedarf sorgen – auch in finan-
zieller Hinsicht –, war es richtig – ich vertrete diese Hal-
tung auch noch heute –, diesen Versicherungszweig pa-
ritätisch anzulegen, um ein sozial-staatliches Selbstver-
ständnis zum Ausdruck zu bringen. Ich halte im Rahmen
der heutigen Diskussion um die Zukunftsfähigkeit des
gesamten Sozialversicherungssystems kaum eine Frage
für aktueller und zukunftsweisender als die nach der
Weiterentwicklung der paritätischen Finanzierung.


(Detlef Parr [F.D.P.]: Das ist der falsche Weg!)


Wenn wir uns so sehr an der Beitragssatzstabilität orien-
tieren und die Lohnnebenkosten nicht steigen lassen
wollen, dann ist die Erweiterung der solidarischen Ver-
sicherung um möglichst breite Erwerbstätigenkreise die
richtige Antwort. Den Beweis hat diese Regierung schon
durch die Regelungen zu den 630-Mark-Arbeitsver-
hältnissen erbracht.


(Beifall bei der SPD)

Eigentlich haben Sie vollkommen Recht – ich stimme
Ihnen gerne zu – , dass wir bei der zukünftigen Ausrich-
tung diese Frage im Sinne der Modernisierung und der
Gestaltung der Zukunftsfähigkeit beantworten sollten.

Es ist seltsam, wenn Sie die heutige Regierung für
etwas kritisieren, was wir in der Opposition der damali-
gen Regierung abringen mussten. Damals wollten Sie
auf die Rücklagen der Pflegekasse zugreifen. Wir haben
gesagt: „Tut es nicht! Keine Beitragssatzsenkung, keine
Fremdverwendung dieser Mittel, weil es Zuwächse ge-
ben wird!“


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Ulf Fink [CDU/CSU]: Das haben wir genau gemacht!)


Ich denke an die Sicherheit der heutigen Finanzlage. Ich
habe keinen Anlass, den Ausführungen der Ministerin
an dieser Stelle keinen Glauben zu schenken. Über die
jetzt noch vorhandene Stabilität und über die jetzt noch
vorhandenen Ressourcen verfügen wir – ich sage nicht
„ausschließlich“, denn darüber ist auch innerhalb der
Parteien der heutigen Regierungskoalition stark disku-
tiert worden –, weil wir damals den Griff in die Pflege-
kassen verhindert haben.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408409600
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Ilja Seifert.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1408409700
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Die Situation von Menschen, die akti-
vierende Begleitung, Hilfe oder etwas Ähnliches brau-
chen – manche nennen das „Pflege“ –, ist immer aktu-
ell. Insofern ist eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema
jederzeit gerechtfertigt.

Wir kommen nicht umhin, festzustellen, dass gegen-
wärtig tatsächlich eine Situation eingetreten ist, in der
aus einer verhältnismäßig komfortablen finanziellen
Ausstattung eine rückläufige Kassenlage geworden ist.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese
Regierung – Frau Knoche, ich muss Ihnen schon sagen:
leider – das, was sie in der Opposition mit uns und mit
anderen verhindert hat, zu tun anfängt: Sie beschneidet
die Einnahmen der Pflegeversicherung. Man kann auch
sagen: Sie fängt an, in die Kasse zu greifen. 400 Mil-
lionen DM weniger sind kein Pappenstiel.

Das erste Defizit des Jahres ist da. Jedes Jahr
400 Millionen DM weniger sind schon eingeplant. De-
mente Menschen bleiben unberücksichtigt. Es gibt noch
kein einziges Blatt Papier, auf dem steht, wie Sie de-
mente Menschen in die Pflegeversicherung einbeziehen
wollen. Es gibt jede Menge Papier, auf dem steht, dass
Sie es tun wollen; aber es gibt kein Blatt Papier, auf dem
steht, wie Sie es tun wollen. Dies ist so, weil es eben im
System der Pflegeversicherung nicht möglich ist.

Geistig behinderte Menschen und psychisch kranke
Menschen sind in dieser Art Pflegeversicherung – das
geht an die Adresse der CDU/CSU – einfach nicht vor-
gesehen. Was diese Menschen brauchen, kann mit die-
sem unglaublich somatischen, unglaublich eingeengten
Pflegebegriff überhaupt nicht geleistet werden. Leider
versucht auch die gegenwärtige Regierung nicht, das zu
ändern.

Im Allgemeinen werden Menschen mit Behinderun-
gen aus Einrichtungen der Behindertenhilfe zunehmend
in Einrichtungen der Pflegeversicherung abgedrängt.
Diesen Prozess verzeichnen wir vielerorts. Es ist sehr
bedauerlich, wenn pädagogische, soziale und andere ak-
tivierende Leistungen einfach ausgeklammert bzw. aus-
gegrenzt werden und nur noch Pflege im Sinne von

Monika Knoche






(A)



(B)



(C)



(D)


„satt, sauber und trocken“ gewährt wird. Das hat mit
Menschenwürde nichts zu tun.


(Beifall bei der PDS)

Man muss in jeder Aktuellen Stunde zu dieser The-

matik sagen: Erforderlich wäre, dass wir erst einmal ei-
nen ganz anderen Pflegebegriff einführen, der die Akti-
vierung der Menschen – nicht das „Satt, sauber und tro-
cken“ – in den Mittelpunkt stellt.


(Beifall bei der PDS)

Ich denke an Aktivierung auch in den Fällen hochgradi-
ger Demenz, geistiger Behinderung und körperlicher,
psychischer oder sonstiger dauernder Behinderung.

Wir brauchen dazu – das kann das Pflegeversiche-
rungsgesetz, so wie es angelegt ist, nicht leisten; deshalb
habe ich es nicht gemocht und mag es auch heute noch
nicht – ein Leistungsgesetz, das zum Ziel hat, Men-
schen, die auf aktivierende Hilfe angewiesen sind, voll
am Leben der Gemeinschaft teilhaben zu lassen. Sie ha-
ben noch nicht einmal dieses Ziel formuliert. Sie sagen:
Ein bisschen mehr, aber nicht, dass Menschen mit Be-
hinderungen, Menschen, die auf Pflege, auf Hilfe, auf
Assistenz, auf Begleitung angewiesen sind, als Teil der
Gesellschaft so anerkannt werden, dass sie mitten in der
Gesellschaft gesehen werden und nicht irgendwo am
Rande auch noch „mit“ gesehen werden. Darum geht es.


(Beifall bei der PDS)

Es ist ein anderes Menschenbild erforderlich. Dann

können wir über aktivierende und sinnvolle Pflege re-
den.

Nun noch ein Wort zu Ihnen von der CDU/CSU. Am
Anfang habe ich gesagt, die Aktuelle Stunde ist gerecht-
fertigt, weil dieses Thema immer aktuell ist. Am 3. De-
zember hatten wir, die PDS, einen entsprechenden Än-
derungsantrag hier im Bundestag vorgelegt. Sie, meine
Damen und Herren von der CDU/CSU, haben ihn „ganz
selbstverständlich“ abgelehnt. Das ist nicht gerade dazu
angetan, dass Sie jetzt in populistischer Weise ein Sama-
ritergehabe an den Tag legen sollten. Bleiben Sie ehr-
lich: Entweder Sie stimmen dann zu, wenn es angesagt
ist, oder Sie lassen es sein. Eine Sache abzulehnen, nur
weil sie von uns kommt, ist ein bisschen am Thema vor-
bei.


(Beifall bei der PDS – Zuruf von der CDU/CSU: Wir haben den Haushalt abgelehnt!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408409800
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Eva-Maria Kors.


Eva-Maria Kors (CDU):
Rede ID: ID1408409900
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bereits am 24. August
vergangenen Jahres brachte die „FAZ“ den Titel: „Pfle-
geversicherung drohen hohe Defizite“. Das „Handels-
blatt“ folgte im Oktober: „Pflegekassen steuern auf De-
fizite zu – Bundesversicherungsamt rügt Fehlbuchungen
der Krankenkassen“. Am 5. November 1999 folgerte die

„FAZ“: „In der Pflegeversicherung können Beiträge
steigen“. Im „Focus“ vom 17. Januar war zu lesen:
„Pflegeversicherung – Vom Milliardenüberschuss in die
roten Zahlen“.

Angesichts solcher Überschriften, meine Damen und
Herren – das ist nur eine kleine Auswahl –, muss man
die Fragen stellen, ob die ansonsten so medien- und
pressebewusste Regierung keine Zeitung mehr liest.
Oder verschließen Sie bewusst die Augen vor dem Pro-
blem?

Nehmen Sie Gutachten, wenn Sie schon die Opposi-
tion nicht hören wollen, ausgewiesener Experten, wie
die des Bundesversicherungsamtes, gar nicht mehr
ernst? Ein Sprecher des Hauses hat lapidar verkündet,
das Ministerium sehe keinen Anlass, über eine Erhö-
hung der Beiträge nachzudenken. Ist das alles, was zu
diesem Thema aus dem Hause kommt?

Ich sage Ihnen: Wenn die Regierung ihre Politik im
Bereich der Pflegeversicherung weiterhin so betreibt,
dann wird es Anlässe en masse dafür geben, dass Bei-
träge erhöht werden müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie können auch sicher sein: Die CDU/CSU-Fraktion

wird nicht lockerlassen und Sie, wenn es denn nicht an-
ders geht, Monat für Monat immer wieder an Ihre Auf-
gabe erinnern, die finanziellen Grundlagen der Pflege-
versicherung zu stabilisieren und die Pflegeversicherung
zukunftsfähig zu machen. Niemand von uns will das
Ende der Pflegeversicherung. Das unterstellen wir Ihnen
auch nicht. Aber wir brauchen unverzüglich eine Re-
form, damit eine aus gutem Grund geschaffene Säule
unserer sozialen Sicherungssysteme nicht ohne Not den
Bach heruntergeht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind es den

pflegebedürftigen älteren Menschen in unserem Land
schuldig, dass das Risiko einer Pflegebedürftigkeit im
Alter auf lange Sicht abgesichert ist, also nicht nur für
zwei bis drei Jahre, bis zur nächsten Bundestagswahl.

Ich bin nach wie vor der Meinung, dass es eine rich-
tige Entscheidung war, die Pflegeversicherung einzufüh-
ren. Dies darf auf keinen Fall – auch nicht von Ihnen –
fahrlässig aufs Spiel gesetzt werden.

Den Jüngeren muss klar sein, dass die politisch Ver-
antwortlichen in Deutschland alles daransetzen, die Bei-
träge zur Pflegeversicherung stabil zu halten. Wir dürfen
daher die Notwendigkeit von Beitragserhöhungen nicht
billigend durch Nichtstun in Kauf nehmen oder gar, wie
Sie es in Ihrem Sparpaket getan haben, noch fördern.
Diesen Vorwurf müssen Sie sich gefallen lassen.

Das ist umso weniger zu verstehen, als Sie doch dau-
ernd davon reden, die Probleme etwa in der Rentenver-
sicherung über den Aufbau eines Kapitalstocks lösen zu
wollen. Sie reden ebenso ständig davon, eine stärkere
private Eigenvorsorge der Bürgerinnen und Bürger trage
zur Bewältigung der Probleme bei. Dies ist sicherlich
kein falscher Ansatz. Aber gerade da, wo dieses Prinzip

Dr. Ilja Seifert






(A)



(B)



(C)



(D)


bisher ausreichend beherzigt wurde, nämlich bei der
Pflegeversicherung, tun Sie genau das Gegenteil.


(Beifall bei der CDU/CSU und bei der F.D.P.)

Es war und ist unverantwortlich, dass es die Regie-

rung durch Ihre Maßnahmen im so genannten Sparpaket
grob fahrlässig riskierte, die Pflegeversicherung zum fi-
nanziellen Pflegefall werden zu lassen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Oh!)


– Dass Sie das nicht gerne hören, ist klar. – Es waren al-
lein 400 Millionen DM weniger Einnahmen im Jahr in-
folge der Kürzungen im Sparpaket. Dies geschah ohne
Not, nur zum Zwecke des kurzfristigen Stopfens von
selbst geschaffenen Haushaltslöchern. Frau Ministerin
und liebe Frau Kollegin Schmidt-Zadel, wo war da Ihr
hörbarer und spürbarer Protest? Ich habe nicht gehört,
dass Sie heute das Gegenteil gesagt haben.

Wir alle wissen doch, dass die Pflegeversicherung vor
weiteren schwierigen Aufgaben steht. Es ist hier schon
die Frage einer Einbeziehung von altersverwirrten Men-
schen in die Pflegeversicherung genannt worden, ebenso
die von der Frau Ministerin so vehement geforderte Dis-
kussion über eine verstärkte Qualitätssicherung in der
Pflege. Meine Damen und Herren von der Regierungs-
koalition, stabilisieren Sie erst einmal die Grundlage der
Pflegeversicherung, sonst brauchen Sie keine Qualitäts-
sicherung mehr!

Wir von der Union haben bereits zu Beginn des letz-
ten Jahres unsere Vorschläge zur langfristigen Sicherung
vorgelegt. Unser Konzept, zum Beispiel zur Bildung ei-
ner Generationenreserve, liegt Ihnen vor. Ich fordere Sie
noch einmal auf: Legen Sie endlich ein eigenes Konzept
vor, und lassen Sie uns dann über den besten Weg zur
langfristigen Stabilisierung der Pflegeversicherung strei-
ten!


(Beifall bei der CDU/CSU)

Aber tun Sie endlich etwas für die pflegebedürftigen
Menschen in unserem Land!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408410000
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Marga Elser.


Marga Elser (SPD):
Rede ID: ID1408410100
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-
ginnen! Liebe Kollegen! In jedem von uns schlummert
ein kleiner Robin Hood. Dass sich aber nun Sie, verehrte
Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion, heu-
te zum Retter der Witwen und Waisen mit einer Aktuel-
len Stunde zur Pflegeversicherung hochstilisieren wol-
len,


(Zurufe der CDU/CSU)

hat sicher auch seinen Grund darin, dass der Sheriff von
Nottingham hinter Ihnen her ist.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

In diesem Zusammenhang wäre meine Frage an Sie,

was sich bei Ihnen in der Einschätzung seit dem 9. Sep-

tember vergangenen Jahres geändert hat. Sie erinnern
sich sicher, dass Sie damals zu ebendiesem Thema eine
ebenso unnötige Aktuelle Stunde veranstaltet haben.
Geändert hat sich für Sie, dass Sie damit nicht gerechnet
haben, dass wir das Sparpaket fast vollständig durchset-
zen werden. Wir sind damit in der Konsolidierung der
Staatsfinanzen einen entscheidenden Schritt nach vorne
gekommen. Sie hatten uns diese Aufgabe freundlicher-
weise vererbt. Anstatt uns bei diesen Aufräumarbeiten
zu unterstützen, wie es Ihre Pflicht wäre, erschöpfen Sie
sich in Kritteleien und Aktuellen Stunden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Um die finanzielle Situation der Pflegeversicherung,
meine Damen und Herren von der Opposition, müssen
Sie sich keine Sorgen machen. Wer behauptet, dass die
Pflegeversicherung gefährdet sei oder gar Auswirkungen
auf die soziale Sicherheit alter Menschen zu befürchten
seien, handelt grob fahrlässig. Es geht um hochgerechnet
400 Millionen DM Einnahmeverringerung, die auf die
Senkung des staatlichen Zuschusses bei den Beiträgen
der Arbeitslosenhilfeempfänger zurückzuführen ist. Sie
wissen genau, Herr Fink, dass diese Summe nie und
nimmer für die Aufnahme der Demenzkranken ausrei-
chen wird. Wir sind dabei, dafür andere und bessere Lö-
sungen zu finden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNISS 90/ DIE GRÜNEN)


Durch Ihre Panikmache werden gerade die alten, pflege-
bedürftigen Menschen und ihre Familien verunsichert
und verängstigt werden, denen Sie vorgeblich helfen
wollen. Aber das war auch schon bei Ihrer Rentenkam-
pagne so zu beobachten; darin haben Sie Übung.

Ich erinnere Sie daran, dass es in der Kohl-Regierung
1997 sogar Überlegungen gegeben hat, der Pflegeversi-
cherung einmal eben 4,5 Milliarden DM zu entziehen.
Die F.D.P., für die ein jeder seines Glückes Schmied ist,
wollte den Beitragssatz senken und hätte damit langfris-
tig enorme Ausfälle in der Größenordnung von 3,6 Mil-
liarden zu Lasten der Pflegekasse zu verantworten ge-
habt.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Sie haben nichts verstanden!)


Hier aber geht es um eine Veränderung in der Bei-
tragsbemessung, die – das will ich Ihnen gerne zugeste-
hen – auch uns schmerzt,


(Ulf Fink [CDU/CSU]: Aha!)

aber als Beitrag zur Konsolidierung des Haushaltes un-
umgänglich war. Nicht zulässig ist jedoch, diese
400 Millionen DM als jährlichen Einnahmeausfall hoch-
zurechnen.


(Ulf Fink [CDU/CSU]: Linke Tasche, rechte Tasche!)


Diesen Fehler machen Sie. Zum einen wird auf Jahre
hinaus bei einem Beitragssatz von derzeit 1,7 Prozent
trotz dieser Einnahmeverluste ein Mittelbestand von
mehr als 8 Milliarden DM in der Pflegekasse sein. Zum

Eva-Maria Kors






(A)



(B)



(C)



(D)


anderen gehen wir davon aus, dass die gesamtwirtschaft-
liche Entwicklung und unsere aktive Arbeitsmarktpolitik
dafür sorgen werden,


(Ulf Fink [CDU/CSU]: Arme Pflegeversicherer!)


dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen – das kann man
jetzt schon beobachten – kontinuierlich zurückgeht und
durch mehr Beschäftigung auch mehr Geld in die Pfle-
gekasse kommt.


(Beifall bei der SPD – Ulf Fink [CDU/CSU]: Sich selber reich rechnen!)


Natürlich werden auch wir die demographische Ent-
wicklung nicht aus den Augen lassen. Das haben wir
hier immer erklärt. Natürlich wird auch der finanzielle
Spielraum bei Leistungsverbesserungen begrenzt sein.
Aber daraus eine Gefahr für die soziale Lage alter pfle-
gebedürftiger Menschen zu konstruieren, ist schon ein
starkes Stück Angstkampagne. Daraus resultieren dann
auch von Ihnen so gern zitierte irreführende Pressemel-
dungen wie zum Beispiel die im „Focus“, wo unter der
Überschrift „Vom Milliarden-Überschuss in die roten
Zahlen“ ein völlig falsches Bild gezeichnet wird.


(Ulf Fink [CDU/CSU]: Nein, das ist die Wahrheit!)


Bei dieser Gelegenheit abschließend noch der Hin-
weis, dass wir es waren, die in der 14. Legislaturperiode
für Änderungen und Klarstellungen von leistungsrechtli-
chen Vorschriften in der Pflegeversicherung gesorgt ha-
ben, die den Pflegebedürftigen und ihren Familien nun
wirklich zugute kommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dirk Niebel [F.D.P.]: Das haben wir doch mit beschlossen!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408410200
Jetzt hat Herr
Kollege Zöller das Wort.


(Ulf Fink [CDU/CSU]: Jetzt wird es besser!)



Wolfgang Zöller (CSU):
Rede ID: ID1408410300
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eines wird
hier, wie ich glaube, übersehen. Warum diskutieren wir
heute über die Pflegeversicherung? Rot-Grün hat die
Einnahmeseite der Pflegeversicherung drastisch ver-
schlechtert. Das müssen Sie einfach zur Kenntnis neh-
men.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

In der Koalitionsvereinbarung hat Rot-Grün festge-

legt, im Rahmen der Begutachtung zur Feststellung der
Pflegebedürftigkeit insbesondere im Hinblick auf den
Betreuungs- und Beaufsichtigungsbedarf bei demenz-
kranken Menschen eine Verbesserung zu erreichen.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Das kommt auch, Herr Zöller! Sie werden sich wundern!)


Ebenfalls sollte die Bildung eines Kapitalstocks in der
Pflegeversicherung angestrebt werden. Bis dahin sind
wir einer Meinung. Beim 4. Änderungsgesetz wurde je-
doch weder etwas für Demenzkranke noch für die Ein-
führung eines Kapitalstocks getan.

Demgegenüber hatten die Bundesländer Bayern, Ba-
den-Württemberg und Sachsen, noch bevor Sie Ihren
Gesetzentwurf eingebracht hatten, eine Initiative im
Bundesrat ergriffen: Mit dem so genannten Pflegezu-
kunftssicherungsgesetz sollten unter anderem die Bil-
dung des Kapitalstocks und eine bessere Absicherung
für Demenzkranke erreicht werden. Unsere damalige
Gesetzesinitiative wurde aber schon im Frühjahr 1999
bei den seinerzeit bestehenden Mehrheitsverhältnissen
im Bundesrat von Ihnen abgelehnt. Auch Folgendes ist
wahr: Als bei der Beratung im Gesundheitsausschuss
diese Thematik von uns wieder aufgegriffen wurde,
stimmte Rot-Grün dagegen.

Dass Sie diese Vorschläge abgelehnt haben, war für
die Betroffenen bestimmt sehr bedauerlich. Aber Ihre
Begründung für die Ablehnung dieser Vorschläge ist
mehr als ärgerlich. Sie haben nämlich damals diese Vor-
schläge nicht aus fachlichen, sondern aus rein finanziel-
len Gründen abgelehnt.


(Ulf Fink [CDU/CSU]: So war das!)

Im Ausschuss hieß es, diese rund 500 Millionen DM für
Demenzkranke seien nicht finanzierbar.

Nun bedient sich die gleiche Bundesregierung scham-
los bei der Pflegeversicherung, indem sie ihr die rund
500 Millionen DM zugunsten der Bundesanstalt für Ar-
beit entzieht. Das ist es, was wir Ihnen vorwerfen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir werfen Ihnen nicht vor, dass Sie nichts getan haben,
sondern wir werfen Ihnen Ihre Begründung vor. Sie ist
einfach nicht ehrlich.

Damit nicht genug: Das nächste selbst gemachte
Loch zeichnet sich schon ab; es ist vorprogrammiert.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Wo denn?)

– Ich werde Ihnen diese Frage beantworten. – Wenn die
Aussagen der gesetzlichen Krankenversicherungen
stimmen, dass die von Rot-Grün beschlossene Kürzung
der Rentenerhöhung in den nächsten beiden Jahren einen
Einnahmeverlust der GKV von rund 2,2 Milliarden DM
bedeutet, dann muss es analog dazu in der Pflegeversi-
cherung zu einem Fehlbetrag in dreistelliger Millionen-
höhe kommen. Das ist das nächste von Ihnen selbst ge-
machte Loch. Sie verschlechtern die Einnahmeseite und
wundern sich dann, dass für die notwendigen Maßnah-
men plötzlich kein Geld mehr da sein soll.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Re-

gierung, ich muss Ihnen sagen: Ihre unredlichen Wahl-
versprechungen in diesem Zusammenhang holen Sie ein.

Marga Elser






(A)



(B)



(C)



(D)


Auch Rot-Grün wird erkennen müssen: Mit weniger
Geld kann man den Menschen nicht mehr versprechen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Wenn wir die Schulden nicht gehabt hätten!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408410400
Für die Bun-
desregierung erhält jetzt die Staatssekretärin Christa
Nickels das Wort.

C
Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408410500
Frau Präsidentin! Sehr ge-
ehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal
möchte ich auf das eingehen, was Herr Fink, der für sei-
ne Fraktion immer der zuständige Mann für den Bereich
Pflegeversicherung war, gesagt hat.

Herr Fink, es ist wirklich ein Jammer mit der Herz-
Jesu-Fraktion der CDU/CSU. Nachdem Ihre Vorschläge
nach 16 Jahren Regierung Kohl auf dem Altar der Koali-
tionsraison zugunsten der F.D.P. geopfert worden sind,
haben Sie heute noch nicht einmal die richtigen Zahlen
im Kopf. Ich möchte zunächst ein paar Zahlen klarstel-
len.

Herr Fink, Sie haben erstens gesagt, im Jahr 1999
hätte die Bundesregierung der Pflegeversicherung 400
Millionen DM entzogen.


(Ulf Fink [CDU/CSU]: Das habe ich nicht gesagt!)


– Das haben Sie gesagt. Sie können es im Protokoll
nachlesen. – In diesem Punkt sind die Gäule mit Ihnen
durchgegangen. Diese Aussage ist völlig falsch; so ist es
nicht gewesen. Die Einsparung gilt nämlich erst ab die-
sem Jahr; sie ist ein Beitrag zur allgemeinen Konsolidie-
rung. Es handelt sich nicht um eine sadistische Grau-
samkeit. Auch das wissen Sie. Die alte Bundesregierung
hat uns einen riesigen Schuldenberg hinterlassen. So ha-
ben Bund und Länder insgesamt 1500 Milliarden DM
Schulden. Es müssen über 80 Milliarden DM an Zinsen
und Tilgung aufgebracht werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU – Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/CSU]: Das ist ja peinlich!)


– Frau Rönsch, schreien Sie doch nicht so! Sonst legen
Sie immer so viel Wert auf gute Manieren.

Es ist so, dass die Sozialversicherungssysteme lang-
fristig in die Knie gehen würden, wenn diese Schulden
nicht abgebaut werden. Unserem Hause hat diese Maß-
nahme weh getan. Aber es war notwendig, dass wir die-
sen angemessen Beitrag leisten mussten. Wenn Sie noch
nicht einmal die Jahreszahlen auseinander halten kön-
nen, Herr Fink, dann muss ich feststellen, dass Sie dem
Ernst der Debatte nicht angemessen diskutieren.

Zum zweiten Punkt, den Sie nicht richtig vorgetragen
haben. Sie sind davon ausgegangen, dass es Defizite im
letzten Jahr gegeben hat. Sie vergessen aber – wie Herr
Parr richtig sagte, haben Sie schließlich die ordnungspo-

litischen Säulen der Pflegeversicherung mit erarbei-
tet –, dass die Überschüsse der Einnahmen der Pflege-
versicherung von 1995 bis 1998 in jedem Jahr zu-
rückgegangen sind. Diese Entwicklung ist doch nach ei-
ner Aufwuchsphase normal.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)

1998 hatten wir 250 Millionen DM Überschuss. Im

Jahr davor waren es noch 1,6 Milliarden DM. Es war je-
dem klar, dass in dem Maße, wie die Betroffenen – wie
gewünscht – diese Pflegeversicherung in Anspruch
nehmen, die Überschüsse zurückgehen.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Das ist nicht das Thema!)


– Sie dürfen hier keine Lügen verbreiten; das ist das
Thema. Sie dürfen nicht die Debatte um die Pflegeversi-
cherung dazu missbrauchen, um vom Spendensumpf ab-
zulenken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU – Hannelore Rönsch [CDU/CSU]: „Lügen“ nehmen Sie sofort zurück!)


Trotzdem haben wir im letzten Jahr, was wir vonsei-
ten der Bundesregierung begrüßen, gemeinsam vier
praktische Punkte umgesetzt – Herr Zöller beklagt sie
jetzt, weil sie ihm nicht weit genug gehen –, die für die
Pflegeversicherung wichtig sind und die wir eigentlich
alle zusammen schon in der vorletzten Legislaturperiode
umsetzen wollten, was aber an der F.D.P. gescheitert ist.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Haben wir mit zugestimmt!)


Das waren 250 Millionen DM im letzten Jahr.

(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Da haben Sie doch zugestimmt!)


Das wollten wir alle zusammen, und das war richtig gut
eingesetztes Geld. Man kann nicht einerseits sagen:
„Das hätten Sie nicht machen sollen“, und andererseits
wie Herr Zöller noch viel mehr verlangen.

Jetzt bin ich beim nächsten Punkt, bei Herrn Zöller.
Herr Zöller, Sie werfen der Bundesregierung vor, dass
die im Koalitionsvertrag angestrebte Verbesserung der
Situation der Dementen nicht eingetreten sei. Wir arbei-
ten intensiv daran, müssen uns aber innerhalb der ord-
nungspolitischen Säulen des vorgegebenen Pflegeversi-
cherungssystems bewegen. Das kann man nicht einfach
mit einem Fingerschnipp aus den Angeln heben. Wir ar-
beiten intensiv daran und Sie werden in diesem Jahr et-
was davon hören.

Der Antrag aus Bayern, den Sie als beispielhaft vor-
stellen, war überhaupt nicht solide durchgerechnet. Ich
habe ihn mir selber vorgenommen, weil wir ihn auch im
Gesundheitsausschuss beraten haben. Bayern ist von
Überschüssen und Reserven in Höhe von 12 Milliarden
DM ausgegangen. Das war um knapp 3 Milliarden DM
zu hoch geschätzt. Bayern wollte beides: die Einbe-
ziehung der Dementen und den Kapitalstock. Das kann
nicht innerhalb der ordnungspolitischen Säulen der Pfle-
geversicherung geleistet werden, die von Ihrer Regie-

Wolfgang Zöller






(A)



(B)



(C)



(D)


rung, von Herrn Blüm, nie als Vollabsicherung, sondern
als eine Teilfinanzierung der Pflege gedacht war, unter
Festlegung eines Beitragssatzes von 1,7 Prozent, wobei
man wusste, dass dies ein begrenzter Beitrag ist. Bayern
wollte beides. Ich kann Ihnen gern die Ausschussdruck-
sache vorlegen. Es sind Milliardensummen, die dafür
nötig wären.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: 500 Millionen DM!)


– Das ist nicht richtig, Herr Zöller. Ich zeige Ihnen noch
einmal die Ausschussdrucksache. Bayern hat die Reser-
ven um 3 Milliarden DM nach oben gerechnet und die
Ausgaben in einer riesengroßen Höhe unterschätzt. Das
ist unsolide und ist nicht richtig. Man darf pflegebedürf-
tigen Menschen keinen Rosengarten versprechen, wenn
man ihn nicht schaffen kann. Und man darf sie auch
nicht verunsichern, wenn die Sicherheit der Pflege ge-
geben ist. Wenn Bayern einen solchen Antrag vorlegt,
ist das Populismus, ein Spiel auf dem Rücken der zu
Pflegenden, und das machen wir nicht mit. Wir gehen in
aller Ruhe daran. Ich finde, das, was Sie hier veranstal-
ten, nicht richtig.

Jetzt möchte ich zu einigen Punkten der aktuellen
Diskussion zurückkommen. Meine Kolleginnen haben
schon darauf hingewiesen, dass wir das Zahlenspiel, das
Sie hier veranstalten, schon von der Aktuellen Stunde
vom 9. September und von der Fragestunde am 4. No-
vember kennen, und wir haben es im Gesundheits- und
im Haushaltsausschuss mit im Wesentlichen gleichen
Zahlen erlebt.

Dazu muss man noch einiges sagen. Sie nehmen sich
hier immer die Angaben des Bundesversicherungsamtes
in der Haushaltsausschussanhörung vor. Dabei ist in der
Öffentlichkeit nie gesagt worden, dass es sich bei der
Einschätzung der Finanzentwicklung der Pflegeversi-
cherung um eine Bandbreite bezüglich der zu erwarten-
den Einnahmen handelt. Das heißt, man hat eine Band-
breite, die sich zwischen ganz pessimistischen Schät-
zungen und optimistischen Schätzungen bewegt, die
aber nicht irgendwo im Kaffeesatz vorgefunden, sondern
aufgrund der Hochrechnung von Daten ermittelt worden
ist. Wir als Bundesregierung bewegen uns nicht auf der
ganz pessimistischen, auch nicht auf der ganz optimisti-
schen, sondern auf der mittelfristigen Finanzplanungs-
schiene und auch auf der Grundlage des Rentenversiche-
rungsberichts 1999.


(Ulf Fink [CDU/CSU]: Die stimmt erwiesenermaßen nicht!)


Von diesem Zahlentableau ausgehend kommen wir
zu dem Ergebnis, dass aufgrund der erwarteten Ein-
kommensentwicklung ab Mitte dieses Jahrzehnts sich
wieder Überschüsse in der Pflegeversicherung einstellen
können,


(Ulf Fink [CDU/CSU]: Nur ist dann die Pflegeversicherung pleite!)


dass wir bis dahin einen Rückgang haben, weil die Aus-
gaben die Einnahmen übersteigen. Allerdings gehen wir

davon aus – das sollten auch Sie sagen –, dass zu kei-
nem einzigen Zeitpunkt die Liquidität der Pflegeversi-
cherung eingeschränkt wird oder die Versorgung der zu
Pflegenden zur Disposition steht. So etwas dürfen Sie
auch nicht suggerieren. Das ist ein übles Spiel mit Men-
schen, die sich nicht wehren können und die Sie verun-
sichern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ulf Fink [CDU/CSU]: Das Bundesversicherungsamt sagt das für das Jahr 2002! Nicht wir, sondern das Bundesversicherungsamt sagt das!)


Wir gehen nach der mittelfristigen Finanzplanung da-
von aus, dass der Mittelbestand der Pflegeversicherung
nicht unter 8 Milliarden DM absinkt und die vorge-
schriebene Mindestreserve von rund 4 Milliarden DM
erhalten bleibt.

Nun zu unseren Bemühungen, hier etwas zu verbes-
sern. Sie wissen, dass wir zur Verbesserung der Situati-
on der zu Pflegenden und vor allem auch der Dementen
in zwei Häusern, im Ministerium von Frau Bergmann
und im Ministerium von Frau Fischer, also Senioren und
Gesundheit, zeitgleich eine Novellierung des Heimge-
setzes und ein Qualitätssicherungsgesetz erarbeiten, das
in seinen Anlagen mit dazu beiträgt – –


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Dazu brauchen Sie aber Geld!)


– Man kann auch über Qualitätssicherung, über be-
stimmte Regelungen eine Menge tun, um die Betroffe-
nen besser zu stellen. Das wird im Frühjahr geschehen.


(Heinrich-Wilhelm Rönsöhr [CDU/CSU]: Welches Frühjahr?)


Der zweite Punkt ist: Wir sind dabei, zu prüfen, wie
wir im Rahmen der vorhandenen Mittel in der Situation
des riesengroßen Schuldenbergs, den ich geschildert ha-
be, die Situation der Dementen verbessern können. Da-
mit muss man sorgsam umgehen; das ist ein schwieriges
Geschäft.

Herr Fink, auch Sie wussten das einmal. Wahrschein-
lich wissen Sie es immer noch. Nur stehen Sie nicht
mehr dazu. Sie machen jetzt in Populismus und stellen
Forderungen auf, die Sie unter Kohl selbst dann nicht
gestellt hätten, wenn Sie es gedurft hätten. Wir machen
das nicht. Wir gehen damit solide um. Es werden Vor-
schläge kommen.

Ob auf ganz lange Sicht die ordnungspolitischen Säu-
len der Pflegeversicherung, wie Herr Parr gesagt hat,
ausreichen, das wird man beim langfristigen Konzept
diskutieren müssen. Allerdings kann ich Ihnen, Herr
Parr, eines schon jetzt sagen: Die Vorstellungen, die Sie
in den Raum stellen, finden nicht die Zustimmung dieser
Regierung, weil sie zu Lasten der Schwachen gehen.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Uns ist die Zustimmung der Menschen draußen wichtiger als die Zustimmung dieser Regierung!)


Das ist nicht unsere Politik.
Danke.

Parl. Staatssekretärin Christa Nickels






(A)



(B)



(C)



(D)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408410600
Das Wort hat nun
der Kollege Gerald Weiß, CDU/CSU-Fraktion.

Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU): Frau Präsi-
dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau
Nickels! „Wir arbeiten am Problem“, „Wir sind dabei zu
prüfen“, „Wir werden demnächst“ – ich habe den Ein-
druck, dass die rot-grüne Koalition auch bei der Pflege-
versicherung entnervend konzeptionslos ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Keine einzige konkrete Festlegung! Wolkenschieberei-
en! Sie sagen nicht, wie Sie die Versprechungen erfüllen
wollen, die in Ihrem Koalitionsvertrag stehen. Vielmehr
erschweren Sie die Erfüllung dieser Versprechungen
gravierend. Es ist schon eine Ironie des Schicksals, dass
zum Beispiel der sehr beachtenswerte Entwurf Bayerns
und Baden-Württembergs im Bundesrat zur Pflegeleis-
tungsverbesserung für Demenzkranke etwa denselben
Umfang hatte, nämlich 500 Millionen DM, wie das, was
Sie jetzt der Pflegeversicherung durch brutalen Eingriff
abknapsen. Sie kämen sehr viel weiter, wenn Sie mit
diesem Geld gearbeitet hätten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie sprechen von Zahlenspielereien. Frau Knoche be-

stritt die Aktualität der Stunde. Frau Elser sprach von
unnötiger Debatte. – Aktueller kann sie doch nicht sein.
Die Horrorzahlen des Bundesversicherungsamtes sind in
diesen Tagen über uns gekommen und haben das bestä-
tigt, was wir im Herbst vergangenen Jahres bereits zum
Gegenstand einer ersten Debatte gemacht hatten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist doch eher schlimmer als wir damals gesagt ha-

ben. Im vergangenen Jahr hatten wir, wie, glaube ich,
seit heute feststeht, 74 Millionen DM Defizit in der
Pflegeversicherung. Für das nächste Jahr sagt eine vor-
sichtige Prognose aus, dass Verluste von 850 Millionen
DM zu befürchten seien. Manche Befürchtungen gehen
auf 1 Milliarde DM und mehr.

Frau Nickels, gibt Ihnen die Heuchelei, mit der Sie an
dieses Pult getreten sind, nicht zu denken? Die Hälfte
des Verlustes haben Sie selber mit dem brutalen Griff
Eichels in die Pflegekasse bewirkt. Gibt Ihnen das nicht
zu denken?


(Beifall bei der CDU/CSU)

In Ihrer Politik passt nichts zusammen. Sie sagen, das

sei ein normaler Vorgang, das hätten Sie fiskalisch tun
müssen und die Absenkung der Bemessungsgrundlage
habe seine Ordnung. Das passt nicht zusammen. Bei der
Krankenversicherung ist es doch, nur weil der Druck
größer war, bei der Bemessung von 80 Prozent Lohn
brutto geblieben.


(Beifall bei der CDU)


Mir ist aufgefallen, dass in Ihrem Beitrag der pflegebe-
dürftige Mensch überhaupt nicht vorkam. Weil das
Klientel schwächer und politisch weniger wirksam ist,
haben Sie diesen Eingriff getan.

Nein, Sie sind nicht gerüstet für das, was kommt. Sie
sind nicht darauf vorbereitet, ernsthaft etwas für die
verwirrten und psychisch Kranken zu tun. Sie sind nicht
auf die gewaltigen Verschiebungen im Altersaufbau der
Bevölkerung vorbereitet. Denn daraus wird zwangsläu-
fig mehr Pflegebedarf erwachsen.

Sie sind nicht auf das Problem der Verschiebung des
Pflegebedarfs hin zu aufwendigeren Pflegeformen, zum
Beispiel von der Geldleistung in der ambulanten Pflege
zur Sachleistung, vorbereitet.

Wenn wir die Leistungssätze in der Pflege bei stei-
genden Kosten nicht anpassen, gibt es nur zwei denkba-
re Wirkungen: Entweder sinkt die Qualität der Pflege-
leistung, oder der Pflegebedürftige muss letztendlich als
derjenige, der betroffen ist, zahlen. In jedem Fall trifft es
den Schwachen, den Pflegebedürftigen. Zudem wird ei-
nes der Kernziele der Pflegeversicherung, nämlich die
Absicherung gegen die Abhängigkeit von der Sozialhil-
fe, zunehmend verletzt.

Nein, all das, was die Vorgängerregierung Ihnen hin-
terlassen hat, gefährden Sie durch Nichtstun, durch in-
konsistentes Handeln. Deshalb ist es in dieser Debatte
eine besondere Gemeinheit, wenn von Erblast gespro-
chen wird.

Ich halte fest: CDU/CSU und F.D.P. haben Ihnen ei-
ne stabile Pflegekasse übergeben,


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

mit Überschüssen und Rücklagen in Höhe von über
9 Milliarden DM. Das ist übrigens nicht vom Himmel
gefallen; dem lag ein kluges Gesetz zugrunde. Norbert
Blüm hat mit diesem Gesetz ganz sicher Sozialgeschich-
te gemacht: mit dem stufenweisen Aufbau von Leistun-
gen, mit Preissystem statt Selbstkostendeckung –


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408410700
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist begrenzt. Wir befinden uns in einer Aktuel-
len Stunde.

Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU): – ich
komme zum Schluss –, mit einem klar definierten Leis-
tungsgefüge, mit Markt und Wettbewerb statt über-
zogener Staatsplanung. Das waren die klugen Bausteine
eines klugen vorsorgenden Gesetzes. Rot-Grün aber –
das muss man nach dem Stand dieser Debatte sagen –
steht für Problemverschärfung statt Problemlösung, steht
für Ratlosigkeit statt Konzept.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408410800
Jetzt erteile ich der
Kollegin Barbara Imhof, SPD-Fraktion, das Wort.

Parl. Staatssekretärin Christa Nickels






(A)



(B)



(C)



(D)



Barbara Imhof (SPD):
Rede ID: ID1408410900
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! In Richtung CDU/CSU sage ich
ein freundliches Grüezi.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

– Das war auf die Wette bezogen.

Ich denke, dass wir uns hier im Haus alle darüber ei-
nig sind,


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Frau Rönsch kommt noch!)


dass wir eine bedarfsgerechte, humane und aktivierende
Pflegeversorgung und Betreuung brauchen und dass wir
die Pflegequalität gesichert und weiterentwickelt wissen
wollen.


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Glauben Sie selbst daran?)


Dass Sie jetzt aber, meine Damen und Herren auf der
rechten Seite, anhand der hinlänglich genannten Zahlen
ein regelrechtes Horrorszenario entwickeln wollen, dazu
besteht nun wirklich kein Grund. Es ist allerdings zu be-
fürchten, dass es Ihnen hiermit gelungen ist, die Betrof-
fenen einmal mehr zu verunsichern.

Halten wir uns doch lieber an die Fakten! Mit dem
4. SGB-XI-Änderungsgesetz haben wir eine ganze Rei-
he von Verbesserungen auf den Weg gebracht. Ich nen-
ne vor allem die Änderungen bei der Tages- und Nacht-
pflege, den Pflichtpflegeeinsätzen und der Urlaubs- und
der Verhinderungspflege.


(Beifall bei der SPD – Detlef Parr [F.D.P.]: Gemeinsam!)


Von der letzten Neuregelung haben übrigens insbeson-
dere die pflegenden Angehörigen von Demenzkranken
profitiert. Weitere Verbesserungen für Demenzkranke in
der Pflegeversicherung – es wurde gesagt, dass diese
hier nicht vorkommen; deshalb erwähne ich sie – stehen
als Prüfauftrag in unserer Koalitionsvereinbarung. Das
können Sie nachlesen.


(Detlef Parr [F.D.P.]: Das ist zu wenig!)

Ein Schwerpunkt unserer Arbeit in diesem Jahr wird

die Qualitätssicherung in der Pflege sein. Hier besteht
die Notwendigkeit – da sind wir uns bestimmt auch ei-
nig –, die jetzigen Regelungen noch zu verbessern.
Ebenso wird an der Novellierung des Heimgesetzes ge-
arbeitet, das mit dem Qualitätssicherungsgesetz abge-
stimmt werden muss. Schließlich werden wir auch die
Frage einer Heimpersonalverordnung noch in diesem
Jahr einer Lösung zuführen.


(Beifall bei der SPD)

Ich möchte den Punkt der Qualitätssicherung hervor-

heben. Die in der Vergangenheit bekannt gewordenen
Skandale über die Misshandlung und Vernachlässigung
alter Menschen sind Gott sei Dank kein Spiegelbild des
Alltags in den Pflegeheimen und bei den Pflegediensten.
Die meisten Pflegekräfte versuchen unter wirklich
schwierigen Rahmenbedingungen, mit großem persön-

lichen Einsatz die ihnen anvertrauten Pflegebedürftigen
zu betreuen.


(Beifall bei der SPD)

Eben weil sie die Verantwortung dafür tragen, dass sich
die Bewohner der Heime wohl fühlen, sind Qualitätssi-
cherung und -verbesserung zunächst einmal Aufgabe der
Heime selbst. Zum Glück setzt sich immer mehr die Er-
kenntnis durch, dass die Pflegebedürftigen und ihre An-
gehörigen im Mittelpunkt des Pflegewesens stehen müs-
sen.

Erfahrungen und Einschätzungen gerade dieser
Menschen sind ein ganz entscheidender Faktor für ein
funktionierendes Qualitätsmanagement. Der gute Ruf
eines Heimes bietet natürlich auch die Gewähr dafür,
dass seine Leistungen nachgefragt werden, und damit
dient es letztlich auch der Existenzsicherung dieser Häu-
ser.

Dies haben die Heime und Verbände vielfach schon
selbst erkannt und etliche eigene Initiativen ergriffen.
Auch die Erkenntnis, dass eine gute Beratung vor Auf-
nahme in eine Einrichtung diesen oft sehr schwierigen
Schritt für die Pflegebedürftigen und natürlich auch für
die Angehörigen leichter macht, setzt sich immer mehr
durch.

Ebenso hat die Diskussion um die Einführung von
Qualitätssiegeln gezeigt, dass das Bewusstsein zur Qua-
litätsverbesserung vor Ort geweckt worden ist. Aber zu
viele verschiedene Qualitätssiegel führen dazu, dass die
Menschen verunsichert sind, was nicht der Aufklärung
dient. Deshalb würden wir es begrüßen, wenn sich die
Beteiligten auf bundeseinheitliche Vergabekriterien ver-
ständigen könnten, damit der Verbraucher letztendlich
mit einem Siegel etwas anfangen kann.


(Beifall bei der SPD)

Eine verantwortliche Rolle bei der Qualitätssicherung

hat der Gesetzgeber auch den Pflegekassen und den Me-
dizinischen Diensten zugewiesen. Die Pflegekassen ha-
ben gemeinsam mit den Leistungserbringern die Quali-
tätsvereinbarungen nach § 80 SGB XI abgeschlossen.
Die dadurch angestoßene Diskussion ist wichtig zur
Weiterentwicklung der Qualität in allen Pflegeberei-
chen.

Damit Misshandlungen und Vernachlässigungen, die
ich schon angesprochen habe, gar nicht erst entstehen
können, müssen die Fragen nach der Verbesserung der
Aufsicht einer Lösung zugeführt werden.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Alles Ablenkungsmanöver!)


Neben dem Strafrecht als schärfste Sanktionsmöglich-
keit steht zum Schutz der Heimbewohner auch das
Heimgesetz zur Verfügung. Es ist in seiner ordnungs-
politischen Funktion zur Gefahrenabwehr ein wichtiges
Instrument. An der Novellierung dieses Gesetzes arbei-
ten wir ebenso. Darauf habe ich bereits hingewiesen.

Für mich ist klar, dass es ein Gesamtkonzept geben
muss, das die Änderungen auf dem Pflegemarkt berück-






(A)



(B)



(C)



(D)


sichtigt. Patienten- und Verbraucherschutz haben in un-
serer Politik einen hohen Stellenwert, der sich in diesem
Gesamtkonzept auch wiederfinden muss.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408411000
Das Wort hat nun
die Kollegin Hannelore Rönsch, CDU/CSU-Fraktion.


Hannelore Rönsch (CDU):
Rede ID: ID1408411100
Frau
Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Das Thema der Aktuellen Stunde ist die Pflegeversiche-
rung und die Haltung der Bundesregierung zu dieser
Pflegeversicherung. Darauf möchte ich wieder zurück-
kommen. Ich kann durchaus verstehen, dass Sie heute
darüber nicht sprechen wollen, denn meine Kolleginnen
und Kollegen haben Sie auf die Misere, die Sie veran-
lasst haben, schon hingewiesen. Aber wir werden noch
einige Punkte aufgreifen.

Wir wollten die Haltung der Bundesregierung zur ak-
tuellen Situation in der Pflegeversicherung hören. Wenn
ich zur Regierungsbank schaue und dort eine Staatssek-
retärin aus dem Gesundheitsministerium sitzen sehe, die
mit einer menschlichen Kälte mit Zahlen jongliert hat,
dann ist es mir um die Alten, um die Pflegebedürftigen,
um die Wehrlosen in unserer Gesellschaft bange.


(Beifall bei der CDU/CSU – Peter Dreßen [SPD]: Die Frage ist, wer von Ihnen beiden kälter ist! – Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Denken Sie an Ihre Zeit als Ministerin!)


Ich vermisse auf der Regierungsbank die Senioren-
ministerin. Ich muss davon ausgehen, dass das, was in
der Pflegeversicherung veranlasst wurde, im Kabinett
beraten wurde und dort auch einstimmig weitergegeben
worden ist.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Wer dafür zuständig war und das heute hier sagt!)


– Frau Kollegin, ich komme auch auf Ihren Beitrag noch
zu sprechen. – Ich frage mich: Wie kann es diese Senio-
renministerin überhaupt verantworten, ausgerechnet im
Jahr der Senioren in die Taschen oder – man muss sa-
gen – sehr oft in die Nachthemden der Pflegebedürftigen
zu greifen


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Frau Rönsch!)

und dort 400 Millionen DM zu nehmen, um die Haus-
haltskassen des Bundes zu füllen?


(Beifall bei der CDU/CSU – Regina SchmidtZadel [SPD]: Das ist ein Bundeszuschuss! Aber das kapiert sie nicht!)


Wir hatten schon einmal, Frau Kollegin, große Ge-
meinsamkeit; ich kann mich sehr gut daran erinnern. In
den Jahren 1995, 1996 und dann, zur Einführung der
Pflegeversicherung, 1997 waren wir uns einig: Wir

wollten den alten und älteren Menschen die Sorge neh-
men,


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Gucken Sie sich einmal Ihre Regierungszeit an! Der Kanzler hat Sie ständig gemaßregelt!)


dass sie, wenn sie im Alter pflegebedürftig werden, dann
nicht von der Sozialhilfe abhängig werden. Wir wollten
ihnen die Sorge nehmen, dass sie dann ihren Kindern
auf der Tasche liegen.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Und was haben Sie getan? – Zuruf des Abg. Peter Dreßen [SPD])


– Herr Kollege, das habe ich doch gerade gesagt. Wir
hatten große Gemeinsamkeiten. Wir waren 1995 und
1996 an dem einen oder anderen Punkt in der Diskussi-
on ein wenig uneinig, aber wir hatten das gemeinsame
Ziel, den alten Menschen die Angst vor der Pflegebe-
dürftigkeit im Alter zu nehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Regina SchmidtZadel [SPD]: Das haben wir jetzt auch!)


Wir haben 1997 die Pflegeversicherung eingeführt und
wir haben Ihnen die Rücklage überlassen – ich war in
Gedanken noch bei 8 Milliarden DM Rücklage, aber Ge-
rald Weiß hat von 9 Milliarden DM gesprochen –, damit
wir in der Zukunft dem demographischen Faktor gerecht
werden können


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Detlef Parr [F.D.P.])


und damit wir den Entwicklungen in unserer Gesell-
schaft, die wir gemeinsam gesehen haben, auch in der
Zukunft begegnen können und alte Pflegebedürftige
weiterhin versorgen können.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Daran hätten Sie 16 Jahre denken können! Aber Sie haben nichts getan! Ich würde mich schämen! – Gegenruf des Abg. Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: 8 Milliarden DM sind eine Menge Geld!)


Ich würde mir wünschen, dass Sie ein wenig mehr
Besonnenheit und vielleicht auch wieder ein wenig mehr
Wärme


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Ausgerechnet Sie!)


in die Arbeit und in die Diskussion bringen. Denn die al-
ten Menschen haben das, was jetzt hier veranstaltet
wird, nicht verdient.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Detlef Parr [F.D.P.])


Wir haben im vergangenen Jahr eine Große Anfrage
eingebracht, die unlängst von der Seniorenministerin be-
antwortet wurde. Jeder von uns kennt die demographi-
sche Entwicklung. Gerade in diesen Tagen sind die
jüngsten Zahlen bekannt geworden. Die Frauen werden
im Durchschnitt 80 Jahre, die Männer 74,3 Jahre, und

Barbara Imhof






(A)



(B)



(C)



(D)


das wird sich in der Zukunft weiter steigern, Gott sei
Dank.

Wir wissen aber auch – jetzt will ich einmal aus der
Antwort auf die Große Anfrage zitieren –, dass 5 bis
6 Prozent der über Fünfundsechzigjährigen unter mittel-
schwerer bis schwerer Demenz und 7 bis 8 Prozent unter
leichter Demenz leiden.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Ja, um die kümmern wir uns!)


Wenn Sie sich dann einmal anschauen, wie von For-
schern die Entwicklung in der Zukunft gesehen wird,
stellen Sie fest, dass damit gerechnet wird, dass Men-
schen zwischen 70 und 80 Jahren 2010 einen Anteil an
der Bevölkerung von 10 Prozent haben.


(Zuruf von der SPD)

– Ich habe darauf gewartet, dass das angesprochen wird,
Herr Kollege. Ich bin mein Arbeitsleben lang gewerk-
schaftlich organisiert, seit dem 18. Lebensjahr, und war
nur für zwei Jahre aus der Gewerkschaft ausgetreten, als
ich im Untersuchungsausschuss „Neue Heimat“ war; da
wollte ich ihnen keine Mark mehr geben.


(Lachen bei der SPD)

Aber ich musste es in diesem Wahlkampf zulassen, dass
mit 8 Millionen DM von meinen Beiträgen gegen mich
Wahlkampf gemacht wurde, auf eine sehr schmutzige
Art und Weise. Da wäre ich an Ihrer Stelle ausgespro-
chen ruhig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Susanne Kastner [SPD]: Wer schmutzigen Wahlkampf gemacht hat, ist heute in der Zeitung zu lesen! Das ist eine unglaubliche Behauptung! – Regina Schmidt-Zadel [SPD]: 19 Millionen DM aus der Schweiz!)


– Ich verstehe, dass Sie das aufregt. Aber ich möchte Sie
zum Abschluss noch einmal mahnen: Besinnen Sie sich
auf Ihre Koalitionsvereinbarung, die sich ja noch ganz
gut anhörte.


(Unruhe bei der SPD)

– Ich verstehe, dass Sie ablenken wollen; Sie haben al-
len Grund dazu, weil Sie sich an den armen, wehrlosen
alten Menschen vergreifen.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408411200
Sie sind über die
Zeit, Frau Kollegin.


Hannelore Rönsch (CDU):
Rede ID: ID1408411300

Kommen Sie mit uns wieder zu einem Stück Gemein-
samkeit wie bei der Rente! Auch dort waren Sie belehr-
bar. Lassen Sie die alten Menschen nicht im Stich! Wir
werden ihr Anwalt sein.


(Beifall bei der CDU/CSU – Barbara Imhof [SPD]: Eiszapfen auf zwei Beinen und spricht von Wärme!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408411400
Nun hat der Kollege
Dr. Martin Pfaff das Wort.


Prof. Dr. Martin Pfaff (SPD):
Rede ID: ID1408411500
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Verehrte Frau Rönsch, wir kön-
nen ja verstehen, dass die Devise „Angriff ist die
beste Verteidigung“, vor allem in einer schwierigen Si-
tuation, auch zum Taktieren führt. Aber was wir heute
von Ihnen, Frau Rönsch, und von den anderen gehört
haben – ich werde das noch einmal wiederholen –, geht
über das Zumutbare hinaus.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie haben nicht nur die Sorgen und Ängste der alten
Menschen geschürt, Sie haben an den Grundfesten des
Konsenses, der zur Pflegeversicherung führte, gerüttelt.


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Immer wenn Sie versagten, hat man die Sorgen und Ängste gespürt!)


Sie haben anderen in die Hände gespielt.
Ich sage es noch einmal: Die Probleme der Pflegever-

sicherung, der alten, pflegebedürftigen Menschen sind
viel zu ernst für solche billigen parteitaktischen Spiele.


(Beifall bei der SPD)

Frau Rönsch, ist Ihnen und übrigens auch dem ver-

ehrten Herrn Kollegen Fink, den ich sonst besonders
schätze, denn bewusst, wie verantwortungslos das heuti-
ge Vorgehen eigentlich ist? Betrachten Sie doch einmal
die Aussagen beispielsweise des Arbeitgeberpräsidenten
Hundt. Er sagte, es zeige sich an den sich abzeichnenden
Defiziten, dass die Einführung der umlagefinanzierten
Pflegeversicherung ein schwerer sozialpolitischer Fehler
gewesen sei.


(Detlef Parr [F.D.P.]: Sehr richtig!)

Auch die Pflegeversicherung müsse auf die Basissiche-
rung konzentriert werden.

Und haben Sie gehört, was der Herr Kollege Parr ge-
sagt hat? Ist Ihnen bewusst – ich sage das in Anfüh-
rungszeichen –, dass Sie mit Ihren Ausführungen hier
nicht nur schlafende Hunde wecken, sondern dass Sie
denen in die Hände spielen, die das System infrage stel-
len?


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Aber mit Ihnen kommen die Alten auf den Hund!)


Aber wenn Sie den Kapitalstock in diesen schwieri-
gen Zeiten aufbauen wollen, dann sagen Sie den Men-
schen doch auch, dass Sie ihnen eine Doppelbelastung
zumuten. Einmal sollen sie Beiträge zum Kapitalstock
zahlen, der irgendwann in einigen Jahrzehnten relevant
ist; andererseits sollen sie jetzt mit ihren Beiträgen für
die jetzt Pflegebedürftigen zahlen. Seien Sie ehrlich und
sagen Sie den Menschen, dass Sie ihnen eine solche
Doppelbelastung zumuten. Dann können wir weiterre-
den.

Hannelore Rönsch (Wiesbaden)







(A)



(B)



(C)



(D)



(Beifall bei der SPD)

Wir finden Ihr Vorgehen übrigens umso erstaunli-

cher, als wir die Pflegeversicherung gemeinsam verab-
schiedet und die Lücken gemeinsam zu verantworten
haben. Es wurde schon gesagt, dass wir in dieser Legis-
laturperiode schon einige dieser Lücken gemeinsam ent-
fernt haben. Und 250 Millionen DM tragen auch zu dem
angesprochenen Defizit bei.

Verehrte Frau Rönsch, ich würde Ihnen wirklich
empfehlen, das, was Sie gesagt haben, zurückzunehmen.
Wer hier im Deutschen Bundestag behauptet, diese
Bundesregierung greife in die Nachthemden der Pflege-
bedürftigen, um sich haushaltsmäßig zu sanieren, hat
nicht nur einen Irrweg begangen. Ich empfinde das als
eine Geschmacklosigkeit, die Sie unbedingt zurückneh-
men sollten.


(Beifall bei der SPD)

Wir wissen alle, dass beispielsweise die Qualitätssi-

cherung verbessert werden muss. Und sie wird verbes-
sert werden. Wir alle wissen, dass das Heimgesetz no-
velliert werden muss. Und es wird novelliert werden.
Wir alle wissen, dass die Problematik der Demenzkran-
ken aufgegriffen werden muss. Das ist in Arbeit. Und
wenn Sie hier schon im Brustton der Überzeugung reden
und sich als moralisch höher stehend präsentieren wol-
len, frage ich Sie: Was haben Sie denn in den 16 Jahren
Ihrer Regierungsverantwortung für die Demenzkranken
getan? Das möchte ich gern wissen. Darüber können Sie
hier sprechen. Eine Schuldenlast haben Sie uns hinter-
lassen.

Ich sage auch ganz offen, liebe Kolleginnen und Kol-
legen von der Opposition: Die 400 Millionen DM kön-
nen keinem Sozial- und Gesundheitspolitiker Freude be-
reiten. Natürlich nicht!


(Zuruf von der CDU/CSU: Weichen Sie nicht aus!)


– Ich weiche nicht aus! Aber die Wahrheit ist, dass seit
dem Zweiten Weltkrieg leider Verschiebebahnhöfe im-
mer wieder gang und gäbe waren. Ich nenne einige.

Beispiel 1: zweimalige Senkung des Rentenversiche-
rungsbeitrages durch Sie bei gleichzeitiger Anhebung
des Beitrags zur Bundesanstalt für Arbeit – Verschiebe-
bahnhof 1.

Zweitens. Absenkung der Reha-Leistungen der ge-
setzlichen Krankenversicherung mit Auswirkungen auf
einen anderen Bereich – Verschiebebahnhof 2.

Drittens. Ausgliederung der medizinischen Rehabili-
tation, Belastung der Pflegeversicherung – Verschiebe-
bahnhof 3.

Und was Sie im Zweiten Neuordnungsgesetz mit der
häuslichen Krankenpflege, mit der ambulanten Reha
machen wollten – ich könnte das fortsetzen –:
Verschiebebahnhof 4.

Das macht es nicht richtiger, wenn in der Not eine
Regierung dort hingreift, wo es etwas zu holen gibt.

Tatsache ist: Wir sind dabei, unter diesen schwierigen
Bedingungen das Heimgesetz zu novellieren. Ich kann
jetzt nicht ins Detail gehen. Wir sind dabei, die Quali-
tätssicherung zu verbessern, und wir sind dabei, auch für
die schweren Probleme der Demenzkranken etwas zu
tun.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Da bin ich einmal gespannt!)


Alle Prognosen, was die langfristige Entwicklung an-
geht, zeigen, dass bis 2015 der Beitragssatz bei absehba-
ren Entwicklungen unter 2 Prozent gehalten werden
kann, dass es nach den jetzigen Prognosen nach
2020/2030 schwieriger wird, aber dass es für eine Ver-
unsicherungskampagne der Art, wie Sie sie vorgestellt
haben, keinen sachlichen Grund gibt.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408411600
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

richts des Ausschusses für Arbeit und Sozialord-
nung (11. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Nationale Armuts- und Reichtumsberichter-
stattung

– zu dem Antrag der Fraktion der PDS
Regelmäßige Vorlage eines Berichts über die
Entwicklung von Armut und Reichtum in der
Bundesrepublik Deutschland
– zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit
Schnieber-Jastram, Wolfgang Mecklenburg,
Hans-Peter Repnik, Peter Weiß (Emmendingen)

und der Fraktion der CDU/CSU
Bekämpfung der „verdeckten Armut“ in
Deutschland
– Drucksachen 14/999, 14/1069, 14/1213,
14/2562 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Weiß (Emmendingen)


Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Kol-
lege Wolfgang Spanier, SPD-Fraktion.


Wolfgang Spanier (SPD):
Rede ID: ID1408411700
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wenn sich die Reihen auch
lichten, ist heute dennoch ein guter Tag, weil wir endlich
mit einer, wie ich denke, klaren parlamentarischen

Dr. Martin Pfaff






(A)



(B)



(C)



(D)


Mehrheit beschließen, dass ein nationaler Armuts- und
Reichtumsbericht hier in Auftrag gegeben wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS])


Wir folgen damit den Forderungen der nationalen
Armutskonferenz, der beiden Kirchen, der Gewerkschaf-
ten, der einschlägigen Wissenschaftler, die seit Jahren
fordern, dass wir hier endlich eine verlässliche empiri-
sche Grundlage für politisches Handeln haben müssen.


(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [PDS])

Wir folgen damit auch einem Versprechen der alten

Bundesregierung, das sie 1995 auf dem Weltsozialgipfel
gegeben hat, aber niemals umgesetzt hat.


(Kurt Bodewig [SPD]: So sind sie! – Erika Lotz [SPD]: So waren sie!)


Meine Damen und Herren, ich habe mich ein wenig
gewundert, warum Sie Nein sagen zum Reichtums- und
Armutsbericht. Ich habe mir noch einmal angeschaut,
welche Argumente Sie in der ersten Lesung hier im Par-
lament vorgebracht haben, um dieses Nein zu begrün-
den.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Wir bringen heute neue!)


Es waren nicht sehr viele Argumente, aber dennoch will
ich sie nennen und auf sie eingehen.

Da ist zunächst einmal der Verdacht, dort würden nur
„Papierberge, Datenfriedhöfe erzeugt, nur ein qualifi-
zierter Satz von Daten in der Verteilung von Armut und
Reichtum“. Das hängt letztlich vom Parlament ab. Wir
werden entscheiden, wie wir mit diesem nationalen Ar-
muts- und Reichtumsbericht umgehen. Wir werden ent-
scheiden, ob die Schlussfolgerungen, die Konsequenzen,
die dort vorgeschlagen werden, dann auch politisch um-
gesetzt werden.

Den gleichen Verdacht könnte man natürlich gegen
den Agrarbericht, gegen den Kinder- und Jugendbericht
usw. erheben. Ich glaube, dass das kein stichhaltiges Ar-
gument ist.

Ihr zweiter Punkt – er wurde, glaube ich, von Ihnen
genannt, Herr Weiß –: Eine wissenschaftlich exakte und
von allen geteilte Armutsdefinition lässt sich so leicht
nicht finden. Wie Recht Sie haben! Dennoch gibt es seit
Jahrzehnten in der Bundesrepublik eine etablierte Ar-
mutsforschung. Es lässt sich also sehr wohl wissen-
schaftlich-empirisch begründet etwas zu Armut und
Reichtum sagen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Welchen Armutsbegriff wollen Sie denn verwenden?)


Auch das ist, denke ich, ein Scheinargument, um das
Ganze zurückzuweisen.

Sie sagen weiter, es dürfe nicht nur ein Regierungsbe-
richt sein, es müsse auch ein Expertenbericht sein.


(Zuruf von der CDU: Das wäre auf jeden Fall besser!)


Bei näherem Hinsehen werden Sie feststellen, dass dies
gewährleistet ist.


(Zuruf von der CDU/CSU: Eben nicht!)

Selbstverständlich werden Experten an diesem Bericht
mitwirken.

Ein letztes Argument ist Ihre Alternative, ein Bericht
über verdeckte Armut. Zunächst einmal finde ich es er-
freulich, dass auch Sie die verdeckte Armut entdeckt ha-
ben. Ich kann mich sehr wohl noch daran erinnern, wie
Herr Seehofer, als wir noch im alten Parlament in Bonn
über die Große Anfrage zur Armut diskutiert haben, mit
Zwischenrufen gefragt hat: Was meinen Sie eigentlich
mit verdeckter Armut? Woher wissen Sie das über-
haupt? – Das kann ich Ihnen mit den Protokollen nach-
weisen. Sie haben also immerhin erkannt, dass es so et-
was gibt. Es gibt auch erste Untersuchungen, die letzt-
lich zwar nur Schätzungen sind, die aber zeigen, wel-
chen dramatischen Umfang das hat. Sie haben nach An-
gaben der nationalen Armutskonferenz selbst von zwei
Millionen Betroffenen gesprochen.

Etwas putzig sind die Argumente der F.D.P. Das
muss ich hier so sagen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Putzig?)

Sie sagen: Der Begriff Reichtum weckt Neid


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Ist doch so!)

und es geht um das Ausspähen, was für die Umvertei-
lungspolitik zur Verfügung steht. Vielleicht haben Sie
Angst um irgendwelche Kassen. Vielleicht haben Sie
Angst, dass jetzt eine neue Fluchtbewegung nach Liech-
tenstein entbrennt. Aber, meine Damen und Herren, ich
denke, das ist ein ganz und gar lächerliches Argument.
Der Gipfel des Ganzen ist, dass Sie uns vorwerfen, pa-
pier- und diskussionsverliebte Ideologen zu sein.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Ja und? Was wahr ist, ist wahr!)


Das sind Argumente

(Joachim Hörster [CDU/CSU]: Die zutreffend sind!)

– Herr Hörster, ich finde es erfreulich, dass Sie sich da-
zu zu Wort melden –, die so wenig stichhaltig sind, dass
unter dem Strich festzuhalten ist: Sie haben eben keine
Argumente, um Ihr Nein zu begründen. Letztlich geht es
Ihnen nur darum, nicht das Gesicht zu verlieren. Sie –
die alte Koalition, die alte Regierung – haben sich ve-
hement gegen einen solchen Bericht gewehrt, und dieser
Linie wollen Sie treu bleiben. Das ist eigentlich das, was
übrig bleibt.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Er spricht von putzig!)

Was ist das grundsätzlich Neue? Armut war bisher

immer ein typisches Thema der Opposition. Ich finde es
gut, dass es jetzt fester Bestandteil der politischen Pro-
grammatik der Parlamentsmehrheit und der Regierung
ist. Die defensive Strategie der alten Regierung in dieser
Frage – hier drücke ich mich sehr zurückhaltend aus –

Wolfgang Spanier






(A)



(B)



(C)



(D)


wird endlich aufgegeben. Diese Regierung und diese
Parlamentsmehrheit stellen sich der Verantwortung.

Armut und Reichtum werden endlich als eigenständi-
ge Fragestellungen angesehen und durch eine regelmä-
ßige differenzierte und wissenschaftlich fundierte Be-
richterstattung – dafür wird Sorge getragen – endlich
auf die notwendige Grundlage gestellt.

Diese Bundesregierung sieht ihre politische Verant-
wortung für diesen Bericht. Das ist wichtig. Es darf
nicht nur ein Expertenbericht sein. Die Beteiligung der
Fachreferate ist selbstverständlich. Die wissenschaftli-
che Untersuchung wird durch Wissenschaftler durchge-
führt, damit handelt es sich auch um einen Expertenbe-
richt. Die Beteiligung der nationalen Armutskonferenz,
der Kirchen, Wohlfahrtsverbände, der Gewerkschaften
und der Betroffenenorganisationen ist gewährleistet. Es
findet eine öffentliche Begleitung, eine öffentliche Dis-
kussion statt. Die Auftaktveranstaltung war – jeder, der
dabei war, wird es bezeugen – ein Erfolg und hat ge-
zeigt, wie sehr hier die Fachöffentlichkeit und die zu-
ständigen Organisationen interessiert sind und sich in
den Prozess einmischen.


(Beifall bei der SPD)

Die Armutsberichte des Deutschen Gewerkschafts-

bunds, des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands,
die Berichte der Caritas und der jetzt in Arbeit befindli-
che Bericht der Arbeiterwohlfahrt zur Kinderarmut ha-
ben ihre eigenen großen Verdienste. Sie haben immerhin
eine breitere Öffentlichkeit auf diese Thematik aufmerk-
sam gemacht. Es ist aber kein Zufall, dass diese Organi-
sationen zusätzlich den nationalen Armuts- und Reich-
tumsbericht der Bundesregierung gefordert haben. Weil
die Möglichkeiten der Berichte des DPWV und der
Caritas begrenzt waren, haben sie einen umfassenden
und methodisch reflektierten Armuts- und
Reichtumsbericht gefordert.

Ich führe noch einen Punkt an, der neu ist: Schluss-
folgerungen und Handlungsoptionen sind selbstver-
ständlich auch Teil dieses Berichts. Es liegt in unser al-
ler Verantwortung, die gewonnenen Erkenntnisse tat-
sächlich umzusetzen. Daran werden wir, die Regierung
und die Mehrheit dieses Parlaments, gemessen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schaue auf die
Uhr.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das ist sehr gut!)


– Das ist für Sie sicherlich erfreulich, das kann ich mir
vorstellen. – Lassen Sie mich abschließend noch etwas
Grundsätzliches sagen. Wir brauchen in unserem Land
eine Grundsatzdebatte über die Armut in einem reichen
Land. Wir brauchen auch eine Debatte über die Um-
bruchsarmut in den neuen Bundesländern. Beides gehört
zusammen.

Das hängt mit der Debatte über die Zukunft des So-
zialstaats zusammen. Wir müssen in diesem Parlament

über soziale Ungleichheit und darüber diskutieren, wie
viel an sozialer Ungleichheit wir zu akzeptieren bereit
sind. Wir müssen über soziale Gerechtigkeit und darüber
diskutieren, ob sie ausschließlich Chancengerechtigkeit
sein soll oder ob nicht auch die Verteilungsgerechtigkeit
eine wichtige Aufgabe des Parlaments ist.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Es geht hier wirklich nicht nur um einen Bericht,

sondern um grundlegende Wertvorstellungen unserer
Demokratie, um ihren inneren Zusammenhalt, deswegen
brauchen wir verlässliche empirische Grundlagen. Wir
müssen wegkommen von den Betroffenheitsritualen,
von den blinden Vorurteilen, von der Tabuisierung und
dem Schlagabtausch. Ich glaube, das ist dringend not-
wendig, damit wir in diesem Parlament eine aktive Poli-
tik zur Vermeidung von Armut machen können.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408411800
In die Richtung der
Kollegen der F.D.P. möchte ich feststellen, dass der Be-
griff „putzig“ durchaus parlamentarisch ist.

Nun hat der Kollege Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1408411900
Frau Prä-
sidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion beantragt eine Untersu-
chung – das ist schon von Herrn Spanier gesagt wor-
den – zu einem Thema, zu dem bislang mehr Vermutun-
gen denn handfeste Informationen vorliegen, nämlich
zur verdeckten Armut.

Gemeint ist jene Gruppe von Menschen, die bislang
in den vielen bereits existierenden Berichten ausgeblen-
det oder als nicht quantifizierbar behandelt wird.


(Kurt Bodewig [SPD]: Das ist doch schon ein Fortschritt! Aber warum diese Selbstbeschränkung?)


Es sind dies jene Mitbürgerinnen und Mitbürger, die
trotz eines bestehenden Rechtsanspruchs auf Sozialhilfe
ihre berechtigten Ansprüche gar nicht geltend machen.

Demjenigen, der Sozialhilfe bezieht – das ist die In-
tention unseres Bundessozialhilfegesetzes –, wird ein
menschenwürdiges Leben oberhalb des Existenzmi-
nimums garantiert. Bei jenen, die als verdeckt Arme aus
verschiedensten Gründen ihre Ansprüche gar nicht gel-
tend machen, besteht tatsächlich das Risiko einer exis-
tenziellen Gefährdung. Schätzungen gehen davon aus,
dass etwa zwei Millionen Menschen in Deutschland die
ihnen zustehende Unterstützung nicht beantragen. Be-
sonders gravierend ist, dass die so genannte verdeckte
Armut mit der Haushaltsgröße ansteigt und somit Kinder
darunter zu leiden haben.

Wissenschaftliche Untersuchungen werden zu diesem
Thema im Vergleich zum Thema der relativen Einkom-

Wolfgang Spanier






(A)



(B)



(C)



(D)


mensarmut kaum durchgeführt, und deshalb würde es
sich tatsächlich lohnen, hierzu einen Bericht in Auftrag
zu geben. Wer zielgerichtet politisch handeln will, wer
denjenigen, die tatsächlich Hilfe brauchen, helfen will,
der muss sich mit seinen Untersuchungen auf das Thema
konzentrieren, bei dem tatsächlich Forschung notwendig
ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Der von Rot-Grün beantragte Armuts- und Reich-

tumsbericht steht dagegen in der Gefahr, zusätzlich zu
den bestehenden Untersuchungen und Berichten noch
einmal ein weiteres Zahlengrab zu öffnen


(Konrad Gilges [SPD]: Sie wissen, dass das nicht so ist!)


oder eine Ansammlung sozialschwärmerischer Artikel
über Armut und Reichtum zu werden.


(Konrad Gilges [SPD]: Nehmen Sie doch mal von Ihrer Ideologie Abstand!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408412000
Herr Kollege, der
Kollege Grehn möchte eine Zwischenfrage stellen.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1408412100
Gut, bitte
sehr.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408412200
Bitte schön.


Dr. Klaus Grehn (PDS):
Rede ID: ID1408412300
Herr Kollege, mich würde
einmal interessieren, welche Unterschiede Sie eigentlich
zwischen versteckter Armut und offener Armut sehen,
und zwar aus Sicht der Betroffenen. Was glauben Sie,
wie sich die versteckt Armen im Unterschied zu den of-
fen Armen fühlen? Ist nicht vielmehr die versteckte Ar-
mut ein Teil der gesamten Armut in diesem Land?


(Konrad Gilges [SPD]: Es gibt versteckten Reichtum bei der CDU in Hessen! – Gegenruf von der CDU/CSU: Und im Kölschen Klüngel! –Dirk Niebel [F.D.P.]: Sind Sie eigentlich in den letzten Urlaub geflogen, Herr Gilges?)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1408412400
Herr
Grehn, Inhalt und Geist unseres Bundessozialhilfegeset-
zes, 1961 unter einer CDU-geführten Bundesregierung
eingeführt, ist es, jedem in Deutschland ein Leben zu ga-
rantieren, bei dem er nicht in existenzielle Armut fällt.
Das ist die Aufgabe des Bundessozialhilfegesetzes.


(Renate Rennebach [SPD]: Ihr habt sie doch reihenweise in die Armut getrieben!)


Trotz aller Kritik erfüllt dieses Bundessozialhilfegesetz
Gott sei Dank bis zum heutigen Tag diese Funktion.

Verdeckt arm und damit tatsächlich in der Gefahr, in
existenzielle Armut zu geraten, sind diejenigen Men-
schen unter uns, die ihre Ansprüche nach dem Bundes-
sozialhilfegesetz gar nicht geltend machen, die also un-
terhalb des relativen Existenzminimums, das durch die

Leistungen gemäß Bundessozialhilfegesetz garantiert
wird, leben müssen.


(Konrad Gilges [SPD]: Aber die Bedarfssätze sind doch eine willkürliche Festlegung! Das wissen Sie doch, Herr Kollege!)


Das nennt man verdeckt arm.

(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Dr. Klaus Grehn [PDS])

– Das war die Antwort.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408412500
Der Kollege Grehn
möchte noch eine Zusatzfrage stellen.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1408412600
Ja, bitte
schön.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408412700
Bitte.


Dr. Klaus Grehn (PDS):
Rede ID: ID1408412800
Ich sehe davon ab, dass
meine Frage unbefriedigend beantwortet worden ist.

Ist Ihnen bekannt, dass die Betroffenenorganisa-
tionen – insbesondere die Bundesarbeitsgemeinschaft
der Arbeitsloseninitiativen, aber auch die Bun-
desarbeitsgemeinschaft der Obdachlosen – davon ausge-
hen, dass ein großer Teil der Sozialhilfeempfänger, hin-
sichtlich derer Sie davon reden, dass Sie Armut verhin-
dern, tatsächlich Arme sind, oder sind Sie der Meinung,
dass die Obdachlosen nicht unter die Armen fallen?


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1408412900
Mit Ihrer
Frage zielen Sie auf die Definition. Ich wiederhole die
Definition, die wir mit dem Bundessozialhilfegesetz
entwickelt haben: Mit den Leistungen der Sozialhilfe
verhindern wir, dass Menschen unterhalb des Existenz-
minimums leben müssen. Entschuldigung, wenn Sie
mich so anschauen, dann muss ich Ihnen sagen: Auch
das Bundesverfassungsgericht hat die Sozialhilfe als
Existenzminimumsgrenze definiert. Nehmen Sie zur
Kenntnis, dass das höchste deutsche Gericht diese Defi-
nition festgelegt hat! Von nichts anderem sprechen wir.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408413000
Nun möchte der
Kollege Spanier eine Zwischenfrage stellen.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1408413100
Ja.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408413200
Herr Kollege Spa-
nier, bitte sehr. Danach lasse ich keine Zwischenfragen
mehr zu, damit wir in der Tagesordnung fortfahren kön-
nen.


Wolfgang Spanier (SPD):
Rede ID: ID1408413300
Herr Kollege Weiß, ich
verstehe, dass Sie hier vehement für Ihren Alternativ-
vorschlag, einen Bericht über verdeckte Armut, eintre-
ten. Ich gehe davon aus, dass auch Sie in die Konzept-
und Umsetzungsstudie des zuständigen Ministeriums

Peter Weiß (Emmendingen)







(A)



(B)



(C)



(D)


hineingeschaut haben. Wenn Sie das getan haben, dann
dürfte Ihnen nicht entgangen sein, dass es nicht nur um
die Erfassung von Einkommensarmut, sondern auch um
die Berücksichtigung anderer Lebenslagen geht, zum
Beispiel um Unterversorgung im Bereich des Wohnens
oder der Gesundheit, und dass selbstverständlich auch
die verdeckte Armut, das heißt, die Situation der Men-
schen, die Sozialhilfe – aus welchen Gründen auch im-
mer – nicht in Anspruch nehmen, obwohl sie anspruchs-
berechtigt sind, und deren Zahl offensichtlich beschä-
mend groß ist, in diesem Bericht dargestellt wird. Das ist
ausdrücklich verankert. Ich frage Sie: Was macht Ihnen
eigentlich Sorge? Besorgt es Sie, dass der Reichtum und
die einzelnen Lebenslagen mit berücksichtigt werden?
Das ist doch Konsens in der Armutsforschung. Die
Wohlfahrtsverbände und gerade auch die Caritas, auf die
ich besonders hinweise, stimmen schon seit Jahren darin
überein, dass dies alles dringend im Zusammenhang
aufgearbeitet werden muss.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1408413400
Herr Spa-
nier, ich bin mit Ihnen einer Meinung, dass für die Auf-
arbeitung des Themas verdeckte Armut – gerade weil es
darüber kein Zahlenmaterial und keine Statistiken gibt –
Lebenslagenforschung und Lebenslagenuntersuchungen
notwendige Instrumente sind, um einen solchen von uns
beantragten Bericht über die verdeckte Armut zu erstel-
len. Ich wiederhole noch einmal das, was ich schon aus-
geführt habe: Wir von der CDU/CSU-Fraktion sind der
Auffassung, dass wir uns dann, wenn wir eine Untersu-
chung in Auftrag geben, auf das Thema konzentrieren
sollten – das ist die verdeckte Armut –, bei dem tatsäch-
lich politischer Handlungsbedarf besteht. Deswegen ha-
ben wir unseren Antrag gestellt.


(Dr. Barbara Höll [PDS]: Das ist richtig peinlich, was Sie erzählen!)


Vielleicht geht es Rot-Grün auch gar nicht darum,
mithilfe des Reichtums- und Armutsberichts genauere
Fakten und Daten zu erheben, sondern darum, mit viel
Papier die Diskussion über ihr eigenes Handeln bzw.
Nichthandeln zu vernebeln;


(Konrad Gilges [SPD]: Das glauben Sie doch selbst nicht!)


denn die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land mes-
sen die Politik der Bundesregierung zu Recht daran, was
sie wirklich tut, und nicht daran, welche Berichte sie
schreiben lässt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Was haben Sie von Rot-Grün in der Zeit, in der Sie

regieren, eigentlich getan, was den Namen Armutsbe-
kämpfung verdienen würde?


(Zuruf von der CDU/CSU: Steuern erhöht! Ökosteuer!)


Sie haben die so genannte Ökosteuer eingeführt. Schon
der Name ist ein Betrug. Jedes Jahr tritt eine neue Stufe
mit Steuererhöhungen in Kraft. Jede dieser Stufen geht
einseitig zulasten der Sozialhilfeempfänger. Ein Sozial-
hilfeempfänger hat keinen Ausgleich durch geringere

Rentenversicherungsbeiträge oder durch eine allgemei-
nen Steuerentlastung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


Rot-Grün hat die so genannte originäre Arbeitslo-
senhilfe abgeschafft. Sie schicken Zigtausend Menschen
zusätzlich in die Sozialhilfe.


(Zuruf von der CDU/CSU: Rentenlüge! – Widerspruch bei der SPD)


– Ich verstehe schon, dass Sie erregt sind, wenn man Ih-
nen vor Augen führt, was Sie einmal beschlossen haben
und dann tatsächlich getan haben.

Rot-Grün kürzt in der Sozialversicherung die Beiträ-
ge für Arbeitslosenhilfebezieher.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Das bringt Altersarmut!)


Es ist absehbar, dass aufgrund dieser Politik in einigen
Jahren noch mehr Menschen auf Sozialhilfe angewiesen
sein werden. Ich kenne Ihre Antwort: bedarfsorientierte
Grundsicherung.


(Konrad Gilges [SPD]: Das fordert auch die Caritas!)


Diese bringt dem entsprechenden Personenkreis keine
zusätzlichen Leistungen. Ihre Sozialhilfe erhält schlicht-
weg nur einen anderen Namen: gleiche Leistung, aber
neuer Farbanstrich. Das ist keine Politik; das ist
schlichtweg ein schlechter Werbegag.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Alle politischen Gruppierungen und Experten sind

sich einig: Die Sozialhilfe muss reformiert werden. Wir
brauchen ein neues Bedarfsbemessungsschema. Die
Frage, wie genau die Sozialhilfe zu bemessen ist, muss
neu geregelt werden. Seit 1997 gilt eine Übergangsrege-
lung, nach der die Regelsätze der Sozialhilfe in der glei-
chen Weise wie in der gesetzlichen Rentenversicherung
erhöht werden.

Um Zeit für eine Neuregelung zu gewinnen, haben
Sie, die rot-grüne Regierungskoalition, im vergangenen
Jahr beschlossen, dass diese Übergangsregelung für wei-
tere zwei Jahre, bis 2001, anzuwenden ist.


(Renate Rennebach [SPD]: Der hat doch Alzheimer! – Gegenruf von der CDU/CSU: Jetzt werden Sie aber unparlamentarisch!)


Als Begründung haben Sie damals angeführt, dass die
Verlängerung dieser Übergangsregelung gegenüber den
Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfängern
deshalb vertretbar sei, weil davon ausgegangen werden
könne, dass die Renten in den nächsten beiden Jahren
stärker als bisher steigen und dass damit auch die Sozi-
alhilfe steigt. Doch das ist jetzt nicht mehr der Fall.
Durch Ihren Rentenbetrug ist Ihre eigene Gesetzes-
begründung entfallen. Dem Rentenbetrug folgte der So-
zialhilfebetrug.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf der Abg. Renate Rennebach [SPD])


Wolfgang Spanier






(A)



(B)



(C)



(D)


– Entschuldigung, Frau Kollegin, das ist die Systematik
des Gesetzes.

Doch der einen Schandtat soll bereits die nächste fol-
gen. Nach dem von Ihnen beschlossenen Gesetz müsste
spätestens zum 1. Juli 2001 ein neues Bedarfsbemes-
sungsschema in der Sozialhilfe festgelegt werden; denn
davon hängt in der Sozialhilfe alles ab. Doch schon hört
man Stimmen, dass sich die rot-grüne Koalition ein wei-
teres Mal eine Übergangsfrist bis 2002 genehmigen las-
sen will.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Hört! Hört! – Konrad Gilges [SPD]: Aus Ihrem Lager!)


– Nein, die hört man bei Ihnen, Herr Gilges, aus dem
von Ihrer Partei geführten Bundesarbeitsministerium.

Ich wette, im Frühjahr 2002 fällt Ihnen sicherlich ein
weiterer so genannter gewichtiger Grund ein, warum Sie
die eigentliche Reform des BSHG nochmals, über das
Datum der Bundestagswahl hinaus, verschieben. Das be-
deutet, dass Sie bei der eigentlichen Kernfrage der Sozi-
alhilfe, nämlich wie und nach welchen Kriterien Sozial-
hilferegelsätze zu bemessen sind, kneifen. Ihr Motto
heißt: Zeit schinden, aber ja keinen reinen Wein ein-
schenken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. – Konrad Gilges [SPD]: Machen Sie doch einmal einen Vorschlag! Sie sind doch ein einsamer Rufer in der Wüste, in Ihrer eigenen Partei!)


– Herr Gilges, die Opposition sitzt nicht in dem entspre-
chenden Arbeitskreis beim Deutschen Verein, der ein
neues Bedarfsbemessungsschema entwickeln soll.

Sie lassen für viel Geld auf viel Papier vieles über
Armut und Reichtum in Deutschland schreiben; aber
Papier ersetzt eben kein politisches Handeln. Für die an-
gebliche Notwendigkeit Ihres Projekts eines Armuts-
und Reichtumsberichts nennen Sie als Kronzeugen die
Kirchen, die nationale Armutskonferenz und die Wohl-
fahrtsverbände. Doch offensichtlich werden diese Ver-
bände nur für die plakative Begründung gebraucht.
Wenn es konkret wird und zur Sache geht, dann zählt
deren Rat nichts mehr.

Die nationale Armutskonferenz hat beim – schon
erwähnten – vom Bundesarbeitsministerium durchge-
führten Forum ein Modell vorgelegt, nach dem der neue
Armuts- und Reichtumsbericht zwar unter der politi-
schen Verantwortung der Bundesregierung zu erstellen
ist, nach dem aber für das Berichtsmanagement eine
neutrale Geschäftsstelle, zum Beispiel beim Deutschen
Verein für öffentliche und private Fürsorge, eingerichtet
werden soll. Die Beschlussfassung der Konzeption und
des Forschungsbedarfs soll in einer Expertenkom-
mission mit Vertretern aus Bund, Ländern, Kommunen,
Verbänden, Betroffenenorganisationen und Wissen-
schaftlern sowie dem Statistischen Bundesamt erfolgen.
Die wissenschaftlichen Untersuchungen werden durch
Wissenschaftler und entsprechende Institute erfolgen.

Die rot-grüne Koalition lehnt dies schlichtweg ab. Sie
wollen einen regierungsamtlichen Bericht. Die Kron-

zeugen für die Armuts- und Reichtumsberichterstattung
sind desavouiert. Genau das, was die Befürworter eines
solchen Berichts in Wissenschaft und Verbänden bezüg-
lich der Art und Weise, wie ein solcher Bericht zustande
kommen soll – nämlich durch eine unabhängige Exper-
tise –, erwartet haben, soll es nicht geben. Sie wollen ei-
nen Regierungsbericht und lehnen die Vorschläge der
nationalen Armutskonferenz schlichtweg ab.


(Peter Dreßen [SPD]: Reden Sie mal über Lohnabstandsgebote!)


Von einer neutralen Steuerungsgruppe ist keine Rede
mehr.

Ich finde es übrigens interessant, dass die Frau Kolle-
gin Deligöz – sie wird nach mir sprechen – bei jener Ta-
gung im Oktober 1999 noch der Auffassung war, dass
eine Trennung von unabhängigen Expertisen und Stel-
lungnahmen der Bundesregierung sinnvoll sei,


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Ist es ja auch!)

dass ein so erstellter Bericht auch für die interessierte
Öffentlichkeit aussagekräftiger und gewichtiger sein
werde. Sie plädierte sogar dafür, das Berichtsmanage-
ment dem Deutschen Verein für öffentliche und private
Fürsorge zu übertragen. Doch von alldem will jetzt bei
Rot-Grün niemand mehr etwas wissen.


(Konrad Gilges [SPD]: Ich?)

– Herr Kollege Gilges, Sie haben Recht: Sie wollten es
nicht. Insofern haben Sie die arme Frau Kollegin Deli-
göz in dieser Frage platt gemacht.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Das ist ganz schön unputzig! – Konrad Gilges [SPD]: Sie können keinen Keil zwischen uns treiben! Da machen Sie sich mal keine Hoffnung, Herr Kollege!)


Auf gut Deutsch: Schon heute steht fest, dass dieser
nationale Armuts- und Reichtumsbericht, den Rot-Grün
dank ihrer Mehrheit heute beschließen wird, seine
Glaubwürdigkeit bereits vor dem Entstehen eingebüßt
hat. Es ist schade um das viele Papier.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Konrad Gilges [SPD]: Das werden wir sehen!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408413500
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Ekin Deligöz.


Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408413600
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Weiß, mich wundert es doch sehr, bei einem Blick
in Ihren Lebenslauf feststellen zu müssen, dass Sie Kar-
riere bei der Caritas gemacht haben.


(Zuruf von der F.D.P.: Das ist wenigstens jemand, der sich auskennt!)


Angesichts dessen müssten doch gerade Sie wissen, dass
Herr Hauser als einer der Beauftragten für die Armuts-

Peter Weiß (Emmendingen)







(A)



(B)



(C)



(D)


berichterstattung für die Caritas nicht nur bei uns im
wissenschaftlichen Beratungsgremium eingeplant ist,
sondern dass er in der Funktion als Caritas-Mitarbeiter
eine Armuts- und Reichtumsberichterstattung von der
Bundesregierung gefordert hat. Als jemand, der von der
Caritas kommt, sollten Sie erst einmal in Ihre eigenen
Unterlagen hineinschauen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte im Ge-
gensatz zu meinen Vorrednern nicht mit dem Thema
Armut, sondern mit dem Thema Reichtum anfangen.

Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt.
1998 verfügten rund 44 Millionen Privathaushalte über
ein Geldvermögen von 5,7 Billionen DM. Hinzu kamen
Immobilien, Gebrauchswerte, Möbel, Teppiche,
Schmuck und Uhren. Dabei hatte jeder Haushalt rechne-
risch ein Geldvermögen von rund 153 000 DM und ei-
nen Besitz im Wert von 389 000 DM. Aber das, meine
Damen und Herren, gilt nur im Durchschnitt.

Tatsächlich sind 5 Prozent der Haushalte überschul-
det. Fakt ist, dass wir 4 Millionen Arbeitslose haben, de-
ren Einkommenssituation meist prekär ist. Fakt ist auch,
dass 3,5 Prozent der Bevölkerung von Sozialhilfe leben.
Fakt ist, dass wir in Deutschland nach wie vor Men-
schen haben, die zwar sozialhilfeberechtigt sind, aber
aus Unwissenheit oder Scham auf ihre Ansprüche ver-
zichten. Das ist die verdeckte Armut.

Offene Armut in Deutschland hat vor allem ein jun-
ges Gesicht. Über 1 Million Kinder und Jugendliche le-
ben in Haushalten, deren Einkunft Sozialhilfe ist. Die
Sozialverbände sprechen von zusätzlich 700 000 Kin-
dern, die in verdeckter Armut leben.

Natürlich wissen wir in Deutschland schon einiges
über Reichtum und auch über Armut. Alle fünf Jahre be-
fragt das Statistische Bundesamt mehrere Zehntausend
Haushalte über ihr Einkommen; auf freiwilliger Basis
findet auch eine Befragung über die Vermögensverhält-
nisse statt. Allerdings werden in dieser Einkommens-
und Verbraucherstichprobe weder die Haushalte mit ei-
nem Monatseinkommen von über 35 000 DM berück-
sichtigt, die diese eindrucksvollen Vermögen besitzen,
noch die nicht-deutschen Haushalte, die im Durchschnitt
weniger gut situiert sind. Diese offiziellen Daten liefern
uns deshalb nur eine eingeschränkte Auskunft über die
Realität von Armut und Reichtum in Deutschland.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Auch über verdeckte Armut ist uns in der Tat sehr
wenig bekannt. Aber darüber, dass Armut und Reichtum
in Deutschland existieren, sind wir uns, denke ich, einig.
Es sollte uns allen auch klar sein, dass wir als eines der
reichsten Länder der Welt die Armut bekämpfen müssen
und dass wir gerade als Politiker hierbei in der Verant-
wortung stehen. Aber dann beginnt die Debatte: Wo
fängt Armut an? Wo hört Armut auf? Sind Menschen,
die Sozialhilfe bekommen, arm? Oder stimmen die Aus-
sagen von Sozialverbänden, die von einer Bedarfsunter-

deckung der Sozialhilfe von 18 Prozent sprechen? Das
ist die objektive Seite, die wir noch zu klären haben.

Es gibt aber darüber hinaus eine subjektive Seite.
Vom jeweiligen Verständnis und der Herangehensweise
hängt es ab, was unter Armut verstanden wird. Sicher-
lich braucht in Deutschland niemand mehr zu hungern,
auch wenn wir, vor allem bei Menschen mit geringem
Einkommen, häufig von Fehlernährung und von ernäh-
rungsbedingten Krankheiten sprechen. Auch wer in
Deutschland Sozialhilfe bezieht, hat zumeist ein Telefon
bzw. einen Fernseher. Ebenso ist der materielle Lebens-
standard von Arbeitslosen sicherlich um einiges höher
als der von vielen Kleinunternehmern in den Entwick-
lungsländern.

So gesehen ist Armut und so gesehen ist auch Reich-
tum relativ. Aber nach unserer Definition ist nicht nur
derjenige arm, der nicht genügend Mittel zum physi-
schen Überleben hat, sondern auch derjenige, der im
Vergleich zu den Standards seiner Gesellschaft über nur
geringe Ressourcen verfügt.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Arm sind Menschen, die gesellschaftlich an den Rand
gedrängt werden, die kaum Chancen auf einen sozialen
Aufstieg haben und deren Kindern die soziale Randstän-
digkeit schon in die Wiege gelegt zu sein scheint. Für
diese Menschen hat Armut viele Gesichter. Sie beginnt
beim Familienurlaub und dann, wenn die Freizeit mit
Kindern außerhalb der eigenen Wohnung zu einem wah-
ren Luxusgut wird. Sie trifft auch die Mutter, die für ihr
Kind keinen Kindergeburtstag ausrichten kann, weil sie
nicht genug Geld dafür hat.

Zur objektiven Seite der Armut gehört wiederum: Ei-
ne Politik, die sich für soziale Gerechtigkeit und für das
Gemeinwohl einsetzt, braucht eine solide Informations-
grundlage.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)


Es ist sehr ehrenswert, dass Sie von der Union sich
für die verdeckte Armut interessieren. Aber das ist nur
ein kleiner Ausschnitt der Gesamtproblematik. Wir dür-
fen hier im Parlament nicht nur einen Teilbereich der
Armut behandeln. Wir müssen vielmehr die gesamte ge-
sellschaftliche Wirklichkeit wahrnehmen. Wir müssen
auch über Tabus sprechen, also über Dinge, über die
man angeblich bisher nicht gesprochen hat und auch in
Zukunft nicht sprechen will.

Eine Politik für soziale Gerechtigkeit braucht defini-
tiv eine klare Wertentscheidung: Was verstehen wir un-
ter Gerechtigkeit? Was verstehen wir unter Menschen-
würde? Wir brauchen Informationen über die Verteilung
von Einkommen und Vermögen. Wir brauchen Informa-
tionen über deren Fortentwicklung und deren volkswirt-
schaftlichen Einsatz.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Auf geht‘s!)


Beides ist notwendig, um zum Beispiel die anstehende
Debatte über die Neufestlegung der Regelsätze in der

Ekin Deligöz






(A)



(B)



(C)



(D)


Sozialhilfe führen zu können. Beides ist auch notwen-
dig, um den künftigen Herausforderungen der Armuts-
politik gerecht zu werden.

Herr Kollege Weiß, es ist schön, dass Sie sich Sorgen
um meine Position machen. Aber arm, so wie Sie das
gesagt haben, bin ich nicht.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Aber arm dran, weil Sie bei den Grünen sind!)


Zudem lasse ich mich von guten Konzepten überzeugen.
Die Planungen im Bundesarbeitsministerium im Hin-

blick auf den Berichtsprozess sind weit vorangeschrit-
ten. Im Gegensatz zu Ihnen, die Sie für Werbegags ver-
antwortlich sind, schreiten wir lieber zu Taten und tun
etwas.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Was haben Sie denn getan?)


Wir erwarten die Ergebnisse des ersten Armuts- und
Reichtumsberichts im Frühjahr 2001. Ich freue mich
sehr über eine wirklich gute und intensive Vorarbeit, die
hier bereits geleistet wurde und auch in Zukunft geleistet
werden wird.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Die Ökosteuer macht die Familien ärmer!)


Vorhin wurde gefragt, was wir getan haben. Das soll-
ten Sie aber wissen. Wer hat die Kindergelderhöhungen
durchgesetzt? Wer hat durchgesetzt, dass das erhöhte
Kindergeld nicht auf die Sozialhilfe angerechnet wird?
Das waren nicht Sie, sondern wir, und zwar im vergan-
genen Jahr, wenn ich mich richtig erinnere.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wer hat die Ökosteuer erfunden? – Dirk Niebel [F.D.P.]: Wer hat Existenzen vernichtet bei der so genannten Scheinselbstständigkeit?)


– Herr Kollege Niebel, dies ist meine erste Rede hier im
Bundestag in diesem Jahrtausend und meine fünfte Rede
über Armut, Reichtum und Sozialpolitik, seitdem ich
Mitglied im zuständigen Ausschuss bin. Ich muss sagen:
Das ist eine der Reden, bei der ich von Ihnen wiederum
nur unterbrochen werde. Dafür würde ich Ihnen am
liebsten den Machopreis des Jahres verleihen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ich dachte, der Kollege Gilges bekommt den, weil er sich beim Armutsbericht durchgesetzt hat!)


Lassen Sie mich wieder zum Thema zurückkommen.
Wir bevorzugen zwar aus Gründen der Unabhängigkeit
eine externe Vergabe. Würden wir aber diesen Bericht
extern vergeben, hätten wir ihn frühestens im Jahr 2002.
Mit einer solchen Verzögerung könnten wir kaum arbei-
ten. Wir möchten nämlich in dieser Wahlperiode nicht
nur Ergebnisse haben, sondern über sie auch politisch

diskutieren, Konsequenzen aus ihnen ziehen und die ers-
ten Maßnahmen in diesem Bereich in die Wege leiten.

Für künftige Armuts- und Reichtumsberichte bleibt
die Frage der Organisation noch offen. Ich freue mich
darüber, dass es seitens des Ministeriums Signale der
Offenheit gibt.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Bravo!)

Wir sind bereit, die wissenschaftliche Federführung

des BMA zu akzeptieren, weil das Bundesministerium
gesellschaftliche Institutionen, Fachverbände und kriti-
sche Armutsforscher und -forscherinnen – auch Herrn
Hauser, auch Vertreter der Caritas – in den wissen-
schaftlichen Beirat aufnimmt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das ist Ihr Fallrückzieher!)


Beide Gremien werden den Berichtsprozess in allen
Fragen intensivst begleiten. Uns ist auch wichtig, eng
mit den Sozialverbänden zusammenzuarbeiten und eine
Verzahnung sicherzustellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Soziale Gerechtigkeit ist ein vielschichtiger Begriff.

(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das stimmt!)

Es geht in der Tat um Verteilungsgerechtigkeit, aber
nicht weniger um Generationengerechtigkeit, um Chan-
cengerechtigkeit und letztendlich auch um Leistungsge-
rechtigkeit. Wir wollen gerade diese Dimensionen nicht
gegeneinander ausspielen, sondern in ihrer Vielschich-
tigkeit beurteilen und handhaben. Dafür brauchen wir
neben inneren Überzeugungen auch eine rationale In-
formationsbasis. Das Konzept der Koalition schafft da-
für eine unverzichtbare Grundlage.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408413700
Manchmal sind sehr
häufig wiederholte Zwischenrufe für den Redner nicht
so ganz einfach, Herr Kollege Niebel, wenn Sie mir er-
lauben, das zu sagen.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Aber der „Macho“ war auch nicht parlamentarisch!)


Nun hat Herr Kollege Dr. Heinrich Kolb, F.D.P.-
Fraktion, das Wort.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1408413800
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit unserer letzten
Debatte sind wir durch die Verhandlung im Ausschuss
für Arbeit und Sozialordnung und natürlich auch durch
die Tagung „Armut und Reichtum in Deutschland“
am 7. Oktober letzten Jahres ein Stück weitergekom-
men, was die Behandlung und die Bewertung des Koali-
tionsantrages angeht. Herr Kollege Spanier, ich habe mir
die Tagungsdokumentation noch einmal sehr intensiv
angesehen. Ich muss Ihnen sagen, meine Zweifel, was

Ekin Deligöz






(A)



(B)



(C)



(D)


Ihre Forderung nach Erstellung eines solchen Berichtes
anbelangt, sind nicht kleiner, sondern größer geworden.
Gestiegen sind auch meine Zweifel, dass es Ihnen gelin-
gen könnte, in einem vertretbaren Zeitraum – zumindest
nicht bis 2001 – zu einem aussagekräftigen Datenbe-
stand zu kommen. Natürlich ist auch meine Skepsis bes-
tätigt, was die Zielrichtung Ihres Wissensdranges anbe-
langt. Aber eines nach dem anderen.

Die methodischen Fragen – Sie wollten ja konkrete
Gründe für unsere Ablehnung – nehmen einen breiten
Raum bei der Darstellung der Ergebnisse der Vorunter-
suchung anlässlich der Tagung „Armut und Reichtum“
ein. Bei der Beantwortung der Frage, was Armut ist, gibt
es – so das Ergebnis der Voruntersuchung – zwei mögli-
che Ansätze, nämlich einen Ressourcenansatz und einen
Lebenslagenansatz. Beim Ressourcenansatz geht es um
die monetären Aspekte, beim Lebenslagenansatz um die
nicht monetären Aspekte von Armut und Reichtum. Bei
den monetären Ansätzen wird dann noch zwischen abso-
luter, relativer und politisch-normativer Armut unter-
schieden.

Die Untersuchung der absoluten Armut in
Deutschland wäre wenig ergiebig und ist wohl auch
nicht das, was Sie von der Koalition anstreben. Auch
Bundesminister Riester hat auf dem Forum am
7. Oktober 1999 gesagt – ich zitiere –:

Von einer existenziellen, absoluten Armut, bei der
die Mittel zum physischen Überleben fehlen, kann
in Deutschland nur selten gesprochen werden.

Relative Armut – ich muss das aus Zeitgründen hier
knapp halten – als Ansatz zu wählen und zu beschrei-
ben, ist nicht unproblematisch. Darauf weisen Dietrich
Engels und Christine Sellin von der ISG GmbH hin, die
diese Voruntersuchung gemacht haben. Sie sagen – ich
zitiere –:

Genau genommen ist es ja so, dass eine solche rela-
tive Armutsmessung Ungleichheit misst, aber nicht
das, was Armut im strengen Sinne ausmacht. Das
heißt, wenn das Wohlstandsniveau insgesamt an-
steigt und wenn es gleichmäßig ansteigt, wird auch
die Armut faktisch zurückgehen, aber die relative
Armut im Vergleich zu den Durchschnitten der Ge-
sellschaft wird sich nicht unbedingt verändern. Das
sind Gesichtspunkte, die man kritisch im Auge ha-
ben muss.

Ich denke, das spricht für sich.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Konrad Gilges [SPD]: Was heißt das jetzt?)


Schließlich, Herr Gilges, der Ansatz der politisch-
normativ definierten Armut: Als arm in diesem Sinne,
so Engels/Sellin, würde man den bezeichnen, der auf
Sozialhilfe angewiesen ist. Hier muss ich wiederholen,
Herr Kollege Gilges, was ich bereits in der Debatte vom
30. September gesagt habe. Der Bezug von Sozialhilfe
ist nicht der Beweis von Armut, sondern er ist der Be-
weis von verhinderter Armut. Ich sehe die Sozialhilfe
nicht als eine Schande unseres Gemeinwesens, sondern
als eine Errungenschaft der Sozialpolitik an, auf die wir
stolz sein können.


(Beifall bei der F.D.P. – Wolfgang Gehrcke [PDS]: Armut kann überhaupt keine Schande sein!)


Gleichwohl muss ich zugeben: Es gibt Probleme ne-
ben und über der Sozialhilfe, wobei „neben der Sozial-
hilfe“ den Sachverhalt der verdeckten Armut beschreibt.
Dazu habe ich bereits in der Debatte vom 30. September
das Wesentliche gesagt. „Über der Sozialhilfe“ be-
schreibt eine andere interessante Kategorie, der wir viel-
leicht seitens der Politik bis jetzt zu wenig Beachtung
schenken. Das ist die Kategorie prekärer Wohlstand.
Das heißt, von Armut gefährdet sind auch die Personen-
gruppen, die knapp oberhalb der Armutsgrenze liegen:
Sie werden zwar von der vollen Wucht unseres Steuer-
systems getroffen, kommen aber gerade nicht mehr in
den Genuss der diversen Transfer- und Sozialleistungen.

Nur der Vollständigkeit halber will ich noch die sub-
jektive Armut erwähnen. Danach ist arm derjenige, der
sich selbst als arm einschätzt. Ich glaube, wir sind uns
einig, dass dies eher eine Anspruchsgrenze als eine Ar-
mutsgrenze beschreibt. So haben es auch Engels/Sellin
in ihrer Untersuchung gesehen. Ich hätte mir schon ge-
wünscht, Herr Kollege Spanier, dass Sie heute einmal
gesagt hätten, welchen Armutsbegriff Sie zugrunde le-
gen wollen.

Erscheint das alles schon schwierig, so wird die
Reichtumsberichterstattung unter dem monetären Ge-
sichtspunkt noch schwieriger. Auch hier stellt sich die
Frage: Gibt es eine absolute Reichtumsgrenze? Die be-
fragten Experten plädieren dafür, ein Einkommen, das
höher als 200 Prozent des durchschnittlichen Einkom-
mens liegt, als Indikator für Reichtum zu nehmen.


(Peter Dreßen [SPD]: Reichtum verpflichtet, steht irgendwo!)


Ich habe mir, Herr Kollege Dreßen, einmal die Mühe
gemacht, aus der Lohn- und Einkommensteuerstatis-
tik, die im Statistischen Jahrbuch 1999 veröffentlicht
worden ist, den Median der Einkommensverteilung –
das ist die von den Experten bevorzugte Methode – nä-
herungsweise zu bestimmen. Das ist natürlich nur eine
Tendenzaussage. Aber ich glaube, dass die Größenord-
nungen stimmen. Deswegen will ich das Ergebnis hier
vortragen.

In dieser Statistik sind 53,7 Millionen lohn- oder ein-
kommensteuerpflichtige Einkommen nach Größenklas-
sen aufgeführt. Man stellt fest, dass der Median im Be-
reich der Größenklasse zwischen 40 000 und 50 000 DM
liegt. Armut, Herr Gilges, beginnt dann demzufolge in
der Größenklasse 20 000 bis 25 000 DM, was ja durch-
aus noch einsichtig erscheint. Reichtum allerdings be-
ginnt schon bei Einkommen von 80 000 bis 100 000
DM – wohlgemerkt: jeweils brutto. Da werden sich ei-
nige Menschen in der Bundesrepublik mit Recht schon
bange fragen, was da möglicherweise auf sie zukommt.


(Beifall bei der F.D.P. – Konrad Gilges [SPD]: Das stimmt so nicht!)


Herr Kollege Gilges, Ihre Haltung ist in dieser Frage
wenigstens in sich stimmig. Wenn ich mich nämlich

Dr. Heinrich L. Kolb






(A)



(B)



(C)



(D)


daran erinnere, dass Ihr früherer Fraktionsvorsitzender
Rudolf Scharping Alleinstehende mit Einkommen von
50 000 bis 60 000 DM brutto als Besserverdienende be-
zeichnet hat, dann muss ich sagen, dass es nur kon-
sequent ist, die Grenze für Reichtum ab einem Ein-
kommen von 80 000 bis 100 000 DM beginnen zu las-
sen.


(Beifall bei der F.D.P. – Peter Dreßen [SPD]: Das ist doch nicht wahr! Bleiben Sie doch bei der Wahrheit! – Dirk Niebel [F.D.P.]: Das ist der Bereich der geistigen Armut!)


All das, was ich für den Bereich der monetären As-
pekte der Armut an methodischen Problemen versucht
habe darzustellen, wird noch ungleich komplizierter,
aber auch ungleich politischer und weniger exakt be-
stimmbar, wenn man an die nicht monetären Aspekte
der Unterversorgung herangeht. Gibt es Armut an Ge-
sundheit oder an Bildung? Gibt es einen Reichtum dar-
an? Ist reich, wer einen – wenn ja, wie – bezahlten Ar-
beitsplatz hat, eine Wohnung oder Einfluss? Wie misst
man das eigentlich?

Meine Damen und Herren von der Koalition, bei al-
ledem reden wir bisher nur von Einkommen. Geht es Ih-
nen aber nicht auch und gerade um die Vermögen? Ist
Ihr Konzept, Herr Gilges, mit dem Sie sich an die Arbeit
machen wollen, eigentlich richtig? War es nicht Ihre
Partei, die noch vor dem Berliner Parteitag großspurig
angekündigt hat, eine Vermögensabgabe zu erheben?
Als Tiger gesprungen, als Bettvorleger gelandet! Alles
schon vergessen?

Ich werde das Gefühl nicht los, dass Ihr Handeln –
wie sollte es auch anders sein – politisch motiviert ist.
Der differenzierte Armuts- und Reichtumsbegriff, den
Frau Deligöz als „praktikable Grundlage für die Politik“
fordert, ist politisch motiviert. Sie, Herr Gilges, haben
auf der Konferenz ganz ehrlich gesagt, dass die Vorlage
des Berichts – Zitat –

erhebliche symbolische Bedeutung hat, auch die
Diskussion, die sich daran anschließt. Denn damit
wird gerade den von Armut Betroffenen signali-
siert, dass diese Bundesregierung ihre Probleme
ernst nimmt und sich nicht darauf zurückzieht, dass
Arme eigentlich selbst Schuld an ihrem Schicksal
haben.


(Konrad Gilges [SPD]: Richtig!)

Ich sage hier ganz deutlich, Herr Gilges: Wenn das so

ist, dann tun Sie, was Sie tun müssen. Aber erwarten Sie
von uns bitte nicht, dass wir Sie auf diesem Weg beglei-
ten.

Und wenn Sie sich auf den Weg machen, nehmen Sie
mit, was Abraham Lincoln auf so wunderbare Weise
ausgedrückt hat:

Ihr werdet die Schwachen nicht stärken, indem ihr
die Starken schwächt. Ihr werdet denen, die ihren
Lebensunterhalt verdienen müssen, nicht helfen,
indem ihr die ruiniert, die sie bezahlen. Ihr werdet
keine Brüderlichkeit schaffen, indem ihr den Klas-
senhass schürt.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408413900
Jetzt hat das Wort
die Kollegin Dr. Barbara Höll, PDS-Fraktion.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1408414000
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Weiß, Ihr Beitrag vor-
hin war wirklich peinlich. Wenn man sich den Antrag
anguckt, wird es noch peinlicher; denn dies ist nur ein
Bemänteln dessen, was Sie in 16 Jahren Regierungspoli-
tik versäumt haben. Und jetzt fordern Sie dazu auf, mög-
lichst schnell Schritte einzuleiten.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Wer für das Armenhaus nach 40 Jahren Sozialismus zuständig ist, braucht nicht so zu reden!)


Ihre Antworten deuten Sie in dem Antrag an: Sie
möchten die Informationspolitik für die Sozialhilfeträger
verbessern, Sie möchten den Sozialhilfeempfängern den
Zugang erleichtern, indem Sie sie besser informieren.
Aber das Problem als solches, die Armut insgesamt, be-
trachten Sie nicht. Dem haben Sie sich bisher verwei-
gert. Sie haben nichts getan und haben heute wieder be-
wiesen, dass Sie nicht bereit sind, etwas zu tun.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)


Da bereits mehrmals in dieser Debatte eine Rolle
spielte, wie Sozialhilfe zu bewerten ist – Sie verweiger-
ten eine Antwort auf diese Frage –, kann man auf keinen
Fall außen vor lassen, dass die Sozialhilfe als System si-
cher eine Errungenschaft war, aber eingeführt wurde in
einer Zeit, da in der alten Bundesrepublik weitgehend
Vollbeschäftigung herrschte. Die Sozialhilfe war ein
Notnagel für Menschen, die – meistens durch äußere
Umstände – tatsächlich in eine akute Notsituation ge-
kommen sind.

Heute heißt Sozialhilfe für viele Menschen sicher
nicht Hunger, aber sie bedeutet zumindest den weitge-
henden Ausschluss vom gesellschaftlichen Leben, Aus-
schluss von gesellschaftlichen Aktivitäten. Und auch das
ist Armut. Wenn ich in Leipzig Freitag abends in die
Kaufhalle gehe, in Connewitz, und neben mir eine Mutti
zu ihrem fünfjährigen Sohn sagt: „Die gefrorene Pizza
für 2,99 DM gibt es nicht, weil sie zu teuer ist“, so weiß
ich natürlich nicht: Hat sie Arbeit? Gehört sie eventuell
zur Gruppe der Niedriglohnempfängerinnen, die von ih-
rer eigenen Arbeit nicht mehr leben können? Gehört sie
zur Gruppe derjenigen, die Sozialhilfe bekommen und
bei denen das Geld trotzdem nicht ausreicht? Oder ge-
hört sie vielleicht zu der Gruppe von Menschen, die
nicht einmal Sozialhilfe beantragen, weil sie Angst da-
vor haben, dass vielleicht ihre Eltern regresspflichtig
sind?


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408414100
Frau Kollegin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage? – Bitte schön. Herr Kol-
lege Singhammer.

Dr. Heinrich L. Kolb






(A)



(B)



(C)



(D)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1408414200
Frau Kolle-
gin Dr. Höll, wenn Sie über Reichtum und Armut spre-
chen: Stimmen Sie mir zu, dass ein Reichtumsbericht
der Parteien die PDS, der Sie angehören, als eine der
reichsten Parteien nicht nur Deutschlands, sondern sogar
Europas ausweisen würde?


(Zurufe von der PDS und der SPD)



Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1408414300
Entschuldigung, Frau Prä-
sidentin, dass ich lachen musste. Das ist ein etwas un-
parlamentarisches Verhalten. Aber die Frage ist wirklich
lächerlich. Sie kennen die Berichte, Sie können sie sich
angucken. Und Sie wissen, dass kein Großunternehmen
auf die Idee käme, der PDS eine Spende zu überweisen,
ob offiziell oder inoffiziell, weil wir garantiert nicht für
die Interessen dieser Gruppen stehen, sondern für sozia-
le Gerechtigkeit.


(Beifall bei der PDS – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Weil ihr doch ein Großunternehmen seid! )


Ich möchte aber diese Frage nutzen, von hier aus an
die Vertreter der Regierungskoalition einen Appell zu
richten. Ich meine, die heutige Debatte zeigt auch, dass
wir uns in wesentlichen Punkten einig sind. Die Forde-
rung nach einem Armutsbericht, den zu erstellen sich
die Bundesrepublik 1995 in Kopenhagen verpflichtet
hat, hat eine Geschichte, auch eine parlamentarische Ge-
schichte. In der letzten Legislaturperiode haben unserem
Antrag nur die Grünen zugestimmt. Die SPD verweiger-
te sich damals und brachte danach einen eigenen Antrag
ein. Ich meine, inzwischen haben sich die Positionen
weitgehend angenähert. Wir fordern jeweils in unseren
Anträgen eine Armuts- und Reichtums-berichterstattung,
weil dies zwei Seiten ein und derselben Medaille sind.
Ich meine, es wäre ein demokratisches Zeichen, wenn
man am Ende einer solchen Diskussion, die doch eine
weitgehende Übereinstimmung offenbart, bei der Ab-
stimmung zumindest mit einer Enthaltung auf einen
PDS-Antrag reagieren könnte.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, es ist
wichtig, heute noch einmal herauszustellen: Dass wir zu
dieser Debatte gekommen sind, ist nicht alleine und
auch nicht zuerst Verdienst der Politikerinnen und Poli-
tiker. Sie ist aus breitem außerparlamentarischen Druck
entstanden.


(Beifall bei der PDS)

Sowohl die beiden großen christlichen Kirchen als auch
viele Initiativen und Verbände wie der Kinderschutz-
bund und Sozialhilfeinitiativen haben daran großen An-
teil. Es ist richtig und wichtig, sie in die weitere Arbeit
einzubeziehen.

Es gibt trotz aller Gemeinsamkeit Unterschiede zwi-
schen den beiden Anträgen. Diese liegen aber in der Be-
gründung. Wir stimmen ja über den Antrag ab und nicht
über die Begründung. Ich glaube, dass schon fast zu viel
Zeit ins Land gegangen ist, wenn der Bericht im Früh-
jahr 2001 kommt. Denn im Jahr 2002 sind Wahlen und
wir wissen, dass im Vorfeld meistens nicht mehr sehr
viel passiert.

Ich denke, es ist wichtig, zu betonen, dass für uns als
PDS Armut und Reichtum keine nationalen Größen
sind. Daher muss der internationale Bezug aufgezeigt
werden.

Bei dieser Diskussion sollte Einigkeit darüber herr-
schen, dass es darum geht, mehr soziale Gerechtigkeit
in dieser Gesellschaft zu erreichen: Recht auf eine sozia-
le Grundsicherung für jeden Menschen, der in der Bun-
desrepublik Deutschland lebt, ohne Bedürftigkeitsprü-
fung.

Es ist für mich keine soziale Gerechtigkeit, Rentenan-
sprüche von Arbeitslosen zu kürzen und die Rentenan-
passung auf den Inflationsausgleich zu begrenzen – wo-
bei CDU/CSU und F.D.P. in dieser Frage wirklich ruhig
sein sollten; denn die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe
haben sie schon probiert, damals aber nicht geschafft.

Soziale Gerechtigkeit wäre es, wenn alle, gerade Be-
zieher hoher Einkommen, in alle Sozialkassen einzahlen
würden. Da besteht Nachholbedarf. Keine soziale Ge-
rechtigkeit ist es für mich, wenn das Kindergeld für alle
ersten und zweiten Kinder um 20 DM erhöht wird, für
die Kinder von sehr gut Verdienenden aber um 400 DM.

Wenn das „Handelsblatt“ die Unternehmensteuerre-
form als „Benefizveranstaltung für das Großkapital“ be-
grüßt, so sollte das einer Partei, die für soziale Gerech-
tigkeit steht, doch sehr zu denken geben.

Ich möchte abschließen mit einem kurzen Zitat aus
der völlig unverdächtigen „Süddeutschen Zeitung“:

Der neue Sozialstaat, der geschaffen werden muss,
ist keineswegs teurer als der alte. Mehr Umvertei-
lung heißt nicht mehr Geld – und angesichts der
gegenwärtigen sozioökonomischen Machtverhält-
nisse wäre es auch töricht, eine solche Forderung
aufzustellen.

Mehr Gerechtigkeit muss dann aber auch durchgesetzt
werden. Dazu werden Sie weiterhin unsere Unterstüt-
zung erhalten.

Ich danke.

(Beifall bei der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408414400
Jetzt hat die Kolle-
gin Ute Kumpf, SPD-Fraktion, das Wort.


Ute Kumpf (SPD):
Rede ID: ID1408414500
Verehrte Präsidentin! Kollegen
und Kolleginnen!

Wer Armen helfen will, muss nicht unbedingt ein
Engel sein. Eigentlich genügt etwas Menschlich-
keit.

Ich füge in eigener Sache hinzu: vielleicht auch ein biss-
chen mehr Redlichkeit und Ehrlichkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die ersten zwei Sätze habe ich auf einer Weihnachtskar-
te von einem Kollegen von der Evangelischen Gesell-
schaft in Stuttgart bekommen. Vielleicht hat Frau Kolle-






(A)



(B)



(C)



(D)


gin Reinhardt auch eine solche erhalten. Er hat sie mir
als Losung für meine politische Arbeit auf den Weg ge-
geben.

Mir ist klar, dass wir alle im Parlament – einschließ-
lich der Opposition – uns mit unserem Antrag auf einen
regelmäßigen Bericht über Armut und Reichtum in
Deutschland, den wir heute – das zeichnet sich in der
Debatte ab – auf den Weg bringen wollen, nicht zu En-
geln machen werden. Das wäre ein teuflischer Ansatz,
den wir ganz bestimmt nicht wählen. Wir können aber
alle gemeinsam daran arbeiten – auch jeder, der einer
Partei mit einem christlichen C angehört, kann dabei
mitmachen –, Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Solida-
rität zum Maßstab unseres politischen Handelns zu ma-
chen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Worum geht es uns bei dem Armuts- und Reichtums-
bericht? Es geht uns darum, ein differenziertes Bild der
sozialen Lage und der Verteilung von materiellen Res-
sourcen in Deutschland zu zeichnen.
An Herrn Kolb und die Adresse der F.D.P., weil sie gern
diese Platte spielen: Wir sind keine Neidhammel. Wir
wollen keine Neidkampagne anzetteln, sondern es geht
uns schlichtweg darum, dass wir hier eine Grundlage für
unser politisches Handeln erhalten. Es geht nicht um
diskussionsverliebte Ideologie, die nur auf dem Papier
steht.

Noch einmal an die F.D.P. gerichtet: Ich habe als
junge Kommunalpolitikerin noch erlebt, dass sich die
F.D.P. mit der Humanistischen Union auch sozialen
Themen in einer ganz anderen Art und Weise gewidmet
hat, als es ihre Diktionen und Ausführungen heute er-
kennen lassen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Ich habe Sie nach dem Armutsbegriff gefragt! Die Antwort ist nicht gegeben worden!)


Uns, der SPD, geht es darum, mehr Klarheit und
Wahrheit hinsichtlich der tatsächlichen Einkommens-
und Vermögensverhältnisse in Deutschland zu erhal-
ten. Klarheit und Wahrheit, tun unserer Politik, aber
auch unserer gesamtgesellschaftlichen Debatte gut, weil
wir dieses Thema tagtäglich auf der Straße zu hören be-
kommen. Es geht eben auch darum, eine Debatte über
die Frage zu führen: Was ist soziale Gerechtigkeit?

Eine offene Bestandsaufnahme ist schon längst fällig.
Das wurde von verschiedenen Kollegen und Kollegin-
nen schon angeführt. Sie als alte Bundesregierung sind
Ihrer Pflicht nicht nachgekommen, nach dem Welt-
sozialgipfel in Kopenhagen 1995 diesen Bericht zu
erstellen. Sie waren schlichtweg dröge, schlampig und
haben es verdrängt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Peter Weiß [Emmerdingen] [CDU/CSU]: Sie kommen den inhaltlichen Verpflichtungen nicht nach!)


Es gilt zudem – meistens kommt dann der nächste
Angriff – besonders in den Reihen der Opposition als
altmodisch, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen, wo-
bei ich als Gewerkschafterin als traditionalistisch abge-
stempelt werde. Zudem ist es unschicklich, diese Vertei-
lungsfragen zu stellen, weil es – dies ist immer Ihre Ar-
gumentation – in Zeiten der Globalisierung und des
Wettbewerbsdrucks standortschädigend ist, die Vertei-
lungsfrage in den Mittelpunkt zu stellen. Dabei haben
gerade Sie – das ist das Ärgerliche – ohne öffentliche
Kontrolle zwei Jahrzehnte lang kräftig umverteilt. Die
Bundesrepublik ist durch Ihre Politik, durch Ihr eigenes
politisches Handeln, auf die schiefe Bahn geraten.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Da haben Sie geschlafen!)


Immer mehr Menschen sind unter die Armutsgrenze
gerutscht. Die Zahlen sind bekannt: Über eine Million
Kinder wachsen unter den Bedingungen der Armut auf.
Immer mehr sind dazu verurteilt, ein Leben unter Sozi-
alhilfebedingungen zu fristen. Gleichzeitig aber hat sich
die Zahl der Reichen und Superreichen, der Millionäre
und gar Milliardäre erhöht. Es stimmt etwas nicht, sagen
die Leute auf der Straße, wenn eine derartige Ungleich-
verteilung bei uns in der Bundesrepublik festzustellen
ist.

Schon die Kirchen haben uns und Ihnen ins Stamm-
buch geschrieben, dass nicht nur Armut, sondern auch
Reichtum ein Thema der politischen Debatte sein muss:
Umverteilung müsse zum Thema gemacht werden; das
Gerechtigkeitsempfinden sei erheblich gestört.

Uns geht es, wenn wir in Deutschland über Armut
sprechen, auch darum, dass der Reichtum nicht ver-
schwiegen werden darf. Es geht uns nicht darum, den
Überfluss konkret zu identifizieren, also etwa Reiche
und Superreiche namentlich mit ihrem Lebensstil vorzu-
führen. Das ist nicht unser Anliegen. Dafür müssen Sie
weiter zu den bunt-goldenen Blättern greifen. Da kön-
nen Sie sich bedienen.

Wir alle wissen: Wir müssen uns vergegenwärtigen –
dazu verpflichtet uns unser Grundgesetz –, dass Eigen-
tum, persönlicher Besitz und Vermögen, dem besonde-
ren Schutz des Staates zu unterstellen ist. Das ist in
Art. 14 unserer Verfassung verankert. Aber neben dem
Recht gibt es auch eine Pflicht. Das übersehen wir ger-
ne. In Art. 14 steht eben auch: „Eigentum verpflichtet.
Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemein-
heit dienen.“

Aber ich frage mich: Wie soll es dem Wohl der All-
gemeinheit dienen, wenn es im Verborgenen bleibt und
wir selbst keinen Sachstand haben, wie sich diese Ver-
mögenssituation darstellt? Geld hat man, darüber spricht
man nicht. Das ist offenbar nicht nur im Schwabenland
so, sondern geht anscheinend über die schwäbischen
Grenzen hinweg.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das ist ein sehr guter Grundsatz!)


Der Reichtumsforscher Ernst-Ulrich Huster sagt:
Wahrscheinlich gibt es einen großen Zusammenhang

Ute Kumpf






(A)



(B)



(C)



(D)


zwischen Unkenntnis über hohe Einkommen und große
Vermögen und deren Existenz. Unter Umständen ist
Unkenntnis eine Grundvoraussetzung dafür, damit sie
überhaupt blühen und sich entwickeln können.

Beim Reichtum sind die Dinge sehr im Verborgenen.
Wir haben erstens ein Problem, zwischen Einkommen
und Vermögen zu unterscheiden. Zweitens ist die Daten-
lage, was den Reichtum anbelangt, noch schlechter als
bei der Armut. Selbst das Statistische Bundesamt hat bei
der Anhörung die Datenlage als unzureichend und ver-
besserungsbedürftig bewertet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir können uns gerade einmal auf zwei Statistiken
beziehen, wenn es um die Reichtumsbetrachtung geht:
auf die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe mit
70 000 Haushalten und auf die Vermögenssteuerstatis-
tik, die uns auch dahinschwinden wird, weil die Vermö-
genssteuer schlichtweg abgeschafft wurde und uns des-
wegen die Grundlage für diese Erhebung fehlt.

Windeln, Wäschetrockner und Waschmaschinen, Mi-
krowelle und Maschendrahtzaun, der Verzehr von
Speck, Schinken und Kaiserfleisch, Schalen- und Tro-
ckenobst und Kleingebäck aus Brotteig – dies alles fin-
det sich im Statistischen Jahrbuch. Wenn man dort ein-
mal hineinsieht, findet man Angaben darüber, wie viel
wir davon verzehren und wie die Haushalte ausgestattet
sind. Dies ist eine wahre Fundgrube für Kuriositäten.
Aber über die wahren Verhältnisse von Einkommens-
und Vermögensreichtum in den deutschen Haushalten
finden wir nichts – Fehlanzeige.

Es gibt zwei dürre Datensätze, die bislang in den Dis-
kussionen gehandelt werden; sie wurden schon genannt.
Zum einen sind dies die Durchschnittswerte für das
private Vermögen, die das Statistische Bundesamt er-
hebt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das stimmt nicht! Ich habe es gefunden!)


Danach müssten Sie, Herr Kolb 150 000 DM Immobi-
lienvermögen haben, 90 000 DM Geldvermögen und
40 000 DM Betriebsvermögen. Ich weiß nicht, ob Sie
das haben; ich habe es nicht. Das ist aber immer so bei
Durchschnittsbetrachtungen. Jeder weiß, dass die Wirk-
lichkeit anders aussieht: Wenige haben viel, viele haben
wenig und andere haben überhaupt nichts. Es geht
schlichtweg darum, diesen Sachverhalt statistisch ge-
nauer und unter wissenschaftlicher Begleitung zu durch-
leuchten.

Die dürren Datenäste, die bisher in diesem Bereich
entwickelt wurden, gilt es entsprechend zum Blühen zu
bringen. Deswegen setzen wir bei der Berichterstattung
zu unserem Armuts- und Reichtumsbericht vor allem auf
den Grundsatz: Wer Armut bekämpfen will, darf zum
realen Reichtum in Deutschland nicht schweigen.


(Beifall bei der SPD und der PDS sowie der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Um aber vernünftig reden zu können, brauchen wir aus-
sagekräftige Daten und Informationen. Dies dürfte ange-
sichts der oft zitierten gewollten und gewünschten In-
formationsgesellschaft selbstverständlich sein und Ih-
nen, die Sie doch so darauf setzen, nicht schwer fallen.

Wir erwarten von der Berichterstattung, dass sie zu
einer Versachlichung der Diskussion und der öffentli-
chen Debatte über Armut und Reichtum beiträgt, dass
sie uns differenzierte Informationen zum Thema Armut
und Reichtum liefert, mit denen wir im Parlament prob-
lemlösungsorientiert arbeiten können, dass der Bericht
keine Eintagsfliege wird, sondern dass es sich – wie der
Name schon sagt – um einen Prozess handelt und regel-
mäßig Berichte vorgelegt werden und dass wir allen
Sachverstand, intern wie extern, bündeln und die Be-
richterstattung unter Einbeziehung von Kirchen, Wohl-
fahrtsverbänden und betroffenen Organisationen entwi-
ckeln und aufbauen.

Wir hoffen und rechnen damit, den Grundstein dafür
zu legen, die Debatte um die Zukunft von sozialer Ge-
rechtigkeit und sozialem Anstand auch in Zeiten von In-
dividualisierung und Globalisierung in dieser Gesell-
schaft erfolgreich zu führen.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408414600
Das Wort hat nun
der Kollege Matthäus Strebl, CDU/CSU-Fraktion.


Matthäus Strebl (CSU):
Rede ID: ID1408414700
Frau Präsidentin!
Werte Kolleginnen und Kollegen! Heute diskutieren wir
den nationalen Armuts- und Reichtumsbericht. Wer die
Zukunft gestalten will, darf Vergangenes nicht verges-
sen. Da erinnere ich an 1961, als das Bundessozialhil-
fegesetz als Ergebnis einer unionsgeführten Bundesre-
gierung eingeführt wurde.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es garantiert allen, auch den Schwächsten, ein men-

schenwürdiges Leben und hat die Armut in Deutschland
weitgehend zurückgedrängt. Auch die Pflegeversiche-
rung trägt die Unterschrift eines christdemokratischen
Kanzlers. Sie hat die in den Siebzigerjahren unter dem
SPD-Kanzler Schmidt zunehmende Altersarmut weitge-
hend beseitigt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das neue Vermögensbeteiligungsgesetz, mit dem sich

in bunten Broschüren Walter Riester schmückt, stammt
ebenfalls aus der Feder eines Christlich-Sozialen, näm-
lich von Norbert Blüm.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Die jetzige Bundesregierung hält es jedoch nicht einmal
für nötig, den Investivlohn in die Gespräche über
ein „Bündnis für Arbeit“ einzubringen. Stattdessen

Ute Kumpf






(A)



(B)



(C)



(D)


gibt es viele Ankündigungen, aber bisher keine Ergeb-
nisse.

Die Kirchen fordern in ihrem Sozialwort mit dem Ti-
tel „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“
eine „strukturelle und moralische Erneuerung“ der
sozialen Marktwirtschaft.


(Peter Dreßen [SPD]: Das ist eine Antwort auf Ihre Politik, Herr Kollege!)


Sie sehen Reformbedarf im Steuerrecht und in der Ver-
mögensbildung.


(Kurt Bodewig [SPD]: Ihr Sozialabbau 1996! Erinnern Sie sich?)


Dabei dürfe „Besitzstandswahrung“ nicht zu einem
„Kampfbegriff in der Diskussion um den Umbau des
Sozialstaates werden“. So das Sozialwort.

Die Union hat im inhaltlichen und zeitlichen Ein-
klang mit den Kirchen gearbeitet. Die CDU/CSU hatte
bereits 1996 eine umfassende Steuerreform entwickelt,
die Sie von der Sozialdemokratie aus kalten, machttakti-
schen Gründen verhindert haben.


(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig! Ein Skandal für die niedrigen Einkommensgruppen! – Kurt Bodewig [SPD]: Das ist doch Unsinn!)


Schröder, Lafontaine,

(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Wer ist das denn?)

der wegen „Fahrerflucht“ nicht mehr zu belangen ist,
und Eichel haben ihr Parteibuch vor die Interessen unse-
res Gemeinwesens und die Interessen der Arbeits-
losigkeit gestellt.


(Kurt Bodewig [SPD]: Sind Sie eigentlich von dieser Welt? – Peter Dreßen [SPD]: Können Sie das zurücknehmen? – Konrad Gilges [SPD]: Wer ist alles auf der Flucht? Kanther, Kohl und wer noch? – Gegenruf von der CDU/CSU: Schleußer! Glogowski!)


Jeder Wirtschaftswissenschaftler bestätigt Ihnen von der
SPD – da Sie gerade so lauthals schreien –, dass eine
Steuerreform nach unserem Konzept eine massive Bele-
bung der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes nach sich
ziehen würde.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie aber berufen sich auf die Kirchen und wollen einen
Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung.
Wie dieser Bericht aus Ihrer Feder aussehen würde,
kann ich Ihnen sagen: wie die Ergebnisse der Gespräche
des „Bündnisses für Rhetorik“, nämlich rosarot, mit we-
nig Substanz, großen Worten und kleinen Taten, viel
Papier und geringer Durchschlagskraft.


(Beifall bei der CDU/CSU – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: So ist es!)


Mir bleibt schleierhaft, werte Kolleginnen und Kolle-
gen von der SPD, was die Zielsetzung eines Reichtums-

berichts sein soll, wahrscheinlich eine neue Neiddebatte
in der Republik.


(Kurt Bodewig [SPD]: Das ist doch Unsinn! – Konrad Gilges [SPD]: Die Sozialhilfeempfänger müssen transparent sein, aber die Reichen nicht! Das ist Neid! Jeder schützt seine Kasse, insbesondere in Liechtenstein und in der Schweiz!)


In keinem Land der Europäischen Union wird Geld für
derartige Berichte verwendet. Wichtiger als Papier sind
konkrete Handlungen, die ich bei Ihnen aber vermisse.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn Sie das Sozialwort der Kirchen vollständig le-

sen würden und nicht nur in selektiver Wahrnehmung
das herausgriffen, was Ihnen gefällt, dann hätten Sie die
Politik der alten Bundesregierung unterstützen müssen,
statt sie zu blockieren. Diesen Vorwurf mache ich Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Mir ist es recht, wenn unabhängige Sozialverbände,

wie zum Beispiel der Caritasverband, regelmäßig Ar-
mutsberichte vorlegen. Auch die Vermögensverteilung
ist ein ständiges Thema der Veröffentlichungen.


(Kurt Bodewig [SPD]: Aber nicht bei Ihnen!)

Was wirklich fehlt, sind Forschungsergebnisse über die
Bekämpfung verdeckter Armut. Dabei geht es auch
darum, wie wir gemeinsam Armut in Deutschland defi-
nieren und mit ihr umgehen und wie wir Strategien und
Zielsetzungen erarbeiten.


(Renate Rennebach [SPD]: 16 Jahre habt ihr Zeit dazu gehabt!)


Das Gesicht der Armut ist vielschichtig wie das Le-
ben. Wie gehen wir mit den Menschen um, die, aus wel-
chen Gründen auch immer, mit unserem Sozialsystem
gebrochen haben,


(Konrad Gilges [SPD]: Gebrochen? Was ist das denn für eine Formulierung?)


Menschen, die obdachlos vagabundieren oder aus
Scham den Gang zum Sozialamt meiden?


(Kurt Bodewig [SPD]: Im Gegensatz zu Ihnen helfen wir ihnen! Sie haben sie in die Armut getrieben und weinen jetzt Tränen!)


Hier müssen neue Wege gefunden werden, die wir nicht
aus parteitaktischen Gründen beschreiten dürfen, son-
dern deshalb beschreiten müssen, weil sie von der wirk-
lich unabhängigen Forschung empfohlen werden.

Die Arbeitnehmer in der Union, CDA und CSA, for-
dern, dass auch die Arbeitslosen, beispielsweise über die
Kirchen, an den Gesprächen des „Bündnisses für Ar-
beit“ teilnehmen können.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie von der Koalition haben diese Forderung nicht ein-
mal beantwortet. Sie schmücken sich hier und heute mit
einem Sozialwort der Kirchen, bei dem ich davon aus-
gehe, dass Sie es nicht einmal gelesen haben.

Matthäus Strebl






(A)



(B)



(C)



(D)



(Zuruf von der CDU/CSU: Den Eindruck muss man in der Tat haben!)


Die Kirchen fordern einen Umbau des Sozialstaates.
Norbert Blüm war hier Vorkämpfer. Aber Sie haben ihn
in der letzten Legislaturperiode mit Steinen beworfen.

Was Herr Riester derzeit zum Beispiel mit der Rente
anstellt, riecht nach Systemwechsel: weg von der leis-
tungsbezogenen Rente, hin zu einer Almosenrente.


(Beifall bei der CDU/CSU – Konrad Gilges [SPD]: Hin zum Sozialismus!)


Wenn Kanzler Schröder im Februar 1999 in Vilshofen
erklärt hat, dass an der Rente nicht gerüttelt werde und
es bei der nettolohnbezogenen Rente bleibe, die Halt-
barkeitsdauer dieser Aussage aber nicht einmal ein hal-
bes Jahr beträgt, muss ich sagen: Das ist das gebrochene
Wort von Kanzler Schröder.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408414800
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Nickels?


Matthäus Strebl (CSU):
Rede ID: ID1408414900
Frau Präsidentin, ich
möchte im Zusammenhang vortragen.


(Unruhe bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Kurt Bodewig [SPD]: Bei der Rede würde ich auch keine Fragen zulassen!)


Sie kürzen die Renten- und die Pflegeversicherungs-
beiträge der Arbeitslosen und der Sozialhilfeempfänger
und schaffen damit neue Armut, die Sie dann mit einem
neuen Gesetz bekämpfen wollen.

Ich will es einmal aufzählen, werte Kolleginnen und
Kollegen: Die Kirchen fordern Reformen innerhalb des
Rentensystems. Norbert Blüm hat gehandelt, Sie haben
polemisiert, außer Kraft gesetzt und fahren den Renten-
karren krachend gegen die Wand.

Die Kirchen fordern eine durchgreifende Steuerre-
form. Theo Waigel hat sie vorgelegt, Sie haben blockiert
und kommen nun mit der Ökosteuer in einem Reform-
Wischiwaschi daher.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kurt Bodewig [SPD]: Das ist eine Wahlkampfrede, eine schlechte noch dazu! Das ist kein Ortsverband, sondern ein Parlament!)


Die Kirchen fordern eine bessere Vermögensbeteili-
gung. Norbert Blüm hat gehandelt und ein Gesetz vorge-
legt, das die Tarifpartner mit Leben ausfüllen könnten.
Was leisten Sie? Sie legen Broschüren auf und verges-
sen die politische Umsetzung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kurt Bodewig [SPD]: Gehen Sie einmal zu den Kirchen! Die sagen Ihnen schon Bescheid!)


Die Kirchen forderten die Einführung einer stabilen
europäischen Währung. Helmut Kohl und Theo Waigel

haben den Euro gegen den Widerstand aus Ihren Reihen,
auch gegen Schröder, durchgesetzt.

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen der
rot-grünen Koalition, –


(Peter Dreßen [SPD]: Das, was Sie erzählen, glauben Sie nicht einmal selbst!)


ich rate Ihnen: Wenn Sie die Kirchen ernst nehmen,
dann setzen Sie den Investivlohn auf die Tagesordnung
der nächsten Runde über ein „Bündnis für Arbeit!“.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Von 1985 bis 1996 – das muss man wissen – stieg in

der Bundesrepublik Deutschland das Pro-Kopf-Ein-
kommen um 19 Prozent. Auch die Kirchen bestätigen in
ihrem Sozialwort, dass der deutsche Sozialstaat der gro-
ßen Mehrheit der Bevölkerung soziale Sicherheit auf
hohem Niveau garantiert. Das ist doch ein tolles Lob für
Norbert Blüm und die von der Union entwi-
ckelte Sozialpolitik.

Seit 1992 steigen die Kapitaleinkünfte fünfmal so
schnell wie die Arbeitseinkommen. Das ist jedoch kein
böser Wille von irgendeiner Regierung,


(Lachen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS)


sondern hat etwas mit Rationalisierung und Globalisie-
rung zu tun. Den Arbeitnehmer am Produktivkapital zu
beteiligen, wäre ein Ausweg aus der Lohnfalle.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408415000
Herr Kollege, den-
ken Sie bitte an Ihre Redezeit. Sie ist abgelaufen.


Matthäus Strebl (CSU):
Rede ID: ID1408415100
Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen, alle Instrumente zur Ar-
mutsbekämpfung und für eine Vermögenspolitik der so-
zialen Marktwirtschaft sind hier zu ergreifen. Arbeiten
Sie mit diesen Instrumenten! Setzen Sie nicht weiter
darauf, dass durch die geburtenschwachen Jahrgänge die
Arbeitskrise von selbst bewältigt wird! Daher sage ich:
Sozial ist, was Beschäftigung schafft. Setzen Sie daher
auch die richtigen politischen Rahmenbedingungen!


(Beifall bei der CDU/CSU – Kurt Bodewig [SPD]: Sie kommen doch aus Absurdistan!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408415200
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich der Kollegin Nickels das Wort.


Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408415300

Herr Kollege Strebl, wir haben zwar nicht das hohe „C“
im Parteinamen, aber trotzdem sind uns die Äußerungen
der Kirche gerade im Bereich Armut und Sicherung der
Zukunft der Arbeit sehr, sehr wichtig. Bündnis 90/Die
Grünen arbeiten seit Jahren intensiv mit den Kirchen zu-
sammen. Das ist keine Eintagsfliege.

Ich selbst habe zum Beispiel 1996 federführend für
Bündnis 90/Die Grünen eine Kooperationstagung zur
Zukunft der Arbeit in der Akademie organisiert. Dabei

Matthäus Strebl






(A)



(B)



(C)



(D)


waren Fridtjof Bergmann und zahlreiche Politiker der
Landesebene anwesend. Wir haben 1997 einen Studien-
tag in Münster gemacht, an dem namhafte Vertreter der
Evangelischen und Katholischen Kirche teilnahmen, und
zwar expressis verbis zu dem gemeinsamen Wort der
Kirchen.

Ich habe mich sehr gefreut, dass ich auch meine Kol-
leginnen und Kollegen in der Partei dazu bewegen konn-
te, bundesweit, in allen Bundesländern – auch in den
neuen Bundesländern, wo wir bekanntermaßen eine sehr
dünne Mitgliederdecke haben, entsprechende Veranstal-
tungen durchzuführen. Die Kirchen haben sich darüber
sehr gefreut.

Das waren natürlich nicht Veranstaltungen, bei denen
es Einstimmigkeit gab, sondern da hat man durchaus
sehr kritisch und offen miteinander geredet. Aber das hat
uns, glaube ich, insgesamt neue Erkenntnisse gebracht,
auch neue Möglichkeiten in dem Sinne, dass Partei und
Politik wirklich über die Grenzen der Institutionen hin-
weg zusammenarbeiten.

Ich kann Ihnen eines sagen, was mir noch sehr im
Ohr ist: Kirchenvertreter haben mir gesagt, sie wür-
den sich wünschen – sie hätten es leider Gottes nicht er-
lebt –, dass ihnen auch die anderen Parteien in diesem
Ausmaß die Gelegenheit geben würden, ihre Vorstellun-
gen den Parteien nahe zu bringen und mit Ihnen zu dis-
kutieren.

Ich würde Sie also bitten, das zurückzunehmen, was
Sie hier gesagt haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408415400
Ich erteile dem Ab-
geordneten Strebl zu einer Entgegnung das Wort


Matthäus Strebl (CSU):
Rede ID: ID1408415500
Frau Präsidentin,
meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Frau
Nickels, ich nehme zur Kenntnis, dass Sie so engagiert
arbeiten. Ich wünschte mir aber, dass Sie auch bei ande-
ren, genauso wichtigen Themen ebenso mit den Kirchen
zusammenarbeiten würden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408415600
Nun erteile ich der
Parlamentarischen Staatssekretärin Ulrike Mascher das
Wort.

U
Ulrike Mascher (SPD):
Rede ID: ID1408415700
Frau Präsi-
dentin! Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Herr Strebl,
vielleicht ist es Ihnen entgangen, dass sich 1997, als die
beiden großen Kirchen ihr gemeinsames Sozialwort ver-
öffentlicht haben, zum Beispiel die Forderung, die tat-
sächliche Armut endlich zur Kenntnis zu nehmen, an ei-
ne von CDU/CSU und F.D.P. – geführte Regierung ge-
richtet hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Nein, an die Gesellschaft insgesamt!)


Ich sage dies nur um der historischen Wirklichkeit wil-
len.

Aber ich finde es bemerkenswert, Herr Weiß, dass die
CDU/CSU in ihrem Antrag nun ausdrücklich bestätigt,
dass es verdeckte Armut gibt.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das ist falsch!)


In der letzten Legislaturperiode gab es nur bekämpfte
Armut.


(Peter Dreßen [SPD]: So ist es! Da wart ihr jungen Wilden noch nicht hier!)


Vielleicht hat dies auch etwas damit zu tun, dass Sie
jetzt einen etwas schärferen Blick mitten in die Gesell-
schaft werfen und festgestellt haben, dass es Armut gibt,
zwar noch mit dem schönen Eigenschaftswort „ver-
schämt“ oder „verdeckt“ erweitert, aber immerhin.

Also: Verdeckte Armut gibt es in unserem Land. Sie
beziehen sich sogar ausdrücklich auf die nationale Ar-
mutskonferenz, deren Forderungen Sie, solange Sie
noch Regierungsfraktionen waren, immer abgelehnt ha-
ben. Aber ich begrüße diese Erkenntnis ausdrücklich.

Verdeckte Armut ist selbstverständlich ein Aspekt,
dem sich der Armuts- und Reichtumsbericht der Bun-
desregierung widmen wird; denn für die Bundes-
regierung ist die Bekämpfung der Armut, der verdeckten
und der offenen Armut, in all ihren Ausprägungen ein
Schwerpunkt ihrer Politik. Dazu brauchen wir endlich
eine zuverlässige Bestandsaufnahme der sozialen Lage
in unserem Land. Grundlage hierfür ist ein Armuts- und
Reichtumsbericht.

Eine nationale Armuts- und Reichtumsberichterstat-
tung hat drei wesentliche Anforderungen zu erfüllen. Sie
dient der Analyse von materieller Armut und Unterver-
sorgung und – das darf nicht vergessen werden – auch
der Untersuchung der Strukturen der Reichtumsvertei-
lung. Meine Kollegin Frau Kumpf hat schon deutlich
gemacht: Wir finden im Statistischen Jahrbuch alles, nur
keine verlässlichen, keine detaillierten Daten über die
Reichtumsverteilung.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das stimmt doch gar nicht!)


– Herr Dr. Kolb, dann haben Sie vielleicht ein anderes
Statistisches Jahrbuch als wir.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Es gibt nur das eine! – Peter Dreßen [SPD]: Er hat ein eigenes erstellt!)


Die Berichterstattung soll Hinweise geben für die
Entwicklung geeigneter politischer Instrumente zur
Vermeidung und Beseitigung von Armut. Sie hat durch
eine kontinuierliche Berichterstattung die Aufgabe eines
Controlling. Sie soll die Wirkungsweise und Effizienz
dieser Instrumente dokumentieren.

Christa Nickels






(A)



(B)



(C)



(D)


Herr Dr. Kolb, nur noch ein Hinweis: Unter seriösen
Wissenschaftlern ist es völlig unumstritten, dass die Da-
tenlage, was die Reichtumsverteilung in der Bundesre-
publik betrifft, verglichen mit anderen europäischen
Ländern, Substandard hat und dass wir hier dringenden
Nachholbedarf haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Es ist auch völlig unbestritten, dass es methodisch unglaublich schwierig ist!)


– Ja, es ist schwierig, aber wir sind sehr ehrgeizig.
Eine Berichterstattung unter diesen Vorgaben ist ein

anspruchsvolles Vorhaben. Das Projekt in einer Legisla-
turperiode erfolgreich zu schultern ist eine riesige Auf-
gabe. Ich bin realistisch genug, um zu wissen, dass der
erste Bericht nicht alle Aspekte von Armut und Reich-
tum abschließend und erschöpfend beleuchten kann, ge-
rade auch unter Berücksichtigung der miserablen Da-
tenlage in der Frage der Reichtumsverteilung, die Sie ja
gar nicht bestreiten.

Was wir aber leisten können und wollen, ist ein Ein-
stieg in eine kontinuierliche Berichterstattung. Der erste
Bericht kann ein Rahmen und ein erster Entwurf sein für
ein Bild, das Schritt für Schritt vervollständigt werden
muss.

Die Vorarbeiten für die Armuts- und Reichtumsbe-
richterstattung wurden in den vergangenen Monaten ge-
leistet. Wir haben dabei die Diskussion über die
geeigneten und notwendigen Konzepte, über
Möglichkeiten und Perspektiven, aber auch über
Grenzen des Berichtsprojekts öffentlich geführt. Herr
Dr. Kolb, Sie haben deswegen auch die Chance, Ihre
kritischen Anmerkungen mit Zitaten über diese
öffentliche Diskussion und die öffentliche Vorstellung
unserer Konzeption hier nachzuvollziehen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Die haben wir auch genutzt!)


Nach diesem intensiven Beratungsprozess lassen sich
nun die Grundlinien für den Bericht festlegen. Der erste
Bericht soll von der Bundesregierung erstellt wer-
den. Dies ist im Sinne der Koalitionsvereinbarung und
des gemeinsamen Antrags der Regierungskoalitionen,
der heute beraten wird. Diese Aufgabe ist aber nicht zu
meistern ohne Unterstützung der Wissenschaft und Be-
ratung durch die Organisationen,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

die sich seit langem mit der Frage sozialer Ausgrenzung,
aber auch mit der Frage der Verteilung von Armut und
Reichtum beschäftigen.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408415800
Frau Staatssekretä-
rin, es besteht der Wunsch nach einer Zwischenfrage.
Gestatten Sie diese?

U
Ulrike Mascher (SPD):
Rede ID: ID1408415900
Ja.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408416000
Bitte sehr.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1408416100
Frau
Staatssekretärin, nachdem Sie auf die Vorstellung der
Konzeption in der öffentlichen Diskussion bei der Ta-
gung im Oktober hingewiesen haben, möchte ich Sie
fragen: Können Sie bestätigen, dass die Vertreter der na-
tionalen Armutskonferenz und die Verbände mehrheit-
lich ein Modell zur Erstellung des Armuts- und Reich-
tumsberichts vorgestellt und vertreten haben, das nun-
mehr von der Bundesregierung abgelehnt wird, weil sie
ein anderes Modell präferiert?

Können Sie bestätigen, dass die Beteiligung der Ver-
bände, die Sie nun nicht in einer unabhängigen Steue-
rungsgruppe, sondern in einem so genannten Berater-
kreis vornehmen lassen wollen, dazu geführt hat, dass
der Vorsitzende der nationalen Armutskonferenz, Herr
Professor Specht, an Ihren Minister Riester einen Brief
geschrieben hat, in dem er darum bittet, dass er ihm, be-
vor er einen Berater für den Beraterkreis benennt, sagt,
welche Aufgabe er eigentlich hat, ob er nur raten oder
auch beraten soll?

U
Ulrike Mascher (SPD):
Rede ID: ID1408416200
Herr Weiß,
wir haben für diesen Beraterkreis – ich hätte das noch
weiter ausgeführt – auch die Vertreter der nationalen
Armutskonferenz eingeladen. Wir werden mit ihnen be-
raten, was die Funktion des Beraterkreises ist. Ich bin
ganz sicher, dass sich die Vertreter der Armutskonferenz
daran beteiligen werden, denn wir haben schon im Vor-
feld mit ihnen darüber gesprochen.

Wir haben auf der öffentlichen Vorstellung unter-
schiedlicher Konzepte für die Armuts- und Reichtums-
berichterstattung ein Konzept, das von einem Institut,
dem ISG, entwickelt worden ist, als Muster für die erste
Berichterstattung, die wir vornehmen wollen, herange-
zogen. Ich denke, dass wir, wenn wir den Bericht vorle-
gen, mit all denjenigen, die sich auf der Konferenz kri-
tisch mit dem Konzept dieses Berichts auseinander ge-
setzt haben, gern diskutieren werden. Ich bin ganz si-
cher, dass wir hier eine positive Resonanz bekommen
werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Abg. Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU] meldet sich zu einer weiteren Zwischenfrage)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408416300
Ich lasse jetzt keine
weiteren Zwischenfragen mehr zu, denn wir kommen in
Zeitverzug. Ich bitte Sie um Verständnis, Herr Kollege,
aber die nachfolgenden Debattenbeiträge stehen an und
wir sind ein wenig in Verzug.

Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort.

U
Ulrike Mascher (SPD):
Rede ID: ID1408416400
Wir werden
einen ständigen Beraterkreis einrichten, der den Bericht
begleitet. Dem Beraterkreis werden Verbände und Or-

Parl. Staatssekretärin Ulrike Mascher






(A)



(B)



(C)



(D)


ganisationen, die Erfahrungen mit Armutsberichten ha-
ben – die Caritas, die Arbeiterwohlfahrt, der Deutsche
Paritätische Wohlfahrtsverband, der DGB, aber auch die
betroffenen Organisationen wie die nationale Armuts-
konferenz –, angehören. Wir werden natürlich auch
Länder und Kommunen einbeziehen. Der Beraterkreis
wird intensiv in den Berichtsprozess eingebunden, und
es wird ein inhaltlicher Austausch mit den beteiligten
Wissenschaftlern stattfinden.

Wir werden renommierte Armuts- und Reichtumsfor-
scher mit den wissenschaftlichen Untersuchungen beauf-
tragen. Sie werden ein wissenschaftliches Gutachter-
gremium bilden. Dort werden sie ihre Forschungskon-
zeptionen vorstellen und regelmäßig über den Fortgang
ihrer Arbeiten berichten. Hier soll die wissenschaftliche
Diskussion über inhaltliche und methodische Fragen ge-
führt werden. Die Gruppe der wissenschaftlichen Exper-
ten berät und begleitet die Bundesregierung in allen Fra-
gen der Berichterstattung. Es wird eine enge Verknüp-
fung mit dem Beraterkreis geben; das habe ich schon ge-
sagt.

Der Bericht selbst wird von einer Projektgruppe im
Arbeitsministerium erstellt werden. Grundlage dafür
sind die wissenschaftlichen Gutachten und die Diskussi-
on im Beratergremium. Ich bin ganz sicher, dass wir den
Fehler der Bayerischen Staatsregierung, kritische Be-
richte in der Schublade verschwinden zu lassen, nicht
machen werden.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ihr wollt ihn nicht entstehen lassen, Frau Mascher, das ist der Punkt!)


Das führt zwar zu einer unglaublichen Verbreitung sol-
cher Berichte, aber ich denke, das kann nicht der Sinn
der Sache sein. Ich glaube, Sie können den renommier-
ten Forschern, die wir beauftragen werden, nicht un-
terstellen, dass sie keine unabhängigen Gutachten erstel-
len. Ich glaube, das können selbst Sie nicht behaupten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich bin mir durchaus bewusst, dass es auch andere
Strukturen bei der Armuts- und Reichtumsberichterstat-
tung hätte geben können; aber keine Lösung kann alle
Erwartungen und Ansprüche zufrieden stellen. Für den
Start jedoch war es uns wichtig, ein realisierbares und
zügig umsetzbares Konzept zu finden. Unsere Planun-
gen sind hierfür eine gute Basis.

Ich betone noch einmal: Wir werden zu Beginn der
Berichterstattung nicht alle Fragen aufarbeiten können.
Wir wollen aber einen Anfang machen. Gleichwohl
muss der erste Bericht unabdingbare Qualitätsmerkmale
beachten. Ich will nur zwei wesentliche Merkmale nen-
nen: Wir brauchen keine Sammlung und Anhäufung von
leblosen Zahlen. Wir wollen keinen Datenfriedhof. Was
wir uns wünschen, ist die Beschreibung und Analyse so-
zialer Wirklichkeit, die auf solidem und verlässlichem
Datenmaterial beruht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir möchten auch keinen endlosen Streit um Definitio-
nen und keine abstrakte Methodendiskussion, mit der
Sie immer die Forderung nach einer Armutsbe-
richterstattung zurückgewiesen haben.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Man muss doch wissen, was man überhaupt untersuchen will und woran das zu messen ist!)


Was wir wollen, ist die Verständigung auf wissenschaft-
lich nachvollziehbare und akzeptierte Methoden und
Standards, die ein hohes wissenschaftliches Niveau des
Berichts und eine Vergleichbarkeit der einzelnen Be-
richtsteile garantieren.

Meine Damen und Herren, unser Projekt Armuts- und
Reichtumsberichterstattung ist ehrgeizig. Unter den
skizzierten Rahmenbedingungen können wir das Projekt
aber auf einen guten Weg bringen. Dafür werden wir mit
unserem ganzen Engagement arbeiten. Ich freue mich
auf die Diskussionen im Gutachtergremium, im Berater-
kreis und dann, wenn wir den Bericht vorlegen, auch
hier im Parlament. Ich bin ganz sicher: Das wird eine
spannende, eine fundierte Diskussion auf der Basis von
Material, das die alte Bundesregierung leider nie vorge-
legt hat.

Danke.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1408416500
Ich schließe die
Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag
der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen zu einer nationalen Armuts- und Reichtumsbe-
richterstattung, Drucksache 14/2562, Buchstabe a. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/999
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Gegen die
Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. ist diese Beschluss-
empfehlung angenommen.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag
der Fraktion der PDS zu einer regelmäßigen Vorlage ei-
nes Berichtes über die Entwicklung von Armut und
Reichtum in Deutschland, Drucksache 14/2562, Buch-
stabe b. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/1069 abzulehnen. Wer folgt der Be-
schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Auch diese Beschlussempfehlung ist angenommen, und
zwar gegen die Stimmen der PDS.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag
der Fraktion der CDU/CSU zur Bekämpfung der ver-
deckten Armut in Deutschland, Drucksache 14/2562,
Buchstabe c. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/1213 abzulehnen. Wer folgt dieser Be-
schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Bei Enthaltung der F.D.P. und Ablehnung der
CDU/CSU ist die Beschlussempfehlung angenommen.

Parl. Staatssekretärin Ulrike Mascher






(A)



(B)



(C)



(D)

Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung auf:

Beratung des Antrages der Abgeordneten Birgit
Homburger, Horst Friedrich (Bayreuth), Hans-
Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der F.D.P.

Übergangsregelung für das neue Führer-
scheinrecht
– Drucksache 14/2370 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten

Interfraktionell ist vereinbart worden, dass die Rede-
beiträge zu Protokoll gegeben werden.* Das ist natürlich
sehr schade, aber Sie sind offensichtlich damit einver-
standen. – Dann ist das so beschlossen.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/2370 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Des Weiteren
soll die Vorlage auch an den Ausschuss für die Angele-
genheiten der Europäischen Union überwiesen werden.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Damit
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 9 a und b auf.
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des

Berichts des Ausschusses für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)

zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung

Entschließung des Europäischen Parla-
ments zu endokrine Störungen verursa-
chenden chemischen Stoffen

– Drucksachen 14/309 Nr. 1.11; 14/1471 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jutta Müller (Völklingen)

Bernward Müller (Jena)

Winfried Hermann
Ulrike Flach
Eva Bulling-Schröter
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des

Berichts des Ausschusses für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)

zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
zu der Mitteilung der Kommission an den
Rat und das Europäische Parlament: Stra-
tegie für das Auslaufen der Verwendung
von FCKW in Dosieraerosolen
– Drucksachen 14/309 Nr. 2.43, 14/1472 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Ganseforth
Dr. Peter Paziorek
Dr. Reinhard Loske
Birgit Homburger

Eva Bulling-Schröter
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die

Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Jutta Müller, SPD-Fraktion.


Jutta Müller (SPD):
Rede ID: ID1408416600
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute
über eine Entschließung des Europäischen Parlaments
zu Chemikalien – für diejenigen Kolleginnen und Kolle-
gen, die nicht im Ausschuss sind, will ich es einmal et-
was einfacher ausdrücken –, die das Hormonsystem des
Menschen belasten.

Vor dem Hintergrund, dass wir in diesem Monat in
den Medien erfahren haben, dass man solche Stoffe bei-
spielsweise in Sportbekleidung und Fischkonserven ge-
funden hat, wird die Aktualität des Themas für jeden of-
fenkundig.

Das Institut für Toxikologie der Universität Kiel hat
bereits 1997 im Auftrag des Bundesumweltamtes eine
Literaturstudie über Substanzen mit endokriner Wirkung
in Oberflächengewässern veröffentlicht. Zum ersten Mal
wurde damals der aktuelle Kenntnisstand bezüglich über
200 Chemikalien ausgewertet, die im Verdacht stehen,
hormonell wirksam zu sein. Dabei erwiesen sich einige
Stoffe als besonders auffällig. Dazu gehört auch Tribu-
tylzinn, das berühmte TBT, das in den Fußballtrikots
gefunden wurde. Das Bundesinstitut für gesundheitli-
chen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin hat TBT-
Verbindungen schon vor Jahren als Stoffe eingestuft,
von denen ernste Gesundheitsschäden für den Menschen
ausgehen können.

Seit Anfang der 90er-Jahre ist TBT in deutschen
Holzschutzmitteln bereits verboten. Das Gleiche gilt
auch für Schiffsanstriche von Booten unter 25 Metern,
die sich überwiegend in Binnengewässern bewegen.
Trotz dieser schon seit mehreren Jahren durchgesetzten
Reglementierungen konnten in aktuellen Gewässerpro-
ben weiterhin erhöhte Konzentrationen nachgewiesen
werden. Nicht zuletzt deshalb begrüßen wir ausdrücklich
die Ankündigung des Bundesumweltministeriums, hin-
sichtlich der Verwendung dieser Stoffe in Klei-
dungsstücken ein sofortiges Verbot auszusprechen und
bei den Schiffsanstrichen zu schnelleren Lösungen als
angestrebt zu kommen. International soll TBT bei
Schiffsanstrichen bis 2003 verboten werden. Wir wollen
mit unserem Entschließungsantrag das Bemühen der
Bundesregierung, schneller zu internationalen Lösungen
zu kommen, unterstützen.


(Monika Ganseforth [SPD]: Sehr gut!)

Die für das Frühjahr geplante Anhörung des Gesund-
heitsausschusses wird uns gerade im Hinblick auf die
gesundheitlichen Risiken sicherlich noch weitere Er-
kenntnisse vermitteln.

Die Verunsicherung der Verbraucher über den Grad
der Gefährdung muss endlich beendet werden. Wir ha-
ben es im Zusammenhang mit den Fußballtrikots erlebt:

Vizepräsidentin Anke Fuchs






(A)



(B)



(C)



(D)


Zunächst wird behauptet, es sei schädlich. Danach haben
die Kaufhäuser einen Verkaufsstopp, den sie selber ver-
hängt haben, wieder mit der Begründung aufgehoben, es
sei doch nicht so schlimm. Professor Wassermann – er
ist sicherlich ein renommierter Wissenschaftler – hat al-
lerdings dann erklärt, dass diese Substanzen sehr wohl
über die Haut vom Körper aufgenommen werden kön-
nen und dass sie dort das Immunsystem schwächen oder
Missbildungen auslösen können.

Es ist sicherlich ein Problem, dass wir es im Bereich
der Stoffe, die endokrine Wirkungen zeigen, immer
wieder mit einer Kumulation zu tun haben. Menschen
nehmen die Substanzen auf mehrfachem Wege auf, zum
Beispiel über das Fußballtrikot und über die Nahrungs-
mittel. Man hat festgestellt, dass man dann, wenn man
den Inhalt einer 200-g-Fischkonserve isst – das ist
ja nicht außergewöhnlich viel –, schon 36 Prozent des
von der Weltgesundheitsorganisation aufgestellten
Grenzwertes zu sich nimmt. Dieser Grenzwert bezieht
sich ausdrücklich nur auf die Effekte, die TBT im Im-
munsystem auslöst. Die hormonelle Wirksamkeit, die
schon bei der Aufnahme wesentlich geringerer Konzent-
rationen gegeben sein kann, ist dabei noch gar nicht be-
achtet.

Bei Schwangeren und Kindern ist die Gefahr beson-
ders groß, da hormonelle Schadstoffe bereits in gerings-
ten Konzentrationen in das Hormonsystem beispielswei-
se von Ungeborenen und Kleinkindern eingreifen und
schwere Entwicklungsstörungen des Wachstums und des
zentralen Nervensystems hervorrufen können und damit
das spätere Verhalten und die Fortpflanzungsfähigkeit
beeinträchtigen können.
Weitere mögliche Effekte bei Menschen bestehen in der
Vermännlichung von Frauen, in der Unfruchtbarkeit bis
hin zu nachlassender Qualität der Spermien. Auch die
Funktion der Immunzellen zur Bekämpfung von In-
fektionen kann gestört werden.

Doch nicht allein das hochgiftige TBT birgt unabseh-
bare Risiken für uns.


(V o r s i t z: Vizepräsident Rudolf Seiters)

Auch der Gruppe der Alkylphenole, die bei Waschmit-
teln, Industriereinigern und Kosmetika eingesetzt wer-
den, konnten östrogene Eigenschaften nachgewiesen
werden. Obwohl sich die deutsche Industrie 1986 eine
Selbstverpflichtung auferlegt hat, werden in der Umwelt
weiterhin hohe Konzentrationen festgestellt. Offensicht-
lich gelangen diese Stoffe über den Importsektor auch
auf den deutschen Markt.

Wir sollten nicht unbedingt eine EU-weite Regelung
abwarten. Da diese Stoffe beispielsweise in der Schweiz
nicht mehr in Wasch- und Reinigungsmitteln verwandt
werden dürfen und in der Schweiz offensichtlich trotz-
dem sauber gewaschen wird, bin ich der Meinung, dass
auch wir uns ein Verbot dieser Bestandteile leisten kön-
nen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Die dritte Substanz, die wahrscheinlich auch hormo-
nelle Wirkungen hat, sind die Phthalate, die überwie-
gend als Weichmacher in Schläuchen, Folien und Fuß-
bodenbelägen vorkommen. Das Bundesgesundheitsmi-
nisterium hat bereits in einer Verordnung ein Verbot des
Phthalates in Kinderspielzeug aus Weichplastik erstellt.
Ich war ziemlich entsetzt, dass man das verbieten muss-
te, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass man solche
chemischen Stoffe in Beißringen für Babys verwendet.
Es ist schlimm, dass der Gesetzgeber hier eingreifen
muss und dass es in der Industrie nicht genügend Ver-
antwortung gibt, so etwas von vornherein gar nicht zu
produzieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])


Wir sollten auch im Interesse der Verbraucher fort-
fahren, den Eintrag von Chemikalien, die nachweislich
endokrine Wirkungen haben, drastisch zu verringern. Es
besteht über die Fraktionsgrenzen hinweg Einvernehmen
darüber, dass wir nach den schon jetzt vorliegenden Er-
kenntnissen über die gesundheitlichen Wirkungen dieser
Stoffe zu einer Lösung des Problems kommen müssen.

Wir verfolgen mit unserem Entschließungsantrag
auch das Ziel, eine andere Politik einzuleiten, also nicht
mehr erst dann mit gesetzlichen Regelungen zu begin-
nen, wenn das Kind sozusagen schon in den Brunnen
gefallen ist, wenn Menschen hochgradig erkrankt sind.
Wir wollen vielmehr den Wechsel zu einer vorsorgen-
den Umweltpolitik, damit man bereits dann, wenn ein
Verdacht besteht, eingreifen kann, um Erkrankungen zu
verhindern.

Das muss nicht unbedingt im Gegensatz zur Industrie
geschehen. Ich weiß, dass uns immer wieder vorgehalten
wird: Daran hängen Arbeitsplätze; wir müssen das pro-
duzieren und wenn ihr das verbietet, dann müssen wir
viele Menschen entlassen. Diese bekannten Totschlag-
argumente kennen wir mittlerweile. In der chemischen
Industrie gibt es sicherlich hochintelligente Spezialisten.
Wir sollten uns mit ihnen einmal zusammensetzen und
überlegen, was für einen Ersatz es gibt und wie man et-
was anders produzieren kann.

Bisher liefen solche Gespräche immer nach dem glei-
chen Muster ab. Auch in der Diskussion über Formalde-
hyd – vielleicht erinnern Sie sich – hieß es anfangs: Das
macht überhaupt nichts; davon wird gar keiner krank.
Erst als die Wirkungen wirklich nachgewiesen wurden,
mussten nach einem längeren Zeitraum ungefähr
30 Produkte sofort vom Markt genommen werden.


(Monika Ganseforth [SPD]: Die mauern!)

Es ist auch für die Arbeitsplätze schlecht, wenn man

immer bis ganz zum Schluss wartet und Dinge plötzlich
vom Markt nehmen muss. Es liegt in der Verantwortung
der Industrie, mit uns darüber nachzudenken, wie wir
vorsorgende Umweltpolitik machen können, die sich auf
die Gesundheit der Menschen positiv auswirkt. Das
spart im Übrigen auch Geld und viel Ärger.

Jutta Müller (Völklingen)







(A)



(B)



(C)



(D)


Deshalb möchte ich an dieser Stelle sagen: Wir laden
die chemische Industrie ausdrücklich ein, beim Prozess
der Reduktion von Schadstoffen mitzuwirken und mit
uns darüber zu diskutieren. Wenn das geschieht, dann
wollen wir die Forschung gerne unterstützen.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1408416700
Ich gebe dem Kol-
legen Bernward Müller das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.


Bernward Müller (CDU):
Rede ID: ID1408416800
Sehr geehrter
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Frau Müller, es war wohl in der letzten Woche, als
die Kollegin Deichmann aus Ihrer Fraktion gesagt hat:
Es ist nicht der Stoff, sondern die Dosis, die giftig
macht. Dies ist meine kurze Antwort auf Ihren Redebei-
trag. Aber wir kommen darauf zurück.

Wir sprechen heute über die eben beschriebene Prob-
lematik. Es geht um Substanzen, die endokrine Störun-
gen verursachen können. Gestatten Sie mir am Anfang
einen kurzen historischen Rückblick.

Seit Anfang der 90er-Jahre wird diese Problematik
sowohl in der Wissenschaft als auch in der Öffentlich-
keit und der Politik diskutiert. In der Öffentlichkeit wa-
ren damals Verdachtsmomente der Wissenschaft über
mögliche hormonähnliche Wirkungen bestimmter Che-
mikalien in der Umwelt bekannt geworden. In natürli-
chen Lebensräumen verschiedener Tierarten wurden bei
einigen Spezies auffällige Veränderungen wie Repro-
duktions- und Entwicklungsstörungen beobachtet. Un-
tersuchungen ergaben in diesen Fällen eine erhebliche
Belastung der Umwelt durch synthetische Chemikalien
mit hormonähnlicher Wirkung.

In den USA wurde nach der Verunreinigung des Lake
Apopka in Florida mit Insektiziden 1981 über Störungen
berichtet, die die Entwicklung der Sexualorgane von Al-
ligatoren betrafen. In England stellte man Anfang der
90er-Jahre Geschlechtsverschiebungen bei Forellen fest,
die in der Nähe von Klärwerkseinläufen gehalten wur-
den. Auch Arzneimittel, die in der Human- und Veteri-
närmedizin Verwendung finden und über menschliche
und tierische Ausscheidungen in das Abwasser gelan-
gen, können solche endokrinen Effekte verursachen.

Sie haben vor knapp drei Jahren – genau am 30. Ja-
nuar 1997 – im Deutschen Bundestag über die Studie
der Kopenhagener Forschungsgruppe von 1992 disku-
tiert. Frau Müller, Sie haben es gerade angesprochen. Es
ging dabei um die Feststellung in dieser Studie, dass die
Menge an Spermien zurückgeht. Aber es gibt weitere
Entwicklungen, es gibt neue Erkenntnisse. Ich kann Sie
insofern beruhigen: Es gibt heute hierzu eine ganze Rei-
he von Untersuchungen, die genau das Gegenteil dazu
feststellen. Ich will den amerikanischen Forscher Harry
Fisch nennen, der in seinen Forschungen, die er im Zeit-

raum von 1970 bis 1994 durchgeführt hat, registriert hat,
dass die damals festgestellte beklagenswerte Entwick-
lung mittlerweile gegenläufig ist. Gleichwohl wurde in-
folge solcher Beobachtungen postuliert, dass derartige
Stoffe nicht nur in Bezug auf die Tierwelt relevant sind,
sondern auch von Einfluss auf die menschliche Gesund-
heit sein könnten.

Wie ist der wissenschaftliche Erkenntnisstand heu-
te? Dazu kurz drei Zitate. Das erste Zitat stammt vom
Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages,
veröffentlicht in „Der aktuelle Begriff“ Nr. 10/99. Der
Wissenschaftliche Dienst stellt fest:

Insgesamt ist das Gebiet der endokrin wirksamen
Stoffe nur wenig erforscht, sodass abschließende
Bewertungen nicht möglich sind. Insbesondere die
Zusammenhänge zur vermuteten Spermienabnahme
und zum vermehrten Auftreten von Brust- und Ho-
denkrebs sind jedoch noch nicht abschließend ge-
klärt. Anerkannte standardisierte Testverfahren zur
Beurteilung einer endokrinen Wirksamkeit werden
noch weiterentwickelt. Deren Relevanz für den
Menschen und die Ökosysteme bedarf aber noch
einer Bewertung.

Das zweite Zitat stammt aus der Zeitschrift „Tierge-
sundheit“ vom September 1999:

Der Verdacht, bestimmte endokrin wirksame che-
mische Stoffe führten zu schwerwiegenden Störun-
gen im Hormonhaushalt von Menschen und Tieren,
kann immer mehr entkräftet werden.

Das letzte Zitat stammt aus dem noch druckfrischen
Sondergutachten des Rates von Sachverständigen für
Umweltfragen „Umwelt und Gesundheit – Risiken rich-
tig einschätzen“ Drucksache 14/2300, ich denke, wir
werden hier auch noch darüber reden. Dort ist zu lesen:

Die Ergebnisse aller bisher vorliegenden Studien
zeigen, dass die Möglichkeit des Auftretens von
schädlichen Wirkungen durch hormonähnlich wir-
kende Stoffe auf den menschlichen Organismus e-
her als gering einzuschätzen ist.

Zusammenfassend heißt das: Die Forschung sieht ih-
ren Anfangsverdacht, nämlich die Übertragbarkeit von
Beobachtungen aus der Tierwelt auf die Menschen, zu-
nehmend entkräftet. Endgültige Aussagen können auf-
grund des derzeitigen Forschungsstandes jedoch noch
nicht getroffen werden.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind ja auch keine Alligatoren!)


– Ja, Herr Kollege. Aber es ging um die Frage, ob das
Auswirkungen auf den menschlichen Organismus hat.

Meine Damen und Herren von der Regierungskoaliti-
on, auch wenn Sie der Meinung sind – Sie haben es im
Ausschuss so dargelegt –, es handele sich um eines der
ältesten Umweltthemen, man habe sich daher nun schon
lange genug mit diesem Thema auseinander setzen kön-
nen und nun müsse – koste es, was es wolle – ein Be-
schluss her, werden wir Ihren Antrag nicht mittragen.

Jutta Müller (Völklingen)







(A)



(B)



(C)



(D)



(Zurufe von der SPD: Ach!)

Ich will das kurz begründen.


(Zuruf von der SPD: Das ist schade!)

– Hören Sie sich doch die Begründung an, bevor Sie
werten.

Zu viele Fragen sind in diesem Problemfeld noch
nicht wissenschaftlich einwandfrei geklärt.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Deshalb tun wir nichts!)


In solch einen sensiblen Bereich, wo es um den Schutz
des Menschen und der Umwelt geht, wollen Sie, einfach
weil es Ihnen an der Zeit zu sein scheint, hineinregeln.
Ich will Ihnen sagen, was dabei herauskommt: Es
kommt eine Beschlussempfehlung heraus, die an unaus-
gegorenen Vorschlägen und wissenschaftlichen Ge-
meinplätzen kaum zu überbieten ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der F.D.P.)


Ich bin der Meinung: Weitere Forschung ist dringend er-
forderlich. Ich glaube, das haben Sie im Ausschuss auch
gesagt. Es wäre erfreulich gewesen, wenn Sie diesem
Ansatz in den Haushalten der zuständigen Ministerien
Rechnung getragen hätten und die Forschung auf diesem
Gebiet – Sie haben es als einen Schwerpunkt Ihrer Re-
gierungsarbeit definiert – entsprechend fördern würden.

Solche Fragen treten jedoch angesichts Ihrer Be-
schlusshysterie völlig in den Hintergrund. Ich sage des-
halb noch einmal: Wir brauchen mehr Forschung. Wir
werden Ihren Vorschlag so nicht mittragen. Frau Müller,
Sie haben ja die Notwendigkeit von Forschungsrichtli-
nien angesprochen. Ich stimme dem zu. Die Wirksam-
keit im Hinblick auf Risikogruppen wie zum Beispiel
ungeborene Kinder, aber auch die Zusammenhänge zwi-
schen endokrinen Stoffen und der Häufigkeit von Tu-
morerkrankungen müssen wirklich untersucht und auf
ein sicheres Fundament gestellt werden, um entscheiden
zu können.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Niemandem – weder der Umwelt, den Tieren oder

den Menschen – ist durch Verbote geholfen, die sich le-
diglich aus Verdachtsmomenten ableiten. Wie bitte
wollen Sie die Verhältnismäßigkeit zwischen Eingriffs-
intensität und den tatsächlichen Gefahrenpotenzialen
wahren, wenn sie die Beschlussempfehlung nicht einmal
auf die Grundlage einer ausreichenden Datenmenge und
daraus resultierender Risikobewertungen stellen kön-
nen?

Ich zitiere noch einmal den Rat der Sachverständigen:
Hinsichtlich der menschlichen Gesundheit ergeben
sich aufgrund der vorliegenden Datenlage ... keine
Verdachtsmomente von solcher Plausibilität, dass
ein unmittelbarer Handlungsbedarf besteht.

Schieben Sie also bitte nicht die – im Übrigen noch
von der CDU/CSU-geführten Bundesregierung 1986
formulierten – „Leitlinien Umweltvorsorge“ vor, wenn

Sie jetzt auf die Annahme dieser Beschlussempfehlung
drängen. Das hat mit dem Vorsorgegedanken, dem sich
auch die CDU/CSU besonders verpflichtet fühlt, nichts
zu tun.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Seit wann das denn?)


Ich möchte Ihnen sagen, was ich vermute:

(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Aha! Verschwörung!)

– Nein, das ist keine Verschwörung. – Es geht Ihnen
darum, mit diesem Beschluss wieder einmal als Retter
der gefährdeten Menschen aufzutreten.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Aha! – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Irgendeiner muss es doch tun! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU)


– Genauso ist es: Es stehen Wahlkämpfe an. – Hier se-
hen Sie eine Möglichkeit – diese Wahrheiten müssen Sie
sich gefallen lassen –, sich wieder einmal als Gutmensch
zu präsentieren,


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Genau! Lieber Gutmensch als Schwarzmensch!)


um den Bereich der Bevölkerung, den Sie mit Ihrer
Ökosteuer und Ihrer Rentenlüge verprellt haben, wieder
für sich zu gewinnen. Dies ist ja nicht abwegig. Sie
brauchen nur die aktuelle Diskussion zu verfolgen. Ich
erinnere Sie an den Politzirkus, den Sie beim Ausstieg
aus der Atomenergie veranstalten.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn daran Zirkus?)


Man erlebt das ja jeden Tag. Sie brauchen nur nach
Nordrhein-Westfalen zu schauen und zur Kenntnis zu
nehmen, was die dortige Umweltministerin gestern ge-
sagt hat.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur Richtiges! – Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Sind Sie auch Kassenwart?)


– So ändern sich Ihre Vorstellungen.

(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Was sol len denn diese Moralisierungen?)

Der CDU/CSU liegt der Vorsorgegedanke am Her-

zen. Wir setzen uns für den Schutz von Mensch und
Umwelt ein. Das gehört zu den Grundsätzen unserer Po-
litik. Sie sollten eines nicht vergessen: Es war die
CDU/CSU-geführte Bundesregierung, die bis zur letzten
Bundestagswahl die Forschungen auf dem Gebiet der
Endokrinologie intensiv gefördert und finanziert hat,
und das europaweit und weltweit. Ich hätte mir ge-
wünscht, das wäre unter Ihrer Regierung genauso. Aber
in den entsprechenden Haushaltsansätzen ist davon
nichts zu spüren. Ich denke, die von Ihnen vorgelegte
Beschlussempfehlung ist, wie ich schon gesagt habe, in
dieser politischen Hinsicht zu beurteilen.

Bernward Müller (Jena)







(A)



(B)



(C)



(D)


Ich will zum Schluss kommen; denn meine Redezeit
ist abgelaufen. Die mögliche Gefährdung von Mensch
und Tier durch endokrin wirksame Chemikalien ist ein
sehr ernst zu nehmendes Thema, bei dem es immer noch
erhebliche Wissenslücken gibt. Überlegungen und Be-
schlüsse über angemessene Maßnahmen bei möglichen
Risiken können nur auf der Grundlage von wissen-
schaftlichen Fakten erfolgen. Hier ist nicht blinder Akti-
onismus gefragt, sondern politisch verantwortungsvolles
und besonnenes Handeln. Verantwortungslos ist sowohl
der, der mit wissenschaftlich unbelegten Hypothesen in
der Öffentlichkeit Ängste schürt, als auch derjenige, der
die Problematik der endokrin wirksamen Stoffe herun-
terspielt. Beides darf nicht geschehen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1408416900
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Winfried
Hermann.


Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408417000

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! „Von impotenten Schnecken und einer tauben Bun-
desregierung“ betitelte vor einigen Jahren „Die Zeit“ ei-
ne Glosse über die Initiative der Grünen-Fraktion zum
Thema endokrine Stoffe. In anderen Zeitungen lauteten
die Überschriften: „Angriffe auf die Männlichkeit“ und
„Kleinere Hoden, weniger Spermien“; Sie, Herr Kolle-
ge, haben Ähnliches zitiert. All dies, was so reißerisch
daherkommt, verweist, wie Sie selbst gesagt haben, auf
ein ernsthaftes Problem. Sie haben mit Recht darauf
hingewiesen, dass wir noch nicht alles wissen. Aber wir
wissen schon eine ganze Menge, und das ziemlich si-
cher.

Warum sind diese Stoffe gefährlich? Weil sie eine
hormonähnliche Struktur haben und sehr persistent sind,
also dauerhaft in der Umwelt verbleiben und auf diese
Art und Weise in den Organismus des Menschen kom-
men können. Weil sie hormonähnliche Strukturen ha-
ben, können sie auf das menschliche Hormonsystem
wirken und damit den Organismus und seine Entwick-
lung gefährden. Das wissen wir, Herr Müller; das kann
man nicht bestreiten. Schlimmer noch: Wir haben auch
Anzeichen dafür, dass diese Stoffe beispielsweise die
Plazenta-Barriere überwinden können und so auf den
Embryo einwirken können. Die Plazenta kann also den
Embryo nicht mehr vor den schädlichen Chemikalien
schützen. Die Folgen sind – Sie haben es selbst genannt
– zurückgehende Zeugungsfähigkeit und ein Nachlassen
der Spermienqualität bei Männern, eine Zunahme von
Missbildungen auch der Geschlechtsorgane und eine
Zunahme von Brust- und Hodenkrebsfällen.

Nun kann man sagen, das alles sei wissenschaftlich
noch nicht endgültig und eindeutig erwiesen. In der Tat
gibt es Belege, die nicht eindeutig sind. Nur, Herr
Müller, daraus die Konsequenz zu ziehen und zu sagen,
wir sollten abwarten, bis die Befunde endgültig geklärt
sind, das ist hoch riskant. Das können wir uns nicht län-
ger erlauben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Indizien sind so eindeutig, dass wir vorsorglich han-
deln müssen.

Was tun wir? Wir haben nicht einfach ein generelles
Verbot erlassen, sondern eine Konzeption erarbeitet, die
eine effiziente Reglementierung dieser hoch brisanten
Stoffe bis hin zum Verbot zum Ziel hat. Es geht also
nicht um ein generelles Verbot, sondern um eine Regle-
mentierung, die in Einzelfällen ein Verbot einschließt.
Das gilt zum Beispiel für die organischen Zinnverbin-
dungen wie TBT und DBT, die kürzlich eine Rolle ge-
spielt haben, weil sie in Sporttrikots oder Fischkonser-
ven gefunden wurden. Diese Stoffe wollen wir jetzt für
die Bereiche Textilien, Holzschutzmittel und Schiffbau
verbieten. Daran arbeitet das Umweltministerium. Das
Gesundheitsministerium hat schon in den letzten Mona-
ten bei Babyspielzeug – unter anderem bei Beißringen –
dafür gesorgt, dass bestimmte Weichmacher verboten
sind. Es ist einfach nicht einsichtig, dass solche Stoffe
ausgerechnet dort enthalten sein sollen, wenn man weiß,
dass sie gefährlich sein könnten.

Dennoch müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass wir
erst am Anfang stehen. Es gibt in jedem Jahr an die 300
Neuentwicklungen und es gibt an die 100 000 Altstoffe.
Denken Sie nur an die starke Anreicherung von PVC.
PVC-Böden bestehen bis zu 30 Prozent aus Weichma-
chern. Hier gibt es überall Risiken, weil diese Stoffe
womöglich auch ins Grundwasser und damit in den bio-
logischen Kreislauf und letztlich in den menschlichen
Organismus gelangen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Plaste und Elaste!)


Zugegeben, diese Entwicklung gleicht einer Hydra.
Politik tut sich da schwer. Wir müssen unseren Weg fin-
den. Das aber setzt voraus, ihn erst einmal zu suchen.
Wir dürfen nicht immer das Risiko herunterreden, wie
Sie es getan haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Herr Müller, Sie haben die Geschichte zitiert. Sie sind
leider ein paar Jahre zu wenig zurückgegangen. Bereits
in den 60er-Jahren hat Rachel Carson in ihrem Klassiker
„The Silent Spring“ in sehr anschaulicher Weise be-
schrieben, wie diese gefährlichen Chemikalien wirken.
Sie hat gezeigt, wie sich Fischarten in manchen fischrei-
chen Gewässern völlig verändert haben und wie sich in
der Folge auch vieles bei den Menschen verändert hat.
Dazu schrieb sie:

Wir setzen ganze Bevölkerungen dem Einfluss von
Chemikalien aus, von denen wir aus Tierstudien

– natürlich nur aus Tierstudien –
wissen, dass sie ungemein giftig sind und dass sich
diese Effekte in manchen Fällen sogar addieren. ...

Bernward Müller (Jena)







(A)



(B)



(C)



(D)


Diese Belastung beginnt inzwischen schon vor oder
bei der Geburt und dauert ... bei den heute lebenden
Menschen ein Leben lang.
Niemand weiß, wie die Ergebnisse dieses Experi-
ments aussehen werden.

Diese Erkenntnisse gab es also schon in den 60er-
Jahren. Danach gab es einen Zeitraum, in dem sowohl
die Industrie als auch die Wissenschaft immer wieder
dagegen argumentiert haben und versucht haben, zu be-
weisen, dass diese Stoffe doch nicht so gefährlich sind.

Ich meine, das Prinzip des Vorsorgens mahnt uns –
dieser Punkt wurde schon angesprochen –, wirklich et-
was zu tun, endlich etwas zu ändern und nicht immer
wieder Ausreden zu suchen; denn sonst bleibt das Prin-
zip, zu dem Sie sich immer wieder gerne bekennen,
nämlich das Vorsorgeprinzip, ein reines Lippenbekennt-
nis.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Denken Sie daran, wie lange man etwa im Fall Conter-
gan gewartet hat, bis man endlich den Beweis für die
schädliche Wirkung hatte! Viele Tausende von Men-
schen haben dieses Warten mit ihrem schweren Schick-
sal bezahlen müssen. Ich finde, daraus sollte man lernen.

Die Koalitionsfraktionen haben im vergangenen
Sommer aufgrund dieser Einschätzung der Problematik
und aufgrund des Anstoßes aus dem Europäischen Par-
lament von der Regierung ein Gesamtkonzept mit Ver-
bots- und Reduktionsvorschlägen, bezogen auf das ge-
samte Spektrum dieser endokrin wirkenden Chemika-
lien, verlangt. Wir haben feststellen müssen, dass die
chemische Industrie diese Entwicklung sehr wachsam
beobachtet. Sie von der CDU/CSU und von der F.D.P.
können ein Lied davon singen, wie die Lobbyisten aktiv
geworden sind und wie sie versucht haben, auf Sie –
auch auf uns – Einfluss zu nehmen, damit das Thema
von der Tagesordnung genommen wird.

Ich sage heute ganz deutlich: Die chemische Industrie
macht Werbung mit dem Prinzip „responsible care“,
verantwortlich und vorsorgend handelnde Chemieindus-
trie. Ich sage Ihnen: Schluss mit riskanten Chemikalien.
Wer sein eigenes Prinzip ernst nimmt, muss auch sagen:
Schluss mit Schadstoffen in Trikots und im Nahrungs-
mittelkreislauf, von denen wir wissen, dass sie hoch ris-
kant sind. Für einen fragwürdigen Gag – der Grund für
diesen Inhaltsstoff ist ja banal: das Trikot sollte besser
aussehen und das Gewebe sollte weniger leicht schim-
meln – nimmt man ein hohes ökologisches Risiko in
Kauf. Ich meine, dass wir von der Politik diese Verant-
wortungslosigkeit beenden müssen.

Die Einzelhändler haben in den vergangen Wochen
bewiesen, dass sie verantwortungsvoll handeln können.
Auch die Verbraucher haben deutlich gemacht, dass
man diesen „Luxus“, der mit einem hohen Risiko ver-
bunden ist, nicht braucht. Ich sage Ihnen: Responsible
care – lassen Sie uns dieses Motto ernst nehmen!

Herr Müller, zu guter Letzt: Damals wurde „von im-
potenten Schnecken und einer tauben Bundesregierung“

gesprochen. Sie hätten jetzt die Chance, zu beweisen,
dass Sie nicht auch eine taube Opposition sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1408417100
Für die Fraktion der
F.D.P. spricht nun die Kollegin Ulrike Flach.


Ulrike Flach (FDP):
Rede ID: ID1408417200
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Taube Opposition hin, taube Opposition
her: Herr Hermann, es liegen uns heute zwei Beschluss-
empfehlungen vor. Lassen Sie mich aus diesem Grund
wenigstens kurz auf den anderen Teil eingehen, nämlich
den, der sich mit FCKW beschäftigt! Schließlich ist das
einer der wenigen Fälle, in denen wir uns als Opposition
und als Regierung völlig einig waren.

Weltweit werden jährlich noch rund 10 000 Tonnen
FCKW in Dosieraerosolen abgefüllt, davon circa
1 000 Tonnen in Deutschland. Ungefähr ein Drittel geht
dabei in die Therapie chronischer Atemwegserkrankun-
gen. Diese ozonschädigende Wirkung – das wissen wir
alle – übertrifft bei weitem die Wirkung der FCKW-
Emissionen aus kälte- und klimatechnischen Anwen-
dungen.

In Deutschland und Europa stehen inzwischen Alter-
nativen zur Verfügung, zum Beispiel Dosieraerosole mit
FKW statt FCKW. Die vorliegende Strategie der EU-
Kommission legt Kriterien für Alternativen fest und
stellt für die deutschen Zulassungsbehörden die Grund-
lage dar, Ausnahmegenehmigungen in Zukunft abzuleh-
nen.

Wichtig für uns Liberale ist, dass weiter an Alternati-
ven gearbeitet und für FCKW-freie Aerosole geworben
wird. Für uns ist vorstellbar – diesen Punkt möchte ich
an dieser Stelle besonders betonen –, umweltfreundli-
chere Aerosole aus dem Arzneimittelbudget herauszu-
nehmen, um wirtschaftliche Anreize zu schaffen, den
FCKW-Ausstieg zu beschleunigen. Wir haben in unse-
rem Votum besonderen Wert darauf gelegt, dass der
Ausstieg keine Nachteile für die Patienten bringt. Das ist
offensichtlich jetzt der Fall. Wir stimmen der Vorlage
zu.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, die Entschließung des EU-
Parlaments zu Stoffen, die möglicherweise Störungen
des hormonellen Systems verursachen, und die Be-
schlussempfehlung des Umweltausschusses beschäftigen
sich – wir haben es gerade sehr deutlich bemerkt – mit
einem äußerst komplexen Thema. Der Nachweis, dass
einzelne Stoffe das Hormonsystem beeinflussen und
wie das geschieht, ist außerordentlich schwer. Alle Ex-
perten sagen, dass wir nach wie vor zu wenig Kenntnis-
se über die Wirkungsweise des hormonellen Systems bei
Mensch und Tier haben und es unheimlich schwer ist,
zwischen natürlichen, körpereigenen Hormonproduktio-
nen – die gibt es ja schließlich auch – und äußeren Ein-
flüssen zu differenzieren.

Winfried Hermann






(A)



(B)



(C)



(D)


Bei TBT in Schiffslacken haben wir bereits ein Aus-
stiegsszenario, meine Damen und Herren, über das Sie
immer so gerne hinwegreden. Innerhalb der EU haben
wir ein Anwendungsverbot für Schiffe mit einer Länge
von unter 25 Metern. Eine Vereinbarung der IMO sieht
vor, TBT-haltige Schiffslacke ab 1. Januar 2003 zu ver-
bieten. Ab 2008 dürfen Schiffe keinen TBT-haltigen
Anstrich mehr haben. Ersatzstoffe stehen bereits zur
Verfügung oder befinden sich in der Erprobungsphase.
Hier möchte ich auf einen gemeinsamen Pilotversuch
des WWF, des VCI und des niedersächsischen Um-
weltministeriums mit biozidfreien Schiffsanstrichen
hinweisen, der Erfolg versprechende Zwischener-
gebnisse gebracht hat.

Meine Damen und Herren, die IMO-Vereinbarung ist
aber noch keineswegs in trockenen Tüchern. Wenn die
Bundesregierung hier Druck macht, kann sie dabei si-
cher voll auf unsere Unterstützung rechnen. Ich wäre
froh, wenn sie auch anwesend wäre.

Wenn die Minister Trittin und Fischer sich aber voll-
mundig hier hinstellen und ein Verbot von TBT fordern,
so ist mir das zu undifferenziert. Wollen Sie die Ver-
wendung von TBT verbieten oder seine Produktion?
Wollen Sie Schiffe, die zukünftig in deutsche Hoheits-
gewässer einfahren, auf TBT-haltige Anstriche kontrol-
lieren? Und vor allem: Wollen Sie alle Organozinnver-
bindungen verbieten?


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, was wollen Sie denn?)


Denn Experten weisen darauf hin, dass man auf TBT
durchaus verzichten kann, auf Mono- und Dibutylzinn
jedoch nicht. In diesen Stoffen gibt es nun einmal leider
herstellungsbedingt Verunreinigungen durch TBT. Das
ganze Thema ist leider nicht so einfach zu handhaben,
wie Herr Hermann uns das eben gesagt hat, und auch
nicht so einfach wie der Chemiebaukasten von Jürgen
Trittin, den er offensichtlich in seiner Jugend gehabt hat.


(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dass es einfach ist, habe ich nicht gesagt!)


Die Nachricht, dass in Sporttrikots TBT nachgewie-
sen wurde, hat viele Verbraucher verunsichert. Dabei ist
bis heute nicht klar, ob das TBT in der Faser selbst war
oder ob es durch ein Desinfektionsmittel bei der Lage-
rung oder durch einen Anstrich der Kisten beim Trans-
port in die Trikots gekommen ist. Deshalb auch hier
meine sehr, sehr dringende Bitte: Verunsichern Sie die
Verbraucher nicht weiter, um ein neues kernkraftähnli-
ches Thema zu bekommen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sagen: Augen zu und durch!)


Der Verband der Chemischen Industrie hat klarge-
stellt, dass TBT von den elf Chemiefaserherstellern
nicht verwendet wird. Auch von den rund 50 Pro-
duzenten von chemischen Textilhilfsmitteln wird es
nicht als antibakterieller Zusatz verwendet. Der Nach-
weis von TBT ist nun einmal extrem schwierig, weil die

Mengen, die ein gesunder Mensch zu sich nehmen kann,
so gering sind: 15 Mikrogramm pro Tag. Wir dürfen
aber auch die Hypothese, die der Bonner Hormonfor-
scher Klingenmüller aufgestellt hat, nicht ignorieren,
wonach bereits im Nanogrammbereich hormonelle Ein-
flüsse nicht auszuschließen sind.

Also – zusammenfassend –: Wie wollen Sie TBT in
Importwaren nachweisen? Soll zukünftig jede Lieferung
Sporttrikots, Badematten, Schwämme und andere Nässe-
textilien auf TBT überprüft werden?


(Monika Ganseforth [SPD]: Was wollen Sie machen?)


Diese Untersuchungen, Frau Ganseforth, sind sehr kos-
ten- und zeitaufwändig.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also lassen wir es!)


Meine Damen und Herren, die Verbotskeule, die in
der Beschlussvorlage nicht nur für TBT, sondern auch
hinsichtlich von Phtalaten und Alkylphenolen ausge-
packt wird, löst das Problem nicht. Ähnlich wie bei
Schiffslacken brauchen wir auch bei anderen Verwen-
dungen chemischer Stoffe weltweite Vereinbarungen
über Ersatzstoffe.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und bis dahin?)


Dabei halten wir mehr davon, auf freiwillige Selbst-
verpflichtungen zu setzen, wie sie zum Beispiel die
Waschmittelindustrie in Deutschland eingegangen ist,
anstatt unsere eigenen Emotionen auf die internationale
Ebene zu übertragen.

Wir brauchen vor allem eine deutliche Intensivierung
der Forschung auf diesem Gebiet, meine Damen und
Herren, und da stimme ich Ihnen zu.

Und bitte: Wenn Sie davon reden, dass es überall Er-
satzstoffe gibt, dann ist Vorsicht geboten. Bei den
Schiffslacken stimmt das mit Einschränkungen. In ande-
ren Verwendungsbereichen sind die Ersatzstoffe dann
zum Beispiel nicht hormonell wirksam, sondern toxisch.
Das kann es ja wohl nicht sein.

Die F.D.P. hat auch im Umweltausschuss betont, dass
wir der EU-Vorlage durchaus zustimmen können, dass
die Beschlussvorlage, die SPD und Grüne dazu einge-
bracht haben, aber zu undifferenziert ist und die
Verbraucher nicht wirklich schützt. Wir lehnen sie des-
halb ab.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1408417300
Ich gebe das Wort
der Kollegin Eva Bulling-Schröter für die Fraktion der
PDS.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1408417400
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ziemlich genau vor drei Jah-
ren haben wir schon einmal über endokrine Stoffe und
ihre Folgen für Mensch und Umwelt im Bundestag dis-

Ulrike Flach






(A)



(B)



(C)



(D)


kutiert. Damals hatten die Anträge von SPD und Grü-
nen, welche den Schutz vor hormonell wirksamen Stof-
fen deutlich erhöhen sollten, keine Chance. CDU/CSU
und F.D.P. argumentierten ungefähr, das Ganze sei si-
cher ein ernst zu nehmendes Thema, aber es gebe noch
erhebliche Wissenslücken und deshalb dürften keine
voreiligen Schlüsse gezogen werden, also kein unange-
brachter Aktionismus. – Ihre Position hat sich offen-
sichtlich nicht sehr verändert.


(Monika Ganseforth [SPD]: Nicht lernfähig!)

Auch von uns unterstützte Anträge wurden damals leider
abgeschmettert.

Heute können wir ausnahmsweise einmal feststellen,
dass der Regierungswechsel nicht ganz umsonst war.


(Beifall bei der PDS, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie von der CDU/CSU-Fraktion sollten endlich Realitä-
ten zur Kenntnis nehmen,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt auch!)


Realitäten wie die Tatsache, dass inzwischen einige
Schiffswerften auf den Einsatz von TBT-haltigen
Schiffsanstrichen verzichten. Eine freiwillige Selbst-
verpflichtung – das wäre doch etwas für Sie, Frau Flach.
Diese Anstriche mit dem Wirkstoff Tributylzinn waren
kürzlich allerdings auch Ziel einer erfolgreichen Green-
peace-Kampagne, die sowohl Teilen der Wirtschaft als
auch der Politik auf die Sprünge geholfen hat. Wir mei-
nen, dieses Beispiel zeigt einmal mehr, dass die Rolle
von Umwelt-NGOs gar nicht überschätzt werden kann.

Bei den endokrinen Stoffen haben wir es mit einer
besonders üblen Stoffgruppe zu tun. Sie werden nicht
nur in der Industrie angewendet, sondern sind auch All-
tagschemikalien. Über Farben, Weichmacher von Kunst-
stoffen, Reinigungsmittel, Konservendosenbeschichtun-
gen, Arzneimittel oder über die Nahrungskette gelangen
sie in unsere Körper und in die Körper von Tieren. Ei-
nige Hundert meist langlebige Chemikalien parken wir
in unseren Organismen als Sammelstellen für die Ne-
benprodukte der so genannten Wohlstandsgesellschaft.

Etliche dieser Substanzen stören den Hormonhaus-
halt, und zwar in einer Konzentration, die teilweise ei-
nige Tausend Mal über der natürlichen Konzentration
der frei verfügbaren Hormone wie zum Beispiel des bio-
logisch aktiven Östrogens liegt. Aber bereits viel gerin-
gere Mengen können die fötale Entwicklung im Mutter-
leib nachhaltig schädigen. Der von mir sehr geschätzte
Professor Dr. Rochlitz hatte schon vor drei Jahren darauf
hingewiesen, dass erhöhte Brust- und Hodenkrebsraten,
ein vermehrtes Auftreten von Hodenhochstand und
Harnröhrenspalte und sogar schwere Verhaltensstörun-
gen Folgen solcher Prozesse sein können und dass zwei
Drittel der Brustkrebsfälle weder auf Veranlagung noch
auf die bekannten Risikofaktoren zurückzuführen sind.
Mit großer Wahrscheinlichkeit fußen sie auf hormonell
wirksamen Stoffen.

Es ist umso erschütternder, dass auch deutsche Nord-
seehäfen wie Hamburg, Bremerhaven und Emden TBT-

verseucht sind. Es ist die Frage, was wir damit machen.
Die Verklappung TBT-haltiger Schlämme kann wohl
kaum als sicherer Entsorgungsweg bezeichnet werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei den Strategien
gegen die Belastung mit endokrinen Stoffen muss der
Vorsorgegrundsatz, wie auch in der Beschluss-
empfehlung formuliert, klar vor der Gefahrenabwehr
stehen. Das Verbot beziehungsweise die drastische Ein-
schränkung der Verwendung ganzer Stoffgruppen ist
deshalb zu verantworten und zu befürworten. Schließ-
lich geht es um nicht weniger als die ungestörte Repro-
duktionsfähigkeit der Gattung Mensch, aber auch vieler
Tierarten.

Die Suche nach dem letzten wissenschaftlichen Be-
weis der Schädlichkeit, auf die sich die wirtschaftsnahe
Politik und Wissenschaft gerne machen, ist dagegen un-
verantwortlich, Herr Müller. Tragödien um Contergan
oder Holzschutzmittel dürfen sich nicht wiederholen,
auch nicht schleichend.

Zur Frage der Untersuchung hätte die PDS-Fraktion
jetzt noch einen Vorschlag. Wir könnten hier im Plenum
gleich mit der gegenseitigen Untersuchung unserer
Klamotten anfangen. Vielleicht sind dann das nächste
Mal bei diesen Debatten mehr Leute im Plenum.

Danke.

(Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1408417500
Die Bundesregie-
rung legt für das Protokoll Wert auf die Feststellung,
dass die beiden Ressorts Bundesministerium für Um-
welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und Bundesmi-
nisterium für Gesundheit auf der Regierungsbank vertre-
ten sind, möglicherweise gerade nicht bei Ihrer Rede,
Frau Kollegin Flach.


(Zuruf von der F.D.P.: Eben!)

Damit ist diese Sache, denke ich, klargestellt und im
Protokoll ordnungsgemäß vermerkt.

Dann gebe ich das Wort an die Kollegin Monika
Ganseforth für die SPD-Bundestagsfraktion weiter.


Prof. Monika Ganseforth (SPD):
Rede ID: ID1408417600
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute auch um die
Strategie für das Auslaufen der Verwendung von FCKW
in Dosieraerosolen, das heißt in Asthmasprays.

Wenn man Menschen fragt, was sie von FCKW hal-
ten, dann sind die meisten der Meinung, wir hätten die
Produktion und die Anwendung von FCKW längst be-
endet, und es gebe das gar nicht mehr. Dabei trifft man
auf Erstaunen, dass immer noch FCKW angewendet
werden; denn vor 15 Jahren, im Jahr 1985, wurde die
Wiener Konvention zum Schutz der Ozonschicht
verabschiedet. Dies wurde dann im Montrealer Protokoll
1987 konkretisiert; das ist also schon ziemlich lange her.
Damit wurde an sich die Produktion und Anwendung

Eva Bulling-Schröter






(A)



(B)



(C)



(D)


ozonschichtzerstörender Chemikalien, besonders der
FCKW, beendet.

In Deutschland ist es etwas später gewesen: Zehn
Jahre ist es her. Damals haben wir erst einmal den ver-
geblichen Versuch gemacht, Frau Flach, den Sie uns an-
dienen, nämlich mit der chemischen Industrie über
Selbstverpflichtungen zum Verbot oder zur Beendigung
der FCKW-Nutzung zu kommen. Das hat nicht ge-
klappt. Wir sind hingehalten worden. Dann musste die
FCKW-Halon-Verbots-Verordnung erlassen werden. Sie
besteht nun schon seit über zehn Jahren, und zwar nicht
zum Spaß, sondern wir haben es mit einem sehr großen
Problem zu tun. Die langlebigen Chemikalien, die
FCKW, haben eine Lebensdauer zwischen 60 und 400
Jahren. Während dieses Zeitraums sammeln sie sich in
der Stratosphäre, also in der Atmosphäre, an, sozusagen
in den oberen Etagen.

Sie zerstören unter bestimmten Bedingungen rasant
die schützende Ozonschicht. Die bestimmten Bedingun-
gen sind niedrige Temperaturen und der Beginn der
Sonneneinstrahlung nach dem arktischen oder antarkti-
schen Winter. Diese Ozonausdünnung entsteht über den
Polen. Von Jahr zu Jahr wird diese Ausdünnung oder
das so genannte Ozonloch größer. Es fängt eher an und
schließt sich später. Das nimmt kontinuierlich zu. Ich
kann Ihnen sagen: Wir werden in wenigen Wochen,
wenn der arktische Winter zu Ende ist, wieder hören,
dass über der Nordhemisphäre der rasante Ozonabbau
stattfindet und die schützende Ozonschicht abgebaut
wird.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Leider ja!)


Die Folge ist, dass die harte ultraviolette Strahlung
dann auf die Erde, also in die Troposphäre gelangen
kann, dass sie am Boden ihre zerstörerische Wirkung
entfalten kann. Flora und Fauna werden dadurch ge-
schädigt. Beim Menschen nehmen Hautkrebs, Augenlei-
den und Immunschwächen zu. Trotz der vielen interna-
tionalen Vereinbarungen zum Schutz der Ozonschicht,
über die ich eben gesprochen habe, wird sich der schüt-
zende Ozonmantel frühestens am Ende dieses Jahrhun-
derts wieder erholt haben. Das liegt auch daran, dass
immer noch zu viele ozonschichtzerstörende Substanzen
emittiert werden und dass es zu viele Ausnahmen und
Schlupflöcher gibt.

Heute wollen wir über solch ein Schlupfloch spre-
chen, nämlich die Verwendung von FCKW in Asthma-
sprays. Auf internationaler und nationaler Ebene wurde
im Abkommen wegen des Schutzes der menschlichen
Gesundheit eine Ausnahmegenehmigung vom allgemei-
nen FCKW-Verbot vereinbart, allerdings nur bis zur
Verfügbarkeit vertretbarer Alternativen in den Asthma-
sprays.

Das ist jetzt 15 Jahre her. Ich frage mich: Musste es
wirklich so lange dauern, bis diese Alternativen gefun-
den worden sind? Das legt doch den Verdacht nahe, dass
das Thema FCKW-Ausstieg und Schutz von Klima und
Ozonschicht nicht die nötige Priorität in der Forschung
und in der Wissenschaft hatte. Von einem Hightech-

Land im Medizinbereich hätte man erwarten können,
dass man die Lösung dieses Problems, das kein großes
Problem ist, diese Sprays nämlich durch nicht ozonzer-
störende Substanzen zu ersetzen, eher findet und dafür
keine 15 Jahre benötigt.

Die Europäische Gemeinschaft ist nach wie vor der
größte Hersteller. 25 Prozent der hergestellten FCKW-
Menge werden sowohl in Industrie- als auch in Entwick-
lungsländer exportiert. In diesem Bereich ist Deutsch-
land mit 1 000 Tonnen FCKW der größte Produzent, das
heißt, wir haben immer noch 10 Prozent der Weltpro-
duktion. Die eine Hälfte der abgefüllten Sprays wird ex-
portiert und die andere Hälfte wird in Deutschland frei-
gesetzt. Damit ist FCKW aus Dosieraerosolen der größte
inländische Emissionsherd dieser ozon-
schichtzerstörenden Verbindung. Das sind erschrecken-
de Zahlen. Das ist auch heute noch so, nachdem so viele
Vereinbarungen getroffen wurden.

Der heutige Beschluss, den wir vorlegen, ist ein Fort-
schritt. Er ist überfällig und schließt endlich dieses
Schlupfloch.

Die vorige Regierung hat immer gesagt, wir seien an
der Spitze der Bewegung und seien vorbildlich, was die-
sen Bereich angeht. Wenn man konkret hinsieht, kann
man das wirklich nicht sagen. Der Fortschritt ist eine
Schnecke und das, was wir heute beschließen werden,
ist überfällig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Was sind nun die Alternativen für den gefährlichen
Treibstoff FCKW in Asthmasprays? Es gibt drei Mög-
lichkeiten. Zum einen kann R 134 a genommen werden,
das FKW, das nur noch einen Treibhauseffekt und kein
Ozonzerstörungspotenzial hat. Das wird von der Chemie
am liebsten genommen. Die Ersatzstoffe bewegen sich
viel zu stark in diese Richtung.

Die zweite und bessere Möglichkeit ist der Gebrauch
von Kohlenwasserstoffen als Treibstoff, weil sie weder
Ozonzerstörungspotenzial haben noch zum Treibhausef-
fekt beitragen. Sie befinden sich aber noch im Antrags-
verfahren. Das dauert in Deutschland sehr lange. Es
bleibt zu hoffen, dass die Zulassung bald erteilt wird.

Die dritte und beste Möglichkeit schließlich sind die
Pulverinhalatoren, dass also gar kein Spray mehr ge-
nommen wird. Diese tragen weder zum Treibhauseffekt
noch zum Ozonabbau bei.

All diese Verfahren sind verfügbar und werden bei
uns viel zu wenig genutzt. Zum Beispiel liegt der Anteil
der Pulverinhalatoren für Asthmasprays in den Nieder-
landen und in Skandinavien bei 75 bis 85 Prozent. Es
werden also nur noch 15 bis 25 Prozent Sprays benutzt.
Davon ist nur ein ganz kleiner Teil mit FCKW abgefüllt.
Schon seit vielen Jahren bewegen sich Skandinavien und
die Niederlande in diese Richtung, während bei uns im-
mer noch das umgekehrte Verhältnis existiert. Wir be-
nutzen etwa nur ein Drittel der Pulverinhalatoren und
der nicht mit FCKW abgefüllten Asthmasprays. Wir
sind also weit davon entfernt, ein Musterknabe zu sein,
was uns von der alten Regierung immer wieder geschil-

Monika Ganseforth






(A)



(B)



(C)



(D)


dert wurde. Wir haben viel nachzuholen. Schaffen wir
skandinavische Verhältnisse, was das angeht! Das nützt
der Ozonschicht und das nützt dem Klima.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Als problematisch erweist sich in diesem Zusammen-
hang, dass die Mehrheit der Ärzte am Umweltschutz
kaum interessiert ist und nicht so sehr viel darüber weiß.
Wir brauchen für diese Umstellung die Mitwirkung der
Ärzteschaft. Wir brauchen die Patientinnen und Patien-
ten, die Apothekerinnen und Apotheker.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Das ist eine Diffamierung der Ärzte! Sie diffamieren eine Berufsgruppe!)


– Es gibt eine kleine Gruppe engagierter Ärzte, aber die
Mehrzahl der Ärzte – ich habe es nur einschränkend ge-
sagt – legt auf Umweltschutz keinen besonderen Wert.
Das liegt ihnen fern.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Sie diffamieren sie und wollen hinterher den Dialog! So kommt man nicht weiter!)


– Ein besonderes Ärgernis möchte ich zum Schluss an-
sprechen, Herr Hirche. Da brauchen Sie sich gar nicht
aufzuregen.

Das Gesundheitsministerium ist bei diesem Thema
der Adressat. Ich bin sehr froh, Frau Nickels, dass Sie
hier sind. Frau Flach hat vorhin das Thema schon einmal
angesprochen. Ich wollte es gar nicht mehr erwähnen,
nachdem sich Herr Hirche so aufgeregt hat. Während es
in Deutschland mit Beginn dieses Jahres endlich keine
Neuzulassungen FCKW-haltiger Dosieraerosole mehr
gibt – das ist jetzt ausgelaufen –, werden verstärkt Na-
chahmepräparate, also Generika, in der Atemwegs- the-
rapie eingesetzt. Diese sind dann wieder FCKW-
getrieben. Die Ursache ist das Arzneimittelspar-
programm, denn die Generika sind erheblich preiswerter
als die Pulverinhalatoren. Das führt dazu, dass das, was
möglich wäre und was es inzwischen gibt, zu wenig
eingesetzt wird.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Dank Ihrer Gesundheitsreform!)


Die Budgetierung bevorzugt die Generika. Da müsste
man aus der Sicht des Ausstiegs aus der FCKW-
Verwendung etwas machen. Es muss schnell eine Lö-
sung in dieser Richtung gefunden werden.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Machen Sie doch mal!)


Der Antrag, den wir heute beschließen, beseitigt eine
Altlast, bringt einen Fortschritt, ist aber gleichzeitig eine
Aufforderung zum schnellen Handeln.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Wir sind gespannt!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1408417700
Ich gebe das Wort
der Kollegin Marie-Luise Dött für die CDU/CSU-
Fraktion.


Marie-Luise Dött (CDU):
Rede ID: ID1408417800
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Der Mensch verändert vor
allem durch seine industrielle Tätigkeit weltweit die
Atmosphäre und damit das Klima, und zwar durch den
Ausstoß von Gasen und Aerosolen. Die rund 250 Kilo-
meter dicke Ionosphäre – das ist die äußerste Schicht der
Atmosphäre – wird alle fünf Jahre um etwa einen Kilo-
meter dünner. Zu diesem Ergebnis kamen 1998 Wissen-
schaftler des „British Antarctic Survey“, die Daten der
letzten 38 Jahre ausgewertet haben.

Ursache ist der Treibhauseffekt. Doch ohne den na-
türlichen Treibhauseffekt des Wasserdampfes und des
Kohlendioxids wäre es auf der Erde um etwa 30 Grad
kälter. In unserer Verantwortung liegt der vom Men-
schen zusätzlich verursachte Treibhauseffekt, der zu
50 Prozent auf Kohlendioxid aus der Verbrennung von
fossilen Brennstoffen wie Kohle, Erdöl und Erdgas


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auto!)


und zu 25 Prozent auf FCKW und ähnlichen Gasen be-
ruht.

Zielsetzung muss sein, die Ozonschicht zu schützen.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Gerade deshalb ist das Zustandekommen des Montrealer
Protokolls zum Schutz der Ozonschicht, das am 16. Sep-
tember 1987 unterzeichnet worden ist, von ganz beson-
derer Bedeutung.


(Monika Ganseforth [SPD]: Vor 13 Jahren!)

Denn hier einigte sich die Völkergemeinschaft darüber,
die Produktion der Fluorkohlenwasserstoffe einzu-
schränken und stufenweise auslaufen zu lassen. Der
ehemalige CDU-Umweltminister Töpfer hat in dieser
Thematik eine federführende Rolle gespielt.


(Zuruf von der SPD: Den müssen Sie heute mal hören!)


Was das ozonschädigende FCKW angeht, stehen wir
heute vor dem letzten Schritt, nämlich die Ausnahmege-
nehmigungen zur Herstellung und Nutzung FCKW-
haltiger Dosierzerstäuber für Industrieländer zu been-
den. Um Patienten, die auf bronchialerweiternde und
entzündungshemmende Arzneistoffe mit FCKW-
haltigen Dosierzerstäubern angewiesen waren, nicht zu
gefährden, ist ursprünglich ein Sonderfahrplan für den
Ausstieg beschlossen worden, der im Jahr 2003 ausläuft.

Alle Beteiligten, Industrie, pharmazeutische Wissen-
schaft, Ärzte, Apotheker und Pflegepersonal, sind in
Deutschland schon längst in diesen Prozess der Vermei-
dung von FCKW-haltigen Dosierzerstäubern eingebun-
den und tragen dazu bei, dass die Behandlung von
Atemwegserkrankungen zunehmend mit umweltfreund-
lichen Alternativpräparaten durchgeführt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Monika Ganseforth






(A)



(B)



(C)



(D)


Die Voraussetzungen für den Verzicht auf FCKW-
haltige Arzneimittel sind in Deutschland damit weitge-
hend bereits heute erfüllt. Ich freue mich daher beson-
ders, dass die Politik der Überzeugungsarbeit und der
Selbstverpflichtung sowohl bei Herstellern wie auch bei
Nutzern FCKW-haltiger Dosieraerosole dazu geführt
hat, die geforderten Auslauffristen noch zu unterschrei-
ten. Dies zeigt eindrucksvoll, dass man Umweltpolitik in
Deutschland auch ganz kooperativ betreiben kann.


(Monika Ganseforth [SPD]: Sie sind aber bescheiden!)


Es geht auch ohne Verbotsstrategien und Gesetzesfluten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Zu überlegen bleibt, ob es erforderlich ist – da gebe
ich Ihnen Recht, Frau Ganseforth –, die Ersatzmittel für
FCKW-haltige Dosierzerstäuber, die im Regelfall teurer
sind, aus dem Arzneimittelbudget der Ärzte herauszu-
nehmen, denn die günstigen FCKW-haltigen Generika
werden unter Sparzwang verordnet. Das würde natürlich
wirtschaftliche Anreize für die Pharma-Industrie schaf-
fen, den FCKW-Ausstieg zu beschleunigen.

Wir sind uns über Fraktionsgrenzen hinweg einig,
dass der nachhaltige Schutz der Ozonschicht eine der
vordringlichsten umweltpolitischen Aufgaben darstellt.
Das Bewahren der lebenserhaltenden Ozonschicht ist ei-
ne Verpflichtung, die wir gegenüber den kommenden
Generationen zu erfüllen haben.

Unserer Zielsetzung „FCKW – ade“ sind wir einen
richtigen und bedeutenden Schritt näher gekommen.

Wenn wir uns auf unsere Verantwortung für den von
uns Menschen zusätzlich verursachten Treibhauseffekt
besinnen, der auf 50 Prozent Kohlendioxid aus der
Verbrennung von fossilen Brennstoffen und auf 25 Pro-
zent FCKW und ähnlichen Gasen beruht, ist dies nur ein
Schritt in die richtige Richtung. Wir sollten in diesem
Zusammenhang nicht die Diskussion um den richtigen
Weg zur Erfüllung des Kioto-Abkommens vernachlässi-
gen, den Kohlendioxid-Ausstoß in Deutschland bis
2005 gegenüber 1990 um 25 Prozent zu reduzieren. Da-
zu reichen die Schritte der derzeitigen Regierung bedau-
erlicherweise nicht aus und gehen in die verkehrte Rich-
tung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1408417900
Das war die erste
Rede der Kollegin Marie-Luise Dött. Ich darf ihr im
Namen des Hauses dazu gratulieren.


(Beifall)

Nun gebe ich der Kollegin Sylvia Voß für die Frakti-

on Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Sylvia Voß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1408418000
Sehr
geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Arthur Schopenhauer hat einmal gesagt: Jeder
dumme Junge kann einen Käfer zertreten, aber alle Pro-
fessoren dieser Welt können keinen herstellen. – Auch

wir können eine neue Atmosphäre für unsere Erde nicht
herstellen.

Aufgrund des Bestandteils „Schicht“ im Wort „Ozon-
schicht“ hört es sich immer so an, als wenn das irgend-
ein dickes Gebilde wäre. Es ist ein ungeheuer fragiles,
zartes Häutchen, das uns vor der tödlichen Strahlung aus
dem Weltraum schützt. Diese tödliche Strahlung – Frau
Professor Ganseforth hat es vorhin erwähnt – kommt
durch die ständig zunehmende Größe der Ozonlöcher
schon in erhöhtem Maße auf die Erde.

Wissen Sie, ich kann das aus der Erfahrung sagen, da
ich Hautärztin bin und, als ich noch in der Klinik tätig
war, junge Leute sterben sah. Und dies nimmt zu! Ich
glaube, wer so etwas miterlebt, der fragt sich dann: Wa-
rum dauert es denn so lange, bis wir wirklich Schritte
tun, um da etwas zu unternehmen, wo es wirklich
schnell notwendig wäre?

Der Ausstieg aus der ozonschichtzerstörenden und
klimabelastenden Anwendung von Fluorchlorkohlen-
wasserstoffen – FCKWs – wurde in Folge der Umset-
zung der FCKW-Halon-Verbotsverordnung vom 6. Mai
1991 Ende 1994 in Deutschland nur mit einem halben
Schritt getan; denn ausgenommen davon blieb der
FCKW-Verbrauch der Pharmaindustrie.

So gelangten noch 1998 knapp 10 000 Tonnen der in
den Industrieländern sonst generell verbotenen harten,
nämlich voll halogenierten FCKWs der Typen 11, 12
und 114 wieder als Treibgas in Asthmasprays. 10 Pro-
zent dieses die Ozonschicht zerstörenden Stoffes werden
bisher allein durch deutsche Produkte auf diese Weise in
die Atmosphäre frei gesetzt. 400 Tonnen werden immer
noch im Inland emittiert. Da frage ich mich, Frau Dött:
Wo bleibt denn da die Freiwilligkeit bei den Verpflich-
tungen?

FCKWs in Asthmasprays gelten im öffentlichen
Bewusstsein immer noch als zu vernachlässigende Grö-
ße, zumal sie zur Linderung eines schweren Leidens
eingesetzt werden. Asthmakranke müssen eben sehr
häufig und manchmal mehrmals täglich Wirkstoffe in
ihre Lunge inhalieren. Dafür tragen sie meistens diese
kleinen Sprays bei sich. Da sagt man sich: Das ist ja nur
so ein kleines Spray. – Die Wirkung aber ist verheerend.
Unbekannt ist zumeist nicht nur Patienten, sondern auch
so manchem Arzt und so mancher Ärztin, dass diese
Spraydosen die entzündungshemmenden und bronchial-
erweiternden Wirkstoffe sowie die harten FCKWs 11,
12 und 114 im Verhältnis von 1 : 99 enthalten; 99 Pro-
zent des Inhalts einer solchen Spraydose sind Treibgas.
Wenn man dann noch berücksichtigt, dass in Deutsch-
land circa 4 Millionen Menschen, 10 Prozent der kindli-
chen und 5 Prozent der Erwachsenenbevölkerung, unter
Asthma bronchiale leiden, dann wird auch verständlich


(Monika Ganseforth [SPD]: Und das nimmt zu!)


– ja, das nimmt zu, klar –, dass für 40 Prozent der Ozon-
schichtzerstörung, die durch FCKW-Emmissionen aus-
gelöst wurden, im Jahre 1995 – das ist, wie gesagt,
schon eine ältere Zahl; die Zahl ist noch angestiegen –
die Dosiersprays aus der Asthmabehandlung verantwort-

Marie-Luise Dött






(A)



(B)



(C)



(D)


lich waren. Darin sind noch nicht einmal die Anwen-
dungen enthalten, die auch zunehmen, nämlich bei den
immer häufigeren Allergien im Bereich der oberen
Luftwege, wo auch solche Sprays zum Einsatz kommen
und in den letzten Jahren immer stärker eingesetzt wer-
den.

Die jährliche Nutzung der Asthmasprays ergab eine
Klimabelastung von knapp 10 Millionen Tonnen Koh-
lendioxidäquivalent. Das belegt, dass es sich bei den
Asthmasprays keinesfalls um ökologische Peanuts han-
delt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


1996 schätzte die damalige Bundesregierung in einer
Antwort auf eine Anfrage meiner Fraktion ein, dass die
FKW-Verwendung überwiegend entbehrlich sei. Sie
schloss sich hier den Äußerungen des Sachverständigen-
rates für Umweltfragen an. Zu diesem Zeitpunkt betrug
der Marktanteil von Pulverinhalatoren in Deutschland
jedoch nur 10 Prozent. In Skandinavien betrug er damals
schon zwischen 70 und 90 Prozent.

Verschärfend zu diesem Missverhältnis kam hinzu,
dass in Deutschland die klima- und ozonschichtfeindli-
chen FCKW-Präparate um die Hälfte günstiger zu erhal-
ten waren als die umweltfreundlichen Ersatzprodukte.
Eine Kennzeichnung FCKW- und FKW-haltiger Pro-
dukte unterblieb obendrein.

Die These, dass treibgasbetriebene Asthmasprays
medizinisch notwendig seien, war zu diesem Zeitpunkt
längst wissenschaftlich widerlegt. Klare Vorgaben für
den Ausstieg aus den FCKW-haltigen Asthmasprays
blieb die damalige Bundesregierung entgegen ihrem ei-
genen Erkenntnisstand jedoch schuldig.

Sie hat sich allzu lange von den lautstarken sprayori-
entierten Pharmafirmen paralysieren lassen. Zulassungs-
behörde und Gesundheitsministerium hatten weiterhin
FCKW-haltige Medikamente zugelassen, indem sie sich
stets auf die Ausnahmeregelung beriefen, wonach eine
weitere Zulassung solcher Arzneimittel möglich sei, so-
lange dies für die Gesundheit erforderlich ist und keine
technisch und wirtschaftlich möglichen Alternativen zur
Verfügung stehen.

Diese Alternativen gab und gibt es jedoch. Für jeden
Schweregrad der Erkrankung stehen solche Pulverinha-
latoren zur Verfügung. Die Beschleunigung des Pulver-
trends, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist auch der ö-
kologischen Kritik an den Spray-Treibgasen zu verdan-
ken, wie sie glücklicherweise immer wieder aus den
Umwelt- und Verbraucherverbänden, ja selbst aus Pati-
entenorganisationen heraus und auch von den Grünen
immer wieder vorgetragen wurde.

Aber auch die Pharmaindustrie ist in den Fragen der
Asthmasprays inzwischen kein monolithischer Block
mehr. Heute arbeiten auch Pharmaunternehmen, Fach-
ärzte, Apotheker, Patientenvertreter und Umweltschüt-
zer zusammen. Das ist ein ermutigendes Zeichen und
hoffentlich auch zur Lösung von Problemen in anderen
Zusammenhängen beispielgebend.

Der Verzicht auf FCKW-haltige Asthmasprays ist ein
guter und nicht zu unterschätzender Beitrag zur Umset-
zung unserer Verpflichtungen im Rahmen des Montrea-
ler Abkommens, die Herstellung und den Verbrauch von
Substanzen zu verbieten, die zum Abbau der Ozon-
schicht führen.

Nachdem der federführende Umweltausschuss und
der mitberatende Ausschuss für Gesundheit einen Be-
richt und eine einstimmige Beschlussempfehlung vorge-
legt hatten, hat die rot-grüne Bundesregierung unverzüg-
lich mit der Prüfung der Umsetzbarkeit begonnen. Be-
reits Ende vergangenen Jahres wurde entschieden, Neu-
zulassungen von FCKW-haltigen Dosieraerosolen nicht
mehr zu erteilen. Für kurz wirksame Spezialpräparate
gilt eine Ausnahmeregelung für das Jahr 2000, ohne
Chance auf Verlängerung. Damit werden ab 2001 in
Deutschland keine solchen Präparate mehr zur Anwen-
dung kommen, denn neben der Herstellung ist dann auch
der Import verboten.

Nach den internationalen Beschlüssen ist ein Verbot
in der EU erst spätestens 2003, in den anderen Indus-
trieländern sogar erst 2005 vorgesehen. Die Bundesre-
publik kommt damit in der Erreichung des Klimaschutz-
zieles endlich einen deutlichen Schritt voran.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1408418100
Ich schließe die
Aussprache.

Wir kommen zu den Abstimmungen. Zunächst zu
Tagesordnungspunkt 9 a: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung über die Entschließung des Europäischen Parla-
ments zu bestimmten chemischen Stoffen, Drucksache
14/1471.

Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
schlussempfehlung, die Entschließung des Europäischen
Parlaments zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men des Hauses gegen die Stimmen der F.D.P. ange-
nommen. 1)

Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 14/1471 die An-
nahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stim-
men von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 9 b: Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung zur Beendigung der Verwendung von
FCKW, Drucksache 14/1472.

Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
schlussempfehlung, die Mitteilung der Kommission zur

Sylvia Voß






(A)



(B)



(C)



(D)


Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.

Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 2 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/1472 die An-
nahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig ange-
nommen.

Interfraktionell ist vereinbart worden, dass Zusatzta-
gesordnungspunkt 10 vor Zusatztagesordnungspunkt 9
aufgerufen wird. – Ich gehe davon aus, dass Sie damit
einverstanden sind. Wir verfahren so.

Ich rufe Zusatzpunkt 10 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-

regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung und Ergänzung des Strafver-
fahrensrechts – Strafverfahrensänderungsge-
setz 1999 (StVÄG 1999)


– Drucksache 14/1484 –

(Erste Beratung 61. Sitzung)


Beschlussempfehlung und Bericht des Rechts-
ausschusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 14/2595 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg van Essen
Dr. Jürgen Meyer (Ulm)

Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
Dr. Evelyn Kenzler
Hans-Christian Ströbele1)

Interfraktionell ist vereinbart, die Redebeiträge zu
Protokoll zu geben.2) – Damit sind Sie einverstanden.
Dann ist so beschlossen.

Wir kommen deshalb gleich zur Abstimmung über
den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzent-
wurf zur Änderung und Ergänzung des Strafverfahrens-
rechts, Drucksachen 14/1484 und 14/2595. Ich bitte die-
jenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist da-
mit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition
gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Ent-
haltung der PDS angenommen.

Wir kommen zur
dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz
__________
1) Anlage 2
2) Anlage 4

entwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie
bei der zweiten Beratung angenommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
des Weingesetzes
– Drucksache 14/2566 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war ur-
sprünglich für die Aussprache eine halbe Stunde vorge-
sehen. Die Kolleginnen und Kollegen haben aber über-
einstimmend beschlossen, den Wein lieber zu trinken,
statt über ihn zu reden.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


– Ich höre weit und breit keinen Widerspruch, sondern
nur Zustimmung. Die Reden werden zu Protokoll ge-
nommen.3)


(Peter Dreßen [SPD]: Wer bezahlt die erste Runde? – Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wo ist der Ausschank? – Zuruf des Abg. Walter Hirche [F.D.P.])


– Herr Kollege Hirche, haben Sie noch eine Bemerkung
zu machen? – Nein, dann geben wir das zu Protokoll,
wenn Sie Ihr Abstimmungsverhalten noch geändert se-
hen möchten.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 14/2566 zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Fors-
ten und zur Mitberatung an den Rechtsausschuss, den
Finanzausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie, den Ausschuss für Gesundheit, den Aus-
schuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit –
sind wir beim Weingesetz? –, den Ausschuss für die
Angelegenheiten der Europäischen Union und an den
Haushaltsausschuss zu überweisen. Mir fehlt eigentlich
noch der Ausschuss für Tourismus, aber er ist nicht vor-
gesehen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das
ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit sind wir am
Schluss der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die
nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen,
Freitag, den 28. Januar 2000, 9.00 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche einen schö-
nen Abend.