Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebeKolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich einigen Kollegen nachträglich zum Geburtstag gratulieren. Der Kollege Eckhardt Barthel
feierte am 17. Dezember, der Kollege AlbrechtPapenroth am 30. Dezember 1999 und der KollegeFranz Müntefering am 16. Januar 2000 jeweils den 60. Geburtstag. Ich spreche Ihnen im Namen des Hausesdie besten Glückwünsche aus.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat mitgeteilt,dass die Kollegin Claudia Roth auf ihre or-dentliche Mitgliedschaft in der Parlamentarischen Ver-sammlung des Europarates verzichtet hat. Als Nachfol-ger wird der Kollege Christian Sterzing vorgeschlagen,der bisher stellvertretendes Mitglied war, und als neuesstellvertretendes Mitglied der Kollege Dr. Helmut Lip-pelt. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinenWiderspruch. Damit sind der Kollege Sterzing als or-dentliches und der Kollege Lippelt als stellvertretendesMitglied in die Parlamentarische Versammlung des Eu-roparates gewählt. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll dieTagesordnung um die Ihnen in einer Zusatzpunktlistevorliegenden Zusatzpunke erweitert werden: 1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:Haltung der Bundesregierung zu Verwendung und Ver-fassungsmäßigkeit der Benzin- und Stromsteuererhöhun-gen zum 1. Januar 2000 sowie den beschlossenen weiterenSteuererhöhungsstufen
2. Vereinbarte Debatte zu aktuellen Problemen bei der Partei-enfinanzierungspraxis 3. Überweisung im vereinfachten Verfahren: Erste Beratungdes von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs einesFünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Wehrsoldgeset-zes – Drucksache 14/2498 – Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss
Innenausschuss 4. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.: Hal-tung der Bundesregierung zur Änderung des Bundesaus-bildungsförderungsgesetzes 5. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus-schusses für Wirtschaft und Technologie zudem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ,Gunnar Uldall, Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSU: Initiative gegen die Auswirkungender asiatischen Finanzkrise und des internationalen Sub-ventionswettlaufs auf die deutsche und europäischeWerftindustrie – Drucksachen 14/400, 14/2538 – Berichterstattung: Abgeordnete Margareta Wolf
6. Beratung des Antrags der Abgeordneten René Röspel, HeinoWiese, Dr. Wolfgang Wodarg, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken,Hans-Josef Fell, Steffi Lemke, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Biosicherheits-Protokoll erfolgreich abschließen – Drucksache 14/2520 – 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf,Eva Bulling-Schröter, Rolf Kutzmutz, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der PDS: Gesetzliche Verpflichtung zumBau der Transrapid-Strecke Berlin–Hamburg aufheben– Drucksache 14/2524 – 8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula Burchardt,Monika Griefahn, Heinz Schmitt , weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ange-lika Beer, Matthias Berninger, Hans-Josef Fell, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Gründung einer Stiftung zur Friedens- und Konfliktfor-schung – Drucksache 14/2519 – 9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner Lensing, Eckart von Klaeden, Dr. Andreas Schockenhoff, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Vorbereitungauf neue Herausforderungen an Deutschlands Sicher-heitspolitik – Stärkung der Friedens- und Konfliktfor-schung als Teil der politikberatenden Forschung – Druck-sache 14/2521 – 10. Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Regelung des Rechts der Untersuchungsausschüsse
Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord-nung
Innenausschuss Rechtsausschuss
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7422 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Max Stadler, Hildebrecht Braun , Jörg van Essen, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der F.D.P.: Erweiterung des Un-tersuchungsauftrages des 1. Untersuchungsausschussesder 14. Wahlperiode – Drucksache 14/2527 –Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden. Außerdem weiseich darauf hin, dass die zweite und dritte Beratung desArbeitsgerichtsbeschleunigungsgesetzes bei den Ohne-Debatte-Punkten aufgerufen, Tagesordnungspunkt 8,Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht, abgesetzt undder für Freitag vorgesehene Tagesordnungspunkt 16,Harmonisierung der gastgewerblichen Mehrwertsteuer-sätze in der Europäischen Union, bereits heute nach derBeratung über die Förderung der Friedens- und Kon-fliktforschung aufgerufen werden soll. Die Beratung der Vorlagen unter Tagesordnungs-punkt 15, die das Untersuchungsausschussgesetz betref-fen, soll am Freitag im Anschluss an die Beratung desJahresberichts der Wehrbeauftragten erfolgen. Des Wei-teren mache ich auf geänderte Überweisungen im An-hang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:Bei den in der 79. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesenen nachfolgenden Anträgen soll die Feder-führung wie folgt geändert werden: Antrag der Abgeordneten Carsten Hübner, HeidiLippmann, Fred Gebhardt, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der PDS: Einstellung des Bundeswehreinsatzes in Osttimor – Drucksa-che 14/2264 –Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung Antrag der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Hildebrecht Braun , RainerBrüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder F.D.P.: Deutsche Beteiligung an Interfetbeenden – Drucksache 14/2378 – Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lungDer in der 79. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich demFinanzausschuss zur Mitberatung überwiesen werden. Antrag der Abgeordneten Walter Hirche, RainerBrüderle, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion der F.D.P.: ZukunftsfähigeEnergiepolitik für den Standort Deutschland –Drucksache 14/2364 – überwiesen: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitDie in der 79. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Unterrichtung soll zusätzlichdem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Fors-ten zur Mitberatung überwiesen werden. Unterrichtung durch die Bundesregierung: Be-richt zur Härteklausel nach § 4 Abs. 4 desStromeinspeisungsgesetzes – Drucksache14/2371 – überwiesen: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenSind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlos-sen. Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf: Vereinbarte Debatte zu aktuellen Problemen beider ParteienfinanzierungspraxisNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegePeter Struck, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Wir erleben gegenwärtig einen dergrößten politischen Skandale seit der Gründung derBundesrepublik Deutschland im Jahre 1949. Dies ist aber – das möchte ich ausdrücklich betonen – keineStaatskrise. Staatsanwaltschaften und Gerichte ermittelnund prüfen die Vorgänge. Die Medien nehmen ihre Kon-trollfunktion hervorragend wahr. Die Institutionen unse-rer Verfassungsordnung sind voll handlungsfähig. DieBundesregierung führt das Land sicher und ruhig.
Der Deutsche Bundestag ist in seiner Mehrheit selbst-verständlich politisch handlungsfähig.
Was wir erleben, ist eine schwere Krise der CDU,ausgelöst durch Machenschaften, Gesetzesverstöße undPraktiken, die immer noch nicht vollständig aufgedecktund aufgeklärt sind. Im Gegenteil: Täglich, nein, nahezustündlich erreichen uns neue Meldungen, die die Kriseder Christdemokraten verstärken. Bei wie vielen Millio-nen Schwarzgeld sind wir jetzt angelangt? Was bedeutetes, wenn der CDU-Vorsitzende in seiner Fraktion vonGeldwäsche spricht? Diesen Begriff kennen wir nur imZusammenhang mit organisierter Kriminalität.
Herr Kollege Schäuble, Sie haben öffentlich ange-kündigt, dass Sie sich dafür entschuldigen wollen, imParlament die Unwahrheit gesagt zu haben. Sie haben indiesem Hause verschwiegen, von dem WaffenhändlerSchreiber 100 000 DM bekommen zu haben. ÜberlegenPräsident Wolfgang Thierse
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7423
Sie genau, Herr Kollege Schäuble – bei allem Respektvor der von Ihnen zu erwartenden Erklärung –, ob Siesich hier und heute nicht noch für weitere Unwahrheitenzu entschuldigen haben. Niemand darf die Schwere unddie Folgen dieses politischen Skandals unterschätzen.Jeder sollte zur Kenntnis nehmen, dass wir in einemStaat leben, in dem solche Machenschaften auf Dauernicht verheimlicht oder vertuscht werden können.
Die Aufklärung der Hintergründe und Zusammen-hänge ist Aufgabe der Ermittlungsbehörden und natür-lich auch der CDU selbst. Die Ahndung der begangenenGesetzesverstöße ist Sache der Gerichte. Wir, der Deut-sche Bundestag, haben einen Untersuchungsausschusseingesetzt, der diese CDU-Parteispendenaffäre aufklärenwird. Ich bin ganz sicher, dass dadurch das Vertrauender Bürgerinnen und Bürger in die unabhängige Aufklä-rungsarbeit wieder hergestellt wird. Deutschland darfund wird nicht zu einer kohlschen „Bimbes-Republik“verkommen.
Wir verfolgen diesen politischen Skandal wie diemeisten Bürgerinnen und Bürger mit größter Empörungund Fassungslosigkeit, aber auch mit Bestürzung, weildas bis jetzt bekannt gewordene Ausmaß die schlimms-ten Befürchtungen weit übertrifft. Als Vorsitzender dersozialdemokratischen Bundestagsfraktion empfinde ichkeine Schadenfreude.
Niemand kann und darf sich darüber freuen, dass diegrößte Oppositionspartei im Deutschen Bundestag poli-tisch und moralisch diskreditiert ist und ihre politischeHandlungsfähigkeit eingebüßt hat.
Der Verfall und der Niedergang der CDU als der bisheute großen konservativen politischen Kraft inDeutschland geht jeden überzeugten Demokraten etwasan. Nein, Schadenfreude ist die falsche Empfindung. Ichbin in Sorge darüber, dass die Stabilität des politischenSystems der Bundesrepublik Deutschland von der CDUmutwillig in Gefahr gebracht wird. Ich bin wütend da-rüber, dass dies aus äußerst niedrigen Beweggründengeschah.
Wir müssen verhindern, dass das Vertrauen der Bür-gerinnen und Bürger in die Politik und in die Gesetzes-treue von Politikern weiteren Schaden nimmt. Der ehe-malige Regierungschef eines der größten demokrati-schen Länder dieser Welt hat jahrzehntelang Gesetzeübertreten und die Verfassung missachtet. Immer nochschätzt er sein persönliches Ehrenwort höher ein als dasGrundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, immer-hin der freiheitlichsten Verfassung, die jemals auf deut-schem Boden Gültigkeit besaß.
In der gestrigen Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“war zu lesen:Mit welchen Typen sich das System Kohl eingelas-sen hat, zeigen die dummdreisten Äußerungen desWaffenhändlers Schreiber, in denen er in Ganoven-manier ankündigt, Schäuble und Co. hochgehen zulassen.Weiter heißt es in der „Süddeutschen Zeitung“: Wenn von diesem Schlag die Freunde sind, dieHelmut Kohl bis zum heutigen Tage schützenwill – dann wendet man sich mit Grausen. Herr Dr. Kohl – den ich heute hier gerne persönlichangesprochen hätte –, nennen Sie Ross und Reiter! Er-weisen Sie Ihrem Land einen letzten Dienst und wa-schen Sie es von dem Verdacht frei, dubiose Dunkel-männer hätten jahrelang maßgeblichen Einfluss auf diedeutsche Politik genommen!
Ich spreche Sie, Herr Dr. Kohl, auch persönlich an,weil ich weiß, dass Sie diese Debatte – wenn auch nichtin diesem Plenarsaal – an anderer Stelle verfolgen. Pa-cken Sie sich selbst bei Ihrer Ehre als ehemaliger Bun-deskanzler, Staatsmann und Demokrat! Vergegenwärti-gen Sie sich den verheerenden Flurschaden, den Sieauch gegenüber unseren europäischen Freunden ange-richtet haben!Ich lese Ihnen, Herr Dr. Kohl, gleich vor, wie dies inden Nachbarländern kommentiert wird. Aber hören Siesich erst einmal an – wo auch immer Sie diese Debattenun verfolgen –, mit welcher Dreistigkeit Sie Ihre Auf-klärungsbereitschaft gegenüber mir, gegenüber dem Par-lament angekündigt und diese Aufklärungsbereitschaftgegenüber Ihren eigenen Leuten verweigert haben. Las-sen Sie mich noch einmal in Erinnerung rufen, mit wel-cher Frechheit Sie diesem Parlament Verzögerungstaktikvorgeworfen haben. Ich zitiere Sie, Herr Dr. Kohl, ausder Sitzung vom 24. November 1999. Sie haben sich anmich von der Stelle, an der Sie immer sitzen, in einerZwischenfrage bei meiner Rede gewandt. Sie haben ge-sagt:Herr Abgeordneter, ich fordere Sie als Vorsitzen-den der SPD-Fraktion hiermit auf, dazu beizutra-gen, dass der von Ihnen geforderte Untersuchungs-ausschuss unverzüglich eingesetzt wird, seine Ar-beit noch vor Weihnachten beginnt und mir dieChance gibt ... Ihre Fragen zu beantworten.Herr Dr. Kohl, Sie haben hier vor der deutschen Öffent-lichkeit versucht, sich als Saubermann darzustellen, undtrotzdem haben Sie jede Aufklärung behindert.
Dr. Peter Struck
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7424 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Ich kann Ihnen sagen, welchen Eindruck das erweckt.Gestern habe ich zum 10. Todestag von Herbert Wehnerin Dresden geredet. Ich habe einen Zeitungsartikel zi-tiert, in dem es 1990 über diesen großen Sozialdemokra-ten hieß: „Er wollte die Macht, aber nicht um jedenPreis.“ Ich befürchte inzwischen, eine Würdigung überDr. Kohl müsste die Überschrift haben: „Er wollte dieMacht um jeden Preis.“
Das internationale Echo über diese CDU-Affäre istverheerend. „Deutschland läuft Gefahr, zu einer hinken-den Demokratie zu werden, ohne echte Opposition“, sodas Urteil von „La Republicca“ in Rom. Die „FinancialTimes“ aus London kommentiert: „Der Skandal bedeu-tet einen Rückschlag für die ansonsten gesunde deutscheDemokratie.“ Eine weniger bekannte, dunklere Seitedeutscher Politik sei enthüllt worden. Die Pariser „Libé-ration“ schreibt: „Für Deutschland geht es um das Fun-dament, das 1945 gelegt worden ist, um die Nazi-Diktatur zu vergessen. Der Mythos einer Modelldemo-kratie ist zerbrochen.“ Das konservative „SvenskaDagbladet“ urteilt kurz und knapp: „Gegen den Mam-mon kommt die Moral zu kurz, selbst in einer Partei, diesich christlich nennt.“Ich habe Respekt und Achtung vor den einfachenMitgliedern der CDU,
die als unsere politischen Wettbewerber und Konkurren-ten mit uns im demokratischen Wettbewerb stehen.
Ich wiederhole diesen Satz: Ich habe Respekt und Ach-tung vor den einfachen Mitgliedern der CDU, die als un-sere politischen Wettbewerber und Konkurrenten mituns im demokratischen Wettbewerb stehen.
Sie haben jetzt das Bewusstsein, von ihrer Parteiführunggetäuscht und jahrelang in die Irre geführt worden zusein.Ich habe gestern die Ausführungen von Herrn Kohlbei einer Veranstaltung in Hamburg verfolgt.
Dort hat er sich selbst eine Ehrenerklärung gegebenund erneut sein sogenanntes Ehrenwort bemüht. DiesesEhrenwort kann nicht über die Verfassung gesetzt wer-den.
Herr Kohl hat einen Amtseid gemäß Art. 64 und Art. 56des Grundgesetzes geleistet. Er lautet:Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle desdeutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren,Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und dieGesetze des Bundes wahren und verteidigen, meinePflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeitgegen jedermann üben werde. So wahr mir Gotthelfe.Zu den Gesetzen, die er wahren und verteidigenmusste, gehört auch Art. 21 des Grundgesetzes, in demes über die Parteien heißt: Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grund-sätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunftund Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Ver-mögen öffentlich Rechenschaft geben.Gegen diesen Verfassungsartikel hat Herr Dr. Kohlim Zusammenhang mit seinem Eid verstoßen.
Er hat die Verfassung verletzt.
Daran kann auch ein so genanntes Ehrenwort überhauptnichts ändern.
Ein Ehrenwort, wem auch immer es gegeben sein mag,kann niemals die Verpflichtung, sich an die Verfassungzu halten, brechen – niemals, meine Damen und Herren!
Ich kann verstehen, wie sich die Kolleginnen undKollegen aus der CDU-Fraktion fühlen, die politischeSacharbeit wollen, sich stattdessen aber nur noch Fragennach Machenschaften, Rechtsverstößen und Skandalenausgesetzt sehen. In der „FAZ“ hieß es vorgestern, am18. Januar:Was sich dagegen jetzt abzeichnet, ist eine Jahredauernde, womöglich jahrzehntelang praktiziertesystematische und bewusste Verletzung von Ver-fassung, Recht und Gesetz.Ich frage die CDU: Wie viele Landesgeschäftsstellenmüssen denn noch wie in Hessen von der Staatsanwalt-schaft durchsucht werden, bis Sie endlich mit der ganzenWahrheit herausrücken? Bleiben wir in Hessen. Wer so wie in diesem Landeinen schmutzigen Wahlkampf mit schmutzigem Geldgeführt hat
und so an die Macht gekommen ist, Dr. Peter Struck
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7425
der hat die Legitimation verloren, die Regierung zu stel-len. Widerwärtigkeiten und Schamlosigkeiten sind jedochauch hier noch steigerbar. Da wird in Hessen die Lüge indie Welt gesetzt, dass mit Erbschaften von jüdischenMitbürgern ein Wahlkampf finanziert worden sei. Damitwird in Teilen Antisemitismus wieder hoffähig gemacht.
Ich selbst habe nicht geglaubt, dass eine so ungeheuerli-che Behauptung und Lüge von deutschen Demokraten inKenntnis unserer Geschichte überhaupt möglich ist.
Eine einfache Entschuldigung genügt da nicht. Die hes-sische CDU und auch die Bundes-CDU haben die Wür-de und das Ansehen des Landes Hessen und der Bundes-republik Deutschland beschmutzt. Wenn der BegriffWürde bei Ihnen noch etwas mehr Wert besitzt als einKonjunktiv, dann müssen Sie, meine Damen und Her-ren, den Weg zu Neuwahlen in Hessen frei machen.
Dies gilt dann auch für die hessische F.D.P. Wenn Ih-re Partei in Nibelungentreue zur hessischen CDU denWeg zu Neuwahlen blockiert, machen Sie sich mit-schuldig.
Wer in einer Regierung sitzt, Herr Kollege Gerhardt, diejede moralische Legitimation verloren hat, ist keinBiedermann.
Distanzieren Sie sich! Bleiben Sie nicht im Boot! Han-deln Sie allein schon, Herr Kollege Gerhardt, um desGedenkens an Ihr ehemaliges Vorstandsmitglied undden ehemaligen Vorsitzenden des Zentralrates der Judenin Deutschland, Ignatz Bubis willen!
Die Sache ist noch längst nicht ausgestanden. KollegeSchäuble selbst hat neue Enthüllungen angekündigt. Eswird also noch einiges auf uns zukommen. Der Skandalwird das Land, so fürchte ich, noch lange belasten. Da-bei ist für die Menschen bereits das Maß des Erträgli-chen überschritten. Wir müssen unsere ganze Kraft undAnstrengung jetzt darauf richten, jede weitere Gefähr-dung der Stabilität unseres politischen Systems zu ver-meiden. Die Glaubwürdigkeit der Politik und das Ver-trauen der Menschen in die Politik müssen nach undnach wieder hergestellt werden. Dabei werden die Bun-desregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionennicht auf eine erneuerte CDU warten. Diese Zeit habenwir nicht; das Land muss und wird ordentlich regiertwerden.
Am 5. November des letzen Jahres hat sich der ehe-malige Schatzmeister der CDU, Walther Leisler Kiep,den Behörden gestellt und die erste Millionenübergabeim Koffer auf einem Schweizer Parkplatz gestanden.Seitdem reißen die Enthüllungen nicht ab. Herr Schäub-le hat in dieser Woche wissen lassen, dass das Endenoch nicht erreicht ist. Kohl, Schäuble, Kiep, Kanther,Baumeister, Prinz Wittgenstein, ein flüchtiger Staatssek-retär – das ist noch nicht alles.
Merkwürdige Geldgeschäfte und Finanztransfers aufBundesebene, in Hessen, in Rheinland-Pfalz, in Schles-wig-Holstein, in Mecklenburg-Vorpommern – wir wis-sen nicht, wo überall noch –, drei Generalsekretäre –Rühe, Hintze und Merkel –, die von nichts gewusst ha-ben, wie sie sagen – eine merkwürdige Partei! Klar istaber: Es war nicht allein der Bundeskanzler und Partei-vorsitzende, der sich nicht nach Recht und Gesetz ge-richtet hat; es war ein System, in das viele einbezogenwaren. Dies alles wird zu klären sein.Es wird nicht ausreichen, über einzelne Beteiligte zubefinden. Die CDU hat dieses System Kohl zugelassen.Sie hat zugelassen, dass Regeln der innerparteilichenDemokratie durch die Regeln einer Günstlingswirtschaftaußer Kraft gesetzt werden konnten.
Sie hat zugelassen, dass die Lebendigkeit einer demo-kratischen Volkspartei unter der finanziellen Macht undder politischen Wucht eines Patriarchen erstickt wurde.Die CDU muss die Ernsthaftigkeit ihres Aufklä-rungswillens erst noch beweisen. Ein überzeugenderNeuanfang ist Ihnen noch nicht gelungen. Dies müssenSie selbst regeln. Ich hoffe, dass Sie die Kraft dazu nochentwickeln werden. Es muss sein. Der politische Total-schaden der CDU darf nicht zur Beschädigung unsererpolitischen Kultur in den Augen der Bürger und zurSchädigung unseres Ansehens in der Welt führen.
Ich erteile dem Kol-legen Wolfgang Schäuble, CDU/CSU-Fraktion, dasWort.Dr. Peter Struck
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7426 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es isteine ungewöhnlich schwierige Stunde für einen Vorsit-zenden der CDU Deutschlands und einen Vorsitzendender CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Die Debatte ist aufder einen Seite zu früh, um zum Sachverhalt abschlie-ßende Auskünfte zu geben und Feststellungen zu ma-chen. Eines der Probleme, mit dem wir seit Wochen zutun haben, ist ja, dass wir von Woche zu Woche neueErfahrungen machen und Erkenntnisse gewinnen müs-sen, von denen wir selber mehr entsetzt und betroffensind als irgendjemand sonst. Gleichwohl ist die Debatteauch zu diesem Zeitpunkt notwendig – deswegen habeich ihr auch gleich zugestimmt –, weil sie mir Gelegen-heit bietet, mich heute und in diesem Stadium des Ver-fahrens für die CDU Deutschlands dafür zu entschuldi-gen, dass in unserer Verantwortung ganz offensichtlichgegen Gesetze verstoßen worden ist und dass wir Ver-trauen in die Integrität demokratischer Parteien undInstitutionen beschädigt haben.Ich füge auch gleich hinzu: Heute haben wir alle mit-einander vielleicht das Gefühl, dass sich dieses Themagar nicht so sehr zum Streit zwischen den Parteien eig-net. Ich sage dies, obwohl ich finde, Herr KollegeStruck, dass Sie ein bisschen viel Unterschiedliches zu-sammengerührt haben. Die Versuchung liegt wohl sonahe, dass man ihr nur schwer widerstehen kann.
Als wir vor ein paar Wochen, Anfang Dezember,darüber diskutiert haben, war die Atmosphäre in diesemHause sehr viel lebhafter. Dabei ist mir passiert – dafürmöchte ich mich entschuldigen, Herr Präsident, verehrteKolleginnen und Kollegen –, dass ich auf Zurufe ausden Reihen der Regierungskoalition nicht so reagiert ha-be, wie ich hätte reagieren müssen. Ich bedauere das undentschuldige mich dafür.Wenn es Ihnen so ernst ist, wie es der Kollege Struckeben gesagt hat und wie es uns ist, möchte ich dafürwerben, dass wir die Dinge ein wenig nach den Prinzi-pien der Verhältnismäßigkeit und ein wenig nach denRegeln von Wahrheit, Klarheit und Fairness sauber von-einander trennen.
Das wird wohl nicht zu viel verlangt sein.Deswegen sage ich noch einmal in aller Klarheit: Ichlege zunächst einmal Wert auf die Feststellung – sie istbis zu dieser Minute von niemandem in Frage gestelltworden –, dass in der Zeit, in der ich Vorsitzender derCDU Deutschlands bin, Angela Merkel Generalsekretä-rin und Matthias Wissmann Schatzmeister sind – das istseit dem 7. November 1998 der Fall –, auch nicht dergeringste Anlass für die Annahme besteht, dass wir unsin unserer eigenen Verantwortung nicht an jede gesetzli-che Bestimmung gehalten haben.
– Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, dassdie Ernsthaftigkeit Ihrer Sorge umso überzeugender ist,je weniger schwer Sie es mir machen, zu sagen, was zusagen ohnedies schwer genug ist.Seit dem 2. Dezember, als wir das diskutiert haben,was wir damals erfahren haben, haben wir Schritt fürSchritt Erkenntnisse bekommen, die uns – ich sage nocheinmal – mehr betroffen und entsetzt haben als irgend-jemand sonst. Darüber kann es keinen Zweifel geben.Ich habe nach jener Debatte, die Sie gerade zitiert habenund die ich, wie Sie wissen, im Krankenhaus verfolgthabe, das Einvernehmen mit meinem Amtsvorgängerhergestellt, dass wir alle Unterlagen aus vergangenenZeiten von der Wirtschaftsprüfergesellschaft anfor-dern und bekommen. Wir haben sie ja von der Staats-anwaltschaft nach den Bestimmungen der Prozessord-nung nicht bekommen.Als ich am Freitag jener Woche die ersten Unterlagengesehen habe, habe ich unverzüglich reagiert. Ich habegesehen, dass dieses System mit den vielen Konten einSystem war, von dem keiner gewusst hat außer denen,die genannt worden sind. Ich kenne jedenfalls nieman-den, der davon gewusst hat. Ich sage auch: Diejenigen,die davon gewusst haben, haben ja auch gesagt, sie hät-ten alles darauf angelegt – so ist ein solches System –,dass andere davon keine Kenntnis hatten.
Das letzte Konto dieser Art ist ja auch geschlossen wor-den, um die neue Parteiführung nicht zu unterrichten.Wir haben uns an die Aufklärung gemacht, so gut undso energisch, wie es irgend geht.
Wir sind damit noch nicht am Ende. Wir haben Wirt-schaftsprüfer beauftragt und ihnen alle Informationenzur Verfügung gestellt. Ich habe zu keinem Zeitpunkt ir-gendetwas zurückgehalten. Diese Wirtschaftsprüfer wer-den uns heute oder morgen ihren Bericht für die Jahre1993 bis 1998 vorlegen. Das sind die sechs Jahre, die imParteiengesetz als Frist für die Aufbewahrung von Bele-gen vorgesehen ist. Die Unterlagen sind unvollständig;die Antworten haben wir nicht vollständig bekommen.
– Jetzt will ich eine zweite Sache sagen, weil Sie die-sen Zwischenruf machen. Diese CDU Deutschlands, üb-rigens auch diese Bundesrepublik Deutschland, ist in ei-nem erheblichen Maße durch die Leistungen von Hel-mut Kohl geprägt. Wenn wir über Verhältnismäßigkeitreden, dann sage ich Ihnen auch: Bei allen Verstößen,die Thema dieser Debatte sind, die weiter aufgeklärtwerden müssen und die möglicherweise abschließendfestgestellt werden, wird das nichts an dem geschichtli-chen Werk ändern, das unter der Führung von HelmutKohl für dieses Land erreicht worden ist.
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7427
Aber wenn Sie vor diesem Hintergrund, der ja völlig un-strittig ist – ich habe ja gesagt: auch diese meine Partei,deren Vorsitzender ich bin, ist davon noch mehr ge-prägt –, einen Moment die Fähigkeit haben, mitzuden-ken
– Entschuldigung, lassen Sie mich diesen Satz been-den –
was uns bewegt.Herr Präsident, meine verehrten Kolleginnen undKollegen, die Stunde ist wirklich ernst, und Sie werdenmich nicht davon abbringen, dem Ernst dieser StundeRechnung zu tragen, wie immer Sie sich verhalten. Ichkann das verstehen, aber ich sage Ihnen: Schadenfreudeund Häme sind schlechte Ratgeber. Das wird Ihnen nichtviel nutzen.
Deswegen möchte ich Ihnen in aller Ruhe erklären,was der Bundesvorstand meiner Partei vorgestern nachintensiven Debatten beschlossen hat. Es steht ja in denZeitungen hinreichend beschrieben, wie der Ablauf derDinge gewesen ist.
– Doch, es ist schon klar. Ich sage Ihnen vorweg, wiedie Sache gewesen ist, auch daraus brauche ich keinenHehl zu machen. Wenn die Wahrheit so wichtig ist –und sie ist wichtiger, als wir es vielleicht vor ein paarWochen noch begriffen haben –, dann sage ich auch die-ses: Ich bin über das Wochenende zu der Überzeugunggelangt, dass ich vielleicht am besten helfen kann, dassich meiner Partei, meiner Gemeinschaft, auch in ihrerFunktion für unsere Demokratie, die Kollege Struck ge-rade beschrieben hat, den besten Dienst tun kann – weilich ja nun mit der engste Mitstreiter in den 16 Jahren derKanzlerschaft von Helmut Kohl gewesen bin –, indemich sage: Ich möchte zurücktreten. Das war der Ent-schluss, mit dem ich am Montag hierher gekommen bin.Warum soll ich darüber nicht reden? Ich habe gesagt:Jeder muss sich seiner Verantwortung in dieser Lagestellen.Wichtiger ist das, was unsere politische Gemeinschaftfür diese Demokratie und für dieses Land zu leisten hat.Das ist meine Priorität, von der ich mich leiten lasse unddie ich mir von niemandem in Frage stellen lasse. Des-wegen habe ich diese Entscheidung getroffen. Ich habemich zunächst einmal umstimmen lassen, dass ich überdiese Frage mit meinen Freunden in der engsten Füh-rung der Partei, im Präsidium der CDU, diskutiere. Aberich bin nicht ins Präsidium gegangen, um zu sagen:Wenn ihr wollt, dass ich zurücktrete, dann trete ich zu-rück. Ich habe gesagt: Ich will zurücktreten; aber lasstuns darüber reden, was der beste Weg ist.Zuvor habe ich ein Gespräch mit Helmut Kohl ge-führt; auch dies will ich sagen. Ich habe ihm gesagt: Ichglaube, dass, jedenfalls nach dem Eindruck, der in brei-ten Kreisen der Bevölkerung entstanden ist, gerade auchdurch die neue Dimension, die der Schock der hessi-schen Erfahrungen ausgelöst hat, bis zu dem entsetzli-chen Punkt, für den sich die hessische CDU genausowie die CDU Deutschlands entschuldigt hat, dass jüdi-sche Mitbürger ohne jede Verantwortung hier in eineschiefe Debatte und in Gerüchte hineingezogen wordensind angesichts dieser neuen Dimension mehr geleistetwerden muss, auch von Helmut Kohl, um den eingetre-tenen und noch drohenden Schaden von unserem Landabzuwenden, mit der Fähigkeit unserer Partei, diesenDienst für das Land zu leisten. Darüber habe ich mit ihmgeredet, so offen wie man nur reden kann. Und ich habeihm auch gesagt: Wenn er diesen Schritt – ich kann ihnja nicht zwingen – nicht leistet, dann werde ich den Weggehen, wie ich es vorgesehen habe. Das habe ich ihmgesagt. Das hat ihn auch nicht bewogen, das hat auchnichts geändert. Dann bin ich in die Sitzung gegangenund dann hat das Präsidium der CDU Deutschlands ge-sagt: So geht das nicht, dann treten wir alle zurück, nichteiner allein. Du hast einen Fehler gemacht – das habeich, ich habe mich auch entschuldigt –, aber du hastnicht gegen Gesetze verstoßen, du hast unser Vertrauen,du wirst gebraucht. Ich wollte dem Satz, von dem Sievorhin gemeint haben, Sie müssten sich über ihn empö-ren, hinzufügen: Wenn Sie bedenken, was es für dieCDU angesichts dieser Prägung heißt, dass wir eine Ent-scheidung getroffen haben, die dazu führen musste, dasswir keinen Ehrenvorsitz mehr haben, dann sollten Sienicht bestreiten, dass wir uns der Ernsthaftigkeit der La-ge, in der wir sind und in der wir diese Debatte in ihrervollen Dramatik verstanden haben, stellen. Das ist derPunkt. Ich sage Ihnen: Das tun wir. Darauf können sichdie Menschen, unsere Mitglieder, unsere Anhänger, ver-lassen.
– Das ist sehr schwierig. Ich sage Ihnen, warum es soschwierig ist. Es ist aus zwei Gründen schwierig. Es istaus dem einen Grund schwierig, weil uns diejenigen, dieInformationen haben, diese Informationen nicht zur Ver-fügung stellen.
– Verehrter Herr Kollege, jetzt verstoße ich gegen mei-nen Vorsatz, mich heute durch keinen Zwischenruf vonIhnen zu irgendetwas verleiten zu lassen, schon gar nichtzu einem Fehler. Aber einen Fehler werde ich trotzdemnicht machen. Sobald wir den Bericht der Wirtschafts-Dr. Wolfgang Schäuble
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7428 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
prüfer haben, werden wir darüber beraten. Wir haben amSonntagabend eine Präsidiumssitzung. Am Montag trifftsich der Bundesvorstand. Ich habe am 2. Dezember1999 hier gesagt, dass wir den Wirtschaftsprüferbe-richt abwarten wollen. So sieht es das Parteiengesetzvor. Wir haben damals gehofft, dass wir ihn im Dezem-ber bekommen werden. Dies hat länger gedauert. Wirhaben dem Bundestagspräsidenten zum Ende des letztenJahres einen Bericht vorgelegt und auch veröffentlicht.Dieser hat uns Kritik eingebracht; das ist auch verständ-lich. Nach den hessischen Ereignissen wird die Fragegestellt, ob er vollständig gewesen ist. Das ist das Prob-lem: Wenn man vollständig aufklären und im Zuge derAufklärung nicht neue Zweifel säen will, braucht mangelegentlich Zeit. Wenn diejenigen, die das Wissen ha-ben, dies nicht oder zu spät zur Verfügung stellen, istder Prozess so schwierig, wie er ist. Das ist der eineGrund.Der zweite Grund ist, dass ständig alles immer wiederzusammengerührt wird und so zu völlig unverhältnis-mäßigen und überzogenen Verdächtigungen führt.
– Hören Sie bitte einen Moment zu, damit Sie sehen,dass es für jeden wahnsinnig schwierig ist, das, was erweiß, zur Verfügung zu stellen. Ich bin der Einzige inder CDU Deutschlands auf Bundesebene, der substan-zielle Beiträge zur Erklärung der Herkunft von einigender Mittel leisten konnte. Ich habe die Debatten ja erlebt.Glauben Sie nicht, dass diese Debatten anderen Mut ma-chen. Das Zweite ist, dass alles zusammengerührt wird. Esfindet zum Beispiel in der Öffentlichkeit folgender Pro-zess statt – das konnte man gerade bei der Rede des Kol-legen Struck feststellen –: Auf der einen Seite wird je-der, der in früheren Jahren oder Jahrzehnten mit diesemHerrn Schreiber zusammengetroffen ist – auch wenn erdamals nicht wusste, was heute in der Öffentlichkeit be-kannt zu sein scheint –, hineingerührt. Sie haben es sel-ber gesagt: Mit solchen Leuten!
Auf der anderen Seite wird demselben Menschen heute,wo viel mehr über ihn bekannt ist, jeden Tag im öffent-lich-rechtlichen Fernsehen in Live-Übertragungen er-laubt, dass er seine Diffamierungsmethode, mit ständigwechselnden Aussagen andere Leute in den Sumpf zuziehen, fortsetzt. Er hat in einer Woche viermal das Ge-genteil von dem gesagt, was er am Vortage gesagt hat.Beides zusammen geht nicht.
– Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich beschreibenur, warum es so unendlich schwierig und so qualvollist. Deswegen sage ich Ihnen – und ich sage es der Öf-fentlichkeit und der Bevölkerung –: Wir werden alles,was in unserer Kräften steht, tun, damit so vollständig,wie es irgend möglich ist, Klarheit geschaffen wird. Eswird alles, was wir tun können, getan, damit Verstöße,wenn sie stattgefunden haben, benannt werden. Dannwerden wir die Konsequenzen dafür tragen müssen undwir tragen sie auch.Es gibt übrigens zwei Arten von Konsequenzen fürVerstöße, die in der Verantwortung einer Partei began-gen worden sind. Die eine Konsequenz ist, dass man po-litisch dafür die Verantwortung tragen muss. Das ist bit-ter und das spüren wir schon. Damit tragen wir schoneine ganze Menge von Konsequenzen für Verstöße,auch wenn sie noch nicht abschließend festgestellt sind.Der zweite Punkt werden die finanziellen Konse-quenzen sein, die das Parteiengesetz vorsieht und überdie dann gesprochen und gegebenenfalls auch gestrittenwerden muss. Auch das werden wir tragen.Dann werden wir etwas Drittes tun. Das eine habenwir schon getan. Seit ich als Parteivorsitzender mit mei-nen Freunden Verantwortung für die Partei trage, sindsolche Verstöße nicht vorgekommen. Aber wir werdenauf der Grundlage der Erfahrungen, die wir jeden Tagoder jedenfalls jede Woche neu machen, auch sehr in-tensiv darüber nachdenken und reden, wie wir für dieZukunft ausschließen können, dass sich Derartiges wie-derholen kann.Deswegen sage ich auch: Ich bin sehr dankbar, dasssich der frühere Bundespräsident Professor Herzog, derfrühere Bundesbankpräsident Professor Tietmeyer undder frühere Verfassungsrichter Professor Kirchhof aufmeine Bitte hin spontan bereit erklärt haben, der CDUDeutschlands beratend zur Verfügung zu stehen, wennes darum geht, auf der Grundlage der durch die Wirt-schaftsprüfer festzustellenden Sachverhalte und Proble-me Ratschläge zu geben, wie wir für die Zukunft Wie-derholungen oder Vergleichbares ausschließen können.
– Ich höre den Zwischenruf: „Einfach Gesetze beach-ten.“ Das ist wahr, aber ich sage Ihnen: Es wird damitsein Bewenden nicht haben.Ich sage Ihnen zwei Beispiele, zwei Themen, über diedann auch geredet werden muss. Wir werden uns überUmgehungsmöglichkeiten miteinander zu unterhaltenhaben. Uns ist vorgeworfen worden – für diesen Vor-wurf gibt es keinen Anhaltspunkt, aber natürlich werdenentsprechende Fragen gestellt; auch da versuchen wir,versucht Joachim Hörster, so aufzuklären, wie es irgendmöglich ist, auch in die Vergangenheit –, dass wir Mit-tel, die in der Fraktion durch Beiträge der CDU-Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion angesammelt wor-den sind, der Partei zur Verfügung gestellt haben. Daswar die Diskussion über den Jahreswechsel hinweg.
– Hören Sie einen Moment zu.Es ist auf den Sinn der gesetzlichen Regelungen hin-gewiesen worden, dass gemeinnützige Organisationen,die selber steuerbegünstigt Spenden annehmen können,Parteien keine Mittel zur Verfügung stellen dürfen, weildadurch eine Umgehungsmöglichkeit geschaffen würde.Dr. Wolfgang Schäuble
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7429
Jetzt sage ich Ihnen: Wenn das so ist, muss natürlich ü-ber die Frage von Umgehungsmöglichkeiten gesprochenwerden. Wenn der Deutsche Gewerkschaftsbund im Jahr 1998nach eigenen Angaben mit Eigeninitiativen bis zu10 Millionen DM für den Wahlkampf der Sozialdemo-kraten ausgegeben hat, ist dies eine Umgehung.
Weil Sie sich dagegen wehren, sage ich einen zweitenPunkt, und zwar zu Ihrem Parteivorsitzenden Schröder:
Am Tag vor der Landtagswahl in Niedersachsen im Jah-re 1998 ist in großen Zeitungen von einem anonymenAuftraggeber für einen geschätzten Betrag von, glaubeich, 800 000 DM eine Anzeige mit seinem Bild und demText geschaltet worden: „Ein Niedersachse muss Kanz-ler werden.“ Das war Wahlkampf für die Sozialdemo-kraten. Korrekt hätte dieser Anonymus der SPD eineSpende in der Höhe der Anzeigenkosten machen müs-sen.
– Ich verstehe Ihre Erregung schon.
Sie steht in einem für jedermann offensichtlichen Wi-derspruch zu der angeblichen Betroffenheit über dieSchwierigkeiten der CDU Deutschlands.
Nein, wenn wir darüber reden, dass für die Zukunft ausden Erfahrungen gelernt werden muss, müssen wir auchUmgehungsmöglichkeiten bedenken und ausschließen.
Jeder Mensch in unserem Lande, der diese Debatteverfolgt, wird nicht bezweifeln und nicht bestreiten kön-nen, dass ich in allem Ernst sage: Es gibt in der Verant-wortung der CDU schwerwiegende Verstöße, für die wirdie Verantwortung tragen, für die ich mich entschuldigthabe, die wir abschließend mit allen Mitteln, die uns zurVerfügung stehen, aufklären werden, die uns zu einemschmerzlichen Prozess gebracht haben, der dazu geführthat, dass wir keinen Ehrenvorsitzenden mehr haben,
von denen ich Ihnen sage, dass es in meiner Amtszeit fürentsprechende Verstöße keinen Anhaltspunkt gibt, undfür die ich Ihnen zusage, dass wir alles in unserer MachtStehende tun werden, um nicht nur aufzuklären, sondernauch für die Zukunft auszuschließen, dass es Wiederho-lungen gibt.
Verehrter Kollege
Schäuble, darf ich Sie darauf hinweisen, dass Sie Ihre
Redezeit schon deutlich überschritten haben.
Herr Präsi-dent, ich bitte um Entschuldigung. Geben Sie mir nochzwei Minuten Redezeit; wenn nicht, breche ich auch andieser Stelle ab. Ich habe ein bisschen Redezeit ver-schenkt, indem ich immer, wenn Unruhe war, gar nichtgeredet habe, weil ich angesichts des Ernstes der Lage ingroßer Ruhe sprechen wollte.
Ich habe mich für die Verstöße, die in der Verantwor-tung der CDU begangen worden sind, entschuldigt undzugesagt, dass wir alles tun werden, dass sich so etwasnicht wiederholen wird. Aber ich sage Ihnen auch – daswar ebenso meine Entscheidung; ich habe Ihnen vonmeinen persönlichen Erfahrungen dieser Woche so offenberichtet, wie man es vielleicht gar nicht tun sollte –: Ichund meine Freunde leisten diesen Dienst, weil wir wis-sen und wollen, dass diese Christlich-DemokratischeUnion auch in der Zukunft als große, zur Mitte hin in-tegrierende Volkspartei ihren Dienst für diese unsereDemokratie und unser Land leisten wird. Sie könnensich darauf verlassen, dass wir das tun werden. Wir wer-den nicht zulassen, dass der politische Wettbewerb inunserem Lande um den richtigen Weg und die besserePolitik auf längere Zeit ausgesetzt wird.Das sind die Schwierigkeiten, in denen wir im Mo-ment stecken. Ich kann verstehen, dass Sie dieseSchwierigkeiten gerne noch ein bisschen länger habenwollen.
Einverstanden. – Ich sage Ihnen zu: Wir tun alles, was inunseren Möglichkeiten liegt. Wir werden uns, wenn wirdies geklärt haben, mit allem Selbstbewusstsein weiter-hin dem Dienst für unser Land stellen, der in dem Wett-bewerb der Parteien und Politiken über den besserenWeg für die Zukunft unseres Landes besteht.
Dr. Wolfgang Schäuble
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7430 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Rezzo Schlauch, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Der Preisdes Schweigens“ ist der Titel des Buches, in dem Herrvon Brauchitsch seine Sicht der Flick-Affäre im Rück-blick schildert. Wenn nur die CDU, bezogen auf denParteispendenskandal damals wie heute, den Preis be-zahlen müsste, würden wir hier eine kontroverse partei-politische Debatte führen und könnten dann zur sachpo-litischen Tagesordnung übergehen. Damals und sehr vielmehr heute erlebten bzw. erleben wir aber einen rapidenSchwund des Vertrauens der Bürgerinnen und Bürger indie gesamte Politik, in uns Politiker aller Parteien undleider auch in unsere Demokratie, der maßgeblich verur-sacht wird durch Ihr Verhalten, meine Damen und Her-ren von der CDU.
Ich bin mir sicher, dass uns die Dimension dieser E-rosion und deren Konsequenzen für die Parteiendemo-kratie, für Staat und Gesellschaft erst in Ansätzen undnoch lange nicht im Gesamtausmaß bewusst sind. Voruns liegt derzeit die vorläufige Endmoräne tiefer politi-scher Verwerfungen – ausgehend, Herr Schäuble, vomJahre 1954, dem Gründungsjahr der so genanntenStaatsbürgerlichen Vereinigung, einer frühen, getarntenGeldwaschanlage zur illegalen Parteienfinanzierung.Seitdem gibt es, unbeeindruckt von damaligen Strafurteilen gegen Amts- und Mandatsträger, unbeirrtvon den eindeutigen Ergebnissen des Flick-Untersuchungsausschusses, ignorant gegenüber einemdaraus folgenden neuen Parteiengesetz, nahtlos eine il-legale Parteienfinanzierungspraxis bei der CDU in ei-nem solchen Ausmaß, das einen tagtäglich Staunenmacht.
Es gibt allerdings einen Unterschied: Im Vergleich zufrüheren Zeiten wurden nicht eigenständige Tarnorgani-sationen, sondern wurde – wie nach vorläufiger Beurtei-lung der Wirtschaftsprüfer zu lesen ist – die Partei CDUselbst in Teilen als Geldwaschanlage benutzt. In Anbetracht des noch nicht zu ermessenden ge-samtpolitischen Schadens, den die CDU zuvor verdeckt,ab Oktober 1999 öffentlich angerichtet hat und tagtäg-lich von neuem anrichtet, finde ich es nicht nachvoll-ziehbar – Herr Schäuble, auch wenn Sie dies heute wie-derholt angekündigt haben –, wie die verantwortlichen,wie die führenden Amts- und Mandatsträger der CDUzumindest bis heute – von Ausnahmen abgesehen – mitder Wahrheit umgegangen sind.
Vielleicht wird das ja anders, Herr Kollege Schäuble.Aber bis heute habe ich den Eindruck: Verdrängen,Schönreden, Abwiegeln und Abschieben der Ver-antwortung an die Wirtschaftsprüfer oder an eine RoyalCommission, das war bislang Ihre Devise. Statt von sichaus, also aus freien Stücken, aktiv zu werden, haben Siedie Karten nur dann auf den Tisch gelegt, wenn sich voninnen oder außen erpresserische Situationen entwickelthaben, wenn vonseiten der Medien die Veröffentlichungneuer Tatsachen drohte. Rückhaltlose Aufklärung, das war das, was von Ihnenin den letzten Wochen immer wieder angekündigt wur-de. Ich habe zumindest bis heute den Eindruck gehabt –viele empfinden das ähnlich wie ich so –: Sie klärennicht auf, sondern Sie werden aufgeklärt, und zwar Tagfür Tag.
Nach Art. 21 des Grundgesetzes, unserer Verfassung,müssen Parteien über die Herkunft ihrer Mittel öffent-lich Rechenschaft abgeben. Es berührt mich wenig,wenn Herrn Kohl das Schicksal seiner Partei offensicht-lich egal ist. Dass einem Altbundeskanzler aber offen-sichtlich Recht, Gesetz und die Verfassung egal sind unddass er sich dafür auch noch, wie gestern, Herr KollegeSchäuble, in Hamburg geschehen, öffentlich beklatschenlässt, ist ein nicht hinzunehmender, ist ein unglaublicherVorgang.
Ich halte das, was der geschätzte ehemalige KollegeEylmann sagt, für völlig richtig: Kohl soll endlich auf-hören, irgendwelche ominösen Ehrenworte über denRechtsstaat zu stellen. Was bitte schön ist ehrenvoll aneiner Zusage, die man unter Bruch der Verfassung ein-hält?
Das hat mit Ehre nichts, aber auch gar nichts zu tun, mitder Verhöhnung des Rechtsstaats jedoch viel. HerrSchäuble, neben der Größe der Leistung ist die Kata-strophe mindestens genauso groß.
Der letzte erfolglose Versuch der CDU-Führungs-gremien, Helmut Kohl zur Aussage zu bewegen, hat er-neut aufgezeigt, dass eine Aufklärung dieses Skandalsnur von außen erfolgen kann. Es wird mehr und mehrdeutlich, dass das System Kohl die CDU noch immer inden Fängen hat, weil es zum System der Partei gewor-den ist. Der vorläufig abgeschlossene innerparteilicheMachtkampf sowie viele Aussagen von Führungskräftenin den letzten Wochen legen nahe, Herr Kollege Schäub-le – ich muss Ihnen das so sagen –, dass viele von Ihnenerst wieder lernen müssen, was richtig und was falschist.Dr. Wolfgang Schäuble
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7431
Der Fall Manfred Kanther ist besonders krass. Derehemalige Verfassungsminister unter Helmut Kohl, derProtagonist von law and order hat zwei Gesichter: Sichselbst billigt er die fortgesetzte Begehung politischerGeldwäsche zu, während er gleichzeitig „null Toleranz“gegenüber jedem noch so kleinen Ladendieb, gegenüberjedem noch so kranken Drogenabhängigen durchsetzenwill.
Er ist nicht Opfer einer Treibjagd, wie er meint, er istTäter.
Opfer des Systems Kohl sind in erster Linie die vielenMitglieder, die in ehrenamtlichen Aktivitäten an der Ba-sis, in den Kommunen oder wo auch immer politischeArbeit leisten. Ich habe es im „Focus“ gelesen, HerrSchäuble: Auch Sie und Herr Koch sind keine Opfer.Sie sind Teil und Teilhaber des Systems Kohl und damitin vollem Umfang für das, was geschehen ist, verant-wortlich.
Herr Kollege Schäuble, ich setze mich mit Ihrem Ar-gument „Wir haben nichts gewusst“ auseinander. All dieFührungspersonen im unmittelbaren Umfeld von HelmutKohl – das sind die Herren Rüttgers und Rühe und es istauch, so Leid es mir tut, Frau Merkel – können sich ausdieser politischen Verantwortung nicht mit dem Argu-ment herausreden, sie hätten nichts gewusst. Selbst un-terstellt, das würde stimmen, hätten Sie doch über Jahrehinweg die Möglichkeit gehabt, in das System Kohl ein-zugreifen. Wie es funktionierte, das wussten Sie und wiraus hundertfachen Veröffentlichungen schon lange. Siehaben es vorgezogen, nichts zu hören und nichts zu se-hen. Sie haben es nicht wissen wollen. Sie haben ge-kuscht und sich weggeduckt. Sie haben schlichtweg keinJota Zivilcourage aufgebracht, um das System Kohlauch nur leise in Frage zu stellen,
geschweige denn es nachhaltig zur Diskussion zu stel-len. Im Magnetfeld der Macht von und um Helmut Kohlist Ihr demokratischer Kompass völlig außer Kontrollegeraten.
Außer Heiner Geißler gab es niemanden, der die not-wendige Zivilcourage aufgebracht hat, innerparteilicheTransparenz und die entsprechende Machtbalance einzu-fordern. Das war das eigentliche Versagen.
Noch einmal zu Hessen. Kein Landesverband derCDU steckt so stark im illegalen Sumpf wie die CDUvon Koch und Kanther in Hessen.
Es ist bereits jetzt unbestreitbar, dass der Ausgang derhessischen Landtagswahl vor einem Jahr durch die Ver-wendung von illegalen Millionenbeträgen verfälschtwurde. Es ist deshalb das mindeste Gebot von Demokra-tie, in Hessen unter fairen Bedingungen neu anzufangenund Neuwahlen durchzuführen.
Herr Koch überschätzt sich. Die demokratische Kulturin Hessen kann nicht er, sondern können nur die Wähle-rinnen und Wähler wieder herstellen.
Gleichwohl hat die Krise der CDU aber auch gezeigt,dass die Demokratie wehrhaft ist und niemand sich –egal in welchem Amt er ist, wie lange er im Amt ist oderwelcher Mittel er sich bedient – dauerhaft den Staat zurBeute machen kann.
Auch wenn die Selbstreinigungskräfte einer Partei bis-her versagt haben: Die Stabilität unserer Demokratieund ihrer Institutionen zeigt sich auch in der Krise. DieStaatsanwaltschaften in Augsburg, in Frankfurt, inBonn, in Genf oder wo auch immer ermitteln; der Unter-suchungsausschuss nimmt seine Arbeit auf. Das wirdder erste Schritt sein – das wird ein langsamer Prozesssein –, Vertrauen wieder zurückzugewinnen. Ich glaube,wir alle haben diesbezüglich in Zukunft noch viel zutun.Ich bedanke mich.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang Gerhardt, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident!Meine Kolleginnen und Kollegen! Die CDU, die hier imParlament vertreten ist, steht – das weiß sie selbst – ineiner der schwierigsten Phasen seit ihrer Gründung. IhrAnsehen leidet dramatisch unter dem Vorgang mit denDr. Wolfgang Schäuble
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7432 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Parteispenden. Sie unternimmt Aufklärungsanstrengun-gen, aber das ständige Hin und Her und neu hinzukom-mende Sachverhalte wie der abenteuerliche in Hessenhaben bisher von einem Dilemma ins andere geführt.Die Bewertung der F.D.P. ist völlig deckungsgleichmit der Bewertung vieler Bürgerinnen und Bürger.
Ich sage das auch hier; wir halten damit nicht zurück,auch nicht gegenüber einem langjährigen Koalitions-partner. Wir benennen die Wunden, die die CDU jaselbst kennt. Aber eins füge ich hinzu: Wir sollten unshüten, in diese Wunden parteipolitisches Salz zu streuen.Denn in dieser Situation geht es auch um die politischeStruktur der Bundesrepublik Deutschland und um dieRepräsentanz von Grundströmungen, die es in der Ge-schichte gegeben hat.
Ich sage das deshalb, weil der Vorgang doch tiefergeht. Parteipolitische Gewinner wird es schlecht gebenund hinter den Umfragedaten leuchten viel größere Pro-bleme auf. Die ohnehin in Deutschland verbreitete Nei-gung, Politik für ein schmutziges Geschäft zu halten unddie Politikerbeschimpfung geradezu als verfas-sungsmäßigen Auftrag zu empfinden, wird doch nur be-stärkt.Aber ich will auch feststellen – so weit, Herr KollegeStruck, stimmen wir überein –: Dieses Land und dieserRechtsstaat verfügen über alle Instrumente, um solcheSachverhalte aufzuklären: eine wache Öffentlichkeit, ei-ne unabhängige Medienlandschaft, parlamentarischeUntersuchungsausschüsse, staatsanwaltschaftliche Er-mittlungen, unabhängige Gerichte. Wir können, wennwir es wollen, Vertrauen wieder herstellen. Auch dieanderen Parteien, ebenfalls die Freie Demokratische Par-tei, haben ein Interesse daran, dass es der CDU gelingt,ihre Probleme zu bewältigen. Das gilt weit über die engeparteipolitische Situation hinaus.Ich sage das sehr bewusst, weil meine Freunde undich Situationen in der Bundesrepublik Deutschland er-lebt haben, in denen sich andere bei viel nichtigeren An-lässen darangemacht haben, Grundströmungen auszura-dieren. Können Sie sich, Herr Kollege Struck, daran er-innern, dass Helmut Schmidt 1982 in den hessischenWahlkampf zog und zum Beispiel in Wetzlar die F.D.P.„wegharken“ wollte? Welches Bewusstsein stand denndamals dahinter? War es die Überzeugung, dass es eineVielfalt politischer Grundströmungen geben müsse?
Ich erinnere mich auch noch daran, dass Kurt GeorgKiesinger 1969 in den Wahlkampf zog und, weil dieF.D.P. nicht mehr sein Partner war, meinte, man könnesie nun beseitigen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen –in welcher Partei Sie auch immer sein mögen –, esmacht keinen Sinn, nur weil man sich im Dissens mit ei-ner Partei befindet, zu meinen, sie müsse aus dem politi-schen Leben der Bundesrepublik Deutschland entferntwerden. Das muss hier grundsätzlich gesagt werden.
Es wäre deshalb gut, wenn wir in dieser Debatte auchdie Grundstruktur der Bundesrepublik Deutschland erör-tern würden.
Aus den Reihen der Sozialdemokraten höre ich in denletzten Tagen, wir sollten die Regierungskoalition inHessen verlassen.
Ich möchte Ihnen mitteilen, dass wir das nicht tun wer-den.
Die hessische F.D.P. hat sich einen klaren Regierungs-auftrag erkämpft und dabei ihren Wahlkampf fair finan-ziert. Sie hat ihre Politik zur Debatte gestellt und sie hatein Mandat.
Der hessische Ministerpräsident Koch weiß sehr ge-nau, dass es auf seine Glaubwürdigkeit und Entschie-denheit bei der Aufklärung von Vorgängen innerhalb derhessischen CDU ankommt. Jede Zusammenarbeit hateine notwendige Vertrauensbasis. Ich habe keinen An-lass anzunehmen, dass sich Ministerpräsident Koch überdiese Vertrauensbasis im Unklaren ist. Den Ratgebernaus der SPD und Ihrem Vorwurf "Biedermann“, HerrKollege Struck, muss ich entgegnen, dass es in anderenBundesländern Vorgänge gibt, bei denen ich den Ein-druck habe, dass die Aufklärungsbereitschaft von Ver-tretern Ihrer Partei bei viel geringeren Vorgängen nichternsthaft im Verhältnis zur Haltung und Bereitschaft deshessischen Ministerpräsidenten Koch steht, Sachverhalteaufzuklären.
– Nein, ich will die Vorgänge nicht vergleichen. Derje-nige aber, der behauptet, man dürfe Vorgänge in einemanderen Bundesland noch nicht einmal eine Affäre nen-nen, und mich im gleichen Atemzug auffordert, meineFreunde in Hessen zu veranlassen, eine Koalition zu ver-lassen, in der man sich um Aufklärung bemüht, ist füruns kein moralisch bedeutsamer Ratgeber.
Der Untersuchungsausschuss beginnt in dieser Wo-che seine Arbeit. Wir müssen dafür sorgen, dass die Ab-geordneten dieses Ausschusses in Distanz zu der politi-schen Gemeinschaft, der sie selbst angehören, arbeitenkönnen. Für die Atmosphäre des Ausschusses ist es sehrwichtig, dass sie eine innere Unabhängigkeit besitzen. Dr. Wolfgang Gerhardt
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7433
Aber der Untersuchungsausschuss braucht auch nach allden Vorgängen genau das, was meine Fraktion, die Frei-en Demokraten, schon zu Beginn beantragt hat: eineVerbreiterung seines Untersuchungsauftrages.
Das ist ein Sachverhalt, den die SPD und die Grünensowie die PDS mit entscheiden müssen. Die PDS hattees damals schon, Herr Kollege Gysi, völlig zu Recht mitentschieden. Wer nichts zu verbergen hat, kann auch denUntersuchungsauftrag verbreitern.
Deshalb ist es wichtig, dass sich der Untersuchungs-ausschuss darüber klar wird. Kleine politische Münze,nach dem Motto „Nur die einen hätten und die anderennicht“, glaubt niemand in der deutschen Öffentlichkeit.
Deshalb sollte der Untersuchungsausschuss diese Auf-gabe auch wahrnehmen. Wir wollen als Freie Demokra-ten einen Beitrag zur Aufklärung leisten und werden dasim Ausschuss tun. Neben den Aufträgen des Untersuchungsausschussesmuss man zu Beginn des Jahres 2000 sagen: Es gibtauch noch politische Probleme, deren Lösung sich derBundestag zuwenden muss. Wir haben eine Beschäfti-gungsschwäche, wir haben eine Krise unserer sozialenSicherungssysteme, wir haben noch keinen Durchbruchbei der Steuerreform und wir haben eine völlig steckengebliebene Bildungspolitik. Wir müssen diese Sachver-halte aufklären, aber auch politikfähig sein. Dies ist kei-ne Staatskrise, sondern eine Vertrauenskrise, die wir zuüberwinden haben.
Meine Partei findet Rot-Grün nicht schon deshalbbesser, weil die CDU gegenwärtig schwächelt. Rot-Grünist eine Veranstaltung aus dem letzten Jahrhundert imneuen Jahrtausend.
Es gibt überhaupt keinen Durchbruch auf dem Arbeits-markt, es gibt keinen Impulse in der Bildungspolitik, esgibt keine Entlastung des Mittelstandes
und es gibt keinen Spielraum für die Unternehmen. Sieregulieren und bürokratisieren das Gesundheitswesen.Was macht denn Frau Bulmahn mit der BAföG-Reformund der Verdoppelung des Bildungsetats?
Nein, auch die Opposition muss präsent sein. Sie be-kommen uns nicht klein. Die Freie Demokratische Parteitritt für Ziele ein, die Rot-Grün entgegenstehen. Wir bie-ten den Bürgerinnen und Bürgern eine klare Oppositionan. Wer anders denkt als Sie, kann uns wählen, zualler-erst in Schleswig-Holstein und dann in Nordrhein-Westfalen.
Das ist für uns ein wichtiges Jahr. Das, worüber jetztviele schreiben und was viele wünschen, nämlich einemoderne, liberale und bürgerliche Partei mit frei-heitlicher Haltung, gibt es. Sie gibt es, sie wird von mirrepräsentiert und kann in Deutschland gewählt werden. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Gregor Gysi, PDS-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Das Ende der Bonner Republik wurdenicht, wie oft beschrieben, durch den Umzug von Bun-destag und Bundesregierung von Bonn nach Berlin ein-geleitet. Die Krise der CDU und damit auch der parla-mentarischen, das heißt der Parteiendemokratie bedeutetdas Ende der Bonner Republik. Es handelt sich um dasEnde eines Systems, das nicht allein von Helmut Kohlgeprägt wurde, sondern das es offensichtlich auch schonvor ihm gab. Im Kern geht es um die Verquickung vonPolitik und Geld
– ich werde dazu etwas sagen –, das heißt um Abhän-gigkeit oder – noch brutaler ausgedrückt – den Verdachtder Käuflichkeit von Politik. Und es geht um die Me-thoden, die sich im Kalten Krieg herausgebildet haben.Es ist kein Zufall, dass diese Krise eingeleitet wurdeüber die Kenntnis einer Spende eines Waffenhändlers.Rüstungsexport, das ist Politik und Geschäft zugleich.Jeder, der Waffen exportiert, weiß, dass er letztlich inirgendeiner Form Krieg exportiert. Die meisten Staatenwollen die modernsten Waffen besitzen und sie wollenzugleich, dass andere Staaten nicht wissen, welche Waf-fen sie besitzen. Deshalb vollzieht sich das alles ge-heimnisvoll. Und deshalb auch so viele Schmiergelderund Provisionen in diesem Zusammenhang. Wir habenes heute damit zu tun, dass gerade bei Rüstungsgeschäf-ten mehr für Provision und Schmiergeld bezahlt wird alsfür das Rüstungsgut selbst. Deshalb sollten wir einewichtige Schlussfolgerung ziehen, die auch friedenspo-litisch von großer Bedeutung wäre und zugleich solcheMachenschaften einschränken könnte, nämlich hier dasVerbot von Rüstungsverboten feststellen.Dr. Wolfgang Gerhardt
Metadaten/Kopzeile:
7434 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Aber das fragliche Verhältnis von Politik und Ge-schäft gibt es ja nicht nur in der Rüstungsbranche. Leu-na und Minol zeigen: Auch die Herstellung der deut-schen Einheit war nicht nur Politik, sie war auch Ge-schäft, von beiden Seiten. Offensichtlich sind auch dortProvisionen und Schmiergelder gezahlt worden – anwen auch immer; das werden die Ermittlungen hoffent-lich noch ergeben.Es scheint mir auch kein Zufall zu sein, dass die jetztaufgefundenen ungeklärten 9 Millionen DM bei derCDU gerade seit 1989 angelegt worden sind. Natürlichwird bisher entschieden bestritten, dass politische Ent-scheidungen in irgendeiner Weise käuflich gewesen sei-en. Aber wo ist die Grenze, meine Damen und Herrenvon der CDU, zwischen Dankbarkeit und Bestechlich-keit? Aus dem kleinen Teppichhändler Schreiber wurdeein millionenschwerer Waffenhändler. Wie konnte esdazu kommen? Welche Beziehungen hatte er über Jahrezu Franz Josef Strauß? Hat nicht erst der eine den ande-ren groß gemacht, sodass sich der andere dankbar erwei-sen musste? Sie, Herr Schäuble, haben Herrn Schreiberhier als dubiose Figur dargestellt. Aber er ist immernoch Mitglied der CSU. Darüber lohnt es sich docheinmal nachzudenken.
Wenn ein Ehepaar über 3 Millionen DM spendet,nachdem gerade der Zuschlag für den Verkauf der Ei-senbahnerwohnungen ergangen ist, dann zeigt das ebendie Verquickung von Politik und Geschäft. In einerGeldwirtschaft gibt es auch einfache Tatsachen. Zu die-sen gehören: Wer mal 1 Millionen DM, mal 100 000DM, mal 50 000 DM zahlt, der macht das nur, wenn ersich davon etwas verspricht. Und wer das Geld an-nimmt, der gibt in der Regel auch irgendetwas dafür.Selbst wenn das nicht in einem direkten Sinne geschieht,so entstehen doch in jedem Fall Abhängigkeiten, dieHerr Schreiber „politische Landschaftspflege“ nennt.Das Problem, Herr Schäuble, besteht für mich nichtdarin, ob Sie die Verbuchung der 100 000 DM kontrol-liert haben. Das verstehen ich: Wenn Sie sie abgegebenhaben an die Schatzmeisterin, ist das für Sie zunächsteinmal irgendwie erledigt. Das Problem für mich ist dieAnnahme selbst.
Dabei gibt es doch Sorgfaltspflichten. Der Gesetzgeberverlangt von Banken, die – im Unterschied zu Politike-rinnen und Politikern – nun wirklich zuständig sind fürdie Annahme von Geld, dass bei Bargeld ab 20 000 DMeine hohe Sorgfaltspflicht an den Tag gelegt werdenmuss dahin gehend, festzustellen: Wer ist eigentlich derEinzahler und kann das Geld aus kriminellen Handlun-gen stammen, könnte also Geldwäsche vorliegen?Wo war Ihre Wahrnehmung der Sorgfaltspflicht beider Annahme der Spende? Sie hätten sich doch zumin-dest eine plausible Erklärung dahin gehend geben lassenmüssen, dass es sich nicht um eine illegale Spende han-delt, sie also nicht von Dritten kommt, sie nicht aus demAusland stammt, sie nicht mit politischen und wirt-schaftlichen Entscheidungen verbunden ist oder gar imZusammenhang mit Straftaten steht. Da haben Sie nichtsgefragt. Haben Sie Herrn Schreiber gefragt: Weshalbzahlen Sie bar? Weshalb konnte er das Geld nicht über-weisen? Darauf fehlen mir bisher die Antworten.
Kollege Gysi, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lengsfeld?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich möchte das im Zusam-
menhang vortragen.
Montesquieu kam darauf, dass es für eine Demokratie
wichtig ist, die Gewalten zwischen Parlament, Regie-
rung und Justiz zu teilen. Jetzt steht aber die Aufgabe
an, die Abhängigkeit zwischen Politik und Wirtschaft
aufzuheben. Das wird sehr schwierig sein, weil es zu-
nächst Aufklärung, dann strukturelle, personelle und ge-
setzgeberische Veränderungen voraussetzt.
Im Grunde genommen erleben wir gegenwärtig noch
eine weitere Zäsur. Sie wissen, dass der militante Anti-
kommunismus für die alte Bundesrepublik identitäts-
stiftend war. Deshalb ist es nur logisch, dass Herr Kohl
bei seiner Erklärung im ZDF darauf kommt, seinen Ver-
fassungs- und Gesetzesbruch mit dem Kampf gegen die
PDS zu begründen. Auch er hat nicht gemerkt, dass die
Zeit des Kalten Krieges vorbei ist, ganz abgesehen da-
von, dass Datum und Motiv nicht zusammenpassen wol-
len und dass selbst dann, wenn man Spenden annimmt,
um die PDS besonders wirksam bekämpfen zu können,
dies nicht ausschließt, dass man die Spenden deklariert.
Das ist nicht logisch.
Aber es ist ganz logisch, dass er dieses Argument in
der Hoffnung wählt, dann würde auch der Bruch von
Grundgesetz und Bundesrecht toleriert werden. Ganz
ähnlich ist, glaube ich, Herr Kanther ideologisch ge-
prägt. Für den sind wahrscheinlich schon SPD und Grü-
ne so etwas Ähnliches wie die fünfte Kolonne aus
Moskau. Dabei geht er davon aus: Im Kampf gegen die-
se ist jedes Mittel recht.
Kollege Gysi, Ihre
Redezeit ist deutlich überschritten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dieses „Der Zweck heiligtdie Mittel“ – lassen Sie mich das noch sagen, Herr Prä-sident – ist etwas, was im Kalten Krieg entstanden ist.Dazu gehören die ganze Geheimniskrämerei, die Kunge-lei. Deshalb glaube ich, dass viele Politiker aus der Ge-neration, die im Kalten Krieg das Denken gelernt hat,heute nicht mehr geeignet sind, den Kalten Krieg zu ü-berwinden. Ich habe seit Mitte des letzten Jahres gefor-dert: Diese Generation muss in Ost und West abtreten.Dr. Gregor Gysi
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7435
Sie wird es nicht packen. Wir sollten das den Jüngerenüberlassen.Konsequenzen müssen wir, wie ich finde, beim Rüs-tungsexport ziehen genauso wie bei der Aufklärung,beim Wechsel der Politikergeneration und bei der Neu-fassung des Parteiengesetzes, in dem es klare Regelun-gen geben müsste. Ich finde, Spenden durch juristischePersonen sollten ausgeschlossen werden und solchedurch natürliche Personen in ihrer Höhe pro Jahr be-grenzt werden.
Kollege Gysi, Sie
haben Ihre Redezeit sehr deutlich überschritten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die strafrechtliche Verant-
wortlichkeit müsste klar geregelt werden. Dann hätten
wir Konsequenzen gezeigt. Die Demokratie muss dazu
in der Lage sein. Das ist ihre Stärke gegenüber Diktatu-
ren: Sie kann aufklären und sie kann Schlussfolgerungen
ziehen. Beweisen wir jetzt diese Stärke!
Ich erteile das Wort
zu einer Kurzintervention der Kollegin Lengsfeld,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Es ist schon erstaunlich, wie der
Vorsitzende der PDS-Fraktion seine hehren politischen
Maßstäbe in diesem Haus ausbreitet und andere Parteien
auffordert, sich nach diesen politischen Maßstäben zu
verhalten.
Ich erinnere daran, dass in der letzten Legislaturperi-
ode, als wir in einem Untersuchungsausschuss nach den
mutmaßlichen 26 Milliarden DM verschobenen SED-
Geldern recherchiert haben, derselbe Vorsitzende der
PDS-Fraktion dem Untersuchungsausschuss sein Wissen
nicht zur Verfügung gestellt hat
und dass es sich bei der PDS um eine Partei handelt, de-
ren eigener Vorsitzender bei dubiosesten GmbH-
Gründungen aus diesen alten SED-Geldern selbst mit
14,6 Millionen DM profitiert hat.
Ich hätte Herrn Gysi gefragt, wie er diese hehren An-
forderungen, die er hier ausbreitet, mit dem eigenen
Verhalten, dem Verhalten seines Parteivorsitzenden und
dem Verhalten vieler Parteimitglieder der PDS in Über-
einstimmung bringen kann. Ich hätte gefragt, ob er es
nicht für angebracht hält, die Maßstäbe, die er hier an
die CDU – berechtigterweise – anlegt, auch in seiner ei-
genen Partei durchzusetzen und mit der gleichen Verve,
die er hier entwickelt hat, die Aufklärung in der PDS vo-
ranzutreiben, was die verschwundenen 26 Milliarden
DM der SED betrifft.
Kollege Gysi, Sie
haben die Gelegenheit zu einer kurzen Antwort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Lengsfeld, ich stelle
zunächst fest, dass die Interpretation meiner Rede durch
Sie dafür spricht, dass Sie sie nicht verstanden haben;
sonst hätten Sie sich den politischen Inhalt erschlossen.
Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass gleiche
Anforderungen an alle gestellt werden. Ich muss nur Ih-
re Behauptung zurückweisen, dass Herr Bisky – Sie ha-
ben den Vorsitzenden der PDS angesprochen – 14 Mil-
lionen DM für sich – Sie haben gesagt: „zum eigenen
Vorteil“ – verwendet hätte.
– Nein, sie meinte Herrn Bisky, als Sie von der Medien
GmbH sprach. Diesen Vorgang kenne ich. Das stimmt
doch? – Ja, offenbar.
Es ist alles aufgeklärt worden. Das Geld ist zur Treu-
handanstalt geflossen. Bisky selbst hat davon nie eine
Mark für sich in Anspruch genommen. Er hat das Geld
treuhänderisch verwaltet. Das war auch rechtlich sauber.
Dennoch war dies auch in einer Umbruchzeit nicht ge-
rechtfertigt. Wir haben alles aufgelöst. Das wissen Sie.
Das ist vor Jahren alles geklärt worden. Wenn die jetzi-
ge Affäre genauso gut geklärt werden würde, wäre ich
sehr zufrieden. Sie dürfen nur nicht eine Umbruchzeit –
mit völlig fremden Situationen –
mit einer langwierigen Entwicklung in einer so genann-
ten Heimatgesellschaft verwechseln, die dadurch ge-
prägt ist, dass man an der Regierung ist und die Macht
innehat.
Lassen Sie mich noch eines sagen: Der damalige
Hauptstreitpunkt war die Forderung: Wer das Altvermö-
gen übernimmt, muss auch die Altverpflichtungen über-
nehmen. Darauf haben wir uns durch Verzicht und einen
entsprechenden Vergleich mit der Treuhandanstalt ver-
ständigt. Dies alles können Sie nicht leugnen. Deshalb
sind die Vergleiche völlig unangebracht und unzulässig.
Sie können im Rahmen Ihrer Kurzintervention auch
nicht aus 26 Millionen DM plötzlich 26 Milliarden DM
machen. Das sind gewaltige Unterschiede. Sie wissen
auch, dass diesbezüglich Ermittlungen laufen, aber nicht
gegen Mitglieder der PDS, sondern gegen andere. Sie
werden noch Überraschungen erleben, wo welche Milli-
onen verblieben sind.
Nun erteile ich dasWort dem Kollegen Ludwig Stiegler, SPD-Fraktion.Dr. Gregor Gysi
Metadaten/Kopzeile:
7436 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Wenn man die Rede des Kollegen
Schäuble gehört hat, hat man am Ende den Eindruck
gewonnen, alle müssten Mitleid mit ihm haben, weil er
die traurige Vergangenheit der CDU aufarbeiten muss.
Er hat eine Indemnitätsdebatte begonnen, indem er ver-
sucht hat, die ganze Sache herunterzuspielen. Am Ende
werden wir es sein, die sich entschuldigen müssen. Er
hat sich natürlich gesagt – typisch Schäuble –: Angriff
ist die beste Verteidigung!
Ich halte es wirklich für eine Sauerei, eine Kampagne
für Arbeit und soziale Gerechtigkeit als Wahlkampfhilfe
für die heutigen Regierungsparteien darzustellen.
Sollen wir denn jede Demonstration des Bauernverban-
des, des Beamtenbundes sowie die Broschüren des Insti-
tuts für Wirtschaft und der Arbeitgeber auch noch Ihrem
Konto anrechnen? Wenn wir das tun, dann kommen Sie
überhaupt nicht mehr auf die Beine.
Es ist unglaublich, wenn Sie behaupten, dass die Arbeit
der Verbände auf die Weise genutzt wird, nur um den
Balken vor Ihrem Auge mit vermeintlichen Splittern be-
züglich anderer Sachverhalte zuzudecken. Das wird Ih-
nen trotz aller Rabulistik nicht gelingen.
Wir werden uns im Zusammenhang mit der jetzigen
Debatte auch noch über etwas anderes unterhalten müs-
sen. Herr Schäuble hat sich für die Missetaten der Union
entschuldigt. Das ist in Ordnung. Aber damit ist die Sa-
che noch nicht erledigt. Sie haben nicht angesprochen,
welche Bedeutung das Verhalten der Union für ihr Ver-
hältnis zu ihren Mitwettbewerbern hat. Art. 21 des
Grundgesetzes soll durch die Forderung nach Offenle-
gung der Mittel der Parteien ein faires politisches Ver-
fahren und Wettbewerbsgleichheit zwischen den politi-
schen Gegnern gewährleisten. Aber Sie haben seit
Gründung der „Staatsbürgerlichen Vereinigung" im Jahr
1954 in Wahrheit einen verdeckten Kampf gegen Ihre
politischen Gegner geführt.
Sie haben illegale und unlautere Mittel eingesetzt. Sie
haben uns und andere wie Feinde behandelt, die man mit
verdeckten Mitteln bekämpfen muss. Dies müssen Sie in
Ordnung bringen. Sie müssen sich endlich in den demo-
kratischen Prozess der Freien und Gleichen in der Bun-
desrepublik Deutschland einfügen. Dies muss die Union
lernen.
Es ist bitter für uns. Viele Kolleginnen und Kollegen
fühlen sich persönlich angegriffen. Führen wir uns Fol-
gendes vor Augen: Im Haushalt, den die CDU bei der
Bundestagswahl 1990 hatte, ist die Herkunft von 30 Mil-
lionen DM noch immer ungeklärt. Wir wissen, wie die
Wahl ausgegangen ist. Die Wahl von 1994, die auch
durch Schwarzgelder beeinflusst war, ist ganz knapp
ausgegangen. Wer soll noch an Legitimität glauben,
wenn Sie wie weiland Bismarck und andere mit unlaute-
ren finanziellen Mitteln arbeiten? Dies muss ein Ende
haben.
Herr Schäuble, deshalb ist auch eine politische Ent-
schuldigung bei Ihren Wettbewerbern, bei allen anderen
Kolleginnen und Kollegen angemessen; denn Sie woll-
ten unser Recht auf politische Mitbestimmung jederzeit
durch Einsatz des Geldes, das Sie aus schwarzen Quel-
len bekommen haben, verhindern. Das ist das eigentli-
che staatspolitische Thema, mit dem wir uns auseinan-
der zu setzen haben.
Die Macht, die in Hessen errungen worden ist, ist il-
legitim. Herr Gerhardt, Sie sind Teilhaber einer illegiti-
men Macht.
Sie sind ein Abstauber und das wird Ihnen die Öffent-
lichkeit nicht durchgehen lassen. Die F.D.P. kann nicht
immer sozusagen wie ein Parasit von dem Schaden der
anderen leben; vielmehr müssen Sie sich Ihrer Verant-
wortung stellen.
Wenn Sie in Hessen eine illegitim erworbene Macht
weiterhin stützten, dann verstoßen Sie gegen den Geist
des Grundgesetzes. Das werden wir Ihnen nicht durch-
gehen lassen.
Kollege Stiegler,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppe-
lin?
Wenn Sie meinen.
Herr Kollege, das gibt
Ihnen ja auch die Chance, sich wieder etwas zu beruhi-
gen.
Sie erinnern sich sicherlich an die Pfeiffer-Affäre in
Schleswig-Holstein. Später hat sich herausgestellt, dass
Ihr damaliger Kandidat Engholm – später war er auch
Bundesvorsitzender – gelogen hat. Es war so, dass die
F.D.P. nach der Wahl knapp aus dem Landtag fiel, weil
die SPD die Wahrheit verschwiegen hatte.
Das ist Ihre Parteilegende.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7437
Haben Sie eigentlich
damals Neuwahlen gefordert, als sich herausstellte, dass
Herr Engholm gelogen hatte und die F.D.P. aus dem
Landtag gefallen war?
Herr Koppelin, Sie wollen
Ihre eigene Legende stricken.
Ich stelle nur fest: Sie haben einen Partner, der durch
Schwarzgeld an die Macht gekommen ist. Sie haben
Teilhabe an dieser Macht. Sie wollen davon nicht lassen.
Sie verstoßen gegen den Geist und gegen den Buchsta-
ben der demokratischen Ordnung dieses Landes.
– Verstiegen haben sich ganz andere. Wenn ich mir vor-
stelle, dass die Herren Kohl und Kanther hier ihre heili-
gen Eide geschworen haben, dass sie „So wahr mir Gott
helfe.“, gesagt haben, dass sie andere, die ohne diesen
Zusatz geschworen haben, verleumdet haben,
wenn ich mir vorstelle, dass Sie hier am Feiertag heilige
Eide geschworen haben und dass Sie im Alltag der Teu-
fel geritten hat, dann kann ich nur sagen: Damit müssen
wir uns auseinander setzen. Der Eid eines Kanzlers oder
eines Bundesministers ist nicht von ungefähr. Herr
Schäuble, Herr Kohl soll sagen: Ich würde mich selber
der Bestechlichkeit beschuldigen, also schweige ich.
Herr Kohl soll sich aber nicht hinter einem Ehrenwort
bei gleichzeitigem Bruch der Verfassung verstecken.
Holen Sie ihn heraus! Sie waren doch sein engster
Kompagnon und Sie haben doch in dem ganzen System
mitgemacht.
Der ganze CDU-Vorstand, diese Heldenvereinigung,
besteht einerseits aus denjenigen, die Proskynese geübt
haben nach dem Motto: „Hier liegt vor deiner Majestät
im Staub die Christenschar.“, während der andere Teil
der Union gesagt hat: Ich weiß zwar, was läuft, aber ich
will es nicht so genau wissen, weil mir das Ergebnis ge-
rade recht ist. Das ist die eigentliche Ursache. Da kann
ich auch Herrn Geißler nicht sonderlich loben; denn er
ist zu der Zeit, als er noch an der Macht war, nicht vor-
getreten; vielmehr hat er nachgetreten in der Zeit, als er
nicht mehr an der Macht war.
Ein Vorbild für Mannhaftigkeit ist er wahrhaftig nicht.
Herr Schäuble, wenn hier von Aufklärung die Rede
ist, dann denken Sie mit Blick auf die Zukunft auch an
den Philosophen der Aufklärung Immanuel Kant und
sagen Sie Ihren Vorständen: Sapere aude – sie sollen
selber wagen, gescheit zu sein. Sie sollen damit aufhö-
ren, gegen den demokratischen Geist des Grundgesetzes
zu verstoßen, indem sie byzantinische Verhältnisse in
der Union aufrechterhalten. Sie haben über Jahre hinweg
das System Kohl möglich gemacht. Das ist die ganze
Geschichte. Sie kommen aus Ihrer Verantwortung nicht
heraus, das heißt, Sie haben zu arbeiten und nicht auf
Mitleid zu pochen.
Kehren Sie zurück zur verfassungsmäßigen Ordnung,
zum fairen Umgang mit Ihren politischen Wettbewer-
bern
und zu sauberen Verhältnissen! Das ist Ihr Auftrag.
Kollege Stiegler, ich
möchte noch eine Bitte äußern: Wir sollten auch im Ei-
fer des Gefechts belastete Ausdrücke nicht verwenden.
„Parasit“ ist in Deutschland ein sehr belasteter Aus-
druck.
Ich schließe die Aussprache und rufe den Tagesord-
nungspunkt 3 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zu dem
Abschlussbericht der Enquete-Kommission
„Schutz des Menschen und der Umwelt – Ziele
und Rahmenbedingungen einer nachhaltig zu-
kunftsverträglichen Entwicklung“
Konzept Nachhaltigkeit
Vom Leitbild zur Umsetzung
– Drucksachen 13/11200, 14/1470 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Marion Caspers-Merk
Bernward Müller
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Eva-Maria Bulling-Schröter
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Marion Caspers-Merk. Ich bitte, Platz zu neh-
men, damit die Rednerin mit ihren Ausführungen begin-
nen kann.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Nach dieser sehr tagespoliti-
Metadaten/Kopzeile:
7438 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
schen Debatte fällt es schwer, zu politischen Themen zu-rückzukehren, die sich mit langfristigen Fragen befas-sen. Ich glaube aber, dass es notwendig ist, heute in ei-ner großen Debatte über das Thema Nachhaltigkeit undZukunftsfähigkeit zu diskutieren, weil sonst der Ein-druck entstehen könnte, die Parteien kümmerten sich nurnoch um ihr Geld und nicht mehr um die Zukunft unse-rer Kinder. Diesem Eindruck wollen wir mit dieser De-batte entgegentreten.
Wir haben bei dieser Debatte einige Dinge miteinan-der zu bereden. Es geht darum, wie es weitergehen soll,wie wir gemeinsam ein Konzept für nachhaltige Ent-wicklung erarbeiten können und wie die Ergebnisse derparlamentarischen Enquete-Kommission der letzten Le-gislaturperiode in diese Arbeiten integriert werden kön-nen. Enquete-Kommissionen sind in aller Regel rundeTische im Parlament, die ein großes Maß an Fleißarbeitin Form von Berichten abliefern. Hierbei gibt es zweiMöglichkeiten, wie man mit diesen umgeht. Die eineMöglichkeit ist, dass sie wohl geordnet auf Bücherbor-den stehen und Staub ansetzen. Die andere Möglichkeitist, diese Empfehlungen ernst zu nehmen und in politi-sches Handeln umzusetzen. Die neue Bundesregierung und die sie tragendenKoalitionsfraktionen haben sich für die zweite Möglich-keit entschieden. Wir wollen, dass die Empfehlungender Enquete-Kommission umgesetzt werden. Im feder-führenden Ausschuss haben wir dazu einen Entschlie-ßungsantrag vorgelegt. Wir wollen, dass drei Dinge inder Bundesrepublik Deutschland in Angriff genommenwerden. Erstens wollen wir, dass in einem breiten Dialogpro-zess eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie erarbeitetwird. Zweitens wollen wir Nachhaltigkeit in sämtlichenRegierungsbereichen verankert wissen. Drittens wollenwir sicherstellen, dass die guten Vorarbeiten, die zumBeispiel in den Kommunen und den Ländern der Bun-desrepublik Deutschland bei der Aufstellung der lokalenAgenden geleistet wurden, aufgegriffen werden, sodassein Prozess der nachhaltigen Entwicklung entsteht.Wir haben dafür schon ein gutes Stück an Vorarbeitgeleistet. Zum einen ist es gelungen, im Umweltaus-schuss einen parteiübergreifenden Konsens darüber her-zustellen, dass diese Nachhaltigkeitsstrategie erarbeitetund ein „Rat für nachhaltige Entwicklung“ gegründetwird. Außerdem haben wir die Bundesregierung aufge-fordert, entsprechende Schritte einzuleiten und dies um-zusetzen. Erste Ergebnisse können auch schon vorge-wiesen werden. So hat beispielsweise innerhalb derBundesregierung schon eine Staatssekretärsrunde getagt,die ein Stück weit unsere Forderung übernimmt, in Formeines „greencabinet“ dafür zu sorgen, dass Nachhaltig-keit kein isoliertes Umweltthema bleibt, sondern konkretin alle Fachbereiche integriert wird.Ich bin sehr froh, dass gerade bei einem zentralenThema dieses Enqueteberichts, nämlich dem ThemaFlächenverbrauch, schon erste praktische Umsetzungs-schritte vorhanden sind. Das neue Konzept der Bundes-regierung zur Wohnungsbauförderung weist bereits eineÄnderung der politischen Perspektive auf: Die neueBundesregierung versucht das umzusetzen, was die En-quete-Kommission erarbeitet hat, und will von der ein-seitigen Förderung des Neubaus weg – und zur Förde-rung im Bestand hinkommen. Auch das neu vorgelegteMietrecht orientiert sich ein Stück weit an Nachhaltig-keit. Es setzt einen Teil der von uns entwickelten Ideenum, die besagen, dass man im Mietwohnungsbau dafürsorgen muss, dass Verlässlichkeit und Kontinuität fürdie Mieter herrschen und zugleich ein Impuls für ökolo-gisches und flächensparendes Bauen gegeben wird.
Noch immer werden in der Bundesrepublik Deutsch-land täglich 120 Hektar Fläche verbraucht. Als Leitbildwollen wir die Stadt der kurzen Wege. Erforderlich isteine Reduktion des Flächenverbrauchs. Dort müssenzentrale Aspekte einer nationalen Nachhaltigkeitsstrate-gie ansetzen. In diesem Zusammenhang muss auch derKlimaschutz nach vorne gebracht werden, wobei zu be-achten ist, dass die industriell hervorgerufenen CO2-Belastungen sinken, während die durch Mobilität,Raumheizung und Stromverbrauch hervorgerufenen Be-lastungen steigen. Wollen wir also das Klimaschutzzielerreichen, müssen wir eine andere Form von Mobilität –auch dazu brauchen wir die Bürgerinnen und Bürger –sowie die Stadt der kurzen Wege und flächensparendesBauen erreichen. Der neue „Rat der Zukunft“ – ich wür-de ihn lieber so als „Rat für nachhaltige Entwicklung“nennen – muss sich um diese zentralen Fragen küm-mern.
Darüber hinaus haben wir weitere Teile des Enquete-berichts umgesetzt. Sie sind Teil der Koalitionsvereinba-rung geworden. Noch nie ist es gelungen, Forderungenso zeitnah umzusetzen. Die Vorgänger-Enquete-Kommission zum Thema „Schutz der Erdatmosphäre“ –viele Kolleginnen und Kollegen, die hier im Raum sit-zen, haben sich um diese Kommission verdient ge-macht – hat das Klimaschutzziel erarbeitet. Aber wielange hat es gedauert, bis es verlässlich in politischesHandeln umgesetzt wurde? Wie lange hat es gedauert,bis es überhaupt die Chance gab, eine strittige zentraleForderung, nämlich den Ausstieg aus der Atomenergie,anzugehen? Auch hier sind wir mit dem Regierungs-wechsel ein gutes Stück weitergekommen. Unsere An-liegen müssen der Ausstieg aus der Atomenergie und dieErreichung des Klimaschutzzieles sein. Letzteres ist nurim Dialog mit den Ländern und Kommunen zu errei-chen.
Die Bundesregierung hat mit dem Bündnis für Ar-beit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit einenneuen institutionellen Rahmen geschaffen, bei demMaßnahmen verabredet, aber auch Strategien zur Be-kämpfung der Arbeitslosigkeit im Konsens mit wichti-gen gesellschaftlichen Gruppen erarbeitet werden. Marion Caspers-Merk
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7439
Das Bündnis ist langfristig angelegt und verfolgt mit ei-ner straffen Tagesordnung und mit Arbeitsgruppen ganzkonkrete Projekte. Genau das Gleiche muss für den Zu-kunftsrat gelten. Er muss auf der einen Seite die Nach-haltigkeitsstrategie beraten, auf der anderen Seite aberauch konkret durchführbare Projekte vorschlagen, damitam Ende des Prozesses nicht ein neues Buch steht, son-dern die Tatsache, dass wir uns in Deutschland in Rich-tung Nachhaltigkeit bewegt haben.Gerade wenn das Thema Wettbewerbsfähigkeit mitall seinen Facetten Gegenstand von Verhandlungen im„Bündnis für Arbeit“ wird, benötigt die BundesrepublikDeutschland einen längerfristigen Orientierungsrahmen.Hier muss Nachhaltigkeit als ganzheitliches, ressort-übergreifendes Leitbild zum Tragen kommen. DieserOrientierungsrahmen ist nötig, weil die Wettbewerbsfä-higkeit, die wir erlangen wollen, auch zukunftsfähig seinmuss.Beide Facetten gehören zusammen. Der Dialog, wie wirDeutschland im 21. Jahrhundert nach vorne bringen, hatalso eigentlich zwei Standbeine.Ein chinesisches Sprichwort sagt: „Nur wer auf demBerg steht, kann ins Tal sehen.“ Es ist also wichtig, dassdieser Rat Visionen entwickelt. Es ist aber auch wichtig,dass diese Visionen umsetzbar sind. Deswegen ist eineparlamentarische Begleitung notwendig. Parallel dazumüssen in dem gebildeten Ausschuss, im „green cabi-net“, einzelne Maßnahmen angegangen werden. Hier, soglaube ich, sind wir auf einem guten Weg.Ich möchte mich nochmals bei allen Kolleginnen undKollegen für die damalige Arbeit in der Enquete-Kommission bedanken. Ich möchte mich auch bei denKolleginnen und Kollegen des Umweltausschusses dafürbedanken, dass es gelungen ist, ein Zeichen für einenKonsens in Richtung Zukunftsfähigkeit zu setzen. Dennwir haben die Welt nicht geerbt, sondern nur von unse-ren Kindern geliehen. Es muss gelingen, eine Politikän-derung herbeizuführen, sodass bei uns Zukunftsfähigkeitzum neuen Leitbild der Bundesrepublik Deutschlandwird.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Christa Reichard, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Prä-sident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!Weltweit offizieller Beginn der Bemühungen um einewirklich nachhaltige Entwicklung, eingebracht in allePolitikbereiche, war die Konferenz der Vereinten Natio-nen in Rio im Jahre 1992. Über 170 Staaten haben sichdamals an dieser Zusammenkunft beteiligt. Das dabeiverabschiedete Aktionsprogramm für das 21. Jahrhun-dert wurde unter dem leider immer noch erklärungsbe-dürftigen Titel „Agenda 21“ bekannt. Sieben Jahre sindseit dieser Konferenz für Umwelt und Entwicklung ver-gangen. Eine Frage drängt sich manchmal angesichts ak-tueller weltweiter Umweltbilanzen auf: Müssen wir vonsieben verschenkten Jahren sprechen? Der Abschlussbericht der Enquete-Kommission„Schutz des Menschen und der Umwelt“, den wir hierund heute abschließend beraten, wurde bereits zum Endeder 13. Legislaturperiode vorgelegt. Dieser Bericht stellteinen der nationalen Beiträge Deutschlands im weltwei-ten Agenda-Prozess dar. Die Bundesrepublik und die al-te Bundesregierung haben zahlreiche weitere Beiträgegeleistet, auf die ich bereits in meiner Rede in der ver-gangenen Debatte zum Bericht hingewiesen habe. EineWürdigung des Berichts der Enquete-Kommission standim Mittelpunkt meines ersten Debattenbeitrags.Heute möchte ich stärker die Frage nach der Umset-zung der Empfehlungen in den Mittelpunkt meiner Ü-berlegungen stellen, wie das vor mir meine KolleginCaspers-Merk schon versucht hat. Meine Sichtweise istetwas anders. Mehr als ein Jahr ist seit der Vorlage desBerichts vergangen. Dieses wie auch in zahlreichen an-deren Bereichen verlorene Jahr zeigt uns wieder, wel-chen Stellenwert die rot-grüne Bundesregierung einernachhaltigen Entwicklung wirklich beimisst. Wo sinddie Forderungen geblieben, die Vertreter von SPD undGrünen zu zahlreichen Minderheitenvoten veranlassten?Werden sie mittlerweile als Makulatur betrachtet?Besonders die Grünen halten sich bemerkenswert zu-rück. Der Berliner Politologe Arnulf Baring äußertekürzlich in einer Diskussion die Vermutung, dass derBundeskanzler statt der Stilllegung eines Atomkraft-werks auch den Bau von fünf neuen genehmigen könnte;seinen Koalitionspartner würde er dennoch nicht los.
Die im vergangenen Jahr von BundesumweltministerTrittin zu Fall gebrachte Altautorücknahmeverordnungist ein beredtes Beispiel für die Missachtung der Grund-sätze der Nachhaltigkeit durch diese Bundesregierung.„Konzept Nachhaltigkeit – Vom Leitbild zur Umset-zung“, so lautet der Titel des Abschlussberichts. Dabeisind wir uns weitgehend einig gewesen.Was glauben Sie, welche der im Kommissionsberichtenthaltenen Empfehlungen an die Bundesregierung mitt-lerweile wirklich umgesetzt wurden? Ich habe den Ein-druck, Frau Caspers-Merk, dass Sie Ihre Wünsche schonfür die Umsetzung halten.
Wo bleibt der „Rat für nachhaltige Entwicklung“? ÜberAnkündigungen sind Sie bisher nicht hinausgekommen.
Und welche Gremien sind stattdessen abgeschafft wor-den? Die Enquete-Kommission fordert die Straffung desbestehenden Institutionengeflechtes, verbunden mit neu-en Aufgabenstellungen.Marion Caspers-Merk
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7440 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Bei einer Bestandsaufnahme bereits 1984 fanden sichschon 528 Beratungs- und Kommissionsgremien derBundesregierung mit über 7000 Mitgliedern. Seithersind es eine Reihe mehr geworden, und die Anzahl derBerichte ist unüberschaubar. Wo bleibt die gefordertenationale Nachhaltigkeitsstrategie, die Umwelt, Wirt-schaft und Soziales integriert? – Fehlanzeige. Wo bleiben die konkreten Änderungendes Mietrechts, die nicht nur Mieter, sondern auch Ver-mieter an den Einsparungen nach Sanierungsmaßnah-men beteiligen? – Fehlanzeige!
Welche Forderungen aus dem Abschnitt „Bauen undWohnen“ haben im vergangenen Jahr wirklich Eingangin die Politik der Bundesregierung gefunden? – Fehlan-zeige! Meine Damen und Herren von SPD und Grünen, fra-gen Sie doch einmal die Regierung, was aus der gefor-derten Anpassung des bestehenden wohnungspolitischenInstrumentariums und der Städtebauförderung gewordenist. Meinen Sie etwa, dass eine Reduzierung der Mittelfür den Städtebau gerade in den neuen Ländern dazubeiträgt, städtische Strukturen gegen das zunehmendeWachstum in die Fläche zu stärken? Was ist im unter-suchten Beispielfeld der Versauerung von Böden ge-schehen?Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, Sie ah-nen die Antwort. In rot-grünen-Minderheitsvoten warein Nachhaltigkeitstest für Instrumente gegen Bodenver-sauerung gefordert worden. Wo bleiben die weiterendringend erforderlichen Maßnahmen zur geplanten CO2-Reduktion, die auch einen Beitrag gegen eine weitereBodenversauerung bringen würden? Stattdessen werdenKräfte investiert, um die klimafreundliche Atomenergiedurch klimabelastende oder landschaftszerstörende Energieerzeugungsarten zu ersetzen.
Wo bleiben die Maßnahmen mit dem Ziel der Verringe-rung der Umwandlungsrate von unbebauten Flächen inSiedlungs- und Verkehrsflächen auf zehn Prozent derRate für die Jahre 1993 bis 1995? Wo bleibt der langdiskutierte Gebäudepass, wo die geforderte Änderungder Honorarordnung für Architekten? – Fehlanzeige,Fehlanzeige, Fehlanzeige!
Besonders bedenklich stimmt mich, dass die Not-wendigkeit der weltweiten Zusammenarbeit auf demGebiet der Nachhaltigkeit von dieser Bundesregierungoffensichtlich nicht ausreichend erkannt wird. Im Zugeeiner an dieser Stelle falschen Sparsamkeit werden dieBeiträge Deutschlands zu internationalen Organisatio-nen ebenso gekürzt wie die Entwicklungshilfe. In einerReihe von Entwicklungsländern werden sogar Botschaf-ten geschlossen. Gerade hier verschenken wir weit rei-chende Chancen, globale Politik im Sinne der Nachhal-tigkeit voranzutreiben. Was geschieht innenpolitisch? Die so genannte öko-logische Steuerreform der rot-grünen Koalition hat mitökologischen Zielen ja nichts zu tun, meine Damen undHerren! Herausgekommen ist eine Rentenstabilisie-rungssteuer unter einem Öko-Mäntelchen.
Die Enquete-Komission hat in ihrem Bericht an vie-len Stellen darauf hinweisen müssen – da war sie ehrlich–, dass die vorgeschlagenen Instrumente noch nicht be-wertet werden konnten,
dass Daten fehlen und damit die Zielstellung des Einset-zungsbeschlusses der Kommission nur teilweise erreichtwerden konnte. Deshalb darf der Bericht aber noch lan-ge nicht zu den Akten gelegt werden!Meine Damen und Herren, ich denke, es würde sichlohnen, einige der begonnenen Untersuchungen weiter-zuführen, wie dies damals auch als Minderheitsvotum andie Bundesregierung immer wieder gefordert wurde.Nehmen Sie sich selbst beim Wort, meine Kolleginnenund Kollegen der Koalitionsfraktionen! Fordern Sie mituns gemeinsam von der Bundesregierung ein, dass nichtnur in Worthülsen und mit wolkigen Ankündigungengesprochen wird, sondern in der politischen PraxisNachhaltigkeit wirklich zur Chefsache wird! Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Mit dem Begriff „Nachhaltigkeit“ ist das so eineSache. Während er im politischen Raum denen, die da-mit zu tun haben, ein Überdrussbegriff ist, weil er oft imÜberdruss und im Übermaß verwendet wird, ist er in derGesellschaft ein Begriff, mit dem viele gar nichts anfan-gen können. Ich finde auch, dass die Bedeutung, die impolitischen Raum dem Entwicklungskonzept oft zuge-schrieben wird, im krassen Verhältnis zu dem steht, wastatsächlich geschieht. Die Aufmerksamkeit – das konn-ten wir heute Morgen wieder sehen – ist immer am Ak-tuellen, am Spektakulären orientiert, selten am Langfris-tigen und Nachhaltigen.Was heißt „nachhaltig“? Ich will dies zu Beginn meiner Rede deutlich machen, weil man immer wiederdanach gefragt wird, wenn man sich in die Debatte ein-mischt. Bei den 150 oder 180 Definitionen, die es gibt –mögliche oder unmögliche –, ist die, die ganz am Anfang stand und bereits 1987 im Bericht der Brundtland-Kommission erwähnt wurde, zutreffend.Diese lautet: Nachhaltig ist eine Entwicklung dann,wenn es der jetzigen Generation gelingt, ihre Bedürfnis-se in jeder Hinsicht sozial, kulturell, wirtschaftlich so zuChrista Reichard
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7441
befriedigen, dass künftige Generationen nicht in ihrenZukunftschancen gemindert sind.Dies ist eine sehr einfache Definition. Man könnteauch sagen, das ist das Prinzip der Generationenverant-wortung, der Wahrnehmung der Verantwortung gegen-über künftigen Generationen. Insofern ist das ein zutiefstethisches Prinzip, aber es ist noch lange keine Politik. Esist nur ein normativer Orientierungsrahmen, an dem mansich entlanghangelt. In der Gesellschaft ist die Debatte noch nicht weitfortgeschritten. Viele, auch junge Leute, fragen sich:„Was heißt es? Was meint ihr damit?“ Einige meinerKollegen sagen immer wieder: „Lass dir endlich einbesseres Wort einfallen!“ Wenn du kein besseres Wortfür Nachhaltigkeit hast, wird es dir nie gelingen, Men-schen dafür zu interessieren und zu begeistern.“ Ich sageIhnen: „Ich glaube nicht, dass es an dem Wort liegt.“Das Wort ist zugegebenermaßen sperrig, es ist außerdemmehrdeutig, es gibt nachhaltige Spendenskandale, nach-haltige Wirkungen auf die Demokratie, aber das bedeu-tet etwas anderes. Es ist aber auch ein Wort, das zur Er-klärung herausfordert. Wenn Menchen das nicht verste-hen, ist es kein Sprachproblem, sondern es ist auch einProblem der Gesellschaft, dass die Entwicklung in derPraxis so wenig nachhaltig ist, dass man Nachhaltigkeitgewissermassen nicht alltäglich lernen und erfahrenkann. Nachhaltigkeit ist also kein Begriffsproblem, sondernes ist unsere Schwierigkeit, sie zu realisieren und umzu-setzen. Es war eine Grundeinsicht der Enquete-Kommission, zu sagen, dass wir endlich eine Strategie,einen Weg, wohin wir wollen, Formen, Maßnahmen undSchritte festlegen müssen. Damit bin ich bei einem zentralen Element des An-trages des Umweltausschusses. Wir haben gesagt, es ge-nügt nicht länger, wenn wir eine nachhaltige Entwick-lung wollen, da und dort eine Maßnahme durchzuführen.Wir brauchen ein Gesamtkonzept, so wie es in Rio alleStaaten versprochen haben, wie es übrigens zahlreicheeuropäische Länder bereits erarbeitet haben, schöneBroschüren erstellt haben, die in die Gesellschaft hin-eingewirkt haben. Das wollen wir in der Bundesrepublikgemeinsam erarbeiten.Was verstehen wir unter einer Strategie? Wir müssenlangfristige Ziele formulieren, was in 10, 20, 30 Jahrensein soll, was wir erreichen wollen, welchen Qualitäts-standard wir im Sozialen, Ökologischen, Wirtschaftli-chen haben wollen. Wir brauchen dann aber auch Maß-nahmen, Schritte, die dazwischenliegen, gewissermaßendie Beschreibung des Weges und der Geschwindigkeit,wie wir zu unseren Visionen kommen, damit diese nichtUtopie bleiben, sondern realisiert werden. Dazu müssenwir relevante Handlungsfelder erarbeiten, das heißt klä-ren, was uns wichtig ist, wo wir vor allen Dingen anset-zen müssen, damit wir zu einer nachhaltigen Entwick-lung kommen. Sicherlich wird man nicht überall gleichzeitig arbei-ten, aber ich will doch deutlich machen, dass es ein gan-zes Spektrum, einen ganzen Themenkreis von notwen-digen Aufgaben gibt, die wir im Rahmen einer solchenNachhaltigkeitsstrategie erarbeiten müssen. Nehmen wirden Bereich Wirtschaft und Konsum. Wir müssen dieFrage beantworten, wie wir Produktionsweisen und Pro-dukte zukünftig so entwickeln, dass wir unsere Bedürf-nisse befriedigen können, aber auf Dauer diesem Plane-ten nicht schaden, auch dann nicht, wenn alle anderensie übernehmen, sei es das Autofahren, sei es bei ande-ren Konsummitteln, die wir gerade im Norden im Über-fluss haben.Wir müssen also auch über Lebensstile, Lebensformenund Konsumstile nachdenken. Wir müssen zweifellos den Bereich der Landwirt-schaft angehen. Wir können nicht auf Dauer ein Systemerhalten, das nur funktioniert, weil wir zum BeispielFlächen in einem ganz anderen Kontinent benutzen, umunsere eigenen Bedürfnisse bei der Nahrungsmittelver-sorgung überhaupt befriedigen zu können. Wir könnenuns nicht auf Dauer so ernähren, dass es zu Lasten ande-rer geht oder ungesund ist. Wir können auch im Bereich des Bauens und Woh-nens nicht auf Dauer so weitermachen. Dort muss mandie Frage beantworten: Wie können wir, und zwar in derbreiten Gesellschaft und nicht nur bei wenigen Elite-gruppen, ein Wohnungs- und Siedlungsbedürfnis, einLebensbedürfnis befriedigen, ohne permanent immerweitere Flächen zu verbrauchen und damit Natur undLandschaft zu zerstören?Wir müssen im Bereich der Energie und des Klima-schutzes neue Wege einschlagen. Deswegen haben wirauch beschlossen, eine Klimaschutzstrategie zu erarbei-ten. Ich glaube, gerade wer in Süddeutschland wohntoder auch beobachtet hat, was in Frankreich in den letz-ten Tagen des alten Jahrhunderts geschehen ist, hat deut-liche Zeichen sehen können, dass es höchste Zeit zurUmkehr, höchste Zeit für eine nachhaltige Entwicklungist.Ich glaube, wir müssen auch weit mehr im BereichBildung tun und aufklärend in die Gesellschaft hinein-wirken. Ich würde mir wünschen, dass die Nachhaltig-keitsdebatte eine Gesellschaftsdebatte wird und dass amEnde dieses Prozesses oder in einigen Jahren tatsächlichjeder und jede in der Gesellschaft, jedes Kind sagenkann: „Ich weiß, was nachhaltig ist, und ich weiß, dassdies und jenes nicht nachhaltig ist. So können und dür-fen wir nicht weiterleben.“ Das müssen wir schaffen.Wenn uns das nicht gelingt, ist diese Debatte eine aka-demische geblieben und hat politisch und gesellschaft-lich nichts verändert.
Ich will an zwei Themenfeldern ausführen, wie einesolche Strategie aussehen muss. Beispiel eins: Mobili-tät. Ich stelle mir vor, dass wir uns im Rahmen dieserStrategie, vielleicht unter dem Motto „Deutschland be-wegt sich umweltverträglich und natürlich“, überlegen,in welchen Bereichen wir einerseits Beweglichkeit er-halten und Mobilität sichern können – das ist ein wichti-ges Anliegen dieser Gesellschaft, auch ökonomisch ge-Winfried Hermann
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7442 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
sehen wichtig –, aber das nicht zu Lasten der Natur zutun, auch nicht zu Lasten zukünftiger Generationen.Dies könnte zum Beispiel bedeuten, dass man sagt:Wir wollen in fünf oder zehn Jahren den Anteil desFußgängerverkehrs, des Radverkehrs in den Städten et-wa verdoppeln. Das wäre ein großer Schritt nach vorneund würde klar machen, dass wir bereit und in der Lagesind, dort, wo wir es können, auch auf das Autofahrenzu verzichten, weil wir wissen, dass das eine mehr zuLasten künftiger Generationen geht als das andere.Wir müssen neue Konzepte der Mobilität entwickeln,auch zwischen öffentlichen und privaten Verkehrsmit-teln. Ich spreche gerne von einem halböffentlichen Ver-kehr im Sinne des Carsharing, des gemeinsamen Nut-zens von individuellen Fahrzeugen. Das könnte bei-spielsweise in zehn Jahren dazu führen, dass wir dieZahl unserer Fahrten in diesem Bereich halbieren, weilman mehr zu zweit oder zu dritt fährt als bisher.Wir müssen auch einmal darüber nachdenken, welcheInstrumente der Nachhaltigkeit nicht nützen, gerade imBereich der Mobilität. Eine Kilometerpauschale imSteuerrecht, die quasi das Vielfahren beim Autofahrensteuerlich belohnt, kann nicht nachhaltig sein.
Wir brauchen also Konzepte wie zum Beispiel die Ent-fernungspauschale. Die Entfernungspauschale wird imRahmen dieser Strategie mit Sicherheit erarbeitet wer-den und ins Gespräch gebracht werden.
Wie kann man also erreichen, dass man das entfernteWohnen vom Arbeitsplatz und das Vielfahren nicht auchnoch steuerlich fördert? Das sind alles Aufgaben, dieman im Rahmen der Nachhaltigkeit bearbeiten muss.Zum Bereich Arbeitsplätze: Auch hier geht es dar-um, dass man in Feldern umdenkt, die man bisher eherunter ökologischen Gesichtspunkten gesehen hat. Mobi-lität und Autofahren hat man als Transportproblem an-gesehen, aber es ist natürlich auch ein Arbeitsplatz-problem. Lange Zeit hat man geglaubt, man könne darannichts ändern, weil man die deutsche Automobilindus-trie für die Schlüsselindustrie mit wahnsinnig vielen Ar-beitsplätzen gehalten hat. Inzwischen weiß man, dass esin der Automobilproduktion einschließlich Zulieferernur noch etwa 700 000 Arbeitsplätze gibt.Gleichzeitig haben wir etwa 700 000 Arbeitsplätze imBereich des öffentlichen Verkehrs. Das ist im Bewusst-sein der Menschen nicht angekommen. Kein Menschspricht vom öffentlichen Verkehr als Bereich, in demArbeitsplätze geschaffen werden können. Aber wir müs-sen im Rahmen einer solchen Strategie natürlich auchausloten, welche Konzepte Arbeitsplätze schaffen undwo Arbeitsplätze gefährdet sind.
Ich meine, die Arbeitsplätze der Automobilindustriesind dann gefährdet, wenn die Automobilindustrie esnicht schafft, zukunftsfähige Mobilitätskonzepte zuentwickeln. Man wird auf Dauer nicht mit dem Verkaufvon teuren, schnellen, viel Sprit fressenden Autos Zu-kunft gewinnen können. Das geht nicht mehr lange gut.Die Automobilindustrie kann nur überleben, wenn sieKonzepte entwickelt, die auf Dauer in allen Regionendieses Planeten tragfähig sind, das heißt Schaffung vonMobilitätskonzepten für die Verbindung von öffentli-chen und privaten Verkehrsmitteln.Der nächste Bereich, den ich erwähnen möchte: Ichglaube, eine Entwicklung, die sich nicht auch der Ver-antwortung bewusst ist, die darin liegt, dass wir im Ver-hältnis zu den Ländern und Menschen im anderen Teilder Welt viel tun können, ist nicht nachhaltig. Ich schla-ge vor, dass die Bundesrepublik Deutschland im Rah-men ihrer Nachhaltigkeitsstrategie einen Schwerpunktauf die Entwicklung von ökologischen und ökonomi-schen Partnerschaften und Patenschaften mit Ländern inder Dritten Welt legt. Es wäre aus meiner Sicht an-gemessen und angebracht, Südafrika als besonderes Pro-jekt zu nehmen. Hier hat noch die alte Regierung einenVertrag über eine Umweltpartnerschaft geschlossen.Dieser kann mit Leben erfüllt werden. Sie können dabeimitarbeiten; es war auch Ihr Impuls.Wir könnten an diesem Beispiel zeigen, dass unserInteresse, soziale und demokratische Entwicklungspro-zesse in Afrika zu stützen, in Verbindung zu bringen istmit ökonomischen Impulsen und ökonomischen Mög-lichkeiten, auch für uns, sowie gleichzeitig mit einer ökologischen Verantwortung, die wir übernehmen, weilwir natürlich in vielen Bereichen technisch etwas zu bie-ten haben. Es geht gar nicht so sehr um Kapital, sondernmehr um die Fähigkeiten, die wir etwa im Bereich derWasserwirtschaft, der Versorgung mit und Entsorgungvon Wasser, oder im Bereich der Elektrizität, der Photo-voltaik und der Solartechnologie zu bieten haben. Hierhätten wir viele Möglichkeiten, etwas anzubieten unddeutlich zu machen, wie wir uns öko-faire Entwick-lungspartnerschaft vorstellen. Südafrika könnte ein Bei-spielland dafür sein.Ich komme zum Schluss. Im Rahmen einer solchenDebatte und Rede kann man nur kurz anreißen, wohindie Reise gehen soll. Es muss uns gelingen, im Rahmendieser Nachhaltigkeitsstrategie zu zeigen, dass wir aucheinen neuen politischen Stil pflegen wollen. Frau Rei-chard, Sie haben Ihre Rede in dem Duktus gehalten:„Sie müssen, Sie müssen, Sie müssen“. Diese Haltungist nicht ohne weiteres verantwortlich. Sie sagen: „Siemüssen tun“. Aber nachhaltige Entwicklung meint: Je-der muss an seinem Platz seine Verantwortung wahr-nehmen. Das heißt, auch Sie müssen Ihren Beitrag zurnationalen Nachhaltigkeitsstrategie leisten, auch Siemüssen klarmachen, wo Sie Ihren Impuls setzen, Siemüssen Ihre Konzepte vorstellen. Sie müssen klarma-chen, wie Sie in Ihren Bereichen etwas erreichen wollen.Das gilt übrigens ebenso für alle anderen, für die Ge-werkschaften genauso wie für die Unternehmerverbän-de, für die Kommunen genauso wie für die Länder unddie Bundesregierung.Winfried Hermann
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7443
Sie haben in einem Punkt Recht, Frau Reichard. Wirhaben mit dem Antrag und dem Versprechen, eine nati-onale Nachhaltigkeitsstrategie zu entwickeln, einen Zu-kunftsrat einzurichten, einen neuen Stil in das Kabinetteinzuführen, der vernetzt und integrativ ist, einen hohenAnspruch formuliert, dankenswerterweise mit Ihrer Hil-fe. Wir haben jetzt auch zu zeigen, dass wir in der Lagesind, das umzusetzen. Wir werden in den nächsten Wo-chen sowohl diesen Zukunftsrat berufen als auch mit derErarbeitung der Strategie beginnen. Ich verspreche Ih-nen: Wir werden im Jahre 2002, zehn Jahre nach derKonferenz von Rio, nicht mit leeren Händen dastehen,sondern wir werden eine Strategie präsentieren, an derenUmsetzung Sie mitwirken können.Vielen Dank.
Ich gebe das Wort
der Kollegin Birgit Homburger für die F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die Enquete-Kommission„Schutz des Menschen und der Umwelt“ hat in der letz-ten Legislaturperiode wichtige Bausteine für die natio-nale Nachhaltigkeitsstrategie erarbeitet. Zur Erarbei-tung und Umsetzung dieser Strategie hat sie für die Ein-setzung eines Rats für nachhaltig zukunftsverträglicheEntwicklung beim Bundeskanzleramt plädiert.Im letzten Sommer haben wir uns dann im Umwelt-ausschuss damit auseinander gesetzt, wie die Empfeh-lungen der Enquete-Kommission umgesetzt werdenkönnen. Das Ergebnis war ein einstimmiger Beschluss,mit dem die Bundesregierung unter anderem aufgefor-dert wurde, noch im Jahre 1999 einen Rat für nachhal-tig zukunftsverträgliche Entwicklung mit Quer-schnittsaufgaben einzusetzen. Dies – das muss ich hier feststellen – ist Ihnen nichtgelungen.
Bis heute hat es die Bundesregierung nicht geschafft, einfertiges Konzept für die Einsetzung dieses Rates vorzu-legen. Ich hatte das heute eigentlich erwartet. Zwar hatte sich der Umweltausschuss auf Antrag un-serer Fraktion im Dezember letzten Jahres noch einmalmit diesem Thema beschäftigt, aber trotz Ihrer vollmun-digen Ankündigungen fiel der Bericht der Staatssekretä-rin eher dürftig aus. Sie haben uns weder Antworten aufdie Frage gegeben, aus wie vielen Mitgliedern der Ratkonkret bestehen soll, noch beantwortet, welche ge-sellschaftlichen Gruppen berücksichtigt werden sollen,noch beantwortet, wo er organisatorisch eingegliedertwerden soll. Ihrerseits ist sogar noch jetzt umstritten, wodie Geschäftsstelle anzusiedeln ist. Noch nicht einmaldarüber haben Sie sich einigen können.
Namen von Persönlichkeiten, die diesen Rat bilden sol-len, werden zwar in der Gerüchteküche heiß gehandelt,aber offiziell erhalten wir von Ihnen darüber keine Aus-kunft. Angesichts dessen verwundert es mich natürlichnicht, dass von einer Straffung des Beratungswesens, dieauf unsere Initiative hin beschlossen worden ist, über-haupt nicht mehr die Rede ist.Die F.D.P. erwartet, dass die Bundesregierung jetztendlich zu Ergebnissen kommt und dem Parlament Vor-schläge unterbreitet.
Der einstimmige Beschluss des Ausschusses dokumen-tiert ja, dass wir in diesem Haus eine fraktionsübergrei-fende Unterstützung für eine nationale Nach-haltigkeitsstrategie haben. Deshalb ist mir völlig unver-ständlich, warum die Bundesregierung immer noch keinKonzept zuwege gebracht hat. Noch unverständlicher ist mir, dass das Parlamentnicht in die Überlegungen der Bundesregierung einge-weiht wird, obwohl der Ausschuss einstimmig beschlos-sen hat, „dass der gesamte Prozess in allen Phasen eineintensive parlamentarische Begleitung, Beteiligung undBeachtung erfahren soll“.
Meine Damen und Herren von der Koalition, ich er-warte für den Fall, dass wir heute wieder einen einstim-migen Beschluss fassen – davon gehe ich aus –, dass SieIhre Beschlüsse ernst nehmen und dass Sie das gesamteParlament in die weiteren Entscheidungen einbeziehen.Ich fordere Sie an dieser Stelle auf, bei der Besetzungdes Rats darauf zu achten, dass er sowohl eine breiteThemenpalette abdeckt als auch ein weit gefasstes Mei-nungsspektrum repräsentiert. Nur so ist nämlich das Zielerreichbar, eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie unterBeteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen zu erarbei-ten, die am Ende auf breite Akzeptanz stößt.
Das Leitbild einer nachhaltig zukunftsverträglichenEntwicklung kann und darf im Übrigen nicht von ein-zelnen Gruppen vorgegeben werden; das sollte man, sodenke ich, an dieser Stelle deutlich feststellen. Vor allenDingen darf – Herr Hermann sollte an dieser Stelle bes-ser zuhören – der Nachhaltigkeitsrat kein ideologischesKampforgan werden.
Er muss nämlich sowohl ökologische und ökonomischeals auch soziale Fragen behandeln. Der Rat für einenachhaltig zukunftsverträgliche Entwicklung ist nichtnur als ein bloßes Diskussionsforum anzusehen. Vielmehr muss er durch eine intensive Zusammen-arbeit mit bereits bestehenden Gremien eine Früh-warnfunktion übernehmen. Dabei gilt es, rechtzeitig dieWinfried Hermann
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7444 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Konsequenzen eingeschlagener Entwicklungspfade auf-zuzeigen. Das ist eine der Aufgaben dieses Rates. Die zuständige Parlamentarische Staatssekretärin hatuns im Umweltausschuss erklärt, dass sie für Vorschlägezur Benennung von Mitgliedern offen sei. Ich kann Ih-nen nur sagen: Wir werden Sie beim Wort nehmen,wenn denn die Struktur dieses Rates endlich feststeht. Unabhängig von einzelnen Persönlichkeiten gibt esallerdings in Deutschland eine Organisation, die seit vie-len Jahren die Diskussion über eine nachhaltige Ent-wicklung begleitet, eine Organisation, in der sich dieganze Palette gesellschaftlicher Gruppierungen, undzwar von den Unternehmen bis hin zu den Gewerkschaf-ten, von den Umwelt- bis hin zu den Wirtschaftsverbän-den und übrigens auch alle politischen Gruppierungen,wieder findet: Das ist die Arbeitsgemeinschaft fürUmweltfragen.
Ich bin der Meinung, sie muss bei der Erarbeitung derNachhaltigkeitsstrategie eine besondere Berücksichti-gung finden.
Ich warne davor, Ziele von oben vorzugeben, wie esin der Enquete-Kommission von Teilen der SPD undden Grünen geplant wurde. Eine solche Vorgehensweisewäre nicht nachhaltig, sondern kurzsichtig und darüberhinaus innovationsfeindlich.Für die F.D.P. steht fest: Zur Erreichung des Ziels ei-ner nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung müs-sen die Chancen des technologischen Fortschritts ge-nutzt werden. Nachhaltige Entwicklung ohne Innovati-onen ist aus unserer Sicht nicht realisierbar.
Ebenso illusorisch ist eine Zielerreichung ohne die Nut-zung der marktwirtschaftlichen Dynamik. Ich hoffe, Siehaben das inzwischen begriffen.
Ich erinnere mich nämlich noch genau daran, als Teileder Koalition in der Diskussion in der Enquete-Kommission äußerten, dass es am besten sei, wenn esgar keine Innovationen gäbe.
Meine Damen und Herren insbesondere von den Grü-nen, dies war angesichts der Erarbeitung einer Nachhal-tigkeitsstrategie und der hohen Arbeitslosigkeit einemakabere Forderung. Nachhaltige Entwicklung setzt einen tief greifendenWandel von Wirtschaft und Gesellschaft voraus. Nach-haltigkeit bedeutet nämlich, dass Umwelt, Wirtschaftund Soziales gleichrangige Säulen einer nachhaltigenEntwicklung sind. Jede dieser Säulen ist von tragenderBedeutung für das Gesamtgebäude. In diesem Sinne istes vorrangige Aufgabe, nicht nur Umweltpolitik, son-dern auch alle anderen Politikbereiche unter Nachhaltig-keitsgesichtspunkten zu beleuchten. Auch die Wirt-schafts- und die Sozialpolitik müssen auf Dauer nach-haltig zukunftsverträglich sein.
Daher ist mit Blick auf die Integration von ökologi-schen, ökonomischen und sozialen Fragestellungen aufdem Weg zu einer nachhaltig zukunftsverträglichenEntwicklung auch die Überprüfung der bisherigen Ent-scheidungsstrukturen bei Staat, Wirtschaft und gesell-schaftlichen Organisationen von Bedeutung.Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen –das ist heute schon gesagt worden –, dass die Einrich-tung des Nachhaltigkeitsrats aus Sicht der F.D.P. mit derStraffung des Beratungswesens durch die Bundesregie-rung, das heißt der Abschaffung anderer Beratungsgre-mien oder deren Zusammenlegung einhergehen muss.
Die F.D.P. hat sich in der Enquete-Kommission von An-fang an massiv dafür eingesetzt, dass die notwendigenUmstrukturierungen nicht zu einer weiteren Aufblähungdes Beratungswesens und zur 250. Institution für ar-beitslose Wissenschaftler führen. Wir wollen vielmehr,dass eine Straffung und Zusammenführung vorgenom-men wird, dass sich eine neue Konzeption daraus entwi-ckelt. Wir freuen uns, dass sich zum Schluss unsereMeinung aus guten Gründen in der Enquete-Kommission durchgesetzt hat. Ich fordere die Bundesregierung daher auf, bei derVorlage des Konzepts auch diesen Aspekt zu berück-sichtigen. Herr Minister Trittin, es geht nicht nur umAufstocken, sondern auch um Abspecken. Es muss nichtnur draufgesattelt, sondern auch neu geordnet werden.Dies ist es, was geboten ist.
Sie rühmen sich, beim Thema Nachhaltigkeit guteArbeit geleistet zu haben. Ich bin da anderer Meinung;denn Nachhaltigkeit ist nicht ein neues Wort dafür, alteökologische Steckenpferde wieder aus der Mottenkistezu holen. Vor allem die Grünen haben die Nachhaltig-keitsdebatte in der Vergangenheit immer auf ökologi-sche Themen beschränkt. Ich möchte an einigenBeispielen exemplarisch darstellen, welchen BärendienstSie damit der Nachhaltigkeit bislang erwiesen haben. Als Beispiel bestens geeignet ist die so genannte Ökosteuer. Mit ihr haben Sie gleich alle drei Säulen,nämlich Ökonomie, Ökologie und Soziales, mit Füßengetreten.
Die so genannte Ökosteuer weist ökologische Brücheauf und hat bestehende Strukturen, wie beispielsweisedie Selbstverpflichtung der Industrie, überhaupt nichtBirgit Homburger
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berücksichtigt. Selbstverpflichtungen sind aber ein In-strument von Nachhaltigkeitsstrategien und müssenernst genommen werden. Die Erarbeitung einer Nachhaltigkeitsstrategie –daran zeigt sich Ihr Denken – lebt von der Vielfalt derIdeen. Nur dadurch können wir eine gewisse Kreativitätfreisetzen, die in einem Wettbewerb verschiedener Lö-sungen zu effizienten Vorschlägen führt. Das ist es, wasorganisiert werden muss.
Eine Nachhaltigkeitsstrategie funktioniert erst durchEinsicht und Engagement aller beteiligten Gruppen. Siebasiert auf dem Prinzip der Selbstorganisation,
also der gezielten Nutzung der systemimmanenten Ent-wicklungsdynamik von Natur, Gesellschaft und Wirt-schaft. In einer freiheitlichen und pluralistischen Gesell-schaft wie der der Bundesrepublik Deutschland muss eszu einer engen Zusammenarbeit zwischen den Akteurender Politik und zu Eigeninitiativen der Betroffenenkommen. Der Kollege Hermann hat vorhin in seinenAusführungen gesagt, jeder müsse Verantwortung anseinem Platz wahrnehmen. Jawohl, Herr Kollege Her-mann, nehmen Sie Ihre Verantwortung endlich wahr!
Im Übrigen: Mit der so genannten Ökosteuer habenSie in einem für die nachhaltige Entwicklung wichtigenBereich, nämlich dem Verkehrssektor, mit der Belastungdes ÖPNV und der Bahn die Politik in die falsche Rich-tung gelenkt.
Dies und auch die Verteuerung der regenerativen Ener-gien durch die so genannte Ökosteuer bei gleichzeitigerFreistellung der Kohle zeigen sehr deutlich, dass es Ih-nen nicht um Nachhaltigkeitsaspekte, sondern um reinesAbkassieren geht.
Eine Fokussierung auf die Ökosteuer als Steuer aufEnergie ist ökologischer wie ökonomischer Unsinn. Dasist auch schon im Bericht des Umweltbundesamtes„Nachhaltiges Deutschland“ festgehalten und es wirddavor gewarnt. Der Bericht fordert nämlich, dass für ei-ne nachhaltige Politik zu einer Steuer auf Energie min-destens gleichberechtigt ein ökologischer Subventions-um- und -abbau und die Senkung der bestehenden Ab-gaben hinzutreten müssen. Genau das war und bleibt dieForderung der F.D.P.
Ihre unsinnigen und unlogischen Maßnahmen, HerrTrittin, stoßen bei den Bürgerinnen und Bürgern aufUnverständnis und natürlich auf berechtigten Wider-stand.
Damit schaden Sie der Akzeptanz der Umweltpolitik e-benso wie dem Gedanken der Nachhaltigkeit.
Man muss die Menschen auf dem Weg zur Nachhaltig-keit mitnehmen und dafür braucht man verständliche,unbürokratische und einleuchtende Regelungen.
Eine Politik – das müssen Sie sich schon anhören –, diedie Ökologie nur als Deckmäntelchen für ein reines Ab-kassieren verwendet, wird dem nicht gerecht und ist zu-dem unsozial.
Auch die von Ihnen geführte Debatte zum Ausstiegaus der Kernenergie wird natürlich dem Nachhaltig-keitsgedanken in keiner Weise gerecht.
Sie diskutieren nämlich unter vermeintlich ökologischenVorzeichen nur den Ausstieg. Soziale Komponenten wiedie damit zusammenhängenden Arbeitsplatzfragen wer-den von Ihnen nicht einmal angesprochen
und eine nachhaltige Behandlung des Themas würde imÜbrigen auch ein klares Energie- und Entsorgungskon-zept beinhalten. Sie haben Großes angekündigt – HerrHermann eben wieder –, aber bisher überall Fehlanzei-ge.
Eine Nachhaltigkeitsstrategie ohne Aussagen zur Ener-giepolitik wäre absolut wertlos
und deswegen fordern wir Sie heute noch einmal auf:Legen Sie endlich Ihre Konzepte vor
und kündigen Sie nicht ständig nur an, dass Sie irgend-wann einmal irgendetwas machen. Sie werden sonst solange brauchen, bis Sie überhaupt nicht mehr an der Re-gierung sind.
Birgit Homburger
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Diese Beispiele zeigen deutlich die Defizite und Ver-säumnisse Ihrer Politik in puncto Nachhaltigkeit. Es istein Beweis dafür, wie wichtig ein gemäß einem breitenMeinungsspektrum besetzter Nachhaltigkeitsrat ist, derSie dann bei der Erarbeitung der nationalen Nachhaltig-keitsstrategie unterstützen kann. Wir fordern die Bundesregierung auf: Hören Sie end-lich auf, sich in Verfahrensfragen zu verheddern! LegenSie ein Konzept vor, das dann diskutiert und beschlossenwerden kann, damit die konkrete Arbeit endlich anfan-gen kann! Lassen Sie den großen Worten endlich einmalTaten folgen!Vielen Dank.
Für die Fraktion der
PDS spricht nun die Kollegin Eva Bulling-Schröter.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass heute überden Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Schutzdes Menschen und der Umwelt“ aus der letzten Wahlpe-riode debattiert wird, dies aus zweierlei Gründen: Zumeinen umfasst das Thema nichts Geringeres als die zent-rale Aufgabenstellung für dieses Jahrhundert. Die nächs-ten Jahrzehnte werden entscheiden, ob es in den nächs-ten Jahrtausenden eine lebenswerte Zukunft für dieMenschheit geben wird oder nicht. Zum anderen gibtuns die Debatte Gelegenheit, einmal darüber nachzu-denken, wofür und wie das Instrument Enquete-Kommissionen des Bundestages genutzt wird. Das istauch angesichts der Vielzahl solcher Kommissionen indieser Wahlperiode angezeigt.Die Enquete-Kommission „Schutz des Menschenund der Umwelt“ hatte den Auftrag, Umweltziele füreine nachhaltig zukunftsverträgliche Entwicklung zu er-arbeiten, die notwendigen ökonomischen und sozialenRahmenbedingungen einer solchen Entwicklung zubestimmen, die Notwendigkeit gesellschaftlicher undtechnischer Innovationen zu überprüfen und Maßnah-men zur Umsetzung einer nachhaltig zukunftsverträgli-chen Entwicklung zu finden. Man habe die Nachhaltigkeit endlich vom „Niveauder Sprechblase“ heruntergeholt, so fasste Frau Caspers-Merk im letzten Jahr das Ergebnis zusammen. Ich den-ke, dies entspricht nicht ganz der Realität. Denn es gabschon vorher vielfältige Untersuchungen, die eine ziem-lich präzise Beschreibung des Zustandes der natürlichenUmwelt ablieferten sowie Umweltziele formulierten.Ich nenne für die Bundesrepublik nur „Zukunftsfähi-ges Deutschland“. Es gibt darüber hinaus auch vielfälti-ge Literatur darüber, worin die Ursachen der Nicht-nachhaltigkeit, insbesondere der Industrieländer, zu su-chen sind, und zwar vor allem aus sozialökonomischerund nicht nur aus institutioneller, technischer oder recht-licher Sicht. Notwendig wäre hier also eine Präzisierung und Wei-terentwicklung all dieser Ansätze gewesen. Davon aus-gehend hätten Anforderungen an die Politik gestelltwerden müssen, die sicher streitbar und spannend gewe-sen wären, sofern sie die Ebene der Novellierung dieseroder jener Verordnung oder der Installierung dieses oderjenes Expertengremiums verlassen hätten. Doch wer willdas wirklich? Wer fragt nach den Gewinninteressen vonAutomobilbranche und Mineralölindustrie? Wer fragtnach dem Zusammenhang von Gewinnen der Nahrungs-und Düngemittelmultis und deren begrenzten Interessenan einer ökologischen Landwirtschaft?
So ist es kein Zufall, dass die von der damaligen Koa-lition dominierte Kommission im Bereich der Boden-versauerung lediglich neue Grenzwerte für Schwefeldi-oxid, Stickoxide und Ammoniak empfahl, und dies le-diglich in dem Maße, wie sie wirtschaftlich darstellbarwaren. Dies alles geschah, obwohl klar war, welche Rol-le beispielsweise der Verkehr, die Landwirtschaft oderdie Zementindustrie bei der Versauerung unserer Bödenspielen. Den Minderheitenvoten blieb es vorbehalten, auchauf Tempolimits, Benzinpreisverteuerung oder denAusbau der ökologischen Landwirtschaft zu drängen.
Ähnliches gilt für den Bereich Bauen und Wohnen.Das von der Kommission postulierte Ziel, den zusätzli-chen Flächenverbrauch von 120 Hektar pro Jahr künf-tig auf ein Zehntel zu reduzieren, ist, obwohl augen-scheinlich immer noch nicht nachhaltig, angesichts dertraurigen Realität erst einmal als ehrgeizig zu bezeich-nen.Wer jedoch wie die Mehrheit der Enquete-Kommission die Lösung lediglich im ressourcenscho-nenden Bauen und in der Flächensteuer sieht, greift un-serer Meinung nach zu kurz. Warum fliehen die Men-schen aus den Städten und zersiedeln die Landschaft?Wie ist das zu stoppen? Warum sind Kommunen vonUnternehmen erpressbar und weisen immer wieder zu-sätzliches Bauland aus? Wer verdient an jedem Kubik-meter Beton, der auf Wiese oder Acker geschüttet wird?Über welche Wege formuliert die Lobby der Baulöweneinen Teil der Gesetzgebung? Ich erinnere nur an dieNovellierung des BauROG oder an das zahnlose Boden-schutzgesetz! Sagen Sie jetzt nicht, dies wäre kommu-nistische Propaganda; denn die aktuellen Spenden- undFlugaffären sprechen zu diesem Thema Bände.
Zusammenfassend ist zum Bericht zu sagen: Es isteine Menge Papier voll geschrieben worden, von demsicherlich das meiste klug und interessant zu lesen ist.Es finden sich in ihm und mehr noch in den Studien derKommission eine Fülle von Anregungen. Doch ange-sichts der Ansprüche, die an die immerhin dreijährigeKommissionsarbeit gestellt wurden, erscheint das Er-gebnis in Form des Abschlussberichts eher kläglich. Birgit Homburger
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7447
Die verwertbaren Standpunkte liegen wiederum beider Zustandsbeschreibung. Zwar wurden jeweils auchUmwelthandlungsziele erarbeitet, doch verharren diesemeist beim Ruf nach rechtlichen und technischen Neue-rungen, und auch das nur in bescheidendem Maße. Der Zusammenhang zwischen ökologischen, ökono-mischen und sozialen Faktoren wurde schon in der Ana-lyse auf das Verhältnis von angeblicher Wettbewerbsfä-higkeit, Arbeitsplätzen und ökologischer Verträglichkeitreduziert. Damit ist kein großer Wurf zu machen. Eswird herumgedoktert, ohne denen weh zu tun, dieHauptverursacher von Umweltzerstörung, Abhängigkeitund Unterentwicklung sind:
die großen nationalen und internationalen Unternehmen,deren Manager nicht nach der Erfüllung von Umwelt-plänen, sondern nach der Wertsteigerung der Unterneh-men bezahlt werden, wenn ich richtig informiert bin. Vielleicht lag das auch daran, dass ein Klima herrsch-te, in dem es unmöglich war, auch die Enfants terriblesder Nachhaltigkeitsdiskussion nach Bonn zu bitten. Dasbetraf zum Beispiel die Buko, die Bundeskoordinationentwicklungspolitischer Gruppen, die sich seit Jahrenkritisch mit dem Nachhaltigkeitsdiskurs befasst und de-ren Einladung die PDS angeregt hatte. Die Buko aber wurde für Ärger gar nicht gebraucht.Die damalige schwarz-gelbe Mehrheit hat sich nämlichnicht gescheut, im November 1997 den ganzen Arbeits-stand der Kommission mit einem völlig neuen Entwurfdes Abschlussberichts handstreichmäßig über den Hau-fen zu werfen. Wenn es zu kritisch wird, werden ebenMehrheiten benutzt, obwohl solche Machtkämpfe ei-gentlich zugunsten einer Konsenssuche aus Enquete-Kommissionen herausgehalten werden sollten.Die gemeinsame Erarbeitung von Empfehlungendurch Wissenschaft und Politik für den Bundestag, indem dann natürlich wieder andere Regeln gelten, soll jaihr Auftrag sein. Dazu gibt es Enquete-Kommissionen,die jahrelang um Ergebnisse ringen. Sonst könnten wirja gleich im Plenum über Wahrheiten abstimmen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun hätte ja der mitviel Zeit und Geld erarbeitete Enquete-Bericht auchnoch so revolutionär daherkommen können. Die Umset-zung seiner Empfehlungen steht auf einem anderen Blatt– oder in anderen Blättern, beispielsweise in den Geset-zesvorlagen der Bundesregierung. Rot-Grün – damalswenigstens zu Teilen hinter dem Minderheitsvotum ste-hend – hätte jetzt die Macht, einige der Ergebnisse um-zusetzen. Doch wo bleibt das allgemeine Tempolimit?Was ist mit der Flächensteuer? Oder nehmen wir den Energiesektor: Klimaschutz isteines der zentralen Themen der Nachhaltigkeitsdebatte.Insgesamt bin ich aber ein wenig skeptisch, ob die Zu-kunft einen durchgreifenden Wandel in der Energiepoli-tik bringen wird – trotz der Novelle des Stromeinspei-sungsgesetzes, die hoffentlich bald kommt, trotz oderauch wegen der irrwitzigen Konstruktion der Ökosteuer.Herr Minister Müller sprach in seiner Rede vom 16.Dezember davon, dass im Jahre 2005 infolge der Strom-preissenkungen Einsparungen in Höhe von 15 bis 20Milliarden DM zu erwarten sind. Dies läge weit überden Förderprogrammen, die sich in der Summe auf etwa4 Milliarden DM belaufen würden. Nun stellt sich mirdie Frage: Ist dies aus Sicht des Klimaschutzes und inAnbetracht des Zeitfensters, das uns für ein dramati-sches Umsteuern zur Verfügung steht, wirklich positivzu bewerten? Wenn der Umweltverbrauch im Energie-sektor augenscheinlich immer billiger wird, welcheChance haben dann langfristig betriebswirtschaftlichteurere regenerative Energien? Sind wir auf der richti-gen Schiene? Sind die Weichen wirklich richtig gestellt?Es scheint also auch Rahmenbedingungen zu geben –wie beispielsweise die Liberalisierung und die Globali-sierung –, die nicht einfach nur hingenommen werdenkönnen, wie es Rot-Grün, erst recht CDU/CSU undF.D.P. tun und wie es auch die Enquete-Kommission ge-tan hat. Diese Rahmenbedingungen sind bewusst gesetztworden und eben nicht vom Himmel gefallen. Sie sindvon den Verwertungsinteressen des Kapitals diktiert undnicht eine Folge der technischen Entwicklung.
Sie laufen vielfach einer tatsächlich nachhaltigen Ent-wicklung diametral entgegen. Wer das nicht begreift o-der begreifen will, ist weltfremd.Genauso weltfremd scheinen mir übrigens gegenwär-tig die Übungen zur Einsetzung einer Enquete-Kommission „Zukunft der Energieversorgung“. DieKoalition fightet seit Wochen nachhaltig mit Herrn Grilldarum, wer zur ersten Sitzung einladen darf. Da bisherkein Federstrich von den Anregungen der PDS in diezwei Entwürfe des Einsetzungsbeschlusses aufgenom-men wurde und wir aufgrund „nachhaltig demokrati-scher Spielregeln“ auch nicht im Kopf des Einset-zungsbeschlusses auftauchen dürfen – so ist es zumin-dest bei den anderen Enquete-Kommissionen –, könntemir das eigentlich egal sein. Es ist bloß ein bisschen irri-tierend, sofern man daraus Schlüsse für den weiterenVerlauf der Arbeit zieht. Denn auch diese Kommissionkönnte bei eher dünnen Ergebnissen wieder eine MengeZeit und Geld kosten – und zwar nachhaltig.Danke.
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Michael Müller für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! In dem Buch – leider nicht indem schönen Film – „Forrest Gump“, in dem es um ei-nen so genannten hochgebildeten Idioten geht, gibt eseine wunderschöne Szene. Als Forrest Gump in einerUniversität Studenten vorgeführt wird, sagt ProfessorMills: Meine Damen und Herren, schauen Sie sich ihnan! Forrest Gump ist Mann, der mathematische Formelnin Perfektion aufschreiben kann, aber nichts von Ma-Eva Bulling-Schröter
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thematik versteht. Forrest Gump kann wunderbar Kla-vier spielen, aber er hat überhaupt keine Ahnung vonMusik.Dieses Beispiel aus dem Buch „Forrest Gump“ ist ineiner gewissen Weise ein Sinnbild für die Situation, indie unsere Gesellschaft zunehmend hineingerät. Wirwerden immer perfekter in Teilbereichen; aber ob dasGanze noch stimmt, wird immer fraglicher. Das ist dereigentliche Kern der Debatte über Nachhaltigkeit.
Es geht um die Frage, ob das innere Gleichgewicht un-serer Gesellschaft, ob die Mechanismen unserer Ent-wicklung noch mit dem, was wir heute über Zukunftsge-fahren wissen, in Einklang stehen.Das ist der eigentliche Punkt: Es geht darum, wiedereine Gesamtlogik zu schaffen. Wir wissen, dass dieGrundmechanismen jeder modernen Industriegesell-schaft, auf permanente Erweiterung der Internationali-sierung, auf permanente Beschleunigung, auf eine fort-gesetzte Auflösung vorgegebener Ordnungen und aufimmer größere Arbeitsteilung ausgerichtet sind. EineDemokratie, eine soziale Gesellschaft, kann aber nurfunktionieren, wenn diese Mechanismen immer wiedervon neuem mit der Fortentwicklung des Ganzen in Ein-klang gebracht werden. Ich sehe das Entscheidende derNachhaltigkeit darin, dass man eben nicht eine Teilant-wort gibt, sondern versucht, Teilantworten wieder in einGesamtbild einzuordnen, um so die Gesamtentwicklungstimmig zu machen. Es ist ein genereller politischerEntwurf, nicht ein fachpolitischer für Detailbereiche undDetailantworten. Das ist der eigentliche Kern, und dasist unsere Chance.
Deshalb ist es natürlich ein Problem, - das ThemaNachhaltigkeit das ist auch in dieser Diskussion gesche-hen –, auf die Themen Ökologie und Entwicklungspoli-tik zu reduzieren. Die Grundidee der Nachhaltigkeit istzwar sehr stark von diesen beiden Polen geprägt worden,nämlich einerseits von der Frage der Umweltzerstö-rung – ich denke insbesondere an die Diskussion der70er-Jahre in den Vereinten Nationen aufgrund der Be-richte über die Grenzen des Wachstums, – und anderer-seits auch aus der Angst der Entwicklungsländer heraus,dass der Unterschied zwischen Nord und Süd immergrößer wird und durch eine restriktive Umweltpolitikweiter wächst. Deshalb muß man neue Wege gehen. Ausdiesen Gründen ist der Kern der Nachhaltigkeitsdiskus-sion die Frage, wie unsere Gesellschaft zukunftsfähigorganisiert wird. Dies ist eine zutiefst kulturelle Heraus-forderung und eben nicht nur eine neue technische Ant-wort bei dem Versuch, das Bestehende so zu lassen undnur irgendetwas Nachhaltiges draufzupfropfen. Dies wä-re der falsche Ansatz.
Heute kommen zwei große Herausforderungen zu-sammen. Eine davon ist die Globalisierung, die von unsneue Antworten in der Form verlangt, dass von neuemsoziale Stabilität erzeugt wird, die in der Vergangenheitvor allem über den Sozialstaat nationalstaatlich organi-siert wurde. Wir erleben, dass die Globalisierung dazuführt, dass die bisherigen Gesellschaftsverträge bei-spielsweise zwischen Kapital und Arbeit, die an einefeste räumliche Ordnung gebunden waren, aufgelöstwerden. Jetzt müssen wir uns fragen: Wie bekommt man vonneuem Stabilität, Demokratie und gesellschaftlichenInteressenausgleich hin? Die Nachhaltigkeit versucht,eine Antwort zu geben: Einzelentscheidungen müssensich sozial- und umweltverträglich in das Ganze einfin-den. Das ist deshalb ein sehr wichtiger Ansatz, weil erVielfalt und Kreativität geradezu fördert – im Gegensatzzu der vorherrschenden Globalisierung, die alles eherauf einfache und kommerzielle Antworten vereinheit-licht. Der zweite wichtige Punkt ist: Es ist eine Illusion, zuglauben, wir könnten auf absehbare Zeit eine globaleWeltregierung errichten, die von oben anordnet, wie wiruns ökologisch, sozial oder wie auch immer zu verhaltenhätten. Die Nachhaltigkeitsidee ist umgekehrt die Her-rausforderung, in jedem Land, in jeder Stadt, in jederRegion unterschiedliche Antworten zu geben, aber sichdabei an der Gesamtidee zu orientieren. So etwas exis-tiert bereits: In England gibt es „Going to green“, denNew Deal „Transportation“. In den Niederlanden gibt esdas grüne Poldermodell. In Schweden wird über die Po-litik für zwei Generationen geredet. In den USA gibt esden Bericht an Präsident Clinton „Nachhaltiges Ameri-ka“. In Frankreich wird die Leitidee: „Wie sieht ein trag-fähiges Frankreich aus? “ diskutiert.Insofern tragen auch wir hier etwas zu einer weltwei-ten Diskussion bei, in der wir unsere spezifischen Ant-worten zur Nachhaltigkeit geben, aber gleichzeitig derglobalen Verantwortung gerecht werden. Das ist ein gu-ter Ansatz. Das ist richtig verstandene Globalisierung,nämlich Weltinnenpolitik.
Wenn man diese Kurskorrektur vornehmen will, dannmuss man natürlich auch Wahrheiten aussprechen, bei-spielsweise über die ökologischen Gefahren. Aber manmuss auch den Mut zu neuen Antworten, auch zu unbe-quemen Antworten haben. Ich möchte deshalb ein paarSätze zu dem Thema ökologische Steuerreform und zuden Preisschüben sagen, die stattgefunden haben. Dabeimöchte ich nicht darauf eingehen, welche Konzepte ei-ner ökologischen Steuerreform die heutigen Oppositi-onsfraktionen in der Vergangenheit entwickelt habenund wer sie gestoppt hat. Dies erscheint ja heute in ei-nem ganz anderen Licht.
Für viel wichtiger halte ich in diesem Zusammenhangeine andere Frage: Im Sommer vergangenen Jahres lagder Preis für Super bleifrei bei 1,58 DM. Darauf wurden6 Pfennig Ökosteuer und 1 Pfennig Mehrwertsteuer auf-geschlagen. Dadurch hätte der Preis bei rund 1,65 DMMichael Müller
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liegen müssen. Tatsächlich ist er auf knapp 2 DM ge-stiegen. Nun sagen viele: Diese Entwicklung ist das Er-gebnis der Preispolitik der Ölkonzerne. Ich möchtenicht verschweigen, dass da etwas dran ist. Natürlichhaben sie die Gunst der Stunde genutzt. Aber dies alseinzige Erklärung anzuführen, wäre zu wenig.Heute findet erneut - das hat viel mit dem Thema derNachhaltigkeit zu tun - eine Veränderung der weltweitenEnergie- und vor allem der Erdölmärkte statt. DasNordseeöl wird sehr viel schneller ausgebeutet als er-wartet. Wir sind wieder sehr viel stärker vom Erdöl ausder Golfregion abhängig. Diese Abhängigkeit liegt in-zwischen wieder über 50 Prozent. Viele Länder dieserRegion sind hoch verschuldet. Sie bekommen jetzt denHebel für die Preisgestaltung wieder viel stärker in dieHand. Zudem werden heute zunehmend die politischenund ökonomischen Kosten der Ausbeutung neuer Erdöl-und Gasreserven am Kaspischen Meer und in der Kau-kasus-Region in Rechnung gestellt. Daraus ergeben sichgewagte Risiken, wenn wir nicht heute stärker mit Ener-gieeinsparungen, mit rationeller Nutzung der vorhan-denen Energien und mit der Nutzung von Solarenergieumsteuern. Anderenfalls ist diese Entwicklung mit welt-politischen Konflikten verbunden, die wir schon bei-spielsweise in Tschetschenien und bei der neuen Rolleder Türkei erleben. Nachhaltigkeit hängt also auch mitder Frage zusammen, ob wir eine friedliche Weltzu-kunft haben.
Es ist deshalb absolut unsinnig, die Erdölpreise populis-tisch zu behandeln; vielmehr muss man die damit zu-sammenhängenden Fragen auflisten, um eine verantwor-tungsvolle Politik zu betreiben. Wir müssen in der Energiepolitik umsteuern. Das ist unsere Verantwor-tung als Industriestaat. Dazu gehört auch die Ökosteuer.Hier kann und darf man nicht kneifen.
Ein zweiter wichtiger Punkt ist der Klimaschutz. Wirhaben sehr begrüßt, dass der Bundeskanzler auf der UN-Konferenz in Bonn ein Klimaschutzprogramm angekün-digt hat. Wir werden das massiv unterstützen. Wir wün-schen uns den Mut, dass die Bundesrepublik für sichund für Europa ein gutes Beispiel dafür gibt, wie Um-weltverträglichkeit und ökonomische Leistungsfähigkeitmiteinander verbunden werden können.Ich möchte einen dritten Punkt nennen. Für mich ge-hört zur Nachhaltigkeit zentral die Verbindung vonArbeit und Umwelt. Ich halte es für richtig, in das„Bündnis für Arbeit“ auch die Fragen der ökologischenModernisierung aufzunehmen, gerade um die Innovati-ons- und Modernisierungsfähigkeit des Landes zu ver-bessern.
All dies sind Einzelelemente der Nachhaltigkeit.Nachhaltigkeit ist nie ein starres Konzept, sondern eineLeitidee und ein Ziel. Sie ist aus meiner Sicht ein neuesFortschrittsmodell, das die Erkenntnisse der letztenJahrzehnte, nämlich die ökologischen Grenzen desWachstums beachtet, aber gleichzeitig die Errungen-schaft des letzten Jahrhunderts, nämlich die soziale De-mokratie, bewahrt und fortentwickelt. Dieses neue Fort-schrittsmodell möchten wir ins Zentrum unserer Politikstellen. Deshalb suchen wir den breiten gesellschaftli-chen Dialog. Wir sehen hierin einen Schwerpunkt dieserRegierung für die Reformfähigkeit unseres Landes.
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Paul Laufs.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Künftige Generationen sollen in ei-ne Welt hineinwachsen können, die ihnen die gleichenguten Lebens- und Entwicklungschancen bietet, die auchdie gegenwärtige Generation vorgefunden hat. Es gehtalso um eine dauerhaft gerechte Güter- und Lasten-verteilung auf dieser Erde. Es geht um die langfristigeVerantwortung der heute lebenden Menschen für zu-kunftsfähige Wirtschafts- und Verbrauchsstrukturen.Kollege Hermann hat beklagt, dass der Begriff „Nach-haltigkeit“ sehr unbestimmt ist. Das ist richtig. Ich be-vorzuge deshalb in Diskussionen gerne den Begriff derZukunftsfähigkeit, der nicht erläutert werden muss.Die Erfolge der bisherigen, seit Jahrzehnten intensivvorangetriebenen Umweltpolitik in Deutschland sind er-freulich und ermutigend, aber sie reichen nicht aus. Wirsind von der Vision einer nachhaltig umweltverträgli-chen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft nochweit entfernt. Die Politik ist in der Pflicht, alle betroffe-nen Akteure, Staat und Wirtschaft, gesellschaftlicheGruppen und Endverbraucher, für nachhaltige Verhal-tensweisen zu motivieren und sie zu leiten. Selbstver-ständlich ist die Verantwortung jedes Bürgers angespro-chen; aber die Politik hat eine Führungsaufgabe, die sieauf Bundesebene durch die Regierung gegenwärtig nichtwahrnimmt.Über das Leitbild der Nachhaltigkeit gibt es keinenStreit. Wir alle haben es uns zu Eigen gemacht. Proble-me gibt es bei der Umsetzung in praktisches Handeln.„Nachhaltigkeit muss zur Chefsache werden und imMittelpunkt der Bemühungen des Staates stehen“, hat die Vorsitzende, Frau Kollegin Caspers-Merk, in ih-rem Vorwort zum Abschlussbericht der Enque-te-Kommission formuliert. Wir fragen uns heute: Wiehat die Bundesregierung das erste Jahr ihrer Regierungs-zeit genutzt, um Nachhaltigkeitsprozesse anzuschieben,konkrete Ziele zu setzen und die Akteure dafür zu ge-winnen? Ist Nachhaltigkeit wirklich zur Chefsache ge-worden?Wir nehmen gerne zur Kenntnis, dass eine Runde vonStaatssekretären, wie wir hier gehört haben, einmal Fra-gen eines Nachhaltigkeitsrates beraten hat. War das al-les? Frau Kollegin Caspers-Merk konnte auch in dieserMichael Müller
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7450 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Debatte nur wieder aufzählen, was noch alles geschehenmuss. Konkrete Projekte müssen erst noch vorgeschla-gen werden. Auch Kollege Hermann sprach hier vonkünftigen Strategien, die erst entwickelt werden müssen.Die etwas abgehobenen – ich bitte um Verzeihung, HerrKollege Müller – philosophischen Betrachtungen, dieSie hier vorgetragen haben, helfen uns bei der prakti-schen Umsetzung des Konzepts Nachhaltigkeit ebenfallsherzlich wenig weiter. Dass er wie Minister Trittin undviele andere jetzt beklagt, dass die Benzinpreise stärkergestiegen sind, als nach Erhebung der Ökosteuer zu er-warten war, verstehe ich nicht so recht. Sie wollten dochhohe Ölpreise! Oder wollten Sie wirklich nur abkassie-ren?
Wir sehen vor allem, dass sich die rot-grüne Bundes-regierung mit dem Atomausstieg und mit der Ökosteuerbefasst hat, also mit zwei Projekten, die einer nachhalti-gen Entwicklung nicht dienen. Zur so genannten Öko-steuer haben die Kolleginnen Reichard und Homburgerschon gesagt, was dazu gesagt werden muss. Zur Frage der nachhaltigen Energiebereitstellung, al-so auch zur Frage des Atomausstiegs, gibt es in diesemHaus einen tief greifenden Dissens. Dazu möchte ich nureinen Hinweis geben. Der Club of Rome hat bekanntlichseine frühere Ablehnung der weiteren Kernenergienut-zung inzwischen revidiert und spricht davon, dass wirangesichts des schwerwiegenden Risikos einer Klima-änderung auf unserem Planeten, die ein verstärkter Ein-satz fossiler Brennstoffe mit sich bringen könne, dietechnischen, wirtschaftlichen und sicherheitsrelevantenVorbedingungen für ein großes Comeback der Kern-energie schaffen müssten.
Solange wir erneuerbare Energien nicht in ausreichenderMenge wirtschaftlich verfügbar hätten, sei die Kern-energie die einzige Lösung, die eine nachhaltige Ent-wicklung ermögliche.
Diese neue Einschätzung des Club of Rome findetweltweit immer mehr befürwortende Stimmen. Das Dia-logangebot zur einer Neubewertung der Kernenergie,das von 560 deutschen Wissenschaftlern im Septembervergangenen Jahres der Bundesregierung gemacht wor-den ist, wurde von Ihnen ausgeschlagen. Dies ist einArmutszeugnis und das Eingeständnis, sich ideologischverrannt zu haben,
was übrigens der jüngeren Generation – täuschen Siesich nicht, diskutieren Sie draußen mit den jungen Leu-ten – zunehmend unbegreiflich und befremdlich er-scheint.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ei-nen anderen wichtigen Aspekt betrachten: Nachhaltig-keit bedeutet nicht nur die Versöhnung von Ökonomieund Ökologie, sondern umfasst auch soziale Aspekte. Esgeht um die Menschen mit all ihren Belangen. Die vonder Konferenz in Rio 1992 verabschiedete Agenda 21hat deshalb einen besonderen Schwerpunkt auf die loka-len Entwicklungen gesetzt. Der Lokale-Agenda-21-Prozess hat bereits viele Städte und Gemeinden erfasst.Es gibt aber zahlreiche Regionen, in ländlichen Räumengelegene Landkreise sowie mittelgroße und viele kleineGemeinden, die noch nicht mit einbezogen sind. Hiergeht es ganz direkt um die praktische Umsetzung desLeitbildes von der Nachhaltigkeit. Wir sollten alles tun,um diesen Prozess zu fördern.Erfolgreiche Projekte der Lokalen Agenda 21 findenwir vor allem im Bereich von Energie- und Rohstoffein-sparungen und Klimaschutz. Hier bietet es sich an, dasÖkoaudit-System verstärkt anzuwenden und auf Lie-genschaften der öffentlichen Verwaltung auszudehnen.Es wird vorgeschlagen, Ämter, Krankenhäuser, Schul-zentren usw. möglichst im Konvoi einem Ökoaudit zuunterziehen, um Verfahrenskosten zu sparen. In meinemWahlkreis Waiblingen sind schon vor zwei Jahren mitgroßem Erfolg das erste Landratsamt und das ersteKreiskrankenhaus in der Europäischen Union im Rah-men des Ökoaudit-Systems zertifiziert worden. Die bisher angelaufenen und durchgeführten Projekteder Lokalen Agenda 21 haben ganz überwiegend Um-weltprobleme behandelt, während die gleichfalls undgleich bedeutend zu betrachtenden Aspekte der Wirt-schaft und des Sozialen eine eher untergeordnete Bedeu-tung gehabt haben. Im Rahmen der Lokalen Agenda 21bieten sich beispielsweise auch Projekte an, die die öf-fentliche Sicherheit und kommunale Kriminalpräventionberücksichtigen oder ein zukunftsfähiges Konsumver-halten in der Gemeinde zum Gegenstand haben. Hierstehen wir vor der zentralen Aufgabe, Menschen zu bür-gerschaftlichem und umweltschonendem Verhalten zumotivieren und zu erziehen. Nachhaltigkeit bedeutet,dass wir unsere Lebens- und Arbeitsumwelt im sozialenKonsens umgestalten und neue Verhaltensmuster ein-üben. Bei der getrennten Sammlung zur Wiederverwer-tung von häuslichen Abfällen ist dies zum Beispielschon weitgehend gelungen. Kollege Hermann hat hierden Bereich der Mobilität angesprochen. Wir teilen beiweitem nicht alle Ihre Vorschläge, Kollege Hermann.
Dass wir aber im Rahmen der Umsetzung des Nachhal-tigkeitskonzeptes hier eine große Aufgabe haben, ist unsallen klar. Bei der kulturellen Umweltbildung müssen künftigneue Leitbilder für nachhaltiges Wirtschaften, sozialesVerhalten und individuelle Lebensstile im Mittelpunktder politischen Auseinandersetzung und der Bemühun-gen um eine nachhaltig umweltverträgliche Industriege-sellschaft stehen. Große Aufmerksamkeit ist dem ThemaSchule und Kinder zu widmen. Durch frühzeitige Natur-kontakte soll Freude an der Natur geweckt und umwelt-verantwortliches Handeln eingeübt werden. Umweltbil-Dr. Paul Laufs
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dung muss allerdings mehr leisten als nur die Ver-mittlung von ökologischem Grundlagenwissen. Es müs-sen Zusammenhänge in einer Weise bewusst gemachtwerden, die emotional sensibilisiert und motiviert. Erstdann führen Verhaltensvorschläge zu einem tatsächlichnachhaltigen Verhalten. Bund, Länder und private Bil-dungsträger können mithelfen, innovative Projekte dafüraufzulegen.Meine Damen und Herren, als Fazit stelle ich fest:Das erste rot-grüne Regierungsjahr war für das KonzeptNachhaltigkeit ein verlorenes Jahr.
Wir bedauern das und würden uns freuen, wenn sich dieBundesregierung im zweiten Jahr dieser Wahlperiodediesen wichtigen Fragen engagiert und kreativ zuwende-te.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat derBundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-cherheit, Jürgen Trittin.Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Eigentlich alle meine Vorrednerin-nen und Vorredner haben sich für die Entwicklung einerNachhaltigkeitsstrategie ausgesprochen. Ich freue mich,dass auch das Konsens geworden ist, was gelegentlichim Ausschuss noch einmal Wellen schlug und als Dis-sens aufkam, nämlich die Aussage, zur Entwicklung ei-ner Nachhaltigkeitsstrategie sei es in den Industrielän-dern wie der Bundesrepublik Deutschland notwendig,Veränderungen in der Wirtschafts- und Konsumwei-se der Gesellschaft zu erreichen. Nachhaltigkeit ist e-ben keine Frage einer reinen Umweltpolitik, sondernGegenstand sehr vieler Politikbereiche von der Land-wirtschaft über Entwicklungszusammenarbeit, Verkehrund Wirtschaft bis hin zur sozialen Gerechtigkeit.Wir werden im Jahr 2002, zehn Jahre nach der Kon-ferenz von Rio, Bilanz zu ziehen haben. Dann werdensich die Fragen stellen, ob die Bundesrepublik Deutsch-land im Sinne des Ziels der nachhaltigen Entwicklungnational hinreichend umgesteuert hat, ob sie auch inter-national ihren Beitrag zu einer nachhaltigen Produkti-ons- und Konsumweise geleistet hat und ob dieEntwicklungschancen für alle Länder, also auch fürdiejenigen Länder, die noch in Entwicklung sind, sowiefür künftige Generationen fairer geworden sind. Diesergibt sich ja aus der Erkenntnis, dass wir – FrauCaspers-Merk hat das unter Bezugnahme auf ein grünesWahlplakat angesprochen – die Erde von unserenKindern nur geborgt haben. An diesen Fragen muss sichjede Nachhaltigkeitsstrategie ausrichten. Darum werdendie Zukunftsvorsorge und die globale Dimension imMittelpunkt einer solchen Strategie stehen.Gleichzeitig bietet eine nationale Nachhaltigkeitsstra-tegie die Chance für eine ökologische Modernisierungunserer Gesellschaft. Das hat zwei Voraussetzungen:Erstens muss Umweltschutz zu einer Querschnittsaufga-be in allen Politikbereichen werden; Umweltschutz kannnicht isoliert dastehen. Wenn wir hie-rüber Konsens ha-ben wollen, müssen wir zweitens vermitteln, dass Um-weltschutz und nachhaltige Entwicklung nicht Verzichtund Selbstbeschränkung bedeuten, sondern Chancen fürneue zukunftsfähige Techniken, Verfahren und Dienst-leistungen und im Übrigen auch für neue Beschäftigungeröffnen.Als erste Arbeitsprogramme für eine nationale Nach-haltigkeitsstrategie haben wir uns zweierlei vorgenom-men: zum einen die Frage der Energiewende und desKlimaschutzes zu behandeln, zum anderen das Thema„umweltgerechte Mobilität“ anzupacken. Wir haben imSinne der Entwicklung dieser Nachhaltigkeitsstrategiebereits eine Reihe von Weichen gestellt. Das umfasstdann auch Gebiete, die auf den ersten Blick vielleichtnicht im Mittelpunkt dieser Debatte stehen, beispiels-weise eine nachhaltige Finanzpolitik. Wenn wir unse-ren Kindern und Enkeln keinen unbegrenzt wachsendenBerg von Schulden hinterlassen wollen, dann muss eshier ein Umsteuern geben. Das kann erreicht werden mitden Einsparungen von 30 Milliarden DM, mit der gro-ßen Einkommensteuerreform, mit der wir mittlere unduntere Einkommen bis zum Jahr 2002 um 45 MilliardenDM entlasten werden, mit der Besserstellung für Famili-en. An diesen Punkten wird erfahrbar, was Nachhaltig-keit in der Finanzpolitik heißt.
Sicherlich gehört zur Nachhaltigkeit auch die ökolo-gische Steuerreform. Wir halten es für vernünftig - esliegt auch im Interesse dieser Gesellschaft und insbe-sondere im Interesse der Menschen, die sich außerhalbdes Arbeitsprozesses befinden, weil sie arbeitslos sind -,die Kosten für den Faktor Arbeit zu senken und im Ge-genzug die Kosten für den Verbrauch von Energie undRohstoffen schrittweise zu erhöhen.
Dieser richtige Grundgedanke wird in ganz Europaübernommen. Gestern haben die Franzosen Entspre-chendes erklärt.
Nur in Deutschland sagt die Opposition: Wir wissenals Einzige, wo der Weg lang geht.Wir lassen uns diesen richtigen Gedanken, dass esvernünftig ist, Arbeit billiger zu machen und Rohstoffeund Energie zu verteuern - das ist gerade im Interessevon Beschäftigung in diesem Lande wichtig - ,nicht mitdem Hinweis kaputtreden, das sei eine reine Rentensta-bilisierungssteuer.Dr. Paul Laufs
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7452 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Ich würde Ihre Argumente gegen die Ökosteuer sehrviel ernster nehmen, wenn nicht mittlerweile Herr Teu-fel und Herr Brüderle Seit an Seit sagen würden: Ökolo-gisch würde diese ökologische Steuerreform, wenn wirdie Einnahmen dazu benutzen könnten, Straßenbau zubetreiben. – Das würde aber Flächenverbrauch durchZubetonieren bedeuten.
Das ist Ihre Vorstellung von einer Ökosteuer. Herr Dö-ring und Herr Teufel haben einen entsprechenden An-trag im Bundesrat eingebracht. Das ist keine nachhaltigePolitik, sondern das glatte Gegenteil. Es handelt sich umeine Politik, die zur Umweltzerstörung führt und dieauch verkehrspolitisch dumm ist.
Die Energiewende ist für uns für den Schutz derErdatmosphäre von entscheidender Bedeutung. Wirwissen, dass die Entwicklung immer alarmierendereFolgen hat. Es geht nicht nur um Hurrikans fernab. Auchdie hier gemessenen Sturmstärken - gerade in Süd-deutschland -, die wir sonst nur von der Küste kennen,und die Neujahrsstürme in Frankreich haben in ganz Eu-ropa darauf aufmerksam gemacht, dass wir darauf zu-steuern, dass das uns vor diesen Stürmen schützendekalte Hoch in Zentraleuropa aufgrund der Erwärmungeine immer kleinere Ausdehnung hat. Es ist also notwendig, umzusteuern. Es geht darum,den besonders stark wachsenden Ausstoß von CO2 imVerkehr und in privaten Haushalten drastisch zu senken.Hierzu gehören Maßnahmen wie die neue Energiespar-verordnung. Hierzu gehört selbstverständlich auch derVersuch, andere Verkehrsträger zu fördern. Hierzu ge-hört weiterhin die schrittweise Verteuerung durch einekalkulierbare Anhebung der Mineralölsteuer. Wir brau-chen aber auch andere Techniken. Energiesparende undRessourcen sparende Techniken, Kreislaufführung vonStoffen und eine integrierte Produktpolitik bilden des-halb einen Handlungsschwerpunkt unserer Umweltpoli-tik. Frau Reichard, ich höre immer gerne Äußerungen über die Altautorichtlinie. Nur sollten Sie bei Ihren Re-den im Parlament eines berücksichtigen: Die Geschichteist im Juni weitergegangen. Im September hat der Ratder Europäischen Gemeinschaft beschlossen, dass es ei-ne Rücknahmeregelung gibt. Fahrzeuge, die ab dem Jahr2001 auf den Markt kommen, sind sowieso zurückzu-nehmen. Ab dem Jahr 2006 sind sämtliche Fahrzeugezurückzunehmen, übrigens nicht ausschließlich auf Kos-ten der Hersteller, aber mit einem signifikanten Anteilfür die Hersteller. Das war exakt der Beschluss, den derdeutsche Umweltminister im März dem EuropäischenRat vorgeschlagen hat und der an der Bockbeinigkeit derdamaligen Kommission gescheitert ist.Bevor Sie sich weiter aus dem Fenster hängen, rateich Ihnen dringend, Ihren Parteifreund Florenz anzuru-fen, der genau diesen Grundgedanken der Rücknahmedurch sein Agieren im Europäischen Parlament auf-nimmt. Sparen Sie sich also Ihre Häme! Nutzen Sie dieEnergie, die Sie in dieser Frage aufbringen, um einenDialog mit dem zuständigen Berichterstatter der Europä-ischen Volkspartei zu führen! Das könnte einer vernünf-tigen Lösung diesen, die sowohl die Interessen der Au-tomobilindustrie, vor allen Dingen der besonders betrof-fenen deutschen Automobilindustrie, wie auch denGrundgedanken der Kreislaufwirtschaft zu einem ver-nünftigen Kompromiss zusammenführt.Das könnte hier wirklich hilfreich sein.
Ressourcenschonung, höhere Energie- und Flächen-effizienz, der vorsorgliche Umgang mit natürlichen Le-bensgrundlagen – all dies muss zu einem selbst-verständlichem Anspruch für unser Leben und Wirt-schaften werden. Eine Nachhaltigkeitsstrategie lebt vonder Integration in andere Politikbereiche wie unteranderem Energie, Wirtschaft und Landwirtschaft; in alldiesen Bereichen brauchen wir eine Zusammenführung. Deswegen heißt nachhaltige Politik: Dies ist eine ge-samtpolitische Aufgabe für die gesamte Regierung.Deshalb werden wir einen ständigen Staatssekretärsaus-schuss einrichten, der die Erarbeitung und die Umset-zung einer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie steuernwird. Dabei ist, weil Nachhaltigkeit keine Veranstaltungdarstellt, die der Staat alleine betreiben kann, natürlichdie Einbeziehung der Gesellschaft von zentraler Bedeu-tung. Wir brauchen ein eigenverantwortliches Handelnaller Akteure. Die Bundesregierung will deswegen einenRat für nachhaltige Entwicklung einrichten. Diesersoll nicht die hundertfünfzigste oder fünfhundertsteKommission von Wissenschaftlern sein – da sind wiruns, glaube ich, alle miteinander einig –, sondern er sollzusammengesetzt sein aus einer möglichst kleinen Zahlvon Einzelpersönlichkeiten mit hoher öffentlicher Repu-tation, die den Prozess der Umsetzung in die Gesell-schaft hinein begleiten sollen. Er soll die Ansprüche undForderungen der Gesellschaft an die Politik formulieren,aber auch die gesellschaftlichen Kräfte mobilisieren,damit das Nachhaltigkeitskonzept aktiv umgesetzt wer-den kann. Die Kommunikation des Grundsatzes derNachhaltigkeit bildet ein ganz zentrales Element dieserStrategie. Wenn Sie in diesem Zusammenhang die Straffungdes Beratungswesens bei der Bundesregierung anmah-nen, dann freue ich mich darüber. Bei diesem Bundes-umweltminister rennen Sie damit offene Türen ein,wenngleich wir im Vergleich zu anderen Ressorts hiervielleicht nicht so herausgefordert sind, weil wir nicht soviele Beratungsgremien haben. Aber: Wie verträgt sichdiese Ihre Forderung heute mit Ihrem lauten – entschul-digen Sie das Wort – Geschrei, als wir die Arbeit derReaktor-Sicherheitskommission und der Strahlenschutz-kommission auf eine vernünftige Grundlage gestellt ha-ben –
Bundesminister Jürgen Trittin
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also den Wirrwarr dieser Unterkommissionen beseitigthaben – als wir die über 100 Mitglieder endlich wiederzu einem handlungsfähigen Organ zusammengeführthaben? Sie müssen sich entscheiden, Herr Laufs, wasSie wollen: Wollen Sie, dass wir das Beratungswesenneu organisieren und straffen – dann haben Sie heuteRecht und mich auf Ihrer Seite –, oder wollen Sie Be-sitzstände Ihrer alten, ideologisch verbohrten Anhängerin der Atomindustrie wahren? Da müssen Sie sich ent-scheiden.
Ich kann Ihnen zum Schluss eines versprechen: Wirwerden versuchen, auch die Arbeit des WBGU so zu or-ganisieren, dass es nicht nur eine klare Arbeitsteilungmit dem SRU gibt, sondern er von seiner Größe her aucharbeitsfähig ist. Da gibt es inzwischen mit dem WBGUin seiner jetzigen Zusammensetzung Einigkeit. Ein letzter Gedanke: Ich glaube, wir können diesnicht nur als eine Veranstaltung des Bundes betreiben.Vielmehr stehen wir vor der Aufgabe, wenn wir die Ge-sellschaft einbeziehen wollen, das vielfältige Engage-ment von Städten und Gemeinden, von Menschen in un-seren Landkreisen, in den kleinen und großen Städtenzusammenzufassen. Das heißt, der Prozess der LokalenAgenda 21 muss verstärkt gefördert werden. Dies ist ei-ner der wesentlichen Beiträge, die das Bundesumwelt-ministerium gerade bei der Unterstützung dieser Initia-tive, bei der Entwicklung einer – wie es so schön heißt –nationalen Nachhaltigkeitsstrategie leistet, die natürlichvor Ort anfangen muss. Hier gilt der grüne Slogan: Glo-bal denken – vor Ort handeln!
Zu einer Kurzinter-
vention gebe ich das Wort dem Kollegen Dr. Klaus Lip-
pold.
Herr Minister Trittin, gerade der letzte Satz ist der fal-
scheste Satz, den Sie gesagt haben. Vielleicht denken
Sie global – was ich nicht glaube –, jedenfalls handeln
Sie nicht lokal. Das ist doch der Punkt! Die Ökosteuer-
debatte wie die Kernenergiediskussion dienen der Ab-
lenkung davon, dass Sie Nachhaltigkeit im Natur-
schutzbereich – ein zentraler Punkt – bislang nicht zu-
stande gebracht haben. Diese zentrale Aufgabe der Um-
weltschutzpolitik ist vernachlässigt worden.
In Sachen CO2-Minderung, in der Frage der Klimaka-
tastrophe sind Sie doch ein „Ankündigungsminister“.
Sie vollziehen noch nicht einmal das, was die Vorgän-
gerregierung vorbereitet hat. Ich sage ganz deutlich: Das
Einzige, was Sie sagen, ist: Demnächst soll etwas kom-
men – ähnlich wie beim Naturschutz. Sie erreichen kei-
ne Verbindung, keine Vernetzung der Naturschutzsys-
teme. Das, was Sie angekündigt haben, fällt unter den
Tisch.
Ich rufe in Erinnerung, was Ihr Kollege Loske Mitte
letzten Jahres an Kritik vorgebracht hat. Da muss man
ganz deutlich sagen, dass Sie versagt haben, dass Ihre
Konzentration auf die Ökosteuer genau das Falsche
war. Er hat in Ihre Fraktion den Gedanken eingebracht,
dass dieser falsche Weg korrigiert werden müsse. Dann
ist er davon ein wenig abgelenkt worden, aber dies war
das Eingeständnis eigenen Verschuldens. Machen wir
uns doch nichts vor: In Ihrem Haus liegen die Gutach-
ten, in denen die von Ihnen beauftragten Gutachter fest-
stellen, dass Ihre ökologische Steuerreform keine Um-
weltlenkungswirkung hat. In Ihrem Haus liegen die Gut-
achten, in denen festgestellt wird, dass sie nicht sozial
ist.
Ich will Ihnen nochmals in Erinnerung rufen: Bei ei-
nem ständig fließenden Verkehr gibt es weniger Emissi-
onen, als wenn Sie den Verkehr zum Stocken bringen.
Damit wir uns richtig verstehen: Die Aussagen, dass Sie
die Bahn belasten und damit ökologisch genau kontra-
produktiv sind, kommen nicht von uns, sondern von der
Bahn. Dies macht deutlich, dass Ihre Politik in dem
Punkt gescheitert ist. Sie haben nicht die Erhöhung der
Attraktivität der Bahn erreicht, sondern schlicht und ein-
fach die Attraktivität der Bahn vermindert. Das heißt:
Von dem, was Sie gesagt haben, stimmt nichts. Dort, wo
Sie etwas hätten tun sollen, haben Sie im Sinne Ihrer
Schlussaussage bislang nichts vorgelegt. Ihre Kollegen
haben Ihnen das – unter Beteiligung der Länderum-
weltminister – bestätigt.
Sie sollten daher in sich gehen und nicht versuchen, mit
forschen Sprüchen von Ihrem Versagen abzulenken.
Zu einer Antwortbekommt Bundesminister Trittin das Wort.Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit: Meine Damen und Her-ren! Lieber Herr Kollege Lippold, wenn der Rat für einzukunftsfähiges Deutschland eine pädagogische Aufga-be hätte, dann hätten Sie mit Ihrer Rede den Beweis da-für geliefert, dass er offensichtlich viel zu tun hat. Dasfängt schon beim kleinen ABC an: Wer glaubt, Verkehrdurch den Neubau von Straßen zum Fließen zu brin-gen, befindet sich in der verkehrspolitischen Debatte ir-gendwo zwischen den Jahren 1975 und 1982.
Selbst von ehemaligen VW-Managern wie Herrn Goeudevehrt ist erkannt worden, dass mit Straßenbau,mit Straßenwegebau dieses Problem nicht zu lösen ist.Aber vielleicht würde es der pädagogischen Nachhilfegar nicht bedürfen; denn ich glaube, dass Sie in Wirk-lichkeit klüger sind, als Sie sich hier dargestellt haben.Denn Sie wissen sehr wohl, dass wir im Rahmen der ö-kologischen Steuerreform die Bahn nur mit dem halbenÖkosteuersatz belegt haben. Wir sind uns aber einig,dass es im Bereich der Deutschen Bahn noch Einsparre-serven und Möglichkeiten zur Steigerung der Energieef-fizienz gibt. Wir haben beides getan: Wir haben derBahn den Impetus zur Erneuerung gegeben, für mehr Bundesminister Jürgen Trittin
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7454 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Effizienz zu sorgen. Gleichzeitig haben wir den öffentli-chen Schienenverkehr gegenüber dem Autoverkehr bes-ser gestellt. So wird Umweltpolitik praktische Politik.Am allermeisten freue ich mich bei Ihnen immer dar-über, wenn sich die Union für den Naturschutz starkmacht. Ich muss gar nicht lange darauf verweisen, waswir zum Beispiel bei der Sicherstellung ostdeutscher Na-turschutzgebiete, die Sie alle an Junker – oder weiß derTeufel, an wen – verscherbeln wollten, erreicht haben.Ich muss mich gar nicht lange darüber auslassen, wiezum Beispiel die Landesregierungen von Baden-Württemberg und Bayern mit der Ausweisung vonSchutzgebieten umgehen. Ich brauche nur auf dieaktuellen Auseinandersetzungen im Wahlkampf inSchleswig-Holstein zu verweisen.
Wer nach den Äußerungen von Herrn Rühe zum Natio-nalpark als Christdemokrat noch meint, dieser Regie-rung irgendwelche Versäumnisse beim Naturschutzvorwerfen zu können, hat offensichtlich den alten Titel„Häuptling Gespaltene Zunge“ verdient. Denn man kannin einem Wahlkampf nicht offensiv dafür mobilisieren,zehn Jahre Ökopause zu machen, und hier so tun, als seiman als Ökologe in der CDU dann noch in der richtigenPartei, Herr Lippold.
Für die SPD-
Fraktion spricht nun die Kollegin Ulla Burchardt.
Herr Präsident! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Zu Beginn eines neu-en Jahres, insbesondere zu Beginn eines neuen Jahrtau-sends – auch Sie werden das vielfach erlebt haben –,fragen die Menschen: Was bringt mir, was bringt uns dieZukunft? Ich denke, die einzig ehrliche Antwort daraufkann nur sein, dass man sagt: Nichts ist sicher. – Das hatnichts mit Fatalismus, mit Schicksalsgläubigkeit zu tun,sondern ich glaube, das ist die einzig mögliche Antwort,in bester aufklärerischer Tradition. Die Zukunft, wird das Ergebnis dessen sein, was wirheute entscheiden, so wie das, war wir an Problemen,aber auch an Erreichtem in der Gegenwart haben, eineFolge dessen ist, was in der Vergangenheit einmal ent-schieden worden ist. Das macht eines ganz deutlich: Zu-kunft ist gestaltbar. Das bringt aber auch eine großeVerantwortung für all diejenigen mit sich, die von denBürgerinnen und Bürgern dafür gewählt worden sind,dass sie die Verantwortung für ihre Zukunftsgestaltungwahrnehmen. Ob die Menschen in unserem Land und in der einenWelt eine gute Zukunft haben werden, wird ganz ent-scheidend davon abhängen, ob es uns gelingt, die Prob-leme, die Krisen, die wir aus dem letzten Jahrhundertübernommen haben, zu bewältigen und vor allen Dingenaus den Fehlern zu lernen, die dazu geführt haben.Wenn wir uns die Bilanz des letzten Jahrhundertsansehen, dann muss man sagen: Sie ist durchaus ambi-valent. Mit einem gewissen Stolz kann man sagen, dassFreiheit, Wohlstand und soziale Sicherung die Errun-genschaften in den hoch entwickelten Teilen der Weltsind. Mit dem Stabilitätspakt für Südosteuropa und dergeplanten Erweiterung der EU haben wir auch eine be-rechtigte Aussicht darauf, dass es in Europa im neuenJahrhundert keinen Krieg mehr geben wird.Doch wenn wir uns den anderen Teil der Welt anse-hen, ist es noch immer so, wie Martin Luther King esvor Jahrzehnten einmal formuliert hat: Die reichen Län-der feiern eine gewaltige Party auf Kosten der armen.Diese befinden sich deshalb in einer Abwärtsspirale ausArmut, Unterernährung, Ungleichverteilung und Um-weltzerstörung. Wir wissen, dass dies inzwischen dieHauptursachen für gewaltsame Auseinandersetzungenund Kriege sind, die holen uns an der einen oder anderenStelle auch ein.Dass die negativen globalen Trends ungebrochensind, hat vor wenigen Tagen der neueste Bericht desWorld watch Institute belegt. Er zeigt in aller Deutlich-keit, wie trügerisch hier im westlichen, im reicheren Teilder Welt Wohlstand und Sicherheit sind. Die Schatten-seiten der Globalisierung sind auch in diesem Landespürbar.Deswegen lassen Sie mich unterm Strich feststellen,dass – Wahrheiten auszusprechen hilft ja auch, aus ver-gangenen Fehlern zu lernen – man wirklich endlich zurKenntnis nehmen muss, dass der alte Fortschrittsglaubeder westlichen Welt und das darauf basierende Wachs-tums- und Wohlstandsmodell keine Perspektive zur Lö-sung zukünftiger Fragen oder zur Lösung der vergange-nen bieten werden. Sie bieten auch hier bei uns keineLösung zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und zurGestaltung des strukturellen Wandels.
Aber auch gerade in Zeiten des Wandels, die für dieMenschen immer Zeiten von Verunsicherung sind – ichglaube, dass muss man ganz ernst nehmen –, brauchendie Menschen, braucht die gesamte Gesellschaft einegemeinsame Perspektive zur Gestaltung der gemein-samen Zukunft. Diese Perspektive bietet das Leitbildder nachhaltigen Entwicklung. Welche Facetten es aus-macht, ist vom Kollegen Hermann hier im Detail darge-stellt worden.Wie jedes Leitbild ist auch dieses hinreichend unkon-kret. – Das ist das Typische an Leitbildern. – Seine pro-duktive Kraft, sein produktives Potenzial wird es dannentfalten, wenn es als zu lösende Aufgabe angesehenwird, wenn sich alle gesellschaftlichen Kräfte, die unter-schiedlichen gesellschaftlichen Gruppen darauf konzent-rieren und sagen: Das ist eine Herausforderung, der ichmich stelle; ich schaue, was ich mit meinen Ideen, mei-nem Know-how, meinem Kapital, meinem Engagementmachen kann, um meinen Beitrag zur Bewältigung derAufgabe zu leisten – und der Lösungsmöglichkeiten sindviele.Bundesminister Jürgen Trittin
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Ein neues Leitbild hat eine zweite Funktion – wirkennen das von Leitbildern, die unsere Gesellschaft inder Vergangenheit geprägt haben –: Es kann dazu füh-ren, dass traditionelle Denkmuster aufgebrochen wer-den, die die Suche nach neuen Lösungen bislang verhin-dert haben, und dass überkommene Verhaltensweisenüberprüft werden. – Wenn ich mir die Debatte heute an-schaue, muss ich sagen: Ich hatte immer die Hoffnung,dass man damit auch alte, sinnentleerte Rituale überBord wirft. Aber es dauert vielleicht noch ein bisschen,bis die Nachhaltigkeit auch hier angekommen ist. Ein neues Leitbild heißt vor allen Dingen: Entschei-dungen müssen anders getroffen werden als in der Ver-gangenheit. Denn wenn die alten Entscheidungen zu fal-schen Ergebnissen geführt haben, muss man schauen,wie neue getroffen werden können.Es ist unstreitig, dass wir am Übergang von der In-dustrie- zur Wissensgesellschaft stehen. Ich glaube,wir können nicht mehr sagen, dass Deutschland nur eineIndustriegesellschaft ist. Diese Phase haben wir schonein ganzes Stück weit hinter uns gelassen. Das ist abereine hervorragende Voraussetzung, denn nachhaltigeEntwicklung, die große neue Herausforderung brauchtneues Wissen für neue Produkte, für neue Verfahren, fürneue Technologien, für neue Dienstleistungen, aber ebenauch neue Einstellungen, Verhaltensmuster und Kon-sumgewohnheiten genauso wie neue Planungs- und Ent-scheidungsverfahren sowie neue Partizipationsmodelle.
Damit wird eines ganz deutlich, nämlich dass der ei-gentliche Schlüssel für Nachhaltigkeit oder Zukunftsfä-higkeit – der Begriff gefällt mir besser – Innovationheißt, und zwar in einem sehr umfassenden Sinne. Ge-fragt sind natürlich technologische Innovationen. Undich darf, Frau Kollegin Homburger, an dieser Stelle dar-an erinnern, dass es meine Fraktion war, die darauf ge-drängt hat, das Thema Innovation, auch technologischeInnovation, in der Kommissionsarbeit als einen Schwer-punkt zu behandeln. Das haben wir zum Teil gegen Wi-derstände aus Ihren Reihen gemacht; einige von Ihnenhätten lieber eine längere Grundsatzdebatte gehabt, alssich beispielsweise mit solchen Fragen zu beschäftigen.Manchmal sollte man die Menschen aufklären, bevor einMythos über die Kommissionsarbeit verbreitet wird.
– Ich habe mit dem Kollegen von Gleich gerade an die-ser Stelle ausgesprochen gut zusammengearbeitet. Dasswir als Beispiel das Thema Informationstechnik gewählthaben und heute Nachmittag einen Antrag zur nachhal-tigen Strategie im Bereich der Informationstechnik aufden Tisch legen, ist das Ergebnis von rot-grüner Zu-sammenarbeit in der Enquete-Kommission. DiesesThema haben wir gegen Widerstände aus Ihren Reihendurchgesetzt.
Sie haben mich dazu gebracht, auch über diesen Punktan dieser Stelle einmal die Wahrheit auszusprechen. –Aber nicht nur technologische, sondern auch soziale undinstitutionelle Innovation ist wichtig.Innovation heißt jedoch, dass man neues Wissen auchanwendet. Das hat eine ganz entscheidende Vorausset-zung: dass man lernfähig ist, damit man Dinge wirklichanders machen kann, als man sie in der Vergangenheitbetrieben hat. Nachhaltigkeit und Innovationsfähigkeitsind zwei Seiten einer Medaille. Lernfähigkeit ist dasBindeglied. Sie wird von der gesamten Gesellschaft er-wartet, aber auch von jedem Einzelnen, egal, an welcherStelle er steht und Verantwortung trägt. Ressourcen-schonung und Umweltschutz nicht mehr als Hemmnis,sondern als Chance für wirtschaftliche Leistungsfähig-keit, soziale Stabilität und Schaffung von Arbeitsplätzenzu begreifen, das ist der Kern der neuen Lernfähigkeit,die gefragt ist.
Wenn wir uns im Lande umschauen, stellen wir fest,dass viele Menschen viel gelernt haben und nun anpa-cken. Die Unternehmer, gerade die kleinen und mittel-ständischen, begreifen in zunehmender Zahl, dass Öko-logie Langfristökonomie ist. In Städten und Gemeindenarbeiten viele engagierte Menschen an der Lokalen A-genda. In Schulen, Kirchengemeinden, Vereinen, Ini-tiativen und Gewerkschaften sind ganz engagierte Men-schen dabei, zu schauen, wie sie eine Facette der Prob-lemlösung zustande bringen können. Sie warten darauf,und das seit vielen Jahren – das haben wir auch in derEnquete-Kommission immer wieder erfahren müssen –,dass „die da oben“, also die, welche in Bonn regierenund im Parlament sitzen, endlich etwas von der Lernfä-higkeit und Entscheidungsfähigkeit im neuen Sinne anden Tag legen.Dazu kann ich Ihnen sagen: Wir in der rot-grünen Koali-tion, in der Bundesregierung folgen der Devise ErichKästners: „Es gibt nichts Gutes außer: Man tut es.“ Wirreden nicht nur von Nachhaltigkeit und Innovationsfä-higkeit, sondern wir gehen diese Grundsätze alltäglichganz praktisch an.
Sie haben vorhin gefragt, wo die Bundesregierungüberhaupt etwas tut. Darauf will ich Ihnen antworten:Eine erste Neuerung ist ja schon, dass man nicht nur ü-ber Dinge redet und sie verspricht, sondern dass manseine Versprechen auch hält. Das kannten die Menschenin der Vergangenheit nicht unbedingt. Die Koalitionsfraktionen haben ihre Arbeitsstrukturengeschaffen, und die Bundesregierung hat natürlich mitder Umsetzung der Empfehlungen der Enquete-Kommission begonnen. Die nationale Nachhaltigkeits-strategie ist in Angriff genommen worden; Herr MinisterTrittin hat sich soeben dazu geäußert. Dazu will ich Ih-nen sagen: Selbstverständlich gehört ein Stück weit Ursula Burchardt
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dazu, dass wir das, was im Bericht der Enquete-Kommission steht, noch präzisieren müssen. Denn auchdas dort Niedergeschriebene ist hinreichend unkonkret.Wir müssen sehen, wie wir die Empfehlungen so zu-schneiden können, dass die Umsetzung den Anforderun-gen entspricht. Die Umsetzung der Empfehlungen ist Chefsache ge-worden. Das ist etwas wirklich Neues; diese Forderungist erfüllt. Die Staatssekretärsrunde ist schon erwähntworden. Damit wird deutlich, dass die Umsetzung wirk-lich als Querschnittsaufgabe organisiert wird. DieFachministerien werden in die Pflicht genommen. Dabeimuss der Grundsatz gelten: so viel Ressortver-antwortung wie möglich, so viel Koordination wie nötig. An vielen anderen Stellen hat die Bundesregierung inden vergangenen Monaten entscheidende Weichenstel-lungen im Hinblick auf eine Strategie der Zukunftsfä-higkeit vorgenommen. Frau Kollegin Reinhardt, dasletzte Jahr war kein verlorenes Jahr. Wir sanieren dieStaatsfinanzen und die Systeme der sozialen Sicherungin Solidarität mit den kommenden Generationen. Diesist eine ganz entscheidende Forderung des LeitbildesNachhaltigkeit. In unserer Steuerpolitik bilden sich diedrei Dimensionen der Nachhaltigkeit ab: Sie fördert so-ziale Gerechtigkeit, sie fördert die ökologische Moderni-sierung und sie fördert die wirtschaftliche Wettbewerbs-fähigkeit. Sie ist also eine nachhaltige Steuerpolitik parexcellence. Sie sollten einfach einmal anerkennen, dasswir an dieser Stelle unsere Hausaufgaben gemacht ha-ben.
Die Energieversorgung wird Schritt für Schritt zu-kunftsfähig gemacht. Das, was den Charme der Nach-haltigkeitsstrategie ausmacht, das planvolle Handeln mitklaren Zielen, Schritten, Maßnahmen und der Benen-nung von Verantwortlichkeiten, diese neue Qualität vonRegierungsarbeit können Sie auch an anderen Stellenfeststellen. Sie ist Merkmal beispielsweise unserer Be-schäftigungspolitik – das können Sie erkennen, wennSie sich die beschäftigungspolitischen Leitlinien anse-hen –, genauso sehr aber auch Merkmal unserer Gleich-stellungspolitik. Ich bin sehr froh, dass hier heute auchdas Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Ju-gend vertreten ist. Ich möchte Sie auf Folgendes hinweisen: Sie werdenheute Nachmittag anlässlich der Debatte zur Informati-onstechnik merken, dass wir bei unserem Aktionspro-gramm Informationstechnik auch die Nachhaltigkeit be-rücksichtigt haben, also eine nachhaltige Informations-strategie verfolgen. Wenn Sie sich genauer ansehen,welche Eckpunkte die Justizministerin im Hinblick aufein neues Mietrecht vorgelegt hat, dann werden Sie fest-stellen, dass das Mietrecht im nachhaltigen Sinne sozialund ökologisch gestaltet wird, weil das Erfordernis derEnergieeinsparung berücksichtigt worden ist.
Frau Kollegin, Sie
haben Ihre Redezeit weit überschritten. Ich möchte Sie
bitten, zum Schluss zu kommen.
Das ist das Neue, was wir
umsetzen.
Wenn ich sage, Sie sollten die alten Rituale aufgeben,
dann gehört dazu auch, heute nicht die Benzinpreise der
70er-Jahre zu propagieren. Das ist ein Handeln nach
dem Prinzip „Rückwärts in die Vergangenheit“. Das hat
mit Nachhaltigkeit nichts zu tun. Streiten Sie lieber mit
uns über die großen Schritte, darüber, wie wir die ge-
samte Gesellschaft neu organisieren können.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Georg Girisch.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! In der vergangenenLegislaturperiode wurde die Enquete-Kommission„Schutz des Menschen und der Umwelt“ eingerichtet.Der jetzt vorliegende Abschlussbericht umfasst250 Seiten. Hierzu möchte ich Ihnen einige, mir persön-lich wichtig erscheinende Gesichtspunkte aufzeigen. Der zentrale Begriff des Berichtes ist Nachhaltigkeit.Mit dieser Übersetzung des englischen Vertragstextesder Konferenz von Rio von 1992 griff man auf einenBegriff aus der Forstwirtschaft des 19. Jahrhunderts zu-rück: Der Einschlag aus einem Waldstück sollte nichthöher sein als der nachwachsende Bestand. Heute bedeutet Nachhaltigkeit neue Formen der Ent-wicklung, wobei diese dauerhaft sowohl ökologisch alsauch ökonomisch und sozial verträglich sein soll. Nach-haltige Entwicklung heißt, den Bedürfnissen der heuti-gen Generation zu genügen, ohne die Möglichkeit künf-tiger Generationen zu behindern, ihren eigenen Bedürf-nissen Rechnung zu tragen. Griffig formuliert bedeutetdies: Wir müssen unseren Kindern und Enkelkindern ihre Lebens- und Zukunftschancen sichern.Der Blick über den Tellerrand hinaus ist heute not-wendiger denn je. Die Maxime allen Handelns musssein, heute die Weichen für morgen richtig zu stellen.Die Arbeit der Enquete-Kommission war deshalb richtigund wichtig. Sie hat nämlich nicht nur den Begriff derNachhaltigkeit ausgeleuchtet, sondern auch mehrereThemen ausführlich behandelt, von denen alle Men-schen betroffen sind: erstens die Versauerung von Bö-den, zweitens den Bereich Bauen und Wohnen, drittensdie Informations- und Kommunikationstechniken. Dabeiist sie zu folgenden Empfehlungen gekommen – wobeibetont werden muss, dass keine besserwisserische Be-vormundung der Menschen erfolgen soll, sondern dasPrinzip der Subsidiarität gelten muss –
Erstens. Ziel ist die dauerhafte Erhaltung der Funkti-onsfähigkeit des Bodens. Bebauung und Versiegelungsollen vermieden, die ökologisch orientierte Landwirt-schaft soll gefördert werden. Dies kann zum Beispielkonkret durch die Festlegung eines Verhältnisses vonUrsula Burchardt
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Tierbestandsobergrenzen zur Fläche erfolgen, das einenRaubbau an der Natur ausschließt. Zweitens. Angestrebt wird die Stadt der kurzen We-ge. Es soll lieber saniert als neu gebaut werden. Auchsoll mit Energiekennzahlen beim Hausbau ökologischesBauen gefördert werden. Langfristiges Ziel ist der Aus-gleich zwischen Wohnbedürfnis und Material- und Flä-chenverbrauch.Drittens. Im Rahmen der technischen Entwicklungwerden einerseits die Minimierung des Energie-verbrauchs und die Verringerung von Elektronikschrottangestrebt. Andererseits muss verantwortlich mit demFaktor Mensch umgegangen werden. So können derFachkräftemangel durch neue Aus- und Weiterbil-dungsangebote behoben und der freie Zugang zu Infor-mations- und Kommunikationsquellen effizienter ge-macht werden.Wie schon erwähnt, dürfen Umweltziele nicht unab-hängig von ihren sozialen und wirtschaftlichen Folgenformuliert werden. Unsere technologische Leistungsfä-higkeit ist auch für den Umweltschutz Voraussetzung.Ökologie, Ökonomie und Soziales müssen im Kontextbehandelt werden.
Wird dies versäumt, besteht die Gefahr, dass langfristigeUmweltinvestitionen kleine und mittlere Betriebe über-fordern. Schon das Stabilitätsgesetz von 1967 kennt dasfür die Nachhaltigkeit so bedeutende Ressort übergrei-fende Zusammenspiel der Kräfte. Bereits 1997 fordertedeswegen die Deutsche Bundesbank: Die Haushaltskon-solidierung muss verstärkt werden. Dies gilt unter demBlickwinkel der Nachhaltigkeit auch für die Systemeunserer sozialen Sicherung. Zur Koordinierung der Bemühungen auf diesem Gebietschlägt der Umweltausschuss einstimmig vor, einen Ratfür nachhaltige Entwicklung einzurichten. Er würdevon sich aus tätig werden und über die Legislaturperiodehinaus im Amt bleiben. Hervorheben möchte ich, dassdabei – neben einer Bestandsaufnahme – nicht verord-net, sondern angeregt werden soll. Nachhaltigkeit ist einfortwährender Lernprozess, der nicht befohlen werdenkann. Ein Diktat von oben wäre unweigerlich zumScheitern verurteilt und entspricht auch nicht unseremPolitikverständnis. Wichtiger als gesetzgeberischer Ak-tionismus ist die Übereinstimmung mit unserem Systemder sozialen Markwirtschaft. Daher ist die Schaffung ei-ner entsprechenden beratenden Institution notwendig.
Dem Staat bleibt es vorbehalten, Prozesse zur Mobili-sierung von Verantwortung in Gang zu setzen: mit demOrdnungsrecht, dem Abgabenrecht oder der Einbezie-hung und Bewertung von Umweltmanagement. Ichglaube, Bayern hat hier eine Vorreiterrolle übernommen,wie der Umweltpakt Bayern beweist. Dort ist das Zielein verstärkter Umweltschutz auf der Basis von Frei-willigkeit, Eigenverantwortung und Kooperation. Dabeihandelt es sich um eine vertragsähnliche Vereinbarungauf Gegenseitigkeit, in der sich Wirtschaft, Staat, Ver-bände und Organisationen zu freiwilligen zusätzlichenLeistungen für den Umweltschutz verpflichten.
Der Pakt umfasst Finanzhilfen bei der Altlastensanie-rung, Umweltberatung, aber auch Deregulierung, Ver-ringerung der staatlichen Kontrolldichte, und ein nach-gewiesenes funktionsfähiges Umweltmanagement.Nach dieser kurzen, beispielhaften Darstellung kom-me ich zum Schluss. Durch den Bund sollten Länderund Kommunen mit ihren kommunalen Agenden 21eingebunden werden. Auch bei diesem Prozess hat dieCSU in Bayern schon gute Vorarbeiten geleistet, indemdie Staatsregierung als erste Landesregierung regionaleAgenden geschaffen hat. Ich glaube, die Menschen müs-sen ein altes bäuerliches Prinzip, nämlich das Prinzip„Bebauen und bewahren“, neu entdecken.
Wenn damals für dieses nachhaltige Wirtschaften diepraktische Zukunftsvorsorge für Kinder und Enkel derGrund war, so sehen wir uns heute auch für die gesamteWeltbevölkerung in der Verpflichtung. Ökonomie, Öko-logie und soziale Verantwortung stehen nicht unweiger-lich im Widerspruch, sondern können in Gleichklanggebracht werden. Hier ist der Staat gefordert, einenbrauchbaren Rahmen zu schaffen. Vermieden werdensollten aber zunehmende Regulierungen.Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren,wird die Arbeitsgruppe der CDU/CSU im Umweltaus-schuss die Annahme der Beschlussvorlage in der vorlie-genden Form vorschlagen.Herzlichen Dank.
Herr Kollege Gi-
risch, das war Ihre erste Rede im Parlament. Ich darf Ih-
nen dazu im Namen des Hauses gratulieren.
Nunmehr gebe ich das Wort dem Kollegen Reinhold
Hemker für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen! Liebe Kollegen! Ich habe am 5. Novemberletzten Jahres im Rahmen der Aussprache zur Regierungserklärung anlässlich der5. Vertragsstaatenkonferenz der Klimarahmenkon-vention Vizepräsidentin Bläss in diesem Hause symbo-lisch einen Solarrechner und ein kleines Paket Kaffeeaus biologisch-organischem Anbau übergeben. DieserKaffee wird im Rahmen des fairen Handels vermarktet.Das „Transfair“-Siegel zeigt, dass Grundsätze der Nach-haltigkeit berücksichtigt werden, und zwar global.Georg Girisch
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Auf die Gestaltungsaufgabe Globalisierung verweistder heute hier diskutierte Bericht sehr nachdrücklich.Nur wenn man das Nachhaltigkeitsprinzip als Quer-schnittsaufgabe weltweit für alle Bereiche von der Pro-duktion bis zur Vermarktung für den praktischen Voll-zug im Alltag begreift, kann das, was nun schon seitJahren immer wieder gefordert wird, Schritt für Schritterreicht werden.
Beispiele für engagiertes Handeln gibt es genug. Ichnenne nur das zivilgesellschaftliche Engagement in derWirtschaft. Ich stelle fest: Weltweit sind immer mehrMenschen darum bemüht, sich bei der Produktion vonNahrungsmitteln, zum Beispiel beim Kaffee, und in derNutzung der erneuerbaren Energien, wie zum Beispielder Solartechnik, zu engagieren. Diese Menschen erwar-ten von uns als den politisch Verantwortlichen Glaub-würdigkeit auch und gerade in diesem Sinne. Es vergehtbei mir in der praktischen Beratungsarbeit, die ich fürverschiedene Nichtregierungsorganisationen weltweitwahrnehme, kein Gespräch mit Partnern aus Afrika, A-sien oder Lateinamerika, in dem die Vereinbarungen derRio-Konferenz und der danach durchgeführten Weltkon-ferenzen im Hinblick auf die langfristige Tragfähigkeitder Projekte der Entwicklungszusammenarbeit keineRolle spielen würden. Dabei hatte und hat auch die Frage der Welternäh-rung nach wie vor eine herausragende Bedeutung. Ichstelle in diesem Zusammenhang fest: Flächen für eineErweiterung des Anbaus von Nahrungs- und Futtermit-teln stehen nur sehr begrenzt zur Verfügung. Ferner ge-hen immer mehr Flächen verloren, weil der Anbau nichtnach Grundsätzen der Nachhaltigkeit erfolgt und nachwie vor Überweidung stattfindet, die zu weiterer Erosionführt. Immer noch ist für viele, insbesondere arme Länder,der Futter- und Nahrungsmittelexport die wichtigste,wenn nicht gar einzige Einnahmequelle für Devisen.Wenn dies nicht über internationale Vereinbarungen, ei-ne sinnvollere Politik der Entwicklungszusammenarbeitund der Agrar- und Ernährungspolitik geändert wird,werden die Armuts- und Hungerbedingungen zu weite-ren Konflikten führen. Das Konfliktpotenzial wird sichvergrößern.Darum ist es wichtig und richtig, dass die Bundesre-gierung nun verstärkt versucht, Einfluss auf die Struk-turanpassungsprogramme in den angesprochenen Ge-bieten dieser Welt zu nehmen. Was nutzt es, wenn im-mer mehr Mittel für die Exportförderung ausgegebenwerden, teilweise im Zusammenhang mit einer belasten-den Kreditfinanzierung, und die Eigenversorgung ausnachhaltiger Produktion und Verarbeitung zurückgeht?Ich bin immer wieder erschrocken, wenn ich sehe, wieviele Länder mit eigentlich fruchtbaren Böden Nah-rungsmittel importieren bzw. importieren müssen undimmer wieder aus den Überschussbeständen reicherLänder versorgt werden. Solange diejenigen in Übereinstimmung mit derFAO, der Ernährungs- und Agrarorganisation der Ver-einten Nationen, hier nicht richtig investieren, die inves-tieren können, wird dem Grundsatz der Nachhaltigkeitnicht entsprochen und auch dem Grundsatz der Kohä-renz nicht.Ich verweise auf die Ergebnisse der öffentlichen An-hörung zum Thema Welternährung in der letzten Legis-laturperiode sowie auf die vielfältigen Hinweise, diedamals im Parlament aus Anlass des Welternährungs-gipfels gegeben worden sind. Die Überlegungen zurWeltmarktorientierung unter dem Aspekt der Liberali-sierung im Hinblick auf die WTO-II-Runde sind beson-ders nach den eindeutigen Signalen aus Seattle kritischzu überdenken. Auch hier gibt der Bericht wichtigeHinweise für die Produktionsbedingungen von Agrar-produkten. Ich frage in diesem Zusammenhang: Wem nützt dieWeltmarkterschließung bei Landwirtschaft und Ernäh-rung? Wir wissen zum Beispiel, dass 20 Prozent derWeltbevölkerung immer mehr Konsumgüter aus immerentfernter gelegenen Gebieten erhalten. Dies hat mitnachhaltiger, schöpfungsbewahrender Entwicklung we-nig zu tun, zumal für große Teile der restlichen80 Prozent der Weltbevölkerung die Nahrungsversor-gung unter den genannten Rahmenbedingungen nur un-zureichend möglich ist. Genau an dieser Stelle muss dieNachhaltigkeitsstrategie ansetzen.
Außerdem muss man sich nicht wundern, wenn dieZerstörung der lebenssichernden Grundlagen der Naturweiterhin betrieben wird. Wer keinen Boden zur Verfü-gung hat bzw. nicht mehr zur Verfügung hat, auf demNahrungsmittel angebaut werden könnten, der greiftauch zu den letzten Gräsern, Baumrinden und Wurzeln,aus denen eigentlich noch etwas wachsen sollte. Wer keinen Zugang zu anderen Brennstoffen hat, derversucht, das Wasser für den Maisbrei oder den Reis, oftdas einzige Nahrungsmittel, mit den letzten, oft mühsamherbeigeschafften Holzstücken zum Kochen zu bringen.Für eine echte Nachhaltigkeitswende – so nenne iches einmal – sehe ich im Augenblick noch keine wirkli-chen Anzeichen, zumindest was die globale Perspektiveunter Einbeziehung der meisten armen Länder in Afrika,Asien und Lateinamerika angeht. Die im Bericht er-wähnten Nachhaltigkeitsindikatoren, wie sie die Kom-mission für nachhaltige Entwicklung der UNO be-schreibt, werden weltweit bei der praktischen Arbeitnoch zu wenig berücksichtigt.
Ich halte allerdings die Neuorientierung der Bundesre-gierung in diesem Bereich für richtig. Sie gibt es, auchwenn die Sprecherinnen und Sprecher der Oppositiondas wortreich ignoriert haben.Die Bemühungen, stärker auf die Strukturanpas-sungsmaßnahmen von IWF und Weltbank Einfluss zunehmen, sind richtig; auch die deutlichen Hinweise fürdie WTO-II-Runde in Richtung Verbesserung der sozi-alen Standards sind deswegen zu begrüßen.
Reinhold Hemker
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7459
Ich hoffe nur, dass sich die Bundesregierung nicht dochvon den falschen Propheten aus den Entwicklungslän-dern und ihren Kumpanen aus den Industrieländern ver-unsichern lässt, die sich um Standortvorteile und derenjeweilige Nutznießung Sorgen machen und sich gegendie Bemühungen um mehr Nachhaltigkeit wenden.Ich sage: Wer „sustainable development“, also einelangfristig tragfähige Entwicklung, wirklich will, mussdie Umwelt- und Sozialverträglichkeit zur wesentlichenOrientierung seiner politischen Arbeit machen, und zwarweit über den Rahmen nationaler Politik hinaus, ja, sieist Teil des Einsatzes für die elementarenMenschenrechte, und zwar weltweit. Die Systematik desBerichtes – Einteilung in ökologische, ökonomische undsoziale Dimensionen – gibt wichtige Hinweise für dieVorgehensweise in diesem Bereich.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gilt, im Zusam-menhang der Gespräche über „good governance“ diesehr oft autoritären Staatsführer und Machteliten ausEntwicklungsländern, die sich mit bestimmten Interes-sengruppen der Industrieländer verbünden und gegendas Nachhaltigkeitsprinzip wenden, auf ihre Verantwor-tung hinzuweisen, die seit der Rio-Konferenz immerwieder herausgestellt wurde und wird. Die Agenda 21 –darauf ist hingewiesen worden – zeichnet die Hand-lungsperspektiven vor. Dabei gilt es, die positiven, jetztvon der Bundesregierung eingeschlagenen Wege weiterauszubauen und zu unterstützen.Ich habe zum Beispiel im April letzten Jahres in Cos-ta Rica wahrnehmen können, welche segensreichen Fol-gen die Umstellung des Kaffeeanbaus in mehreren Ge-nossenschaften auf ökologische Anbau- und Verarbei-tungsverfahren hat. Der Umstellungsprozess war und istnur möglich durch finanzielle Unterstützung im Rahmender Nord-Süd-Solidarität und die Vermarktungshilfendurch den fairen Handel. Ich habe in diesem Zusam-menhang Menschen auf einer Bananenplantage erlebt,auf der nicht mehr offen mit der Giftspritze hantiertwurde oder über die keine Sprühflugzeuge mehr flogen.Auch hier konnte ich gelebte Nord-Süd-Solidarität imSinne der Nachhaltigkeit erfahren. Das „Transfair“-Sie-gel durfte in der Verpackungsabteilung aufgeklebt wer-den. Im Hochland dieses kleinen mittelamerikanischenLandes wurde gerade ein Windpark erweitert, bei demdie GTZ bei der Gutachtenerstellung beteiligt war undMittel über die Kreditanstalt für Wiederaufbau bereitge-stellt wurden. Dies sind drei Beispiele, die aufzeigen,dass die Maßnahmen der Bundesregierung in die richti-ge Richtung gehen und im Sinne der heute hier diskutie-ren Nachhaltigkeitsstrategie sind.Es geht also um die richtige Prioritätensetzung. Esgeht aber auch um den Abbau von Vorurteilen und Vor-beurteilungen. Diejenigen, die immer wieder sagen:„Die wollen ja nicht mit Solarenergie kochen, die wollenan offenem Feuer brutzeln!“, die – jetzt meine ich die,die das sagen – verweigern im Grunde einen Dialog überdie Nutzungsmöglichkeiten der verschiedenen Anwen-dungsformen der solaren Energie.
Sie verkürzen die mögliche Betrachtung des gesamtenKomplexes der nachhaltigen Nutzung der Sonnenkraft.Hier wird dann zum Beispiel auch deutlich, welche in-terkulturellen Betrachtungsweisen im Diskurs gewähltwerden können und müssen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird noch vielFantasie und guter Wille eingesetzt werden müssen,wenn das Nachhaltigkeitsprinzip wirklich seinen Platzfinden und sich behaupten soll im Kontext einer solida-rischen Entwicklungszusammenarbeit und einer globa-len Agrarwirtschaft, der die langfristig tragfähige Ver-sorgung aller Menschen in allen Ländern der Welt um-fassen kann.Es wird seit der Rio-Konferenz viel von Handlungs-rahmen und Agenden gesprochen: Agenda 21, Agenda2000 für die EU-Politik der nächsten Jahre, Lokale A-genda. Ich gehe mit den engagierten Entwicklungs-,Agrar- und Umweltpolitikern nicht nur meiner Fraktiondavon aus, dass die verschiedenen Agenden nicht nurHandlungsrahmen bleiben, sondern auch unter das be-reits von Minister Trittin genannte Motto „Global den-ken, lokal handeln“ gestellt werden.In einer der letzten Publikationen der DEG, der Deut-schen Investitions- und Entwicklungsgesellschaft, heißtes: Die Eigendynamik der einzelnen Volkswirtschaftenzu fördern, bedeutet für uns auch, Umwelt- undRessourcenschutz aktiv zu beachten. In diesemSinne arbeiten wir am Einsatz umweltschonenderTechnologien und Managementverfahren und betei-ligen uns an der Entwicklung umweltpositiver Pro-jektideen, um nachhaltiges Wachstum und wirt-schaftlichen Erfolg in Einklang mit der Umwelt zufördern. Diese Aussage bedeutet Auftrag und Verpflichtungnicht nur für die DEG. Ich danke für Ihre Aufmerksam-keit und hoffe auf entsprechende Konsequenzen.
Als letzter Redner
in dieser Debatte spricht nun der Kollege Erich Fritz für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Als jemand, der zweiLegislaturperioden an dieser Kommission beteiligt war,freut man sich, wenn dann später sichtbar wird, dassFolgen aus dieser Arbeit in konkretes politisches Han-deln übertragen werden. Deshalb begrüße ich es, dassder Umweltausschuss einstimmig Empfehlungen vor-trägt, über die wir heute debattieren.Gleichzeitig fällt mir auf, dass hier überwiegendUmweltpolitiker sprechen, dass die Angelegenheit fe-derführend im Umweltausschuss behandelt worden ist,dass sie beim Umweltminister ressortiert und er deshalbhier in der Debatte das Kabinett vertritt und nicht etwader Bundeskanzler oder der Chef des Bundeskanzleram-Reinhold Hemker
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tes. Das heißt, es wird ganz deutlich, dass die Absichtbesteht, etwas zu ändern, dass aber die tatsächlichenVerhältnisse dem an vielen Stellen entgegenstehen.
Nachhaltigkeit ist ein altes Prinzip. Das ist hier deut-lich geworden. Aber ich glaube, es hat neue Zukunfts-perspektiven. Ich sehe das deshalb nicht so pessimistischwie der Kollege Hermann, der sagt: Im Prinzip sind dieLeute ein bisschen zu dumm oder noch nicht so weit undverstehen nicht, was damit zusammenhängt. Sie verste-hen es nicht in Form einer wissenschaftlichen Debatte;aber die Notwendigkeit, so zu handeln, wie es das Prin-zip Nachhaltigkeit erfordert, könnensehr viele nachvoll-ziehen. Es sind außerdem sehr viele auf dem Weg: in derWissenschaft, in der politischen Debatte, in den Kom-munen mit der Lokalen Agenda 21 und in den Unter-nehmen, in vielen, gerade neuen innovativen Unterneh-men mit einer ganz neuen Generation von Führungsper-sönlichkeiten, die schon deshalb einen ganz anderen Zu-gang zu diesem integrierten Denken haben, weil sie sichmit Medien befassen, die sie förmlich dazu zwingen undautomatisch auf diesen Weg führen. Deshalb, denke ich, haben wir alle Voraussetzungendafür, dass das, was die Enquete-Kommission versuchthat – wobei sie dann auch an ihre Grenzen gestoßen ist,weil es nicht möglich ist, die Integration und das Zu-sammendenken von Sachverhalten, die eigentlich not-wendig sind, zu leisten –, tatsächlich in so kompakterForm geschehen kann. Sie war aber hilfreich. Sie hatBegriffe und Ziele definiert, die jetzt in der weiterenDiskussion zur Basis der Gespräche geworden sind. Siehat Verständigung ermöglicht. Ich denke in diesem Zu-sammenhang an den Beginn der Enquete-Kommission,als wir noch vor Mauern von Leuten gestanden haben,die gar nicht mit uns sprechen wollten, weil sie den Ge-danken, mit dem wir uns da beschäftigten, für ganz ab-surd gehalten haben.Für besonders wichtig halte ich die Tatsache, dass dierein ökologisch zentrierte Frage zu einer Frage gewor-den ist, in der Ökonomie, Ökologie und soziales Lebenmiteinander verbunden werden. Das ist die eigentlicheAufgabe, vor der wir stehen. So verstanden ist für michNachhaltigkeit ein erweitertes Verständnis von sozialerMarktwirtschaft, weil nämlich die Frage der sozialenVerantwortung natürlich über die jetzt Lebenden hi-nausgeht. Das muss eigentlich für jeden, der über dieZusammenhänge nachdenkt, klar werden, weil sozialeVerantwortung auch Verantwortung für kommende Ge-nerationen und für deren Lebensverhältnisse verlangt.Das heißt also, wir müssen getrennte Aspekte zusam-mendenken. Dies fällt schwer, wie man weiß. Auch indieser Debatte ist es nicht durchgängig gelungen. Wir müssen Abhängigkeiten und Folgen besser ver-stehen und Wirkungszusammenhänge berücksichtigen.Wir müssen vielleicht parteipolitische Antworten in die-ser Diskussion weniger ernst nehmen, als wir dies bishertun, weil nämlich viele beteiligt sind, denen völlig egalist, von welcher Partei etwas ausgesprochen wird. Des-halb finde ich es nicht richtig, wenn in dieser Debatte al-les Mögliche als nachhaltig bezeichnet wird, wenn sozu-sagen versucht wird, den alten Wein aus den 70er- und80er-Jahren mit dem neuen Etikett „nachhaltig“ zu ver-sehen und so zu tun, als sei man der Integration desDenkens schon nahe gekommen. Das Gegenteil ist häu-fig der Fall: Wer das so macht, der drückt sich geradeum die verdammte Verpflichtung und Mühe, die Aspek-te zusammenzudenken. Einfach ist dieser Prozess nicht.
Die Interessen der natürlichen, der geistigen, der kul-turellen und der materiellen Welt zusammenzuführen,verlangt Nachhaltigkeit. Sie verlangt deshalb Menschen,die frei sind. Freiheit ist die Voraussetzung dafür, sichan solchen Prozessen zu beteiligen und die nötige Ver-antwortung zu übernehmen. Auf der anderen Seite ver-langt dieser Prozess Verantwortlichkeit, weil Freiheitpersonell, gesellschaftlich und durch die Natur begrenztist und begrenzt sein muss. Genau in diesem Spannungs-feld von Freiheit und Verantwortlichkeit bezüglich die-ser Prinzipien muss sich die Diskussion über die Nach-haltigkeit bewegen. Deshalb verlangt Nachhaltigkeit be-sondere Sorgfalt bezüglich der Rahmenbildung und derzu entwickelnden Regeln.Die Regeln sollen möglichst im Konsens entstehen.Es wird nie einen absoluten Konsens geben. Wir habenfestgestellt, dass wir auch in der Kommission an Stellengelangt sind, wo ein Konsens nicht mehr möglich war.Zu diesem sich in der Debatte abzeichnenden Grund-konsens gehört sinnvollerweise und notwendigerweiseein Diskurs, also die streitige Auseinandersetzung überdie richtigen Mittel und Wege. Wir müssen uns nichtschräg anschauen, wenn es unterschiedliche Vorstellun-gen gibt. Dies gehört dazu. Genau die Bereitschaft, dieunterschiedlichen Vorstellungen aufzunehmen, zeichnetheute dort, wo es funktioniert, die lokalen Agenden aus:Menschen, die vorher zusammengekommen sind, umaufeinander zu schimpfen, sind plötzlich in der Lage,einander zuzuhören und nachzuspüren, ob man nicht mitunterschiedlichen Begriffen sogar das Gleiche meinenund denken kann. Nachhaltigkeit verlangt im Rahmen der Regeln, dasswir uns um Akzeptanz bemühen. Der Erfolg einerNachhaltigkeitsstrategie hängt vom Entstehungsprozessab. Deshalb habe ich geschluckt, Herr Kollege Her-mann, als Sie vorhin sagten: Wir werden Ihnen eineStrategie präsentieren. Es zeugt von großem Selbstbe-wusstsein, wenn Sie sagen: Die Regierungsfraktionenwerden das schon machen. Aber dies entspricht nichtdem, was wir eigentlich wollen. Wenn wir den Men-schen etwas präsentieren, das sie schlucken sollen, dannwerden wir die notwendige Eigenverantwortlichkeit undMitwirkung nicht erreichen.
– Nein, ich habe Ihre Aussage gar nicht gewertet. Ichhabe nur darauf hingewiesen, dass ich geschluckt habe,als Sie es ausgesprochen haben. Ich hoffe, wir verstehenuns. Erich G. Fritz
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Die zu entwickelnden Regeln werden danach bewer-tet werden, welche Vorteile oder Nachteile sie demMenschen bringen. Die an diesem Prozess beteiligtenAkteure werden das höchst unterschiedlich empfinden.Selbst diese Akteure werden stärker als bisher gezwun-gen sein, jeweils die Position des anderen mitzudenken.Dies kann nicht mehr im Zusammenwirken großer Or-ganisationen erreicht werden, wie es jetzt im „Bündnisfür Arbeit“, das nach meiner Meinung nicht sinnvoll ist,versucht wird, weil große Organisationen immer dazutendieren, den Status quo zu verteidigen, soweit er ihnennützt, und weil sie immer bereit sein werden, höhere ge-sellschaftliche Kosten für einen größeren Vorteil für ihreMitglieder in Kauf zu nehmen.
Wir müssen anders vorgehen und eine viel breitere Basisfür den Prozess finden, der deshalb auch immer schwie-riger zu organisieren sein wird und der Geduld verlangtund nicht das vorschnelle Auftreten nach dem Motto:Ich habe die Antwort schon fertig. Es hat nämlich nie-mand - weder national noch international - eine fertigeAntwort. Bei diesem Regelwerk entscheidet sich, ob wir bereitsind, die Debatte darüber zu führen, ob Kurzzeit- oderLangzeitdenken im Vordergrund steht. Wenn wir dieseDebatte führen wollen, dann wird das bei vierjährigenWahlperioden etc. nicht einfach sein. Es ist ein An-spruch an Politik und Politikgestaltung gestellt, der einehohe Herausforderung ist. Man kann über die damit zu-sammenhängenden Schwierigkeiten nicht so einfachhinweggehen. Ich glaube deshalb, dass es sehr entschei-dend darauf ankommt, sich im weiteren Fortgang derDebatte über Nachhaltigkeit und eine Nachhaltigkeits-strategie in Deutschland darauf einzulassen - selbstwenn es experimentell ist -, neue Kommunikations– undSteuerungsmöglichkeiten zu erproben.Der von der Kommission vorgeschlagene Rat fürnachhaltige Entwicklung bringt vielleicht ein erstesSignal, aber noch nicht die Neuorientierung und schongar nicht die neue politische Gestaltung. Ich finde es gut,wenn man versucht, vom spezifischen zum integriertenDenken zu kommen.In Zukunft kommt es aber darauf an, dass sich politi-sches Handeln verändert. Deshalb müssen bestimmteAnforderungen an das Regelwerk gestellt werden. DieZielsetzungen, die in einem solchen Nachhaltigkeitspa-pier formuliert werden, müssen mit neuen, aber tenden-ziell weniger Regeln erreichbar sein, weil eine reineVermehrung der Regeln, um zusätzliche Effekte zu er-reichen, von den Menschen nicht mehr akzeptiert wird.Das merkt man in vielen anderen Politikbereichen. DieRegeln müssen Akzeptanz finden; also müssen sie über-zeugend sein und möglichst weit in die Verantwortungdes jeweils Handelnden gelegt werden. Der Einzel-mensch, der Verbraucher, der Mensch in seinen unter-schiedlichen Rollen - Freizeit, Beruf, Wohnen etc. - unddie gesellschaftlichen Organisationen müssen ernst ge-nommen werden und sich dort wiederfinden.Je weniger kompliziert diese Regelungen sind und jemehr sie mit alternativen Handlungsmöglichkeiten aus-gestattet sind, desto größer wird andererseits wieder dieAkzeptanz sein. Deshalb ist es richtig, eher Leitplankenzu formulieren, als Verordnungen zu erlassen. Es istbesser, freiwillige Vereinbarungen zu treffen, als Detail-regulierungen zu schaffen. Man sollte Regeln, die denMenschen Vorteile bringen, stärker berücksichtigen alssolche, die Sanktionen androhen, und Selbstverpflich-tungen stärker einfordern, weil sie die Konsequenz derfreien wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Betäti-gung sind. „Übereinkunft vor Anweisung“ muss dasMotto sein. Freiheit, Freiwilligkeit, aber auch die Fähig-keit zur Übernahme von Verantwortung müssen prägen-de Prinzipien der Umsetzung einer Nachhaltigkeitsstra-tegie sein. Deshalb wird es bei einem solchen Konzeptnicht damit getan sein, alles, was einem schon mal liebwar, zusammenzuschreiben. Ich habe in diesem Zusammenhang eine Bitte: Ach-ten Sie alle bei Ihren Anträgen und bei Ihren schriftli-chen Verlautbarungen zu allen möglichen Politikfelderndoch bitte darauf, dass Sie, weil wir noch kein besseresWort haben, den Begriff „Nachhaltigkeit“ nicht in derWeise entwerten, dass er schließlich für alles und nichtsverwendet wird.Herzlichen Dank.
Ich schließe dieAussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu dem Abschlussbericht der En-quete-Kommission zum „Konzept Nachhaltigkeit - VomLeitbild zur Umsetzung“, Drucksache 14/1470. DerAusschuss empfiehlt unter Ziffer 1, den Abschlussbe-richt auf Drucksache 13/11200 zur Kenntnis zu nehmen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Werstimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-fehlung ist einstimmig angenommen.Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Ziffer 2 sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/1470 dieAnnahme einer Entschließung. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen?– Die Beschlussempfehlung ist angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 e auf: a) Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenDr. Martin Mayer , Ilse Aigner,Maria Eichhorn, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSU Zur Nutzung und Anwendung der neuen Me-dien in Deutschland – Chancen in der Infor-mationsgesellschaft – Drucksachen 14/1031, 14/1866 –Erich G. Fritz
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b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierung Bericht der Bundesregierung über die Erfah-rungen und Entwicklungen bei den neuen In-formations- und Kommunikationsdiensten imZusammenhang mit der Umsetzung des In-formations- und Kommunikationsdienste-Ge-setzes
– Drucksache 14/1191 –Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierung Aktionsprogramm der Bundesregierung Innovation und Arbeitsplätze in der Informa-tionsgesellschaft des 21. Jahrhunderts – Drucksache 14/1776 –Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Joachim Otto , Dr. Wolfgang Gerhardt, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion der F.D.P. Offene Medienordnung für Deutschland ver-wirklichen – Drucksache 14/2362 –Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien
Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie e) Beratung des Antrags der Abgeordneten UrsulaBurchardt, Jörg Tauss, Klaus Barthel ,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Hans-Josef Fell,Matthias Berninger, Kerstin Müller , Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Strategie für eine Nachhaltige Informations-technik – Drucksache 14/2390 –Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-cherheitNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort demBundesminister für Wirtschaft und Technologie, WernerMüller.
Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie: Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Wir befinden uns in Deutschland gegenwärtigmitten im Wandel von der Industriegesellschaft zur In-formations- und Wissensgesellschaft. Die neuen Infor-mationstechnologien und Netze beeinflussen mittlerwei-le fast alle Bereiche des Privatlebens und nahezu die ge-samte Arbeitswelt. Aus ökonomischer Sicht ist in diesem Zusammen-hang wichtig zu erkennen, dass die Informations- undKommunikationstechnologien weltweit zu den wichtigs-ten Impulsgebern für wirtschaftliches Wachstum undBeschäftigung zählen. Im vergangenen Jahr erzielte inDeutschland die informations- und kommunikations-technische Industrie einen Umsatz von 205 MilliardenDM. Die Informationsindustrie beschäftigt derzeit be-reits 1,7 Millionen Menschen. Schätzungen zufolgekönnen allein im Bereich von Multimedia bis zum Jahre2002 bis zu 370 000 neue Arbeitsplätze geschaffen wer-den, wenn die Weichen richtig gestellt werden. ImWettbewerb der Unternehmen und der Nationen zähltnicht mehr allein die wirtschaftliche Größe. Die Inter-net-Werte des Neuen Marktes zeigen deutlich, dass Fle-xibilität und Schnelligkeit bei der Erschließung innova-tiver Geschäftsfelder zu den bestimmenden Faktorenwerden. Vor diesem Hintergrund ist es das erklärte Ziel derPolitik der Bundesregierung, Deutschland einen Spit-zenplatz in der internationalen Informationsgesellschaftzu sichern.
Diesem Ziel dient das im September letzten Jahres vor-gelegte Aktionsprogramm der Bundesregierung „Inno-vation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaftdes 21. Jahrhunderts“.Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die Si-cherung eines hohen zukunftsfähigen Beschäftigungsni-veaus in der Bundesrepublik Deutschland sind die ent-scheidenden Herausforderungen der nächsten Jahre.
Vizepräsident Rudolf Seiters
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Zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gehört zwingendauch, in unserem Land den Übergang von der Industrie-zur Informationsgesellschaft noch rascher als bisher zumeistern und damit neue Beschäftigungspotenziale zuerschließen. Für die Bundesregierung hat daher die be-schleunigte Nutzung und Verbreitung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien wirt-schafts-, forschungs-, technologie- und bildungspoliti-sche Priorität.
Das Aktionsprogramm stellt deutlich die wirt-schaftspolitischen Chancen für unser Land heraus, diemit dem Wandel zur Informationsgesellschaft verbundensind. Die Verbesserung des Zugangs zu den neuen Me-dien und dem Internet, der weitere Ausbau der Infra-struktur und die Fortentwicklung der rechtlichen Rah-menbedingungen, zum Beispiel im Daten- und Verbrau-cherschutz sind daher wichtige Handlungsschwerpunktedes Programms.
Um Deutschland einen Spitzenplatz im digitalen Zeital-ter zu sichern, haben wir das Aktionsprogramm mitkonkreten Zielmarken versehen, die wir durch ge-meinsame Anstrengungen von Politik, Wirtschaft undGesellschaft innerhalb der nächsten fünf Jahre erreichenwollen und an denen wir uns dann auch messen lassenwollen. Folgende konkrete Ziele möchte ich hier heraus-stellen: Wir wollen die Anzahl der Internetanschlüsse in derBevölkerung auf einen Wert von über 40 Prozent biszum Jahre 2005 steigern. Dazu wollen wir unter ande-rem eine breit angelegte Demonstrations- und Informa-tionskampagne „Internet für alle“ starten. Wir wollen Vertrauen und Sicherheit durchverbesserte rechtliche Rahmenbedingungen schaffen.Das Informations- und Kommunikationsdienste-Ge-setz hat eine wichtige Grundlage für die Entwicklungvon E-Commerce in Deutschland gelegt und dieinternationale Diskussion zu EU- und weltweitenRegelungen für die neuen Dienste maßgeblichmitbestimmt. Die moderne Ausgestaltung des Gesetzeshat auch zu einer breiten Akzeptanz neuer Medien inDeutschland geführt. Damit wurden verlässlicherechtliche Rahmenbedingungen für Anbieter und Nutzergeschaffen. Wie der Ihnen im letzten Jahr vorgelegteEvaluierungsbericht zum Informations- undKommunikationsdienste-Gesetz zeigt, hat sich eingrundlegender Novellierungsbedarf hierzu bisher nichtergeben. Es wurde aber auch deutlich, dass in einzelnen Rege-lungsbereichen, insbesondere beim Verbraucherschutzund beim Jugendschutz, gesetzlicher Anpassungsbedarfbesteht, um die Akzeptanz der neuen Dienste auf derNutzerseite zu erhöhen und die Bedingungen für die In-formationsgesellschaft in diesem Bereich zu verbessern.Hier möchten wir also neue Akzente setzen.Im Datenschutz müssen die verschiedenen Regelun-gen besser aufeinander abgestimmt und damit mehrTransparenz für die Anbieter geschaffen werden.
Wir wollen den Ordnungsrahmen für Information,Kommunikation und Medien mit Blick auf die Globali-sierung der Märkte und die Konvergenz der einzelnenBranchen fortentwickeln. Hierzu werden wir in Gesprä-che mit den Ländern eintreten, um unter Wahrung derjeweiligen Kompetenzen einen zukunftsfähigen Rechts-rahmen zu erarbeiten.Die Bundesregierung will die Zahl der Multimedia-Unternehmen deutlich steigern und vor allem kleinenund mittleren Unternehmen den Einstieg in den elektro-nischen Geschäftsverkehr erleichtern. Hierzu werdenwir unter anderem die Beratung und Information vonkleinen und mittleren Unternehmen durch die „Kompe-tenzzentren Elektronischer Geschäftsverkehr“ fortset-zen.
Ferner wollen wir Anreize für eine neue Gründerwelle,zum Beispiel mit dem „Gründerwettbewerb Multime-dia“, schaffen. Die innovativen Unternehmen wollen wirmit einem jährlichen Internet-Preis auszeichnen, dererstmals auf der CeBIT 2000 vergeben wird.
Wir wollen die Verbreitung neuer Technologiendurch eine intelligente Regulierungspolitik fördern. In-novationen in der Telekommunikation sollen größtmög-liche Entfaltungsspielräume enthalten. Für die dritte Ge-neration Mobilfunk, UMTS, mit der auch das drahtloseInternet möglich wird, wollen wir die Lizenzvergabe indiesem Jahr durchführen.Mit unserem Aktionsprogramm haben wir eineGrundlage geschaffen, auf der auch andere Initiativenaufbauen können. Die Diskussionen mit der Wirtschaftund den Gewerkschaften im Rahmen des „Bündnissesfür Arbeit“ sowie die anlaufenden Projekte der im Julimit maßgeblicher Unterstützung des Bundeskanzlers ge-starteten Initiative „Deutschland 21 – Aufbruch in dasInformationszeitalter“ sollen hier zusätzliche Impulseerhalten.Wir haben auch deutlich die Chancen herausgestellt,die mit der Anwendung der neuen Technologien in Ge-sellschaft und Staat für Bürgerinnen und Bürger ver-bunden sind. Hierzu zählen zum Beispiel innovativeAnwendungen im Gesundheitswesen und in der Ver-kehrstelematik sowie die Verbesserung der Qualitätstaatlicher Dienstleistungen für Bürgerinnen und Bürgerund gerade auch für Unternehmen etwa durch die elekt-ronische Steuerverwaltung.Die Politik der Bundesregierung zielt ferner daraufab, die Potenziale auszunutzen, die mit der Entwicklungund Einführung der neuen Technologien für eineökologische Modernisierung verbunden sind. Hier greift das Aktionsprogramm wesentliche Vorschlä-ge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen für denverstärkten Einsatz von Multimedia für Umweltschutzund nachhaltige Entwicklung auf.Bundesminister Dr. Werner Müller
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Die Herausforderungen der Informationsgesellschaftwerden wir aber nur meistern, wenn wir mit einer mo-dernen Bildungs- und Forschungslandschaft einenkompetenten Umgang mit den neuen Medien und derUmwandlung von Information in Wissen sicherstellen;
denn – das ist vielleicht die größte Aufgabe, die wir allezusammen meistern müssen – es darf auf lange Sichtkeine Spaltung der Gesellschaft in Menschen mit Zu-gang zu den neuen Informations- und Kommunikations-angeboten und in jene geben, die nicht im Netz sind.
Dazu müssen wir alle Chancen wahrnehmen, die mitder Anwendung der neuen Technologien in Gesellschaftund Staat im Sinne eines lebenslangen Lernens für Bür-gerinnen und Bürger verbunden sind. Wir müssen dafürsorgen, dass die Ressource Wissen wirklich zunimmt,und unser Bildungswesen für die dynamischen Entwick-lungen unserer Gesellschaft fit machen. Meine KolleginBulmahn hat mit dem „Forum Bildung“ hier einen gutenAnfang gemacht.Die umfangreichen Initiativen und Maßnahmen zurFörderung der Nutzung der neuen Medien auf nationa-ler, europäischer und internationaler Ebene hat die Bun-desregierung auch in ihrer Antwort auf die Große An-frage der CDU/CSU-Fraktion „Zur Nutzung und An-wendung der neuen Medien in Deutschland – Chancenin der Informationsgesellschaft“ nochmals ausführlichdargestellt.Mit der erfolgreichen Bewältigung des Jahr-2000-Problems sind wir sicher in das 21. Jahrhundert gestar-tet. Lassen Sie mich an dieser Stelle allen, die bei derBewältigung dieses Problems bzw. bei der Vorbereitungzur Bewältigung dieses Problems mitgewirkt haben,herzlich danken.
Trotz der teilweise Katastrophen voraussagenden Prog-nosen ist der Erfolg wegen der Vorbereitung zur Bewäl-tigung dieses Problem, die die Bundesregierung – imGegensatz zu der einen oder anderen laut gewordenenKritik – still und effizient zusammen mit allen relevan-ten Gruppen insbesondere in der Wirtschaft und in derVerwaltung mit vorangetrieben hat, letztendlich so ein-getreten, dass alle Katastrophenprognostiker eines Bes-seren belehrt wurden. Ausdrücklich noch einmal einenherzlichen Dank an alle, die die Vorbereitungsarbeit ge-leistet haben, und im Übrigen an alle, die sich in dieserNacht in Bereitschaft gehalten haben.
Wir sind also nun im 21. Jahrhundert angekommen.Es wird das Informations- und Wissenszeitalter werden.Jetzt gilt es, die Chancen der neuen Medien in einer In-novationspartnerschaft zwischen Politik, Wirtschaft undGesellschaft entschlossen zu nutzen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Martin Mayer.
FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Der Weg insneue Jahrhundert ist der Weg in die Informationsgesell-schaft. Die Stellung Deutschlands in der Welt und dieWirtschaftskraft Deutschlands werden im Wesentlichendavon abhängen, wie wir diesen Weg in Deutschlandgestalten. Das wäre Anlass genug, eine Debatte imDeutschen Bundestag zu führen, die wahrlich mehr Zu-hörer verdient. Der unmittelbare Anlass dieser Debatteaber sind drei Dokumente, die die Bundesregierung vor-gelegt hat. Das erste Dokument ist der Evaluierungsberichtvom Juni zum Informations- und Kommunikations-dienste-Gesetz von 1997. Man kann die Äußerung derBundesregierung ganz kurz folgendermaßen zusammen-fassen: Die Bundesregierung prüft und sie wird weiterprüfen. – Es finden sich nur marginale Änderungsvor-schläge zu diesem Gesetz, das ja die frühere Koalitionauf den Weg gebracht hat. Man kann sagen, dass diesein sehr großes Kompliment an die unionsgeführte Re-gierung ist, die dieses Gesetz damals gegen den teilwei-sen Widerstand der SPD durchgesetzt hat.
Zum zweiten Dokument. Zur Antwort der Bundes-regierung auf die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion kann man nur sagen: Welche Antwort! Um dieentscheidenden Fragen drückt sich die Bundesregierungherum.
Ich will mich deshalb überwiegend mit dem drittenDokument auseinandersetzen, nämlich mit dem Akti-onsprogramm der Bundesregierung „Innovation undArbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21.Jahrhunderts“.
– Warten Sie ab. – In diesem Papier hat die Bundesre-gierung ihre Ziele und Aktionen festgelegt. Herr Bun-desminister, Sie haben ja wenigstens schon eine Aussa-ge, die ich zitieren möchte, korrigiert. In dem Aktions-programm steht nämlich der Satz zu lesen – ich zitiere –:Die Vision der Bundesregierung für die Zukunft ist,Deutschland in der Informationswirtschaft in eineeuropaweite Spitzenposition zu bringen.Bundesminister Dr. Werner Müller
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Da kann ich nur sagen: Das ist der Anspruch auf diezweite Liga. Wir müssen weltweit eine Spitzenstellungeinnehmen.
Bei den konkreten Zahlen wird es noch viel schlim-mer. Sie haben folgende Aussage heute wiederholt – ichzitiere –:Steigerung des Anteils der Internetabonnentinnenund -abonnenten an der Gesamtbevölkerung von9 % im Jahr 1999 auf über 40 % bis zum Jahr 2005...Erst in fünf Jahren will die Bundesregierung den heu-tigen Stand der USA, Schwedens und Finnlands errei-chen. Das ist ein „Anspruch“ Deutschlands auf dasSchlusslicht! So können wir doch nicht weitermachen,das muss korrigiert werden!
Bei den bescheidenen Ansprüchen der Bundesregierungist es ja kaum verwunderlich,
dass sie in einer ganz entscheidenden Frage schweigt.Ich will dazu etwas sagen, weil dieses Thema wegender vielen amerikanischen Ausdrücke sehr schwer zuverstehen ist.
Die Zahl der Internetanschlüsse in Deutschland könnteman sprunghaft erhöhen. Laut Statistischem Jahrbuch1999 hat im Jahr 1998 die Hälfte aller Haushalte derdurchschnittlich verdienenden Vier-Personen-Haushaltevon Angestellten und Arbeitern einen PC. Alle dieseHaushalte haben auch einen Telefonanschluss. Warumgehen sie nicht online? Sie gehen deshalb nicht ins Netzder Netze, weil in Deutschland immer der Telefonge-bührenzähler tickt, und da kann natürlich jemand, derKinder hat, nicht sagen: „Ich lege mir einen Internet-anschluss zu“, und hat nachher eine monatliche Telefon-rechnung von 200 bis 300 DM. Wir haben uns ja leiderdaran gewöhnt, dass der Fernseher entweder eine Mo-natspauschale kostet oder, wie beim Privatfernsehen,kostenlos ist, aber dass beim Internetzugang ständig der Gebührenzäh-ler Minute für Minute tickt. In den USA, in Kanada, inAustralien, in Neuseeland ist das anders.
– Seit langem.
In Österreich, in Schweden und in Großbritannien be-ginnt sich das zu ändern. Bloß bei der Bundesregierungherrscht Schweigen.
– Es zeigt Ihre Geisteshaltung, dass Sie in dieserschnelllebigen Zeit immer zurückblicken, statt sich mitder Zukunft zu befassen.
Auch bei uns in Deutschland muss es eine bezahlbareMonatspauschale für den Internetzugang, und zwar zueinem Preis von deutlich unter 100 DM, geben. Erstdann kann ein Durchbruch gelingen.Es ist unglaublich, dass die Bundesregierung zu die-sem Thema – weder Sie, Herr Müller, in Ihrer Rede heu-te, noch in dem Aktionsprogramm – einen einzigen Satzsagt. Wenn sich die Bundesregierung politisch endlichfür eine Monatspauschale einsetzen würde, dann könntedie Regulierungsbehörde auch durchsetzen, dass derMonopolist dem Internetprovider einen entsprechendenTarif anbieten muss.Ich sage Ihnen eines: Mit einer solchen Maßnahmewürden Sie mehr erreichen als mit allen Ihren anderenMaßnahmen, die Sie genannt haben. Sie brauchten danndas Sonderprogramm für die Schulen nicht. Die Kinderund Jugendlichen hätten dann nicht nur die Möglichkeit,in der Schule im Internet zu surfen, wenn sie einmaldrankommen. Vielmehr könnten sie es zu Hause tun, an-statt in den Fernseher zu glotzen. Da könnten Sie einmalaktiv werden.Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Internetwird gegenwärtig vorrangig zur Informationsbeschaf-fung genutzt. Dies ändert sich zunehmend, weil der e-lektronische Handel in den Vordergrund rückt. DieZahlen sind genannt worden. Der Umsatz in Deutsch-land wächst nach Schätzung der Bundesregierung von2,6 Milliarden DM im vergangenen Jahr auf 94 Milliar-den DM im Jahre 2002. Deshalb müssen wir alles tun,um die Rahmenbedingungen zu verbessern. EinSchwachpunkt ist ja noch die Sicherheit der Bezahlungder Leistungen über das Netz. Dazu meine ich: Es istangebracht, dass die Bundesregierung mit großemNachdruck die Umsetzung der Europäischen Richtliniefür digitale Signaturen betreibt.Es gibt noch andere Rahmenbedingungen, hinsicht-lich derer Rechtsbereiche an die Erfordernisse des Net-zes angepasst werden müssen, wie etwa beim Daten-schutz, beim Urheberrecht, beim Steuerrecht, im Zivil-und Strafrecht, im Handelsrecht, im Jugendschutz undbeim Schutz der Menschenwürde. Dazu haben wir vonder Bundesregierung allerdings außer Ankündigungennicht sehr viel gehört.Bei diesen Gesetzesänderungen kommt es vor allemdarauf an, dass das Netzwerk der Regelungen nicht ver-dichtet wird, sondern es muss ausgedünnt werden. Nir-gendwo im Aktionsprogramm steht der Satz, der eigent-Dr. Martin Mayer
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lich ein entscheidender Satz ist, dass man Regelungs-werke ausdünnen muss.
Im Gegenteil: Es wird ein neues Gesetz, das Arbeitneh-merdatenschutzgesetz in einer Materie vorgeschlagen,die viel leichter durch Vereinbarungen zwischen Arbeit-nehmern und Arbeitgebern gelöst werden könnte. Das zögerliche Handeln der Bundesregierung bei derUmsetzung der Rechtsvorschriften ist schon schlimmgenug, aber noch schlimmer ist die Ignoranz der Bun-desregierung bei den Erfordernissen des Wandelns imArbeits- und Sozialrecht. Immer mehr Menschen müs-sen im Laufe eines Arbeitslebens den Arbeitgeber, dasUnternehmen, wechseln. Immer mehr Menschen wech-seln in die Selbstständigkeit und wieder zurück. Da wardoch die Gesetzgebung zur Scheinselbstständigkeit ab-solut kontraproduktiv.
Statt neuen Grenzen zwischen Arbeitnehmern und Ar-beitgebern brauchen wir Brücken. Der Übergang von ei-ner Form zur anderen muss erleichtert werden. Zwi-schenstufen sind gefordert.
Hier brauchen wir auch in der Sozialgesetzgebung Krea-tivität. Ein wesentliches Hemmnis für die Informations- undKommunikationsdienste in Deutschland ist der Mangelan qualifizierten Arbeitskräften. Die Bundesregierungspricht in ihrem Bericht von 75 000 fehlenden Fachkräf-ten in diesem Sektor.
Hier genügen Absichtserklärungen, wie sie im „Bündnisfür Arbeit“ gegeben werden, nicht. Hier darf nichtgekleckert, hier muss geklotzt werden.
Wenn in diesem Jahr schon zusätzliche Milliarden DMan die Bundesanstalt für Arbeit ausgegeben werden,dann müssen sie in diesem Sektor schwerpunktmäßigeingesetzt werden. Völlig unverständlich ist auch, dass die Bundesanstaltfür Arbeit eine neue Dienstanweisung plant, die es Aka-demikern von außerhalb der EU praktisch verbietet, inder Informations- und Kommunikationsbranche inDeutschland zu arbeiten. Statt wie geplant Deutschlandabzuschotten, müssen wir Deutschland für diese Trieb-kräfte und den Motor der Entwicklung, die neue Ar-beitsplätze nach sich ziehen, öffnen. Wir müssen es sowie die USA machen, die Arbeitskräfte aus der ganzenWelt an sich ziehen. Die Bundesregierung ist daher auf-gefordert, diese Dienstanweisung sofort zu korrigieren. Insgesamt wirkt das Aktionsprogramm der Bundesre-gierung blutleer. Man gewinnt den Eindruck, dass dieBundesregierung in der Internetgemeinde nicht zu Hau-se ist. Herr Bundesminister Müller, wenn ich Ihre Redegehört habe, dann frage ich mich, ob Sie wirklich schoneinmal selbst im Netz gesurft haben.
Die neuen Möglichkeiten zum interaktiven Kontaktund zum direktem Dialog mit den Bürgern werdenzwar im Aktionsprogramm am Rande erwähnt, aber dieBundesregierung scheint das nicht sehr zu schätzen. Wiekönnte es sonst sein, dass mich Briefe aus der ganzenRepublik erreichen,
– E-Mails, natürlich –, dass mich E-Mails aus der gan-zen Republik erreichen, die beklagen, dass die Bundes-regierung auf E-Mails keine Antwort gibt. Ja selbst inForen im Netz, wo Fragen der Politik diskutiert werdenund
die Bundesregierung um eine Stellungnahme gebetenworden ist, erfolgt nach vier Wochen, Herr Mosdorf,immer noch keine Antwort. Ich kann Ihnen das nachhergeben. Sie sollten diesen Dialog tatsächlich einmal füh-ren. Die einzige Reaktion der Regierung ist Schweigen.Mit dieser Reaktion schadet sich die Regierung selbst.
Dialog und Interaktivität sind im Vergleich zu denherkömmlichen Medien das Neue im Internet. Sie brin-gen eine neue Qualität in die Beziehung zwischen Poli-tik und Bürgern. Da reicht es nicht aus, nur vom Dialogzu reden, man muss ihn auch führen, Herr Bundesminis-ter.Ich habe in Vorbereitung zu dieser Debatte einesfestgestellt: Es gibt in der Netzgemeinde viele Men-schen, die sich ein enormes Fachwissen angeeignet ha-ben und die auch gern bereit sind, dies den Politikernmitzuteilen und es weiterzugeben. All diesen begeisterteEhrenamtlichen sage ich von dieser Stelle aus ein herz-liches Wort des Dankes für ihre Arbeit und für ihrenEinsatz.
Insgesamt enthält das Aktionsprogramm auch eineReihe von Erfolg versprechenden Maßnahmen. Das istkein Wunder. Es knüpft doch an viele Maßnahmen an,die die alte Regierung bereits auf den Weg gebracht hat.
Allerdings fehlen dem Programm der Schwung und dieLeitprojekte,Dr. Martin Mayer
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die eine Aufbruchstimmung erzeugen könnten. Dashängt wohl auch damit zusammen, dass es in der Bun-desregierung eine unglückliche Zuständigkeitsverteilunggibt.
Auch da, meine ich, kann Berlin von München lernen.
Liebe Kolle-ginnen und Kollegen, bevor ich die nächste Rednerinaufrufe, möchte ich Ihnen bekannt geben, dass wir aufAntrag der CDU/CSU-Fraktion von 14 Uhr bis 15 Uhreine Sitzungsunterbrechung haben. Der Ältestenrat wirdauf 15 Uhr einberufen.Nun fahren wir in der Debatte fort. Die AbgeordneteMargareta Wolf hat das Wort.Margareta Wolf (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kol-leginnen und Kollegen! Herr Dr. Mayer, ich möchtekurz einige Punkte aus Ihrer Rede aufgreifen. Sie habengesagt, das Internet müsse Chefsache sein. Das ist es beidieser Regierung. Der Bundeswirtschaftminister hathierzu gesprochen.
Ich darf Sie daran erinnern, dass in Ihrer Zeit erst einMinisterium lediglich in den letzten Monaten im Internetwar, und zwar das BMBFT. Ich darf Sie daran erinnern,Herr Mayer, dass der heute schon oftmals hier erwähnteChef der ehemaligen Regierung in einer prominentenTalkshow einmal die Datenautobahn mit dem Bundes-verkehrswegeplan verwechselt hat und eine halbe Stun-de nicht realisiert hat, dass es um das Netz ging.
– Ich beschäftige mich mit der Zukunft.Sie sagen, das Aktionsprogramm sei blutleer. HerrMayer, Sie sollten etwas dazu sagen, warum gerade dieProduktionsumsatzzahlen bis 1998 im Bereich der neuenTechnologien ganz weit hinten in Europa lagen. Seit An-fang 1999 steigen die Zahlen wieder.
Wir lagen ganz hinten, nur noch vor Schweden und Ita-lien. Langsam steigt die Produktion wieder. Sie müssen auch etwas dazu sagen, warum die Zahlder Internet-abonnenten 1998 bei 9 Prozent lag. Inzwi-schen liegt sie bei über 10 Prozent. Dieser gewisse At-tentismus, dem wir jetzt zu begegnen haben, ist nicht aufuns zurückzuführen. Ich weise ungern nach hinten zu-rück, aber wenn Sie sagen, dies sei alles blutleer, solltenSie die Prozesse hier auch nicht ganz geschichtslos beur-teilen, meine Damen und Herren.
Wir wissen alle, dass die Entwicklung der Informati-onstechnologien einer der Motoren, wenn nicht sogarder entscheidende Motor für die Globalisierung ist. DieUnternehmen kooperieren und konkurrieren heute welt-weit. Im Netz wird die vollständige Markttransparenz zugeringen Informationskosten Realität. Der Wettbe-werbsdruck unter den Unternehmen erhöht sich rasant.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, vorhin wur-de auf das Thema hingewiesen, das von Ihnen gerneimmer wieder bemüht wird, nämlich die Scheinselbst-ständigkeit und den Rückgang bei den Gründungen. Ichempfehle dringend heute einen Blick in die „FrankfurterAllgemeine Zeitung“, Herr Mayer. Dort steht, dass es imletzten Quartal 1999 64 000 Neugründungen im Be-reich der wissensbasierten Dienstleister gegeben hat. Mitdiesen Zahlen machen wir deutlich, dass wir uns zügigauf dem Weg von der Industriegesellschaft zur Informa-tionsgesellschaft bewegen. Wir sind auf einem sehr, sehrguten Weg. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache.Deutschland ist heute einer der größten Märkte beider Software, bei den Netzen, bei der Hardware und inder Unterhaltungselektronik. Entscheidend wird es inden nächsten Jahren darauf ankommen, dass Deutsch-land nicht nur verkauft, sondern dass in Deutschlandauch vermehrt produziert wird.
Die neue Bundesregierung hat unter der Federführungdes Wirtschaftsministers nach Regierungsübernahmesehr schnell und sorgfältig ein umfassendes Aktionspro-gramm zur Gestaltung des Weges in die Informationsge-sellschaft erarbeitet.Herr Mayer, wenn Sie sich einmal die Fachpresse an-schauen, stellen Sie fest, dass dieses Programm eine sehrpositive Resonanz hat. Darüber können wir glücklichsein, und zwar alle zusammen.Meine Fraktion meint, dass mit diesem Aktionspro-gramm der Tatsache Rechnung getragen wurde, dass der informationstechnischen Kompetenz tatsächlich eine Schlüsselrolle bei der Wettbewerbsfähigkeit derDr. Martin Mayer
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deutschen Wirtschaft zukommt. Ziel unserer Politik istes, die Chancen der neuen Technologien für mehr Be-schäftigung, mehr Selbstständigkeit, mehr Informationund mehr Partizipation und somit für ein zukunftsfähi-ges, ökologisches, modernes Wirtschaften zu nutzen.Wir glauben, Aufgabe des Staates ist es, den Ord-nungsrahmen für die neuen Medien zu gestalten, faireChancen für den Zugang zu diesen Medien für alle zugarantieren sowie Qualifikation und lebenslanges Ler-nen auch für die heute niedrig Qualifizierten zu ermögli-chen, um die schon angesprochene Spaltung der Gesell-schaft zu vermeiden. Für uns ist dies ein ganz zentralerPunkt bei der Gestaltung der Informationsgesellschaft.Darüber hinaus ist es Aufgabe von Politik, den Aus-bau der notwendigen Infrastruktur zu gewährleisten, ei-nen funktionierenden Wettbewerb sicherzustellen, dieökologische Zukunftsfähigkeit der Informationsgesell-schaft zu erreichen und den Wettbewerb, unter anderemder Hochschulen, zu ermöglichen. Eine wichtige Vor-aussetzung für lebenslanges Lernen und die Kooperationzwischen Wirtschaft und Wissenschaft, gerade zur Ver-besserung der Chancen der Informationsgesellschaft, ist,dass wir die Rahmenbedingungen für eine Durch-lässigkeit zwischen Hochschulen und Wirtschaft schaf-fen. Dies ist ein ganz zentraler Punkt, um die Wettbe-werbsfähigkeit des Bildungsstandortes Deutschland zuverbessern und die Voraussetzungen dafür zu schaffen,dass die Menschen in unserem Land die neuen Techno-logien als Chance begreifen und nicht als Risiko.
Wir alle wissen, dass derjenige oder diejenige, deroder die im Internet recherchiert, besser informiert istals diejenigen, die das nicht tun. Die Person, die recher-chiert, hat auch bessere Bildungschancen in unseremLand. Wir meinen, dass diese Bildungschancen nichtausschließlich den Akademikerinnen und Akademikernvorbehalten bleiben dürfen. Eines der zentralen Ziele derGrünen und auch der Bundesregierung ist es, allen Men-schen der Gesellschaft den Zugang zum Netz zu erleich-tern und sie dabei zu unterstützen, es sinnvoll zu nutzen.Wir finden es gut, dass die Bundesregierung heute sagt,dass sie bis 2005 eine Nutzerquote von 40 Prozent errei-chen wolle.
Ich prognostiziere, dass wir die Nutzerquote von40 Prozent wesentlich schneller erreichen werden.Voraussetzung für die weitere Verbreitung des Inter-nets – das wissen wir alle – ist allerdings auch die Ent-wicklung der Leistungsfähigkeit der Netzzugänge und,Herr Mayer, natürlich der Preise.
– Sie haben vorhin darauf hingewiesen, dass der Tele-fonzähler ständig tickt. Erstens hat er schon vor dem27. September 1998 getickt und zweitens hat er damalssogar schneller getickt. Sie hätten hier einmal sagenkönnen, warum das Glasfaserkabelnetz der Telekomnoch nicht verkauft ist. Dies ist die zentrale Vorausset-zung dafür, dass die Preise tatsächlich sinken können.
Sie sagen immer, wir sollten in die Zukunft schauen.Wir tun das und regeln relativ schnell, dass die Preisesinken. Damit wird die Voraussetzung dafür geschaffen,dass es einen breiteren Zugang zum Internet gibt und dasInternet nicht nur ein Exklusivangebot für gut ausgebil-dete Leute ist.
Der Preis ist dafür eine zentrale Voraussetzung, verehr-ter Herr Kollege Mayer.Eine weitere Voraussetzung für die Ausbreitung deselektronischen Handels, des E-Commerce, ist aller-dings auch die Sicherheit. Wir freuen uns darüber, dassdas Bundeskabinett am 2. Juli 1999 beschlossen hat,dass Verschlüsselungsprodukte und -verfahren inDeutschland künftig ohne Beschränkung hergestellt,vermarktet und genutzt werden können.
Herr Mayer, das hätte schon viel früher geregelt werdenkönnen. Wir begrüßen es ausdrücklich, dass die Bundes-regierung aktiv die Verbreitung kryptographischer Ver-fahren unterstützt.
Ein Nebeneffekt der technologischen Entwicklung ist– darauf möchte ich in diesem Kontext hinweisen –,dass das eine oder andere nationale Gesetz durch dieUnabhängigkeit des Raumes im Netz perspektivisch ob-solet wird. Dies betrifft meiner Meinung nach aufgrundder Existenz von E-Commerce das Rabattgesetz.
Das Netz bietet aber auch, wie ich finde, erheblichefreiheitsfördernde Elemente. So ist es zum Beispiel Chi-na bis heute nicht gelungen, das Netz zu kontrollieren.
Herr Kollege Mayer, während des Kosovo-Krieges ha-ben wir ebenso gelernt, dass es selbst der Führung inBelgrad nicht gelungen ist, zu unterbinden, dass die Op-position im ehemaligen Jugoslawien mit uns hier kom-muniziert hat.
Margareta Wolf
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Es wurden E-Mails ausgetauscht. Insofern denke ich,dass das Internet keine blutleere Veranstaltung ist. DasInternet hat ein Potenzial, das weltweit Freiheit und De-mokratie fördert. Ich glaube darüber hinaus, dass die Entwicklung derInformations- und Kommunikationstechnologien grund-legende Veränderungen der Produktion und der Strukturder Unternehmen, aber auch der öffentlichen Verwal-tung nach sich ziehen wird, wenn dies nicht schon er-folgt ist. So haben wir es heute in denjenigen Unterneh-men, die diese Kommunikationsmöglichkeiten nutzen,mit dezentralen Entscheidungsstrukturen zu tun. Zu-dem kommt es zu Gruppenarbeit und flachen Hierar-chien. Dies alles wäre ohne diese Technologien nichtmöglich gewesen. Heute kann man dezentral und flexi-bel entscheiden, gleichzeitig aber zentral über alle not-wendigen Informationen verfügen. Diese Entwicklung verändert die Unternehmenskulturin Deutschland hin zum Positiven, sprengt veraltete Hie-rarchiekonzepte und führt zu höherer Produktivität undmehr Verantwortung in den Unternehmen. Dies ist eineEntwicklung, die wir unterstützen.
Gleichzeitig bieten die neuen Medien erhebliche Po-tenziale gerade für Existenzgründer. Heute wird „seedcapital“ bzw. „venture capital“ vor allen Dingen überdas Netz verbreitet. Darüber hinaus wird der gesamteProblemkomplex der Generationennachfolge bei kleinenund mittleren Unternehmen relativiert, weil man heuteim Netz so etwas wie einen Marktplatz findet, wo sichpotenzielle Unternehmer, die Unternehmen übernehmenwollen, treffen und sich mit Betrieben bekannt machen,deren Chef in den Ruhestand gehen will. Ich denke, dasist eine sehr gute Entwicklung, die gerade den AspektNetworking und Kommunikation ganz oben auf die Ta-gesordnung setzt. Solche Dinge wurden in der Vergan-genheit versäumt, was dafür verantwortlich ist, dass wirheute gerade im Bereich der Unternehmensnachfolgesehr viel aufzuholen haben.
Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt ansprechen,der mir zentral zu sein scheint und angesichts dessen aufden Staat erhebliche Aufgaben zukommen, wobei dieBundesregierung schon heute auf diesem Gebiet Erheb-liches leistet. Das ist der gesamte Komplex der Qualifi-kation und der Weiterbildung, Stichwort: lebenslangesLernen. In den letzten Jahren wurden im Bereich derIuK-Technologien – bei gleichzeitig 4 Millionen Ar-beitslosen; wenn ich daran erinnern darf – 75 000 Ar-beitsplätze nachgefragt. Das ist ein Zustand, den manseitens der Politik nur als unverantwortlich bezeichnenkann. Wir haben – darauf sind wir Grünen stolz – im"Bündnis für Arbeit" erreicht, dass 40 000 Ausbildungs-plätze geschaffen werden. Dies hatte man sich bis zumJahre 2003 vorgenommen. Die Schaffung von 40 000Arbeitsplätzen ist bereits erreicht worden. Darüber soll-ten wir sprechen, darüber sollten wir uns freuen. Ichdenke, das zeigt, dass wir auf einem guten Wege sind. Lassen Sie mich abschließend sagen: Von den Men-schen wird in Zukunft wesentlich mehr Flexibilität er-wartet, als wir das heute ahnen.
Sie sollten einmal die amerikanische gesellschaftspoliti-sche Debatte verfolgen. Richard Sennett warnt ja vorden Flexibilitätsanforderungen, die auf die Menschenzukommen. Daher sollten wir mit solchen Anforderun-gen sehr vorsichtig umgehen und gerade deshalb denSchwerpunkt auf eine qualifizierte Ausbildung legen.Wir müssen die Menschen in die Lage versetzen, sichschnell neues Wissen aneignen zu können. Wir solltendas Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten stärken undsollten gerade wegen der Verunsicherungen, die auf dieMenschen zukommen, perspektivisch eine stabile sozia-le Grundsicherung herstellen.Ich glaube, wir befinden uns auf einem guten Weg.Wir sind gewappnet und wir sind auch im Bildungsbe-reich wettbewerbsfähig.Ich danke Ihnen.
Zu einer Kurz-
intervention erhält der Kollege Mayer das Wort.
Kol-legin Wolf, Sie haben mich mehrfach angespro-chen. Ich möchte zunächst etwas richtig stellen: Ich habenicht gesagt, dass das Internet blutleer sei, sondern ichhabe gesagt, dass das Aktionsprogramm und die Politikder Bundesregierung zum Internet blutleer seien.
Ich möchte aber zur Bewertung des Aktionspro-gramms noch andere zu Wort kommen lassen, zum Bei-spiel „Spiegel Online“ vom 29. Oktober 1999. Der Un-tertitel lautete: Trotz vollmundiger Absichtserklärungen fällt derrot-grünen Bundesregierung zur „Innovation“ we-nig Innovatives ein. Ein gerade vorgestelltes „Akti-onsprogramm“ beweist allerhöchstens Mut zur Lü-cke.Wenn Sie dem „Spiegel“ nicht glauben, will ich einenVertreter der Koalition zitieren: „Es ist eigentlich ganz wie in alten Oppositionszei-ten“, meint der SPD-Bundestagsabgeordnete JörgTauss und räumt nur einen geringfügigen Fort-schritt ein:
Margareta Wolf
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7470 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
„Während ich mit der früheren Bundesregierung zu30 Prozent einig war, bin ich es heute mit der rot-grünen zu 50 Prozent.“Das ist ein gewaltiger Fortschritt.
Ich bin angesprochen worden.
Lieber Kollege Mayer, ich kann Ihnen bestätigen, dass
ich an dieser Stelle korrekt zitiert worden bin. Warum
Sie aber eine Steigerung von 30 auf 50 Prozent für ge-
ring halten, ist mathematisch nicht ganz nachvollzieh-
bar.
Ich habe in der Tat deutlich gemacht, dass die alte
Bundesregierung kläglich versagt hat. Wir haben in kür-
zester Zeit aufgeholt. Ich habe aber auch gesagt – im
Übrigen zu einem Zeitpunkt, als viele der jetzt ange-
sprochenen Initiativen noch nicht auf dem Weg waren –,
dass wir mit 50 Prozent schon viel erreicht haben und
auf dem Weg zu 100 Prozent munter vorwärts schreiten
können. Die weitere Debatte wird zeigen, dass wir dies
tun. Wir werden auch noch ein bisschen Ihre Defizite
beleuchten. Ich freue mich darauf.
Jetzt hat der
Abgeordnete Hans-Joachim Otto das Wort.
Frau Prä-sidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! HerrBundeswirtschaftsminister und Frau Kollegin Wolf, Ihreselbstzufriedenen und unverbindlichen Worte, so schönsie gewesen sein mögen, und auch das Aktionspro-gramm der Bundesregierung dürfen nicht darüber hin-wegtäuschen, dass die Medienordnung in Deutschlandeiner sehr grundsätzlichen Reform bedarf. Das hat sich erst jüngst an einem handfesten Beispielerwiesen. Obwohl wir in Deutschland bereits jetzt mitjährlich fast 13 Milliarden DM das teuerste öffentlich-rechtliche Rundfunkprogramm der Welt unterhalten, solldie Rundfunkgebühr erneut um satte 11,8 Prozent aufmonatlich 31,58 DM erhöht werden. Wen wundert es da,wenn die Bereitschaft der Bürger, ihre Rundfunkgebüh-ren zu entrichten, drastisch abnimmt? Immer wenigerMenschen verstehen, warum sie jährlich fast 400 DMfür ein Rundfunkangebot zahlen sollen, obwohl sie einsolches in ähnlicher Form von den privaten Sendernkostenlos bekommen. Es ist in der Tat inakzeptabel,dass wir uns ein immer aufwendigeres öffentlich-rechtliches Rundfunksystem leisten, ohne endlich dessenspezifischen Funktionsauftrag und damit die Berechti-gung des Gebührenprivileges geklärt zu haben. Dringenden Reformbedarf gibt es aber auch aufgrundder Tatsache, dass wir die Anbieter in Deutschland mitder höchsten Kontroll- und Regulierungsdichte allerdemokratischen Staaten der Welt überziehen. Wir leistenuns zum Beispiel 15 teure Landesmedienanstalten, dazujeweils einen Rundfunkrat bei allen neun ARD-Anstalten, dazu einen ZDF-Fernsehrat, dazu eine KEFund eine KEK, eine Regulierungsbehörde für Telekom-munikation und Post usw. Wir dürfen auch nicht längerhinnehmen, dass sich die Gesetzgebungszuständigkeitenvon Europa, dem Bund und den Ländern geradezu will-kürlich überlappen und überschneiden. Mir hat bishernoch niemand erklären können, weshalb zum Beispielfür Teleshopping die Länder zuständig sind, für Tele-banking aber der Bund und weshalb für die Online-Zeitungen andere Regelungen gelten als für gedruckteZeitungen.Der zentrale Fehler unserer Medienordnung ist es,dass ihre verfassungsrechtlichen Grundlagen aus einerZeit stammen, als es in Deutschland nur ein einzigesFernsehprogramm gab, als die Nation also noch gebanntden Mörder im Durbridge-Krimi suchte, als es die neuenMediendienste noch nicht einmal in der Idee gab, vomInternet ganz zu schweigen. Seit der Zuweisung der Ge-setzgebungskompetenz für den Rundfunk an die Länderhat sich die Technik geradezu revolutionär verändert. ImWege der Konvergenz – das Stichwort ist schon mehr-fach gefallen – verschmelzen weltweit Individual- undMassenkommunikation zu einem medialen Gesamtan-gebot.Wir in Deutschland setzen uns über diese technischeGegebenheit hinweg, solange wir Individual- und Mas-senkommunikation unterschiedlich regeln. Es ist einKennzeichen dieser skurrilen Situation, dass für ein In-ternet-Unternehmen in Deutschland bis zu 28 unter-schiedliche Aufsichtsgremien und Regulierungsinstan-zen zuständig sein können. Diese Überregulierung hatihren Preis; der Kollege Mayer hat schon darauf hinge-wiesen. So haben etwa die skandinavischen Ländermehr als doppelt so viele Internetanschlüsse pro tausendEinwohner wie wir, von den USA und Kanada ganz zuschweigen.In diesem Zusammenhang noch ein Hinweis, HerrMosdorf – Herr Müller ist nicht mehr da –: Meinen wirwirklich, diesen Rückstand aufholen zu können, indemwir bald auch noch jeden internetfähigen PC in Deutsch-land mit einer Rundfunkgebühr belegen?
Das ist doch skurril. Ich erwarte auch angesichts derKompetenzzuweisung – die ich kenne –, dass von derBundesregierung Widerstand geleistet wird. DieserRückstand besteht nicht etwa – da wäre es vielleichtnoch verkraftbar – in einem Orchideenbereich; nein, erbesteht ausgerechnet im weltweit am schnellsten wach-senden Wirtschaftsbereich.
Der Regulierungs- und Kontrollwirrwarr in Deutsch-land ist ein Investitions- und Innovationshemmnis ersterKlasse. Der Bertelsmann-Chef Middelhoff hat zu Rechtdavor gewarnt, dass im neuen Medienzeitalter nicht dieGroßen die Kleinen, sondern die Schnellen die Langsa-men fressen. Das gilt auch für Wirtschaftsnationen.
Dr. Martin Mayer
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7471
Nirgendwo sonst brauchen wir daher den von RomanHerzog angemahnten Ruck so dringend wie gerade imBereich von Medien und Telekommunikation.
In der Analyse scheinen wir uns in diesem Hauseweitgehend einig zu sein. Auch die Bundesregierungsieht Handlungsbedarf, wie sich aus ihrer Antwort aufdie Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion ergibt. Sieschreibt dort – ich zitiere –:... die historisch gewachsene Aufsplitterung derAufsichtsbehördenstruktur ... erscheint unübersicht-lich und unpraktikabel, da die Medien in techni-scher und ökonomischer Hinsicht konvergieren undsich im internationalen Wettbewerb behauptenmüssen. Der Bund und die Länder stehen vor derAufgabe, zukunftsfähige Lösungen ... zu finden.Gut gebrüllt, Löwe! Wir stimmen überein. Aber warumgeschieht jetzt nichts? Das Aktionsprogramm ändert andiesen Problemen überhaupt nichts.Exakt vor diesem Hintergrund hat meine Fraktionjüngst die Einrichtung einer gemeinsamen Konvergenz-Enquete von Bundesrat und Bundestag vorgeschlagen.In dieser wollten wir mit den Ländern die erforderlichenKonsequenzen aus der Konvergenz der Medien erarbei-ten. Es hat sich jedoch erwiesen, dass Sie Ihren hehrenWorten wieder einmal keine entsprechenden Taten fol-gen lassen. Sie haben sich gegen eine Konvergenz-Enquete ausgesprochen und – schlimmer noch – Sie ha-ben keinen Gegenvorschlag unterbreitet, wie der vonuns gemeinsam festgestellte Reformstau aufgelöst wer-den kann.
Herr Abgeord-
neter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordne-
ten Mosdorf?
Wenn Sie
freundlicherweise die Uhr anhalten!
Bitte.
Herr Kollege Otto, ich
wollte Sie – angesichts der Tatsache, dass wir in Bezug
auf die Medienaufsicht tatsächlich Reformbedarf haben,
was die Länder angeht – nur fragen, worauf Sie zurück-
führen, dass sich in Süddeutschland zwei Sender zwar
zusammengetan haben, dass aber gleichzeitig die beiden
Landesmedienanstalten beibehalten worden sind und
dass die Landesmedienanstalt in Baden-Württemberg
mit einer Person, die aus der CDU-Fraktion stammt, be-
setzt worden ist. Die F.D.P. ist ja als Koalitionspartner
dort mit in der Regierung. Worauf führen Sie das zu-
rück?
Sehr ge-ehrter Herr Kollege, Sie haben offensichtlich übersehen,dass sich diese Rede nicht nur an die rotgrüne Bundes-regierung richtet. Mein Anliegen ist es, einen Fehler imSystem zu beseitigen.
Deswegen haben wir gesagt, wir wollen eine Konver-genz-Enquete von Bund und Ländern. Dass hier etwas an der Grundstruktur falsch ist, hatteich Ihnen bereits zu erklären versucht. Ich glaube, dasswir in der Analyse auch nicht weit voneinander entferntsind. Was ich jetzt aber anmahne – das ist der Sinn mei-ner Rede vor diesem Hause –, ist, dass wir gemeinsam,Regierungsfraktionen und Oppositionsfraktionen, Bundund Länder, erkennen, dass es hier einen wirklich dra-matischen Rückstand, grundlegende Probleme und einenReformstau gibt und wir deshalb tätig werden müssen. Deswegen verstehe ich nicht – dabei schaue ich alleFraktionen dieses Hauses an –, dass wir uns nicht auf ei-ne Konvergenz-Enquete einigen konnten. Diese hätteBund und Länder in die Lage versetzt, die Dinge ge-meinsam anzupacken.
Meine Damen und Herren, ich sehe es als einen klei-nen Schritt in die richtige Richtung an, wenn wir jetzt indiesem Haus einen Unterausschuss „Neue Medien“ bil-den werden. Das ist zwar ein Schritt in die richtige Rich-tung, aber bei weitem noch nicht genug. Nachdem Ihnen der Mut zu einer Konvergenz-Enquete abgegangen ist, werden Sie, Herr Mosdorf, hof-fentlich das jüngste Gutachten des wissenschaftlichenBeirates bei Ihrem Bundesminister für Wirtschaft undTechnologie als wertvolle und zielführende Anregunglebhaft begrüßen. In diesem Gutachten weisen die re-nommierten Wissenschaftler überzeugend nach, dass einGroßteil der überkommenen Regulierungen und In-stanzen ersatzlos entfallen könnte, wenn man Wettbe-werbs- und Fusionskontrollen als Gewähr für eine freieund durch Meinungsvielfalt geprägte Ordnung anerken-nen würde, wie es im Übrigen auch das Bundesverfas-sungsgericht bei der Presse bereits getan hat. Hundertevon Kontrolleuren bei den Landesmedienanstalten undanderen Behörden ließen sich durch wenige Wettbe-werbshüter beim Kartellamt ersetzen.Völlig zu Recht kritisiert der wissenschaftliche Beiratdie Expansionsstrategie und Vormachtstellung der öf-fentlich-rechtlichen Anstalten zu Lasten eines funktio-nierenden Wettbewerbs. Völlig zu Recht schlägt derwissenschaftliche Beirat vor, die Finanzierung von ARDund ZDF durch Werbung zu beenden. Völlig zu Rechtfordert der wissenschaftliche Beirat, dass die historischeKompetenzzuweisung des Grundgesetzes für den Rund-funk der technischen Entwicklung anzupassen ist. Herr Mosdorf, Bund und Länder sollten gemeinsamvorgehen. Es wird möglicherweise sogar zu verfassungs-rechtlichen Anpassungen kommen. Meine Rede richtetHans-Joachim Otto
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7472 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
sich nicht nur an zwei Fraktionen dieses Hauses, son-dern an wesentlich mehr. Meine Damen und Herren, dieses wegweisende Gut-achten stammt nicht etwa aus der Giftküche der F.D.P.,nein, es kommt von einem Beraterkreis Ihrer Bundesre-gierung. Loben wir also den Herrn BundesministerDr. Müller, sagen wir ihm, dass er einen hoch qualifi-zierten Beirat hat, dessen Empfehlungen unsere volleUnterstützung und vor allem unsere Umsetzungen ver-dienen.
Bund und Länder, alle Fraktionen dieses Hauses tra-gen gemeinsam Verantwortung. Schaffen wir endlicheine offene Medienordnung für Deutschland!Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angela Marquardt.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Die Bundesregierung hat ein Akti-onsprogramm zur Informationsgesellschaft vorgelegtund auch die CDU hat mit ihrer Großen Anfrage ge-zeigt, dass sie dem Thema „Neue Medien“ eine großeRolle beimisst. Ich denke, sie tut das mit Recht; denn dierasante Entwicklung im Bereich der elektronischen Me-dien hat unsere Gesellschaft verändert und wird dasauch weiterhin tun. Zurzeit wird jedoch das Tempo al-lein von der Wirtschaft bestimmt. Die politische sowiedie juristische Begleitung dieses Prozesses kann dakaum Schritt halten. Die tatsächlichen Auswirkungen dieser Veränderun-gen auf den Arbeitsmarkt sind nur wenig bekannt. Ver-schiedene Studien kommen zu völlig verschiedenen Er-gebnissen. Die ausnahmslos positive Sicht, die in diesemAktionsprogramm der Bundesregierung zum Ausdruckkommt, kann in ihrer Undifferenziertheit meines Erach-tens nur als bewusste Täuschung der Öffentlichkeit be-zeichnet werden. Es ist nicht zu leugnen, dass durch die neuen Techno-logien Arbeitsplätze besonders für qualifizierte Kräfteentstehen. Gleichfalls ist klar – Herr Mosdorf betont dasimmer wieder –, dass die meisten Chancen auf neueStellen dort gegeben sind, wo besonders innovativ ge-forscht und produziert wird. Dennoch führt die techno-logische Entwicklung letztlich zu Ratio-nalisierungen inallen Bereichen und damit netto zum Arbeitsplatzab-bau.Im Technologiebereich ist die Entwicklung eben am-bivalent. Eine Studie der Zeitschrift „Capital“ kam zudem Ergebnis, dass durch die zunehmende Vernetzungzwischen den Unternehmen in den nächsten zwei Jahren100 000 Jobs verloren gehen. Trotz hoher Zuwachsratenbei den Umsätzen ist die Zahl der Beschäftigen bei dendeutschen Herstellern von Elektronik und Informations-technik rückläufig. Das hat eine Studie des BMBF –„Dienstleistungen als Chance“ – zutage gebracht. Esmuss in meinen Augen aufhören, dass den Bürgerinnenund Bürgern die IuK-Branche als Wunder bringendeJobmaschine verkauft wird. Das ist einfach nicht wahr.
– Ich komme dazu.Ein weiteres Problem sehe ich – auch das wurde hierschon angesprochen – im Bildungsbereich. Die schlech-te Ausbildungssituation führt dazu, dass viele qualifi-zierte Stellen unbesetzt bleiben. Auf die neuen Anforde-rungen sind weder Schulen noch Universitäten – ich binzurzeit selber in einer Universität – und Betriebe wirk-lich vorbereitet. Währenddessen setzt die Bundesregie-rung ausschließlich auf Privatisierung. Hier kündigt sichder langsame Rückzug des Staates aus der Bildung an.Sie kündigen großspurig die Ausstattung von Schulenmit Computern an, überlassen die Umsetzung aber zumTeil der Wirtschaft. Eine Schule, die für Sponsoren nichtinteressant genug ist, hat also Pech gehabt. Es gibt keininteressenfreies Sponsoring; das wissen Sie genauso gutwie ich. Eine Zukunft hat nur, wer da mitziehen kann.Die Gesellschaft droht immer mehr – das haben Sie auchschon gesagt, Kollege Tauss – in User und Loser zu zer-fallen.
Richtig finde ich die Einstellung der Bundesregierungzur Kryptographie, also der Datenverschlüsselung. Hierhat sich – auch auf Druck der Wirtschaft; das muss mansagen – die Vernunft durchgesetzt. Allerdings fehlt nachwie vor eine klare Absage an so genannte Key-Reco-very-Maßnahmen, deren Einsatz Sie sich vorbehaltenhaben. Die Sicherung des Datenschutzes ist eine derganz großen Herausforderungen der nächsten Jahre. JedeVerharmlosung der Risiken muss verhindert werden. Inder Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSUschreibt die Bundesregierung, das Vertrauen aller Betei-ligten in die Sicherheit der technischen Systeme sei diewesentliche Voraussetzung für die Entwicklung der In-formationsgesellschaft. Nein, Kolleginnen und Kolle-gen, Vertrauen ist in diesem Fall genau die falsche Tu-gend. Sensibilisierung für die datenschutzrechtlichenGefahren verlangt einen kritischen und skeptischen Um-gang mit den neuen Medien.
Es darf kein Vertrauen in Systeme geben, ohne dass sietatsächlich sicher sind.Weil es in diesem Zusammenhang auch immer umden Jugendschutz geht, lassen Sie mich dazu Folgendessagen: Ich denke, hier muss zunächst eine grundsätzli-che Diskussion darüber geführt werden, wovor Kinderund Jugendliche, aber auch Erwachsene – mit welchenMitteln geschützt werden müssen. Eines steht für michjedenfalls fest: Filtersoftware, wie sie immer wiederpropagiert wird, führt letztlich zu einer umfassendenHans-Joachim Otto
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7473
Zensur im Netz. Gerade bei Internetzugängen an Schu-len oder in öffentlichen Einrichtungen können mit sol-chen Filterprogrammen die Bewegungsräume im Netzwesentlich eingeschränkt werden. Und wer maßt sicheigentlich an, zu beurteilen, wer was sehen darf und werwas nicht sehen darf?
Auch die viel gepriesene freiwillige Selbstkontrolleist in meinen Augen keine Lösung. Nehmen wir als Bei-spiel nur die Selbstverpflichtungserklärung des Vereins„Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia e. V.“, demauch die Telekom und Microsoft angehören. Dort wen-det man sich gegen Inhalte, die zur sittlichen Gefähr-dung von Kindern und Jugendlichen geeignet sind oderleidende Menschen in ihrer Würde verletzen. DieVerbreitung von rassistischer Propaganda ist jedoch ex-plizit nicht aufgenommen worden. Hieran sieht manganz deutlich den willkürlichen Charakter solcher Maß-nahmen. Was wir brauchen, ist eine Debatte über Inhal-te. Zensur muss – das ist eine Aufgabe der Demokratie –überflüssig gemacht werden.
Darum ist eine Diskussion um neue Methoden der Zen-sur, so denke ich, wenig zweckdienlich.Ich bin auch immer wieder verwundert, mit welchemEhrgeiz das Thema Jugendschutz im Zusammenhangmit neuen Medien diskutiert wird. Jedoch geht die Ge-fahr nicht vom Internet aus, sondern von einzelnen Men-schen oder gesellschaftlichen Gruppen, die das Internetals ein weiteres Mittel für ihre Gewalt verherrlichenden,rassistischen oder sexistischen Publikationen nutzen.Nicht gegen das Internet, sondern gegen sie sollte sichunser Engagement richten.
Ich komme jetzt noch zur Medienordnung und zudem Antrag der F.D.P. Die zunehmende Konvergenz derTechnologien ist unbestreitbar, ebenso, dass dies eineneue Form der Regulierung im Medienbereich notwen-dig macht. Allerdings bedeutet dies, neue Regulierungs-instrumente zu schaffen, und nicht – wie es die F.D.P.wünscht –, jede medienspezifische Regulierung abzu-schaffen. Wenn es nach Ihnen ginge, dann würden alleindie Marktgesetze über die Medienordnung bestimmen.Ihr Parteifreund Martin Bangemann hat das ja schon1994 deutlich gemacht – ich zitiere –:Die Schaffung der Informationsgesellschaft in Eu-ropa sollte dem Privatsektor und den Marktkräftenüberlassen werden.
Genau in diese Kerbe stößt auch das in Ihrem Antragso hoch gepriesene Gutachten „Offene Medienordnung“.Es handelt sich dabei um ein Plädoyer für die völligeDeregulierung des privaten Rundfunks und um einenFrontalangriff auf die öffentlich-rechtlichen Anbie-ter.Jener wissenschaftliche Beirat, der dieses Gutachtengemacht hat, stellt das System des dualen Rundfunksgrundsätzlich infrage und verkennt, dass dieses Systemnicht ein Zufall der Geschichte, sondern politisch undgesellschaftlich gewollt gewesen und auch heute nochgewollt ist. Rundfunk ist nicht einfach nur ein Markt-segment, sondern erfüllt eine gemeinwohlorientierteAufgabe als Kultur- und Informationsvermittler. Rund-funk ist ein fester Bestandteil der Demokratie.Schon eher kann ich dem Bericht der Bundesregie-rung über die Umsetzung des Informations- und Kom-munikationsdienste-Gesetzes in Sachen Medienordnungzustimmen. Die Dreiteilung der Angebote in Telediens-te, Mediendienste und Rundfunk kann nur eine Interimslösung sein. Angesichts der sich ständig wan-delnden Medienlandschaft ist zurzeit nur ein entwick-lungsoffener Weg denkbar. Die von Bund und Ländern gemeinsam entwickelteStruktur aus Mediendienste-Staatsvertrag, Telekommu-nikationsgesetz und Informations- und Kommunikati-onsdienste-Gesetz ist sicher nicht der Weisheit letzterSchluss. Dennoch weist sie eindeutig in eine andereRichtung als die Vorstellung der Deregulierungslobby.Das ist in meinen Augen gut so. Auch wird diese Rege-lung eher dem föderalen Charakter unseres Mediensys-tems gerecht, obwohl das angesichts der Konvergenz-prozesse tatsächlich immer schwieriger wird. Eine Debatte um künftige Regulierungsmodelle lässt sich jedenfalls nicht dadurch ersetzen, dass maneinfach unter dem Vorwand der nationalen Wett-bewerbsfähigkeit alles Bestehende über den Haufenwirft. Eine Enquete-Kommission, wie die F.D.P. sie an-strebt, hätte vielleicht unsere Unterstützung gefunden,wenn nicht so leicht durchschaubar wäre, welchenZweck Sie damit verfolgen. An der Abwicklung des du-alen Rundfunksystems wird sich die PDS jedenfallsnicht beteiligen.
Zum Schluss noch ein Satz zu dem SPD/Grünen-Antrag zu „Strategie für eine Nachhaltige Informations-technik“. Das Roadmapping-Verfahren, welches Sievorschlagen, ergibt insofern einen Sinn, als dass dieIuK-Branche natürlich am besten die Entwicklung in ih-rem Bereich einschätzen kann. Die Frage ist nur: Wassoll dabei herauskommen? Können Sie sich ernsthaftvorstellen, dass die Wirtschaft selbst Standards für einenachhaltige Entwicklung formuliert, wenn das ihren Pro-fit beeinträchtigt?
Man sollte so ein Verfahren ausprobieren. Auch das fin-det wirklich meine Zustimmung. Aber wenn die prakti-schen Ergebnisse zu gering sind – davon gehe ich aus –,wird letztlich doch der Gesetzgeber aktiv werden müs-sen.
Man kommt nicht darum herum, doch Druck auszuüben,damit auch dort Nachhaltigkeit Einzug findet. Angela Marquardt
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7474 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Danke.
Wir unterbre-
chen jetzt, wie gesagt, die Sitzung für eine Stunde. Um
15 Uhr werden dann die Sitzung und die Debatte fortge-
setzt.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wir setzen die unterbrochene Sitzung mit
der Beratung zum Tagesordnungspunkt 4 – neue Medien
und Gestaltung der Informationsgesellschaft – fort.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Wolf-Michael Catenhusen.
W
HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es fällt unsheute angesichts der Tatsache, dass Politik im Rahmeneiner elektronischen Mediendemokratie betrieben wird,und angesichts des Überangebots an Informationen, dasmanchmal vielleicht aus aktuellen Gründen produziertwird, nicht immer leicht, zu beherzigen, dass wir als Po-litiker auch in Zeiten wie diesen Verantwortung haben,Informationen auszuwählen und die Themen in denVordergrund zu rücken, deren Erörterung der Sicherungder Zukunft unseres Landes dient. Deshalb reden wirheute zu Recht über den Wandel der Industriegesell-schaft zur Informations-, Bildungs- und Wissensgesell-schaft sowie über die damit verbundenen Chancen undRisiken, die sicherlich bestehen. Aber es ist Zeit, dasswir nicht nur darüber reden, sondern dass die Bundesre-gierung und die Regierungskoalition mit neuem Tempound mit neuer Zielgenauigkeit einen aktiven Beitrag zurGestaltung des Wandels zur Informations- und Bil-dungsgesellschaft leisten.
In den Industrieländern lebt heute schon jeder zweiteErwerbstätige von Tätigkeiten, deren Grundlage über-wiegend Daten und Informationen sind. Wir müssen unsdarauf einstellen, dass schon bald 80 Prozent allermenschlichen Tätigkeiten auf der Sammlung, auf demUmgang und auf der Verwertung von Informationensowie auf der Anwendung von Wissen beruhen werden.Damit ist klar, dass die Informationswirtschaft eine derzukunftsträchtigsten Branchen für Wachstum und Be-schäftigung gerade in Deutschland darstellt und dass wirals Politikerinnen und Politiker in besonderer Weiseauch Verantwortung dafür tragen, die Chancen ent-schlossen zu nutzen, die damit verbunden sind. Nach der mutigen Rede des Kollegen Mayer möchteich deutlich sagen: Liebe Kolleginnen und Kollegen ins-besondere von der CDU/CSU, die Begrifflichkeit bezüg-lich Wissensgesellschaft und Globalisierung haben Siein den letzten Jahren durchaus eingeübt. Aber die Frageist, was die alte Koalition insgesamt dafür getan hat, ihreVerantwortung für die Sicherung der Zukunft der IuK-Branche wahrzunehmen.
Herr Mayer, wenn bis zur Regierungsübernahmedurch uns im Bundeskanzleramt das Prinzip „Rohrpoststatt Intranet“ galt, wenn die Rohrpost offenkundig daswichtigste Kommunikationsnetz im Kanzleramt war undwenn etwa der Einsatz von E-Mail unbekannt war, dannverrät dies sehr viel darüber – das ist kein Wunder –,wie groß der Modernisierungsrückstand der alten Koali-tion etwa im Vergleich zu der Staatskanzlei in Münchenwar. Das muss man deutlich sagen.
– Nein, Sie als Bundespolitiker hätten etwas davon ler-nen können und hätten sich mit glänzenden Augen über-legen müssen, welchen Nachholbedarf Sie damals inBonn und heute in Berlin hatten. Die Informationswirtschaft droht bei uns an dieGrenzen ihres Wachstums zu stoßen, weil sie unter ei-nem dramatischen Mangel an qualifizierten Fachkräf-ten leidet. Nach jüngsten Schätzungen fehlen uns min-destens 75 000, vielleicht auch 100 000 IuK-Fachkräfte,weil die alte Bundesregierung nicht vorgesorgt hat, vorallem weil sie nicht in der Lage war, ein Konzept derFörderung der Informationstechnologien einzubinden inein Konzept der Gestaltung der Informationsgesell-schaft, mit dem Forschungsförderung mit besonderenAnstrengungen bei Ausbildung, Weiterbildung und Qua-lifizierung strategisch verknüpft war.Es war richtig, dass die neue Bundesregierung gleichnach der Regierungsübernahme dieses Problem ange-packt hat. Ich füge hinzu: Wir haben mit der gemeinsa-men Federführung von Wirtschaftsministerium und Mi-nisterium für Bildung und Forschung ein Zeichen dafürgesetzt, dass eine technologische Entwicklung, die alleBereiche unserer Gesellschaft erfasst, auch als Quer-schnittsaufgabe in der Politik, das heißt ressortübergrei-fend, angenommen und aufgenommen werden muss.Das Ministerium für Bildung und Forschung hat imBündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähig-keit gemeinsam mit den Sozialpartnern und den Bundes-ländern eine Reihe von Maßnahmen vereinbart, mit de-nen der Fachkräftemangel reduziert und die Qualifikati-onsstrukturen auf allen Ebenen verbessert werden.
Wir haben damit eine gute Chance, nicht nur die ge-genwärtigen Lücken schnell zu schließen; vielmehr wol-len wir damit auch dazu beitragen, dass junge MenschenAngela Marquardt
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qualifizierte und zukunftssichere Arbeitsplätze finden.Wir haben beispielsweise im Juli in dieser Arbeitsgrup-pe und ebenso im Wirtschaftsministerium vereinbart,dass die Anzahl der Ausbildungsplätze im IT-Bereichbis zum Jahr 2003 verdreifacht wird. Es ist sehr gut, dass die Dynamik, die in diesem Be-reich gerade im letzten Jahr sehr stark zugenommen hat,uns schon heute die Aussage möglich macht: Wir sindoptimistisch, dass wir die Vereinbarungen vom Sommerletzten Jahres, was den Zeitablauf angeht, sehr vielschneller erfüllen können, als es noch im Sommer unse-re Hoffnung war. Das ist ein gutes Zeichen und es zeigt,dass etwa durch die Initiative D 21 eine breite Mobilisie-rung aller Verantwortlichen zum Abbau desIT-Fachkräftemangels im Gange ist.
Angesichts aller ermutigenden Entwicklungen desletzten Jahres möchte ich Ihnen, Kollege Mayer, Fol-gendes sagen: Wenn Sie wie ich seit fünf oder sechsJahren Internet-Nutzer wären und den Markt aufmerk-sam verfolgten, dann wüssten Sie zum Beispiel, dassman solche Gesamtangebote im Bereich Internet – Tari-fe von 100 DM im Monat – auf dem deutschen Marktschon findet.
Vielleicht haben auch Sie es schon einmal festgestellt.Man muss deutlich feststellen, dass bei der Verbrei-tung und der Nutzung des Internets und moderner mul-timedialer Anwendungen andere Länder die Nase nochvorn haben. Wir müssen vor allem feststellen, dass inunseren Bildungseinrichtungen die Möglichkeiten vonInternet und Multimedia sehr viel stärker genutzt werdenmüssen. Es ist klar, dass beispielsweise amerikanischeHochschulen in der Multimedia-Anwendung durch Ge-samtkonzepte für Hochschulen der deutschen Entwick-lung um Jahre voraus sind und dass sie vor allem schonseit längerem auch über das Internet ihre Bildungsange-bote weltweit vermarkten. Das ist eine Messlatte für dieEntwicklung, die auch unser Hochschulsystem in diesemBereich nehmen muss.
Diese Defizite sind auch ein Ergebnis dessen, dassdie Vorgänger im Amt des Bundesministers für Bildungund Forschung die Ausgaben auf diesem Gebiet jahre-lang heruntergefahren haben. Eine Politik, die Feuer-wehr spielt, wenn es brennt, ist manchmal nötig; aber al-leine ist sie nicht wünschenswert. Wir brauchen viel-mehr eine Politik, die den Wandel von der Industriege-sellschaft zur Wissenschaftsgesellschaft vorausschauendund aktiv gestaltet.Unter unserer Verantwortung geht es um weitereGrundlagenforschung, um die Entwicklung neuartigerAnwendungen und um deren umfassende Nutzung. Esgeht aber auch um die Verklammerung der Förderungvon technischen Entwicklungen mit Fragen der Qualifi-zierung und Bildung; denn die Fähigkeiten und die Fer-tigkeiten der Menschen sind der entscheidende Faktordafür, ob aus elektronisch gespeicherten Daten verwert-bare Informationen und vor allem Wissen werden. Des-halb brauchen wir eine Gesamtstrategie. Im Aktions-programm „Innovation und Arbeitsplätze in der Infor-mationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ setzen wir unspolitische Ziele und laden alle Verantwortlichen, alleAkteure ein, an der Realisierung dieser Ziele mitzuarbei-ten.
Damit gibt es erstmals ein umfassendes Gesamtkonzeptfür den Weg in die Informationsgesellschaft. Ich will ausdem Bereich des BMBF einige Bausteine dazu vortra-gen. Wir sind sehr zuversichtlich, dass schon im nächstenJahr bei uns alle Schulen, beruflichen Ausbildungsstät-ten und Weiterbildungseinrichtungen mit multimedia-fähigen PCs und Internetanschlüssen ausgestattet sind.An unseren Hochschulen werden wir den Einsatz derneuen Medien mit einem speziellen Förderprogramm„Multimedia an den Hochschulen“, das in Absprachemit den Ländern vorbereitet wird, unterstützen. Wir müssen auch aufmerksam verfolgen, was sichbeim Umgang mit Wissen wie etwa Fachinformationentut. Wir müssen rechtzeitig Visionen entwickeln, wieetwa im Zeitalter von Multimedia die Bibliothek derZukunft aussehen könnte, konkrete Wege zur Weiter-entwicklung etwa von Fachinformationssystemen auf-zeigen und uns vor allem auch überlegen, wie wir wei-terhin den Zugang gerade von öffentlichen Einrichtun-gen zu diesen Informationen kostengünstig sichern kön-nen.
Die Informationsgesellschaft ist eine Bildungsgesell-schaft. Wenn wir den vor uns liegenden Strukturwandelsozialverantwortlich meistern wollen, dann müssen wirSorge dafür tragen, dass alle Menschen die gleichenChancen haben, in diese Gesellschaft integriert zu wer-den. Das ist die Aufgabe aller Einrichtungen des Bil-dungssystems, auch schon der Grundschulen. Von ent-scheidender Bedeutung sind dafür neue medienpädago-gische Konzepte und der Einsatz von Bildungssoftwaremit hoher fachlicher und didaktischer Qualität. Deshalbwird unser Haus spezielle Anstrengungen unternehmen,um die Entwicklung und den Einsatz von Bildungssoft-ware zu fördern. Wir wollen durch ein neues För-derprogramm neue Impulse auch zur Qualitätsverbesse-rung von Bildungssoftware in Deutschland geben.
Es geht aber nicht nur um das technische Verständnisder Nutzung von Hard- und Software, es geht vor allenDingen um die Fähigkeit, mit Informationen kompetentParl. Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen
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umzugehen. Ich denke, dass über diesen Punkt hier imHause Einigkeit besteht.
Medienkompetenz muss deshalb zu einem zentralenBildungsinhalt werden, um allen die Chance zu geben,aus der immer größer werdenden Informationsflut dasfür sie relevante Wissen zu gewinnen. Chancengleich-heit im Multimediazeitalter muss dadurch realisiert wer-den, dass wir nicht nur Zugang zum Wissen, sondernauch noch Qualifikationen vermitteln, damit jeder ausden Informationen das für seine Entwicklung wichtigeund relevante Wissen gewinnen kann. Es macht Sinn, dass wir in unserem Hause For-schungsanstrengungen etwa zur Weiterentwicklung vonSuchmaschinen unternehmen, um eine benutzerfreund-liche Suche nach für einen selbst relevanten Informatio-nen zu ermöglichen. Neue Technologien zur Suche nachrelevantem Wissen sind auch ein Beitrag dazu, um ge-nau diesen gesellschaftspolitischen Auftrag zu erfüllen. Dazu gehört natürlich auch, dass wir dafür sorgen,dass wir bei den technologischen Grundlagen der Infor-mations- und Bildungsgesellschaft nicht an Boden ver-lieren, sondern unsere Position sichern und weiter aus-bauen. Wir werden auch weiterhin unseren Beitrag zumErhalt einer bei der Entwicklung und dem Bau wichtigerSchlüsselkomponenten wettbewerbsfähigen informati-onstechnischen Industrie am Standort Deutschland leis-ten. Dabei können wir die Anregung der Koalitionsfrak-tionen aufgreifen, mit einer Strategie der nachhaltigenInformationstechnik in Zusammenarbeit mit der in-formationstechnischen Industrie und anderen dafür zusorgen, das Potenzial, das die Informations- und Kom-munikationstechnik für eine nachhaltige Entwicklungunserer Industriegesellschaft insgesamt bereithält, stär-ker zu nutzen. Ein zentraler Punkt ist für uns dabei auchdie Entwicklung der nächsten Internet-Generation. Wirwollen sicherstellen, dass bis zum Jahr 2005 mobileKommunikationssysteme mit Zugriffsmöglichkeiten aufmultimediale Dienste zu jeder Zeit und an jedem Ort zurVerfügung stehen. Der drahtlose breitbandige Internet-zugang wird bei uns schon im Jahr 2002 möglich sein. Wir brauchen natürlich insgesamt eine moderne undleistungsfähige Forschungslandschaft, wenn wir dieChancen der Informationsgesellschaft nutzen wollen.Die Zusammenführung der Großforschungseinrichtun-gen Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitungund Fraunhofer-Gesellschaft ist eine wichtige for-schungspolitische Weichenstellung, denn wir schaffendamit die größte Forschungsorganisation in der Informa-tions- und Kommunikationstechnik mit über 2500 Mit-arbeiterinnen und Mitarbeitern in Europa. Damit errei-chen wir eine neue Qualität und eine neue kritischeMasse, durch die sichergestellt wird, dass auch weiterhinForschungsanstrengungen zur Weiterentwicklung vonTechniken und Dienstleistungen für Wirtschaft undBürgerinnen und Bürger am Standort Deutschland un-ternommen werden können. Meine Damen und Herren, mit dem Aktionspro-gramm „Innovation und Arbeitsplätze in der Informati-onsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ haben wir ein An-gebot zur Kooperation mit Wissenschaft, Gewerkschaf-ten und Industrie begonnen. Wir wollen diese Diskussi-on fortsetzen und werden sie bei der Verwirklichung dervon uns vorgestellten Aktionsfelder auch verstärken.Das heißt, dieses Aktionsprogramm ist die Grundlagefür weitere Verabredungen und für gemeinsame Maß-nahmen. Es ist ein Angebot an die gesellschaftlichenGruppen, die Informations- und Bildungsgesellschaftaktiv mitzugestalten. Die Gestaltung der Informations-gesellschaft ist Aufgabe aller gesellschaftlichen Grup-pen. Der Staat hat hier die Aufgabe, aktive Beiträge zuleisten, aber auch neue Vernetzungen der Akteure zuermöglichen, Kräfte zu bündeln und insoweit eine le-benswerte Gesellschaft zu verwirklichen.Danke schön.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht nun der Kollege Bernd Neumann.
Herr Prä-sident! Meine Damen und Herren! Wenn fünf Tagesord-nungspunkte miteinander verbunden sind, besteht dieSchwierigkeit darin, dass man möglicherweise thema-tisch aneinander vorbeiredet, wenn man sich auf einenTagesordnungspunkt konzentriert. Kollege Catenhusenhat eben zur nachhaltigen Informationstechnik gespro-chen. Ich möchte mich auf den F.D.P.-Antrag „OffeneMedienordnung für Deutschland verwirklichen“ kon-zentrieren, der sich fast ausschließlich mit der Frage derZukunft des Rundfunksystems befasst.
Dass alles miteinander zusammenhängt, ist richtig; aberich setze hier den Schwerpunkt meiner Ausführungen.Ein Beirat des Wirtschaftsministeriums, bestehendaus dreißig hochkarätigen Ökonomen, hat, wie bereitsgesagt, zur zukünftigen Medienordnung in DeutschlandStellung genommen. Die F.D.P. beantragt nun, die Aus-sagen dieses Gutachtens sozusagen eins zu eins umzu-setzen. Natürlich ist es zu begrüßen, dass wir uns mitdieser Thematik befassen – dies ist sogar zwingend –;denn auch für den Rundfunk, ob privat oder öffentlich-rechtlich, haben Stichworte wie Digitalität und Konver-genz ungeheure Folgen. Insofern ist dieses Gutachteneine gute Grundlage. Viele Aussagen teilen wir, manche– im Gegensatz zur F.D.P. – nicht.
Meine Damen und Herren, ich möchte sieben Punkteaus diesem Gutachten herausgreifen:Erstens. Eine wichtige Aussage dieses Gutachtens ist,dass die Rundfunkordnung in Deutschland für Hör-funk und Fernsehen überholt und untauglich sei und da-Parl. Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen
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her ein radikaler Umbau erfolgen müsse. Diese Positionteilen wir nicht. Das duale System, also das Nebenein-ander von privatem und öffentlich-rechtlichem Rund-funk, für das wir die Grundlagen gelegt und geworbenhaben, ist vom Prinzip her positiv zu sehen. In Deutsch-land insgesamt haben wir ein vielfältiges, differenziertesAngebot von Hörfunk und Fernsehen. Hinsichtlich derInformationsbreite kann man sogar sagen, dass wir imVergleich mit anderen Ländern in der Spitzengruppeliegen.Natürlich stellt sich die Frage, Herr Otto, wie wir dieSchnittstellen zu anderen Bereichen der Medien imRahmen von Multimedia regeln. Insofern ist Ihre Forde-rung richtig, hierfür eine Enquete-Kommission mit demThema Konvergenz einzusetzen. Auch sind immer wie-der Anpassung und Deregulierung insbesondere für denprivaten Bereich des Rundfunks richtig und wichtig.Dies geschieht ja durch dauernde Veränderungen desRundfunkstaatsvertrages, wenn auch manchmal sehrschleppend. Aber dies alles rechtfertigt nun nicht einenradikalen Umbau dieses öffentlich-rechtlichen Systemsin Verbindung mit den Privaten. Im Übrigen bestehtauch keinerlei Chance zur Realisierung; darauf kommeich gleich.Zweitens. Die nächste Forderung lautet, aufgrund derwachsenden Kompetenz des europäischen Wirtschafts-rechtes müsse man den Rundfunk in die wirtschafts-rechtliche Ordnung des Bundes integrieren. Anders aus-gedrückt: Den Ländern soll hierfür die Zuständigkeitgenommen werden und der Bund soll die alleinige Zu-ständigkeit haben.Natürlich wäre es im wirtschaftlichen Wettbewerbmanchmal hilfreich, sofort mit einer Sprache sprechenzu können. Bloß: Diese Forderung ist bar jeder Realisie-rungschance, egal in welche politische Richtung Sie se-hen. Die Zuständigkeit für den Rundfunk liegt bei denLändern. Alle Länder wollen das einvernehmlich – ausihrer Sicht verständlicherweise – nicht ändern. Ich fügehinzu, Herr Kollege Otto: Vielleicht ist dies auch gut so;denn der Föderalismus im Rundfunkbereich hat auf-grund des Wettbewerbs durchaus für Vielfalt im Ange-bot für den Zuschauer gesorgt.
Weil es eben unterschiedliche Ebenen gibt, müssen wiruns die Mühe machen, zwischen Bund und Ländern dieunterschiedlichen Verantwortlichkeiten auszutarieren. Herr Kollege Catenhusen, der alten Bundesregierungund der alten Koalition ist es im Hinblick auf den Mul-timedia-Bereich mit der Schaffung des Informations-und Kommunikationsdienste-Gesetzes einerseits, wel-ches die Zuständigkeit des Bundes betrifft, und dem pa-rallel dazu verabschiedeten Mediendienste-Staatsvertragandererseits gelungen, einen Ordnungsrahmen zu schaf-fen, der immer wieder überprüft werden muss. Die An-zahl der verschiedenen Gremien ist zwar sehr groß. Aberwir haben einen Ordnungsrahmen geschaffen, der not-wendig war, um für Investoren eine gewisse Sicherheitzu gewährleisten, und um den uns andere vergleichbareIndustrienationen zumindest in einigen Teilen beneiden. Drittens. Es wird gefordert, dass für den Erhalt derMeinungsvielfalt im Medienangebot keine medien-rechtliche Regulierung mehr erforderlich sei. Wir sol-len vielmehr alles, auch den privaten Rundfunk, aus-schließlich von der Funktionsfähigkeit des Wettbewerbsabhängig machen. Das bedeutet, dass im Hinblick aufdie privaten Rundfunkmedien wie für alle anderen Wirt-schaftszweige nur die Missbrauchsaufsicht und die Fu-sionskontrolle des Kartellrechts angewendet werden sol-len.Es ist völlig unstrittig, dass einige Medienproblemebereits mit einer konsequenten Anwendung des Kartell-rechts gelöst werden können. Richtig ist auch, dass imRundfunkbereich eine Reihe von Sektoren überreguliertist und dass man dem Markt mehr Einfluss überlassenlassen kann als bisher. Aber Markt und Wettbewerb al-lein sind als Bezugsgrößen nicht ausreichend, um hin-sichtlich der Qualität und Quantität des Rundfunks, alsoder Entwicklung hin zu sehens- und hörenswerten Pro-grammen, einen angemessenen Rahmen zu bilden.
Rundfunk ist mehr – ich spreche jetzt nicht von Mul-timedia; ich spreche vom privaten und vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk – als nur normales Wirtschaftsgutund mehr als pure Ware, ganz abgesehen davon, dass esfür diesen Bereich eine verbindliche Rechtsprechung desBundesverfassungsgerichts gibt. Wenn ich sehe, wie inmanchen Talkshows bereits am Nachmittag zum TeilMenschen verachtende, menschenfeindliche und zumTeil auch von Rohheit und Gewalt geprägte Beiträgevermehrt gezeigt werden – im öffentlich-rechtlichenRundfunk, aber auch und insbesondere im privaten Be-reich –,
dann wird für mich daran deutlich, dass Rundfunk undFernsehen doch noch andere Kriterien erfüllen müssenals nur die des Kartellrechts wie beim Verkauf von Tex-tilien und Zahnpasta. Es gibt noch andere Kriterien,nämlich die des Pluralismus, der Menschenwürde unddes Jugendschutzes. Das ist eben mehr als nur Kartell-recht.
Herr Kollege Neu-
mann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Otto?
Das wird
mir nicht von der Redezeit abgezogen?
Nein.
Bernd Neumann
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Herr Kol-
lege Neumann, Sie haben die Vorschläge des Beirates
abgelehnt.
Nicht so
voreilig. Ich komme noch zur Zustimmung.
Insbeson-
dere die Zuständigkeit des Kartellamtes, die notwendig
ist, um einen funktionierenden Wettbewerb in diesem
Bereich zu ermöglichen, haben Sie sehr skeptisch gese-
hen. Ihre Begründung war, es handele sich beim Rund-
funk nicht um ein normales Wirtschaftsgut wie Zahn-
pasta oder andere Güter. Das war Ihre These.
Meine Frage ist: Sind Sie denn wirklich der Auffas-
sung, dass beispielsweise unser sehr vielfältiges und
qualitätsvolles Angebot an Printmedien ein Wirtschafts-
gut wie zum Beispiel Zahnpasta ist? Wie rechtfertigen
Sie in einer veränderten Medienlandschaft die Tatsache,
dass wir für Rundfunk etwas völlig anderes vorsehen als
für die Printmedien Zeitungen und Zeitschriften?
Eine weitere Frage: Warum gilt für Online-Zeitungen
etwas völlig anderes als für die gedruckten Zeitungen?
Meines Erachtens passt das vorne und hinten nicht zu-
sammen. Ist es wirklich weiterführend, wenn Sie sagen,
dass Rundfunk kein Wirtschaftsgut wie Zahnpasta sei?
Der Wettbewerb gilt auch für andere Wirtschaftsgüter
als Zahnpasta.
Herr Kol-lege Otto, ich kenne das Argument mit den Printmedien.Das ist so nicht vergleichbar. Warum ist es nicht ver-gleichbar? Der gesamte Printmedienbereich, historischgewachsen, befindet sich im normalen privatwirtschaft-lichen Wettbewerb. Ich habe von einer Rundfunkord-nung geredet, die bisher durch das duale System ge-kennzeichnet ist: auf der einen Seite der öffentlich-rechtliche Rundfunk und auf der anderen Seite der pri-vate Rundfunk. Will ich aber in Richtung Printmediengehen, so bedeutet das zwangsläufig, dass ich zuneh-mend alles privatisiere und damit die eine Säule des dua-len Systems, nämlich die des öffentlich-rechtlichenRundfunks, am Ende liquidiere, und dies möchte ichnicht. Ich möchte im Prinzip das duale System erhalten.
– Ich komme noch auf die Punkte, wo wir völlig einerMeinung sind. – Wenn ich dies möchte, dann muss esbestimmte Kriterien geben, die in etwa auch Wettbe-werbschancengleichheit herbeiführen.Wenn Sie mich nun zu einem weiteren Punkt desGutachtens kommen lassen. In diesem Gutachten heißtes: Der öffentliche Rundfunk soll reduziert werden, aufganz bestimmte Aufgaben beschränkt werden, und ersoll zum Teil privatisiert werden. – Hier ist ein Punkt,wo wir uns sehr nahe kommen und wahrscheinlich auchsehr nahe sind. Ich bin im Übrigen gegen eine Teilpri-vatisierung. Den Vorschlag, das ZDF zu privatisieren,halte ich für nicht angemessen, weil das die Ausgewo-genheit in der einen Säule, nämlich der öffentlich-rechtlichen, verändern würde.
Aber ich finde, wir müssen die Diskussion führen, in-wieweit all das, was der öffentlich-rechtliche Rundfunkin seiner Quantität bietet, mit Grundversorgung zu tunhat. Dieser Diskussion muss man sich stellen. Hierzusage ich, der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat sich inden letzten Jahren ausgebreitet wie eine Krake. Eine Beschränkung auf eine kulturelle Nischenfunk-tion wäre allerdings auch nicht angemessen. Es ist rich-tig, dass zur Grundversorgung auch qualitative Angebo-te gehören, nicht nur in der Kultur, sondern auch im Be-reich der Information, der Unterhaltung und auch desSports. Aber eine permanente Ausdehnung des öffent-lich-rechtlichen Rundfunks, so wie wir sie jetzt gehabthaben oder wie wir es jetzt sehen, mit dem Ergebnis,dass originäre Aufgaben wie Kulturangebote entwederliquidiert oder in späte Abendstunden verlegt werden,das kann nicht vernünftig sein.
Meine Damen und Herren, wir haben im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zwei nationale Volksprogramme,acht dritte Fernsehvollprogramme, zwei Spartenkanäle,zwei europäische Satellitenprogramme; wir haben jetztzusätzlich den Bildungskanal Alpha, wir haben denTheaterkanal des ZDF. Wenn Sie in das neue KEF-Gutachten schauen, dann stellen Sie fest, dass die Sen-deleistung von ARD und ZDF von 1992 bis 1997 um65,8 Prozent, die Zahl der öffentlich-rechtlichen Pro-gramme im Hörfunkbereich von 46 auf 58 und die Sen-deleistung im öffentlich-rechtlichen Hörfunkbereich um30,4 Prozent gestiegen ist, und dies, während wir gleich-zeitig ein sehr umfangreiches Angebot im privaten Be-reich haben. Diese Expansion ist auch mit ein Grund fürdie aus meiner Sicht uns wahrscheinlich bevorstehendeeklatante Gebührenerhöhung von über 10 Prozent. Des-wegen sage ich: Diese Entwicklung muss der Bürger be-zahlen. Dies alles darf nicht und kann nicht unter„Grundversorgung“ eingeordnet werden. Wenn dies soweitergeht, gefährdet es das Gleichgewicht im dualenSystem. Deswegen sage ich: Hier müssen wir zu einerÄnderung kommen. Diese Entwicklung müssen wirbremsen.
Ich füge hinzu, wir werden diese Entwicklung, nichtdurch mehr Selbstregulierung der Anstalten selbst brem-sen, sondern nur wenn wir den Mut haben, in der Politikim Rahmen eines so genannten Funktionsauftrages letzt-lich auch in Staatsverträgen zu beschreiben, was öffent-licher Rundfunk kann und nicht kann, im Sinne eineszukunftsträchtigen dualen Systems.
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Eine weitere Forderung, die ich teile, ist: Keine Wer-befinanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks,weil sie den Wettbewerb verfälscht! Wir treten dafürein, mindestens mittelfristig private Programme durchWerbung, öffentlich-rechtliche durch Gebühren zu fi-nanzieren. Nun ist mir klar, dass dies nicht sofort zu ma-chen ist, aber man muss es schrittweise anstreben.Ein erster Schritt zu dieser Funktionsaufteilung wäre dieAbschaffung des Sponsoring, die ja klar getarnte Wer-bung ist. Meine Damen und Herren, ich bin der Auffassung,dass ein Programm ohne Werbung, die in Spielfilmenfür die meisten Zuschauer eher störend ist, sogar zu ei-nem Markenartikel des öffentlich-rechtlichen Rundfunkswerden könnte. Damit würde gleichzeitig, wenn wir daserreichen, ein ordentliches Gleichgewicht zwischen pri-vaten und öffentlich-rechtlichen Anbietern hergestellt.Lassen Sie mich in einem weiteren Punkt etwas zuden verschiedenen Zulassungs- und Genehmigungsver-fahren und den verschiedenen Gremien sagen – derKollege Otto hat sie zu Recht angesproche – 15 Landes-medienanstalten, die KEK, die Regulierungsbehörde,das Kartellamt. Es gibt unterschiedliche Forderungen.Vonseiten der SPD wird, so von Herrn Mosdorf, gefor-dert, alle 15 Landesmedienanstalten zu einer zusammen-zufassen. Herr Mosdorf weiß genau, dass das, wenn eres in den Ländern, in denen die SPD regiert, vortragenwürde, nicht durchsetzbar ist. Wenn man am Anfangwäre, müsste man in derTat die Überlegung anstellen,ob das nicht sinnvoll wäre. Ich befürchte, obwohl ichdas in der Zielrichtung unterstütze, dass dies mit allenLändern leider nicht zu machen ist. Für abwegig halte ich den Vorschlag, der auch ausden Reihen der SPD - von Herrn Clement und auch vomBundestagspräsidenten Thierse - kommt, zu diesenGremien zusätzlich einen Kommunikationsrat zu schaf-fen. Meine Damen und Herren, das wird ein weiteresGremium, eine weitere Bürokratie. Deshalb ist dies ab-zulehnen.
Wir sagen: Wenn eine Abschaffung nicht möglich ist- am ehesten könnte die KEK abgeschafft werden; ichwill das nicht im Einzelnen erläutern, aber diese Aufga-be könnte man dem Kartellamt bzw. den Landesmedien-anstalten übergeben -, dann müsste eine stärkere Diffe-renzierung der Regulierungsinstanzen möglich sein.Wenn nicht fusioniert wird, dann sollte wenigstens koor-diniert werden. Dass eine größere Koordination erfol-gen muss, ist unstrittig.Lassen Sie mich zu einem Fazit kommen: Das heuti-ge Ja zum dualen System der Medienordnung kann im-mer nur eine Momentaufnahme sein. Die Veränderun-gen im Medienbereich über die modernen Informati-ons- und Kommunikationstechnologien zur Digitalitätund zum Internet, Konvergenz von Fernsehen, Telefonmit Internet in einem einzigen Gerät, stellen uns natür-lich - das ist auch Ihr Thema - vor eine herausragendeAufgabe. Wenn man jetzt die Fusionspläne von AOL,dem Online-Anbieter, und Time Warner, dem Medien-konzern, was auch ein Stück Konvergenz im wirtschaft-lichen Bereich ist, sieht, wird deutlich, welche Heraus-forderung wir zu bewältigen haben. Aber, meine Damenund Herren, die Politik wird - ich sehe nicht, wie es an-ders gehen soll - den technologischen Entwicklungenimmer ein Stück hinterherlaufen. Ich teile nicht allemarkigen Sprüche des Staatsministers Naumann, der alsMedienminister jetzt leider nicht mehr dabei ist. Mit ei-ner Aussage hat er aber heute Recht: Wir können nichtKonsequenzen regulieren, ehe Erfindungen gemachtwerden. Dies bedeutet, die Dinge erst einmal sich entwi-ckeln zu lassen, um dann zu sehen, was an Ordnungs-rahmen dringend nötig ist. Hier muss es heißen, denOrdnungsrahmen so schmal wie möglich und so großzü-gig wie möglich zu halten, damit sich wirklich etwasentwickeln kann.
Zum Abschluss. Dieses Gutachten, welches wir heuteauch zu diskutieren haben, leistet einen wichtigen Dis-kussionsbeitrag. Lieber Kollege Otto, eine Übernahmevon 1 : 1, wie Sie das vorgetragen haben, kommt für unsnicht in Frage. Da der Wirtschaftsminister dieses Gut-achten vorgestellt hat, da er einen Beirat dafür eingesetzthat, der sich dieses Themas angenommen hat, reicht esnicht aus, dass wir uns mit einer Seite Presseerklärungdes Wirtschaftsministeriums abfinden, sondern ich gehedavon aus, dass wir dies an den zuständigen Ausschussüberweisen. Ich gehe davon aus, dass wir dann natürlicherwarten können, dass die Bundesregierung über dieseeine Seite hinaus zu den verschiedenen Problemen die-ses Themas Stellung nimmt.
Ich glaube, dass wir, wenn wir über unsere Strukturensprechen, immer einen realistischen Blick haben müs-sen, der am föderalistischen System fixiert ist, das wirhaben und das wir unterstützen, der andererseits aber sofortschrittlich ist, dass wir Innovationen durch übermä-ßige Regulierungen nicht verhindern.Vielen Dank.
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Hans-Josef Fell vom Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!Die Möglichkeiten der Informations- und Kommunika-tionstechnologie sind unglaublich vielfältig, spannendund faszinierend. Die Bundesregierung greift mit ihremAktionsprogramm diese Chancen offensiv auf. Das In-ternet kann Gebäude durch Websites, es kann Papierdurch Elektronen und es kann Lastwagen durch Glasfa-Bernd Neumann
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serkabel oder durch Satelliten ersetzen. Produkte könnenauf Bestellung produziert und ausgeliefert werden, wo-mit die Herstellung von Produkten, die in Geschäftenliegen bleiben, vermieden und der Einkaufsverkehr ver-ringert werden können.Die Informations- und Kommunikationstechnologieermöglicht potenziell eine Entkopplung des Wirt-schaftswachstums vom Energie- und Ressourcen-verbrauch. Ein qualitatives Wachstum, welches nichtauf Kosten von Gesundheit und Umwelt geht, ist mög-lich, aber einen Automatismus dafür gibt es leider nicht.Meine Damen und Herren, mit wem reden wir imJahre 2020 - mit unseren Mitmenschen oder nur nochüber Handy mit dem Computer? Wo lernen unsere Kin-der im Jahre 2020 die Natur kennen - im Internet oderim Wald? Verehrte Kolleginnen und Kollegen, sosehrwir die Informations- und Kommunikationstechnik be-jahen, es gilt dennoch auch auf die sozialen und ökolo-gischen Aspekte in einer zukünftigen Informationsweltaufmerksam zu machen und nicht jede machbare Ent-wicklung blind zu verfolgen.
Heutige Rahmenbedingungen werden eine nachhalti-ge Entwicklung bei der IuK-Technik nicht zwangsläufigfördern. Daher legen die Regierungsfraktionen den An-trag zur Strategie für eine nachhaltige Informationstech-nik vor. So bekommt der Aktionsplan der Bundesregie-rung auch im Sinne der Nachhaltigkeit einen zusätzli-chen Pusch, wie Minister Werner Müller heute bereitsbestätigt hat.Entscheidend hierbei ist zum Beispiel die Verhinde-rung des Rebound-Effekts. Er besagt im Wesentlichen,dass jedes technische Potenzial der Dematerialisierunginfolge einer Ausdehnung von Aktivitäten doch höherenRessourcenverbrauch schaffen kann. So ist trotz allerimmensen Effizienzgewinne in der Vergangenheit derRessourcen- und Energieverbrauch bis zum heutigenTag gestiegen. Zum Beispiel hat in einem modernen Büro trotz E-Mail, trotz Fax, trotz elektronischer Zei-tung der Papierverbrauch drastisch zugenommen.
Die Umweltbilanz zu verbessern, gelingt zum Bei-spiel durch die Optimierung der technischen Produkte indiesem Sektor selbst. Hier gibt es erhebliche Verbesse-rungspotenziale. Über 700 verschiedene Stoffe gehen ineinen PC ein. Obwohl der PC bislang als Grundlage derangeblich immateriellen und Ressourcen schonenden In-formationsgesellschaft gilt, werden dennoch zwischen16 und 19 Tonnen Rohstoffe zur Herstellung eines ein-zigen PCs benötigt. Das sind fast zwei Drittel so viel wiezur Produktion eines normalen Pkw ohne Elektronik.Ursache ist unter anderem, dass sehr viel Energie indie Herstellung geht, zum Beispiel für die Reinstluftbe-dingungen bei der Chipproduktion. Hinzu kommt eineMenge Energie, die beim Antrieb der Anlagen benötigtwird. Das Problem wird durch die kurze Nutzungsdauervon häufig nur drei bis vier Jahren zusätzlich verschärft.Ich möchte an dieser Stelle ein Beispiel nennen, dasaufzeigt, wie schlechte Rahmenbedingungen Umwelt-schutz und Arbeitsplätzen gleichzeitig schaden. Bis Mit-te der 90er-Jahre waren deutsche Unternehmen bei derhalogenfreien Leiterplatte technologisch führend. DasProblem war, dass die Preise etwas höher waren als fürdas halogenhaltige Pendant. Auf dem Computermarktmit seinen engen Margen konnte sich die umweltfreund-liche deutsche Technologie daher nicht durchsetzen. Hätte die alte Bundesregierung gehandelt und halo-genhaltige flammgeschützte Leiterplatten verboten oderwenigstens die Markteinführung der halogenfreien Pro-dukte unterstützt, wären wir nicht nur dieses Umwelt-problem los, sondern hätten auch einige tausend Ar-beitsplätze mehr. Stattdessen sahen Sie, meine Damenund Herren von der heutigen Opposition, tatenlos zu.Nun werfen die mittlerweile führenden Japaner dieseTechnologie auf den Markt. Sie wird Erfolg haben, wasfür den Umweltschutz gut ist, aber die Arbeitsplätzewerden wohl in Japan entstehen.Ebenso wichtig wie die Produktion ist die Verwer-tung des Abfalls. Dort, wo recycelt wird, kann einerseitsdas Material wieder in die Produktion einfließen undkönnen andererseits die gewonnenen Erfahrungen in dieökologische Entwicklung neuer Produkte eingebrachtwerden.Immer wichtiger wird neben dem PC die Peripherie.Auch hier gibt es große Chancen. Flachbildschirmewerden mehr und mehr die bekannten Bildschirme mitihren Energie fressenden Bildröhren ersetzen. In einemnächsten Schritt könnten sich visualisierende Brillendurchsetzen. Auch hier wird die Politik begleiten müs-sen, damit sich mögliche negative Nebenwirkungen inGrenzen halten. Die große Chance der Informations- und Kommuni-kationstechnologie ist der Einsatz der Technik für einenachhaltige Entwicklung in allen Bereichen der Wirt-schaft. Es wird aber immer deutlicher, dass nicht die di-gitale Technik als solche Lösungen liefert, sondern dassdie Rahmenbedingungen, in die sie eingebettet ist, ent-scheidend sind. Darüber hinaus muss ein Erkenntnisge-winn wirklich in reales Handeln umgesetzt werden.Ich möchte nur einige Beispiele nennen. Ohne Hoch-leistungscomputer gäbe es keine aufwendigen Klima-modelle. Der Computer selbst ist aber nutzlos, wenn diePolitik nicht zum einen umfangreiche Mittel für dieKlimaforschung ausgibt und zum anderen dann die Er-kenntnisse tatsächlich in eine vorsorgende Klima-schutzpolitik umsetzt.Ein zweites Beispiel. Die Organisation einer dezen-tralen Energieversorgung und die Steuerung des Ener-gieverbrauchs über die Ausrichtung an einem natürli-chen solaren Energieangebot ist dank der IuK-Technikein ganz leicht lösbares Problem. Die Energiepolitikaber gegen alteingesessene Interessen zu ändern, diedem Klimaschutz im Wege stehen, ist tausendmalschwieriger.An dieser Stelle möchte ich aber auch vor der Gefahr von Scheinlösungen warnen. Hierzu zählt inHans-Josef Fell
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Teilbereichen die Telematik, die lediglich an Sympto-men kuriert, aber die Probleme nicht wirklich anpackt.Im schlimmsten Fall werden echte Lösungen im Ver-kehrssektor mit Hinweis auf die Möglichkeiten der Te-lematik sogar verzögert.Ein Zitat des Verkehrsforschers Hermann Knoflachermacht das deutlich:Als Wunderwaffe gegen Unfälle und Verkehrsstauwird die Telematik propagiert ... Hunderte Millio-nen Mark europäischer Steuergelder werden derzeitin dieses aussichtslose Unterfangen investiert, umlieb gewonnenes Fehlverhalten beibehalten zu kön-nen.So weit Hermann Knoflacher.Nachdem ich mich bisher auf die Chancen und dieProblemlösungsfähigkeit der IuK-Technik konzentrierthabe, möchte ich abschließend aber auch auf möglicheGefahren eingehen. Die Entwicklung des Mobilfunksist dabei, unsere Gesellschaft zu überrollen. Die meistenin diesem Hohen Hause dürften die Vorzüge dieserTechnologie schätzen gelernt haben. Andererseits sinddie Mobilfunknetze de facto eine Technikfolgenabschät-zung am lebenden Objekt Mensch. Die Wissenschaft istsich über die Unbedenklichkeit dieser Technologie nochnicht einig.
Immer wieder werden Studien bekannt, die Gefährdun-gen sehen. Dessen ungeachtet boomt das Geschäft mitdem Handy. Dies hat zu einer dichten Infrastruktur anMobilfunksendeanlagen geführt, die sich nicht seltenauch auf Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen be-finden. Weiterhin vorhandene Forschungslücken undsich widersprechende Erkenntnisse bereits vorliegenderwissenschaftlicher Untersuchungen verlangen zumindestnach verstärkten Forschungsanstrengungen.Eine nachhaltige Gesellschaft ohne freien und siche-ren Informationszugang ist nicht vorstellbar. Aber auchdie Freiheit des Informationszugangs ist nicht auf alleTage gesichert. Monopolisierungstendenzen und Miss-bräuche des Monopols hat es in der IuK-Branche immergegeben. Ich begrüße in diesem Zusammenhang mitNachdruck, dass das BMWi Open-Source-Software nununterstützt.
Zugleich möchte ich vor Bestrebungen in der EU war-nen, Software patentieren zu lassen.
Dieser Schritt würde den Zugang zu Software erschwe-ren und die wirtschaftliche Entwicklung in Europa starkhemmen.
Resümierend möchte ich festhalten, dass die Informa-tions- und Kommunikationstechnologie weiterhin ge-waltige Chancen bietet. Ein rein technokratischer Ansatzwürde aber zwangsläufig dazu führen, dass die Risikengegenüber den Chancen an Bedeutung gewinnen wür-den. Deshalb haben die Regierungsfraktionen den An-trag zur Nachhaltigkeit in der Informations- und Kom-munikationstechnologie vorgelegt. Sie werden damit ei-ne Verbesserung erreichen.
Ich gebe nunmehr
dem Kollegen Jörg Tauss für die SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Rexrodt, ich freue mich,wenn Sie sich so freuen. Es ist in diesen turbulenten Ta-gen ja gar nicht so einfach, über Sachpolitik zu reden.
– Lichtgestalt, danke. – Statt mit der Struktur der zu-künftigen Gesellschaft und ihren Kommunikationsmög-lichkeiten muss man sich gegenwärtig leider mehr mitdem Finanzgebaren der CDU in ihrer Vergangenheit be-schäftigen. Die Bundesregierung hat demgegenüber indieser Zeit solide ihre Arbeit gemacht und mit dem jetztvorgelegten Aktionsplan das Tor in Richtung Zukunfts-gestaltung weit aufgestoßen.
Dass Deutschland mit dem Regierungswechsel nach denunverzeihlichen Jahren der Versäumnisse der Regierungaus CDU/CSU und F.D.P. mit der Aufholjagd begonnenhat, war überfällig. Herr Kollege Mayer, deshalb solltenSie vonseiten der Opposition helfen und nicht über dieGeschwindigkeit jammern, mit der die Beseitigung IhrerDefizite erfolgt. Auch mir wäre es lieber, wenn diesschneller ginge. Aber es ist nun einmal so, wie es ist.
Die im Aktionsplan auf 155 Seiten angesprochenenFragen sind außerordentlich komplex und berühren alleArbeitsfelder der Bundesregierung von A wie Arbeit –ich sehe hier den Staatssekretär im Arbeitsministerium –bis Z, bis zur Zivilprozessordnung im Bereich des Jus-tizministeriums. All diese Themen im Rahmen einer zweistündigenDebatte ausführlich zu erörtern, das geht nicht. Wirschlagen Ihnen deshalb vor, Herr Kollege Otto, beimBundestagsausschuss für Kultur und Medien einen Un-terausschuss einzurichten, mit dem wir künftig aus-schussübergreifend Problemfelder aufgreifen und dieArbeit der anderen beteiligten Ausschüsse bei der Be-wertung von IuK-Technologien ein Stück ergänzen undbegleiten könnten. Herr Kollege Mayer, gerade über solche Initiativenwie die hinsichtlich eines ungetakteten Internettarifes,Hans-Josef Fell
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also über Zukunftsfragen, könnte dort sehr gut diskutiertwerden. In diesem Punkt – da teile ich Ihre Auffassung –pennt im Übrigen die Telekom, wenn ich das so bur-schikos sagen darf. Ich gehe aber davon aus, dass imLaufe der Zeit auch dort alle Vorstandsmitglieder An-schluss an die Moderne finden werden. Dann wird diessicherlich einfacher zu regeln sein.
Über das Desinteresse der alten Bundesregierung andiesem Thema ist gesprochen worden. Kollege Catenhu-sen hat das traurige Beispiel geschildert, dass es imKanzleramt statt des Internets nur die Rohrpost gab. Ge-hässig betrachtet – aber Sie haben es in diesen Zeitenschwer genug – könnte man natürlich sagen: Bargeld-verkehr und der Verlust von Akten wurden angesichtsdessen, dass man statt des Internets nur eine Rohrposthatte, leicht gemacht. Aber ich will diese Themen heuteNachmittag nur streifen.
Auf diesem Rohrpostniveau fand damals – übrigensin Zuständigkeit der Herren Rüttgers und Rexrodt; HerrRüttgers ist nicht anwesend; Herr Rexrodt, Sie scheinensich heute zumindest noch ein bisschen für das alteThema zu interessieren; das ist gut – die ganze Laienauf-führung statt. Sie verzeihen mir dieses Wort; aber es warwirklich eine Laienaufführung, die ihr da unternommenhabt. Immerhin verbindet mich etwas mit dem Fraktions-vorsitzenden der CDU/CSU, der in diesen Tagen laut„Spiegel“ gesagt hat, er hielte nicht viel von Rüttgers.Ich kann Herrn Schäuble an dieser Stelle wirklich nurzustimmen. Wer Rüttgers kennt, der kann zu keiner an-deren Betrachtung kommen. Das merken die Menschenin Nordrhein-Westfalen im direkten Vergleich mitWolfgang Clement.Rüttgers war als Zukunftsminister angetreten und istals Ankündigungsminister in Erinnerung geblieben. Inseiner Zeit sind weder wesentliche Standardsetzungennoch eine deutsche Beteiligung bei den Weichenstellun-gen in Sachen Internettechnologie feststellbar gewesen,welche übrigens allen wirtschaftspolitischen Legendenvon der neoliberalen Seite des Hauses zum Trotz ganzwesentlich zum eigentlichen Aufschwung in den USAbeigetragen haben. Die Internettechnologie war dafürverantwortlich, nicht irgendwelche neoliberalen Thesen,die Sie uns auch hier gelegentlich um die Ohren schla-gen.
Herr Kollege Mayer, ein Teil der Fragen Ihrer Gro-ßen Anfrage sind durchaus sehr originell. Diese Fragenhätten Sie zu Ihrer Regierungszeit stellen müssen. Überdie Versäumnisse während seiner Amtszeit sollte besserHerr Rüttgers sprechen. Die Clinton/Gore-Administration machte schon vorJahren den Aufbau einer globalen Informationsinfra-struktur zur Chefsache, Blair und Jospin zu ihrenSchwerpunkten. In Deutschland fand zu Zeiten der ehe-maligen Bundesregierung das Thema Internet lange ü-berhaupt kein Interesse, wurde bekämpft oder alsSchmuddelecke bezeichnet.
– Jawohl, bekämpft. Sie haben es doch nahezu als Be-drohung empfunden. Ich erinnere an die Überlegungenzur Telekommunikationsüberwachung in Ihrem Hause,Herr Kollege Rexrodt.
– Herr Kanther und Frau Nolte hatten völlig falsche Regulierungsansätze zur an sich richtigen Bekämpfungder Kriminalität, was bestenfalls zu wirkungslosen,schlimmstenfalls zu gegenteiligen Folgen führte. Aufgrund des Aufbaus einer globalen Informations-infrastruktur sind in den USA zahlreiche Jobs entstan-den. Die bei uns auf diesem Gebiet existierenden weni-gen Stellen können wir kaum besetzen. Eine der Ursa-chen dafür ist, dass Sie das Internet technologisch, recht-lich und in seiner gesellschaftlichen Wirkung völligfalsch eingeschätzt haben.
Deshalb ist es gut – Herr Catenhusen hat darauf hin-gewiesen –, dass das Bündnis für Arbeit in einer seinerersten Maßnahmen die Erhöhung der Zahl der Ausbil-dungsplätze in diesem Bereich um rund 40 000 vorge-sehen hat. Wenn dieses Ziel, Herr Staatssekretär, frühererreicht werden kann, ist das ganz hervorragend.
Der angesprochene Internetpreis wird zusätzlichdeutlich machen, dass wir die Entwicklung des Internetsin Deutschland jetzt fördern und sie nicht wie unterSchwarz-Gelb verschlafen wollen und dürfen. Mit die-sem Preis sollen übrigens – das sage ich ausdrücklich fürden Ausschuss für Kultur und Medien – auch kulturelleLeistungen gewürdigt werden. Medienpolitik ist nämlichintelligente Struktur- und Wirtschaftspolitik, wie übri-gens das Beispiel NRW zeigt, aber zuvörderst – und dassoll so bleiben – Gesellschafts- und Kulturpolitik. Dasist es, worauf wir Wert legen.
Lieber Herr Kollege Otto, der Sie sich jetzt aufgeregtmit Herrn Rexrodt unterhalten: Sosehr ich Sie auchschätze, das ist der Grund, warum wir Ihren Antrag zumeinem großen Bedauern ablehnen müssen. KollegeNeumann hat bereits einige der Argumente, die ichdurchaus teile, vorgetragen.
Herr Kollege Tauss,der Kollege Rexrodt gibt Ihnen die Möglichkeit, IhreRedezeit zu verlängern, wenn Sie seine Frage zulassen.Jörg Tauss
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7483
Das wäre prima, weil ich schon
knapp in der Zeit bin. Sie merken, dass ich schon immer
schneller rede. – Herr Kollege Rexrodt, gestatten Sie mir
noch einige Sätze zu Herrn Neumann. Ich komme gleich
zu Ihnen.
Ich sehe Angebote wie zum Beispiel den Kinderkanal
nicht als „KrakeƎ im öffentlich-rechtlichen Bereich;
darüber müssen wir ernsthaft reden. Ich halte auch den
Weiterentwicklungsauftrag des öffentlich-rechtlichen
Rundfunks nicht generell für verwerflich. Aber lassen
Sie uns darüber reden! Wir wollen das duale System.
Dazu gehört natürlich eine faire Entwicklung des priva-
ten ebenso wie eine faire Weiterentwicklung des öffent-
lich-rechtlichen Sektors. Da sind wir uns völlig einig.
Bitte schön, lieber Herr Kollege Rexrodt.
Herr Kollege Tauss,
ich nehme Bezug auf Ihre Aussage, dass das Internet
und nicht die neoliberale Wirtschaftspolitik in den USA
zu einer Veränderung der Gesellschaft geführt habe. Ist
Ihnen bekannt, Herr Kollege Tauss, dass es die alte Koa-
lition war, vornehmlich das Wirtschaftsministerium, das
zu führen ich damals die Ehre und die Gelegenheit hatte,
die das Informations- und Kommunikationsdienste-
Gesetz und die Telekommunikationsliberalisierung vo-
rangebracht hat? Ist Ihnen ebenfalls bekannt, dass es,
was die Nutzung des Internet und dessen Implementie-
rung angeht, gerade die Sozialdemokratische Partei war,
die über Jahre hinweg eine Ordnung angedacht hatte, die
darauf hinauslief, dass auf europäischer und weltweiter
Basis quasi eine Vorgabe der Staaten für die Nutzung
elektronischer Medien verabschiedet werden sollte, und
dass wir es waren, die gegen den Widerstand von Ihnen
und anderen gesellschaftlichen Gruppen dafür Sorge ge-
tragen haben, dass das Internet, der freie Umgang und
Verkehr mit Daten innerhalb bestimmter Regeln, die wir
auch vereinbart haben, möglich wurde? Ist Ihnen das
bekannt, Herr Kollege Tauss?
Das ist natürlich ein ganzerStrauß von Fragen, die Sie mir stellen.
– Nein, ich kann nicht Ja sagen, Herr Kollege Otto.Sie haben völlig zu Recht das Informations- undKommunikationsdienste-Gesetz des Bundes angespro-chen. Es gab innovative und auch problematische Teile.Der Evaluierungsbericht hat gezeigt – hier appellierenwir ein Stück weit auch an die Bundesregierung –, dasses in der Tat noch offene Rechtsfragen gibt, die von deralten Bundesregierung zu verantworten sind. Herr Rex-rodt, ich kann Ihnen gerne noch einmal meine Rede vondamals vortragen – als Sie mich dafür in der Kantine ge-lobt haben, habe ich schon gedacht, ich hätte etwas ver-kehrt gemacht –, die ich an dieser Stelle zum IuKDGgehalten habe. Damals habe ich gesagt: Es muss für dieAnbieter Rechtssicherheit geben. Dies bedeutet auch ei-ne freie Kommunikation, die durch nichts beeinträchtigtwird. Sie werden von mir und, soweit ich mich erinnernkann, auch nicht von einem anderen Mitglied meinerFraktion zu irgendeinem Zeitpunkt eine Erklärung ge-funden haben, in der wir gesagt haben: Wir wollen dasInternet im Sinne einer Beeinträchtigung der Meinungs-freiheit regulieren. Diese Probleme hat es damals bei Ihnen gegeben.Denken Sie daran, wie Sie damals im eigenen Hause imZusammenhang mit der Telekommunikationsüberwa-chungsverordnung ausgetrickst worden sind! DenkenSie auch an die Krypto-Geschichte, die wir damals hef-tig miteinander diskutiert haben! Herr Kanther hat da-mals bis zuletzt mit allen Mitteln dafür gesorgt –
– Ich weiß doch, dass ihr dagegengehalten habt. Aber ihrhabt euch doch nicht durchgesetzt. Erst mit unserer Re-gierungsübernahme hat sich die Bundesregierung klardafür ausgesprochen, dass es keine Beeinträchtigung ge-ben soll .
Herr Rexrodt, es ist keine Schande, wenn Sie meinerMeinung sind. Aber dass Sie dies damals nicht als Posi-tion der Bundesregierung durchgesetzt haben, sondernals offenes Spiel mit erheblicher Verunsicherung derBranche gehandhabt haben, ist doch bekannt.
– Nein, ich war nicht auf der anderen Seite. Aber dar-über können wir bei einem Gläschen Bier reden, auchüber die Rolle von Herrn Kanther, den zwischenzeitlichauch einige aus Ihren Reihen als Schande für das Parla-ment bezeichnen.Ich glaube, all diese Beispiele zeigen: Hier ist von Ih-nen schon ein Stück weit gesündigt worden. Ich erinnereeinmal an das Bundesdatenschutzgesetz. Welche Re-formen haben Sie denn hier auf den Weg bekommen? –Nichts! Jetzt befinden wir uns in der Situation, dass unsdie EU abmahnt. Herr Hintze von der CDU hat kürzlichsogar noch gesagt: Datenschutz ist Täterschutz. – Nein,meine Damen und Herren, das ist völliger Unfug. Da-tenschutz in der Informationsgesellschaft ist wie der ge-samte Bereich Sicherheit in der Informationstechnik ei-ne der ganz wesentlichen Voraussetzungen für die Wah-rung von Bürgerrechten – das müsste Sie von der F.D.P.interessieren – ,
für die Rechtssicherheit in der E-Commerce – auch dasmüsste Sie interessieren – und für den elektronischenRechts- und Zahlungsverkehr insgesamt. Sie haben da-mals von Täterschutz geredet. Deswegen begrüßen wirsehr, dass die Bundesregierung, das Justizministerium,
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bei der digitalen Signatur einiges tut und es vorantreibt.Auch das ist Voraussetzung für sichere Kommunikation.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine weite-re Zukunftsaufgabe wurde von Wolf-Michael Catenhu-sen angesprochen. Ich meine die Umstellung von Papierauf Digital. Das gilt, Herr Kollege Fell, auch dann, wennwir das papierlose Büro, auch im Bundestag, noch nichterreicht haben. Hier kommen auf Bibliotheken und aufalle anderen Beteiligten völlig neue Aufgaben zu. HerrRüttgers wollte in diesem Bereich – Herr Neumann, Siewerden sich erinnern – unverantwortlicherweise einenZustand schaffen, in dem die Hochschulen gezwungenworden wären, eigene wissenschaftliche Ergebnisse vonprivaten Betreibern wissenschaftlicher Datenbanken mitöffentlichem Geld zurückzukaufen, während sie gleich-zeitig aus Geldmangel Fachzeitschriften abbestellenmüssen. Herr Catenhusen, wenn Sie sagen, dass Sie indiesem Bereich etwas tun werden – Information wirdzur Generierung von Wissen als dem Rohstoff der künf-tigen Gesellschaft benötigt –, wenn Sie den Zugang zudiesem Rohstoff so umfassend und so preiswert, wie Siedas heute angesprochen haben, garantieren, dann sindSie und die Ministerin – das kann ich Ihnen sagen – derHoffnungsträger einer ganzen Generation, zumindestwas die Gestaltung der Informationsgesellschaft anlangt.
Die Weichenstellungen des vormaligen Forschungs-ministers in diesem Bereich waren verheerend. Doch re-den wir nicht mehr von Herrn Rüttgers; reden wir jetztvon der Zukunft! Ich bitte die Bundesregierung, das imKoalitionsvertrag vereinbarte Informationsfreiheitsge-setz gleichfalls rasch auf den Weg zu bringen. Auch die-ses Gesetz wird ein ganz wichtiger Baustein zur Siche-rung des Zugangs zu Informationen und des Rechts aufInformation sein und kann auch, gerade in diesen Zeiten,meine Kolleginnen und Kollegen, einen wichtigen Bei-trag zur Transparenz politischer Prozesse – wann wardies nötiger als in diesen Tagen? – und zur Modernisie-rung des Staates leisten.Sie sehen: Wir haben mit den Themen Informations-freiheitsgesetz, Datenschutz, Zugang zu Informationen –es sind die richtigen Themen – das Tor zur Zukunft weitaufgestoßen. Kollege Mayer, meine Zufriedenheit liegtnun zwischenzeitlich etwas über 50 Prozent und gehtstark auf die 70 Prozent zu – ganz einfach deshalb, weildiese Bundesregierung handelt. Je mehr sie handelt, um-so geringer wird natürlich auch die Kritik der sie tragen-den Fraktionen werden. Ich kann Ihnen nur sagen: Las-sen auch Sie sich von den Möglichkeiten und den Chan-cen dieser Technik überzeugen! Nutzen Sie beispiels-weise die Möglichkeiten des bargeldlosen Verkehrs unddes Electronic Banking,
dann haben Sie viel weniger Probleme. Denn wer vondiesem Thema nichts versteht, wird auch bei anderenThemen schwerlich den Anschluss finden.Schlussbemerkung. Herr Präsident, ich sehe, Sieleuchten, genauer: die Lampe hier vorn.
Wir haben vorher von Oppositionsrednern gehört, dieseBundesregierung könne mit E-Mail nicht umgehen. Kol-lege Mayer, Sie haben die jungen Leute angesprochen,die sich mit uns in Verbindung setzen. Ich zitiere aus ei-ner der 500 E-Mails, die in den letzten Tagen das In-nenministerium erreicht haben:Hallo! Ich habe keine spezielle Frage. Ich kann nurhoffen, dass Sie – gemeint ist die Bundesregierung – viel Erfolg mit Ihren Projekten haben werden, da-mit der verstaubte Amtsschimmel aus den deut-schen Amtsstuben vertrieben wird. Vielleicht ge-lingt es dieser Bundesregierung. Glück auf!
Sehen Sie, das sind die Ehrenamtlichen, die Sie vor-hin so gelobt haben; das ist deren Meinung von uns.Darauf sind wir stolz.Ich bedanke mich.
Ich hatte schon,
Herr Kollege Tauss, die Hoffnung aufgegeben, dass Sie
das leuchtende Licht sehen würden.
Denn Sie hatten Ihre Papiere so geschickt platziert, dass
sie alles verdeckten.
Jetzt gebe ich das Wort dem Kollegen Walter Hirche.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Der Kollege Tauss ist ja am Schlussderart in Begeisterung geraten, dass ich beim Verlesender E-Mail in der Tat den Eindruck hatte, er freut sichheute noch darüber, dass er sie losgeschickt hat, um siehier im Plenum einmal vortragen zu können. Selbst wenn das so ist, haben Sie hier zusammen mitden meisten Rednern dieser Debatte Dinge vorgetragen,bei denen man als überwiegenden Tenor feststellenkann: Die Chancen der Informationsgesellschaft müssenin Deutschland für den Arbeitsmarkt genutzt werden.Die riesigen Chancen, die vorhanden sind und nicht genutzt werden können, sind eine Herausforderung für unser Bildungs- und Weiterbildungssystem. Das ist gar keine Frage. Weitere große Chancen liegen zumDr. Günter Rexrodt
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Beispiel auch im Bereich der modernen Medien. Siemüssen genutzt werden, um Menschen, die etwa ausGründen körperlicher Behinderungen bzw. anderen Ur-sachen in das gesellschaftliche Abseits geraten sind,wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Technik mussalso als Mittel sozialer Integration genutzt werden. Darüber hinaus werden wir in diesem Zusammenhangauch im Bereich „Messen, Regeln, Steuern“ über dieMöglichkeiten diskutieren müssen, wie wir mit moder-nen Medien und moderner Kommunikation die vorhan-denen Chancen nutzen können. Ich habe, Herr Fell, einbisschen bedauert, dass Sie – ich will es milde sagen –im Unterschied zu Ihrer Kollegin Wolf eher über dieProbleme gesprochen haben, anstatt die Chancen zu be-schreiben.
Ich denke, wir sollten die Chancen nutzen und sehen,dass wir nach vorne kommen.
Herr Kollege Hir-
che, gestatten Sie die Fortsetzung der Rede von Herrn
Kollegen Tauss?
Es wird natürlich keine Fortset-
zung der Rede geben, aber, lieber Herr Kollege Hirche,
Sie haben mir gewissermaßen unterstellt – ich würde
meine eigenen E-Mails verlesen. Sind Sie der Auf-
fassung, dass auch die folgende E-Mail von mir erfun-
den ist? Sie stammt von der F.D.P.-nahen Friedrich-
Naumann-Stiftung aus Seoul und ist ebenfalls heute
beim BMI eingegangen.
Die Friedrich-Naumann-Stiftung ist seit über zehn
Jahren ... mit einem kommunalpolitischen Projekt
tätig. Aspekte der Verwaltungsreform spielen bei
unserer Tätigkeit eine wichtige Rolle. Ihre Hompa-
ge – die des BMI – habe ich mit sehr großem Inte-
resse studiert. Herzlichen Glückwunsch zu dem ge-
lungenen Auftritt, der auch in der Ferne Beachtung
findet. Dr. Ronald Meinardus, Seoul.
Sie sehen, solche Dinge erfinde ich in der Regel
nicht. Ich wollte fragen: Ist Ihnen dies bekannt?
Das ist mir jetzt bekannt.
Sie haben einen Beweis für die Weltoffenheit, Toleranz
und Vielfalt von Liberalen vorgetragen.
Das finde ich hervorragend. Ich bedanke mich. Für eine
solche Art der Zusammenarbeit kann man in der Tat die
neuen Medien nutzen und man könnte darüber reden,
wie fehlgelaufene Entwicklungen korrigiert werden
können.
Der Herr Kollege
Seifert möchte eine Zwischenfrage stellen. Oder möch-
ten Sie Ihre Ausführungen zu der Zwischenfrage von
Herrn Tauss noch fortsetzen?
Ich will noch einen Hinweis
an Sie, Herr Tauss, geben. Sie sollten die Dinge in der
Zukunft entsprechend darstellen: Die F.D.P. hat sich
sowohl in der letzten Legislaturperiode als auch davor
entschieden für die Liberalisierung und Öffnung der Re-
gelwerke eingesetzt. Zu Zeiten, als Sie auf Landesebene
und im Deutschen Bundestag die Veränderungen blo-
ckiert haben, hat sich lediglich Ihr Kollege Glotz für
Öffnung und Änderung eingesetzt. Ich kann Ihnen die
von Niedersachen aus betriebenen Initiativen nennen,
mit welchen wir seinerzeit im Bundesrat aufgelaufen
sind, weil die SPD alles blockiert hat. Sie haben im
Grunde über zehn Jahre hinweg die Dinge blockiert.
Dass dies nun anders werden soll, begrüße ich. Dies
will ich ausdrücklich sagen.
Gestatten Sie nun
eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Seifert?
Ja, gerne.
Herr Kollege Hirche, Sie ha-
ben vorhin sehr verdienstvoll darauf hingewiesen, dass
behinderte Menschen unter Umständen über neue
Kommunikationsmittel Arbeits- und Kommunikations-
möglichkeiten finden, die sie sonst nicht haben.
Teilen Sie dennoch mit mir die Meinung, dass es
nicht unwichtig ist, diesen Punkt nicht zu sehr überzube-
tonen, sondern zu sehen, dass die interpersonelle Kom-
munikation dadurch verhindert werden kann? Gerade
behinderte Menschen brauchen wie alle anderen Men-
schen auch den persönlichen Kontakt. Man kann diesen
nicht allein über elektronische Medien herstellen.
Ich möchte Sie gern fragen, wie Sie zu diesen beiden
Seiten der Medaille stehen.
Ich würde gern das Positivein den Vordergrund stellen. Wenn man etwas positivdarstellt, sollte man auch nicht so tun, als ob alles inOrdnung sei. Wo Sonnenschein ist, gibt es auch einbisschen Schatten. Darüber muss man reden. Man gehtdann etwas zur Seite, betrachtet die Dinge neu und hattrotzdem die Möglichkeit, nach vorne zu gehen. Der wichtigste Punkt, den ich hier sehe – da werdenSie, Herr Kollege Tauss, den Beweis noch erbringenmüssen –, ist, dass wir in Deutschland einen Ordnungs-rahmen haben, der den Aufbruch, den die Bundesre-Walter Hirche
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7486 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
gierung in ihrem Aktionsprogramm beschreibt, die Hilfefür Existenzgründer und das Nach-vorne-Gehen überalldurch Schranken und Bremsen verhindert.Jedes Mal, wenn wir in der Vergangenheit irgendwo De-regulierung versucht haben, haben Sie gesagt: Dann ge-hen die Menschen kaputt. – Dieses durfte nicht sein undjenes durfte nicht sein.Sie wissen: Es ist mehr als nur ein Scherz, wenn mansagt, die Erfolgsgeschichte von Bill Gates hätte inDeutschland nicht stattfinden können, weil eine Arbeitin einer Garage ohne Fenster nicht erlaubt ist. Es gibt xsolcher Beispiele in diesem Zusammenhang. Trotzdemhalten Sie an solchen Regelungen und den Genehmi-gungsverfahren bis heute fest.Denn eines ist doch klar: Wenn wir in Deutschland indiesem Bereich im Vergleich zu anderen Ländern rück-ständig sind, dann liegt das nicht an der Wirtschaft inDeutschland. Die Wirtschaft hat ihre Hausaufgaben inweitesten Teilen gemacht. Es ist unser Staat, der auf denverschiedenen Ebenen der Entwicklung hinterherhinkt,der nicht dafür sorgt, dass der Ordnungsrahmen ausrei-chend flexibel ist, und der nicht die entsprechendenRahmenbedingungen für Existenzgründer schafft.Ein kleines Beispiel – mehr ist in einem solch kurzenBeitrag nicht möglich –: Dass der Bundeswirtschaftsmi-nister und die Bundesbildungsministerin der Anlagezum Entwurf des Haushaltsplans 2000 im August letztenJahres zugestimmt haben, in der stand, dass die Ab-schreibungsfrist für PCs von vier auf sechs Jahre verlän-gert wird, zeigt, dass bei Ihnen nicht durchgängig derWille herrscht, sich um die modernen Entwicklungen zukümmern.
Wenn Sie die Situation im Wege von Abschreibungsfris-ten verschlechtern, dann behindern Sie unsere Wirt-schaft.Ich finde es gut, dass die Wirtschaft mit der InitiativeD 21 vorangegangen ist. Wir werden darauf achten müs-sen, dass die Übertragung des „road mapping“ aus denUSA auf Deutschland, die Sie vorschlagen – vielleichtkönnten wir uns einmal auf deutsche Begriffe verständi-gen, damit die Bevölkerung versteht, worum es hier geht–, nicht dazu führt, dass der Staat in allen Bereichen derGesellschaft Vorschriften für andere macht. Denn das istunser Problem: Sie lassen den wesentlichen Vorteil desInternet nicht zu, nämlich dass globale Kommunikation,Demokratie und Wirtschaftsaustausch von unten herstattfinden. Sie wollen über alles ein Netz stülpen, mitdem der Staat reguliert. Vielleicht belehren Sie uns in den Ausschussberatun-gen eines Besseren. Aber bis jetzt erschöpft sich IhrVerhalten in Regeln und Behinderungen. Der Staat hatseine Hausaufgaben nicht gemacht. Wir werden sehen,ob Ihr Wortschwall, den Sie über uns ergossen haben –da sind Sie wirklich ein Tausendsassa –, der RealitätRechnung trägt. Das Ziel haben wir gemeinsam: dieChancen zu nutzen.
Für die SPD-
Fraktion spricht nun der Kollege Hubertus Heil.
Herr Präsident! Meine liebenKolleginnen und Kollegen! Vielleicht kennen Sie denWerbespot, der seit einigen Wochen über den Fernseherflimmert, in dem ein berühmter deutscher Tennisspielersehr verdutzt sagt: „Ich bin drin.“ – Uns geht das imMoment ebenso: Auch wir sind mittendrin.
– „So einfach ist das!“ Genau, das hat er auch gesagt.Manchmal ist es eben so einfach.Ich glaube, wir alle in diesem Hause sind uns be-wusst, dass wir uns mittendrin im Übergang von der In-dustriegesellschaft zur Informationsgesellschaft befin-den und dass die Geschwindigkeit dieses Übergangs –das hat keiner hier bestritten – immer rasanter wird.Nur, ich denke, wir sollten einen realistischen Blickauf die Dinge haben. Weder – Herr Kollege Hirche, dassage ich an Ihre Adresse – ideologische Fixierung aufeine Deregulierungswut, noch – das sage ich an die Ad-resse der PDS – das ewige Rufen nach neuen Regelun-gen, nach Überregulierung, bringen uns weiter. Wirbrauchen eine realistische Sicht im Sinne eines – was dieBegrifflichkeiten betrifft, sind wir uns sicher einig – fle-xiblen Ordnungsrahmens.
Ich denke, dass dieses Parlament in der letzten Legis-laturperiode – das kann ich so unbefangen sagen, weilich damals noch nicht dabei war – eine sehr gute Arbeitin der Enquete-Kommission zur Informationgesellschaftgeleistet hat.
Die Enquete-Kommission hat sowohl eine Einschätzungder Möglichkeiten der neuen Technologien vorgenom-men als auch die notwendigen Regulierungs- und Dere-gulierungsmaßnahmen beschrieben. Stellvertretendmöchte ich dem Kollegen Mosdorf, der die Enquete-Kommission damals geleitet hat, danken. Das hat dieGrundlage für das Aktionsprogramm geboten, das wirjetzt konsequent durchsetzen. Wir nehmen die Folgendieses Berichts ernst und wir setzen sie um.
Das ist ein Unterschied zu dem Stillstand, der jahrelangin Deutschland zu verzeichnen war.Das Aktionsprogramm der Bundesregierung – mitvollem Titel: „Innovation und Arbeitsplätze in der In-formationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ – setzt aufRealität, setzt auf konkrete Schritte, um ein Ziel zu er-reichen, nämlich dass Deutschland weltweit in der Spitzenliga der Informations- und Kommunikations-technologien mitspielen kann.Walter Hirche
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7487
Wir haben in Deutschland bereits gute Voraussetzun-gen. Mir ist es ziemlich egal, wer alles daran mitgewirkthat. Aber wir haben gute Voraussetzungen, dieses Zielin wenigen Jahren zu erreichen. 1,7 Millionen Beschäf-tigte arbeiten bereits heute im Bereich der Informations-technik und im Medienbereich. Wir haben eine Infra-struktur von 230 000 Kilometer Glasfaserkabel, die inDeutschland liegen. Das ist eine Infrastruktur, die, wiegesagt, eine gute Basis bildet.Die Evaluierung des Informations- und Kommunika-tionsdienste-Gesetzes, das ebenfalls heute diskutiertwird, sagt aber sehr deutlich, dass wir in bestimmten Be-reichen noch sehr starken Handlungsbedarf haben; dortist der Fortschritt in den letzten Jahren verpennt worden.Tatsache ist, dass in Deutschland nur 9 bis 10 Prozentder Bevölkerung einen Internetzugang haben. ZumVergleich: In Großbritannien sind es bereits 14 Prozent,in den USA 30 Prozent. Herr Kollege Mayer, ich findees schon ein ehrgeiziges Ziel, dies in wenigen Jahrenzumindest auf über 40 Prozent zu steigern.
100 Prozent werden wir nicht erreichen. Lassen Sieuns doch nicht streiten. Auch ich würde mich freuen,wenn wir mehr erreichen. Aber ich finde das etwaskleinkrämerisch, nachdem jahrelang von Ihrer Regie-rung nichts getan wurde, um das nach vorne zu bringen.
– Was denn, bitte schön?
Lassen Sie uns doch gemeinsam daran arbeiten, dass wires schaffen; denn das hat auch etwas, mit Akzeptanz zutun. Wir müssen beim Zugang Chancengleichheit haben– der Kollege Catenhusen hat darauf hingewiesen –,damit diese neuen Technologien akzeptiert werden undum die Gesellschaft nicht in User und Loser verfallen zulassen.
Wir wollen die Internet-Abonnements steigern. Dannist es natürlich auch wichtig, den Weg über den Bil-dungsbereich zu gehen. Das ist ein weites Feld. LassenSie mich hier zumindest zu der Frage kommen, die vor-hin diskutiert wurde: Was machen wir mit den 75 000Fachkräften, die im IuK-Bereich in den letzten Jahrengefehlt haben? Wenn Sie immer sagen, bei dem „Bünd-nis für Arbeit“ würde nichts herauskommen, dannschauen Sie sich einmal diesen Bereich aufmerksam an.
– Hören Sie erst einmal zu, bevor Sie dazwischenrufen.– Mit den Partnern aus Wirtschaft und Gewerkschaftenist vereinbart worden, gerade in dem Bereich der Infor-mationstechnik über eine Fortentwicklung des Weiter-bildungssystems diesen Fachkräftemangel binnen kür-zester Zeit zu beseitigen. Wir alle kennen die viel zitier-ten Beispiele von den indischen Programmierern, diedeutsche Software programmieren müssen. Das ist, wiegesagt, ein Zustand, bei dem wir alle an einem Strangziehen müssen. Das geht nur mit den Tarifparteien undöffentlicher Unterstützung. Das tun wir auch.Den Rechtssicherheitsrahmen hat der Kollege Taussumfassend angeschnitten. Ich möchte mich auf die Fragebeschränken: Wie schaffen wir es, Unternehmen dazu zubringen, stärker in die Anwendung zu gehen? Ich redevor allen Dingen von kleinen und mittelständischen Un-ternehmen. Tatsache ist – auch da sind wir uns einig,Herr Kollege Hirche –, dass die Innovationen in demBereich vor allen Dingen von Unternehmen getragenwerden, nicht von der öffentlichen Hand. Aber es istAufgabe der öffentlichen Hand, den Rechtsrahmen, denOrientierungs- und Entwicklungsrahmen zu geben, auchaus kulturellen Gründen. Aber es kommt auch darauf an,für die Wirtschaft Rechtssicherheit zu schaffen und An-stöße zu geben.Das Aktionsprogramm der Bundesregierung wirdhierbei sehr konkret. Ich nenne in diesem Bereich För-derprogramme, Informationskampagnen und vor allenDingen Wagniskapital. Daran hat es in Deutschland inden letzten Jahren vor allen Dingen gemangelt. Auchdarin unterscheiden wir uns von den USA. Warum ist esdort schneller gelaufen? Wir müssen im Bereich vonWagniskapital, von Venture Capital weiterkommen, umgerade dort die Potenziale nutzen zu können. Nach den Prognosen, die wir haben, kann es unsdurchaus gelingen, binnen zwei Jahren über 350 000Arbeitsplätze in diesem Bereich zu schaffen. Das sindkeine Peanuts. Das muss man sehr deutlich sagen. Konkret läuft es vor Ort so – ich kenne die Beispieleaus Nordrhein-Westfalen, aber auch aus Niedersachsen,aus meinem Wahlkreis –, dass über 24 Kompetenzzent-ren in den Regionen kleinen und mittelständischen Un-ternehmen die Möglichkeit geben, am E-Commerce, amelektronischen Handel teilzunehmen, und auch das not-wendige Wissen und die Technik zur Verfügung stellen.Damit soll vor allem eines erreicht werden, was geradeheute noch bei kleinen und mittelständischen Unterneh-men das Problem ist, nämlich Hemmschwellen abzu-bauen. Es gibt viele Handwerksmeister, die daran imMoment noch nicht teilnehmen, aber die sowohl bei derBeschaffung wie bei der Vermarktung ihrer Produktezukünftig über diesen Bereich Impulse bekommen. Auch im Bereich der Gründungen – ich komme zuIhrem Garagenbeispiel, Herr Kollege Hirche – schauenwir nicht tatenlos zu. Wir wollen, wie gesagt, den Boom der Gründung geradesolcher Unternehmen fördern. Wir tun dies auch. Wirwissen, dass die Innovationen eben nicht von den großenetablierten Unternehmen geleistet werden, sondern vonkleinen Existenzgründern, von so genannten Start-ups.Ich möchte in diesem Zusammenhang beispielsweiseden Gründungswettbewerb des Bundesministeriumsfür Wirtschaft nennen, der Anreize schafft und Öffent-lichkeit erzeugt, die notwendig ist. Hubertus Heil
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7488 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Wir haben das ehrgeizige Ziel, bis zum Jahr 2001 dieZahl der Multimediaunternehmen in Deutschland zuverdoppeln. Wenn wir uns darüber einig sind, solltenwir uns hier auch nicht gegenseitig das Leben schwermachen. Zum Schluss möchte ich sagen: Wir wollen die ent-sprechenden Regelungen flexibel gestalten. Darauf istschon hingewiesen worden. Angesichts des Tempos destechnischen Fortschritts müssen wir ständig überprüfen,ob der Orientierungs- und Handlungsrahmen, den wirgeschaffen haben, noch zeitgemäß ist. Deshalb mussman ihn weit und flexibel gestalten. Das ist gar keineFrage. Aber ein Orientierungs- und Regelungsrahmen istnotwendig. Das Kennzeichen der Informations- und Kommunika-tionstechnologien ist, dass vor allen Dingen Raum undZeit keine merklichen Grenzen mehr sind, sowohl imwirtschaftlichen als auch im politischen Bereich. DerKollege Tauss hat darauf angespielt. Wir haben es überdas Ökonomische hinaus auch im Bereich der politi-schen Kommunikation mit Veränderungen zu tun, derenChancen wir nutzen müssen.
Eine Chance ist zum Beispiel, dass durch die Infor-mations- und Kommunikationstechnologie auch der Ab-stand zwischen Gewählten, also beispielsweise uns, undWählern geringer wird, weil sich Bürgerinnen und Bür-ger schneller Informationen beschaffen können und weilsie auch schneller reagieren können.Wer sich das praktisch noch nicht vorstellen kann,der sollte sich zwei Beispiele vor Augen führen – es istganz einfach, sich das anzuschauen; um Boris Becker zuzitieren: Da ist man ganz schnell drin: – Erstens. DasProjekt „Virtueller Ortsverein“, das der Kollege Taussfür unsere Partei aufgezogen hat, ist ein Beispiel für le-bendige Demokratie im Netz. Wir müssen dafür sorgen,dass daran mehr Menschen teilhaben.Zweitens. Auf den Besucherseiten der Homepage un-ter der Adresse www.cdu.de wird zurzeit sehr heftigdiskutiert. Ich sage dies, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der CDU, ohne Häme. Wir werden zukünftig – dasgilt für uns alle – mit dem Internet umgehen müssen.Dieses Forum soll nicht zensiert werden. Dafür müssenwir einen entsprechenden Rahmen setzen.
– Das können wir gerne machen. Das Aktionsprogramm der Bundesregierung ist einwichtiger Schritt nach vorne. Es ist zwar noch nicht derWeisheit letzter Schluss, aber es ist jetzt notwendig. Wirhaben damit das angepackt, was Sie liegen gelassen ha-ben. Wir haben die Evaluierung sehr ernst genommenund werden daraus weiterhin unsere Schlüsse ziehen. Zu den beiden vorliegenden Anträgen ist genug ge-sagt worden. Wir können sie fachlich weiter beraten,auch den Antrag der F.D.P. Ich möchte das zwar nochnicht in Bausch und Bogen bestätigen, aber der KollegeNeumann von der CDU hat dankenswerterweise ein paarsehr wichtige Takte dazu gesagt. Ich freue mich auf die fachliche Diskussion. Wir wol-len gemeinsam viel erreichen. Wir können in Deutsch-land in diesem Bereich Wachstum und Beschäftigungschaffen. Ich teile die Ansicht, dass wir mehr nach denChancen und weniger nach den Risiken fragen sollten.Es gibt aber auch Risiken, die nicht verschwiegen wer-den sollten. Aber in erster Linie stehen die Chancen imVordergrund. Wir können viel gewinnen, wenn wir et-was tun. Diese Bundesregierung tut etwas. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht nun der Kollege Elmar Müller.
Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kolle-ginnen und Kollegen! Wenn man die fünf Tagesord-nungspunkte zusammenfasst und einzeln bewertet, dannspürt man regelrecht das krampfhafte Bemühen vor al-lem der Regierung, sich einer modernen Entwicklunganzupassen. Dies kann man vor allem dort sehen, wo diejetzige Regierung Berichte abliefert, die auf Gesetzender früheren Regierung fußen. Im Gegensatz dazu stehen die beiden Fraktionen, vonderen Rednern wir eine ganze Reihe von Beiträgen ge-hört haben, die ausschließlich rückwärts gewandt waren.Dies war eine interessante Erkenntnis der Debatte, dieheute Nachmittag stattfand. Sie, Herr Kollege, sind eineseltene Ausnahme in diesem Reigen gewesen.Ich möchte noch einmal an Folgendes erinnern: AlleGesetze, auf denen die jetzigen Programme fußen undauf die sich alle weiteren Entwicklungen stützen, sind inder vergangenen Legislaturperiode von der Koalitionaus CDU/CSU und F.D.P. auf den Weg gebracht wor-den.
Ich will die Modernisierer beim Wort nehmen. Wirerinnern uns: Im Juni 1994 fand die entscheidende Sit-zung des Bundesrates statt. Es ging darum, Privatisie-rung und Liberalisierung im Telekommunikationsbe-reich auf den Weg zu bringen. Es waren ausschließlichdie beiden Obermodernisierer dieser Regierung, nämlichder Herr Bundesfinanzminister Eichel, damals Minister-präsident, und Herr Schröder, damals ebenfalls Minis-terpräsident, die gegen eine Privatisierung und eine Li-beralisierung gestimmt haben.
Hubertus Heil
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7489
Sie wollten, dass sich diese beiden Unternehmen weiter-hin als Behörden entwickeln – in einem Umfeld, das indieser Form nun wirklich nicht mehr möglich gewesenwäre. Man könnte die Rede des Herrn Ministers Mülleru
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Ei des Damokles beschwört das Schwert
des Kolumbus.
In allen Ehren, Herr Staatssekretär: Es ehrt Sie, dass
Sie Ihre Reden möglicherweise selber schreiben. Wenn
Ihnen das, was Sie vorhin eingangs gesagt haben – ich
denke an die „flat rate“ im Internet –, ein Mitarbeiter
aufgeschrieben hat, dann bestellen Sie ihn bitte nachher
ein und bitten Sie ihn, sich auf die aktuelle Situation
etwas besser vorzubereiten.
Denn Sie hätten nicht falscher als mit diesem Satz be-
ginnen können. Es gibt in der Bundesrepublik Deutsch-
land keine „flat rate“. Die Engländer sind jetzt dabei,
dies im europäischen Bereich einzuführen. Bei uns in
der Bundesrepublik gibt es eine ganze Reihe von Din-
gen, die noch auf den Weg gebracht werden müssen. Ich
sage ausdrücklich: auf den Weg gebracht werden müs-
sen.
Die Gesetze, die wir in der vergangenen Legislaturpe-
riode gemacht haben – hervorragende Gesetze –, müssen
weiterentwickelt werden, auch was die Regulierungen
angeht, die es ermöglichen, dass wir in der Bundesrepu-
blik Deutschland eine „flat rate“ im Internet auf den
Weg bringen.
Herr Kollege Mül-
ler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Tauss?
Es macht
immer Spaß, sich mit dem Kollegen Tauss auseinander
zu setzen.
Ich weiß gar nicht, warum ihr
heute alle so liebenswürdig seid.
Übrigens habe auch ich damals in diesem Hause gegen
dieses Telekommunikationsgesetz gestimmt. Ist Ihnen
bekannt – möglicherweise ist es mit anderen Motiven zu
verbinden –, dass ich diese Ablehnung damals – ich war
einer der ganz wenigen – mit der Aussage verbunden
habe, es fehle an einem zukunftsgerichteten Universal-
dienst, der genau auf die Belange der Informations-
gesellschaft ausgerichtet ist und sich nicht allein, wie Sie
es gemacht haben, rückwärts gerichtet an der Sprachte-
lefonie orientiert. Können Sie sich vorstellen, dass die
Ablehnung des TKG unter diesen Gesichtspunkten in
einigen Bereichen vielleicht doch ganz sinnvoll gewesen
ist und dass wir es damals hätten besser machen kön-
nen?
Ich spüredurch Ihre Formulierung schon, dass Ihnen nicht ganzwohl zumute ist, wenn Sie die damalige Ablehnung heu-te rechtfertigen müssen, Herr Kollege Tauss. Ich habe inall den Verhandlungen, die wir von 1992 bis 1997 ge-führt haben, eine ganze Menge an Rückschlägen er-leiden müssen. Das gilt auch für die Kollegen, die mituns seinerzeit verhandelt haben. Ich denke auch an diedes Koalitionspartners F.D.P. Der frühere Minister Rex-rodt war einer von denjenigen, die einige Erwartungenzurückschrauben mussten.Insgesamt haben wir – das wurde mehrfach zumAusdruck gebracht – im Spektrum der Reihe der Geset-ze eine Voraussetzung geschaffen, auf deren Grundlagewir nun in der Tat in der Lage sind – bei all den Abstri-chen, die wir alle machen mussten –, eine moderne Ent-wicklung auf den Weg zu bringen und sie zu beschleu-nigen.
Dies darf aber nur mit dem geschehen, was wir uns anErfahrung aneignen müssen.
– In der Tat. Ich komme darauf noch zurück, wenn wirüber den Bericht der Regierung reden.Zweifellos müssen die Grundlinien unserer Visiondeutlich machen, dass wir führend auf dem Mobilitäts-sektor, dynamisch in der Informationsgesellschaft undeffizient in der Produktion werden. Das gehört alles zu-sammen. Das Rückgrat dieser Informationsgesellschaftist eine leistungsfähige Kommunikationsinfrastruk-tur.Hier verfügt die Bundesrepublik Deutschland als einesvon wenigen Ländern wirklich über eine hervorragendeAusgangslage, nicht nur, was die Gesetzeslage angeht,sondern auch in Bezug auf die Infrastruktur, die fast flä-chendeckend ist. Jahr für Jahr werden in die Netze in derBundesrepublik Deutschland Investitionen in einer Grö-ßenordnung von 4 Milliarden DM zur Verbesserung derTechnik etc. getätigt. Das ist eine hervorragende Situa-tion, die wir nicht kleinreden sollten. Die ganze Ent-wicklung zielt darauf ab, dass die PC-Vernetzung aufden Weg gebracht wird. Wenn ich mich in den Veröf-fentlichungen richtig informiert habe, dann ist in Bezugauf Netz- und Ausbaukapazitäten inzwischen von Tera-byte die Rede. Das deutet darauf hin, dass unsere Vor-aussetzungen ganz hervorragend sind. Es gibt aber auch Nachholbedarf. Die Deutsche Tele-kom, die sich derzeit mit der Veräußerung oder auchNichtveräußerung des Fernsehkabelnetzes beschäftigt,muss nun wirklich gezwungen werden, dieses Breit-bandnetz endlich auf den neuesten technischen Stand zubringen und so dem Verbraucher zur Verfügung zu stel-len.
Elmar Müller
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7490 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Ich sage das ohne Vorwurf. Wir hatten das gleiche Prob-lem schon einmal. Der Bund ist der Hauptaktionär beidieser Gesellschaft. Er muss die Verantwortlichen, dieVorstände und die Aufsichtsräte dieser Gesellschaft,endlich zwingen, dass sie dieses Netz dem Verbraucherzur Verfügung stellen. Dieses Netz hat nicht die Tele-kom bezahlt, sondern der Bürger. Deshalb muss es ihmauch wieder in einem Ausbaustandard zurückgegebenwerden, der interaktiven Ansprüchen gerecht wird.Meine Damen und Herren, die Zahlen sind zum Teilschon genannt worden: Das Verhältnis zwischenDeutschland und den USA beim Netzzugang per PC be-trägt etwa 1 : 3. Der Anteil der Haushalte mit Onlinean-schluss entweder via Modem oder ISDN liegt in denUSA etwa dreimal höher als in der BundesrepublikDeutschland bzw. in Europa. Hier müssen wir immerwieder nachrechnen. Gleichwohl registrieren wir, dassdie in der Bundesrepublik installierte Rechenleistung inder Tat Jahr für Jahr um etwa 50 Prozent zunimmt. Dasist eine hervorragende Zahl, die ich Ihnen hier nennenkann. Dabei ist die Furcht mancher völlig unbegründet, diedurch Angstparolen hervorgerufen wurde, die suggerier-ten, dass jeder in der Welt der neuen Berufe Tätige einkleiner Einstein sein müsse. Das ist nicht so. Ich möchtedazu ein Beispiel nennen. Nach T-Online ist AOLDeutschland der größte Internetanbieter. Vor vier Jah-ren hat diese Gesellschaft in Deutschland begonnen. Siebeschäftigt heute etwa 1100 Mitarbeiter in der Bundes-republik Deutschland. Von diesen 1100 sind etwa 800 –man höre und staune – ausschließlich in der Kunden-betreuung tätig, also in einem Bereich, den wir alsDienstleistungssektor bezeichnen, und nur der Rest, et-wa ein Drittel, ist für Verwaltung oder das Web-Designzuständig. Neben denen, die als Informatiker, Technikeroder Ingenieure tätig sind, gibt es also eine ganze Reihevon Berufen, die an traditionelle Berufsfelder anknüp-fen.Ich möchte ein weiteres Beispiel nennen; es fußt aufden Erfahrungen der letzten Wochen. Wir haben im letz-ten Jahr in den USA eine Entwicklung verfolgen kön-nen, die dazu führte, dass mittlerweile etwa 25 Prozentaller Haushalte ihren täglichen Bedarf über das Internetbestellen. In der Bundesrepublik Deutschland gibt eserst wenige Firmen, die die sich daraus ergebendenChancen nutzen. Dazu zählt beispielsweise das großeVersandhaus Otto, das sich als Erstes mit diesen neuenMöglichkeiten beschäftigt hat. Wenn es stimmt, was ichgelesen habe, ist dieses große Versandhaus das einzige,das im letzten Jahr einen gehörigen Umsatzzuwachs er-zielte. Das Gleiche gilt für einen Lebensmittelanbieter,der zu Weihnachten ebenfalls eine Bestellmöglichkeitvia Internet mit einer Lieferung am nächsten Tag undeiner Zustellgebühr in Höhe von 10 DM seinen Kundenangeboten hatte. Er ist, wie ich hörte, regelrecht vonKunden überrannt worden, die ihren täglichen Bedarfauf diese Weise abdecken wollten. Die Entwicklungkommt also in Gang. Wir liegen aber noch weit hinterdem zurück, was woanders bereits Standard ist. Mit dieser Entwicklung sind aber auch Nebeneffekteverbunden. So besteht selbst im Bereich der Zustell-dienste die Möglichkeit, dass künftig neue Berufe ent-stehen und Einsteiger die Chance haben, ebenfalls an derEntwicklung teilzunehmen. Durchaus erfreut war ich, dass die Bundesregierungin ihrem Bericht das IuKDG oder Multimedia-Gesetznach zwei Jahren insgesamt als gut bewertet. Dieses Ge-setz, das übrigens federführend von Jürgen Rüttgers inder vergangenen Legislaturperiode auf den Weg ge-bracht wurde,
stellt sich nun als so gut heraus, dass die Bundesregie-rung in ihrem Zwischenbericht nicht einmal die Empfeh-lung ausspricht, Änderungen rasch auf den Weg zu brin-gen. Es gibt zwar einige Dinge, die sie theoretisch aufden Weg bringen möchte; aber sie nennt dafür keineTermine.
– Herr Tauss, ich weiß, dass Sie einer derjenigen sind,der darauf drängt.Es ist in einigen Bereichen in der Tat notwendignachzubessern. Nicht umsonst hat der Bundestag imSommer 1997 festgelegt, er wolle nach zwei Jahren ei-nen Zwischenbericht haben und werde nach Auswertungdes Zwischenberichts Überlegungen darüber anstellen,welche Konsequenzen aus den Erfahrungen gezogenwerden müssen.Meine Damen und Herren, in einem Punkt sind wiruns in der Union einig – von einigen Mitgliedern derRegierungskoalition wurde gesagt, dass dies auch für siegelte –: Im Hinblick auf die Medien stellen die Regulie-rungsinstitutionen einen Hemmschuh dar. Wir müssendaher ohne Denkverbote an eine Reform der Landes-medienanstalten herangehen. Angesichts der Tatsache,dass der einzelne Antragssteller dort bis zu 15- oder 16-mal bestimmte Hindernisse zu bewältigen hat, ist esschon erstaunlich, wie weit wir heute schon sind. Aberwir könnten sehr viel weiter sein und die Entwicklungder neuen Medien sehr viel schneller vorantreiben, wennes diese Bürokratie in den Ländern nicht gäbe.
Wir müssen sie auf einen modernen Stand bringen. Da-mit sage ich nichts gegen die im Übrigen positive Struk-tur in der Bundesrepublik Deutschland.Meine Damen und Herren, zwischen IuKDG undMDStV und dem, was die Arbeit der Medienanstaltenausmacht, gibt es etwas, was uns Sorgen macht. Im Hin-blick auf Teledienste und die allgemeine Medienversen-dung muss die Schnittstelle definiert werden. Dies ge-schieht vielfach durch Gerichte. Aber das ist zu wenig;darauf können wir uns nicht stützen.
Wir müssen hier eine Lösung finden.Das Gleiche gilt in der Gesetzgebung für das, was be-züglich der Hyperlinks in einem Urteil abzulesen war:Einer der Anbieter wurde für Inhalte verantwortlich ge-Elmar Müller
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7491
macht, für die er nicht verantwortlich gemacht werdenkonnte. Gott sei Dank wurde dies im Berufungsverfah-ren zurechtgerückt. Aber in der Gesetzgebung muss da-rauf geachtet werden, dass die Anbieter im zweiten Hy-perlink nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden.
Das stellt ein erhebliches Hemmnis dar; hier ist eineÄnderung notwendig.Im Hinblick auf den Datenschutz dürfen wir nicht zueiner Überregulierung kommen; wir sollten möglichstsogar zu einer nur geringen Regulierung kommen. Eskann nicht sein, dass dem Einzelnen vorgeschriebenwird, dass er nicht irgendwelche Anbieter beauftragendürfe, ihm zu irgendeinem Thema Angebote zukommenzu lassen. Das muss in der Entscheidungskompetenz desEinzelnen liegen. Dazu brauchen wir keinen Daten-schutz. Der Staat hat das Konsumverhalten des Einzel-nen nicht zu regulieren.
Herr Präsident, ich komme sofort zum Schluss. – DasGleiche gilt, meine Damen und Herren, für die Preisaus-zeichnung. Ich halte es für ein positives Phänomen, dasses in den USA seit einigen Jahren Versteigerungen überdas Internet gibt. So etwas beginnt bei uns inzwischenauch. Dies zeigt, dass eine Preisauszeichnungspflichtillusorisch wäre.Abschließend weise ich darauf hin, dass das, was dieKoalitionsfraktionen mit ihrem Antrag erreichen wollen,noch einmal überdacht werden sollte.
Herr Kollege Mül-
ler, ich bitte Sie, jetzt doch zum Schluss zu kommen. Sie
haben Ihre Redezeit bereits erheblich überschritten.
Sie dürfen
nicht heute schon sagen, dass alles reguliert werden soll.
Wer alle Risiken ausschließen will, schließt auch alle
Chancen aus.
Dieser Antrag der Koalition ist wirklich fehl am Platze.
Danke schön.
Als letzte Rednerin
in dieser Debatte spricht nun die Kollegin
Monika Griefahn für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Ich halte die gemeinsame Eu-phorie für die neuen Medien am Anfang des neuen Jahr-tausends für ganz erfrischend. Ich will aber auf einenPunkt hinweisen: Als ich 1990 mein Ministerium inNiedersachsen – Sie, Herr Hirche, waren dort sehr aktiv,um die Dinge voranzubringen – übernommen habe, habeich Abteilungen vorgefunden, die verschiedene Compu-tersysteme hatten, die also noch nicht einmal Diskettenaustauschen konnten, um zum Beispiel Papiere ab-zugleichen. Auf der anderen Seite habe ich in einerNichtregierungsorganisation schon 1983 ein vernetztesKommunikationssystem eingeführt. Insofern kann mannicht sagen, Herr Hirche, bei Ihnen in Niedersachsen seischon alles prima gelaufen.Die neuen Herausforderungen, mit denen wir uns inder Medienpolitik im 21. Jahrhundert beschäftigen, be-schränken sich eben nicht nur auf die Schaffung desOrdnungsrahmens, der hier schon mehrfach angespro-chen worden ist. Deshalb denke ich – ich möchte in die-sem Zusammenhang den Kollegen Fell unterstützen –,dass es auch um die beiden gesellschaftlichen Leitbildergehen muss, wie sie in unserem Antrag „Strategie füreine Nachhaltige Informationstechnik“ dargestellt sind.Es geht zum einen um die nachhaltige Entwicklung, ü-ber die wir schon vorhin diskutiert haben, und es gehtzum anderen darum, die Informationsgesellschaft da-mit so zu verbinden, dass sowohl ihre Entwicklung alsauch die nachhaltige Entwicklung weltweit politisch undwirtschaftlich möglich sind. Wir müssen sozusagen denRahmen vorgeben und klare Definitionen setzen. Es istwichtig, dass uns dieser Prozess nicht entgleitet; ansons-ten wären wir überflüssig und wir bräuchten kein Parla-ment mehr. Ich denke, darin liegt unsere Aufgabe.
Die in der Debatte über die Informationsgesellschaftund über die neuen Medien viel strapazierten Begriffewie Multimedia, Wissensgesellschaft, virtuelle Welten,Datenautobahn, Internet und E-Mail schweben noch fürviele Menschen – das haben wir auch an den Prozent-zahlen gesehen, die hier mehrfach genannt worden sind;Hubertus Heil hat von den 9 Prozent gesprochen, dieheute an das Internet angeschlossen sind – sozusagen imCyberspace.Wenn man sieht, dass auch gestandene Intellektuellewie Hans Magnus Enzensberger meinen, es handele sichum die digitalen Evangelisten, die sich jetzt in den Vor-dergrund schieben, dann muss man die vorgebrachtenArgumente zumindest ernst nehmen und sich mit ihnenauseinandersetzen. Unser Aktionsprogramm leistet diesund trägt zur Aufklärung bei. Aber ich denke, dass HansMagnus Enzensberger Recht hat – der Kollege von derPDS hat das ebenfalls vorhin gesagt –: Wer Cybersexfür Liebe hält, der ist reif für die Psychiatrie.
Das kann ich nur bestätigen. Ich denke, dass wir unsereKommunikation und unseren Umgang miteinander nichtnur auf das Internet und die Computertechnik beschrän-ken können; wir müssen auch noch etwas direkt mitein-ander zu tun haben. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, fürden diese Bundesregierung etwas tut.
Elmar Müller
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7492 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
– Nein, es war eindeutig Herr Seifert, der diesen Punktin einer Zwischenfrage angesprochen hat.Was in der öffentlichen Debatte bei aller Euphorieebenfalls zu kurz kommt, ist der Aspekt der Verträglich-keit angesichts der Vielfalt der neuen Geräte, die mansich anschaffen muss. Damit wird eine weitere Heraus-forderung an uns gestellt; denn es reicht nicht aus, nureinen PC zu besitzen. Man braucht auch noch ein Mo-dem, einen Drucker und vielleicht noch zusätzlich einFaxgerät. Das heißt: Man braucht zusätzliche Geräte, dieneue Ressourcen verschwenden und Energie verbrau-chen.Frau Caspers-Merk hat heute Morgen in der Debattezur Nachhaltigkeit deutlich gesagt, dass wir in unserertechnisierten Welt mehr Energie in Form von Strom undWärme verbrauchen und nicht weniger. Den Um-schwung haben wir noch nicht geschafft. Darin liegt dieHerausforderung.
Es reicht eben nicht, beispielsweise Verordnungenzur Entsorgung von Elektronikgeräten und Altautos zuerlassen, wie sie vor Jahren diskutiert wurden. Es reichtauch nicht, einzelne Produkte ein bisschen effizienter zumachen. Es geht vielmehr darum, auch neue Vorstellun-gen und Visionen zu entwickeln, die uns helfen, dasBewusstsein dahin gehend zu verändern, dass Multime-dia und Ökologie eine Einheit bilden. Es darf nichtsein, dass sich die einen nur um Multimedia und die an-deren nur um Ökologie kümmern. Diese beiden Berei-che müssen sozusagen organisch zusammenhängen.Das fängt eben bereits in der Ausbildung an, undzwar schon im Kindergarten. Herr Kollege Fell hat jadarauf hingewiesen, dass die Kinder heute zum Beispieldenken, die Spaghettis wachsen auf den Bäumen. DieKinder kennen mehr Automarken oder mehr Internet-adressen als zum Beispiel Pflanzennamen. Ich glaube,beides ist notwendig, um Produkte so zu entwickeln –wie wir es schon 1992 gemeinsam mit der Firma Hew-lett-Packard getan haben –, dass Computer aus einemeinzigen Material bestehen und nicht geklebt oder ge-schraubt, sondern nur gesteckt werden und auseinandergenommen werden können.
Die Menge dessen, was trotz immer kleiner werden-der elektronischer Geräte weggeschmissen wird, belastetunsere Umwelt doch in höchstem Maße, einmal durchden Ressourcenverbrauch und zum Zweiten durch dieMaterialien, die dann in der Umwelt landen. Unterschät-zen Sie das nicht: Wenn die Ressourcen weg sind, dannist es zu spät. Deshalb müssen wir jetzt die Designer, dieArchitekten, die Menschen, die solche Produkte kon-struieren, erst so ausbilden, dass sie sagen: Wir machenein schickes Gerät, wir machen ein ökologisches Gerätund wir machen das, was Hartmut Vogtmann, der neueChef des Bundesamtes für Naturschutz, gesagt hat: Wirkommen aus der Verbotsecke raus, es muss Spaß ma-chen, mit den neuen Geräten im Internet zu sein. – Bei-des gehört zusammen und das ist, so glaube ich, der ent-scheidende Punkt. Dafür wollen wir uns mit unseremAntrag einsetzen. Die Bundesregierung hat dies aufge-nommen. Dazu gehört natürlich auch noch, dass wir es gleich-zeitig hinkriegen, dass der Missbrauch dieser Mediendurch Rechtsextremismus, durch organisierte Kriminali-tät, durch Pornografie verhindert wird. Auch das ist un-ser Job, den wir nicht unterschätzen dürfen.
Frau Kollegin Grie-
fahn, Sie haben Ihre Redezeit weit überschritten.
Ja, okay, nur noch ein
Satz. – Die Euphorie der Zusammenbindung, der Zu-
sammenschluss von AOL und Time Warner wurde eben
erwähnt. Dazu kann ich nur meinen ehemaligen Kolle-
gen aus dem Bundestag, Peter Glotz, zitieren, der ges-
tern dazu sagte: Eigentlich passen die nicht zusammen;
das ist ein Zusammenschluss wie eine Ehe zwischen
Seehund und Hund.
Das kann eigentlich nicht die alleinige Zielperspektive
sein, vielmehr müssen wir zum Ziel haben, dass die
kleinen und vielfältigen Einheiten erhalten bleiben; denn
dies schafft Arbeitsplätze. Dies ist etwas, was mit diesen
ganzen Initiativen, die im Aktionsprogramm genannt
werden, auch vorangebracht wird. Ich bin dafür auch
sehr dankbar.
Ich schließe dieAussprache. Interfraktionell wird die Überweisung derVorlagen auf den Drucksachen 14/1191, 14/1776,14/2362 und 14/2390 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überwei-sungen so beschlossen.Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:Überweisung im vereinfachten Verfahren Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Geset-
– Drucksache 14/2498 –Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf derDrucksache 14/2498 zur federführenden Beratung anden Verteidigungsausschuss und zur Mitberatung an denInnenausschuss zu überweisen. Sind Sie damit einver-standen? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisun-gen so beschlossen. Wir kommen jetzt zur Beschlussfassung über Vorla-gen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Monika Griefahn
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7493
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Innenausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, PetraPau und der Fraktion der PDSSofortiger unbefristeter Abschiebestopp fürFlüchtlinge in die Türkei – Drucksachen 14/331, 14/2391 – Berichterstattung: Abgeordnete Rüdiger Veit Dietmar Schlee Marieluise Beck
Dr. Max Stadler Ulla JelpkeDer Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache14/331 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit denStimmen der SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN, ge-gen die Stimmen der PDS, bei Enthaltung der F.D.P.-Fraktion. Ich komme zu Tagesordnungspunkt 7:Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfa-chung und Beschleunigung des arbeitsgericht-
– Drucksache 14/626 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschussesfür Arbeit und Sozialordnung
– Drucksache 14/2490 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Thea DückertIch bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in derAusschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-chen! – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit denStimmen des Hauses bei Enthaltung der F.D.P. ange-nommen.Wir kommen zur dritten Beratungund Schlussabstimmung.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-men wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den gleichenMehrheitsverhältnissen wie in der zweiten Beratung an-genommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der F.D.P.Haltung der Bundesregierung zur Änderungdes BundesausbildungsförderungsgesetzesIch gebe für den Antragsteller dem Kollegen JürgenMöllemann das Wort.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor der Bun-destagswahl hat die SPD mitgeteilt, sie werde für denFall, dass sie mit dem Regierungsauftrag versehen wer-de, die Ausgaben für Bildung, Wissenschaft und For-schung verdoppeln.
Auf unsere interessierte Nachfrage wurde dann etwaseinschränkend gesagt, man werde die Investitionen fürBildung, Wissenschaft und Forschung verdoppeln, aller-dings ohne zu erläutern, wo der genaue Unterschiedzwischen Ausgaben für Bildung, Wissenschaft und For-schung und den Investitionen liegt. Auf die Nachfragenach der Bundestagswahl, die von der SPD nicht zuletztauch mit diesem Versprechen an die junge Generationund die am Bildungsbetrieb Interessierten gewonnenwurde, hieß es dann, man werde die Zukunftsin-vestitionen für Bildung, Wissenschaft und Forschungverdoppeln. Man ahnte schon – ich weiß, dass ich das inden Debatten immer wieder nachgefragt habe –, dassnach und nach aus diesem Versprechen eine Enttäu-schung werden würde.
Wenn man sich die Haushalte, die seither eingebrachtund verabschiedet wurden, anschaut, lässt sich das auchnachlesen. Im ersten Jahr gab es zunächst eine durchausspürbare Steigerung.
Diese war allerdings bei weitem nicht so spürbar, dassdiese mit vier multipliziert in dieser Legislaturperiodeeine Verdoppelung ergeben hätte. Diese wurde aberschon in der Bereinigungssitzung wesentlich reduziert.Beim zweiten Haushalt gab es dann die große Enttäu-schung, weil von einer wirklichen Steigerung keine Re-de mehr sein konnte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben denWahlkampf mit dem Argument geführt, die frühereKoalition habe nicht genug getan.
– Darüber kann man streiten. Aber wer dieses Argumentvorträgt und es zum wahlentscheidenden Kriteriummacht, muss sich anschließend daran messen lassen.
Vizepräsident Rudolf Seiters
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7494 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Sie haben sich nicht daran gehalten. Von einer Ver-doppelung der Bildungsausgaben konnte in den erstenbeiden Jahren Ihrer Amtszeit tendenziell nicht die Redesein. Ich weiß nicht, von wem das Zitat ist, aber es istnicht so schlecht: „Gebrochene Versprechen sind ge-sprochene Verbrechen.“ Sie haben Ihr Versprechen ge-brochen. Das Zweite passiert jetzt. Sie – die Grünen übrigensauch – haben vor der Wahl in Ihrem Wahlprogramm ge-sagt, es werde das Drei-Körbe-Modell geben. Wir brin-gen einen entsprechenden Entwurf hier ein, weil er mitgewissen Modifikationen in seinen Grundstrukturendurchaus vernünftig ist.
Sie reagieren darauf mit einer Verzögerungsargumenta-tion, indem Sie sagen, man müsse noch den Familien-leistungstungsausgleich usw. gestalten. Dann haben Siedie Idee, dies auch umzusetzen. Ich glaube, Frau Bulmahn, dass Sie wirklich die Idee hatten, die Investi-tionen zu verdoppeln. Aber Sie durften nicht, weil derKanzler sich nicht auf Ihre, sondern auf die Seite seinesFinanzministers gestellt hat. Dann haben Sie die Idee,das Drei-Körbe-Modell zu machen. Aber Sie sind zurKlausurtagung Ihrer Fraktion gekommen und haben sichvom Kanzler sagen lassen müssen, dass es mit ihm nichtgehe. Das kann einem passieren; aber Sie dürfen sichnicht wundern, wenn wir hier eine Bildungsministerinnicht mehr so ganz ernst nehmen können, die uns unab-lässig etwas ankündigt, was anschließend von ihremKanzler mit einem Federstrich zur Seite geräumt wird.Frau Bulmahn, Sie haben im Kabinett nichts zu sagen.Das ist das Problem,
und das ist der Unterschied zwischen Worten und Taten,der die jungen Menschen und auch die anderen, die da-ran interessiert sind, deren Eltern, deren Lehrer undHochschullehrer, so enttäuscht. Sie haben enttäuscht undSie versuchen jetzt, mit einer Scheinlösung, mit einerkleinen Lösung,
mit einem Trick den Eindruck zu erwecken, als kämenSie auch nur in die Nähe dessen, was Sie versprochenhaben.
Sie tun es nicht.In der Überschrift Ihrer heutigen Presseerklärungsprechen Sie von 1 Milliarde DM und tun so, als würdenSie 1 Milliarde DM zusätzlich ausgeben.
– Mit anderer Leute Geld kann ich auch gut prahlen. – Sie sprechen von 1 Milliarde DM und meinen 500 Mil-lionen DM aus dem Bundeshaushalt und sagen, die Län-der hätten gefälligst eine halbe Milliarde hinzuzutun.
Das müssen sie bei einer BAföG-Reform auch, wenn siezustande kommen soll, aber tun Sie nicht so, wenn Siedie Mittel der Länder hinzuzählen, als gäben Sie dasGeld dieser Regierung aus.
Die Wahrheit ist – das ist der Grund, warum wir dashier thematisieren; das mediale Echo ist auch so eindeu-tig, dass man es gar nicht weiter bekräftigen muss –: Siehaben im Bildungsbereich erneut große Taten angekün-digt und Sie passen mit Hut unter der Tür durch, die Ih-nen Herr Schröder vor der Nase zugeschlagen hat. Dasist nun wirklich eine Enttäuschung, die wir hier deutlichansprechen. Frau Pieper wird im Übrigen unser Modellgleich noch erläutern.Vielen Dank.
Ich gebe das Wortder Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard Bulmahn.Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
ehrten Herren und Damen! An dem Ergebnis wird mangemessen,
und das Ergebnis, das wir heute vorlegen, bedeutet eineTotalsanierung der Ausbildungsförderung.
Fakt ist: Auch Sie werden an den Ergebnissen IhrerRegierungspolitik gemessen. Das Ergebnis Ihrer Regie-rungspolitik, Herr Möllemann, für das auch Sie verant-wortlich waren,
ist, dass das BAföG unter Ihrer Regierung zur Bedeu-tungslosigkeit verkommen, war,
dass immer mehr Jugendliche aus finanziellen Gründensagen mussten: Ich kann nicht studieren.
Ich stand vor einem Scherbenhaufen, als ich dieses Amtübernommen habe, und die Koalition hat gesagt: Daswerden wir so nicht weiter mitmachen,Jürgen W. Möllemann
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7495
sondern wir werden dafür Sorge tragen, dass in Zukunftkeine junge Frau und kein junger Mann mehr sagenmuss: Ich kann nicht studieren, weil meine Eltern keinGeld dafür haben.
Genau das werden wir mit diesem Vorschlag wahrma-chen.Meine Damen und Herren, wir können es uns nichtleisten, dass Jugendliche aus finanzschwachen Familienvom Studium abgehalten werden.
Wir müssen alle Potenziale aus unserem Land nutzen.Damit gibt diese Regierung und diese Koalition eindeutliches Bekenntnis dafür ab, dass mehr Jugendlichein diesem Land studieren sollen
und dass wir in Deutschland gut ausgebildete Menschenbrauchen, denn die Zukunft liegt in den Händen gutausgebildeter Menschen
und sie hängt ab von den Startchancen, die wir jungenMenschen für ihre Ausbildung geben.
Deshalb habe ich ein neues BAföG auf den Tisch ge-legt, von dem Sie, Herr Rachel, und Ihre Kollegen nurhätten träumen können.
Dies hat der Bundeskanzler auch ausdrücklich unter-stützt und ausdrücklich selbst gesagt. Ich habe ein neuesBAföG auf den Tisch gelegt, ein BAföG, das einenwirklichen Neuanfang darstellt,
ein BAföG, das sozial gerecht ist, ein BAföG, das vieleFamilien wirklich entlasten wird, ein BAföG, das dieUnterschiede zwischen Ost und West aufhebt und denStudierenden den Weg nach Europa frei macht.
– Es ist durchaus sinnvoll, wenn ich als Studierende, dieBAföG erhält, auch die Möglichkeit habe, im Auslandzu studieren. Wenn Sie das nicht begreifen, tut es mirLeid.
Meine Herren und Damen, die Bundesregierung wirdfür die Reform der Ausbildungsförderung jährlich zu-sätzlich 500 Millionen DM mehr zur Verfügung stellen.
Das hat es in Ihrer Regierungszeit nicht ein einziges Malgegeben.
– Ich erwarte schon von Ihnen, Herr Möllemann, dassSie auch lesen, und zwar richtig lesen.
So habe ich es in der Presseerklärung auch gesagt. Da-mit mobilisieren wir insgesamt rund 1 Milliarde DM. Esist sogar noch etwas mehr.Das wissen Sie genauso gutwie ich. Mit dem Länderanteil und dem Darlehensanteilbedeutet das im Klartext rund 1 Milliarde DM mehr fürBAföG.
– Das steht im Text. Sie müssen anscheinend noch lesenlernen; dabei kann ich Ihnen gerne helfen.Ich habe vorhin gesagt, so etwas habe es in den ver-gangenen 16 Jahren nicht gegeben. Die bisherigen Aus-gaben für die Ausbildungsförderung werden damit fürdie Jugendlichen erheblich verstärkt. Damit haben wirdie Grundlage für einen neuen Anfang geschaffen. Dasist für diese Bundesregierung eine gewaltige Kraftan-strengung; das will ich gar nicht verhehlen.
Es ist eine gewaltige Kraftanstrengung, dafür so vielmehr Geld zur Verfügung zu stellen. Damit machen wirdeutlich: Bildung hat für uns Priorität.Mehr junge Menschen werden während ihres Studi-ums finanziell gefördert. Das ist einer der wichtigenEckpunkte. Wir wollen erreichen, dass das Kindergeldin Zukunft bei der Berechnung des BAföG nicht mehrangerechnet wird. Diesen Vorschlag habe ich schon imFrühjahr gemacht. Ich glaube, dass das jedem einsichtigist. Das bedeutet, dass wir das BAföG mit den anderenSystemen, wie Sozialhilfe oder Rente, gleichstellen, unddas bedeutet, dass in Zukunft jede Kindergelderhöhungin vollem Umfang auch den Familien zugute kommt, dieKinder haben, welche studieren und BAföG erhalten.Genau das wollen wir. Das bedeutet vor allem für Fami-lien mit einem mittleren Einkommen eine deutlicheVerbesserung.Wir werden über die Nichtanrechnung des Kinder-geldes hinaus auch die Freibeträge deutlich anheben,damit erheblich mehr Jugendliche BAföG-berechtigtwerden. Das ist unsere Zielsetzung. Wir wollen nicht,Bundesministerin Edelgard Bulmahn
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dass das BAföG nur von den Ärmsten in Anspruch ge-nommen werden kann. Es muss seinem Anspruch wie-der gerecht werden, eine Ausbildungsförderung für Ju-gendliche aus einkommensschwächeren Familien zusein.Wir werden die Bedarfssätze erhöhen. Der Höchst-satz des BAföG steigt von 1030 DM zurzeit auf1100 DM. Damit haben Studierende zusammen mit demKindergeld das, was sie heute tatsächlich zum Lebens-unterhalt brauchen und was auch der ständigen Forde-rung des Deutschen Studentenwerkes entspricht.Künftig wird es eine dauerhafte Hilfe zum Studienab-schluss geben, unabhängig von den Gründen, die zurÜberschreitung der Förderungshöchstdauer geführt ha-ben. Denn wir sind der Überzeugung, dass es wichtig ist,den Studierenden zu ermöglichen, dass sie ihr Studiumerfolgreich abschließen können. Das werden wir damiterreichen und wir werden damit wegkommen von denbefristeten Lösungen, die es in der Vergangenheit gab.
Wir wollen, dass Studierende aus West und Ost in derAusbildungsförderung gleichgestellt werden. Die nochbestehenden Unterschiede bei der Förderung von Studie-renden in den alten und neuen Bundesländern werdenaufgehoben. Auch das ist mehr als überfällig.
Damit haben wir beim BAföG endlich die notwendigeEinheit von Ost und West realisiert.
Wir wollen die Ausbildungsförderung internationali-sieren. Junge Menschen haben heute eine berechtigteForderung an uns, wie ich finde. Sie sagen: Wir wachsenin einem vereinten Europa auf und wir wollen unbe-schränkt in Europa studieren können. Mit unserer BA-föG-Reform ebnen wir genau dafür den Weg. Wer zweiSemester in Deutschland studiert hat, kann in Zukunft ineinem anderen Land in Europa nicht mehr nur zwei Se-mester, wie bisher, weiterstudieren, sondern kann zumBeispiel nach dem Vordiplom beschließen, in ein ande-res Land zu gehen und dort bis zum Ende zu studieren,also auch seinen Abschluss dort zu machen, wenn er esfür sinnvoll hält.
Ich bin davon überzeugt, dass das der richtige Wegist, denn wir haben inzwischen einen europäischen Ar-beitsmarkt. Eine Ausbildung im Ausland hat eine immergrößere Bedeutung. Das muss auch für Jugendliche gel-ten, die BAföG erhalten. Wir wollen doch keine Zwei-klassengesellschaft.
Wir stellen uns mit der BAföG-Reform den neuenAnforderungen der internationalen Abschlüsse – auchdas haben Sie nicht gemacht – und des Arbeitsmarktes.Master-Studiengänge, die auf den Bachelor-Studien-gängen aufbauen, müssen künftig nicht mehr strengfachidentisch sein, sondern werden auch dann gefördert,wenn sie für den späteren Beruf besonders geeignet sind.Gerade diese Mischqualifikationen werden vom Arbeits-markt sehr stark nachgefragt.Deshalb will ich auch hier nicht, dass BAföG-Studierende benachteiligt sind. Wir wollen erreichen,dass sie die gleichen Chancen haben wie Kinder und Ju-gendliche aus Familien, die das Studium ihrer Kinderaus eigenen Mitteln finanzieren. Das ist ein wichtigerPunkt. Denn die Attraktivität dieser Studiengänge, diewir alle wollten und gefordert haben, hängt natürlichauch davon ab, ob wir die Rahmenbedingungen so ver-ändern, dass diese Studiengänge von den Jugendlichengewählt werden können und dann auch tatsächlich ge-wählt werden.
Ein ebenso wichtiges Ziel ist für uns, eine BAföG-Regelung zu schaffen, die sowohl für Studierende alsauch für Eltern ein Mehr an Transparenz und Verläss-lichkeit bietet. Wir wollen daher in Zukunft klare Rege-lungen im Hinblick auf die Höchstförderungsdauer for-mulieren. In der entsprechenden Verordnung gibt eszurzeit über 100 Sonderregelungen. Das ist nicht mehrnachvollziehbar und durchschaubar, das ist – leider –das Ergebnis Ihrer Regierungspolitik. Denn diese Son-derregelungen haben wir nach dem Regierungswechselso vorgefunden.
Deshalb werde ich dafür sorgen, dass dieses komplizier-te System, das Sie uns hinterlassen haben, vereinfachtwird, damit jeder erkennen kann, welche Förderungs-höchstdauer es gibt.
Genauso wichtig ist es, die zurzeit existierenden fünfverschiedenen Freibeträge für Kinder und die drei ver-schiedenen Freibeträge für Eltern zu vereinfachen. Ichfrage Sie, wer angesichts von acht verschiedenen Freibe-trägen eigentlich noch durchblicken soll. Auch das wol-len wir ändern. Deshalb wird das entsprechende Gesetzin Zukunft so gestaltet sein, dass man es auch als norma-ler Mensch verstehen kann. Es wird so sein, dass mansich das Gesetz durchliest und dann auch weiß, welcheRechte man hat. Genau das ist unsere Zielsetzung.
– Dieses Modell hat Herr Schröder ausdrücklich unter-stützt.
Bundesministerin Edelgard Bulmahn
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7497
Die Länder fordern seit Jahren eine BAföG-Reform.Ich mache Ihnen mit diesen Eckpunkten ein Angebot füreinen echten Neuanfang,
der zu einer erheblichen Verbesserung der BAföG-Regelungen führen wird. Ich hoffe im Interesse der Ju-gendlichen, dass dieses Angebot von Ihnen aufgegriffenwerden wird. Vielen Dank.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Angelika Volquartz
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministe-rin, zum Ersten ist festzustellen: Ihr Angebot hört sichnach einem CDU/CSU-Angebot an. Das muss man ganzklar feststellen.
Zum Zweiten ist zu sagen: Nicht am Ergebnis wirdman gemessen, sondern an den Versprechungen. Sie ha-ben Ihre Versprechungen, die Sie während des Wahl-kampfes im Jahre 1998 gemacht haben, ganz klar gebro-chen.
Es muss für Sie wirklich erdrückend sein, dass der Bun-deskanzler, dessen Landesvorsitzende Sie sind, Ihnen inden Rücken gefallen ist und die Eckpunkte derCDU/CSU-Fraktion unterstützt. Damit hat weder in derÖffentlichkeit noch hier jemand gerechnet. Frau Ministerin, eine Frage: Woher kommen die vonIhnen angesprochenen 500 Millionen DM?
– Herr Schlauch, verzichten Sie auf diese billige Bemer-kung, mit der Sie von Ihren Fehlern ablenken wollen. –Kommen die aus Ihrem Haushalt, und wenn ja, wo wirdgekürzt? Darauf hätten wir gerne eine Antwort.Ich möchte noch einmal Folgendes deutlich machen:Vor fast einem Jahr, am 26. Februar 1999, hat die Bun-desbildungsministerin in diesem Hause ausgeführt – ichzitiere –: Wir werden eine BAföG-Reform durchführen, dieauch auf längerfristige Sicht Sicherheit für Studie-rende aus einkommensschwächeren Familien bie-tet.Bis Ende letzten Jahres hatten Sie, Frau Bulmahn, einentscheidungsreifes Konzept angekündigt. Es war nichtzu überhören – das Feuerwerk zum Jahrtausendwechselwar von ausreichender Lautstärke begleitet –, dass die-ser Termin ohne das angekündigte Konzept verstrichenist. Wir haben, obwohl Sie im Sommer letzten Jahres ineiner Presseerklärung noch einmal von diesem Ziel ge-sprochen haben, zur Kenntnis nehmen können, dass dieBildungspolitik der Regierung offenbar weiterhin vomFinanzminister und neuerdings auch vom Bundeskanzlergemacht werden – wir sind gespannt, was in anderenFragen noch auf uns zukommt – und dass Zusagen derBildungsministerin in diesem Hohen Hause wenig Be-deutung haben. Bedauerlich ist, dass sich Ihre Politiknicht mehr an den Bedürfnissen der Wählerinnen undWähler orientiert, wie Sie es zugesagt haben, sondern anHaushaltszwängen. Das nächste Mal müssen Sie sichvor einer Wahl entscheiden und deutlich sagen, was Siewirklich wollen. Jedenfalls dürfen Sie keine Verspre-chungen machen, die Sie anschließend absolut nicht hal-ten können.
Verehrter Kollege Berninger von den Grünen, Sie ha-ben uns in der Debatte im Dezember unsinnigerweisevorgeworfen, dass wir als CDU/CSU-Fraktion in Bezugauf das große BAföG-Reformwerk unflexibel seien undeigentlich den Bremser darstellten; denn alle anderenseien sich einig, dass es eine große Reform geben müs-se.
Heute stellt sich heraus, dass wir der eigentliche Motordieser BAföG-Reform sind
und unsere Vorschläge die Kernpunkte der Vorstellun-gen des Bundeskanzlers – "der Ministerin" kann mankaum mehr sagen – bilden. Wir haben machbare Vor-schläge vorgelegt. Wir haben Sie, Frau Ministerin, schon vor Monatendarauf hingewiesen, dass es verfassungsrechtliche Be-denken gegen die Zahlung eines Ausbildungsgeldes gibt.Scheinbar sind es heute nicht die verfassungsrechtlichenBedenken, die Sie dazu bewegen, eine Veränderungvorzunehmen; vielmehr ist es schlicht und ergreifenddas Machtwort des Kanzlers und des Finanzministers,dem Sie sich beugen müssen. Die verfassungsrechtli-chen Bedenken nehmen Sie lediglich als Ausrede.
Was der Ministerin nicht vergönnt war, das zaubertder Bundeskanzler aus dem Hut mit seiner Ankündigungam Dienstag vor der SPD-Fraktion, den BAföG-Etat zuerhöhen. Richtig ist, was in der gestrigen Ausgabe der„FAZ“ stand: Das BAföG-Theater wird immer peinli-cher – In der Tat!Bundesministerin Edelgard Bulmahn
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7498 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns nachIhrer Kehrtwende zügig entscheiden, damit wir schnellweniger Taxi fahrende Studenten haben und endlich Nä-gel mit Köpfen machen können.
Vielen Dank.
Alsnächster Redner hat der Kollege Matthias Berningervom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
muss, wenn man über die BAföG-Reform und die aktu-elle Situation redet, zunächst einmal über den Bundes-kanzler sprechen. Ich sage Ihnen in diesem Hohen Haus,dass die Begründung des Bundeskanzlers für die Ableh-nung einer BAföG-Strukturreform für die FraktionBündnis 90/Die Grünen nicht akzeptabel ist.
Die Eltern, deren Kinder studieren, erhalten die staatli-chen Transfers nicht zur Finanzierung ihres Hauses,auch nicht zur Finanzierung von Papis Passat, sondernzur Weitergabe an ihre Kinder, damit diese studierenkönnen. Insoweit ist die Begründung des Bundeskanz-lers zurückzuweisen. – Das vorneweg.
Kommen wir nun zur Strukturreform, und zwar zu-nächst zur Frage des Geldes: Frau Volquartz, wenn mannoch einmal eine Reparaturnovelle mit 200 MillionenDM zusätzlich als Beruhigungspille in Angriff genom-men hätte, würde ich heute anders reden, als ich es inden nächsten vier Minuten tun kann. 1,2 Milliarden DMwerden zusätzlich in das BAföG fließen.
Durch Maßnahmen der Bundesregierung werden800 Millionen DM mobilisiert, und zwar weil wir denZuschussanteil über den Haushalt und darüber hinausden Darlehensanteil über die Ausgleichsbank finanzie-ren werden.
1,2 Milliarden DM ist die größte Summe, die je für eineBAföG-Novelle ausgegeben wurde.
1,2 Milliarden DM sind ein Betrag, von dem wir alsBündnis 90/Die Grünen glauben, dass er für eine Total-sanierung des BAföG ausreicht.
Ich halte das BAföG, wie es heute ist, für bürokra-tisch überladen. Es erreicht nicht mehr genügend Men-schen. Das kann man an der Zahl der Geförderten able-sen.
Das BAföG ist für viele ein Graus.Wir wollen es dere-gulieren; wir wollen Sonderregelungen abschaffen. DasGesetz muss schlanker, transparenter und für die Leuteattraktiver werden.
Diese Zielsetzung kann erreicht werden, wenn wir diezusätzlichen Mittel mobilisieren.Es ist gefragt worden: Wo kommt das Geld her? DieAntwort darauf ist ein weiterer Grund dafür, warum die-se Reform ein Schritt in die richtige Richtung ist. DiesesGeld wird zusätzlich aufgebracht werden; es muss nichtaus dem Etat der Bundesbildungsministerin finanziertwerden.
Die Koalitionsfraktionen haben sich darauf geeinigt,weitere 500 Millionen DM in den Bereich Bildung zuinvestieren. Damit wird auf die Zukunftsmilliarde einehalbe Milliarde draufgelegt. Trotz Sparpaket, trotz Un-ternehmensteuerreform ist das ein Signal,
das deutlich macht, dass Bildung für diese Bundesregie-rung Priorität hat.
Ich bin deshalb den Koalitionsfraktionen für dieseSchwerpunktsetzung dankbar.
– Das wird im Jahre 2001 in Kraft treten, unter einerVoraussetzung,
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7499
nämlich der, dass die CDU- oder CSU-geführten Län-der, die nicht bereit waren, eine Strukturreform zu ma-chen – übrigens auch ein Grund, warum sie gescheitertist –, willens sind, ihren Anteil zur Finanzierung beizu-tragen.
Eine BAföG-Reform allein wird meiner Meinungnach nicht ausreichen. An dieser Argumentation hat sichnichts geändert. Es gibt Studierende, die sagen: Ichmöchte meine Eltern nicht finanziell belasten, währendich studiere; ich möchte das lieber selbst regeln. Sie sindheute gezwungen, erwerbstätig zu sein. Die Koalitionhat sich deshalb darauf verständigt, ein neues Förderin-strument einzuführen, das vorsieht, dass den Studieren-den Förderung elternunabhängig zugute kommen soll.Mit Bildungskrediten wollen wir es allen ermöglichen,zumindest in bestimmten Studienabschnitten ohneZwang zur Erwerbstätigkeit elternunabhängig zu studie-ren. Das ist für mich der erste Schritt hin zu einem Ziel,das Bündnis 90/Die Grünen verfolgen werden,
nämlich die Errichtung einer Bildungsbank.
Die Deutsche Ausgleichsbank wird als Bildungsbankkünftig eine wichtige Rolle übernehmen, und die Auf-gabe des Staates ist relativ klar. Der Staat wird als Aus-fallbürge auftreten – denn die fehlende Bürgschaft istein Grund, warum Studierende heute etwa bei Bankenkeinen Kredit bekommen – und der Staat wird in derAusbildungsphase und der Phase des Berufseinstiegs dieZinszahlungen übernehmen. Das werden wir zusätzlichmachen, weil wir sagen: Neben dem BAföG muss esweitere Förderinstrumente geben.
Einen weiteren Punkt, von dem ich glaube, dass er indie richtige Richtung geht, möchte ich hier noch anspre-chen. Über die Hälfte aller Arbeitnehmer wird in 20 Jah-ren älter als 40 Jahre sein. Die Zahl der 30-Jährigen wirdvon heute 12 Millionen auf 8 Millionen sinken. EineBildungsreform wird nicht mehr nur das Thema Erst-ausbildung im Blick haben können; wir müssen auch aufdie Weiterbildung, auf das lebenslange Lernen schauen.Deshalb hat sich die Koalition darauf verständigt, dassdie Bundesregierung eine Expertenkommission einberu-fen wird, in der über Strukturfragen, über Fragen derBildungsfinanzierung, die sich in Zukunft stellen, gere-det wird und in der Vorschläge erarbeitet werden, diedieser neuen Herausforderung gerecht werden.Bündnis 90/Die Grünen schlagen vor, dass man, weilBildung so wichtig ist wie ein Dach über dem Kopf,Bildungsvorsorge und Bildungssparen ähnlich fördertwie die Vorsorge für eigenen Wohnraum, wie die Schaf-fung von eigenem Wohnraum. Das ist ein neuer Schritt,eine neue Reform, von der ich glaube, dass sie jetzt er-arbeitet werden muss. Da diese Koalition das Interessehat, über die Legislaturperiode hinaus strukturelle Re-formen im Bildungsbereich voranzubringen,
bin ich sehr froh darüber, dass wir die Arbeit daran nochin diesem Jahr aufnehmen. Auch das macht deutlich,dass mit der BAföG-Reform die Diskussion über dieZukunft der Bildungsfinanzierung nicht beendet ist,sondern dass sie nur einen Anfang genommen hat undwir damit den Scherbenhaufen aufkehren, den die alte Koalition und auch der damalige BildungsministerMöllemann uns hinterlassen haben.Ich danke Ihnen.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Maritta Böttcher von
der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Sehr ver-ehrte Damen und Herren! Es bleibt dabei: Die Enttäu-schung und Empörung der bildungspolitischen Öffent-lichkeit über das Scheitern der geplanten BAföG-Reform sind enorm.
Weit über das übliche Murren sogar der Regierungsju-gend hinaus ist ein regelrechter Aufschrei zu verneh-men. Schließlich musste die Bildungsministerin ihrenOffenbarungseid allein deshalb leisten
– ich komme gleich noch auf die Millionen –, weil sievon Bundeskanzler Gerhard Schröder zurückgepfiffenwurde – entgegen den klaren Ankündigungen in der Ko-alitionsvereinbarung, noch 1999 eine grundlegende Re-form der Ausbildungsförderung in Angriff zu nehmen.
Derartige Versprechungen waren mit dem Rückenwindder studentischen Protestbewegung des Winters 1997/98auch in die Bundestagswahlprogramme von SPD undGrünen aufgenommen worden. Wenn nun, wie es sich abzeichnet, die Koalition an-stelle einer Strukturreform eine abermalige Novelle vor-bereitet, also die Bildungsmisere des 20. Jahrhundertsbruchlos in eine Misere des 21. Jahrhunderts überführt,so sprechen die Studierenden zu Recht von einem ge-brochenen Wahlversprechen.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen kann mit unse-rer Unterstützung rechnen, wenn es darum geht, in derMatthias Berninger
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7500 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Koalition eine Reform der Ausbildungsförderung aufden Weg zu bringen, die diesen Namen auch verdient,die den Erwartungen sowohl der heutigen als auch derkünftigen Studentinnen und Studenten entspricht und diedie Zahl der BAföG-geförderten Studierenden und ihreLeistungen spürbar verbessert. Sie, verehrter Kollege Berninger, machen sich aller-dings unglaubwürdig, wenn Sie sich mit Ihrer berechtig-ten Kritik am Abrücken der SPD vom Koalitionsvertragan die Speerspitze der Reformbewegung stellen wollen.Indem Sie die BAföG-Querelen in der SPD postwen-dend mit einem eigenen Vorhaben zur Errichtung einer„Bildungsbank“ beantworten, wird unverkennbar, dassnicht nur Kanzler Schröder, sondern auch der grüne Ko-alitionspartner die Bundesbildungsministerin mit ihrenambitionierten Reformplänen im Regen stehen lässt.
Strategien zur Privatisierung und Individualisierung derAusbildungsförderungssysteme sind einer wirklichenReform im Sinne von Chancengleichheit abträglich. Die Fraktion der PDS bedauert, dass die Koalitionvom Vorhaben einer strukturellen Reform der Ausbil-dungsförderung abrückt. Denn mit ihren Plänen hattesich die Bildungsministerin endlich Reformüberlegun-gen angeschlossen, die seit vielen Jahren von Organisa-tionen wie dem DSW oder der GEW diskutiert werdenund bereits 1996 erstmals auch von der PDS in denDeutschen Bundestag eingebracht worden sind. Kern derbisher geführten Reformdebatte ist die Finanzierung derAusbildungsförderung aus verschiedenen „Körben“. –Ich will dies nicht näher erläutern, da wir alle wissen,worum es geht. Sie wissen auch, dass die angesproche-nen Probleme nicht erst seit heute bestehen. – Die exis-tenzsichernde Ausbildungsförderung hat nach den Vor-stellungen der PDS-Fraktion zumindest für Kinder vonEltern mit unterdurchschnittlichem Einkommen als Zu-schuss ohne Rückzahlungspflicht zu erfolgen.
An diese Forderung möchte ich hier noch einmal erin-nern. Seit dem Herbst 1998 hatte die Bundesregierung dieChance, endlich mit einem sozialen Numerus clausus anden Universitäten Schluss zu machen. Die Koalition hatwertvolle Zeit verspielt. Ich bin durchaus der Auffas-sung, dass die rechtlichen Unsicherheiten, die mit demgeplanten Ausbildungsgeld verknüpft sind, ernst ge-nommen werden müssen, wenngleich ich zu berücksich-tigen bitte, dass die Kanzlerinterventionen gegen dieAusbildungsförderungsreform in erster Linie nicht vonjuristischen, sondern von politischen Bedenken moti-viert waren. Außerdem sind die juristischen Probleme inBezug auf das Unterhalts- und Steuerrecht nicht neu. Um die Reformpläne der Ministerin beurteilen zukönnen, wäre es dringend geboten, dass diese dem Deut-schen Bundestag, seinem zuständigen Ausschuss sowieder bildungspolitischen Öffentlichkeit endlich zurKenntnis gegeben werden, und zwar nicht nur auf demWege über die Presse, wie es heute geschehen ist. Erstdann ist eine verantwortungsvolle Bewertung der Re-formkonzeption der Ministerin für Bildung und For-schung überhaupt möglich. Die mit einer halbherzigen Reform verbundenen –auch rechtlichen – Unsicherheiten zeigen gleichwohlschon jetzt, dass wir mittelfristig nicht – in diesem Punktgebe ich Herrn Kollegen Berninger wieder Recht – umeine grundlegende Erneuerung des Ausbildungsförde-rungssystems herumkommen, die das bestehende BA-föG in das System einer bedarfsdeckenden sozialenGrundsicherung für alle Bürgerinnen und Bürger, alsoauch für Studierende, überführt. Lassen Sie mich zum Abschluss betonen: Es wirdentgegen den vom Kollegen Berninger geweckten Er-wartungen keine kostenneutrale Reform der Ausbil-dungsförderung geben. Eine solche wird auch nicht nö-tig sein, wenn die versprochenen Gelder – jetzt wird vonanderen Summen als heute Morgen gesprochen – wirk-lich fließen. Ich möchte noch eine Forderung der PDS anfügen:Die jährlichen Darlehensrückflüsse in Höhe von rund1 Milliarde DM müssen zur Finanzierung der Strukturre-form der Ausbildungsförderung bereitgestellt werden.Die Generation der ehemaligen Studentinnen und Stu-denten, die nach fünf Jahren zur Kasse gebeten wird,darf nicht weiter zum Stopfen der Haushaltslöcher desjeweiligen Finanzministers missbraucht werden. Wir brauchen also schnell eine wirkliche Entscheidunganhand der konkreten Eckwerte, die uns vorliegen, umüberhaupt eine Reform, die den Namen auch verdient,wirkungsvoll auf den Weg bringen zu können.
Als
nächstem Redner gebe ich das Wort dem Kollegen Ernst
Dieter Rossmann von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nicht viele von denOppositionsparteien machen dieses Thema zu ihremHerzensanliegen. Ich habe den Eindruck, Sie alle zu-sammen sehen ziemlich bedeppert aus.
Sie sehen deshalb bedeppert aus, weil Sie nicht einmalmehr eine einheitliche Linie verfolgen, weil Sie merken,dass Sie sich nur mit Worten bewegen können, aber inder Praxis offensichtlich etwas ganz anderes läuft. Dasist Ihr Dilemma: Sie wenden die Worte hin und her, abergemessen an den Taten haben Sie schmählich versagt.
Oder um es umgekehrt zu sagen: Wann gab es zuletztTaten, aufgrund deren in einem Haushaltsjahr – wie1999 – 900 Millionen DM für Bildung und Wissenschaftdazugekommen sind? Im Haushaltsjahr 2000 ist derVerfügungsrahmen für Bildung und Wissenschaft umMaritta Böttcher
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7501
mehr als 300 Millionen DM gesteigert worden. Für dieJahre 1999 und 2000 ist ein Bildungsförderprogrammfür arbeitslose Jugendliche im Umfang von2 Milliarden DM aufgelegt worden. Die Hochschulenkönnen 200 Millionen DM mehr für Baumaßnahmenausgeben, neben einem Investitionsanreizprogramm fürBildungsinnovationen in Höhe von 200 Millionen DM.Die Mittel für die Nachwuchsförderung weisen Steige-rungsraten von 50 bis 60 Prozent auf. Wann hat es dasjemals gegeben?
Deshalb sagen wir aus voller Überzeugung: Was Siehier angreifen, ist in Wirklichkeit die Geschichte einerErfolgsministerin. Frau Buhlmann ist eine Erfolgs-ministerin,
so wie die ganze Regierung eindeutig die Bildung in denVordergrund stellt.Wenn Sie es nicht glauben wollen, Herr Möllemann,dann vergleichen Sie unsere Erfolge nicht mit Ihren ei-genen. Denn dazwischen war ja noch was: die ungenannten Bildungspolitiker der F.D.P. und dannRüttgers. Wenn wir das, was wir jetzt mit Blick auf FrauBuhlmann gesagt haben, auf Herrn Rüttgers beziehenwollten, was müssten wir dann sagen? Rüttgers war derMinister, unter dem die Ausgaben für Bildung und Wis-senschaft um 1 Milliarde DM zurückgingen,
unter dem die Jugendarbeitslosigkeit gewachsen ist, un-ter dem die Ausgaben für die Hochschulen nicht sub-stanziell erhöht worden sind. Rüttgers war der Minister,der immer BAföG-Erhöhungen angekündigt hat, aberbei einer Erhöhung der Bedarfssätze um 6 Prozent undder Freibeträge um 12 Prozent für eine ganze Legisla-turperiode stehen geblieben ist. Rüttgers hatte ganz andere Erlebnisse, wenn es denndarum ging, für Bildung finanziell mehr herauszuholen.Sie erinnern sich sicher noch alle daran, als Bundeskanz-ler Kohl einmal nicht an das jetzt viel diskutierte Gelddachte, sondern an die Bildung. Das war der so genannte„Bildungsgipfel“. Wissen Sie, was daraus geworden ist?– Null.
Rüttgers bekam überhaupt keine Unterstützung von sei-nem Kanzler.Wollen wir uns denn beklagen, wenn wir uns für Bil-dungsinteressen einsetzen, dass mit Kanzler Schrödereine Bildungsministerin die Chance bekam, im BereichBAföG eine Reform auf den Weg zu bringen, die so vie-le – auch strukturell wichtige – Elemente enthält, wieSie sich das nie haben vorstellen können?
Herr Möllemann, manchmal, wenn Sie den Mund sospitzen, denke ich: Sie können ja auch ganz unterhalt-sam sein. Aber irgendwie war Ihre Stimmung heute arggedämpft. Ich vermute, das hat etwas mit dem Niveauder Plakate zur Bildungspolitik zu tun, die gegenwärtigin Nordrhein-Westfalen hängen und auch für Sie spre-chen sollen.
Es wäre ein Gebot der Ehrlichkeit, zu sagen: Wennwir jetzt vorankommen, dann nur, weil die gesamte Re-gierung – vom Kanzler über den Finanzminister bis hinzu den Fachressorts – darin einig ist, Bildung Prioritäteinzuräumen. Wir kommen voran, weil es zwischen denKoalitionsparteien jetzt eine eindrucksvolle Geschlos-senheit gibt, die in Ihrer Regierungszeit offensichtlichnicht vorhanden war. Oder sehen Sie irgendeine Verbin-dung zwischen dem, was die F.D.P. beantragt, und dem,was die CDU/CSU beantragt? Ich finde das schon frap-pierend. Aber das erklärt auch, warum es unter Kohl mit Rüttgers offensichtlich nicht vorwärts gehen konnte: Siehatten überhaupt keinen gemeinsamen Nenner mehr. DieF.D.P. applaudiert für sich, genauso wie die CDU/CSUfür sich applaudiert – und SPD und Bündnis 90/DieGrünen tun etwas für die Studenten, tun etwas für dieAuszubildenden, machen eine Bildungsreform.
Das sind strukturelle Elemente. Wo die Ausbildungsför-derung unter Möllemann und Rüttgers um die Hälfte zu-rückging, gibt es jetzt wieder einen Weg, der nach obenführt: deutlich mehr Geförderte, vor allem in dem Be-reich, in dem es materiell wehtut. Und was die Nichtan-rechnung des Kindergeldes angeht, haben wir auch nochÜbereinstimmung erzielt.Was gibt es weiter für die Studenten? Im letzten Jahrhaben wir mit der 20. Novelle die Sauerei, dass Aus-landsstudien nicht mehr gefördert wurden, zum Teil re-pariert. Jetzt geht es einen gewaltigen Schritt nach vor-ne: Das Auslandsstudium wird sozusagen anerkannt undvoll in die Förderung einbezogen. Das ist etwas struktu-rell Neues. Ich meine, das ist wirklich Zukunftsorientie-rung, die sonst von Ihnen immer nur mit Worten be-schworen wird.
Schließlich gibt es endlich Fairness in Bezug auf denStudienabschluss. Das konnte Studenten in der Vergan-genheit arg beschweren. Wir werden Gelegenheit haben,zusammen ein gutes Gesetz zu machen.Herr Möllemann, wenn Sie schon mehr als nur Plaka-te lesen, dann haben Sie vorhin die Regierungspresseer-klärung gelesen. Darin steht wortwörtlich: Zusammen mit dem Anteil der Länder und derDeutschen Ausgleichsbank können so rundDr. Ernst Dieter Rossmann
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7502 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
1 Milliarde Mark für die Verwirklichung desRechts auf Bildung mobilisiert werden.
Das ist ein Angebot. Das ist auch eine Aufforderungzum Pragmatismus. Denn in 20 Jahren redet man nichtmehr davon, ob es eine SPD- oder eine CDU-BAföG-Reform war. Man wird davon reden, ob das die Wieder-belebung des BAföG war. Wir haben jetzt die Chance,dies mit der SPD-Regierung, den SPD-Ländern und denCDU-Ländern gemeinsam hinzubekommen. Deshalb ist heute ein guter Tag für die Auszubilden-den und für die Studenten in Deutschland. Dies ist einTag, an dem das BAföG wieder Zukunft bekommt.Danke schön, Frau Ministerin!
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Cornelia Pieper von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!Die BAföG-Reform ist Chefsache, also Sache des Kanz-lers. Wir führen hier eine Aktuelle Stunde und ich ver-misse den Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutsch-land, der sich als Kanzler für Innovation und Bildungversteht.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoaliti-on, was Sie heute im Deutschen Bundestag geboten ha-ben, indem Sie die Katze aus dem Sack lassen und sa-gen, dass es keine Strukturreform beim BAföG gebenwird –
– hören Sie ruhig zu, das wird Ihnen gut tun; vielleichtlernen Sie noch etwas dazu –, ist, denke ich, ein Ver-trauensbruch gegenüber den jungen Menschen in diesemLand. Sie haben ihnen diese Strukturreform nicht nurvor der Wahl, sondern auch in Ihrer Koalitionsvereinba-rung und bis zuletzt versprochen. Ich bezeichne das alsSchwindelei, was hier im deutschen Parlament gegen-über den Wählern gemacht worden ist. Das können wirso nicht hinnehmen.
Frau Ministerin, Sie haben heute in der Bundespres-sekonferenz erklärt, die Bundesregierung werde – dassteht hier in der Überschrift schwarz auf weiß zu lesen –„insgesamt 1 Milliarde DM zusätzlich“ in die Ausbil-dungsförderung investieren. „Die Bundesregierung“steht da. Sie haben dann klargestellt: 500 Millionen DMkommen zusätzlich vom Bundesfinanzminister. Woherdie da kommen sollen, weiß ich nicht. Ich möchte Siedaran erinnern, dass wir bei den Haushaltsberatungen2000 die Summe von 550 Millionen DM, die ursprüng-lich für das BAföG eingestellt war, gestrichen haben.
Sie haben sich diese 550 Millionen DM vom Finanz-minister streichen lassen. Jetzt kriegen Sie500 Millionen DM zurück. Das ist keine zusätzlicheBundesausbildungsförderung. Dieses Geld gehört ei-gentlich sowieso in diesen Haushalt; dieses Geld solltedem Anschub einer BAföG-Reform dienen.
Meine Damen und Herren, alle Bildungsexperten derBundesrepublik Deutschland sind sich über eine echteStrukturreform bei der Bundesausbildungsförderung ei-nig. Verfassungs- und Steuerrechtler haben die Sockel-förderung, also die direkte Auszahlung eines monatli-chen Betrages an die Studenten und Auszubildenden,geprüft und für vereinbar mit dem letzten Familienurteildes Bundesverfassungsgerichts erklärt. Ich möchte Ih-nen in diesem Zusammenhang unter anderem das Studi-um eines Gutachtens von Professor Dr. Wieland von derUniversität Bielefeld empfehlen –, der übrigens auchBerater des Bildungsausschusses des Deutschen Bundes-tages gewesen ist –, in dem er dies klarstellt. Wir stellenIhnen dieses Gutachten gerne zur Verfügung. Wir be-kommen von Ihnen ja keine Gutachten, also müssen wiruns diese selber besorgen. Ich finde es schon sehr be-fremdlich, wenn man als Abgeordnete dieses HohenHauses nicht alle Informationen zur Beratung einer Ge-setzesvorlage zur Verfügung gestellt bekommt.
Meine Damen und Herren von der Fraktion der Grü-nen, ich wundere mich sehr: Herr Berninger macht Äu-ßerungen, die zuerst sehr sympathisch klingen.
„Richtige Analyse, aber falsche Schlussfolgerungen“,kann ich dazu nur sagen. Ich weiß nicht, wie viele Krö-ten Sie in dieser Koalition noch schlucken müssen. Ei-gentlich müsste sie angesichts der vielen Kröten, die Siegeschluckt haben, schon geplatzt sein. Bis gestern habenSie in allen Interviews noch erklärt, dass Sie auf einerechten Strukturreform bezüglich des BAföG insistierenwürden. Für diese Strukturreform treten Sie jetzt nichtmehr ein. Das, was die Ministerin vorgelegt hat, ist kei-ne Reform, auch kein Reförmchen, sondern eine Mogel-packung. Sie bleiben beim alten System.
Die Grünen sind eine Umfallerpartei. Herr Berningerhat zu Recht gefragt: Warum werden eigentlich in dieserRepublik 27-Jährige wie 14-Jährige behandelt, und wa-rum können sie den Sockelbetrag nicht ausgezahlt be-kommen? Dr. Ernst Dieter Rossmann
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7503
Ich stimme Ihnen in dieser Frage zu. Aber dann lassenSie es uns endlich tun. Mit 18 Jahren hat man inDeutschland alle Rechte und Pflichten. Aber wahr-scheinlich traut der Staat den jungen Menschen nicht zu,mit einem bestimmten Betrag ihren Lebensunterhalt ei-genständig zu finanzieren. Wie können Sie dann ange-sichts eines solch geringen Maßes an Vertrauen in diejungen Leute in diesem Land mehr Eigenverantwortungund Eigeninitiative verlangen? Ich möchte Ihren Juso-Chef, Benjamin Mikfeld, zitie-ren.
– Man soll auch hin und wieder andere für sich sprechenlassen. Das tut der Argumentation gut. Ich zitiere: Da frage ich mich dann wirklich, wie ernst die Re-gierung – damit sind Sie gemeint – junge Erwachsene eigentlich nimmt. Wir haben denEindruck, da wird die neue Mitte von morgen zu-rück an Mamas Herd und Mamas Schoß getrieben,wenn gesagt wird, das Geld kann überhaupt nichtden Jugendlichen direkt ausgezahlt werden ...Ich sehe das genauso wie Ihr Juso-Vorsitzender. Ich fra-ge mich, warum Sie nicht für einen Innovationsschub inIhrer Bildungspolitik sorgen. Im Verlauf der bisherigen Debatte ist schon deutlichgeworden: Die Ministerin ist am Machtwort des Kanz-lers gescheitert. Eigentlich kann man ihr selbst das garnicht vorwerfen. Er ist eben kein Kanzler der Jungen,die zu Recht auf die Nutzung der Chancen in einer im-mer offener werdenden Welt drängen. Die jetzige Regie-rung macht Bildungs- und Chancengleichheit nicht zurPriorität in der Politik. Dem Fortschritt und den Refor-men kann man sich auf Dauer nicht versperren.
Frau
Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Jawohl, Herr Präsident. –
Deshalb rate ich Ihnen, Frau Bulmahn: Lassen Sie sich
nicht weiter unterbuttern! Überdenken Sie Ihr Vorhaben
und beschließen Sie nach einer eingehenden Experten-
anhörung mit uns gemeinsam endlich eine echte Struk-
turreform!
Vielen Dank.
Als
nächster Rednerin gebe ich das Wort der Kollegin Antje
Hermenau vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kolleginnenund Kollegen! Erstens, Frau Pieper: Was hat Sie eigent-lich so gepiekt? Es ist völlig unklar, warum Sie sich hierso echauffieren. Ich kann es nicht nachvollziehen. Zweitens. Wenn Sie hier schon solche Reden schwin-gen und piepersche Thesen zum BAföG aufstellen, dannwäre ich Ihnen dankbar, Sie hätten sich vorher über denHaushalt informiert. Sie kennen die Zahlen nicht. Siehaben unterstellt, wir hätten im Haushalt 2000 500 Mil-lionen DM für das BAföG gestrichen. Das ist lächerlich.Wir haben es lediglich anders finanziert. Für die BA-föG-Empfänger ändert sich gar nichts. Das haben Sienicht verstanden.
Den nächsten Punkt werden Sie wahrscheinlich auchnicht verstehen, nämlich wie wir die 500 Millionen DMfinanzieren wollen, die wir ab 2001 für die Umsetzungder Reform, von der wir sprechen, brauchen. Renate Rennebach [SPD]: Hier gibt es keineschwarzen Kassen!)– Hier gibt es keine schwarzen Kassen. Das ist ein völligberechtigter Zuruf.Ich sehe in der Finanzierung auch kein Problem; dennwir werden die 500 Millionen DM im Rahmen desHaushalts 2001 finanzieren, der im Herbst erst noch dis-kutiert wird. Dann können Sie all Ihre Einwände vor-bringen. Dann können wir in Ruhe besprechen, wie die500 Millionen DM finanziert werden. Ich sehe kein Pro-blem; denn die Koalition hat bereits die Prioritäten fürdie nächste Haushaltsberatung im Bildungsbereich ge-setzt. Eines garantiere ich Ihnen: Die 500 Millionen DMwerden nicht aus Mitteln für den Hochschulbau finan-ziert, wie das in den letzten Jahren unter Ihrer Ägide üb-lich war.
Die CDU behauptet, wir machten keine Reform. Daskann doch wohl nicht wahr sein. Natürlich werden diejungen Leute mehr und mehr wie Erwachsene behandeltund nicht mehr wie die armen kleinen Kümmerlinge.Natürlich werden sie selbstbestimmter arbeiten können –das werde ich gleich ausführen –, sie werden flexiblerüber ihre Lebensplanung verfügen können und sie wer-den endlich auch internationale Studien aufnehmen kön-nen, indem ihnen ein Studium im Ausland wieder mög-lich ist, was ich für ganz wesentlich halte. Wir haben inDeutschland keine Chancen, wenn wir im Bildungsbe-reich immer nur vor uns hinschmoren. Wir müssen ganzeinfach auch das Studieren im Ausland ermöglichen.Vor diesem Hintergrund wundere ich mich, dass diePDS noch einmal mit dieser abgestandenen These vomCornelia Pieper
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7504 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
sozialen Numerus clausus aufgetaucht ist. Ich weißnicht, was es mit einem sozialen Numerus clausus zu tunhat, wenn das Kindergeld nicht mehr angerechnet wird.Wenn die Freibeträge und die Bedarfssätze angehobenwerden, dann weiß ich ebenfalls nicht, was das mit ei-nem sozialen Numerus clausus zu tun hat. Sie müssensich besser informieren.
Jetzt reden wir einmal über diese Strukturreform, diewir – ich gebe zu: mit einer gewissen Mühe – auf dieBeine gestellt haben. Also: 500 Millionen DM kommendazu. Das heißt, 400 Millionen DM werden vonseitender Bundesregierung als Zuschuss gegeben und100 Millionen DM wird die Deutsche Ausgleichsbankzur Verfügung stellen müssen, um Zins und Ausfall-bürgschaften zu übernehmen. Wenn man das zusam-menrechnet und überlegt, was die Ausgleichsbank unge-fähr finanzieren kann – in der Summe noch einmal un-gefähr 400 Millionen DM –, dann kommt man lockerauf 800 Millionen DM, die zusätzlich zur Verfügungstehen werden.
Nimmt man noch den Länderfinanzierungsanteil dazu,dann ist man schon bei über 1,2 Milliarden DM. Das üb-rigens, meine Damen und Herren von der CDU, ent-spricht exakt der Summe, um die die BAföG-Finanzierung des Bundes von 1992 bis 1998 abgesenktworden ist.
Wenn wir schon bei solchen Vergleichszahlen sind:Innerhalb von zwölf Jahren, von 1982 bis 1994, ist derAnteil der Studis aus niedrigen Einkommensgruppenvon 23 Prozent auf 14 Prozent heruntergeplumpst.
Wir werden das ändern. Es soll unabhängig vom Eltern-einkommen – das war der eigentliche Diskussionspunktin der Koalition – jedem möglich sein, ein Studium auf-zunehmen. Dass der Student dabei ein gewisses persön-liches Risiko eingeht, indem er eine Mitverantwortungfür die Finanzierung seines Studiums übernimmt, indemer kreditfähig ist, halte ich für ein Moment der Selbstbe-stimmung, das ich jedem jungen Menschen nur wün-schen kann.
Denn junge Leute, die nicht in der Lage sind, über ihrLeben selbst zu entscheiden, haben wir leider genug. Ichbin sehr dankbar für alle aufmunternden und mutigenSchritte in dem Bereich. Ich denke, wir haben ein gutesStück präsentiert.Wir haben darauf hingewiesen, dass es eine Kommis-sion geben wird. Man wird noch einmal über alle Punkteeinzeln sprechen: über die Bildungsbank und über Bil-dungskredite. Wir werden über das lebenslange Lernensprechen müssen. Sie können sich heute entscheiden, obSie Abstand von dieser Diskussion nehmen wollen, obSie sich aus dieser ganzen Debatte verabschieden wollenoder ob Sie sich dafür entscheiden können an diesenVeränderungen – auch produktiv – teilzunehmen. Ichbin der Auffassung: Wir alle würden davon profitieren,wenn Sie sich beteiligen.Danke schön.
Jetzt er-
teile ich dem Kollegen Thomas Rachel von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rot-grünund Bildungsministerin Bulmahn sind wortbrüchig ge-worden.
Im Bundestagswahlkampf haben Sie eine zügige BA-föG-Reform versprochen. Im Koalitionsvertrag habenSPD und Grüne zugesagt, ein im Bundestag und imBundesrat zustimmungsfähiges Konzept bis Ende 1999vorzulegen. Beide Versprechen aus dem Wahlkampfund aus dem Koalitionsvertrag haben Sie gebrochen.
Zu Recht schreibt der „Kölner Stadt-Anzeiger“ – ichzitiere –:Es ist schon ein dreistes Stück, wie die BerlinerRegierung glaubt mit den Studenten umspringen zukönnen.Doch der Super-GAU für Bildungsministerin Bul-mahn kam erst in diesen Tagen. Erstmalig in seiner Re-gierungszeit als Bundeskanzler hat Gerhard Schrödervon seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht undsein Veto gegen das von der Bildungsministerin favori-sierte BAföG-Modell eingelegt. Mit einer Handbewe-gung hat er das Sockelmodell vom Tisch gefegt. FrauBulmahn, das Veto des Kanzlers gegen Ihre Bildungspo-litik ist eine schallende Ohrfeige für Sie als Ministerin.
Die Begründung Schröders, Kindergeld und Freibe-träge seien von den Eltern zur Finanzierung ihrer Häuserfest eingeplant und könnten deshalb nicht an die Studen-ten ausgezahlt werden, ist abenteuerlich. Schröder leistetdem Missbrauch mancher Eltern Vorschub, die sich ih-rer Pflichten entziehen und ihren Kindern den Unterhaltvorenthalten. Für eine solche Begründung sollte mansich schämen.
Antje Hermenau
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7505
Wir Christdemokraten wollen eine zügige BAföG-Reform, mit der der Anteil der BAföG-Berechtigten auf25 Prozent ansteigt.Schröder will 500 Millionen DM fürVerbesserungen beim BAföG im bestehenden Systemzur Verfügung stellen. Wir begrüßen diese Entschei-dung, im bestehenden BAföG-System zu bleiben, auchwenn der Umfang der nun angekündigten Gelder hinterden von Ihnen geweckten Erwartungen zurückbleibt.
Die CDU ist der eigentliche Gewinner des Streits,den Sie innerhalb Ihrer Regierung hatten.
Von der Opposition unter Druck gesetzt haben Sie, FrauBulmahn, heute Mittag vor der Presse den Kurswechselbeim BAföG angekündigt. Grundpfeiler der heute vonIhnen vorgestellten BAföG-Reformüberlegung ist es,das Kindergeld im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfungbeim BAföG nicht mehr auf das Einkommen anzurech-nen. Genau dies hat die Unionsfraktion im Novemberletzten Jahres mit ihrem Antrag vorgeschlagen.
Wir begrüßen es, dass die Bundesregierung auf den Kursder CDU/CSU eingeschwenkt ist. Durch eine solche Re-form werden wir die absurde Situation beseitigen, dassjede Kindergelderhöhung den Kreis der BAföG-Berechtigten verkleinert. Wir wollen, dass die monatliche BAföG-Förderleistung erhöht wird. Zehntausende Studentenhätten bei Umsetzung unserer Vorschläge zusätzlichAnspruch auf BAföG. Wir werden auch den Vorschlag,die Angleichung zwischen alten und neuen Bundeslän-dern vorzunehmen, unterstützen. Der angekündigte Bildungskredit soll den Studenten,die aufgrund des Elterneinkommens kein BAföG bezie-hen können, als verzinslicher Kredit eingeräumt werden.Das ist offensichtlich das Trostpflaster für die Grünen.Die BAföG-Politik der Grünen und ihr BAFF-Vorschlagsind gescheitert. Die Grünen sind als Tiger gestartet undals Bettvorleger gelandet.
Frau Bulmahn, wir sollten allerdings auch die Kinderaus armen Familien entlasten. Ich vermisse in IhremVorschlag eine soziale Komponente. Die CDU/CSU-Fraktion hat in ihrem Antrag vorgeschlagen, die Hemm-schwelle für Jugendliche aus sozial schwachen Familien,ein Studium aufzunehmen, zu senken. Deshalb soll dieDarlehenssumme, die BAföG-Studierende aus besonderssozial schwachen Familien nachher zurückzahlen müs-sen, gesenkt werden. Falsch wäre eine Reform, die diesozial Schwächsten aus dem Blick verlöre. In dieserFrage schlage ich Ihnen, Frau Bulmahn, eine große Koa-lition von CDU/CSU und SPD vor, damit auch ohne dieGrünen die BAföG-Förderung für die sozial Schwächs-ten verbessert wird.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kollegen, dieBundesregierung ist auf den BAföG-Kurs der Unioneingeschwenkt. Das zeigt, dass man mit guten Vorschlä-gen auch als Oppositionspartei konstruktive Politik fürdieses Land machen und auch durchsetzen kann. Daraufsind wir stolz. Herzlichen Dank.
Jetzt ge-
be ich das Wort dem Kollegen Peter Eckardt von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Ich stelle zunächsteinmal fest, dass das, was die Frau Ministerin und dierot-grüne Koalition organisiert haben, ein Kurswechselist.
Ich stelle weiter fest, dass ich schon ein bisschen dar-über erstaunt bin, wer sich jetzt als Sympathisant derStudierenden und ihrer sozialen Lage artikuliert.
Ich habe den Verdacht, dass es auf der rechten Seite desHauses immer noch eine ganze Reihe von Abgeordnetengibt, die meinen, dass zu viele und außerdem die Fal-schen studierten, nämlich nicht ihre eigenen Kinder.
Ich bin aber sicher, meine sehr verehrten Damen undHerren, dass meine Studentinnen und Studenten, denenes wirtschaftlich und sozial nicht sehr gut geht, zwar In-teresse am BAföG, aber kaum Interesse an den Kritik-punkten haben, die hier von der Opposition vorgetragenwerden. Ich habe mit Verwunderung gehört, dass dieCDU in den letzten Jahren der Motor für Fortschritte inder BAföG-Politik gewesen sei.
Wenn sich Studentinnen und Studenten überhaupt indiesen Tagen für Politik und nicht nur Skandale interes-sieren, dann stehen andere Themen auf deren Stunden-plan.
Thomas Rachel
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7506 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Wenn sich meine Studentinnen und Studenten abermöglicherweise doch für das Thema BAföG interessie-ren, dann allein aus dem Wunsch heraus, 29 Jahre nachdem In-Kraft-Treten des Bundesausbildungsförderungs-gesetzes endlich ihre sozialen Bedingungen verbessertzu sehen, um auch ihre Studienchancen zu verbessern.Das hängt ja offensichtlich zusammen.
Die soziale Lage unserer Studierenden ist seit 1971,als das BAföG das Honnefer Modell ablöste, von Jahrzu Jahr schlechter geworden. Der größte Kahlschlag –das sollte auch nicht vergessen werden – erfolgte zu An-fang der CDU-Regierung in den 80er-Jahren. 1989 hates – das muss man Herrn Möllemann zugestehen – einenkleinen Rückzieher im Sozialabbau gegeben. Im We-sentlichen aber hat sich die Entwicklung fortgesetzt.Die Zahl derer, die ein Studium beginnen, ist zurück-gegangen. Das Durchschnittsalter der Studierenden undihr Hochschuleintrittsalter sind gestiegen. Das sind keineguten Startchancen für Jugendliche.Nach einer Untersuchung ist die Erwerbstätigkeit derStudierenden während der Vorlesungszeit auf eineDurchschnittsdauer von zwei Tagen in der Woche ange-stiegen. Deshalb werden zum Beispiel Studiengänge, beidenen man wenig nebenher arbeiten kann, nicht mehrvon jungen Frauen ausgewählt. Erwerbsarbeit ist nach-weisbar nicht, wie es der Stammtisch oft formuliert, einMittel, um Luxus zu finanzieren, sondern erfolgt auszwingenden Gründen des Lebensunterhalts.
Die Haupteinnahmequelle der deutschen Studierenden –das sollten alle bedenken, die das BAföG kritisieren – istin den letzten Jahrzehnten die Erwerbsarbeit geworden.Weder BAföG noch Stipendien, weder Elternbeiträgenoch ererbtes Vermögen spielen eine wesentliche Rolle.Die soziale Struktur der Studierenden hat im Jahre2000 wieder die soziale Struktur der 60er-Jahre, in de-nen ich studiert habe, erreicht. In Fächern wie Jura undMedizin – das ärgert mich besonders – kann man fastschon von einer akademischen Vererbung sprechen. Ei-ne erfreuliche soziale Ausnahme ist dabei die quantitati-ve Bildungsbeteiligung von jungen Frauen an den Hoch-schulen.Für die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklungunseres Landes ist es notwendig, dass mehr Studierendeals heute bessere finanzielle Bedingungen an den Hoch-schulen vorfinden. Unser Land kann es sich nicht leis-ten, auf Begabungspotenziale zu verzichten, die aus Fi-nanzgründen ein Studium gar nicht erst beginnen oderein begonnenes Studium – das kommt leider sehr häufigvor – vor dem Examen abbrechen.Auch neue Organisationsformen und wissenschaftli-che Innovationen innerhalb des Studiums stoßen beiStudierenden nur dann auf Akzeptanz – ich denke hieran das Studium im Ausland oder an die Absolvierunggestufter Studiengänge –, wenn sie dazu die notwendi-gen finanziellen Möglichkeiten haben.Die finanzielle Sicherung der Studierenden kostetGeld, für viele Zeitgenossen zu viel Geld; ich weiß das.Aber auf eine zusätzliche Finanzierung kann man nichtverzichten. Dies zeigt auch der Vorschlag von EdelgardBulmahn.
Die neue Bundesregierung hat bewiesen, dass sie demZiel der Chancengleichheit nach 26 Jahren wieder nahekommen will. Wenn es irgendwo noch Vertrauen in diePolitik gibt, dann das von Studierenden, dass die sozial-demokratisch-grüne Regierung alles unternehmen wird,um die soziale Situation der Studierenden während die-ser Legislaturperiode zu verbessern. Dabei ist nichtwichtig, um welches System und welches Modell es sichhandelt. Wichtig ist, dass am Ende strukturell heraus-kommt, dass mehr Studierende mehr BAföG bekom-men.
Ich stelle fest, dass es um diese Frage, bei der es umviel Geld geht, natürlich Konflikte gibt, sicherlich auchzwischen dem Kanzler, dem Finanzminister und derBildungsministerin. Wenn Sie aber diesen Konflikt mitden Konflikten vergleichen, die es in der Vergangenheitbei anderen Regierungen gegeben hat, dann stellen Siefest, dass es ein mildes Lüftchen gewesen ist. Von dem,was nun aus diesem Konflikt herausgekommen ist,nehme ich an, dass ein Großteil der Studierenden damitzufrieden sein kann.Danke schön.
Als
nächster Redner hat der Kollege Norbert Hauser von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsi-dent! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Im E-thikunterricht von Gerhard Schröder durften wir zwarlernen, dass eine Koalitionsvereinbarung keine Bibel ist.Aber man wird sich ja wohl noch daran erinnern dürfen,was in ihr steht:Für eine grundlegende Reform und Verbesserungder Ausbildungsförderung werden wir ein im Bun-destag und Bundesrat zustimmungsfähiges Konzeptbis Ende 1999 vorlegen. Dazu werden wir unteranderem alle ausbildungsbezogenen staatlichenLeistungen zusammenfassen.Diese hehren Sätze stellen Ansprüche dar, vor denen Siekapituliert haben.
Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn ist mitihrem Vorschlag zur Grundförderung für jeden Studen-Dr. Peter Eckardt
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7507
ten endgültig gescheitert. Die „einfühlsame“ Art unseresBundeskanzlers hat ihre ministeriellen Träume platzenlassen.
Frau Bulmahn, Sie sind keine Erfolgsministerin, wieHerr Rossmann meint es darstellen zu müssen. Nein, Siesind neben diesem Bundeskanzler zu einer Ankündi-gungsministerin geschrumpft und von ihm desavouiertworden.
Frau Ministerin, wie herablassend haben Sie sich hierdazu geäußert, als von den Kolleginnen und Kollegenaus den Fraktionen angezweifelt wurde, dass Sie nochbis zum 31. Dezember des letzten Jahres ein Konzept,die Eckpunkte, für eine BAföG-Reform vorlegen wür-den. Herablassend haben Sie uns mitgeteilt, am 31. De-zember würden Sie gegebenenfalls noch um 23.45 Uhrzu einer Pressekonferenz einladen. Der Jahreswechsel istgekommen; auf Ihre Einladung warten wir noch heute.
Es war nicht anders zu erwarten, dass das Presseechovernichtend ist. In der „Süddeutschen Zeitung“ war ges-tern zu lesen:Der Kanzler hat Edelgard Bulmahn abgestraft, alssei er Niedersachsens Ministerpräsident und sieseine Fahrradbeauftragte.
Herr Rossmann, es war nicht nur die böse Presse. AuchHerr Berninger hat es gerade dargestellt: im For-schungsbereich zwar gut gearbeitet, aber in der Bil-dungspolitik zu schwach.
Man konnte fast schon den Eindruck haben, FrauBulmahn wäre zum Abschuss freigegeben.
Herr Berninger, es war faszinierend, wie Sie eben hierdie Kurve gekriegt haben: Nachdem Sie erst festgestellthaben, dass ihre Politik gescheitert ist, haben Sie späterdargestellt, wie Sie sich auf den kleinsten gemeinsamenNenner geeinigt haben.
Nichts haben Sie erreicht. Sie haben Ankündigungengemacht und haben hier mitgeteilt, dass Sie einigeKommissionen gründen werden, die es dann richten sol-len.Auch Sie, Frau Hermenau, konnten uns nicht erklä-ren, wie die 500 Millionen DM finanziert werden. Manwerde es bei den Haushaltsberatungen sehen; man müs-se mal schauen, wo etwas gestrichen wird
und wo Schwerpunkte gesetzt werden. So haben Sie sichgerade eingelassen. Wir werden also sehen, ob Sie über-haupt in der Lage sind, die jetzigen Ankündigungen undVersprechungen einzuhalten.Jetzt, wo der Druck aus der Opposition, aus den eige-nen Reihen und aus den Medien so groß geworden ist,
haben Sie versucht, zu retten, was zu retten ist. Nunkönnte man ja sagen: Was soll es denn? Drei Wochen zuspät zum Unterricht erschienen. Sie haben aber eigentlich etwas ganz anderes vorge-habt. Sie wollten rot-grüne Lehrbücher mitbringen undmussten dann heute Zuflucht beim Eckpunktepapier derCDU/CSU-Fraktion suchen.
: Das hätten
Ein Eckpunktepapier, das Sie noch vor wenigen Wochenbelächelt haben: Ziel 25 Prozent Förderquote. Gut so. –Eckpunktepapier der CDU/CSU. 500 Millionen DM alsFörderung angekündigt. Gut so – Eckpunktepapier derCDU/CSU. Nichtanrechnung des Kindergeldes bei derBedürftigkeitsprüfung. Gut so – Eckpunktepapier derCDU/CSU.
– Unseren eigenen Anträgen stimmen wir meistens zu,Herr Kollege.
Die zusätzliche Förderung des Auslandsstudiums ist zubegrüßen, keine Frage.
Nicht gefolgt ist die Koalition aber unserer Forderungnach einer stärkeren Unterstützung für schnelles und er-folgreiches Studieren. Ebenso fehlt in Ihrem Vorschlag,dass die Fördermittel, die über 800 DM hinausgehen, alsZuschuss gewährt werden. Die bulmahnsche Pirouette im Berlin Winter gab esdann mit der Äußerung der Absicht, Studenten, die kei-nen Anspruch auf BAföG-Förderung haben, aber trotz-dem zu wenig Geld zum Studieren haben, nunmehr einverzinsliches Darlehen einzuräumen. Vor ein paar Ta-gen, Frau Kollegin, wollten Sie diesen Studenten nocheine Grundförderung von 400 DM auszahlen. Dann hatSie der Bundeskanzler zurückgepfiffen und damit nocheinmal deutlich gemacht, dass Ihre Politik gescheitertist.Der Kanzler und seiner Ministerin hätten vielleichteinmal bei Lessing nachlesen sollen: Beide schaden sichselbst: der, der zu viel verspricht, und der, der zu vielNorbert Hauser
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7508 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
erwartet. Vielleicht auch bei Hagedorn: Versprechenmacht Schuld.Meine Damen und Herren aus den Koalitionsfraktio-nen, auch Sie Frau Hermenau, haben Sie doch einfachden Mut, lassen Sie uns zusammen die Dinge, die in un-serem Eckpunktepapier stehen, noch umsetzen und wirwerden eine Menge für die Studierenden in der Bundes-republik erreichen. Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Walter Hoff-
mann von der SPD-Fraktion.
Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Manches Argument der Inte-ressenvertreter der Studierenden wirkt in der Tat etwaspharisäerhaft
und paradox, wenn man sich die Mühe macht, ein wenigin die Geschichte dieses Gesetzes hineinzuschauen. Die-se Geschichte ist jetzt fast 30 Jahre alt.
– Warten Sie doch erst einmal ab. Im Jahre 1971 war esdamals die sozialdemokratisch geführte Bundesregie-rung, die mithilfe einer damals zumindest noch regie-rungsfähigen F.D.P. nach jahrelangem hinhaltenden Wi-derstand der CDU die bundeseinheitliche Ausbildungs-förderung begründete.
Das Ziel damals und heute war, dass die Förderung derStudierenden nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängigsein darf, sondern von Neigung, Eignung und Leistung.30 Jahre sind vorbei und wir leben in der Tat nicht vonder Geschichte. Wir müssen uns aber die Frage stellen:Was ist eigentlich aus diesem Ausbildungsgesetz ge-worden?Nun haben mehrere meiner Vorrednerinnen und Vor-redner ja gesagt, welche Entwicklungen stattgefundenhaben. Ich komme aus Darmstadt, einer Stadt in Südhes-sen mit drei Hochschulen. Wir haben 24 600 Studieren-de.
– Das habe ich auch nicht vor. – Aber ich will Ihnen dieEntwicklung am Beispiel dieser Stadt dokumentieren.Im Jahre 1982 waren es noch 42 Prozent der Einge-schriebenen, also der Berechtigten, die Leistungen nachdem BAföG erhielten. Heute sind es nur noch 10 Pro-zent der 24 500 Studierenden. Heute ist es selbstver-ständlich – wir wissen das alle – dass eine Studentin o-der ein Student das Studium über einen oder mehrereNebenjobs finanziert, und die Studienzeiten haben sichentsprechend verlängert. Bundesweit gibt es die gleicheEntwicklung. Seit 1982 – nur noch einmal zur Erinne-rung –, dem Jahr der geistig-moralischen Wende, gehtdie Zahl der nach dem Bundesausbildungsförderungsge-setz Geförderten kontinuierlich zurück. 1982 waren es41,8 Prozent, die gefördert wurden, 1997 sind es nurnoch 17 Prozent. Im selben Zeitraum sind die BAföG-Ausgaben vonBund und Ländern trotz gestiegener Studierendenzahlenreal gesunken. Die Kürzungen waren besonders stark imZeitraum von 1992 bis 1997. Gegenüber 1992 ist vonIhnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU,der Haushaltsansatz des Bundes derart stark gekürztworden, dass 1997 – ich habe das noch einmal nachge-rechnet und nachgelesen – nur noch 57 Prozent der Mit-tel des Jahres von 1992 zur Verfügung standen.
1992 waren es 2,7 Milliarden DM, 1993 2,5 Milliarden,1994 2,27 Milliarden, 1995 2 Milliarden, 1996 nur noch1,72 Milliarden, 1997 1,54 Milliarden DM. Die Mitteldes Bundes sanken also in sechs Jahren sage und schrei-be um fast die Hälfte bei nahezu gleich bleibender Stu-dierendenzahl.
Das ist eine schlimme Entwicklung mit leider hartenFakten.Uns allen, so hoffe ich zumindest, schmerzt es natür-lich ganz besonders, dass der Anteil der Studierendenaus einkommensschwachen Familien massiv zurückge-gangen ist. Ich sage es noch einmal: 1982 waren es 83Prozent, heute nur noch 14 Prozent.Ihr Umgang mit dem Bundesausbildungsförderungs-gesetz war in diesen 16 Jahren, von wenigen Ausnah-men abgesehen, eine Geschichte ständiger direkter undindirekter Kürzungen der Leistungen für die Studierer-enden.
Das kann man hier an vielen Fällen darlegen. 1983 finges mit der Umstellung auf das Volldarlehen an. Sie ha-ben 1990 diese Entwicklung nur stufenweise korrigiert,als endlich 50 Prozent als Zuschuss ausgezahlt wurden.In all diesen Jahren haben Sie die Freibeträge undBedarfssätze so gering erhöht, dass die Leistung pro Ge-förderten nicht einmal der Inflation angepasst wurde,sondern sogar real gesunken ist. In dem Zeitablauf vonNorbert Hauser
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1992 bis 1997 haben Sie weiter gekürzt. Sie haben durchdie Anrechnung von Auslandsaufenthalten auf die För-derungsdauer und die Abschaffung der Honorierung derGremientätigkeit indirekt gekürzt.
Das Ganze wurde fortgesetzt mit der 18. BAföG-Novelle aus dem Jahre 1996,
und das unter dem so genannten Zukunftsminister Jür-gen Rüttgers, der in diesem Bereich Gott sei Dank Ver-gangenheit ist.
Wir haben im Bundestagswahlkampf deutlich ge-macht, dass wir uns für eine Stärkung der Mittel im Bil-dungsbereich im Interesse der Zukunfts- und Wettbe-werbsfähigkeit dieses Landes einsetzen, um eine Ver-besserung der Qualifikation der Arbeitskräfte zu errei-chen. Wir haben deutlich gemacht, dass junge Menschenwieder nach Neigung, Eignung und Leistung gefördertwerden sollen. Konsequenterweise haben wir unverzüg-lich nach der Regierungsübernahme die entsprechendenSchritte für die 20. BAföG-Novelle eingeleitet, um dieübelsten Auswirkungen zu korrigieren. Die Zahl der Ge-förderten wurde erhöht. Wir haben wieder finanzielleAnreize für Auslandsstudien und vieles andere mehr ge-schaffen.
Herr
Kollege Hoffmann, kommen Sie bitte zum Schluss.
Mit den Eck-
punkten, die Frau Bulmahn heute vorgelegt hat, führen
wir diesen wichtigen Schritt weiter. Ich freue mich, dass
neben der 1 Milliarde DM in den Eckpunkten auch ver-
ankert wurden, dass den Studierenden in Ost und West
endlich gleiche Leistungen zukommen werden.
Ich freue mich, dass in der gesamten EU in Zukunft
deutsche Studenten gleichmäßig gefördert werden sol-
len.
Herr
Kollege Hoffmann, Sie haben Ihre Zeit weit überschrit-
ten. Ich bitte, zum Schluss zu kommen.
Ich bitte Sie,
die Eckpunkte in Ruhe, Gelassenheit und handwerkli-
cher Solidarität in ein Gesetz umzusetzen.
Vielen Dank.
Das
Wort hat jetzt die Kollegin Ilse Aigner von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr ge-ehrter Herr Hoffmann, es geht hier nicht darum, was wirin den letzten Jahren, wie Sie meinen, unterlassen haben,sondern es geht darum, was Sie im Wahlkampf verspro-chen haben und was Sie nicht eingelöst haben. Das istdas Entscheidende.
Damit klar ist, was Sie versprochen haben, will ich esIhnen noch einmal zur Verdeutlichung sagen. Ich habeeine mündliche Anfrage gestellt: Wann beabsichtigt die Bundesregierung, die ge-plante BAföG-Strukturreform zu verwirklichen ...,insbesondere angesichts der Tatsache, dass549 Millionen DM durch die Umbuchung der BA-föG-Förderbeträge im Bundeshaushalt frei gewor-den sind?Ihre Antwort vom 10. November 1999 – das ist noch gar nicht so lange her – von Herrn Staatssekretär Caten-husen lautete: Die Bundesregierung wird –– ich betone „wird“, nicht will, nicht könnte –wie sie bereits mehrfach bekräftigt hat – ihre Vor-schläge zu Eckpunkten einer Ausbildungsförde-rungsreform Ende des Jahres 1999 vorstellen.
Damit nicht gesagt wird, dass das, was Sie heute vor-gelegt haben, eine Reform, wie Sie sie sich vorgestellthaben, ist, will ich aus dem Protokoll vom 2. Dezember1999 zitieren. Dort sagte die Kollegin Wimmer ausKarlsruhe von der SPD – Ihnen wahrscheinlich bekannt –: Wir schaffen die Trendwende zu mehr Chancen-gleichheit und Gerechtigkeit. Dabei gehen wir alsSPD-Fraktion vom Drei-Körbe-Modell aus …Ich weiß nicht, wo das Drei-Körbe-Modell ist. Ich sehees in diesem Vorschlag nicht. Herr Kollege Berninger,glaube ich, sieht es auch nicht.
Er hat auch zugegeben, dass er mit dem, was heute vor-gelegt wurde, nicht einverstanden ist. Frau Ministerin, ich verstehe, dass Sie sich in dieSchoßwärme der SPD-Fraktion zurückziehen, weil esIhnen persönlich – das ist nicht ironisch gemeint – wahr-scheinlich wirklich nicht gut geht: denn es war für Sieeine anständige Watschen, wie man in Bayern sagt.
Aber einen Vorwurf kann ich Ihnen als Parlamentarierinnicht ersparen. Wir haben mehrfach im Ausschuss dis-Walter Hoffmann
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7510 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
kutiert, was auch richtig ist. Wir haben im Parlament am2. Dezember 1999 diskutiert. Dass Sie, bevor Sie dasParlament darüber informieren, was Sie vorhaben, in diePressekonferenz gehen, ist allerdings unparlamentarisch.Das muss ich Ihnen wirklich vorwerfen.
– Das ist nur festzustellen. Das muss man hier aucheinmal deutlich sagen dürfen.
Außerdem möchte ich noch darauf hinweisen – essind schon viele Punkte angesprochen worden, aber die-sen habe ich zumindest noch nicht gehört –, dass einesschon klar werden muss: Sie wollten dieses Vorhabenmöglichst schnell, möglichst rasch umsetzen. Aber das,was Sie jetzt in Fragmenten umsetzen – was übrigensgrößtenteils wir vorgeschlagen haben –, tritt erst im Jahr2001 in Kraft,
also zweieinhalb Jahre, nachdem Sie die Regierung ü-bernommen haben. Das muss man den Studenten auchdeutlich sagen.
Sie haben groß etwas versprochen und nichts oder nursehr wenig eingehalten.
Noch ein Punkt, der zwar nicht genau an diese Stellepasst, aber auch erwähnt werden muss, weil er bei derDebatte um die Ökosteuer immer zu kurz gekommen ist:Die Studenten haben Sie bei der Ökosteuer voll er-wischt. Auch hier kommt die Entlastung erst Monate, jaJahre später. Dies ist ein Punkt, den wir auch kritisieren.
Ich könnte Ihnen jetzt noch sagen, wo jene Punkte,die Sie umgesetzt haben, in unserem Antrag stehen, denSie meines Wissens abgelehnt haben. Zum BeispielPunkt 1 in Drucksache 14/2031: Bei einer Bedürftigkeitsprüfung im Rahmen desBAföG wird zukünftig auf eine Anrechnung desKindergeldes und gleichartiger Vergünstigungenverzichtet ... So steht es im Antrag der CDU/CSU-Fraktion. Ich hof-fe, dass Sie es umsetzen werden, und bedanke mich imVorhinein dafür.In Punkt 3 haben wir eine Vereinfachung vorgeschla-gen. Ich hoffe, dass Sie auch hier den Ansatz überneh-men werden, wie wir ihn vorgehabt haben.Frau Ministerin, die Angelegenheit tut mir für Siepersönlich wirklich Leid, weil das sehr schwer für Siesein muss. Ich meine das jetzt wirklich nicht ironisch.Aber wenn man im Wahlkampf den Mund zu vollnimmt, muss man natürlich damit rechnen, dass mansich irgendwann daran verschluckt.Danke schön.
Als letz-
tem Redner in der Aktuellen Stunde gebe ich dem Kol-
legen Stephan Hilsberg von der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Eckpunkte,die wir Ihnen hier vorlegen und die wir gestern Nacht
und heute Morgen gemeinsam als Koalition erarbeitethaben, wären nicht möglich gewesen ohne die großarti-ge Vorbereitung und auch die Durchsetzungsfähig-keit unseres Hauses mit unserer Ministerin EdelgardBulmahn an der Spitze. Dafür gebührt ihr großer Dank.
Gemeinsam mit den innovativen Elementen, die die-ser systemimmanenten Reform des BaföGs zugrundeliegen,
hat unser Reformwerk eine Substanz, die den Anträgender Opposition zusammengerechnet überlegen ist.
Wir haben ein Angebot an eine Gruppe von Studen-ten gemacht, die bei Ihnen, obwohl die Probleme be-kannt sind, bis jetzt überhaupt noch nicht aufgetauchtist.
Es ist doch eine absurde Situation in diesem Land, dasses Studenten gibt, die bereit wären, für einen bestimm-ten Abschnitt ihres Studiums einen Kredit aufzunehmen,aber keine Bank in diesem so reichen Land finden, dieihnen dafür einen Kredit gewährt, obwohl die Investitio-nen in Bildung in aller Munde sind und obwohl jedersagt, wie wichtig das ist und welch große BedeutungIlse Aigner
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dies für das anschließende Erwerbsbleben des Hoch-schulabsolventen hat.Genau das ist doch der Punkt, weshalb wir immerwieder an die Jugendlichen appellieren, so viel wie mög-lich aus sich zu machen, das heißt so viel Bildung wiemöglich für sich zu bekommen. Wir schaffen hier einAngebot für eine zusätzliche große Gruppe von Studen-ten, die mit 1 Million nicht untertrieben ist, die es vorherso noch nicht gegeben hat. Das betrachte ich in der Tatals einen Einstieg in eine neue Form der Finanzierung,die Bildungskreditfinanzierung, über den wir sehr frohsein können.
Meine Damen und Herren, wir können uns diese Ge-sellschaft nicht backen.
Wir können sie auch nicht mit Werten betrachten, die 30bis 40 Jahre alt sind, denn sie verändert sich.
Wir stehen vor neuen großen Herausforderungen und diehaben Sie zur Kenntnis zu nehmen. Sie müssen sie zurKenntnis nehmen, wenn Sie zeitadäquate und aktuelleAntworten auf die neue Herausforderung geben wollen.Ich nenne zwei Beispiele dafür: Es gibt neue Verhält-nisse in den Beziehungen, in den Familienverhältnissen.Es ist überhaupt kein Geheimnis, dass bestimmte Fami-lien immer weiter auseinander driften, dass es gar nichtmehr selten ist, dass Kinder in zweiter oder dritter Eheaufwachsen und dass die Kontakte zu den leiblichen El-tern abnehmen, mit der entsprechenden Folge, dass siesich für den Unterhalt nicht mehr so verantwortlich füh-len, wie das in Ihrem alten Familienbild immer noch derFall war.Oder was ist mit den unterbrochenen Erwerbsbiogra-fien, zu denen bereits jetzt eine lose Schätzung sagt, dass3 Millionen Menschen davon betroffen sind? Es kommtzum Beispiel vor, dass Erwerbsabschnitte zwei, drei Jah-re ausmachen, dann gehen die Menschen in die Weiter-bildung, um etwas Neues zu erlernen, und dann gehensie wieder in die Selbstständigkeit. Für diese Leutebrauchen wir doch eine Antwort. Diese Antwort müssenSie geben. Sie müssen das doch in Ihren Projekten miterarbeiten. Aber gerade bei der CDU/CSU kann ich dasnicht finden.Wir wollen an dieser Stelle voranschreiten. Deswe-gen werden wir eine Kommission einrichten.
– Sie lassen hier nur billig und moralisch anmutende At-titüden ab, Herr Hauser, mit denen Sie niemandem ge-recht werden und mit denen Sie vor allen Dingen nichtkaschieren können, dass Sie Eckpunkte vorgelegt be-kommen haben, über die Sie eigentlich jubeln müssten,aber stattdessen kommt von Ihnen nur billige Polemik.Aber ich will auf das zurückkommen, worauf eswirklich ankommt. Wir haben Probleme im Steuerrechtund im Unterhaltsrecht. Wir haben sie in der Familien-förderung und der gegenwärtigen Form der Bildungsfi-nanzierung. Darüber muss man reden. Darüber wirdauch weiter zu reden sein. Diese Punkte stehen auf derTagesordnung. Wir wollen zukunftsfähige Antwortengeben. Wir stellen uns dieser Herausforderung. Ich kannSie nur alle einladen, meine Damen und Herren von derOpposition: Stellen Sie sich wie wir dieser Herausforde-rung, um adäquate Antworten geben zu können!
Wir liefern frisches Geld. Neben der Innovationsmil-liarde sind das 500 Millionen DM zusätzlich, die wir fürden Bildungs- und Forschungshaushalt zur Verfügungstellen.
Nun ein Appell. Sie sind ja noch immer die größteOppositionspartei, meine Damen und Herren von derCDU/CSU, obwohl Sie sich große Mühe geben, immerkleiner zu werden. Da kann man sich gelegentlich Sor-gen um das demokratische System machen. Aber da-rüber will ich gar nicht reden. Ich denke schon, dass Sie,auch gegenwärtig, eine große Verantwortung für dieVerbesserung der Finanzierung des studentischen Un-terhalts haben. Gerade deshalb, weil wir in vielen Punk-ten gar nicht so weit voneinander entfernt sind – obwohlich die Urheberschaft Ihres Gesetzesentwurfs, den Siehier eingereicht haben, aus wohl überlegten Gründenbezweifeln möchte –, fordere ich Sie auf: Werden Siesich Ihrer Verantwortung bewusst und kämpfen Sie beiden von Ihnen geführten Ländern dafür, dass die BA-föG-Reform, die wir jetzt in Angriff nehmen, auch imBundesrat durchgesetzt werden kann – im Interesse derStudenten, im Interesse des Rechts auf Bildung, derChancengerechtigkeit und der Wissens- und Informati-onsgesellschaft, die für uns alle und unsere Gesellschaftdie Zukunft ist!Vielen Dank.
Die Ak-tuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b sowieZusatzpunkt 5 auf:Stephan Hilsberg
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5 a) Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
Hans Martin Bury, Ernst Schwanhold, GerdAndres, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPD sowie der Abgeordneten WernerSchulz , Margareta Wolf (Frankfurt)un der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENInitiative gegen die Auswirkungen der asi-atischen Finanzkrise und des internationa-len Subventionswettlaufs auf die deutscheund europäische Werftindustrie– Drucksache 14/540, 14/1233 –Berichterstattung: Abgeordenete Margareta Wolf
5 b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zum Rahmenabkom-men vom 28. Oktober 1996 über den Han-del und die Zusammenarbeit zwischen derEuropäischen Gemeinschaft und ihrenMitgliedsstaaten einerseits und der Repu-blik Korea andererseits – Drucksache 14/1200 – Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Wirschaft und Technologie
– Drucksache 14/2064 – Berichterstattung: Abgeordneter Friedhelm Ost ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts des Ausschusses für Wirtschaft undTechnologie zu dem Antrag
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Initiative gegen die Auswirkungen der asi-atischen Finanzkrise und des internationa-len Subventionswettlaufs auf die deutscheund europäische Werftindustrie – Drucksachen 14/400, 14/258 – Berichterstattung: Margareta WolfNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hatdie Kollegin Margrit Wetzel von der SPD-Fraktion dasWort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte ist trotzdes sehr ernsten Hintergrundes, nämlich die durch Koreaausgelöste Krise im Weltschiffbau, doch auch ein ge-wisser Grund zur Zuversicht für uns, und zwar aufgrundder umfassenden Einigkeit, die bei diesem Thema be-steht: Einigkeit zwischen allen europäischen Nationen,zwischen der Werftindustrie und den Gewerkschaften,zwischen den Fraktionen des Deutschen Bundestagessowie zwischen den Fraktionen und der Bundes-regierung. Wir haben alle gemeinsam die feste Absicht,unseren Werften zu helfen, die Krise nicht nur kurzfris-tig zu bewältigen, sondern einer tatsächlichen Lösungzuzuführen.Als Erstes möchte ich an dieser Stelle einen ganz be-sonderen Dank an unsere Haushälter richten, die für denHaushalt 2000 trotz des eisernen Sparzwanges Produk-tionsbeihilfen in Höhe von 240 Millionen DM bereitge-stellt haben.
Damit werden die Werften in diesem Jahr in die Lageversetzt, die Aufträge für die nächsten drei Produktions-jahre zu akquirieren. Der prompt einsetzende Auf-tragseingang – zumindest bei den größeren Werften –bestätigt die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Stand-ortes. Diese nach der EU-Vereinbarung zum letzten Malmöglichen Produktionsbeihilfen waren aber auch des-halb notwendig, damit die deutschen Werften imeuropäischen Wettbewerb bestehen können, und zwarinsbesondere gegenüber den spanischen und denfranzösischen Mitbewerbern, die aufgrund derstaatlichen Regie entsprechend mehr Förderungerhalten, aber auch gegenüber den deutlich höherenBeihilfen der anderen europäischen Schiffbaunationen. Korea hält inzwischen 70 Prozent der Marktanteileam Containerschiffbau. Die koreanischen Schiffbauka-pazitäten sind unter geradezu abenteuerlichen finanziel-len Bedingungen auf- und ausgebaut worden. Korea hatden Schiffbau inzwischen zu einer strategischen Indus-trie erklärt und beabsichtigt für das Jahr 2000, die Auf-tragsakquisitionen um weitere 30 Prozent zu erhöhen. Wir sind deshalb dankbar, dass die Bundesregierungparallel zu unseren Anträgen in sozusagen vorauseilen-der Aktivität tätig geworden ist. Das zeigt, wie einig wirin dieser Sache sind. Initiiert unter dem damaligen Vor-sitz des Bundeswirtschaftsministers Müller im Rahmender deutschen EU-Ratspräsidentschaft hat – die EU-Kommission koreanische Aufträge analysiert und ist inacht von neun Fällen zu dem Ergebnis gekommen, dassKorea eben doch Dumpingpreise verlangt hat, die zwi-schen 15 und 40 Prozent unter den eigenen Selbstkostenlagen. Inzwischen sind bei weiteren Untersuchungen49 Fälle mit ähnlichen Ergebnissen bekannt geworden.Es ist völlig klar: Europa kann sich dieses Dumpingnicht gefallen lassen. Die europäische Werftindustrieund die Gewerkschaften können – so wie natürlich auchbei uns – die Politik aller europäischen Schiffbaunatio-nen an ihrer Seite wissen.
Die Bundesregierung hat in bilateralen Gesprächenmit hochrangigen Vertretern Koreas Fairness und Trans-parenz im Schiffbau angemahnt. Korea braucht uns alsVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7513
Handelspartner. Als Mitgeberland des Milliardenkredi-tes des IWF sind wir nicht bereit, zuzusehen, wie korea-nische Dumpingpreise und Überkapazitäten die deut-schen und europäischen Werften in eine echte Existenz-krise führen.
Wir verlangen deshalb eine exakte Überprüfung derKreditbeihilfen und die Einhaltung der Kreditauflagendes IWF. Wenn man bedenkt, dass die Halla-Werft –dies soll nur ein Beispiel sein – ausschließlich Verlust-aufträge abgewickelt hat und dass diese Verlustaufträgevon der staatlichen Korea-Export-Import-Bank finan-ziell abgesichert werden, dann können wir das in dieserForm nicht hinnehmen. Dabei ist völlig unmaßgeblich,ob der IWF-Kredit direkt in diese Subventionierung, indiese Aufträge geflossen ist oder ob er der KEXIM nurindirekt die entsprechenden Handlungsspielräume gege-ben hat. Ich denke, das koreanische Finanzgebaren istkatastrophal. Dem werden wir entschieden entgegentre-ten. Die EU-Kommission, die Bundesregierung und auchVertreter der SPD-Fraktion haben in der Zwischenzeit indiesem Sinne ganz eindringliche Gespräche mit Vertre-tern sowohl der Weltbank als auch des IWF geführt. – Ich denke, die Regierung wird darüber noch berich-ten. – An dieser Stelle richte ich an die Bundesregierungden herzlichen Dank, dass sie so schnell und so ein-deutig im Sinne unserer Werften gehandelt hat.
Der Kredit des Internationalen Währungsfondsdarf nicht zur Subventionierung der koreanischen Werf-ten verwandt werden. Korea drohen – im Übrigen veran-lasst durch Japan; ich denke, es ist gut, das zu wissen –eine Klage vor der WTO, ein Antidumpingverfahren o-der gegebenenfalls Strafzölle in anderen Bereichen.Denn Schiffe werden ja bekanntlich nicht importiert.Hier können wir auf direktem Wege leider nichts tun.Aber wichtig ist, dass Korea, wenn es Kredithilfen desWährungsfonds in Anspruch nimmt, ein entsprechendunseren Maßstäben betriebliches Rechnungswesen ein-führt. Das können wir verlangen. Das muss auch ge-schehen.
Wir beschließen heute auch das EU-Handelsabkommen mit Korea. Wenn wir in diesem Pa-pier Fairness und Transparenz im Hinblick auf denWettbewerb fordern, dann darf das nicht nur auf demPapier stehen. Diese Forderung muss vielmehr der har-ten Realität der Konkurrenz auf dem Weltschiff-baumarkt standhalten können. Das wird den koreani-schen Gesprächspartnern von der Bundesregierung undder EU-Kommission unmissverständlich deutlich ge-macht. Auf europäischer Ebene ist bereits der BegriffHandelskrieg gefallen. Das ist ein hartes Wort. Aber ichdenke, Korea muss ernst nehmen, dass wir hinter unse-ren Werften stehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Fairness auf demWeltschiffbaumarkt ist die beste Unterstützung, die esfür unsere deutschen Werften geben kann. Sie wollenund brauchen in Wirklichkeit keine Subventionierungund auch keine staatlichen Gelder; es muss uns nur ge-lingen, faire Rahmenbedingungen auf dem Weltmarktherzustellen. Das ist unsere politische Aufgabe. Daranarbeitet die Bundesregierung mit Nachdruck, mit allerKraft und mit der Unterstützung der Fraktionen desDeutschen Bundestages.
Wir müssen versuchen – das ist die nächste Aufgabe,die sehr viel schwerer zu bewältigen ist –, in den dreiJahren, die wir an Spielraum geben konnten, möglichstzu erreichen, dass es ein neues weltweites Schiffbau-abkommen gibt, weil wir festgestellt haben, dass das al-te OECD-Abkommen, das sowieso nicht ratifiziert wird,diverse Mängel aufweist. Das Abkommen muss Anti-Dumping-Vorschriften und Sanktionen gegen Verstößeenthalten und die gesamten Weltschiffbaukapazitätenumfassen. Zu erreichen, dass die europäischen Schiff-baunationen, aber auch Korea, Japan, China, Polen unddie USA dem zustimmen, wird ein hartes Stück Arbeitsein. Aber nur so können unsere Werften sicher im in-ternationalen Wettbewerb bestehen.Es sind unsere Werften, die die technischen Stan-dards setzen. Sie haben in den letzten Jahren einen e-normen Personalabbau verkraften müssen, haben mo-dernisiert, wo immer sie konnten. Die Werften sind re-strukturiert worden. Die Fertigungstiefe der Werftenliegt heute nur noch bei 25 bis 30 Prozent. Hochautomatisierte, computergestützte Fertigung mitGenauigkeiten im Mikrometerbereich, Ultraschall undLasertechnik haben in der Genaufertigung, in derFügetechnik im Stahlbau Einzug gehalten. Man musssich das wirklich einmal ansehen; es ist faszinierend.Der größte Teil der Arbeitsplätze bei den Werften liegtheute nicht mehr in der Fertigung, – wie man es sichlandläufig vorstellt, – sondern in der Planung,Konstruktion und Entwicklung. Unsere Stärken liegen inder Systemtechnologie, in der Modulbauweise, in derhoch entwickelten Technik auch der Werkzeuge, in derGenauigkeit, in der Geschwindigkeit der Entwicklungdes einzelnen Schiffes. Unsere Stärke ist der hochspezialisierte Schiffbau, sind die anspruchsvollenKreuzfahrtschiffe, die Mega-Jachten, die schnellenSchiffe mit höchsten Anforderungen an Schalldämpfungund Schwingungsverhalten. Deshalb ist es ganz besonders zu begrüßen, dass esim maritimen FuE-Bereich ein gerade aufgelegtes neues,mit 180 Millionen DM dotiertes Forschungsprogrammgeben wird, das unsere Forschungsministerin in diesenTagen vorgestellt hat.
– So ist es: Erfolgsministerin. – Das ist es, was unsereWerften langfristig zur Sicherung ihrer Wettbewerbsfä-higkeit brauchen. Und dabei helfen wir Ihnen. Wir dür-Dr. Margrit Wetzel
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fen nicht vergessen, dass auch Korea hochmoderneJachten hat, dass auch Korea in diesen Markt eindringenwill. Deshalb brauchen wir diese Unterstützung. Ich hoffe, dass es gelingt, vor allem die praktischenSpezifika bei der Forschung im Schiffbau zu berücksich-tigen; denn die Forschung im Schiffbau unterscheidetsich ganz grundsätzlich von der Forschung im Flug-zeugbau oder in der Automobilindustrie. Prototypen gibtes im Schiffbau kaum. Dort sind es Einzelaufträge, dieausgesprochen schnell ganz besondere Problemlösungenund damit natürlich auch Forschungs- und Entwick-lungsleistungen verlangen. Wir müssen in diesem Be-reich entsprechende Unterstützung für unsere Werftenbereitstellen. Ich denke, das Programm ist optimal dafürgeeignet.Unsere Werft- und Zuliefererindustrie ist hochpro-duktiv. Sie braucht nichts anderes als faire Wettbe-werbsbedingungen auf dem Weltmarkt. Dann brauchtsie langfristig keine Subventionen. Weil wir uns in die-ser Frage politisch alle einig sind, bin ich zuversichtlich,dass wir die durch Korea ausgelöste Krise bewältigenkönnen, und zwar mit vereinten Kräften in Europa – andieser Stelle ist sich Europa absolut einig – und mitnachdrücklichem Einsatz der Bundesregierung, der wirfür die weiteren, bereits geplanten, zum Teil auch schonterminierten Gespräche Durchsetzungsvermögen wün-schen, damit unsere Werften, durch uns ermutigt, durch-halten und gestärkt in die Zukunft gehen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Als
nächster Redner hat der Kollege Wolfgang Börnsen von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
HerrPräsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen!Bei diesem Tagesordnungspunkt – das ist schon deutlichgeworden – ist sich das Parlament seit Jahren im Grund-satz einig. Aber es gibt unterschiedliche Überlegungenzu den Schwerpunkten. Einig sind wir uns auch in derLagebeurteilung. Auf Plattdeutsch gesagt: Dat is to Tieteen schöön Schiet mit de Schippsbu an de Küst. Für die,die es mit dem Hochdeutschen besser halten: Es ist zur-zeit eine kritische Lage mit dem Schiffbau an der Küste.
Vor knapp zwei Monaten hatten wir den ersten euro-päischen Werftentag, getragen von Gewerkschaften undVerbänden. Tausende von Beschäftigten sind damals aufdie Straße gegangen, weil die Situation im Schiffbauwirklich dramatisch ist – nicht nur in Deutschland, son-dern auch in Europa insgesamt. Noch nie zuvor hat es inEuropa einen solchen Aufstand von Arbeitern für einesolche Sache gegeben. Für mehr Wettbewerbsgerechtig-keit ist man auf die Straße gegangen. Das sollten wir –wie das auch meine Vorrednerin getan hat – sehr ernstnehmen. Der Grund: unfaires Preisdumping aus Fernost.Die Folge: extreme Auftragsrückgänge und zum TeilWerftenschließungen mit Arbeitslosigkeit als Folge beiuns. So darf es nicht weitergehen. Wir brauchen – das istzumindest die Meinung unserer Fraktion – eine Pro-Werften-Offensive für den Werftenstandort Deutschlandund für den Werftenstandort Europa. Die gescheiterte Korea-Reise des ehemaligen EU-Kommissars Martin Bangemann hat gezeigt: mit freund-lichen Worten allein änderst du überhaupt nichts. Koreawill Nummer eins im Weltschiffbau werden; dafürscheint jedes Mittel recht zu sein. Bei Neubauaufträgenhat Korea dieses Ziel bereits erreicht. Unterstützt durcheinen Rekordkredit des Internationalen Währungsfonds– dem übrigens auch die Bundesrepublik angehört – bie-ten Koreas Werften Preisvorteile bis zu 40 Prozent an.Subventionierte Preise, die sogar noch unter dem Mate-rialwert liegen, zerstören den Schiffbaumarkt. Weltweitfairer Wettbewerb ist Fehlanzeige. Die EU hat in einemGutachten festgestellt, dass bei acht von neun Schiff-bauaufträgen in Europa systematisch Dumping betrie-ben wird. In mindestens vier Fällen ist nachgewiesen,dass europäische Anbieter sicher geglaubte Aufträgenicht erhalten haben. Über 50 weitere Projekte dieserPreisunterbietung werden derzeit untersucht.Die Folgen dieser Wettbewerbsverzerrungen sindverheerend: Kostete ein koreanisches Containerschiffvor Jahresfrist noch gut 80 Millionen Dollar, so ist dasgleiche Schiff jetzt für knapp 45 Millionen Dollar zu ha-ben. Pleiten in Deutschland bei sicheren Arbeitsplätzenin Korea sind eine böse Folge des unfairen Wettbe-werbs. Gewachsene und erfolgreiche Strukturen inDeutschland werden dabei zerstört. Der Betriebsrat dererfolgreichen FSG in Flensburg hatte schon vor einemJahr im ƎFlensburger TageblattƎ gewarnt: „Wenn das soweitergeht, haben wir keine Überlebenschance!“ In die-sen Tagen erleben die Husumer Schiffbauer – und nichtnur die Schiffbauer dort – das schlimme Schicksal derBetriebsauflösung, und das, obwohl die tüchtigen deut-schen Schiffbauer zu den produktivsten und innovativs-ten der Welt gehören; das ist eben auch gesagt worden. Der Abwärtstrend bei uns in den letzten Jahren istmehr als dramatisch. Auch die Streichung der Steuervor-teile hat daran einen Anteil. Korea steigerte seinenWeltmarktanteil auf 27 Prozent. Bei uns stehen in denDocks die Räder zum Teil still. Nach dem Einbruch imHerbst 1998 ist die Produktion in den ersten drei Quarta-len 1999 noch einmal um ein gutes Drittel auf jetzt5,6 Prozent Weltanteil geschrumpft. Auch die Auf-tragseingänge haben sich in den vergangenen neun Mo-naten fast halbiert. Das gilt auch für die neuenBundesländer.Unsere Hochkostenstruktur bringt uns auch innerhalbEuropas Nachteile. Bei den Neubauaufträgen ist Eng-land mit über 16 Prozent locker an uns vorbeigezogen.Nur noch 4 Prozent der Neubauordern gehen noch an diedeutschen Werften. Wir sind zusammen mit Polen im-mer noch auf Platz zwei, aber mit absteigender Tendenz.Weltweit ist Deutschland jetzt nur noch Nummer fünfim Weltschiffbau hinter Korea, Japan, China und Groß-Dr. Margrit Wetzel
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7515
britannien. Viele Jahre, das heißt, über 20 Jahre, warendie deutschen Schiffbauer in der Weltspitzengruppe.Jetzt geht es leider bergab.Ursache dafür ist nicht nur eine verzerrte Weltmarktla-ge, nach Ansicht eines ÖTV-Sprechers gehören auchRegierungsfehler dazu. Eine Industrie mit einer Wertschöpfung von rund9 Milliarden DM jährlich ist in ihrer Existenz wirklichbedroht. Der Handelsschiffbau mit 5 Milliarden DM ge-hört ebenso dazu wie der Marineschiffbau mit über2 Milliarden DM sowie die Schiffsreparatur mit1,75 Milliarden DM. Allein in Deutschland sind über100 000 Arbeitsplätze in Gefahr, nämlich 30 000 aufden Werften und 70 000 bei den Zulieferern. Von derFlensburger Förde bis zum Spessart bangen die Beschäf-tigten um ihre Arbeit. Wie lange können sich die deut-schen Schiffbauer noch halten, wenn der globale Preis-krieg und der deutsche Sonderweg bei Abgaben undSteuern nicht gestoppt werden? Diese Abwärtsspirale ist zu stoppen. Deshalb ist esrichtig, dass auf unser Drängen hin die Wettbewerbshil-fe wieder aufgestockt worden ist. Staatssekretär Mosdorfhat an ihrer Sicherung einen erheblichen Anteil. Wir hal-ten auch die Ankündigung der Regierung, ein 180-Millionen-DM-Programm aufzulegen, für richtig. Wirstopfen damit jedoch nur die Löcher, die wir selbst inKorea aufgerissen haben. Während unsere europäischen Nachbarn die EU-Fördergrenzen voll ausschöpfen, müssen deutsche Werf-ten mit einem Bruchteil öffentlicher Unterstützung effi-zient wirtschaften. Allein Spanien hat ein 300-Millionen-DM-Programm aufgelegt. Damit beginnt derWettbewerbsnachteil für Deutschland bereits in der EU.Hinzu kommt, dass die Dauer der Krise überhauptnicht absehbar ist: China droht mit einer Währungsab-wertung, und Japan hat diesen Schritt bereits vollzogen.Beide Schiffbaunationen können aus diesem Grund gün-stiger anbieten. Ein Abwertungswettlauf zu unserenUngunsten hat eingesetzt. Es geht jetzt im Grunde ge-nommen um eine Dreifachoffensive: bei uns, in der EUund weltweit. Das gilt sowohl für den Bund als auch für die Küsten-länder. Die Kieler Koalition ist jetzt gefordert. Nur wennsie und wir bei den Verpflichtungsermächtigungen kräf-tig nachbessern, kann das Ziel einer Auftragsförderungvon fast 3 Milliarden DM allein für den deutschenSchiffbau erreicht werden. Gelingt dies nicht, wandernUnternehmen und Arbeitsplätze ab. Das wäre auch wirt-schaftspolitisch ein großer Verlust. 90 Prozent desWelthandels werden über die Meere abgewickelt. VomHandy bis zur Banane kommen Waren aus aller Welt indeutschen Häfen an, Produkte made in Germany verlas-sen auf dem Seeweg unser Land. Deutschland erwirtschaftet jede dritte Mark in Ge-schäftsbeziehungen mit dem Ausland. Wir müssen des-halb über die Kompetenz verfügen, unsere Waren auchausliefern zu können. Das ist nicht nur strategisch wich-tig, sondern macht auch ökonomisch Sinn. Es lohnt sich,tatkräftig und entschlossen für die Menschen in der„blauen Industrie“ einzustehen. Wir sehen als CDU/CSU-Bundestagsfraktion siebenErfordernisse für eine nationale Werftenoffensive mitdem Ziel der Stärkung der maritimen Wirtschaft. Erstens. Der IWF muss endlich garantieren, dassSüdkorea seine Mittel nicht weiter gegen Europas Werf-ten einsetzt. Die unfairen Wettbewerbsbedingungen sindsofort aufzuheben. Wir müssen den Missbrauch derWährungshilfen wirksam beenden. Wenn es nicht andersgeht, muss die Bundesregierung ihren Beitrag so langeauf Eis legen, bis Korea eingelenkt hat. Zweitens. Die Wettbewerbshilfen für die nationaleWerftindustrie sind so lange in voller Höhe fortzusetzen,bis faire Marktbedingungen für deutsche Schiffbauerumgesetzt worden sind.Drittens. 70 Prozent der Wertschöpfung in der Werf-tenindustrie kommen aus Süd- und Westdeutschland.Rund 9 Milliarden DM hängen bei uns von der „blauenWirtschaft“ ab. Wir sind der Auffassung, dass auch dieVerhältnisse zwischen Bund und Ländern, die Quotie-rung, neu überdacht werden müssen. Viertens. Auch Europa muss härter handeln. Finan-zielle Unterstützungen und Hilfeleistungen an Staaten,die den Wettbewerb verzerren, müssen solange unter-bleiben, bis wieder gleiche Spielregeln für alle gelten. Fünftens. Die Bundesregierung sollte noch vor derparlamentarischen Sommerpause im Juli dieses Jahreseinen Werftenbericht vorlegen, um auf der Grundlageeiner ungeschminkten Bestandsaufnahme weitere Hand-lungsschritte zu entwickeln. Sechstens. Die überhastete Steuergesetzgebung beiden Sonderabschreibungen ist zu überarbeiten. Siebtens. Wir brauchen endlich ein Antisubventions-abkommen der OECD. Seine Ratifizierung ist überfällig.Es fehlt noch die Unterschrift der Vereinigten Staaten,um den internationalen Subventionswettlauf zu beenden.Unfaire Wettbewerbspraktiken müssen streng und un-nachgiebig geahndet werden. Deshalb gehört das Ab-kommen ganz oben auf die Agenda beim nächsten G-8-Gipfel. Das ist der eigentliche Schlüssel für faire Wettbewerbs-bedingungen. Der deutsche Schiffbau wie der in Europa sind inschwerer See. Nur konsequentes Handeln auf allen Ent-scheidungsebenen kann eine Ausweitung der Krise undnoch mehr Arbeitslosigkeit verhindern. Die Belegschaf-ten und die Werften selbst haben in den vergangenenJahren ihren Beitrag dazu in großartiger Weise geleistet.Rationalisierung und Arbeitsoptimierung wurden bis zurGrenze der Verantwortbarkeit ausgereizt. Die Produkti-vität hat sich vervielfacht, trotz reduzierter Belegschaft.Hier ist kein Spielraum mehr. Jetzt sind politisch Ver-antwortliche gefordert.Zehntausende Schiffe auf allen Weltmeeren sindmehr als 20 Jahre alt. Neue Schiffe, neue Sicherheits-standards, neue Konzepte „from road to sea“ werden dieWolfgang Börnsen
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7516 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Zukunft prägen und neue Märkte erschließen. Mit unse-rer weltweit immer noch führenden Technologie eröff-net dies größte Chancen für unseren SchiffbaustandortDeutschland. Deshalb gilt es, diesen Standort zu stabili-sieren. Denn in Qualität und Umweltorientierung sindunsere Schiffbauer erste Klasse. Doch der Preis diktiertdie Aufträge. Wenn wir nicht von Billiganbietern ausge-bootet werden wollen, brauchen wir eine gemeinsameWerftenoffensive.Herzlichen Dank.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Kristin
Heyne von Bündnis 90/Die Grünen.
HerrPräsident! Meine Damen und Herren! Die deutschenWerften sind technologisch hoch entwickelt, sie sindmodern und sie sind wettbewerbsfähige Betriebe. Ichglaube, darin sind wir hier in der Debatte einig. Das fin-de ich einen ganz wichtigen Punkt. Sie spielen in ihrenRegionen eine wichtige wirtschaftspolitische Rolle: alsArbeitgeber, aber auch als innovative Unternehmen, alsSystemanbieter, als Kooperationspartner und nicht zu-letzt als Ausbilder in den verschiedensten Berufs-zweigen.Aus grüner Sicht ist uns am Schiffbau ganz besondersgelegen; denn hier wird ein umweltverträgliches Ver-kehrssystem entwickelt. Wir wünschen einen Ausbaudes Gütertransports „from road to sea“. Wir wünschenWerften, die umweltverträgliche und vor allen Dingenmeeresverträgliche Schiffe bauen. Das genau tun unseredeutschen Werften.Der Kollege Börnsen hat insofern eine Einschränkunggemacht, als unsere Werften bessere Bedingungenbräuchten, zum Beispiel in der Frage der Abgaben. Diein dieser Woche so viel geschmähte Ökosteuer hat dieSozialversicherungslast – und damit die Abgaben – fürdie Werften gesenkt. Ich glaube, dass das gerade für dieWerften ein wichtiger Schritt war, neben vielen weite-ren, die notwendig sind.
– Lieber Kollege Austermann, Sie wissen: Die Werftengehören zum produzierenden Gewerbe. Wenn Sie sichnoch gestern darüber beklagt haben, dass wir energiein-tensivere Bereiche eben nicht in den – nicht zu gewin-nenden – Wettbewerb treiben, dann werden Sie heuteganz sicher unterstützen, dass wir in diesem Bereich dieÖkosteuerreform mit maßvollem Auge eingeführt ha-ben.Für die Werften ist Weiteres notwendig: Heute liegtuns die Empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft undTechnologie vor, dem Antrag der Regierungsfraktionenzuzustimmen, der beinhaltet, der SchiffbauindustrieWettbewerbshilfen zu genehmigen. Wir halten dieseHilfen für sinnvoll; denn es handelt sich um zeitlich be-fristete Hilfen und eben nicht um ein Fass ohne Boden.Die deutsche Werftindustrie ist grundsätzlich wettbe-werbsfähig. Aber – die Kollegen haben es beschrieben –in den vergangenen Jahren war eine extreme Verzer-rung des Wettbewerbs auf dem Weltmarkt zu beobach-ten. Seit Mitte 1998 erhalten die deutschen Werften –wie die der übrigen europäischen Länder – fast keineAufträge mehr. Der Weltschiffbaumarkt ist von einemdramatischen Preisverfall gekennzeichnet. Viele Werf-ten arbeiten trotz voller Auslastung mit Verlusten.Der Auslöser dieser Entwicklungen sind die südkore-anischen Angebote, die bis zu 30 Prozent unter Welt-marktpreisen liegen. Südkorea hat seine Schiff-baukapazitäten innerhalb der letzten sechs Jahre verdrei-facht. Fast jedes dritte Schiff entsteht inzwischen inSüdkorea. Der Wettbewerbsvorteil der südkoreanischenSchiffbauer beruht zum einen auf der ökonomischenEntwicklung – die durch die dramatische Abwertung desWon im Rahmen der asiatischen Finanzkrise gekenn-zeichnet ist – und ist zum anderen in Lohnkürzungenbegründet. Aber trotz dieser Maßnahmen arbeiten diekoreanischen Werften zurzeit offensichtlich nicht kos-tendeckend. Verschiedene Studien, unter anderem vonder EU, haben gezeigt, dass aus Korea Schiffe angebo-ten werden, deren Preis unter den Selbstkosten liegt.Dies ist eine Wettbewerbsverzerrung, die auf mittlereSicht nicht hinzunehmen ist.Um die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Schiff-baus kurzfristig zu sichern, müssen wir vergleichbareProduktionsbedingungen gewährleisten. Hierzu hat derBund für die Jahre 2001 bis 2003 zusätzliche Verpflich-tungsermächtigungen eingestellt. Hier gibt es eine klarePlanbarkeit für die Werften über die nächsten Jahre. Dasist etwas anderes als die Praxis bei Herrn Wissmann, andie ich mich gut erinnern kann. Damals mussten wir ü-ber die Hilfen jedes Jahr noch kurz vor Verabschiedungdes Haushaltes verhandeln. Sie wussten nie genau, wor-an sie sind. Mit dieser Bundesregierung wissen dieWerften, woran sie sind,
welche Hilfen ihnen zur Verfügung stehen.
Dieser Schritt ist notwendig, kann aber nur zur Über-brückung dienen. Ich glaube, das kann keine langfristigePerspektive sein. Darum arbeitet die Bundesregierunggleichzeitig an einer Korrektur der verzerrten Wettbe-werbsbedingungen. Südkorea erhält ja wegen seiner Fi-nanzkrise Unterstützung vom IWF im Volumen von58 Milliarden DM. Es ist zu befürchten, dass genau die-ses Geld in die Werftenindustrie läuft, wofür es nichtvorgesehen war.
Wolfgang Börnsen
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Deswegen drängt die Bundesregierung in allen Kontak-ten darauf, dass die Vorgaben des IWF strikt eingehaltenwerden und dieses Dumping nicht fortgesetzt wird.Wir müssen aber natürlich auch sehen – da gebe ichdem Kollegen Börnsen und auch der Kollegin WetzelRecht –: Wie kann man langfristig zu vernünftigenWettbewerbsbedingungen auf dem Schiffsmarkt kom-men? Das kann nur über ein Ende des internationalenSubventionswettlaufs gehen. Schon jetzt kann man auchbei einigen EU-Staaten erkennen, dass sie die Lösungdoch in einer dauerhaften Subventionierung der Werftensehen. Das kann nicht unser Weg sein. Vielmehr musses darum gehen, zu gemeinsamen Vereinbarungen allerSchiffbaunationen zu kommen. Es muss ein multilate-rales Subventionsabkommen geben.
Das heute ebenfalls vorliegende und noch nicht ange-sprochene Gesetz über ein Rahmenabkommen überHandel und Zusammenarbeit zwischen EU und Koreaist, denke ich, ein wichtiger erster Schritt auf diesemWeg. Das Abkommen vertieft die Beziehungen zwi-schen Korea und der EU. Im Zentrum stehen Handels-kooperationen, handelspolitische Zusammenarbeit, wirt-schaftliche, wissenschaftliche und technische Zusam-menarbeit und der Aufbau der industriellen Kooperation.Mit diesem Abkommen werden günstige Voraussetzun-gen für ein nachhaltiges Wachstum und für eine Diversi-fizierung des Handels geschaffen.Wir wollen die Werften mittelfristig in die Lage ver-setzen, nach dem EU-weiten Auslaufen der Wettbe-werbshilfen aus eigener Kraft wirtschaftlich und techno-logisch am Markt zu bestehen. Ich will aber auch ganzklar sagen: Im Moment ist es eindeutig notwendig, Hil-fen zu geben. Wir haben aber auch die Erwartung an dieWerften, dass sie sich auf die Bereiche konzentrieren, indenen sie langfristig konkurrenzfähig sein können. Der Schiffbau muss seine Produktpalette diversifi-zieren. Auch schiffbaufremde Produkte müssen angebo-ten werden. Seine Chance auf dem Markt für umwelt-verträgliche und innovative Transportsysteme sollte derSchiffbau nutzen. Es hat gerade vonseiten der Betriebs-räte an den verschiedenen Werften seit vielen JahrenVorschläge in diese Richtung gegeben, die leider oft fürlange Zeit nicht aufgegriffen wurden. Ganz sicher kannes nicht akzeptabel sein, wenn die Betriebe sich auf Rüs-tungsproduktionen konzentrieren. Eine Breite des Ange-bots ist dringend notwendig.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zusam-menfassend sagen: Die moderne Werftindustrie ist aufmittlere Frist wettbewerbsfähig. Sie ist unverzichtbar fürdie Küstenländer und auch für die süddeutschen Zuliefe-rer. Die Bundesregierung unterstützt die Werften finan-ziell und in internationalen Verhandlungen. Lassen Sieuns den vorliegenden Anträgen und dem Gesetzentwurfzustimmen und damit der Politik der Bundesregierungdeutlichen Rückenwind geben!Danke schön.
Als
nächster Redner hat der Kollege Jürgen Koppelin von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die aktuelle Lage der deut-schen Werftindustrie ist alles andere als zufriedenstel-lend. Der Kollege Börnsen hat schon darauf hingewie-sen. Ich glaube, es ist nicht zu hoch gegriffen, von einersehr dramatischen Situation nicht nur bei den deutschenWerften, sondern bei den europäischen Werften insge-samt zu sprechen. Seit der Finanzkrise in Südkorea wird offenbar, dasssich auf dem Weltschiffbaumarkt ein Falschspieler he-rumtreibt, der entsprechend agiert. Gigantische Kapazi-tätsausweitungen und die Preispolitik Südkoreas habenden Werften bei uns im Lande sehr schwer geschadet.
Es ist einfach nicht hinzunehmen, dass die Koreaner erstdurch ihre eigene Subventionspolitik in die Krise gera-ten, der asiatische Markt praktisch kollabiert, dann derInternationale Währungsfonds milliardenschwere Kredi-te nach Südkorea pumpt und wir dann zur Kenntnisnehmen müssen, dass die Koreaner mit Staatskreditenfür den heimischen Schiffbau so weitermachen wie bis-her und Dumpingangebote auf dem Weltmarkt machen.Das kann so nicht laufen.
Diese Vorgehensweise geht eindeutig zu Lasten derdeutschen Werftindustrie und ist zu verurteilen. Wirsollten dem auch nicht tatenlos zusehen. Sowohl dieBundesregierung als auch alle Fraktionen hier im Hause– das habe ich aus den Redebeiträgen herausgehört –wollen und werden dem auch nicht tatenlos zusehen.Allein bei mir in Schleswig-Holstein sind zehn Werf-ten von der Preispolitik Südkoreas betroffen. Die Zahlenaus den vergangenen Jahren, vor allem von 1998, bele-gen die Unverhältnismäßigkeit und das Ungleichge-wicht auf dem Weltschiffbaumarkt. Mit Hilfe einerkünstlich niedrig gehaltenen Währung, dem Won, hatdie südkoreanische Werftindustrie im dritten Quartal1998 ein Drittel aller Neubauaufträge bekommen. Imvierten Quartal ging aufgrund der Preispolitik schon je-der zweite Auftrag nach Südkorea. Südkorea wird min-destens, so schätze ich, bis 2001 einen Währungsvorteilhaben, der dazu führt, dass der europäische Schiffbaueine Preisdifferenz von etwa 20 bis 30 Prozent ausglei-chen muss, um Aufträge zu erhalten. Unter Druck gera-ten dadurch – darauf möchte ich extra hinweisen – vorallem unsere kleineren Werften, die es sowieso schonschwerer haben.
Kristin Heyne
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7518 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Daher ist es auch richtig, der Beschlussempfehlung desWirtschaftsausschusses zu folgen und auf eine strikteEinhaltung der Bedingungen für die Vergabe von Kredi-ten an Südkorea durch den Internationalen Währungs-fonds zu drängen. Die hohe Bedeutung des Schiffbausals strategische Industrie, der hohe Zulieferanteil aus al-len Bundesländern sowie die Sorge um die Arbeitsplätzeund die Verantwortung des Bundes sind nach meinerMeinung Gründe genug, die ein Engagement wie dasjetzt beschlossene rechtfertigen.
Angemerkt werden muss trotz aller Einigkeit mit derKoalition allerdings auch an dieser Stelle – hier unter-scheidet sich meine Position etwas von der der KolleginHeyne –, dass die Werften Schwierigkeiten haben, weildie Mittel für die Marine im Verteidigungshaushalt er-heblich gekürzt wurden und noch weiter gekürzt werdensollen. Dies wird negative Auswirkungen auf die Werft-industrie haben. Vieles, was die Marine aufgrund derAufträge der Bundeswehr erforschen konnte, war späterein Vorteil für den Handelsschiffbau, weil er modernereTechnik anbieten konnte und dadurch den Preisunter-schied ausgleichen konnte.
Ich sehe mit großer Sorge, dass die Zahl der Ersatzbe-schaffungsaufträge der Bundeswehr zurückgehen. Da-von haben die kleineren und mittleren Werften ebensowie Reparaturbetriebe profitiert. Herr Staatssekretär, Sie haben gestern die Richtlinienfür den Rüstungsexport angesprochen. Ich möchte aufdie Situation im U-Bootbau aufmerksam machen. Ichakzeptiere nicht nur, sondern unterstütze auch, dass Sieauf die Einhaltung der Menschenrechte im Zusammen-hang mit Rüstungsexporten drängen.
– Stellen Sie einfach eine Zwischenfrage! – Aber habenSie hinsichtlich der Einhaltung der Menschenrechte imZusammenhang mit dem Verkauf von U-Booten Beden-ken? Ich sehe nicht die Möglichkeit, dass U-Boote Men-schen beschießen. U-Boote sind ausschließlich eine Ver-teidigungswaffe und nichts anderes. Die Krise im Schiffbau hat zum Beispiel dazu ge-führt, dass sich eine Werft in Schleswig–Holstein im U-Boot-Bau mit einer schwedischen zusammentut. Wiesollen bei einer solchen Zusammenarbeit die Bedingun-gen für den Export aussehen? Die Schweden, die nunwirklich friedliebende Leute sind und deren Engagementfür den Frieden in der ganzen Welt bekannt ist, habennicht dieselben strengen Exportbedingungen wie wir.Sie haben für Exportbedingungen gesorgt, die ihrenWerften helfen. Ich habe schon gehört, dass es bei dieserZusammenarbeit Schwierigkeiten gibt, weil die rot-grüne Koalition in Berlin regiert. Hier wäre ich für eineAuskunft dankbar. Es ist nur als ein Tropfen auf den heißen Stein zu be-werten, wenn bei den Beratungen des Haushalts 2000eine Verpflichtungsermächtigung von 240 MillionenDM in den Etat des Wirtschaftsministers eingestelltwurde. Die Darstellung der Kollegin Heyne, die früherMitglied des Haushaltsausschusses war, ist natürlichfalsch gewesen. Selbstverständlich kämpfen alle Partei-en – so war es auch bei der früheren Bundesregierungüblich – teilweise, ich sage bewusst nicht: gegen denWirtschaftsminister, aber gegen das Wirtschaftsministe-rium. So war es auch bei den letzten Haushaltsberatun-gen. Sowohl den ehemaligen Wirtschaftsministern alsauch der jetzigen Regierung und vor allem dem HerrnStaatssekretär – auf ihn komme ich gleich noch zu spre-chen – will ich gerne zugestehen, dass sie innerlich frohüber unsere geleistete Arbeit waren und ihr zugestimmthaben.Die erste Botschaft des Bundesministers Müller bestandeigentlich darin, den Beitrag für die deutschen Werftenzu streichen, damit er seinen Sparbeitrag für Herrn Ei-chel leisten konnte. Wir haben das verhindern können.Wir haben andere Möglichkeiten gefunden.
Insofern zollen sich alle Fraktionen, die daran gearbeitethaben, selbst Beifall.
Ich spreche ausdrücklich den Herrn Staatssekretär anund ich bescheinige ihm gerne, dass er sich für dieWerften engagiert. Darauf wurde schon von dem Kolle-gen Börnsen in einem Nebensatz aufmerksam gemacht.Ich finde, Herr Staatssekretär, wir müssen uns über einmit diesem Bereich verbundenes Problem unterhalten,nämlich dass die norddeutschen Länder nun aus ihrenLandeshaushalten einen hohen Beitrag erbringen müs-sen, was zum Beispiel Schleswig-Holstein nicht immergemacht hat – es hat sich hin und wieder einmal verab-schiedet –, obwohl 50 Prozent der Zulieferung aus Süd-deutschland – mindestens 25 Prozent aus Baden-Württemberg – erfolgt.
Bei aller Einigkeit darf man einmal sagen: Die Süddeut-schen sollen nicht kommen und behaupten, dort obenwerde subventioniert. Es sind teilweise ihre eigenen Ar-beitsplätze – nicht nur die norddeutschen –, die davonprofitieren. In Norddeutschland wird das Schiff zusam-mengebaut; aber der Motor und alles andere kommenaus Süddeutschland und sichern dort Arbeitsplätze.Ich denke, wir sind uns insgesamt beim ThemaSchiffbau in unserem Vorgehen gegenüber Korea einig.Wenn wir weiterhin einig sind – vom Wirtschaftsminis-terium will ich besonders den Herrn Staatssekretär nen-nen, aber auch alle Fraktionen –, dann blicken wir in ei-ne positive Zukunft für den deutschen Schiffbau.Ich bedanke mich für Ihre Geduld.
Alsnächster Redner hat der Kollege Rolf Kutzmutz von derPDS-Fraktion das Wort.Jürgen Koppelin
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7519
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Es ist richtig: Wir sind uns imGrundsatz einig. Wir sind uns darüber einig, was derSchiffbau für Deutschland und seine Zukunftsfähigkeitbedeutet. Wir sind uns darüber einig, was die Werftenfür jeweilige Region bedeuten. Insofern gibt es in dieserFrage meinerseits überhaupt keinen Widerspruch.Wenn ich zum Sarkasmus neigen würde, dann würdeich meinen Redebeitrag etwa so anfangen: Natürlichsind auch wir von den zahlreichen Initiativen der Bun-desregierung in den letzten Wochen und Monaten tiefbeeindruckt, vor allem von ihren Erfolgen gegenüberSüdkorea. Die messbaren Ergebnisse konnte, wer wollte, amDienstag bei „dpa“ unter der Überschrift „Korea jetztweltgrößter Schiffbauer – Deutschland auf Rang vier“studieren. Herr Börnsen hat von Rang fünf gesprochen.Als im Bundestag vor zehn Monaten die heute zu verab-schiedenden Anträge anberaten wurden, lag Südkoreaauf Platz zwei hinter Japan und die BundesrepublikDeutschland lag vor China auf Platz drei der Schiffbau-nationen.Ich will überhaupt nicht die Anstrengungen kleinre-den. Ich kann mir vorstellen, wie viel zähe Gespräche esgegeben hat und noch geben muss. Aber letztendlichmuss man das Ergebnis zur Kenntnis nehmen. Für michist das Ergebnis nicht verwunderlich und es sagt nichtsüber hiesige nationale schiffbaupolitische Aktivität oderUntätigkeit aus. Es liegt vielmehr an fundamentalenweltwirtschaftlichen Entwicklungen: der weiterenSchwächung der südkoreanischen Währung Won und ander nach wie vor bestehenden fernöstlichen Subventi-onspraxis. Insofern unterstützen wir natürlich auch deninterfraktionellen flammenden Appell an die Bundesre-gierung, sich allerorts für verbindliche Rahmenbedin-gungen eines stabilen Weltschiffbaumarktes einzu-setzen. Natürlich begrüßen auch wir das von Frau Bul-mahn vorgestellte Programm „Schiffbau und Meeres-technik für das 21. Jahrhundert“.Aber die Situation ist heute nicht anders als im Märzdes vergangenen Jahres. Deshalb will ich noch einmalhervorheben: Ohne grundlegende Reform der Welt-wirtschaftsordnung bleibt es selbst im Erfolgsfall beimKurieren an Symptomen, ohne die Wurzeln der Proble-me tatsächlich zu berühren.
Dabei ist mir vor allem unverständlich – das will ichhier deutlich ansprechen, weil einige Kollegen schondarauf eingegangen sind –, wieso ausgerechnet heutedas EU-Rahmenabkommen mit Südkorea verabschie-det werden soll. Es ist für mich ein Unding, hier allseitsund wortreich das Preisdumping südkoreanischer Werf-ten – im Einzelfall bis 38 Prozent unter den tatsächli-chen Fertigungskosten – zu beklagen und dennoch einAbkommen ratifizieren zu wollen, in dessen Art. 8 eswörtlich heißt:Daher treffen die Vertragsparteien in Einklang mitdem OECD-Übereinkommen über den Schiffbaukeine Maßnahmen zur Unterstützung ihrer Schiff-bauindustrie, die den Wettbewerb verzerren würdenoder es ihrer Schiffbauindustrie ermöglichen wür-den, künftigen schwierigen Situationen zu entge-hen.Mag sein, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen,so wie im Ausschuss gesagt, selbst auch noch Verhand-lungsbedarf sehen. Sie sagen ja, mit der vertraglichenFestlegung würde der Verhandlungsspielraum nicht ein-geschränkt werden. Ich kann es mir aber einfach nichtvorstellen, dass man ein Abkommen abschließt und be-stimmte Rahmenbedingungen festlegt und anschließendsagt, wir brechen aus diesem Rahmen aus. Namens derPDS-Fraktion beantrage ich hiermit deshalb, den Ent-wurf eines Gesetzes zum Rahmenabkommen vom 28.Oktober 1996 über den Handel und die Zusammenarbeitzwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihrenMitgliedstaaten einerseits und der Republik Korea ande-rerseits zur erneuten Beratung an die Ausschüsse rück-zuüberweisen. Wir haben im Oktober vergangenen Jahres im Wirt-schaftsausschuss auf Vertagung gedrängt. Das wurdedamals von allen anderen Fraktionen abgelehnt. Die Re-gierung hatte nämlich noch in der Sitzung erklärt, manhabe wegen des Subventionsproblems bei der EU-Kommission bereits interveniert und werde den Sach-verhalt bilateral im November mit Südkorea zu klärenversuchen. Auch hierzu hat Frau Wetzel gesprochen; ichwill dazu sagen, dass ich keinen Zweifel daran habe,dass es Bemühungen gegeben hat. Was kam nun aber bei den Beratungen des EU-Ministerrates und den wirtschaftspolitischen Konsultati-onen zwischen Deutschland und Südkorea heraus?Wenn man den Wahlkampfauftritt von BundeskanzlerSchröder vom Dienstag vergangener Woche zur Kennt-nis nimmt, besteht darüber kein Zweifel. Ich zitiere hier-zu eine dpa-Meldung:Subventionen müsste man gar nicht zahlen, wennes anderswo einen fairen Wettbewerb gäbe. Auf ei-ner Betriebsversammlung der größten deutschenWerft mit mehr als 2 000 Beschäftigten kündigteBundeskanzler Schröder an, die europäischen An-strengungen in der Welthandelsorganisation undbeim Internationalen Währungsfonds voranzutrei-ben, um den von Korea erzeugten „Teufelskreis“ zudurchbrechen. Das scheint vom Ergebnis her alles zu sein; Herr Mos-dorf wird sicherlich noch einiges sagen. Wenn Bundes-kanzler Schröder mehr gegenüber Südkorea erreicht hät-te, dann hätte er, da bin ich sicher, das auch in Kiel denWerftarbeitern gesagt.
Wer zum jetzigen Zeitpunkt das Abkommen bestä-tigt, obwohl er genau weiß, dass es sein Partner nichteinzuhalten gewillt ist, der muss sich schon die Feststel-lung gefallen lassen: Entweder sind für ihn völkerrecht-liche Verträge das Papier nicht wert, auf dem sie stehen,oder aber er täuscht bewusst seine Wählerinnen undWähler in den Werftstandorten über die Möglichkeiten
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7520 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
und die Ernsthaftigkeit seiner Bemühungen. Das wärefatal. Südkorea hat das Abkommen – das muss man hiernoch einmal sagen, damit es auch alle verstehen, die sichsonst nicht damit beschäftigen – nämlich schon im No-vember 1996 ratifiziert, also Jahre, bevor es Milliardenden Gläubigerbanken der Dumping-Werften zukommenließ. Wohlgemerkt: Auch wir sind für vertraglich garan-tierte Rahmenbedingungen, für weltwirtschaftliche Ver-flechtungen statt kommerziellen Faustrechtes, zumal imvorliegenden Abkommen beispielsweise Zusammenar-beit beim Umweltschutz und bei nachhaltiger Ent-wicklung auf der Basis der von den UN angestoßenenProzesse vereinbart ist. Wir brauchen aber – mein letzter Satz, Herr Präsident– ein politisches Signal. Das darf sich nicht nur an Süd-korea richten, sondern muss auch den europäischen unddeutschen Werften gegeben werden. Wenn wir aber heu-te ratifizieren, lautet das Signal: Wir haben die Chancezur Auseinandersetzung vergeben; denn ein Vertrags-partner, der einen Vertrag in der Hand hat, wird sich aufAuseinandersetzungen nicht mehr einlassen.Danke schön.
Dieser
Rücküberweisungsantrag der PDS-Fraktion würde ei-
gentlich eine Geschäftsordnungsdebatte nach sich zie-
hen. Ich höre aber, dass es Einvernehmen unter den
Fraktionen gibt, auf diese Geschäftsordnungsdebatte zu
verzichten. Ist dies der Fall? – Das ist so. Damit wird im
Anschluss an die Aussprache über diesen Antrag ent-
schieden.
Jetzt gebe ich das Wort dem Parlamentarischen
Staatssekretär Siegmar Mosdorf.
S
Herr Präsi-dent! Meine Damen und Herren! Es ist gut zu wissen,dass das Haus – vielleicht mit ganz wenigen Ausnahmen– eigentlich geschlossen dafür eintritt, dass alles getanwerden muss, damit der deutsche Schiffbau in einer ver-änderten weltwirtschaftlichen Konstellation wettbe-werbsfähig bleibt, mithalten kann und damit auch er-folgreich zukunftsfähige Arbeitsplätze sichern kann. Dasist gut zu wissen und stützt auch die Haltung der Bun-desregierung bei vielen komplizierten Verhandlungen. Die Lage auf dem Schiffbaumarkt ist weltweit in derTat dramatisch und hat sich sehr zugespitzt. Das hat na-türlich auch etwas mit der Finanzkrise in Asien zu tun.Die Ursachen dafür liegen insbesondere bei den südko-reanischen Werften. Es wurde hier auf viele Fragen ein-gegangen. Wir haben in mehreren Stufen versucht, dasProblem einzugrenzen: Zunächst einmal ließen wir Auf-träge genau untersuchen. Dabei kamen wir zu dem Er-gebnis – das wurde hier schon mehrfach zitiert –, dass esimmerhin achtmal Angebotspreise von südkoreanischenWerften gab, die deutlich, nämlich 15 bis 40 Prozent,unter den Gestehungskosten lagen. Die Durchführungdieser Untersuchungen hatten wir bei der EuropäischenKommission veranlasst.Es war auch wichtig, dass diese Untersuchungen ange-stellt worden sind, denn dadurch sind wir argumentati-onsfähig geworden.Des Weiteren haben wir Initiativen bei der Europäi-schen Kommission ergriffen, weil sich die Lage desSchiffbaus in Deutschland dramatisch zugespitzt hatte.Die deutschen Werften haben in den letzten Jahren allergrößte Modernisierungsanstrengungen unter-nommen. Es waren schmerzliche Anstrengungen, dieauch den Abbau von Arbeitsplätzen beinhalteten. Würdedies durch den Markt nicht honoriert, wären diese An-strengungen vergebens und es käme zu einer nicht ak-zeptablen Situation.Bei den Containerschiffen, vor kurzem noch dermeistverkaufte Schiffstyp deutscher Werften, gehen zur-zeit 60 bis 70 Prozent aller Aufträge an südkoreanischeWerften. Die südkoreanischen Werften haben insbeson-dere auf dem Sektor Containerschiffe alles getan, umsich auf dem Weltmarkt Dominanz zu verschaffen. InDeutschland wie auch in anderen europäischen Schiff-bauländern konzentrieren sich die Unternehmen daherzurzeit auf den Bau von Fährschiffen und Passagier-schiffen, also auf qualitativ hochwertige Wertschöp-fungsketten. Dieser Sektor reicht jedoch nach Darstel-lung der Schiffbauindustrie langfristig nicht aus. Des-halb brauchen wir auch weiterhin andere Ansatzpunkte.
Die in dem Antrag enthaltenen Forderungen deckensich mit den von der Bundesregierung gesehenen Hand-lungserfordernissen, zu deren Umsetzung in den vergan-genen Monaten bereits zahlreiche größere Initiativen un-ternommen worden sind. Wir haben zu diesem Zweck –auch ich kann bestätigen, dass wir das einvernehmlichgetan haben – Verpflichtungsermächtigungen in Höhevon 240 Millionen DM in den Bundeshaushalt 2000eingestellt, um in diesem Jahr akquirierte Aufträge för-dern zu können. Mit der üblichen Kofinanzierung derLänder in Höhe von zwei Dritteln des Programms kanndamit ein Auftragsvolumen von zirka 10 Milliarden DMunterstützt werden.Ich füge hinzu – das ist von Frau Wetzel bereits ange-sprochen worden –, dass es aufgrund der europäischenSituation wahrscheinlich die letzte Möglichkeit war, et-was zu tun, sofern sich auf dem Weltmarkt nicht drama-tische Zuspitzungen ergeben. Herr Börnsen hat daraufhingewiesen, dass es nicht darum gehen kann, Dauer-subventionen zu erreichen. Es geht um die Frage, wieman in dieser spezifischen Situation helfen kann. Auchdie französischen und spanischen Kollegen haben imMinisterrat in Brüssel dieselbe Frage aufgeworfen. Des-halb haben wir diese Schritte unternommen.Die Bundesregierung sieht allerdings keine Möglich-keiten, ihren Anteil zu erhöhen. Wir wollen ja geradeversuchen, von diesen Subventionen weg zu kommen.Aber wir haben alles getan, um in dieser prekären Situa-tion die Werften zu unterstützen, und werden weiterhinRolf Kutzmutz
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darauf drängen, dass es auf internationaler Ebene zuVerträgen kommt.
– Das ist für die Rahmenbedingungen entscheidend.In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, HerrKutzmutz – in diesem Punkt waren Sie auch nicht ganzeindeutig –, daß Ihre Ablehnung des heutigen Vertragesnatürlich dazu einlädt, dann, wenn man keine Vertrags-bindungen hat, das zu tun, was man selber für richtighält. So war es bisher, und das kann man Raubtierkapita-lismus ohne Spielregeln nennen. Das ist der Grund, wa-rum wir sehr darauf drängen, dass möglichst vieleVolkswirtschaften in der WTO und in der OECD sind.
Die Zahl der OECD-Mitgliedstaaten hat deutlich zuge-nommen. Das ist auch der Grund, weshalb wir diese bi-lateralen Verträge machen.In einer Zentralverwaltungswirtschaft funktioniert dieWirtschaft nach Kommandos von der Kommandobrückeaus. Im Raubtierkapitalismus ist es wie im Dschungel.Wir hingegen wollen eine Art von sozialer Marktwirt-schaft in der Tradition von Ludwig Erhard und KarlSchiller, die einen Ordnungsrahmen hat und trotzdemdie Effizienzvorteile der Marktwirtschaft nutzt. Wir ver-suchen, einen solchen Ordnungsrahmen zu schaffen.Leise füge ich hier aber hinzu, dass es nicht ganz einfachwar, während der Zeit des Stand-still-Abkommens beiden Ostwerften eine Zweitprivatisierung vorzunehmen.Das haben auch die Koreaner moniert. Es werden ja aufbeiden Seiten Kritikpunkte gesehen. Die andere Seiteregistriert so etwas ja auch sehr genau. Deshalb mussman alles fair im Auge behalten. Wir sind aber ent-schlossen, alles zu tun, damit die Werften auch in Zu-kunft eine reale Fertigungsbasis haben; denn es sollniemand glauben, wir könnten auf Werften verzichten.
Wir brauchen diese reale Fertigungsbasis auch in Zu-kunft nicht nur für die Arbeitsplätze, sondern auch fürunsere hochentwickelte Volkswirtschaft. Deswegenwerden wir die Anstrengungen auf diesem Gebiet fort-setzen.Übrigens wird dieses Thema auch Gegenstand derGespräche sein, die vom 9. bis 11. März geführt werden,wenn der koreanische Präsident die BundesrepublikDeutschland besucht. Der Bundeskanzler hat die Ab-sicht, auch bei dieser Gelegenheit auf diese Themen so-wohl in Sachen Werften als auch in Sachen Automobilezu sprechen zu kommen. Wir werden diese Punkte imKlartext ansprechen und deutlich sagen, welche Erwar-tungen wir hier haben.Die harschen Töne, die wir – auch ich selber auf derMinisterratskonferenz in Brüssel – gefunden haben, wa-ren neben der Aufforderung an die EU-Kommission,selber initiativ zu werden, notwendig, weil sich die Ko-reaner sonst nicht bewegt hätten. Wenn die Koreanerjetzt auf einen Teil der letzten Tranche des Weltbank-darlehens in Höhe von 1 Milliarde DM verzichtet haben,dann ist das ein Zeichen dafür, dass sie registriert haben,dass es nicht ganz so einfach geht, wie sie es sich ge-dacht haben. Von den 58 Milliarden DM haben sie einenTeil abgerufen; jetzt sind sie dabei, auf Teile zu verzich-ten. Das hat etwas damit zu tun, dass die EU-Kommission ernsthaft – jedenfalls ernsthafter, als esvorher gemacht worden ist – interveniert.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zumSchluss kommen. Neben dieser aktuellen Auseinander-setzung mit den Koreanern haben wir darüber hinaus dasgrundsätzliche Interesse, dass der maritime Standortgestärkt wird. Das ist der Grund, warum wir eine Konfe-renz des Bundeskanzlers am 13. Juni zum Thema „Mari-timer Standort“ vorbereiten. Das ist auch der Grund, wa-rum wir weiter konzeptionell an der Entwicklung in die-ser Branche arbeiten. Man muss dazu sagen: Wir tundies einvernehmlich sowohl mit den Gewerkschaftenwie mit der Wirtschaft. Wir haben nämlich alle ein Inte-resse daran, dass der Standort in diesem Bereich gesi-chert wird. Wir müssen alles tun, damit die Arbeitsplät-ze krisenfest und so leistungsfähig und wettbewerbsfä-hig sind, dass sie sich im internationalen Wettbewerbbehaupten können.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Dietrich Austermann.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Es ist eine seltene Situation,dass man in einer Debatte den Eindruck hat, es seiensich – zumindest nach der Situationsbeschreibung – alleeinig. Dieser Eindruck umfasst die Darlegungen des Par-lamentarischen Staatssekretärs aus dem Wirtschaftsmi-nisterium und die Beschreibung, die von der SPD, vonder F.D.P. und vom Kollegen Börnsen gegeben wordenist.Einigkeit besteht auch darüber, dass wir in Deutsch-land Werften dringend brauchen. Dazu müssen auf eu-ropäischer Ebene Entscheidungen getroffen werden. Dasist richtig. Ich brauche jetzt nicht zu wiederholen, wasüber die schädlichen Auswirkungen der besonderenVorgehensweise der Koreaner zutreffend gesagt wordenist. Wenn man sich allerdings anschaut, wie die Bewer-tung dessen aussieht und welche Schlussfolgerung ausdiesen Entscheidungen gezogen werden, dann kommtman zu dem Schluss, dass es in der Tat doch wieder dieeine oder andere Differenz gibt. Ich sage das nicht imHinblick auf die vorgelegten Anträge, sondern im Hin-blick auf die Realität und die Entscheidungen, die darauspraktisch folgen.Wir sind uns einig darüber, dass die koreanischenWerften ihre Position brutal ausgebaut haben und damitSiegmar Mosdorf
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7522 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
dazu beigetragen haben, dass deutsche, europäische undjapanische Werften im Vergleich zu ihnen ins Hinter-treffen geraten sind. Sie haben durch Dumping, durchPreisunterbietung den Wettbewerb kaputtgemacht.Das hat dazu geführt, dass sich die Annahme einzel-ner Aufträge zum Teil kaum noch rechnet. Wir erlebenin Schleswig-Holstein eine Diskussion bei HDW. Dorthat man einen Auftrag für den Bau eines Kreuzfahrt-schiffes mit einem Volumen von 1,3 Milliarden DMhereingeholt. Jetzt rechnet der neue Eigentümer des Un-ternehmens nach, ob denn überhaupt noch Geld übrigbleibt. Wir wissen in der Tat, dass sich in den vergangenenJahren Schiffbauaufträge nur noch dann gerechnet ha-ben, wenn die Werft Möglichkeiten hatte, an andererStelle einen Ausgleich zu schaffen. Das wurde bei-spielsweise durch Aufträge aus dem Marineschiffbauerreicht. Die Aufträge für U-Boote, für Fregatten und fürsonstiges Gerät der Bundesmarine konnten offensicht-lich besser abgerechnet werden, als das bei den Spannenim Handelsschiffbau möglich ist.Diese Möglichkeit scheint jetzt nicht mehr gegebenzu sein, auch wenn ich nicht bestreiten will, dass manden U-Boot-Bau unterstützen soll – das geschieht mitunserer Zustimmung – und dort, wo es nötig ist, mit ent-sprechenden Partnern auch Export betreiben soll. DerKollege Börnsen hat darauf hingewiesen. Es ist ja ganzinteressant an der Situation Schleswig-Holsteins, dass,nachdem es einmal einen Blaupausen-Untersuchungs-ausschuss gab – da ging es um U-Boote für Südafrika –die Bundesregierung ja inzwischen genehmigt hat, dassU-Boote und Korvetten nach Südafrika geliefert werden.Aber es ist vielleicht bloß ein Schmankerl, wenn manmanchmal sagt: Manches wäre nicht passiert, wenn ...Ich behaupte heute, der Kollege Gansel wäre nie Ober-bürgermeister in Kiel geworden, wenn es diese Blaupau-sen-Affäre nicht gegeben hätte. – Nun gut.Die Werften sind in einer schwierigen Situation. Siekommen mit den Preisen nicht mehr zurecht, und wirerwarten, dass die Europäische Union, unterstützt vonder Bundesregierung, alle Schritte unternimmt, aus demBericht, den die Europäische Union im Oktober 1999über die Situation des Weltschiffbaues vorgelegt hat, dieentsprechenden Konsequenzen zu ziehen.
Dazu gehören für uns Anti-Dumping- oder Ausgleichs-maßnahmen, die geprüft werden müssen, genauso, wiesich die Möglichkeit bietet, internationale Vereinba-rungen über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmender Welthandelsorganisation, die bisher im Schiffbaunoch nicht angewendet wurden, einzusetzen und einStreitschlichtungsverfahren zu betreiben.
Wenn man das in Deutschland vorhandene Know-how erhalten will, reicht es nicht aus, den Blick nur aufdie europäische Szene und auf den Weltmarkt zu rich-ten; dann muss man sich angesichts der Tatsache, dassdas Jahr 2000 nach meiner Beurteilung ein Schicksals-jahr des europäischen Schiffbaus wird, auch fragen: Wiesieht es aus mit den nationalen Maßnahmen, die wir tref-fen können oder die wir manchmal vielleicht auch bes-ser unterlassen? Hier gibt es bei einzelnen Punkten wohldoch Anlass zu einer deutlichen Differenz.Wir haben im Haushaltsausschuss gemeinsam240 Millionen DM für Wettbewerbshilfe beschlossen.Es gibt eine Lobby über Parteigrenzen hinweg zwischenHaushaltsausschuss und Wirtschaftsausschuss – mei-netwegen nehme ich den Wirtschaftsausschuss auch zu-erst –, wenn es darum geht, die Werften zu fördern. A-ber jeder weiß – da fängt dann der Unterschied schon an–, dass im Regierungsentwurf dort Mittel nicht vorgese-hen waren. Jeder weiß auch – hier kommt der Punkt, wowir alle miteinander aktiv werden müssen, wenn wirentsprechende Ergebnisse erreichen wollen –, dass eszurzeit wieder ein Gerangel zwischen Finanzministerund Wirtschaftsminister in der Frage gibt, wann dennnun die Sperre, die ja noch verhängt worden ist und diewir nicht wollten, nämlich die Sperre über die Verpflich-tungsermächtigungen, aufgehoben wird.
Wenn man sich das Auftragsvolumen von 10 MilliardenDM anguckt – Staatssekretär Mosdorf hat darauf hinge-wiesen – und dann feststellt, die Mittel sind bis heutenicht freigegeben, es bedarf einer zusätzlichen Einver-nahme des Parlaments, dann fordere ich Sie ausdrück-lich auf, dafür zu sorgen, dass möglichst schnell der Ent-sperrungsantrag von der Regierung vorgelegt wird, da-mit die Mittel auch für diese Maßnahmen zugunsten derWerften bereitgestellt werden können.
Ich sage aber auch, dass es noch andere Gründe gibt,aus denen man einen Einbruch befürchten muss, derzum Teil sogar schon eingetreten ist. Ich habe in mei-nem Wahlkreis eine kleine Werft. Die Werft hat seit derBundestagswahl, wenn man der Presse glauben darf,keinen einzigen Auftrag bekommen. Beim letzten Be-such der Werft haben wir nachgefragt, woran das dennwohl liegen kann. Man hat uns gesagt, es fing an mit ei-ner neuen steuerrechtlichen Regelung durch das so ge-nannte Steuerentlastungsgesetz vom Frühjahr 1999.Damals wurde ein Paragraph eingeführt, der heute beiden Steuerberatern den Titel „Fallenstellerparagraph“trägt. Es ist Paragraph 2 b des Einkommensteuergeset-zes. Er verhindert die Einwerbung von Beteiligungs-kapital für den Schiffbau.
Die Verhinderung der Einwerbung von Beteiligungska-pital heißt, dass gerade die kleinen und mittleren Werf-ten durch diese Regelung nicht mehr in der Lage sind,Kapital zu sammeln, um über ihre Werft, wie das früherüblich war, möglichst viele gute Schiffe zu bauen und zuverkaufen. Ich habe damals als im Vermittlungsausschuss nocheinmal über dieses Thema geredet wurde – es war imDietrich Austermann
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7523
Herbst letzten Jahres –, Frau Simonis angeschrieben undsie gebeten, sie möge doch initiativ werden und habe ei-nen Gesetzentwurf beigefügt, mit dem man die schädli-chen Wirkungen des Paragraphen 2 b insbesondere fürkleinere und mittlere Werften wieder ausmerzen könnte.Sie hat bis heute darauf nicht geantwortet.Das passt übrigens zu dem, was über den Besuch vonGerhard Schröder in Kiel berichtet wurde. Herr Schröder hat dort gesagt – und hat sich damit auf das be-rufen, was Frau Simonis immer über Schleswig-Holsteinsagt –: Das Land hat einen weiten Weg gemacht, wegvon der Ausrichtung der Wirtschaft auf Landwirtschaftund Werften –. Dies übersieht vielfache Entwicklungenin den letzten Jahren. Damit sollte wohl suggeriert wer-den, dass für Hightech besonders viel getan wird, was si-cher falsch ist. Aber es übersieht die Tatsache, die hiermit Recht beschrieben worden ist, dass eine Fülle unse-rer Werften bei der Schiffsproduktion Hightech machen.Das neue 180-Millionen-Programm ist die dritte Fortset-zung von Programmen, die es früher immer
– ich komme gleich dazu, Herr Ronsöhr – für Förderun-gen gab, die wir im Bereich der Meerestechnik vorge-nommen haben und die leider oft, weil die Werften nichtmehr die eigene Kraft hatten, nicht ausgeschöpft wordensind. Es nutzt überhaupt nichts, neue große Programmezu machen, die sich an Adressaten richten, die damitnichts anfangen können. Das ist natürlich auch bei derLandwirtschaft mit ihren Produktivitätssteigerungen derFall, bei den Anwendungsmethoden in vielen Bereichen,auch bei der Umsetzung von Energie- und Biotechnolo-gie in einer modernen Betriebswirtschaft. Ich nenne einen weiteren Punkt, der zu kritischenBemerkungen Anlass gibt. Die Unsicherheiten über Ab-schreibezeiten für Schiffe führen zur Zurückhaltung beider Bestellung von Neubauten. Wer moderne, sichere,umweltfreundliche Schiffe will, muss es bei angemesse-nen Abschreibezeiten lassen.
Das muss beachtet werden, wenn wir jetzt über die Un-ternehmensteuerreform und die Lohn- undEinkommensteuerreform reden. Es hat sicher auch eineWirkung für den Schiffbau, gerade für kleine undmittlere Werften, wenn die degressive AfA verändertwerden soll, wenn Sonderabschreibungen für kleine undmittlere Unternehmen und nach § 32 c EStG abgeschafftwerden sollen. Dies hat zwangsläufig Wirkungen undkann nicht so einfach weggewischt werden. DieWirkungen sind in den Werften bei den Arbeitsplätzenohne weiteres leider sofort zu sehen. Ich will ein Weiteres zum Thema Wettbewerbshilfesagen. Es muss darauf gedrängt werden, dass die ständi-gen Nadelstiche, die an der einen oder anderen Stelleangesetzt werden, endlich aufhören. Ich sage das des-halb, weil die Vereinbarung zwischen Bund und Län-dern über das Programm 1999 erst in den letzten Tagendes Jahres 1999 unterzeichnet wurde – aber nicht vomLand Schleswig-Holstein. Die Landesregierung hat erstam 3. Januar 2000 das Programm für 1999 unterschrie-ben. Hier höre ich von der KfW, dass das ein absoluterNegativrekord ist. Wie will ich denn dynamisch unter-stützen, wenn die Mittel, die wir hier im Parlament be-reitstellen, nicht an den Mann bzw. an die Werftenkommen? Das muss endlich aufhören.
Es ist fahrlässig und Unfug, wenn durch interne Diskus-sionen – auch zwischen den Regierungsbehörden – dieInkraftsetzung des Programmes lange hinausgezögertwird. Ich sage das auch, damit man sieht, was die Steuer-gesetzgebung bedeutet, was die Tätigkeit in einzelnenBundesländern bedeutet, was die Schwierigkeiten derFinanzierung bedeuten. Mancher, der meint, die Werftenseien allesamt gesunde Betriebe, verkennt, dass dieRahmenbedingungen, über die wir uns gern unterhalten,besser gestaltet werden können, als das zurzeit der Fallist. Meines Erachtens gehört auch dazu, dass mancherSchiffbauauftrag, wie ich vorhin gesagt habe, nur überzusätzlichen Marineschiffbau überhaupt vernünftige Er-träge gewährleistet.Besonders schlecht geht es – dies möchte ich zumSchluss sagen – den Werften in Schleswig-Holstein.Das Land hat seit 1996 107 Millionen DM Kom-plementärmittel verweigert und dadurch Bundesmittelvon weiteren 53 Millionen DM ausgeschlagen. Das Er-gebnis: Ein Auftragsvolumen von 2,2 Milliarden DM istan den Werften des Landes Schleswig-Holstein vorbei-gegangen. Wenn also die Kieler Landesregierung – wiewir alle – mit dem Zeigefinger nach Korea zeigt, weisenvier Finger auf das eigene rot-grüne Versagen in Kielhin. Wer nicht die Mittel bereitstellt, um Angebote desBundes zu komplettieren, kann sich hinterher nicht da-rüber beklagen, dass die Situation so ist, wie sie ist. Un-sere Werften brauchen die Unterstützung einer tatkräfti-gen EU-Kommission,
einer handlungsfähigen Bundesregierung, die vom Par-lament beschlossene Hilfen rasch umsetzt, verbessertesteuerliche Rahmenbedingungen und Bundesländer, dieihren Anteil bei der Erfüllung der Aufgaben im Bereichder regionalen Wirtschaftspolitik wahrnehmen. Dannkann damit gerechnet werden, dass die Produktions-lücken, die zurzeit vorhanden sind, bis zum Jahre 2003weitgehend gefüllt werden und der deutsche Schiffbaueine Zukunft hat.
Für die SPD-
Fraktion spricht der Kollege Thomas Sauer.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Es ist schade, dass am Ende der Debat-te nun durch Herrn Austermann in erster Linie land-tagswahlpolitische Argumente hier Eingang gefundenhaben. Ich hätte mir gewünscht, wir hätten die sehr sach-Dietrich Austermann
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liche und in weiten Teilen in Übereinstimmung geführteDebatte auch so zu Ende bringen können.Die Bundesregierung wie auch die schleswig-holsteinische Landesregierung tun alles, um die Ar-beitsplätze auf den Werften und bei der Zulieferindust-rie zu sichern und zu erhalten.
Das ist eine sehr schwierige Aufgabe. Die Arbeits-platzzahlen auf den Werften sind seit vielen Jahrenrückgängig. Die Produktivitätssteigerungen errechnensich ja auch daraus, dass in erheblichem Umfang Perso-nal abgebaut wurde. Das ist ein sehr schmerzlicher Pro-zess, und ich finde es nicht besonders anständig, dieVersprechungen, die wir auch im Haushaltsplan 2000machen, bei den Werftarbeitern und in der Werftindus-trie jetzt sozusagen als unglaubwürdig darzustellen. DieWerften und die Werftarbeiter können sich auf die deut-sche Sozialdemokratie verlassen.
Immerhin geht es noch um rund 26 000 Beschäftigte inden Werften und um rund 70 000 Beschäftigte bei denZulieferindustrien. Das ist kein unwesentlicher Bereich,und man sollte mit den Ängsten dieser Menschen nichtspielen.Durch die Einstellung der Produktionsbeihilfen inden Haushalt 2000 ist – ich erwähnte es eben – die Auf-tragslage der Werften für die nächste Zeit gesichert.Diese politische Leistung zugunsten der Beschäftigten inder maritimen Wirtschaft war trotz der Konsolidierungs-anstrengungen im Haushalt möglich und zeigt, dass wir,wie ich eben schon sagte, den deutschen Schiffbau nichtim Regen stehen lassen. Wir wollen die Zukunftsmög-lichkeiten der maritimen Industrie stärken.Bei den kleineren und mittleren Werften ist die Situa-tion nach wie vor insgesamt schwieriger. Wir müssendeshalb die ökonomische Situation gerade der kleinerenund mittleren Werften ganz besonders im Auge behal-ten. Ich sage dies auch vor dem Hintergrund der Insol-venz der Husumer Schiffswerft in meinem BundeslandSchleswig-Holstein. Ich hoffe, dass sich über den Bauvon Windkraftanlagen weitere neue Beschäftigungs-chancen für die Kolleginnen und Kollegen bei der Hu-sumer Schiffswerft ergeben.Meine Damen und Herren, die Abwertung des Wonwar schon in mehreren Wortbeiträgen Gegenstand derDiskussion. Die Abwertung um 30 Prozent stand natür-lich im Zusammenhang mit der Krise der asiatischenFinanzmärkte. Das hat auch Preisvorteile für Koreageschaffen, die ganz exemplarisch in der Werftindustriedazu führen, dass Arbeitsplätze und Wachstumschancenin Europa gefährdet sind. Die Instabilität der internatio-nalen Finanzarchitektur, die sich in der asiatischen Fi-nanzkrise gezeigt hat, muss meines Erachtens auch poli-tische Konsequenzen haben.Eine engere internationale Kooperation auch in derWährungspolitik ist meines Erachtens notwendig, umwährungspolitische Stabilität zu erreichen. Das scheintmir eine wichtige makroökonomische Forderung zusein. Eine moderne Wirtschaftspolitik muss dafür sor-gen, dass die Währungsbeziehungen zwischen den gro-ßen Währungsräumen stabil sind, denn ohne stabileWeltfinanzmärkte gibt es keine stabilen Wechselkurse.Zur Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen imSchiffbau mit Südkorea müssen die ruinösen Wettbe-werbspraktiken endlich abgebaut werden. Dazu hat FrauDr. Wetzel ausführlich Stellung genommen. Ich kanndies für meine Person hier nur noch einmal bestätigen.Es ist unsere politische Aufgabe, gemeinsam mit denUnternehmen und den Gewerkschaften der maritimenIndustrie eine Zukunftsperspektive für diese Branche zueröffnen. Dazu brauchen wir ein Bündel von Maßnah-men. Sie betreffen zum einen die Stabilisierung derWährungsräume, aber auch den Abbau von Lohndum-ping und den Abbau von Beistandskrediten zum Erhaltvon Überkapazitäten, wie es zum Beispiel in Korea derFall ist.Andere Maßnahmen betreffen notwendige Anpassun-gen in Europa und beim deutschen Schiffbau über diebereits gemachten Anstrengungen hinaus. Denn bei allerrichtigen Kritik: Der asiatische Raum und Südkoreableiben natürlich selbst unter fairen Wettbewerbsbedin-gungen starke Mitbewerber, denen der europäischeSchiffbau mit Produktivität und hoher Qualität begegnenmuss. Ich glaube, gerade in Schleswig-Holstein, HerrAustermann, zeigen sich viele positive Beispiele, wieUnternehmungen, wie Werften und auch die Landesre-gierung versuchen, in die Zukunft zu schauen und dieseWettbewerbsbedingungen anzunehmen.
Positive Beispiele finden sich bei der Unternehmens-kooperation, wie sie etwa Lindenau in Kiel und Büttneraus Bremen praktizieren, die für sich damit Synergievor-teile realisieren. Sie zeigen sich ebenso in einer effekti-ven Förderung von Innovation und Forschung, dienatürlich auch für diese Branche notwendig ist. Daswurde schon von einigen hier angesprochen.Als Abgeordneter aus Schleswig-Holstein freue ichmich, dass gerade in meinem Heimatland neben denWettbewerbshilfen des Landes, die komplementär ge-leistet werden, und den Landesbürgschaften gerade indiesem Bereich viel für die Werften getan wird. FürSchleswig-Holstein hat der letzte Bericht zur Lage derSchiffbauunternehmen festgestellt, dass ein dichtesNetzwerk der Kooperation zwischen Schiffbauunter-nehmen und Forschungseinrichtungen entstanden ist.Das ist eine erfreuliche, weil wichtige positive Entwick-lung. Ich erwähne hier exemplarisch, aber nahe liegend,weil aus meinem Wahlkreis kommend, die Kooperationder schleswig-holsteinischen Werften mit dem GKSS-Forschungszentrum in Geesthacht im Bereich neuer Ma-terialien und ihrer Verarbeitung. Insbesondere freue ich mich natürlich – ich muss dashier zum dritten Mal positiv erwähnen – über das jüngstangekündigte 180-Millionen-DM-Forschungsprogrammfür Schiffbau und Meerestechnik. Auch das wird helfen,Thomas Sauer
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7525
die Produktivität in unseren Werften zu steigern undneue Innovationsprozesse zu realisieren. Ich glaube,dass die maritime Industrie mit gemeinsamen Anstren-gungen und mit einem bisschen guten Willen eine guteChance hat zu bestehen. Dazu braucht sie faire Wettbe-werbsbedingungen auf den Weltmärkten. Die Bundesre-gierung ist aufgefordert, wie von Herrn Mosdorf hierangekündigt und bestätigt, diese fairen Wettbewerbsbe-dingungen herzustellen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen.
Tagesordnungspunkt 5 a: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem
Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/
Die Grünen zu einer Initiative gegen die Auswirkungen
der asiatischen Finanzkrise und des internationalen Sub-
ventionswettlaufs auf die deutsche und europäische
Werftindustrie; Drucksache 14/1233. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/540 anzuneh-
men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 5 b: Zweite Beratung und
Schlussabstimmung über den Gesetzentwurf der Bun-
desregierung zum Rahmenabkommen vom 28. Oktober
1996 über den Handel und die Zusammenarbeit zwi-
schen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mit-
gliedstaaten einerseits und der Republik Korea anderer-
seits; Drucksache 14/1200. Die Fraktion der PDS hat die
Rücküberweisung des Gesetzentwurfs an den Ausschuss
für Wirtschaft und Technologie beantragt. Wir stimmen
zunächst über diesen Antrag ab. Wer stimmt dafür? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag auf
Rücküberweisung an den Ausschuss ist mit den Stim-
men des Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt.
Wir stimmen deshalb jetzt über den Gesetzentwurf
ab. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt auf Drucksache 14/2064, den Gesetzentwurf un-
verändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der
PDS angenommen.
Zusatzpunkt 5: Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der
Fraktion der CDU/CSU zu einer Initiative gegen die
Auswirkungen der asiatischen Finanzkrise und des in-
ternationalen Subventionswettlaufs auf die deutsche und
die europäische Werftindustrie; Drucksache 14/2538.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
14/400 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für die Be-
schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Dann ist diese Beschlussempfehlung einstimmig ange-
nommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kurt-
Dieter Grill, Gunnar Uldall, Dr. Klaus W.
Lippold , weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Deutschland muss weiterhin in der Reaktor-
sicherheitsentwicklung eine führende Rolle
einnehmen – Zusagen an Frankreich müssen
eingehalten werden
– Drucksache 14/1212 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Dr. Paul Laufs für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Der schwerste Reaktorunfall in derwestlichen Welt geschah am 28. März 1979 in Harris-burg, USA. Der 1 000-Megawatt-Druckwasserreaktordes Kraftwerks wurde bei diesem weit über die Ausle-gungsstörfälle hinausgehenden Kernschmelzunfall völligzerstört. Personen- oder Umweltschäden waren nicht zubeklagen. Die inhärenten und passiven Sicherheitsvor-kehrungen verhinderten wirksam eine Umweltkatastro-phe. Der Reaktorunfall in Harrisburg war der Anlass füreine aufwendige und intensive Erforschung und Verbes-serung der kerntechnischen Sicherheit in den 80er- und90er-Jahren. Heute kann man feststellen, dass die Ein-trittswahrscheinlichkeit eines Reaktorunfalls, vergleich-bar dem Ereignis von Harrisburg, bei den Leistungsreak-toren westlicher Bauart um den Faktor 1 000 gesunkenist. Für die Kernkraftwerke der westlichen Industrie-staaten liegt eine Erfahrung mit über 6 000 Anlagenbe-triebsjahren vor. Die deutschen Kernkraftwerke sind durch umfangrei-che Nachrüstungen, die Investitionen in Höhe vielerMilliarden DM erforderten, auf ein ständig verbessertes,sehr hohes Sicherheitsniveau gebracht worden. Deutschestaatliche Stellen, deutsche Wissenschaftler und Kraft-werksbetreiber waren immer ganz vorne bei den Vor-kämpfern eines höchstmöglichen Sicherheitsstandards.Wir in der CDU/CSU wollen, dass dies im Interesse derSicherheit unserer Bevölkerung so bleibt.
Viele Hundert deutsche Wissenschaftler haben in ih-rem Memorandum zum geplanten Kernenergieausstieggesagt,Thomas Sauer
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7526 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
dass angesichts der enormen Fortschritte derSicherheitstechnik alte Parteitagsbeschlüsse auf ihreheutige Berechtigung überprüft werden müssten. Dierot-grüne Mehrheit lehnt dies ab, weil sie nicht zwischenFakten und Meinungen unterscheiden will. Für sie ist dieKerntechnik grundsätzlich nicht beherrschbar unddeshalb der sachlichen Auseinandersetzung nicht wert.Neue Erkenntnisse über inhärent sichereHochtemperatur-, Siedewasser- und Druckwasser-reaktorlinien interessieren sie grundsätzlich nicht mehr.Dies ist töricht und unverantwortlich.
Bei diesen neuen Reaktortechniken kann der größtedenkbare Unfall, die Kernschmelze, entweder ausGründen der Physik nicht mehr eintreten oder durchbauliche und technische Vorkehrungen sicher beherrschtwerden. Wir sind überzeugt, dass die Kernenergie imHinblick auf den ungeheuren Energiebedarf der Men-schen in den Entwicklungsländern ebenso wie in den In-dustriestaaten und angesichts der Herausforderungen desKlimaschutzes eine Renaissance erfahren wird. Es wird ja nicht bestritten, dass heute und in denkommenden Jahren angesichts des auf den liberalisiertenMärkten der Europäischen Union bestehenden Überan-gebots an elektrischem Strom kein Bedarf an einemneuen Kernkraftwerk besteht. In etwa zehn Jahren wer-den aber Entscheidungen über die Errichtung neuerKraftwerke anstehen. In Japan, in Frankreich, in denUSA und in vielen anderen Ländern denkt man nichtdaran, die Kernenergie als Energieträger der Zukunftabzuschreiben. Neue weiterentwickelte Reaktoren sindübrigens durchaus wettbewerbsfähig mit Kohle und Gas,wenn man Abschreibungszeiten von 20 Jahren ansetzt.Die Option der Kernenergienutzung muss auch fürDeutschland offen gehalten werden. Dazu gehört, dassausreichender Nachwuchs für die nukleare Wissenschaftund Forschung sowie für das Fachpersonal in den kern-technischen Anlagen ausgebildet wird. Wir müssen indiesem Bereich jungen qualifizierten Menschen eineZukunftsperspektive bieten.
Selbst bei einem Ausstiegsszenario sind zahlreicheFachkräfte für den Betrieb und die Entsorgung kern-technischer Einrichtungen erforderlich. Aber der Ausstieg ist keine Lösung. Auch wenn inabsehbarer Zeit keine neuen Kraftwerke gebaut werden:Der Weiterbetrieb der bestehenden Kraftwerke ist si-cherheitstechnisch auch auf lange Zeit kein Problem.Durch Nachrüstungen kann der aktuelle Stand der fort-geschrittenen Technik für lange Zeit praktisch aufrecht-erhalten werden. Lebensdauerverlängerungen von 40 auf60 Jahre sind sicherheitstechnisch kein Problem.
Sie haben eigentlich nur betriebswirtschaftliche Gren-zen.Wenn gegenwärtig der Streit darum geht, ob eineLaufzeit von 25, 30 oder 35 Jahren politisch akzeptabelist, bestehende Kernkraftwerke also noch für viele Jahrebetrieben werden können, kann eine grundsätzlich unbe-herrschbare Reaktorsicherheit den Atomausstieg nichtbegründen. Wir haben auch noch keinen grünen Um-weltminister erlebt, der eine Betriebsgenehmigung nach§ 17 Abs. 5 des Atomgesetzes wegen einer erheblichenGefährdung widerrufen hätte. Das ist mir bis jetzt nichtbekannt.Meine Damen und Herren, der CDU/CSU geht es umdie Erhaltung einer wichtigen Zukunftsoption und umdie weitere Verbesserung des Sicherheitsstandardsdeutscher Kernkraftwerke.
Dazu bedarf es im gegenwärtigen politischen Umfeldder Zusammenarbeit mit Frankreich. Deutsche und französische Unternehmen haben ge-meinsam ein neues, inhärent sicheres Reaktorsicher-heitskonzept für den Europäischen Druckwasserreaktor,den EPR, entwickelt.
Die Entscheidung über die Errichtung einer Prototypsauf einem französischen Standort in absehbarer Zeit er-scheint möglich.
Für eine weitere deutsch-französische Kooperation mussdie deutsche Seite ihre Zusagen gegenüber Frankreicheinhalten, also auch die Zusagen der deutschen Bundes-regierung zur Beurteilung der EPR-Auslegung und dieErarbeitung gemeinsamer Leitlinien für die Sicherheitkünftiger Druckwasserreaktoren.
Durch die Vereinbarung der früheren Bundesum-weltministerin Merkel mit dem französischen Industrie-ministerium ist ein gemeinsames deutsch-französischesEPR-Gutachterverfahren eingerichtet worden.
Zum ersten Mal wurde länderübergreifend gemeinsaman Regeln, Richtlinien und Vorschriften zur Reaktorsi-cherheit gearbeitet. Dies ist eine einzigartige Chance,deutsches und französisches Sicherheitsdenken zusam-menzuführen und für ganz Europa und darüber hinausMaßstäbe zu setzen. Diese Chance und das deutscheDr. Paul Laufs
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7527
Mitspracherecht bei der zukunftsweisenden neuen Ent-wicklung eines EPR dürfen nicht verspielt werden.In der Sitzung des Deutsch-Französischen Direktori-ums vom 16. Dezember vergangenen Jahres hat der Ver-treter des Bundesumweltministeriums mitgeteilt, dassder deutsche Bundesumweltminister nicht mehr bereitsei, die gemeinsamen Arbeiten an neuen Sicherheitsan-forderungen fortzuführen,
die bereits durch die Entlassung der früheren RSK au-ßerordentlich erschwert worden waren. Die rot-grüneBundesregierung hat das deutsch-französische Verhält-nis bereits durch ihr unerhörtes Verhalten im Zusam-menhang mit den Wiederaufarbeitungsverträgen und derRückführung von Glaskokillen mit deutschen radioakti-ven Abfällen außerordentlich belastet.
Mit dem vorliegenden Antrag fordert die Fraktion derCDU/CSU die Bundesregierung auf, deutsche Regie-rungszusagen und Vereinbarungen gegenüber Frank-reich einzuhalten. Es ist bedrückend, dass solche Anträ-ge überhaupt gestellt werden müssen.
Für die SPD-
Fraktion spricht nunmehr der Kollege Horst Kubatschka.
Meine Damen und Her-ren! Sehr geehrter Herr Präsident! Wir behandeln heutein erster Lesung einen kurzen, nicht knackigen, dafüraber dürftigen Antrag der CDU/CSU-Fraktion. Es gehtum die Entwicklung des Europäischen Druckwasserre-aktors und um den Traum einer Renaissance der Kern-energie, wie wir gerade gehört haben. Um es klar zu sa-gen: Zusagen der rot-grünen Regierung an Frankreichwerden natürlich eingehalten. Genauso aber dürfte inFrankreich bekannt sein, dass die rot-grüne Koalitionden Ausstieg aus der Kernenergie durchführen wird.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der EPR hätte beiuns keine Chance, genehmigt zu werden, dies nicht nurdeswegen, weil wir den Einstieg in den gesetzlichenAusstieg noch in diesem Jahr vollziehen werden, son-dern auch, weil wir keinen Europäischen Druckwasser-reaktor brauchen. Wir brauchen den Einsatz von erneu-erbaren Energien.
Deswegen haben wir das Gesetz über erneuerbare Ener-gie in den Bundestag eingebracht.Der EPR wäre in Deutschland nicht genehmigungsfähig,und zwar wegen des novellierten Atomgesetzes.Ich darfSie nur an § 7 – Genehmigung von Anlagen – Abs. 2 averweisen. Im Gesetz – es wurde von Ihnen auf denWeg gebracht und beschlossen – heißt es an der Stelle,dass bei einem Unfall, selbst bei einem GAU, keine Ra-dioaktivität aus einem geschlossenen Gebäudegeländeaustreten darf. Dies wäre der absolut sichere Kernreak-tor. Es hat ihn bisher nicht gegeben und es wird ihn auchin Zukunft – selbst bei den jetzigen technischen Lösun-gen – nicht geben. Aus diesem Grund wird der Europäi-sche Druckwasserreaktor in Deutschland nicht genehmi-gungsfähig.Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Deutschland er-folgt der Ausstieg bereits; darauf wurde bereits hinge-wiesen. Seit vielen Jahren wird kein neues Kernkraft-werk mehr gebaut. Grund ist nicht nur die enorme Über-kapazität in Deutschland und in der EU. Die Bürgerin-nen und Bürger wollen mehrheitlich nach wie vor denAusstieg. Auch den Stromherstellern ist klar: Bei dengeltenden Sicherheitsstandards für Neuanlagen wird derAtomstrom zu teuer. Einen niedrigeren Sicherheitsstandwerden Sie ja nicht befürworten, liebe Kolleginnen undKollegen von der CDU/CSU. Ein „Atomkraftwerk light“werden Sie nicht befürworten.
– Weil du gerade die 60 Jahre genannt hast, Monika: EinKraftwerk wäre dann ein Oldtimer und normalerweisefährt niemand einen Oldtimer im Verkehr. Das wird unsals technische Lösung empfohlen.Auch die Hersteller der Atomkraftwerke ziehen in-zwischen die Konsequenzen. Die Firma Siemens trenntsich von ihren Nuklearaktivitäten und bringt sie mit derFirma Framatome in eine gemeinsame Tochter ein. DieNuklearaktivitäten gehören nicht mehr zum Kernge-schäft.
Auch die Firma ABB trennt sich von ihren Nuklear-aktivitäten, man will sie verkaufen. Das heißt auch fürdie Firma ABB: Nukleartechnik gehört nicht mehr zumKerngeschäft, und dies, obwohl man sich zusammen mitSüdafrika in einer hoffnungsfrohen Entwicklung beimHochtemperaturreaktor wähnt. Zwei Weltkonzerne zie-hen sich aus der Kernenergietechnik zurück. Sie wollendas Risiko vermindern, sie trennen sich von der nichtmehr zukunftsfähigen Kernenergie.Ich möchte noch auf einen anderen Aspekt hinweisen.Wir sollten eigentlich die Menetekel beachten. DieSturmkatastrophe um die Jahrtausendwende war so einMenetekel. Dabei ist klar, der Zeitpunkt war rein zufäl-lig und so etwas kann sich leider jederzeit wiederholen.Diese Naturkatastrophe hat belegt, dass die Megastruk-turen der Stromversorgung zu anfällig sind. Sie sind inbestimmten Situationen nicht mehr einsatzfähig und be-herrschbar.Dr. Paul Laufs
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7528 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Werden sie massiv gestört, dauert es zu lange, bis siewieder einsatzfähig sind. Ein Katastrophensturm hat dieMenschen im wahrsten Sinne des Wortes frieren lassen.Von dem verheerenden Sturm war vor allem Frankreichbetroffen: 3,5 Millionen Menschen saßen im Dunkeln.Der Stromausfall hat aber auch klargemacht, in welchertotalen Abhängigkeit von dieser Energieform wir unsbefinden. Ohne Strom geht gar nichts.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, diefranzösischen Erfahrungen einmal auf unser Leben, aufSie persönlich zu übertragen. Ich habe das bei mir über-prüft: Ich säße in meiner Wohnung – das Dunkle wäregar nicht so schlimm – und würde erbarmungslos frie-ren, weil meine Heizung nicht funktionieren würde. Ichhabe einmal durchgespielt, wie es bei meinen Freundenausschaut und ob ich bei denen Unterschlupf findenkann: Ebenfalls Fehlanzeige, sie alle sind auf die Strom-versorgung angewiesen. Kein Einziger hat Heizungen,die nicht auf Elektrizität angewiesen wären.
– Ja, aber ich appelliere nicht, jetzt plötzlich Kachelöfenzu bauen. Vielmehr appelliere ich, dezentrale Strom-strukturen aufzubauen, die nicht so anfällig sind.
Es ist klar, dass diese dezentralen Produktionsstrukturenmiteinander vernetzt werden müssen. Manche mögen sagen, dieser Sturm sei ein einmali-ges Ereignis gewesen. Ich hoffe auch, dass der SturmLothar für lange Zeit ein einmaliges Erlebnis sein wird.Aber das ist auch nur Prinzip Hoffnung. Die Klimafor-schung zeigt ganz klar: Die bereits stattgefundene Tem-peraturerhöhung hat als erste Folge, dass die Windge-schwindigkeiten deutlich angestiegen sind. Sturmkatast-rophen treten häufiger auf; das beweisen die Statistikender Versicherungsunternehmen.Ich möchte auch ganz kurz auf die beiden Forderun-gen des Antrages eingehen – es sind ja nur zwei.Die erste Forderung beinhaltet, dass die gegebenen Zu-sagen eingehalten werden. Hier ist natürlich zu fragen,um welche Zusagen es sich handelt? Es ist klar: Die rot-grüne Koalition wird kein Kern-kraftwerk mehr genehmigen. Genauso klar ist: Wir wer-den noch heuer ein Ausstiegsgesetz in den Bundestageinbringen und beschließen. Der Bundesrat wird diesesGesetz nicht verhindern können.
Dieses Gesetz wird entweder im Konsens oder im Dis-sens mit den Betreibern der Kernkraftwerke beschlossenwerden. Ein Dissensgesetz ist machbar und wird andersaussehen als ein Konsensgesetz. Ich hoffe, dass einKonsens noch möglich ist, obwohl wir nicht mehr vielZeit dafür haben.
Selbstverständlich werden wir aber auch den Franzo-sen kein Sicherheits-Know-how verweigern, denn jedeMaßnahme, die zur Erhöhung von Anlagensicherheitführt, ist sinnvoll. Die erste Forderung dieses Antragsläuft also total ins Leere. Die zweite Forderung finde ich interessant. Man musssich auch hier wieder fragen: Was bedeutet die vageFormulierung „Vereinbarung“? Trotzdem finde ich dieForderung sehr interessant. Dieser Bericht hätte aber nurdann Neuigkeitswert, wenn das berichtende MinisteriumEinblick in die Verträge zwischen der Cogema und denEVUs bzw. den britischen Aufbereitern hätte nehmenkönnen. Dann wäre ein solcher Bericht sinnvoll. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Unionspar-teien, Sie hätten die Möglichkeiten, auf die Betreiber derAtomkraftwerke einzuwirken, damit diese die Verträgeveröffentlichen. Trotzdem stellt sich eine spannende Frage: Wird inFrankreich der Europäische Druckwasserreaktor gebaut?Dies ist nicht unsere Entscheidung. Er wird nur danngebaut, wenn er wirtschaftlich ist. Dies ist dann der Fall,wenn hohe Subventionen fließen, um die Wirtschaft-lichkeit zu erreichen. In Frankreich sind diese hohenSubventionen nur deswegen möglich, weil der französi-sche Markt nicht liberalisiert ist und die Liberalisierungauch in naher Zukunft nur schleppend vorangehen wird.
Beim liberalisierten europäischen Strommarkt, auf demsich die EdF voll dem Wettbewerb stellen müsste, wäreder Europäische Druckwasserreaktor chancenlos. Es ist eigentlich schon erstaunlich, mit welcherLangmut die Europäische Union die so genannte Libe-ralisierung in Frankreich hinnimmt. Nach wie vor hatein Stromkonzern als Monopolist das alleinige Sagen,und jede ernsthafte Liberalisierung wird im Keim er-stickt. Dieser Staatskonzern nützt unsere Liberalisie-rung, um in den deutschen Strommarkt zu drängen. Üb-rigens, in Frankreich zahlen die kleinen Verbraucher da-für die Zeche in Form von hohen Preisen. Darüber hin-aus bietet die baden-württembergische Landesregierungden Franzosen die Möglichkeit, auf dem deutschenStrommarkt Leistungen anzubieten, indem sie privati-siert.
Bei uns wird diskutiert, welche Farbe der Strom hatund welcher Preis dafür gezahlt werden muss. Die Dis-kussion über die Qualität des Stroms, über Versorgungs-sicherheit, über Kundennähe und über den Service beieintretenden Pannen findet bei uns nur am Rande statt.Vor allem wäre es wichtig, zu verhindern, dass es zulängeren Stromausfällen kommt, wie sie zum BeispielHorst Kubatschka
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7529
durch Sturmkatastrophen, die wir in Frankreich erlebthaben, verursacht werden können. Es ist schon erstaunlich, dass die Erfahrungen inNeuseeland, wo die Hauptstadt über mehrere Monateohne eine sichere Stromversorgung war und die Erfah-rungen aus Buenos Aires, wo Ähnliches geschah, beiuns keinen Widerhall finden. Es wird Zeit, dass wir dieLiberalisierung des Strommarktes auch unter diesen Ge-sichtspunkten ernsthaft diskutieren. Die Unionsparteien haben mit ihrem Antrag wiedereinmal bewiesen, dass sie die Zeichen der Zeit nicht ver-standen haben. Atomkraft ist nur eine Übergangsener-gie. Zu dieser Meinung hatte sich unter den Eindrückenvon Tschernobyl auch einmal die CDU durchgerungen.Auch damals hieß es, die Atomkraft sei nur eine Über-gangsenergie. Aber inzwischen wird sie wieder von denUnionsparteien gepuscht. Die Rede vorhin hat es bewie-sen. Sie setzen damit das falsche Signal. Es ist wichtig, dass wir in eine andere Energieversor-gung mit dezentralen Strukturen und erneuerbaren Ener-gien einsteigen.
Wir müssen eine Zeit einläuten, die den erneuerbarenEnergien eine Chance gibt. Deswegen erfolgt der Ein-stieg in den Ausstieg. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht die Kollegin Birgit Homburger.
Herr Präsident! MeineKolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst einpaar grundsätzliche Bemerkungen zu diesem Antragmachen, der ja ein paar Tage alt ist,
an dem man aber sehr deutlich die Situation, in der sichdie Bundesregierung befindet, aufzeigen kann.Es bestehen einige Grundlagen für eine Wirtschafts-politik, die sich erfolgreich den Herausforderungen derGegenwart stellt, und zwar den Herausforderungen andie Weltwirtschaft im Wandel. Berechenbarkeit, Zuver-lässigkeit und Stabilität, das sind die Grundsätze, die zugelten haben. Deswegen haben Global Player auf dernationalen und auf der internationalen Ebene zu RechtAnspruch auf eine berechenbare und zuverlässige Poli-tik. Sie entscheiden über Investitionen und damit auchüber Arbeitsplätze in Deutschland. Deswegen haben dieUnternehmen Anspruch auf Vernunft, Berechenbarkeitund Zuverlässigkeit, und zwar auch gegenüber dieserBundesregierung.
Dies gilt auch dann, wenn es um den Bereich der Kern-energie geht – gerade hier, denn der bereits entstandeneVertrauensschaden ist hoch.Monatelang beraten Staatssekretäre der Bundesregie-rung über die verfassungsrechtlichen Konsequenzen desAtomausstiegs. Gestern sollte das Ergebnis nun endlichvorliegen. Eine verunsicherte Öffentlichkeit hat ge-spannt auf das Ergebnis gewartet – nichts! Nichts sollüber die Ergebnisse der Beratungen bekannt gemachtwerden, mit denen die Bundesregierung in 14 Tagen dievon ihr so titulierten Gespräche zum Energiekonsens inDeutschland führen will. Es handelt sich also um ge-heimnisumwitterte Vorbereitungen auf einen faulenKompromiss.Was ist mit den Energieversorgern? Sie dürfen weiterrätseln. Plant die Bundesregierung eine verfassungswid-rige Enteignung? Auf wie lange Restlaufzeiten dürfensie eigentlich hoffen? Oder müssen sie fürchten, dem-nächst von ihren Aktionären verklagt zu werden? In Bezug auf die Genehmigung von Atommülltrans-porten zeigt sich dasselbe Bild: Müssen sich die Atom-kraftwerksbetreiber weiterhin auf rechtswidrige Schika-nen einstellen? Droht etwa eine Verstopfung der Kern-kraftwerke? Der Bundeskanzler höchstpersönlich hat jaschließlich bei früheren Konsensgesprächen gesagt, dasser nicht zulassen werde, dass eine solche Verstopfungs-strategie gefahren werde. – Alles nur Schall und Rauch.Die F.D.P. erwartet, dass sich die Energieversorgerkein zweites Mal ins Boot ziehen lassen, wenn es derRegierung wieder einmal darum geht, ihr rot-grünes Ge-sicht zu wahren.
Wir fragen die deutsche Öffentlichkeit, ob es sinnvollsein kann, die Kraftwerksbetreiber zu zwingen, strah-lenden Müll auf ihrem Gelände abzulagern, obwohl un-ter Tage Lagerstätten erschlossen sind, die eine weitausgrößere Sicherheit bieten,
oder Atommüll auf Halde zu legen, obwohl seit langemrechtskräftige Vereinbarungen zur Wiederaufarbeitungvorliegen. Dies kann energiepolitisch nicht vernünftigsein.
Im Deutschen Bundestag fand eine entsprechendeAnhörung statt,
Horst Kubatschka
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7530 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
die ergeben hat, dass es keine sachlichen Gründe mehrgibt, Transportgenehmigungen zu verweigern.
Deswegen fragen wir die Bundesregierung: Wannund zu welchen konkreten Bedingungen werden eigent-lich wieder Transportgenehmigungen erteilt?
Wo bleibt das Entsorgungskonzept? Was sollen wir un-seren Partnern im Ausland sagen, wenn sie uns nach derVerlässlichkeit der deutschen Bundesregierung fragen?
Uns allen ist die Peinlichkeit noch schmerzlich in Er-innerung. Berechenbarkeit und Zuverlässigkeit der Poli-tik nach Lesart der Bundesregierung hieß seinerzeit:Seht her, liebe Freunde in Europa! Wenn wir meinen,aus der Atomenergie aussteigen zu müssen, dann ist dieshöhere Gewalt, die euch in der Gestalt des deutschenUmweltministers gegenübertritt. Briten und Franzosenmussten die deutsche Bundesregierung daran erinnern,dass Verträge eingehalten werden müssen, ob auf natio-naler oder auf internationaler Ebene, ob es einem passtoder nicht.
Und der Bundeskanzler ruderte zurück. Dies war aller-dings vergebens; denn der Vertrauensschaden, der sei-nerzeit entstanden war, konnte kaum mehr beseitigtwerden. Die Bundesregierung weiß aber ganz genau:Nicht einmal einer von vier Wählern in Deutschland un-terstützt die Attitüde von Rot-Grün.
Der Atomausstieg soll um jeden Preis vollstreckt wer-den, obwohl die Bundesregierung auf die entscheiden-den Fragen der energiepolitischen Zukunft keine Ant-wort weiß.Das CO2-Ziel von Kioto – kein Konzept. EnergetischeVersorgungssicherheit – kein Konzept. Entsorgung –kein Konzept.
Damit ergibt sich selbst jenseits der gravierenden ver-fassungsrechtlichen Probleme auch aus umwelt- und e-nergiepolitischer Sicht der klare Befund: Der sofortigeAtomausstieg ist nicht zu verantworten.
Frau Kollegin
Homburger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Peter Dreßen?
Ja, bitte.
Frau Kollegin Homburger, Sie
haben gerade erzählt, es sei niemand außer Rot-Grün
ernsthaft gegen die Kernenergie. Sie stammen ja aus
Baden-Württemberg. Könnten Sie vielleicht einmal ei-
nen kleinen Unterricht bei Ihrem Parteifreund Dr. Hans-
Erich Schött nehmen, der acht Jahre im Landtag saß,
und sich mit ihm einmal über Gefahren und Risiken von
Atomkraftwerken unterhalten? Denn er war einer der
führenden Männer aus der F.D.P., der damals das Kern-
kraftwerk Wyhl verhindert hat. Wären Sie bereit, sich
einmal mit einem Ihrer Parteifreunde darüber zu unter-
halten?
Herr Kollege, ich unter-halte mich pausenlos mit meinen Parteifreunden,
durchaus auch sehr kontrovers, ob Sie sich das vorstel-len können oder nicht. Wir haben uns intensiv mit die-sen Fragen auseinander gesetzt. Sie sagen, Atomenergie solle Übergangsenergie sein.Darin kann ich Ihnen dann zustimmen, wenn man einklares Konzept für energetische Versorgungssicherheitin Deutschland hat, wenn man sagen kann, wie man dieCO2-Minderung bei abgeschalteten Atomkraftwerken inden Griff kriegen will, und wenn man sagen kann, wiedie Steigerung bei den regenerativen Energien, die Sieanstreben, tatsächlich erfolgen soll, wenn man also einKonzept hat, das funktioniert. Das haben Sie in keinerWeise. Solange man ein solches Konzept nicht hat, kannman nicht einfach sagen: Wir steigen aus der Atomener-gie aus.
Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, ihreHaltung zum Europäischen Druckwasserreaktor zu ü-berdenken. Es handelt sich nämlich in diesem Fall umein deutsch-französisches Entwicklungsprojekt mit zu-kunftsweisenden Impulsen für den weltweiten techni-schen Fortschritt bei der Reaktorsicherheit. Nur durchkonstruktive Mitarbeit an internationalen Projekten kannDeutschlands Vorreiterrolle, kann der Einfluss auf dieEntwicklung kerntechnischer Sicherheit weltweit erhal-ten bleiben. Ich denke, das müssen wir als Bundes-republik Deutschland tun.
Berechenbarkeit und Zuverlässigkeit der Politik, dasist die Gretchenfrage für jede Investition und erst rechtBirgit Homburger
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7531
für jede Forschungsinvestition im europäischen Bin-nenmarkt.
In politischer Verantwortung auch für den Arbeitsmarktgeht es letztlich immer um die Qualität Deutschlands alsWirtschaftsstandort und als Vertragspartner in einer glo-balisierten Welt. Dabei ist die Bundesregierung auf dembesten Wege, das Ansehen Deutschlands gänzlich zuruinieren.
Die F.D.P. unterstützt den vorliegenden Antrag. Wirfordern die Bundesregierung auf, endlich darüber zu be-richten, wie sie in der Frage des Transports abgebrannterBrennelemente weiter zu verfahren gedenkt. Wir wollenvon der Bundesregierung auch wissen, wie sie den aufnationaler und auch auf internationaler Ebene entstande-nen Vertrauensschaden zu begrenzen gedenkt. Schaffen Sie die Voraussetzungen dafür, dassDeutschland seinen Beitrag zum internationalen techni-schen Fortschritt im Bereich der Reaktorsicherheit wei-terhin leisten kann! Reichen Sie trotz aller Ideologie derübrigen Welt die Hand als kooperativer Partner mit ei-nem Bewusstsein für globale Verantwortung! Lassen Siedie Gelegenheit zu einem deutsch-französischen Projektnicht zum Opfer Ihres Verständnisses von höherer Ge-walt werden!Danke.
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin Michaele
Hustedt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sindheute wieder zu später Stunde unter uns. Die Presse hat,glaube ich, schon Feierabend gemacht. „Phoenix“ läuftauch nicht mehr. Das ist eine Chance, eine ehrliche De-batte über den Stand der „Zukunftstechnologie“ Atom-kraft zu führen. Allerdings muss ich sagen, dass ich mir nicht sicherbin, ob Sie von der CDU zurzeit in der Lage sind, einesolche ehrliche Debatte zu führen.
Bei der Ökosteuerkampagne, die Sie im Augenblick fah-ren, sinken alle, selbst die so genannten Modernisiererwie Rühe und Merkel, auf Hintzes Rote-Socken-Niveauhinab. An einer sachlichen Politik sind Sie anscheinendzurzeit nicht interessiert. Sie betreiben mit der Ökosteuerkampagne einen absolutdreisten Populismus. Sind Sie sich nicht zu schade, dieBevölkerung gegen den Umweltschutz in Stellung zubringen?
Das werden wir mit uns nicht machen lassen. Vor die-sem Hintergrund habe ich meine Befürchtung geäußert –sie ist die durch die Redebeiträge bestätigt worden ist,ich bedauere das –, dass trotz der späten Stunde leiderkeine ernsthafte Debatte über die Frage „Hat der EPReine Zukunft oder nicht?“ möglich ist. Ich möchte noch etwas zu einigen Punkten Ihres An-trags sagen. Der erste Punkt betrifft Folgendes: DieBundesregierung hat keinerlei Zusagen für den Bau desEPR gegeben. Wenn Sie das behaupten – dies tun Sie inIhrem Antrag –, dann müssen Sie dies belegen.
Dies haben Sie bisher nicht getan. Es stimmt, dass sichdie Betreiber vor langer Zeit – noch vor Einführung desWettbewerbs – darauf verständigt haben, in beiden Län-dern einen Antrag zu stellen. Aber dies haben sie nichtgetan. Auch eine Vereinbarung zwischen den Industrie-vertretern würde eine Bundesregierung in keiner Weisebinden. Ich weiß nicht, ob die damalige, von Ihnen ge-stellte Bundesregierung da irgendwie herumgemauschelthat. Aber selbst eine solche Mauschelei würde die jetzi-ge rot-grüne Bundesregierung nicht daran binden, sichfür den Bau des EPR einzusetzen. Deswegen werden wires auch nicht tun.
Zweiter Punkt. Herr Laufs hat wieder die Mär vondem inhärenten Reaktor erzählt. Sie sind anscheinendnicht auf dem Laufenden. Der EPR hat die Erwartungenbei weitem nicht erfüllt. Der EPR ist nicht inhärent.Während der laufenden Erforschung des Reaktors istfestgestellt worden, dass bei diesem Reaktor eine Kern-schmelze nicht verhindert werden kann. Man hofft, dassman eine Kernschmelze auf die örtliche Schutzzelle be-grenzen kann. Das Öko-Institut kommt in seiner Analy-se zu einer desaströsen Aussage über die tatsächliche Si-cherheitstechnik dieses neuen Reaktors. Ich glaube nachwie vor: Der Störfall in Deutschland ist normal. Das giltauch für die laufenden AKWs. Daran wird sich auchdurch den Bau des EPR nichts ändern. Das Betreibenvon Atomkraftwerken ist unverantwortlich, auch dasvon EPRs. Das ist ein unverantwortbares Risiko, das wirnicht eingehen werden.
Drittens. Sie suggerieren in Ihrem Antrag, der EPRsei eine Zukunftstechnologie mit großen Marktchancen.
– Ihre Rede über die großen Möglichkeiten, die wir ver-säumen, und über die weltweite Entwicklung der Atom-kraft usw. ist ein Beleg dafür.
Birgit Homburger
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7532 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
In Deutschland – dies ist klar – wird der EPR nichtgebaut. Es ist kein Antrag gestellt worden. Die Strom-konzerne haben überall erklärt, dass sie trotz merkel-scher Atomnovelle in absehbarer Zeit keinen Antrag aufBau eines Reaktors stellen werden. Jetzt zur Ehrlichkeit: Selbst wenn Sie weiter regierthätten – Gott bewahre uns davor –, würde kein Antragauf Bau eines EPR in Deutschland gestellt werden. Dasist die absolute Wahrheit.
Viertens. Sie verweisen auf Frankreich und hoffen,dass Frankreich den Bau eines EPR übernimmt. Ich sageIhnen Folgendes: Auch in Frankreich wurde ein solchesProjekt bisher nicht beantragt. Auch in Frankreich hatsich die französische Regierung bisher nicht für diesesProjekt ausgesprochen. Auch in Frankreich haben dieGrünen den Bau des EPR zu einer Koalitionsfrage er-klärt. Auch in Frankreich ist die Wahrscheinlichkeitausgesprochen groß, dass dieser Reaktor nicht gebautwird, und zwar auch aus wirtschaftlichen Gründen. Die EdF steht vor der Herausforderung – auch wennder französische Markt noch abgeschottet wird –, sichdem Wettbewerb öffnen zu müssen. Wenn Sie sich dieZukunftsplanungen der EdF anschauen, dann stellen Siefest, dass sie als Ersatz für die veralteten Atomkraftwer-ke keinen Neubau von Atomkraftwerken plant, auchkeinen von EPRs; vielmehr plant die EdF den Neubauvon GuD-Kraftwerken, weil sie sich ökonomisch we-sentlich besser rechnen.
Das bedeutet für die nächsten Jahre erst einmal – las-sen Sie uns nicht über eine Zeitraum von 10 oder15 Jahren reden –, dass ein Bau dieses Reaktors wederin Deutschland noch in Frankreich – das ist Ihre Hoff-nung – geplant ist. Wahrscheinlicher ist sogar, dass derEPR überhaupt nicht realisiert wird; vielmehr bedeutetdie mit dieser Dinosauriertechnologie verbundene For-schung eine endlose Fortsetzung einer Sackgasse. DerEPR ist keine Zukunftstechnologie.Die Nukleartechnologie ist eine Auslauftechnologie.Das sehen im Übrigen nicht nur wir, sondern das siehtauch – Herr Kubatschka hat es angesprochen – Siemensso. Siemens hat seine Nuklearabteilung im Prinzip anFramatome verscherbelt. Anders kann man das nicht be-zeichnen. Warum? Weil Siemens unter Ihrer Bundesre-gierung jahrelang keine Aufträge mehr zum Neubau vonReaktoren bekommen hat!
– Gott sei Dank aus unserer Sicht, natürlich.Die Nuklearabteilung von Siemens ist sowieso ein re-lativ kleiner Zweig mit etwas über 3 000 Beschäftigten.Im Vergleich dazu: Auf dem Gebiet der Windenergiehaben wir schon über 30 000 Arbeitsplätze geschaffen.Im Bereich der Biomasse und dergleichen mehr wird einVielfaches neu geschaffen werden.
Die Sparte Nukleartechnologie von Siemens ist inden Jahren 1998 und 1999 mit einem Minus von132,5 Millionen Euro noch tiefer in die roten Zahlen ge-rutscht. Aus diesem Grund verabschiedet sich Siemensschnell vom Nukleargeschäft. Die Analysten gebenSiemens darin Recht, dass dieser Schritt eine richtigeMaßnahme zur Weiterentwicklung des Unternehmensist. Sie haben anlässlich dieser so genannten Fusion ge-sagt, dass das Nukleargeschäft seit Jahren eindeutigrückläufig ist.Anscheinend hat die Industrie die Zeichen der Zeitverstanden. Nukleartechnologie, auch der EPR, ist keineZukunftstechnologie, auf die man bauen kann; im Ge-genteil: Der EPR stellt eine technologische Sackgassedar. Die Industrie tritt deswegen auf die Notbremse. DieEinzigen, die das Fähnchen noch hochhalten, sind dieCDU/CSU und die F.D.P. Vor dem Hintergrund dieserZahlen und Fakten geschieht das aus ideologischenGründen; anders kann es nicht sein.
Ich warne Sie. Ich nenne als Beispiel Wackersdorf.Dort war es haargenau so.
Irgendwann hat die Industrie gesagt: Wir verzichtenauf dieses Projekt. Einen Tag vorher hat man Kohl ange-rufen und Kohl ist damals im Dreieck gesprungen – ichweiß es noch, als wenn es heute gewesen wäre –,
weil er bis zum letzten Tag für Wackersdorf gekämpfthat – ohne Wenn und Aber und mit großem Engage-ment. Die Industrie war aber der Ansicht: Nein, dasrechnet sich nicht; wir gehen. Passen Sie auf, dass Ihnendas beim EPR nicht genauso geschieht!
Das Thema „Weiterentwicklung der Sicherheitstech-nik“ ist eine ernsthafte Angelegenheit. Wenn wir esernst nehmen, dann sollten wir uns auf etwas andereskonzentrieren. Wie gesagt, wenn die Nuklearindustrieüberhaupt noch internationale Aufträge bekommt, danngeht es meistens um Nachrüstungen oder Umrüstungenund nicht um Neubautechnologien. In Deutschland laufen die Atomkraftwerke – ausSicht der Grünen leider – wahrscheinlich noch einenlängeren Zeitraum. Unter Ihrer Regierung gab es aucheine indirekte Subvention der laufenden Atomkraftwer-Michaele Hustedt
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7533
ke, weil es nicht zu regelmäßigen Sicherheitschecks derbestehenden Atomkraftwerke gekommen ist.
Wir werden uns bei der Atomgesetznovelle auch die-sen Punkt vornehmen und regelmäßige Sicherheits-checks vorschreiben. Dabei kommt immer einiges her-aus. Nehmen wir einmal das Beispiel Biblis A. Bei Bib-lis A wurde einmal ein solcher Sicherheitscheck durch-geführt und es sind weit über 100 Mängel aufgetaucht.Jetzt befinden wir uns in der Diskussion, wie dieseMängel behoben werden können; denn sie müssen be-hoben werden.
Das muss dann zu Nachrüstungen führen. Auf dieserEbene – Sicherheitstechnologie entwickeln, die beste-henden Mängel der in Deutschland vorhandenen AKWsbeseitigen – könnten wir zusammenkommen. Das könn-ten wir in der Zukunft tatsächlich etwas tun.
Ich glaube, dass man Ihren Antrag kaum ernst neh-men kann.
Er gehört in die Kategorie, alte ideologische Grundprin-zipien immer und immer wieder zu wiederholenIch glaube, wir sind für unsere Wirtschaft auf demrichtigen Weg, wenn wir den Einstieg in eine umwelt-verträgliche Energieversorgung forcieren – das werdenwir tun – und den Atomausstieg in Deutschland vorantreiben.Danke.
Ich gebe für die
Fraktion der PDS das Wort der Kollegin Eva Bulling-
Schröter.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Dieser Antrag derCDU/CSU-Fraktion reiht sich nahtlos in die Energiepo-litik der alten Bundesregierung ein. Ich kann Ihnen nursagen: Durch ständige Wiederholungen werden Ihre Ar-gumente auch nicht besser.
Die Atomenergie ist und bleibt eine Dinosauriertech-nik,
die es so schnell wie möglich abzuschaffen gilt.
Eine Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland lehnt dieAtomkraft ab und wünscht sich den Einsatz von regene-rativen und zukunftsfähigen Energien. Auch wenn vonIhnen immer wieder das Gegenteil behauptet wird, blei-be ich dabei: Das was Sie sagen, stimmt nicht; es verhältsich wirklich so. Ich glaube, dass Ihre Wahr-nehmungsfähigkeit gerade in den letzten Wochen starknachgelassen hat. Als Volkspartei sollten Sie aber auchden Zeitgeist wahrnehmen. Vermutlich spielt auch hierdie Atomlobby eine große Rolle. Schauen wir einmal,was bei den weiteren Skandalen noch alles heraus-kommt. Wie Teile Ihrer Fraktion zu AKWs stehen, wurde ineiner der letzten Umweltausschusssitzungen im letztenJahr so richtig deutlich, als eine Kollegin von Ihnen sag-te: Ich liebe mein Kernkraftwerk.
Ich persönlich würde andere Liebeserklärungen machen;auf alle Fälle zeigt aber auch das etwas.
Jetzt zu Ihrem Antrag: Klar ist, dass, solange nicht al-le Atomanlagen abgeschaltet sind,
für die größtmögliche Sicherheit gesorgt werden muss.Das ist unbestreitbar. Ich bin nur der Meinung, dassDeutschland eine Vorreiterrolle in Fragen regenerativerEnergien übernehmen sollte und nicht bei der Sanierungabgewrackter Atomanlagen, wie zum Beispiel in Mo-chovce.
Erinnert sei auch an unsere Auseinandersetzung um dieKredite für den Ausbau der beiden AtomkraftwerkeK2/R4 in der Ukraine, wo es andere Möglichkeiten ge-geben hätte und meiner Meinung nach eine Chance ver-spielt wurde.
Nach Ihrer Einschätzung verbindet der EuropäischeDruckwasserreaktor ein fortschrittliches, modernesReaktorsicherheitskonzept mit einer zusätzlichen Si-cherheitsstufe und effizienten Brennstoffnutzung. Um-welt- und Anti-AKW-Initiativen sehen das ganz anders.Nach ihrer Meinung kann der EPR nach dem neuen § 7Abs. 2 a Atomgesetz nicht genehmigt werden. Ich brau-che ihn nicht zitieren, Kollege Kubatschka hat das schongetan. Bis heute konnte von Seiten der Antragsteller dergeforderte Beweis nicht erbracht werden. Nach wie vorgibt es große Sicherheitsbedenken. Es ist nämlich klar,dass die Folgen von Kernschmelzen in Hochdruckreak-toren nicht auf die Anlage begrenzt werden können. Kann der Beweis erbracht werden, dass die Integritätdes Sicherheitsbehälters weder durch Wasserstoffexplo-sion noch durch Dampfexplosion gefährdet wird? Nein!Oder der Beweis, dass der teilweise oder ganz ge-Michaele Hustedt
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7534 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
schmolzene Kern sicher aufgefangen wird und seineNachkühlung gewährleistet ist? Nein! Der EPR schließtsolche Schadensereignisse nicht aus. Eine bloße Verrin-gerung der Eintrittswahrscheinlichkeit wird den Maßga-ben des deutschen Atomgesetzes nicht gerecht.Im Übrigen möchte ich noch einmal die Forderungendes Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahre 1978zitieren. Sie lauten:Es muss diejenige Vorsorge gegen Schäden getrof-fen werden, die nach den neuesten wissenschaftli-chen Erkenntnissen für erforderlich gehalten wird.Lässt sie sich technisch noch nicht verwirklichen,darf die Genehmigung nicht erteilt werden; die er-forderliche Vorsorge wird mithin nicht durch dastechnisch gegenwärtig Machbare begrenzt. So das Urteil des Bundesverfassungsgerichts.Ich frage Sie also: Was wollen Sie mit einem Atom-kraftwerk, das in der Bundesrepublik nicht genehmi-gungsfähig ist? Noch ein Aspekt ist wichtig: Die Atomindustriesteckt mit dem EPR in einem Dilemma, denn großtech-nische Anlagen, zu denen auch Atomkraftwerke gehö-ren, können heute auf dem internationalen Markt nurnoch abgesetzt werden, wenn potenzielle Käufer imHerstellerland eine funktionsfähige Anlage besichtigenkönnen. Vergleichen Sie das mit dem Transrapid, dagibt es ja ähnliche Probleme. Daher ist es folgerichtig,dass die Genehmigungskooperation über das Deutsch-Französische Direktorium gestoppt wird. Das ist dasMindeste, was diese Bundesregierung machen kann.Nichtsdestotrotz wird jetzt schon der Bau des EPRmit einer Leistung von 1 750 Megawatt am westrussi-schen Standort Smolensk geplant. Der superteure Groß-reaktor soll durch Stromlieferungen nach Deutschlandfinanziert werden. Die PDS hält derlei Geschäfte für ö-konomisch unsinnig und ökologisch kontraproduktiv.Wir halten den EPR nicht für eine „richtungsweisendeZukunftstechnologie“, wie in Ihrem Antrag formuliert,sondern für eine rückwärts gewandte Technologie, dieauch allen Nachhaltigkeitskriterien widerspricht.Zum Schluss möchte ich nur noch etwas zurVerhandlungslinie sagen, die gestern Abendanscheinend beschlossen wurde. Natürlich wird auch diePDS weder ein Ausstiegsszenario von 30 Jahren nochdezentrale Zwischenlager, noch die beabsichtigteGenehmigung von Schacht Konrad unterstützen. Dasalles ist dem Atomausstieg nicht dienlich. Ihr solltet dawesentlich nachbessern.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Franz Obermeier.
Herr Präsident! Ver-ehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die Debattehier verfolgt, fällt einem allerhand ein. Aber am bestenpassen doch ein paar Redewendungen wie „Das Kindmit dem Bade ausschütten“, „Jemandem einen Bären-dienst erweisen“ oder „Den Ast absägen, auf dem mansitzt“. Das sind überlieferte Volksweisheiten, die ihreBerechtigung dadurch erfahren, dass sie in ihrem Kerndurchaus Weisheit beinhalten. Sie beruhen auf gemach-ten Erfahrungen und Überlegungen, sie beinhalten Er-kenntnisse und Wahrheiten. Aber manche meinen, sieseien immun: nicht nur gegen diese Wahrheiten, sondernauch gegen Fakten, Prognosen und gesicherte wissen-schaftliche Erkenntnisse. Dabei brauchen wir geradeheute Weitsicht, um unser Land in eine gute Zukunft zuführen.
Der Ausstieg Deutschlands aus der Kernenergieohne vernünftige Alternativen und ohne Konzept, wie esderzeit passiert, hätte für unser Land weit reichende ne-gative Konsequenzen. Davon betroffen wären vor allemdie Bereiche Wirtschaft – und damit Arbeitsplätze –,Umwelt sowie Technologieentwicklung. Auch der Bei-trag Deutschlands zur Verbesserung des internationalenSicherheitsniveaus würde mit einem Ausstieg unnötigaufs Spiel gesetzt. Sicherheitspartnerschaften zwischendeutschen Kernkraftwerken und derartigen Anlagen inanderen, vor allem osteuropäischen Ländern wären ge-fährdet.Man muss es einfach immer wieder betonen: Diedeutschen Kernkraftwerke sind die sichersten der Welt.
Dies belegen allein schon die 38 Jahre Betriebszeit inDeutschland. Auch die Analyse der Berichte des Bun-desamtes für Strahlenschutz über „Meldepflichtige Er-eignisse in Anlagen zur Spaltung von Kernbrennstoffenin der Bundesrepublik Deutschland“ lässt nur denSchluss zu, dass sich die deutschen Anlagen durch einsehr hohes Sicherheitsniveau auszeichnen.
Der deutsche Sicherheitsstandard gilt als Motor fürdie internationale Entwicklung der nuklearen Sicherheit.Dies gilt gerade im Hinblick auf die Staaten Osteuropas.Eine wichtige Rolle hierbei spielt die gute und engedeutsch-französische Kooperation. Beispielsweise arbei-ten Anlagenbetreiber und -hersteller aus beiden Länderngemeinsam daran, das bereits sehr hohe Sicherheitsni-veau in Frankreich und Deutschland weiterzuentwi-ckeln und zu verbessern. Zum Ausdruck kommt dieQualität der Zusammenarbeit unter anderem darin, dassdie beiden erfahrensten europäischen Kernkraftwerke-hersteller, Framatome und Siemens, ihre nuklearen Ak-tivitäten in einer Firma bündeln wollen.Eva Bulling-Schröter
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7535
Die Verbesserung des Sicherheitsstandards war langeZeit auch Ziel der deutschen und französischen Sicher-heitsbehörden, Beratergremien und Sachverständigen.Sie haben sich in der Vergangenheit darauf verständigt,Sicherheitsanforderungen für zukünftige Kernkraftwerkezu formulieren. Die Kooperation auf Sachverständigen-ebene zwischen der Gesellschaft für Reaktorsicherheitund dem französischen Partner funktioniert nach wie vorhervorragend.Bedauerlicherweise wurde jedoch mit dem Regie-rungswechsel im September 1998 von deutscher Seitedie gute Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsbe-hörden aufgekündigt. Während sich die Ministerien fürIndustrie und Umwelt in Frankreich weiterhin aktiv füreine Verbesserung der Sicherheitsstandards einsetzen,hat das deutsche Bundesumweltministerium an dieserStelle bedauerlicherweise schon einmal den Ausstieggeprobt. Leider ist diesem Schritt auch die – inzwischenneu besetzte – Reaktorsicherheitskommission gefolgt.Das Ansehen Deutschlands, das wegen seiner Berechen-barkeit und wegen seiner Zuverlässigkeit über einenausgezeichneten Ruf in der Welt verfügt, wurde durchdiesen Schritt der Bundesregierung erheblich beschä-digt.Dass sich der ursprüngliche Ansatz einer Länder ü-bergreifenden Zusammenarbeit zwischen Behörden undIndustrieunternehmen bewährt hat – nicht nur in punctoSicherheit –, zeigt sich am Europäischen Druckwas-serreaktor, am EPR. Die Auslegungskriterien für denEPR sind im Wesentlichen von drei hoch gestecktenZielen geprägt: Es sind erstens die Verbesserung des Si-cherheitsniveaus gegenüber den existierenden Anlagen,zweitens die Beherrschung hypothetischer Störfälle, so-dass deren Auswirkungen auf die Anlage selbst be-schränkt bleiben, und drittens die Konkurrenzfähigkeitder Stromerzeugungskosten im Vergleich zu Anlagenauf der Basis anderer Primärenergiequellen.Hier irren Sie, Frau Hustedt: Es ist den Konstrukteu-ren durch eine Vielzahl von Maßnahmen zur Beherr-schung von Kernschmelzunfällen und zur Verhinderungvon großen Aktivitätsfreisetzungen tatsächlich gelungen,mit dem EPR die anspruchsvollen Ziele, mit denen eindeutlich verbessertes Sicherheitsniveau angestrebt wer-den soll, zu erreichen. Ich möchte ein paar Maßnahmen nennen: Das sinderstens die Vermeidung des Kernschmelzens unter ho-hem Druck durch Maßnahmen zur Druckentlastung, er-gänzt durch zuverlässige Wärmeabfuhrsysteme, zwei-tens die Vermeidung von Wasserstoffdetonationen durchfrühzeitige Reduzierung der Wasserstoffkonzentrationim Sicherheitsbehälter, drittens die Vermeidung derSchmelze-Beton-Wechselwirkung durch Ausbreitungder Schmelze in einem eigens dafür vorgesehenenRaum, dessen Flächen mit Schutzschichten versehensind. Weiter ist die Sammlung aller Leckagen und dieVermeidung jeglicher Freisetzungen unter Umgehungdes Sicherheitsbehälters durch einen doppelten Sicher-heitseinschluss vorgesehen. Durch all diese Maßnahmenwerden die Aktivitätsfreisetzungen derart begrenzt, dasseinschneidende Gegenmaßnahmen, wie eine Evakuie-rung oder Umsiedlung der Bevölkerung, nicht mehr nö-tig sind.
Auch in einem weiteren Punkt irren Sie, liebe Vertre-ter der Regierungsfraktionen: Die Wettbewerbsfähig-keit des EPR ist tatsächlich gegeben; das wird durch dieneuesten Zahlen belegt. Die Stromerzeugungskosten desEPR liegen deutlich unter denen von Steinkohlekraft-werken auf Importkohlebasis. Zudem halten sie auch ei-nem Vergleich mit den Stromerzeugungskosten vonGuD-Grundlastanlagen, bei denen es in den letzten Jah-ren deutliche technische Fortschritte und daraus resultie-rende Kostensenkungen gegeben hat, stand. Dabei ist zu bedenken, dass beim Gaspreis, der sichnoch vor einem halben Jahr auf einem sehr niedrigenNiveau befand, eine eindeutige Tendenz nach oben –ähnlich wie beim Ölpreis – feststellbar ist. Der Anstiegzwischen dem zweiten und vierten Quartal 1999 beträgtrund 40 Prozent. Das bedeutet schlicht und einfach, dassmit der Erhöhung der Preise für die fossilen Primärener-gieträger die Wettbewerbsfähigkeit einer derartigenTechnologie entsprechend steigt.
Die Argumente sprechen aus meiner Sicht für sich.Sobald die Notwendigkeit für den Bau einer neuenGrundlastanlage gegeben ist, ist der EPR in der Tat eineechte Option. Die bisherigen Veröffentlichungen überden EPR sind – wie mir die Hersteller versicherten – be-reits auf großes Interesse gestoßen, nicht nur bei denEnergieversorgern in Frankreich und Deutschland, son-dern beispielsweise auch in Russland. Offensichtlich hatman erkannt, dass trotz steigender Nachfrage nachGrundlasterzeugungsanlagen auf Gasbasis der EPR einKraftwerkstyp ist, der sich am Wettbewerb beteiligenkann.Wenn ich die Reden der Vertreter der Regierungspar-teien verfolge, dann fällt mir auf, dass Worte wie „Wett-bewerb“, „Kosten“, „Wirtschaftlichkeit“ und Ähnlichesüberhaupt nicht vorkommen.
Die deutschen Energieversorgungsunternehmen undHerstellerfirmen haben aufgrund der durchwegs positi-ven Bilanz der Kernenergie zu Recht immer wieder ihrInteresse an Kernkraftwerken bekundet. Für die Kern-kraftwerksbetreiber ist der Wettbewerbsmarkt nicht dergrößte Unsicherheitsfaktor, vielmehr ist dies die Politikunter Rot-Grün.
Sie hat die Möglichkeit, die Kernenergie ins Abseitszu drängen. Dies kann weder aus ökonomischen nochaus ökologischen Gründen, noch unter Sicherheitsaspek-ten im Sinne Europas sein. Die rot-grüne Regierung soll-Franz Obermeier
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7536 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
te ihre Position überdenken und nach ihrem Gesellen-stück der ökologischen Steuerreform mit dem Ausstiegaus der Kernenergie nicht auch noch ihr Meisterstückunsinniger Energiepolitik abliefern.
Im Interesse unseres Landes muss der politischeRahmen so festgelegt werden, dass wir alle Optionen derEnergieerzeugung offen halten, die die Wirtschaft imWettbewerb stärken. Darüber hinaus müssen wir mehrMittel für Forschung und Entwicklung auf dem Sektorder Energieerzeugung und der Energiespeicherung zurVerfügung stellen. Wir wollen die erneuerbaren Ener-gien zum Schutz von Klima und Ressourcen voranbrin-gen, aber dies darf nicht solche Auswirkungen auf dieEnergiepreise haben, dass die Wettbewerbsfähigkeit un-serer Wirtschaft nachhaltig beeinträchtigt wird. Danke schön.
Als letzter Redner
in dieser Debatte spricht nun der Kollege Rainer
Brinkmann für die SPD-Fraktion.
Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dem uns vor-liegenden Antrag geht es nach meinem Dafürhalten nurvordergründig um die Verbesserung der Reaktorsicher-heit, speziell um den Bau eines Europäischen Druck-wasserreaktors EPR, der, so wird ja pauschal behauptet,eine richtungsweisende Zukunftstechnologie verkörpere.So wie ich Ihren Antrag verstehe, meine Damen undHerren von der CDU/CSU, wollen Sie nur den Versuchmachen, den hierzulande schon längst beschlossenenAusstieg aus der Kernkraft auszuhebeln.Herr Kollege Obermeier, Sie haben vorhin eine alteVolksweisheit bemüht. Ich sage Ihnen, es gibt auch eineandere Volksweisheit, die lautet: Wer versucht, mit demKopf durch die Wand zu gehen, hat hinterher einenDachschaden.
Sie sollten versuchen, dies auf alle Fälle zu verhindern. In Ihrem Antrag findet sich zum Beispiel der Satz:„eine Welt ohne Kernenergie wird es auf absehbare Zeitnicht geben.“ – Ob Sie damit Recht haben werden, hängtnatürlich zunächst einmal davon ab, wie Sie diesen un-bestimmten Begriff „auf absehbare Zeit“ überhaupt de-finieren. Sicher ist jedoch, dass es in durchaus absehba-rer Zeit eine Bundesrepublik Deutschland ohne Kern-kraft geben wird. Die Kolleginnen und Kollegen von derCDU/CSU glauben anscheinend immer noch nicht, dasswir es mit unserem Beschluss ernst meinen, dass wir dieangestrebte Energiewende erreichen werden. Lassen Siees sich gesagt sein: Wir schaffen den Einstieg in einezukunftsfähige Energieversorgung.
Die Nutzung der Kernenergie ist gesellschaftlichnicht akzeptiert und sie ist auch volkswirtschaftlich nichtvernünftig. Das ist der Grund dafür – der Bundeskanzlerhat im Übrigen darauf in seiner Regierungserklärungvom 10. November 1998 hingewiesen –,
warum wir sie geregelt auslaufen lassen werden. Das istauch der Grund, warum nach unserer Einschätzung Pro-jekte wie der EPR keine Zukunft haben werden. Wirwerden eben nicht in die AKW-Technologie investieren.Dabei ist doch auch sowieso alles sozusagen solarklar.Was wir dort investieren – um nicht zu sagen: ver-schleudern – würden, würde uns in anderen Bereichenfehlen, um ökologisch sinnvolle und zukunftsträchtigeTechnologien zu fördern.
Nun haben Sie ja immerhin eingesehen – das ist einFortschritt –, dass es in Deutschland keine neuen Reak-toren mehr geben wird. So propagieren Sie nun etwasnebulös, Deutschland müsse in der Kernenergiewirt-schaft und –technologie eine „führende Rolle“ behaltenund sich aktiv an der verbesserten Reaktorsicherheit inEuropa und anderen Kontinenten beteiligen. Da verfah-ren Sie nach dem Motto: Wenn wir schon die gefährli-che Kernenergietechnologie bei uns nicht mehr durch-setzen können, wollen wir wenigstens am Export ver-dienen. Das ist der eigentliche Hintergrund Ihres Antra-ges.Das Vehikel dazu soll der EPR mit einer thermischenLeistung von 4 250 Megawatt und einer elektrischenLeistung von 1500 Megawatt sein. Dabei verschweigenSie geflissentlich, dass auch beim EPR die gefürchteteKernschmelze konstruktiv und reaktorphysikalisch kei-nesfalls ausgeschlossen wird. Sie soll lediglich mit Hilfeeiner doppelten Außenhaut, einem Keramikbecken undeinem über dem Reaktor angeordneten, „stabilisierend“wirkenden Wasserbassin „beherrschbar“ gemacht wer-den. Das erscheint mir, gelinde gesagt, überaus anma-ßend. In jedem Fall aber ist auch dieses EPR-Konzeptnicht der technologische Durchbruch, der geeignet wäre,unsere Vorbehalte – und auch die der Menschen in unse-rem Land – gegen die Kernenergie zu zerstreuen,
von der weiterhin ungelösten Entsorgungsproblema-tik ganz zu schweigen.Ich komme nun, meine Damen und Herren, zu denwirtschaftlichen Fragen, die sich im Zusammenhangmit diesem angeblichen „Zukunftsprojekt“ stellen. SieFranz Obermeier
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7537
wissen doch ganz genau, welche Überlegungen aufseitender Industrie im Raum stehen, falls es zum Bau einesEPR zum Beispiel im westrussischen Smolensk käme.Da soll Russland seinen Anteil an den Investitionskostenmit Stromlieferungen in den Westen bezahlen. Im Klar-text: Wir sollen Atomtechnologie exportieren und unsdies mit dem Import von Atomstrom bezahlen lassen.Das, meine Damen und Herren, werden wir von der Re-gierungskoalition nicht mitmachen – ganz abgesehendavon, dass wir als Verfechter einer wirklich zukunfts-trächtigen und nachhaltigen Energiewirtschaft kein Inte-resse daran haben können, die Marktchancen erneuerba-rer Energien geradezu sehenden Auges zu verschlech-tern.
Wir wollen genau das Gegenteil. Nein, die auch in die-sem Antrag von Ihnen verfolgte Argumentation ist mehrals fragwürdig, Ausdruck eines rückwärts gewandtenDenkens und durchaus durchsichtig. Noch einmal zu dem Argument ohne die Option aufdie Kernenergie stehe die technologische ZukunftDeutschlands auf dem Spiel. Dazu kann ich nur sagen:Es steht den interessierten deutschen Unternehmendurchaus frei, sich am Bau eines EPR in Frankreich oderanderswo zu beteiligen, wenn es sich denn für sie rech-net. Das ist eine Entscheidung, die die Stromwirtschaftdann selbst zu fällen hätte. Die wahren Probleme, meineDamen und Herren, sind aber ganz andere. Wenn Sieselber einmal – der Kollege Obermeier ist am Montag-abend auf dem Empfang des BEE gewesen – mit Anla-genbauern reden und deren Vertretern und Verbändensprechen, stellen Sie fest, dass Sie mit ganz anderen Fra-gen konfrontiert werden. Da wird zum Beispiel gefragt:Wann schaffen Sie es endlich, das Einspeisegesetz um-zusetzen? Denn, dort liegen ganz erhebliche Investiti-onspotenziale. Es sind Investitionen in Milliardenhöhe,die dort zurzeit auf Eis liegen, und weit über 30 000 Ar-beitsplätze, die allein dort in den nächsten vier Jahrengeschaffen werden könnten. Nun lassen Sie uns an dieser Stelle einen kurzen Au-genblick über Arbeitsplätze reden. Denn die Beseiti-gung der Arbeitslosigkeit ist immer noch das Kernthemader deutschen Politik. Wenn wir uns den Bereich derWindenergie anschauen – die Windenergie hat inDeutschland zurzeit einen Marktanteil von etwas mehrals 1 Prozent –, so stellen wir fest, dass die Windenergiebereits heute weit über 15 000 gesicherte Arbeitsplätzezur Verfügung stellt. Rechnen Sie einmal mit was es fürdie Schaffung neuer Arbeitsplätze bedeuten würde,wenn es uns gelänge, den Anteil der Windenergie vonetwas über 1 Prozent auf 5 oder gar 10 Prozent zu erhö-hen.
Ich möchte Sie, meine Damen und Herren von derOpposition, herzlich bitten: Hören Sie endlich auf, mitimmer neuen Anträgen eine Diskussion anzufachen, dieSie schon längst verloren haben,
die Sie schon deshalb verloren haben, weil die Mehrheitder Bevölkerung, die Mehrheit in der BundesrepublikDeutschland einen anderen Weg beschreiten will.Liest man allerdings die Presseverlautbarungen derCDU/CSU-Fraktion der letzten Wochen und Monate,fällt einem eines sofort ins Auge: Sie beklagen immerwieder und monoton das angeblich fehlende energiepo-litische Konzept der Bundesregierung.
Gleichzeitig lehnen Sie aber natürlich – sachlich und in-haltlich demagogisch – die Vorschläge ab, die von unse-rer Seite auf den Tisch kommen.
Natürlich wenden Sie dabei einen Trick an: Diesebeiden Pressemitteilungen werden immer schön vonein-ander getrennt, weil Sie natürlich nicht zugeben wollen– und aus Ihrer Sicht auch nicht zugeben können –, dasswir sehr wohl zukunftsweisende technologische Ener-gievorstellungen haben.
Ich kann Ihnen wirklich nur raten: Schneiden Sie Ihrealten Zöpfe ab, verabschieden Sie sich von der AKW-Technologie. Denn wenn man einmal mit Mitgliedernund Funktionären Ihrer Partei vor Ort spricht,
stellt man ganz schnell fest: Sie wenden sich schonlängst mit Grauen von Ihnen ab – und das nicht nur we-gen der anderen Probleme, die Sie haben,
sondern durchaus wegen der anachronistischen Energie-politik in Ihren Köpfen.Was die Einhaltung angeblicher Zusagen gegenüberFrankreich angeht, ist vorhin schon einiges gesagt wor-den. Ich will das nicht wiederholen, aber durchaus un-terstreichen, dass diese Bundesregierung den Ausstiegaus der Kernenergie entschädigungsfrei regeln wird.
Wir werden uns für die energiepolitischen Weichenstel-lungen der alten Bundesregierung nicht in Haftung neh-men lassen. Das gilt selbstverständlich auch für dasEPR-Projekt.Meine Damen und Herren, wir wollen, dass die Bun-desrepublik Deutschland eine führende Rolle bei derWeiterentwicklung der Energietechnologie spielt, aberdies wird nicht auf dem Feld der Kernenergie gesche-hen. Wir sind sicher, dass auch unsere französischenRainer Brinkmann
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7538 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Partner diesen Weg im Sinne einer Harmonisierung dereuropäischen Energiepolitik mit uns gemeinsam gehenwerden. Wir stehen jedenfalls für Gespräche mit dieserZielrichtung zur Verfügung.Vielen Dank.
Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/1212 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Renè
Röspel, Heino Wiese, Dr. wolfgag Wodarg, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD so-
wie der Abgeordneten Ulrike Höfken, Hans-Josef
Fell, steffi Lemke, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Biosicherheit-Protokoll erfolgreich abschlie-
ßen
– Drucksache 14/2520 –
Die Redner geben ihre Reden zu Protokoll. Anlage 2
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag auf
Drucksache 14/2520 ist mit den Stimmen der Koalition
gegen die Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P. bei
Enthaltung der PDS angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung
Zweiter Bericht der Bundesregierung über
den Anteil von Frauen in wesentlichen Gremien
im Einflussbereich des Bundes
– Drucksachen 13/10761, 14/272 Nr. 113,
14/1610 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Gradistanac
Irmingard Schewe-Gerigk
Maria Eichhorn
Ina Lenke
Christina Schenk
Die Rednerinnen und Redner geben ihre Reden zu
Protokoll.*) Damit kommen wir zur Beschlussempfeh-
lung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend zu dem Bericht der Bundesregierung über den
Anteil von Frauen in wesentlichen Gremien im Ein-
flussbereich des Bundes, Drucksache 14/1610. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Nummer 1, den Bericht auf
Drucksache 13/10761 zur Kenntnis zu nehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist damit
einstimmig angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nummer 2
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/1610
die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition und der PDS gegen die Stimmen
von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatzpunkt 7
auf:
10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Georg
Brunnhuber, Dirk Fischer , Dr.-Ing.
Dietmar Kansy, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Transrapid-Projekt zügig realisieren
– Drucksache 14/2359 –
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Winfried Wolf, Eva-Maria Bulling-Schröter,
Rolf Kutzmutz, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS
Gesetzliche Verpflichtung zum Bau der
Transrapid-Strecke Berlin – Hamburg auf-
heben
– Drucksache 14/2524 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertel stunde vorgesehen. – Ich hö-
re keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Red-
ner dem Kollegen Dirk Fischer für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!Der Transrapid ist eine bestechende und umweltfreund-liche Technologie, die unbedingt auf der Referenzstre-cke Hamburg – Berlin zur Anwendung kommen muss.
Die Planung ist durchgeführt. In der nächsten Wocheergeht der erste Planfeststellungsbeschluss. Man ist kurz______*) Anlage 3Rainer Brinkmann
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7539
vor dem Ziel; ein klares politisches Bekenntnis ist not-wendig. Das fordert der Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Stimmen Sie ihm also zu.
Sie haben monatelang ein unverantwortlichesSchwarzer-Peter-Spiel getrieben.
In der Koalitionsvereinbarung von SPD und Grünensteht, Grundlage für die Realisierung des Projekts seidas Eckpunktepapier von 1997. Kostenobergrenze:6,1 Milliarden DM. Dann kam der Vorschlag des dama-ligen Verkehrsministers Müntefering für eine einspurigeTrassenführung. Ich gehe einmal davon aus, dass das se-riös gemeint war
und im Ministerium sowie mit dem 100-prozentigenBundesunternehmen DB AG abgestimmt worden ist. Eswar schon eigentümlich, dass der KoalitionspartnerGrün in der damaligen Debatte sofort angekündigt hat,dieser Vorschlag des Ministers sei das Todesurteil fürden Transrapid.
Dafür 6,1 Milliarden DM auszugeben, sei nicht mach-bar.Da fragt sich die Opposition: Wo bleibt hier politi-sche Führung durch Bundeskanzler Schröder? Er hatoffenbar kein Rückgrat, die in Planung befindliche Stre-cke Hamburg – Berlin zu verwirklichen. Seine Haltungist nicht Fisch und nicht Fleisch. Nette Worte hier, netteWorte dort, Besuch in China, Unterschreiben des „Letterof intent“, Einladung des Ministerpräsidenten zur EX-PO, wo man sich dieses Wunderprodukt anschauenkann, große Hoffnung in Peking/Schanghai, dann dieMehdorn-Visite: Schröder: Wir halten am Transrapidfest. – Aber Konkretes erfährt man nicht.Ich meine in aller Deutlichkeit sagen zu müssen: HerrBundeskanzler Schröder, hier geht es nicht um den Baueiner Dorfstraße in Niedersachen, sondern es geht umein Zukunftsprojekt deutscher Industrie!
Es geht um eine Standortfrage für unser Land. Es gehtum die EXPO und darum, ob wir uns in diesem Zusam-menhang weltweit lächerlich machen oder als Industrie-nation weltweit zusätzliche Anerkennung einfahren. Dasist die Frage, um die es hier geht.
Kostenobergrenze: 6,1 Milliarden DM, ausgerech-net bei einer völlig neuen Technologie, bei der erstenAnwendung, ohne Langzeiterfahrung. Dies ist eine kras-se Benachteiligung. Nach dem gleichen Maßstab wäre inDeutschland kein Projekt des Schienenbaus realisiertworden. Es gäbe kein Projekt Köln – Rhein/Main. ErsteSchätzkosten: 3,35 Milliarden DM, Vergabepreis:7,75 Milliarden DM, Endpreis: über 10 Milliarden DM.Es wird gebaut, koste es, was es wolle. Es gäbe keineAutobahn in Deutschland, es gäbe keine vierte Elbtun-nelröhre, es gäbe keinen Lehrter Bahnhof, es gäbe keinKanzleramt, es gäbe keinen Reichstagsumbau, wenn fürdiese Projekte die gleiche Messlatte angelegt wordenwäre.
Ausgerechnet bei der ersten Anwendung einer völligneuen Technologie legen Sie diese Messlatte an. Das isteine vom Ansatz her total destruktive Position. Schätz-preis gleich Endpreis hat es bei keinem Infrastrukturpro-jekt der Weltgeschichte oder in Deutschland gegeben.
Ich verlange für den Transrapid das gleiche Recht wiefür alle Infrastrukturmaßnahmen, nicht mehr und nichtweniger.
Ich will gar nicht von der Verweigerungspolitik derGrünen reden. Herr Schmidt, Sie wissen genau um diebesonders gute Umweltverträglichkeit des Transrapids:sensationell niedrige Lärmemission, Energiesparsam-keit. Aber Sie verschweigen das. Sie zerstören hier einökologisches Spitzenprodukt. Es ist wirklich jammer-schade, dass die Grünen so heruntergekommen sind,dass sie sich dies leisten.
Meine Damen und Herren, Sie haben nur deswegenimmer mit dem Haushalt, über den ich soeben schon et-was gesagt habe, argumentiert, weil Sie in Wahrheitkrampfhaft nach Gründen gesucht haben, Ihre ideolo-gisch verbohrte ablehnende Haltung zu rechtfertigen.Schlimmer noch: Sie plädieren für den Ausbau dervorhandenen IC-Strecke Hamburg – Berlin zu einerHochgeschwindigkeitsstrecke – durch Städte und Ge-meinden mit Hochgeschwindigkeit! –, mit all den Lärm-belastungen für die Anrainer und einer Kostenentwick-lung, die Sie überhaupt nicht unter Kontrolle haben. Eswird, wenn Sie diese Alternative wählen, nicht zumSchätzpreis abgerechnet. Es wird nicht zu dem Preis ab-gerechnet, den Sie jetzt planen und mit dem Sie denMenschen den Mund wässrig machen. Vielmehr wirdgebaut und nochmals gebaut, koste es, was es wolle.
Dies ist nach meiner Auffassung eine krasse Ungleich-behandlung.
Dirk Fischer
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7540 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Auch mir ist völlig rätselhaft, wie die Deutsche BahnAG so verantwortungslos sein kann, die längst fälligeEntscheidung für die Referenzstrecke wieder und wiederzu verzögern, am Ende sogar ganz zu verhindern. Siekündigen das Eckpunktepapier auf. Dieses aber ist InhaltIhrer Koalitionsvereinbarung.
Ist es denn möglich, dass ein Unternehmen, über dessenAktien der Bund zu 100 Prozent verfügt, diametral ent-gegengesetzt zur Koalitionsvereinbarung handelt? Ichmeine, hier hat der Bund, also Verkehrsminister Klimmtund Bundeskanzler Schröder, die Führungsaufgabe, die-ses Unternehmen an die Einhaltung des Eckpunktepa-pieres zu erinnern und zu ermahnen.
Es ist jammerschade: Die Bahn sperrt sich schon vielzu lange gegen ihre eigene technische und betriebswirt-schaftliche Erneuerung. Sie könnte damit in Europa dasmodernste Hochgeschwindigkeitsverkehrsunternehmenwerden. Diese Chance macht sie kaputt. Ganz andere Worte von Herrn Vogel und HerrnMehdorn habe ich erlebt, als sie noch in der Industrie tä-tig waren. Als Herr Mehdorn für Airbus verantwortlichwar, als ganz Deutschland geschrien hat: „MachtSchluss mit den Airbus-Subventionen!“ und Airbus Ab-satzschwierigkeiten hatte, da saß er in Finkenwerder undwir haben ihm politisch den Rücken gestärkt. Damalsbefürchteten wir im Hinblick auf Boeing ein Weltmono-pol. Im letzten Jahr wurden jedoch 55 Prozent der ge-samten Flugzeugbestellungen der Welt bei Airbus geor-dert und nicht bei Boeing. Damals musste man Mut ha-ben, da brauchte man Franz Josef Strauß, der dies in Eu-ropa durchgesetzt hat.
Das war ein großartiger Einsatz für ein europäischestechnologisches Spitzenprodukt. Das wäre auch beim Transrapid der Fall. Sie habenjedoch nicht den erforderlichen Mut und die Risikobe-reitschaft. Das ist der politische Skandal, den wir Ihnenin den nächsten Jahren links und rechts um die Ohrenhauen werden. Sie werden noch lange darunter leiden.
Wenn Sie sich als Koalition technik- und innovations-feindlich zeigen, dann wird das zu entsprechenden Re-sultaten führen. Der Transrapid ist eine Antwort auf die globalenHerausforderungen des Hochgeschwindigkeitsverkehrs.Er setzt Impulse für den Arbeitsmarkt. Er bietet derBahn die Möglichkeit, Leistungsfähigkeit nachzuweisen,und der deutschen Politik die Chance, Durchsetzungsfä-higkeit zu beweisen. Schon andere Dinge, zum Beispieldie Telefaxtechnik, das Humaninsulin und die LCD-Anzeige, wurden entwickelt – und später die jeweiligenPatente verkauft –, ohne dass die Entwickler das Geldgemacht hätten. Ich sage Ihnen voraus: Wenn Sie denTransrapid kaputtmachen, werden die Patente verkauft.Dann werden wir dereinst im Ausland den Transrapidfür teures Geld wieder zurückkaufen. Der Transrapid ist Werbung für Deutschland, insbe-sondere im EXPO-Jahr 2000. Es ist nicht auszudenken,dass Chinas Ministerpräsident als potenzieller Kundenach Deutschland kommt, um eine Referenzstrecke zubesichtigen, und wir ihm mitteilen müssen: Die Test-strecke im Emsland wird gerade abgebaut. – Das ist einenicht vorstellbare Lachnummer. Lächerlich sind auch Überlegungen, eine sehr vielkürzere Referenzstrecke zu bauen. Der Transrapid alsVorortbahn! Ich denke, das sind aberwitzige Vorstellun-gen. Deshalb am Schluss meiner Rede mein Appell an dieBundesregierung, an die beteiligten Bundesländer, andie Industrie, an die Banken und an die DB AG, das Pro-jekt des Transrapids, das gerade in der strukturschwa-chen Norddeutschen Tiefebene durch die Verknüpfungder beiden größten deutschen Städte ein hervorragendesEinsatzprofil bietet, nicht scheitern zu lassen. Die beste-henden Probleme sind lösbar. Der Nutzen für unserLand wäre immens. Wir werden die Bundesregierungaus ihrer zentralen Verantwortung für unser Land, fürdieses Projekt nicht entlassen.
Glauben Sie ja nicht, dass Sie sich durch taktisches Fi-nassieren aus der Verantwortung stehlen können. Diewird Sie noch einholen.
Für die SPD-
Fraktion spricht die Kollegin Angelika Mertens.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Es ist schon erstaunlich, wie sehrsich ein einzelner Mensch so aufplustern kann. Ich über-lege schon – es gibt nämlich demnächst Organisations-wahlen in Hamburg –, ob Sie einen Gegenkandidatenbekommen haben oder was Sie sonst dazu bewogen hat,hier so zu reden.Ende November haben wir im Deutschen Bundestagden überaus wegweisenden Antrag der F.D.P. diskutiert,nach dem sich die Bundesregierung für den Bau derTransrapid-Referenzstrecke zwischen Berlin und Ham-burg einsetzen soll. Heute debattieren wir den etwas ra-dikaleren Antrag der CDU/CSU, das Projekt zügig zurealisieren. Die PDS hat auch etwas beizutragen; sie willden Transrapid gar nicht. Dann fragen wir uns natürlich:Was machen wir mit dem Zwischenstopp in Schwerin?Dirk Fischer
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7541
Sehen wir uns das Anliegen der früheren Koalitioneinmal an: Auf eine ziemlich billige Art und Weise ent-deckt sie hier mal wieder ihre eigene Langsamkeit. Siehätten all das vor dem Regierungswechsel in Angriffnehmen können. Das aber haben Sie nicht getan. Esstellt sich die Frage, warum. Seit 1992 ist die Strecke imBundesverkehrswegeplan. Seit 1994 gibt es das Magnet-schwebebahnbedarfsgesetz. Seit 1996 warnt übrigensauch der Rechnungshof. Wenn Ihnen der Transrapid soam Herzen gelegen hätte, wie Sie es heute vorgeben,dann hätten Sie vor der letzten Bundestagswahl alles introckene Tücher bringen können.
Sie haben 1998 kalte Füße bekommen und nicht unter-schrieben, weil viele Details nicht geklärt waren und Siesich das Projekt schöngerechnet haben.
Zwischen politischem Willen und Realisierung einesProjektes besteht eben doch ein Unterschied; das istnicht nach Gutsherrenart zu lösen. Das hat übrigensnichts damit zu tun, dass Politiker kein Risiko eingehensollten, aber sehr viel damit, wie eine Regierung mitdem Geld der Steuerzahler umgeht.
Hier geht es nicht um ein paar Milliönchen, womit Sievielleicht Erfahrung haben könnten, sondern um Milli-arden. Sie hatten in der Vergangenheit viele Gele-genheiten, das Projekt entscheidungsreif vorzubereiten.Das haben Sie versäumt und das musste jetzt nachgeholtwerden.Der Bund hat einen festen Kostenrahmen von6,1 Milliarden DM zugesagt. Die Bahn hat offenbarfestgestellt, dass die erwarteten Fahrpreiseinnahmennicht ausreichen werden, um dem Herstellerkonsortiumdie gewünschte Garantie für ein festes Nutzungsentgeltgeben zu können.
Frau Kollegin
Mertens, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Dirk Fischer?
Ja, bitte.
Frau Kollegin
Mertens, können Sie mir in dem Zusammenhang die
Frage beantworten, warum nach den Grundsätzen, die
Sie aufgestellt haben, bei der Neubaustrecke Köln –
Rhein/Main, einer Strecke mit Rad-Schiene-
Technologie, die halb so lang ist wie die Transrapid-
Strecke, Mehrkosten in Höhe von fast 3 Milliarden DM
völlig klaglos und problemlos hingenommen werden?
„Klaglos“ haben wir diessicherlich nicht hingenommen. Keine Kostensteigerungwird klaglos hingenommen, weder von dieser Regie-rung, noch hat das die vorhergehende getan. Wir alle be-dauern, dass dies so ist. – Ich denke, damit ist Ihre Fragebeantwortet.
Was ist das überhaupt für eine Frage? Hören Sie am bes-ten einfach zu!Die Bahn hat also festgestellt, dass sich das alles viel-leicht doch nicht rechnet. Nunmehr sind die privatenHersteller am Zuge. Ihre Aufgabe ist es, innerhalb diesesfesten Finanzrahmens und bei einem festen Nutzungs-entgelt, das voraussichtlich nicht sehr hoch sein wird,ein schlüssiges, wirtschaftlich darstellbares Fahrweg-und Betriebskonzept auf der Strecke Hamburg – Berlinvorzulegen. Eines muss klar sein: Einen dauerhaften Er-satz von fehlender privatwirtschaftlicher Rentabilitätdurch öffentliche Gelder wird es mit Rot-Grün nicht ge-ben.Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt den Bundes-bauminister/Bundesverkehrsminister in seiner Absicht,wirklich alles auszuloten, um eine Lösung für das Pro-jekt zu finden. Meine Fraktion erwartet jetzt aber aucheine zügige Entscheidung von den Beteiligten.
Sollten alle Bemühungen zu keiner Lösung für dieseStrecke führen, so erwarten wir, dass das verkehrspoliti-sche Problem der angemessenen Schienenverbindungzwischen Hamburg und Berlin unverzüglich gelöstwird. – Ich selbst bewege mich auf dieser Strecke. Es ist,gelinde gesagt, eine Katastrophe – das sollte man viel-leicht auch einmal Herrn Mehdorn sagen –, zwei Städteso miteinander zu verbinden.–
Erstens. Wir brauchen auf dieser Strecke eine erst-klassige Verbindung für den Personenverkehr, die eineFahrzeit von höchstens 90 Minuten – mit möglichst sin-kender Tendenz, also bis hinunter auf 70 Minuten – ga-rantiert. Nach allem, was wir wissen, würde dies unge-fähr 500 Millionen DM kosten und müsste – sollte derTransrapid auf dieser Strecke nicht realisiert werdenkönnen – sofort in Angriff genommen werden. Fernermuss es eine überzeugende Lösung für den Güterverkehrgeben, die den Personenverkehr nicht behindert. Zwei-tens. Unverzüglich müsste dann mit der Suche nach ei-ner vernünftigen Alternativstrecke begonnen werden.Drittens. Es muss ein Konzept für eine vernünftige Zu-kunft der Versuchsanlage Lathen her.Angelika Mertens
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7542 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Frau Kollegin
Mertens, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des
Kollegen Friedrich?
Ja.
Liebe Frau
Kollegin Mertens, Sie haben hier soeben von Fahrzeiten
von 90 bzw. 70 Minuten gesprochen, die mit herkömm-
licher Rad-Schiene-Technik erreicht werden sollen. Was
für eine Geschwindigkeit muss der klassische ICE auf
dieser Strecke dann nach Ihrer Meinung erreichen?
Ist Ihnen bekannt, dass das Eisenbahnbundesamt dem
ICE eine maximale Betriebsgeschwindigkeit von
200 Stundenkilometern erlaubt und dass mit diesen
200 Stundenkilometern die von Ihnen genannten Fahr-
zeiten auf dieser Strecke niemals zu erreichen sind?
Ich nehme Sie vielleicht
einfach einmal mit auf dieser Strecke – es sind
294 Kilometer, Sie können sich die Fahrzeit ja selbst
ausrechnen –, dann können Sie feststellen, dass wir mit
den 90 Minuten sehr gut liegen. Ich gehe auch davon
aus, dass sich die Technik insgesamt weiterentwickelt
und dass es daher bei der Fahrzeit noch Spielraum nach
unten gibt.
Letzte Anmerkung: Welche Entscheidung auch im-
mer von den drei Beteiligten getroffen werden wird, sie
wird zu den gründlichst gewogenen Entscheidungen in
der industriepolitischen Geschichte Deutschlands gehö-
ren. Wenn alle Beteiligten klug bleiben, wird es dabei
weder Gewinner noch Verlierer und schon gar keine
schwarzen Peter geben. Jeder wird diese Entscheidung
respektieren und das Ergebnis – wie auch immer es aus-
fällt – zum Wohle Hamburgs und Berlins umsetzen.
Nun spricht für die
F.D.P.-Fraktion der Kollege Hans-Michael Goldmann.
Lieber HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber„Adi“ Schmidt, wir werden demnächst wahrscheinlichdas eine oder andere noch austauschen. Ich will heuteAbend aber eine Rede zum Transrapid halten: relativleise, umweltverträglich und zukunftsorientiert.
Lassen Sie mich deswegen erst einmal ein paar Wortevorweg sagen.Ich denke, liebe Frau Kollegin Mertens, dass derCDU-Antrag ein guter Antrag ist. Das „Transrapid-Projekt zügig realisieren“ – wer könnte etwas dagegenhaben?
– Nein, nicht nur zügig, das lässt sich auch wirklich rea-lisieren. – Ich denke, wir müssen das einmal ganz ruhigbetrachten. Da gibt es seit vielen Jahren die Erprobungim Emsland. Nun muss es endlich zu einer vernünftigenAnwendung kommen, die der Technologie dieses gan-zen Projekts Rechnung trägt. Ich bin mit allen anderenvöllig einer Meinung: Dabei kann nicht ein Vorort miteinem Hauptort oder irgendein Flughafen mit einem an-deren Flughafen auf kurzer Strecke verbunden werden.Vielmehr müssen zwei Metropolen miteinander verbun-den werden. Ich finde, es ist eine sehr gute Idee, eineStadt wie Hamburg, die sich zum Norden öffnet, zu ei-nem Wirtschaftsraum, der demnächst eine hervorragen-de Entwicklung haben wird – man braucht nur an diewirtschaftliche Entwicklung im Ostseeraum zu denken –,mit einer Stadt wie Berlin zu verbinden, die ja unterunseren Augen und mit unserer Hilfe eine Entwicklungnimmt, die uns jeden Tag wieder fasziniert. Diese bei-den Metropolen sollen mit einer Technologie verbundenwerden, die unstrittig umweltverträglich ist, die auf die-ser Verbindung auch unstrittig wirtschaftlich ist und –jetzt komme ich zurück auf „zügig“ – die auch im Ver-fahren und im Hinblick auf Arbeit, Aufwand und Kostenschon weit vorangeschritten ist. Angesichts dessen wärees nun wirklich eine hochgradige Dämlichkeit, sich ausdiesem Projekt zu verabschieden.
Sie wissen es selbst: 18 von 20 Planfeststellungsab-schnitten sind schon ganz weitgehend auf den Weg ge-bracht; die ersten können umgesetzt werden. In dieserSituation müssen wir schlicht und ergreifend sagen: Wirmüssen mit aller Kraft – und das vermisse ich bei denSozialdemokraten, bei den Grünen sowieso
– Frau Mertens, ich vermisse das, dies werden Sie mirdoch wohl noch zugestehen – daran festhalten und daraufhinarbeiten, dieses Projekt zu realisieren.
Sie müssen einmal zu den Unternehmen gehen und mitihnen darüber verhandeln, ob sie bereit wären, dieTransrapid-Technologie in der Anwendungsstrecke zufördern. Aber das tun Sie ja nicht.
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7543
Ich habe schon sehr stark den Eindruck, dass Sie einbisschen in der Gegend herumquaken und dabei nichtunbedingt mit Herzblut und Engagement auf eine Tech-nologie setzen, von der alle sagen: Mensch, das ist wirk-lich eine Technologie, um die man die Deutschen benei-det.
Wenn die Japaner die Diskussion, die wir hier führen,verfolgen würden, würden sie sich kaputtlachen.
Die Japaner haben ein zentrales Problem – und das wis-sen wir –, und wir haben die Lösung für dieses Problem:Der Transrapid ist in der Lage, Menschen sicher, schnellund umweltverträglich über große Entfernungen hinwegzu befördern. Auch Sie können doch rechnen. Sie haben vorhin et-was von Schönrechnen gesagt. Sie wissen doch, dassdas, was Herr Mehdorn sagt, nicht stimmt. Es istschlicht und ergreifend falsch. Seine Zeitberechnung istfalsch. Die von ihm vorgenommene Relation zwischenMilliarden und Zeitersparnis ist falsch. All diejenigen,die sich mit diesem Thema beschäftigt und sich dazu ge-äußert haben, haben klipp und klar gesagt: verrechnet!
– Herr Schmidt, Sie können gleich den Gegenbeweis an-treten. Sie kennen doch auch die Pressemeldungen von„ADN“, in der Peter Mnich als Bahntechnikexperte ge-nannt wird.
– Sie können doch nicht bestreiten, dass er ein Fach-mann ist. Herr Schmidt, ich finde es nicht besondersfair, dass Sie unendlich weiterreden. Ich finde, es gehörtzur Höflichkeit zuzuhören. Melden Sie sich zu einerZwischenfrage. Dann habe ich eine Chance, mit Ihnen indieser Frage fachlich umzugehen. Aber die Art undWeise Ihres ständigen Dazwischenredens ist der Sachenicht angemessen und trägt der Kollegialität nicht Rech-nung.
Lassen Sie uns fachlich über das streiten, was HerrMnich gesagt hat. Liefern Sie den Beweis, dass Ihre Be-rechnung richtig ist. Ich sage, der Transrapid ist ein rie-siger Gewinn bei der Verbindung der beiden Metropolenund damit ein riesiger Gewinn für unser Land. Ich findees einfach grottenschlecht, wenn wir diese Technologiehier nicht zur Anwendung bringen. Ich bin auch ein bisschen darüber traurig, dass man inder aktuellen Diskussion über fehlende Verkehrsinfra-strukturen an der einen oder anderen Stelle hört: Beer-digt doch den Transrapid! Da denke ich: Wir hier imPlenum haben die Verpflichtung, wirkliche Weichen-stellungen vorzunehmen. Wir reden immer vom Zeital-ter der Mobilität. Wir sagen immer: Mobilität ist dieTrumpfkarte der Zukunftsgesellschaft. Sie wissen ge-nauso gut wie ich, dass das Fliegen von der ökologi-schen Seite her nicht ganz so unproblematisch ist, wieder eine oder andere es darstellt.
Deswegen lassen Sie uns doch gemeinsam an einemStrang ziehen. Lassen Sie uns daher gemeinsam daraufhinarbeiten, das Transrapid-Projekt zwischen Hamburgund Berlin schnellstmöglich und zügig zu realisieren.Lassen Sie uns in dieser entscheidenden Frage im Be-reich der Verkehrsinfrastruktur eine Zukunftsweichestellen, an der sich die nachfolgenden Generationenmindestens freuen werden. Ich denke, auch wir würdenes wirklich genießen, uns mithilfe dieser Technologiezu bewegen. Das wäre ein Beitrag für die Zukunft unse-res Landes. Herzlichen Dank.
Alsnächster Redner hat das Wort der Kollege AlbertSchmidt vom Bündnis 90/Die Grünen.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Dass wir beim Transrapid für ei-nen Zeitvorteil von schlappen 20 Minuten auf der Stre-cke von Hamburg nach Berlin 12 Milliarden DM ausge-ben sollen, will uns einfach nicht so richtig in den Kopf,führte der Bahnchef Hartmut Mehdorn vor einigen Ta-gen aus.
Der Mann hat Recht!
– Herr Kollege Fischer und Herr Kollege Goldmann,wenn der Mann nicht rechnen kann, muss ich ihn einmalfragen, wie er es trotzdem geschafft hat, als Chef derHeidelberger Druckmaschinen AG innerhalb von fünfJahren den Umsatz zu vervierfachen und den Gewinnsowie die Belegschaft zu verdoppeln. Das ist eine tolleHans-Michael Goldmann
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7544 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Leistung für jemanden, der nach Ihrer Einschätzungnicht rechnen kann.
Dasselbe gilt übrigens für Herrn Eckrodt von Adtranz, der vor wenigen Tagen – das können Sie nach-lesen – in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gesagthat: Lassen Sie uns das Abenteuer beenden.
Ich komme zu Hartmut Mehdorn zurück. Sein Vor-schlag ist ein ICE-Ausbau, ein hochgeschwindigkeits-tauglicher Ausbau der vorhandenen Bahnstrecke vonHamburg über Büchen – Wittenberge bis nach Berlin.
Er sagt, dies sei zu einem Bruchteil der Kosten machbar.
– Jetzt revanchiert er sich. Das verstehe ich ja. Herr Fi-scher, ich verstehe, dass Sie sich vorhin aufgeregt haben.Aber kommen Sie langsam wieder herunter. Lesen Siemehr Zeitungen und hören Sie wieder einmal zu. Dannkönnen wir in aller Ruhe darüber diskutieren.
Herr Mehdorn sagt: Lasst uns die ICE-VerbindungHamburg – Berlin für einen Bruchteil der Kosten aus-bauen und wir schaffen eine um 90 Minuten kürzereFahrzeit. Dies ist innerhalb kurzer Zeit möglich. DerMann hat wieder Recht.
Das Allerschönste an seinem Vorschlag ist, dass wir ge-nau dies schon vor vielen Jahren gesagt haben.
Herr Goldmann, wir könnten schon heute im ICE zwi-schen Hamburg und Berlin in 90 Minuten fahren, wennwir nicht Jahre durch sinnlose, fruchtlose und überteuer-te Transrapid-Planspiele verloren hätten.
–
Zuruf von der CDU/CSU: Unsinn!)
Herr
Kollege Schmidt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Goldmann?
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Ja.
Bitte
schön, Herr Goldmann.
Herr KollegeSchmidt, wie schnell wollen Sie zwischen Hamburg undBerlin mit einem ICE fahren und was kostet der Ausbau,der notwendig ist, um die von Ihnen genannte Ge-schwindigkeit zu erreichen?
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Für Ihre Zwischenfrage bin ich sehr dank-bar; denn sie gibt mir die Gelegenheit, auch noch dasoperationale Konzept vorzustellen, das im Hintergrundsteht. Die Bahnstrecke Hamburg – Büchen – Wittenber-ge, die etwas über 300 Kilometer lang ist, unterliegt heu-te einer Geschwindigkeitsbegrenzung. Das ist vom Kol-legen vorhin in der Zwischenfrage richtig gesagt wor-den. Diese Geschwindigkeitsbegrenzung beträgt abernicht 200 km/h, wie Sie gesagt haben, sondern160 km/h.
– Beim ICE 3, Herr Kollege. Es muss ja nicht der ICE 3fahren; es kann ja der ICT oder der ICE 2 fahren.Diese Geschwindigkeitsbegrenzung, die das Eisen-bahnbundesamt verhängt hat, gilt deshalb, weil höhen-gleiche Bahnübergänge existieren, die nur mit Halb-schranken abgesichert sind.
– Ich sage Ihnen doch gerade, warum heute nur so lang-sam gefahren werden darf. Dann sage ich Ihnen, wieschnell wir fahren müssen.Entweder müssen wir die höhengleichen Bahnüber-gänge beseitigen, was Geld kostet – ich sage Ihnengleich, wie viel –, oder wir müssen aus den Halbschran-ken, was kostengünstiger ist, Vollschranken machen.Dann könnte man – das lässt die Infrastruktur schonheute zu – 200 km/h und in gewissen Abschnitten sogarschneller fahren. Wenn Sie also mit dem ICT, demICE 2 oder auch, Kollege Friedrich, mit dem ICE 3 -wenn die vorläufige Geschwindigkeitsbegrenzung auchnoch aufgehoben wird – mit der Höchstgeschwindigkeitvon 230 km/h und der Durchschnittsgeschwindigkeitvon 200 km/h zwischen Hamburg und Berlin fahren,dann brauchen Sie 90 Minuten. Das wollten Sie wissen.
Was das kostet, sage ich Ihnen jetzt auch noch. WennSie die Bahnübergänge in Gänze beseitigen und durchÜberführungs- und Unterführungsbauwerke ersetzenwollen, würde das zwischen 500 und 600 Millionen DMkosten.Albert Schmidt
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7545
Herr Kollege Fischer, wenn Sie aber aus den Halb-schranken Vollschranken machen, dann müssen Sie die-se Bauwerke gar nicht ausführen. Dann kommen Sie miteinem Bruchteil dieser Kosten zurecht. Genau das ist derWirtschaftlichkeitsvorteil, den der Transrapid zwischenHamburg und Berlin niemals haben wird.
Herr Kollege Goldmann, jetzt will ich Ihnen zeigen,dass das, was ich hier vortrage, keine Spinnerei der Grü-nen ist.
Ich zitiere aus der Hauspostille der Bündnisgrünen, ausdem „Handelsblatt“, den Kommentar des heutigen Tageszum Thema Transrapid. Die Überschrift lautet: „DieVernunft siegt“. Nach all den Jahren der Diskussionmüssen Sie sich den folgenden Satz schon anhören:
„Aus der Sicht des Steuerzahlers ist die unumgänglicheEntscheidung gegen das Projekt ein später Sieg der Ver-nunft.“
Sie Hohepriester der Marktwirtschaft bei der F.D.P.,das schreiben Leute im „Handelsblatt“, die rechnenkönnen, über andere, die auch rechnen können, denenSie aber vorwerfen, dass sie eins und eins nicht zusam-menzählen können.
Ich könnte Ihnen den Rest des Kommentars noch weitervorlesen. Das erspare ich Ihnen.Lassen Sie mich noch ein Wort zur Technologie sa-gen: In Wahrheit führen Sie mit Ihrem Antrag eine ideo-logische Debatte. Sie behaupten, diese Technologie seizukunftsfähig. Darüber kann man streiten.
Ich möchte Folgendes zu bedenken geben: Die Tech-nologie Transrapid, also Magnetschwebebahn, wurde inder ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts entwickelt.
1937 wurde dieses Patent angemeldet, von dem Sie sa-gen, es werde sich schnell verkaufen wie beim Faxgerätusw.
Dass dieses Patent sich bis heute weltweit nirgendsmarktfähig durchgesetzt hat, sollte uns sehr zu denkengeben, Herr Fischer.
Zum Zweiten ist die Geschwindigkeitslücke – –
– Herr Kollege, ich glaube, es wird nicht besser durchmehr Zwischenfragen.
Herr
Kollege Schmidt, erlauben Sie die Zwischenfrage oder
erlauben Sie sie nicht?
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Wenn Sie mir versprechen, dass Sie mir
auch zuhören, wenn ich sie beantworte, dann erlaube ich
sie Ihnen gerne.
Also,
bitte schön, Herr Fischer, stellen Sie Ihre Frage.
Herr Schmidt,
können Sie mir Auskunft darüber geben, wie oft das von
Ihnen angepriesene Produkt ICE bis zum jetzigen Zeit-
punkt weltweit verkauft worden ist?
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Ich kann Ihnen, Herr Fischer, sagen, dass
die Franzosen sich in den 70er-Jahren von der Magnet-
schwebebahntechnik verabschiedet und auf den TGV
gesetzt haben, zehn Jahre früher auf dem Weltmarkt wa-
ren und mehr verkauft haben, weil wir mit dem ICE um
zehn Jahre zu langsam waren. Diesen Fehler sollten wir
nicht wiederholen. Vielmehr sollten wir die Technolo-
gie, die wir entwickelt haben, jetzt wirklich weltweit
vermarkten, und das ist die schnelle Rad-Schiene-
Technik.
– Jetzt reicht es, glaube ich.
HerrKollege Schmidt, erlauben Sie eine weitere Zwischen-frage des Kollegen Fischer?Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Ich glaube, jetzt sollten wir das Spielchenbeenden. Albert Schmidt
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7546 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Wir wollen auch noch abstimmen –
Das ist
Ihre Entscheidung.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): – und nachher nach Hause gehen.
Es ist Ih-
re Entscheidung.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Gut.
Nein,
Herr Fischer, er will keine weitere Zwischenfrage zulas-
sen.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Nein, danke.
Die Geschwindigkeitslücke, für die das Konzept ein-
mal entwickelt wurde –
Die Geschwindigkeitslücke –
– Herr Präsident, ich kann keinen Satz zu Ende spre-
chen.
Meine
lieben Kollegen, der Redner kann die Antwort geben,
die er für richtig hält. Sie können sie dann bewerten.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Sie können ja eine Kurzintervention ma-
chen –
Sie kön-nen ihn nicht zwingen, eine Antwort zu geben. Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): – oder was immer Sie wollen. Okay?
Ich wollte Ihnen nur sagen: Die Geschwindigkeitslü-cke zwischen dem Zug und dem Flugzeug, für die dieMagnetschwebebahntechnik einst entwickelt wurde,existiert nicht mehr. Die schnelle Rad-Schiene-Technikhat diese Geschwindigkeitslücke im Wesentlichen ge-schlossen. Wir haben in Mitteleuropa das dichteste Bahnnetz derWelt, mit dem Ergebnis, dass Sie überall, wohin Sie mitdem Transrapid gehen, schon eine Bahnstrecke finden,die mindestens entwicklungsfähig ist. Das ist das Prob-lem. Deshalb spreche ich nicht gegen diese Technik ansich – dass wir uns da richtig verstehen. Ich bin sehr da-für, dass jede Alternativstrecke unvoreingenommen ge-prüft wird. Aber ich bin persönlich sehr skeptisch, obSie in Mitteleuropa eine attraktive, eine konkurrenzfähi-ge, eine wettbewerbsfähige Strecke finden werden.
In den USA, wo wir kein Bahnnetz haben, ist die Situa-tion wesentlich anders.
Nun komme ich aber zum Schluss. Ich will Ihre Ge-duld nicht über Gebühr strapazieren. Es gab einmal ei-nen Verkehrsminister der CDU/CSU in diesem Haus,der Matthias Wissmann hieß.
Er war ein Befürworter der Transrapidtechnologie. Erhatte die folgende Position, die er – Herr Fischer, wennSie ehrlich sind, müssen Sie das zugeben – im Verkehrs-ausschuss mehrfach vorgetragen hat:
Wir wollen den Transrapid, aber nicht um jeden Preis.Diese Position verlassen Sie mit Ihrem Antrag. Siesagen: Wir wollen den Transrapid, egal, was es kostet,
egal, wie viel es der Bahn schadet, egal, ob es unwirt-schaftlich ist.
Was Sie hier vertreten, ist nicht mehr Politik, sondernDogmatismus.
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7547
Solche miserablen Epigonen wie Sie hat selbst MatthiasWissmann nicht verdient!
Sie sollten wieder zu seriöser Politik zurückkehren.
Ich bin froh, dass Sie heute bei einer Entscheidung über6 Milliarden DM nichts zu sagen haben. Das kann ichIhnen deutlich sagen. Sie haben das Eckpunktepapier von April 1997 ange-sprochen. Lesen Sie die Ziffer 10 nach! Ich sage dasdem Hohen Hause heute zum dritten Mal. Darin steht:Wenn die Kosten explodieren, wenn die Daten nichtmehr stimmen, treten alle Beteiligten zusammen, bewer-ten gemeinsam die Situation neu und treffen eine ab-schließende Entscheidung. – Genau das wird geschehen. Ich sage Ihnen heute zum dritten Mal – vielleichtglauben Sie es mir ja heute –: Ich schwöre Ihnen, eswird die richtige Entscheidung dabei herauskommen.
Als
nächstem Redner gebe ich dem Kollegen Dr. Winfried
Wolf von der PDS-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die CDUschlägt uns allen Ernstes vor, in einer aussichtslosen La-ge den Transrapid auf der Verbindung Hamburg – Ber-lin doch zu bauen. Da könnte man mutmaßen, dass hiernicht nur Technikgläubigkeit, sondern auch Thyssen-Hörigkeit im Spiel ist, zumal das Unternehmen Thyssennicht nur führend beim Bau des Transrapids, sondernauch führend im Parteispendenskandal der CDU ist. Wirhaben alle gelacht, als Sie, Herr Fischer, am Anfang Ih-rer Rede die freudsche Fehlleistung begangen haben, in-dem Sie erklärt haben, der Transrapid sei eine beste-chende Technologie. Nun schien der gestrige CDU-Antrag auch aus anderen Gründen von vorgestern zusein. Gemeldet wurde, die Bundesregierung habe die Plänefür den Transrapid auf Eis gelegt. Doch die Haltung derRegierung ist nicht so eindeutig. Fast ein Jahr haben wirdamit verloren, das Modell einer einspurigen Magnet-bahn zu propagieren, eine Provinzposse, wie dies auchim „Handelsblatt“ bezeichnet wurde und die dort mitdem Satz kommentiert wurde: Langsam entsteht der Eindruck, dass die Bahnin-dustrie jeden noch so unsinnigen Sparvortrag ab-nickt.Das Hin und Her ist nicht nur unsinnig, sondern kostetauch viel Geld. Allein seit der Regierungsübernahmedurch SPD und Grüne wurde für die Transrapid-Streckein die Haushalte 1999 und 2000 rund 1 Milliarde DMeingestellt. Nun hat der Bundesverkehrsminister eine neue Rundeim Transrapid-Eiertanz eröffnet. Er sucht nach neuenReferenzstrecken. Im Gespräch sind Transrapid-Verbindungen der Flughäfen München und Berlin-Schönefeld mit den jeweiligen Stadtzentren. Dazu istfestzustellen:Erstens. Wer bisher für den Transrapid argumentierte,der hat stets die hohe Geschwindigkeit und die Zeit-ersparnis angeführt. Jetzt werden als Alternativen Kurz-strecken empfohlen. Es ist richtig, Herr Fischer: Dassind keine Alternativen, die Zeitersparnisse bringen;vielmehr wären das Totgeburten. Zweitens. Zu den beiden genannten Flughäfen gibt esbereits gute S-Bahn- bzw. Regionalbahnverbindungen.Vorgeschlagen wird also allen Ernstes, doppelt zu inves-tieren. Drittens. Die beschlossenen Mittel und die Magnet-bahngesetze sind ausdrücklich auf die Strecke Hamburg–Berlin bezogen. Wer jetzt nahtlos die hierfür vorgese-henen 6 Milliarden DM für eine andere Transrapid-Strecke verplant, der ist unseriös und undemokratisch. Auch das angeführte Arbeitsplatzargument, Herr Kol-lege Fischer, ist im Zusammenhang mit dem Transrapidnicht seriös. Herr Goldmann, den wenigen Arbeitsplät-zen, die der Bau einer Magnetschwebebahnstreckebrächte, stehen Verluste von Arbeitsplätzen bei derBahn und in der Bahnindustrie gegenüber. Der Transra-pid ist auch ein Verkehrsmittel, das direkt mit der Bahnkonkurriert. Alle zur Debatte stehenden Stre-cken, auchdie Referenzstrecken, führen zum Abbau des Schienen-verkehrs und damit auch zu einem Abbau der Beleg-schaft bei der Bahn.
Parallel zum Spitzengespräch Schröder/Mehdornwurde gestern bekannt: Das Unternehmen Zukunft willinsgesamt 70 000 weitere Jobs streichen. Solch ein A-derlass nach der Halbierung der Belegschaft in den 90er-Jahren gefährdet nach meiner Ansicht den Schienenver-kehr existenziell. Dazu hören wir von den Transrapid-Befürwortern kein Wort. Wir haben mit unserem schlichten Antrag das Ange-bot gemacht, aus dem Magnetschwebebahnbedarfsge-setz auszusteigen, und damit allen Parteien die Möglich-keit gegeben, aus der Transrapid-Technologie, zumin-dest aus den Planungen für die Strecke, auszusteigen;denn dieses Gesetz verpflichtet zum Bau der Magnet-bahnstrecke Hamburg – Berlin. Es untersagt sogar, denBedarf für diese spezifische Strecke auch nur zu hinter-fragen. Das Gesetz ist schlicht anachronistisch. Es müss-Albert Schmidt
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7548 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
te aufgehoben werden, und zwar hier und heute. Diedann frei werdenden Gelder könnten sinnvoll umge-widmet werden und wären sinnvoll in den Ausbau desgesamten Schienenverkehrs investiert, unter anderemauch in die Verbesserung der Strecke Hamburg – Berlin.Wer will, könnte mit seiner Zustimmung zum Aus desTransrapids auf der Strecke Hamburg – Berlin auch ei-nen Anstoß für die Verbesserung des gesamten Schie-nenverkehrs und für die Zukunft der Schiene geben. Danke schön.
Als
nächstem Redner gebe ich das Wort dem Kollegen
Wolfgang Börnsen von der CDU/CSU-Fraktion.
HerrPräsident! Meine Damen und Herren! Die HamburgerAbgeordnete hat mit dem Hinweis geschlossen, dass eseine gute Entscheidung für Hamburg geben soll. Ange-lika Mertens, das erweckt Hoffnung. Sie haben zwarnicht dafür gesprochen, aber auch nicht dagegen. Auchdas erweckt die Hoffnung, dass wir doch noch zu einerEntscheidung gelangen, die ein Ja zur Technik und auchein Ja zur Referenzstrecke bedeutet. Herr Schmidt, wir haben uns ein wenig festgefahren.Der Transrapid ist zur Weltanschauung geworden. Mankann nicht mehr so richtig hinter seine Position zurück.Das gilt für uns genauso wie für die Gegner. Aber Be-fürworter und Gegner wechseln inzwischen. Dazumöchte ich etwas sagen:
Mein Kollege Goldmann hat nach meiner Meinung sehrwohl deutlich gemacht, dass es ihm nicht um einenShoweffekt, sondern dass es ihm wie Dirk Fischer umdie seriöse Beantwortung der Frage geht, ob wir inDeutschland eine Zukunftstechnologie einsetzen kön-nen. Die Situation hat in diesem Jahr einen ganz besonde-ren Charme. Der Charme besteht darin, dass wir dieEXPO 2000 vor uns haben. Einige sagen: Das setzt unsunter Zugzwang. Wollen wir uns vor der Weltöffent-lichkeit mit diesem – gewissermaßen symbolischen –Projekt als Zauderer oder als Befürworter einer Technik,die ganz ungewöhnlich ist und deshalb über fast sechsJahrzehnte ihre Schwierigkeiten gehabt hat, vorstellen?Ich glaube sehr wohl, dass die EXPO eine Chance seinkann, unser Land als zukunftsfähig und fortschrittsbereitvorzustellen.Wovon geht der Transrapid aus? Der Transrapid gehtdavon aus, dass wir in Zukunft überall in der Welt einenzunehmenden Massenverkehr zu bewältigen haben.Der Transrapid ist eines der geeignetsten Verkehrsmit-tel, um diesem Massenverkehr auch zwischen großenZentren zu begegnen.
Alleine für Europa rechnet man mit einer Steigerungdes Straßenverkehrs um 30 Prozent. Beim Schienenver-kehr rechnet man mit einer Steigerung um 70 Prozentund beim Flugverkehr mit einer Steigerung um dasDoppelte. Zwischen der Ost- und der Westverbindung inEuropa – mit Deutschland als Haupttransitland – wird eseine Verdreißigfachung geben. Damit sollen wir fertigwerden. Wir sollten uns wirklich ganz ernsthaft ver-schiedene Alternativen überlegen, wenn wir diese Zu-kunftsentwicklung in den Griff bekommen wollen.
Wir haben doch eine Politik auch für die nächsten Gene-rationen zu betreiben.
Warum hat Herr Schröder in China einen Vertrag un-terschrieben? Warum sind die Vereinigten Staaten be-reit, auf fünf staatlich ausgewiesenen Anwendungsstre-cken den Transrapid umzusetzen?
Warum gibt es in den Vereinigten Staaten zwei Betrei-ber, die es privatwirtschaftlich machen wollen? Warumwollen die Niederlande zwischen Hamburg und Amster-dam eine solche Strecke umsetzen? Warum planen dieSchweiz, die Vereinigten Staaten und Japan mit dieserTechnologie? Sie tun das, weil sie wissen: Das ist einegroße Chance, zu einem wirklich umweltschonendenVerkehrsträger zu kommen, der Zukunft verspricht.Ich glaube sehr wohl, dass es richtig ist, sich ganzernsthaft damit auseinander zu setzen. Man sollte unse-rer Meinung nach in sieben Punkten ein wenig daraufhinweisen, wie man doch noch zu einem Ja für dieTechnik und für die Referenzstrecke kommt. Die her-kömmliche Rad-Schiene-Technik ist ausgereizt. DerTGV und der ICE stehen am Ende ihrer Entwicklung.Das sagen alle Technikexperten. Der Transrapid stehtam Anfang. Der Transrapid schafft Arbeitsplätze, auchwenn seine Gegner das Gegenteil behaupten. Aber erschafft tatsächlich Arbeitsplätze und er schafft vor allenDingen Exportchancen.
Exportchancen hat man nur dann, wenn man eineglaubwürdige und überzeugende Referenzstrecke hat,die zeigt, dass der Massenverkehr zwischen großenZentren übersetzt werden kann. Man kann keine über-zeugende Anwendungsstrecke in Vororten mit Kleinst-lösungen schaffen. Nein, es muss eine wirklich großeLösung zustande kommen. Dr. Winfried Wolf
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7549
Wir haben in Deutschland, was Entwicklung angeht,zwei besonders dynamische Städte: Hamburg und Ber-lin. Ich glaube sehr wohl, dass es richtig ist, gerade hierbzw. dort und nicht woanders anzusetzen.
Der Transrapid befindet sich auf einer Zielgeraden.Über 90 Prozent der 300 Kilometer langen Strecke sindbereits planungsrechtlich abgesichert und damit ist eineUmsetzung möglich. Nach Einschätzung der Bundesan-stalt für Medizin gibt es kein sichereres Verkehrsmittel.Denken Sie einmal an die Hunderttausende, die pro Jahrverunglücken.
Das ist ein wichtiges Argument, auf neue, sichereVerkehrsmittel zu setzen. Auch bei der Bahn gibt es lei-der noch zu viele Verkehrsunfälle. Der Transrapid istumweltfreundlich. Es hat lange gedauert, bis viele Frak-tionen in diesem Hause bereit waren, das mitzutragen.Der Transrapid kann ferner umgesetzt werden. Die hier diskutierte Alternative, auf der StreckeHamburg – Berlin auf die Rad-Schiene zu setzen, hatdeutlich gemacht, dass es keinen Kostenvorteil für dieRad-Schiene-Technik gibt.
Im Gegenteil: Zu den jetzt schon in die Rad-Schiene-Technik auf der Strecke Hamburg – Berlin investierten5,5 Milliarden DM müssten noch einmal 7 MilliardenDM hinzukommen, wenn man diese Strecke auf eineGeschwindigkeit auf 200 km/h ausbauen wollte. Dasbedeutet, dass die Strecke teurer wird als beim Transra-pid.
1931 fuhr man auf der Strecke zwischen Hamburg nachBerlin schneller als heute. Ich glaube schon, dass es unabhängig von den Finan-zierungsbedenken richtig ist, jetzt einmal über die ei-gentlichen Ansatzpunkte nachzudenken, die für eineEntscheidung sprechen. Herr Bundesverkehrsminister,Sie haben jetzt die Chance dazu. Ihre Parteigenossensind dafür: Herr Schröder ist dafür, Herr Stolpe ist dafür,Ihr Vorgänger, Herr Müntefering, ist dafür, Herr Cle-ment ist dafür, Herr Runde ist dafür.
Deren Überlegung ist doch richtig, dass sich diese Tech-nik lohnt. Sie sagen auch nicht Nein zur Referenzstre-cke. Auch der Bundesfinanzminister, der vorher Minis-terpräsident in dem Land war, wo Thyssen zu Hause ist,hat für den Transrapid plädiert, ohne irgendwie vonThyssen abhängig zu sein. Warum plädieren denn Spitzenpolitiker der SPD ingroßer Zahl und aller Deutlichkeit für den Transrapidund sprechen sich nicht gegen die Referenzstrecke aus?Sie wissen, dass sie nach den Wahlen in Schleswig-Holstein, das als einziges Bundesland eine Verfassungs-klage dagegen eingereicht hatte, keinen Widerstandmehr zu befürchten haben. Damit wird sich das Problemlösen. Auch Sie, Herr Schmidt, haben doch jetzt zurück-gezogen.
Fünfmal hat die Regierung in den letzten Monatenangekündigt, sich zu entscheiden. Fünfmal hat sie nichtentschieden. Warum denn eigentlich nicht? Man sollteehrlich sein und sagen, dass man sich nach den Wahlenin Schleswig-Holstein entscheiden wird.
Es wäre sehr hilfreich, wenn der Bundesverkehrsminis-ter endlich sagen würde, dass er bereit ist, das, was seinesozialdemokratischen Vorgänger vor 30 Jahren auf denWeg gebracht haben, zu verwirklichen. Das ist dochkeine Frage der politischen Ausrichtung von CDU/CSU,F.D.P., SPD oder den Grünen.
Es ist eine Frage, ob Deutschland fähig zum Fortschrittund risikobereit ist. Das können wir doch jetzt nocheinmal zeigen.
Herr
Börnsen, bitte.
Haben
Sie Mut und überqueren Sie diese Zielgerade! Wir kön-
nen es schaffen. Der Transrapid lohnt sich als Zukunfts-
projekt für unser Land.
Danke schön.
Alsnächster Redner hat der Bundesminister ReinhardKlimmt das WortReinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,Bau- und Wohnungswesen: Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Angesichts der aktuellen, teilweiserecht hitzig geführten Diskussion ist es notwendig, nocheinmal den Stand des Verfahrens darzustellen und in ei-Wolfgang Börnsen
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7550 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
ner sachlichen Debatte aus der Sicht der Bundesregie-rung zu reflektieren.
Natürlich sind wir der Auffassung, dass wir stolz seinkönnen, dass diese Technologie in Deutschland entwi-ckelt worden ist.
Dank des deutschen Ingenieurgeistes liegen wir bei die-ser Technologie klar und eindeutig vor den Japanern, diemit ihrem System erhebliche Schwierigkeiten haben. Sieversuchen ja, auf dem gleichen Gebiet annähernd so gu-te Ergebnisse zu erzielen, wie wir sie bei uns erreichthaben.
Es besteht auch gar kein Zweifel daran, dass über die-se Technologie bei Politikern verschiedener Parteienimmer Konsens geherrscht hat. Das geschah aus demWissen, dass Innovation eine der Voraussetzungen ist,wenn wir uns ökonomisch auf den Weltmärkten behaup-ten wollen. Es war in der Tat Georg Leber, der denTransrapid mit anderen zusammen auf die Spur gebrachthat und einen Plan entwickelt hat.
Damals bestand noch das Ziel, daraus eine Technologiezu machen, die praktisch dauerhaft in die Verkehrskon-zepte der Bundesrepublik integriert und eingesetzt wer-den könnte. Allerdings ist dann die Entwicklung in dieser Frageanders gelaufen. Zwar müssen wir jetzt aus technologie-und industriepolitischen Gründen die Angelegenheit in-tensiv und mit aller Sorgfalt weiter betreiben;
aber wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dasses für uns momentan verkehrspolitisch nur, wenn über-haupt, eine Ergänzung sein kann. Falls der Transrapid inDeutschland oder im dicht besiedelten Europa insgesamtüberhaupt jemals eine Rolle spielen wird, dann jeden-falls nicht in den nächsten 20, 30 Jahren. Die Entschei-dung – man mag das bedauern, man kann es aber auchganz realistisch zur Kenntnis nehmen – ist sowohl in derBundesrepublik – von deutscher Seite waren daran mei-ne Vorgänger von Ihrer Couleur beteiligt – als auch inFrankreich zugunsten der Rad-Schiene-Technik gefal-len. Die ICE-Technik und die ICE-Strecken sind ja nichtvon uns ausgebaut worden, sondern der Ausbau ist vonden Verkehrsministern vorangetrieben worden, die vonder Union gestellt worden sind,
weil man wusste, dass es seinerzeit dazu keine prakti-sche Alternative gab. Den Transrapid muss man als mögliche Zukunfts-technologie auch für Europa jetzt vorantreiben; aktuellaber ist das eine Ergänzungstechnologie und vor allem –das ist ja völlig richtig – eine Exportchance für uns, so-fern ein ernsthaftes Interesse an anderer Stelle erkennbarwird. Allerdings muss sich das dann auch ökonomischumsetzen lassen. Natürlich haben sich schon sehr vieleIngenieure oder Staatsmänner und Staatsfrauen – dieletzte war die niederländische Verkehrsministerin – inLathen das System angeschaut, sind damit gefahren undhaben es bewundert. Aber es ist noch nie – weder mitChina noch mit den USA noch mit den Niederlanden –zu irgendeiner konkreten Verhandlung gekommen, ausder erkennbar gewesen wäre, dass man bereit ist, dasSystem zu kaufen. Hier bleibt es leider im Vagen. Selbstverständlich hat China Interesse an einer Trans-rapidverbindung von Schanghai nach Peking, die rund60 Milliarden DM kostet. Die Chinesen werden sie al-lerdings nur bauen, wenn wir sie ihnen bezahlen. Das istsicherlich nicht im Sinne der deutschen Politik. DiesesProblem muss dabei mit bedacht werden.
Es gab eine lange andauernde Überlegung, in welcherWeise man eine Referenzstrecke einrichtet. Die Wahlist nach einer ganzen Reihe von Untersuchungen – dieEntscheidung fiel unter Ihrer Verantwortung – auf dieStrecke Hamburg – Berlin gefallen. Anschließend ist ei-ne Umsetzungsvereinbarung getroffen worden; in dieserEckpunktevereinbarung ist festgelegt, dass die Bundes-regierung für die Finanzierung des Fahrweges zuständigist, während sich das Industriekonsortium und die DBAG darauf verständigt haben, in welcher Weise diesonstigen Investitionen und die Betriebskosten aufge-bracht werden.Dabei sind eine Reihe von Daten in Ansatz gebrachtworden, von denen man nicht unbedingt sagen kann,dass sie sich als haltbar erwiesen hätten. So ist in derAnalyse zum Beispiel die Zahl der Beförderungsfälle –so nennt man das – reduziert worden. Momentan sind8,6 Millionen so genannter Beförderungsfälle Berech-nungsgrundlage.
– Ich weiß, dass die Argumente, die ich jetzt vortrage,Ihnen nicht schmecken.
Wir brauchen uns aber um diese späte Zeit wirklichnicht mehr mit Polemik zu beharken. Angesichts der ge-ringen Präsenz und der geringen Aufmerksamkeit soll-ten wir uns lieber den Luxus leisten, miteinander zu ar-gumentieren. Ich bin immer noch der Meinung, dass Siesehr wohl in der Lage sind, sich in diesem Hause ratio-nal zu verhalten,
Bundesminister Reinhard Klimmt
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7551
und dass Sie das Haus nicht nur als eine Bühne für irra-tionale Verhaltensweisen nutzen. Fest steht, dass wir momentan auf der Strecke2,2 Millionen Fahrgäste haben. Somit müsste mit derneuen Technologie eine Vervierfachung durchgesetztwerden. Ich nenne das nur als Kriterium, damit deutlichwird, dass nicht alles von vornherein so eindeutig undklar ist, dass es verantwortbar wäre, die Strecke auf je-den Fall zu bauen. Sie kann nicht um jeden Preis gebautwerden, sondern nur zu vernünftigen und vertretbarenKonditionen.
Es ist doch völlig klar: Die Bedingungen sind von unsfestgelegt worden; wir geben 6,1 Milliarden DM dazu.Das ist weiß Gott nicht wenig. Man muss nämlich be-denken, dass aus Forschungsgeldern bereits 2,2 Milliar-den DM in dem Projekt stecken.
Wenn man das System bauen, aber auch mögliche Risi-ken abdecken will, muss man davon ausgehen, dassnicht immer die Forderungen an den Bund gerichtetwerden, sondern dass sich auch diejenigen, die auf dasSystem setzen und die an ihm verdienen wollen, einmaletwas stärker in dieser Frage engagieren.
Auf keinen Fall darf man die Bahn in dieser Frage inein Abenteuer zwingen. Wir haben sie gerade erst – ichmöchte sagen – von der Gängelung durch die öffentlicheHand befreit, damit sie frei und wirtschaftlich ent-scheiden kann. Es ist also nicht sinnvoll, wenn man ihrjetzt wieder politisch eine Aufgabe aufdrückt, die öko-nomisch nicht zu lösen ist. Deswegen müssen wir ab-warten, wie sich die Bahn zu diesem Thema äußert. Wirwollen und können uns kein weiteres Zuschussgeschäftleisten. Die Bahn würde ein solches Geschäft nicht ver-kraften können.
Herr
Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Fischer?
Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Ja, natürlich.
Bitte
schön, Herr Fischer.
Herr Minis-ter, Sie haben gesagt, wir müssten abwarten, wie sichdie Bahn entscheidet. Können Sie mir bestätigen, dassder Brief, den Herr Mehdorn geschrieben hat und der öf-fentlich bekannt geworden ist, mit Ihnen abgestimmtwar?Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,Bau- und Wohnungswesen: Nein, der Brief ist nicht mitmir abgestimmt gewesen. Diesen Brief hat er von sichaus an Herrn Posch geschrieben.
Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,Bau- und Wohnungswesen: Ich habe gesagt, dass derBrief nicht mit mir abgestimmt war. Zu Ihrem Versuch,sozusagen ein Zusammenspiel zwischen Bundesregie-rung und Bahn herzustellen, um einen negativen Ein-druck zu erzielen, sage ich Ihnen: Das ist eine Unterstel-lung, die keine Grundlage und keinen realistischen Hin-tergrund hat.
Wir haben selbstverständlich auch versucht, beimTransrapid Partner zu finden. Die Partnerschaften warenaber etwa auf der französischen und der niederländi-schen Seite nicht zu finden. Das heißt, auch in diesemPunkt muss man realistisch an die Frage herangehen, obzu den vonseiten der Bahn genannten Konditionen die-ses Projekt wirtschaftlich zu fahren ist. In diesen Ge-sprächen befinden wir uns momentan. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen:Auch ich habe mich nicht in irgendeiner Weise von derStrecke Hamburg – Berlin verabschiedet. Diese Streckeist doch die Grundlage aller Verhandlungen und Gesprä-che gewesen. Es gab ja auch den Versuch von FranzMüntefering, durch das Vorschlagen der Einspurigkeiteine Lösung zu finden, die in einem vernünftigen Rah-men realisierbar gewesen wäre. Aber Franz Münteferingkonnte nicht und auch Reinhard Klimmt kann nicht fest-stellen, ob die Bahn zu diesen Konditionen wirtschaft-lich arbeiten kann. Diese Frage muss von der Bahnselbst beantwortet werden.Es muss auch vonseiten des Industriekonsortiums klargesagt werden, ob die beteiligten Unternehmen bereitsind, auf die im Eckpunktepapier vereinbarte Rückzah-lungsverpflichtung zu verzichten, was man vom Bundunter der Hand schon erwartet hat. All diese Punkte sindeindeutig bekannt. Darüber muss noch gesprochen wer-den; in diesem Diskussionsprozess befinden wir unsBundesminister Reinhard Klimmt
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7552 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
jetzt. Ich lasse mich aber nicht in Hudeleien verstricken,indem man versucht, uns durch eine zugespitzte Debattezu Aussagen hinsichtlich Sachverhalten zu zwingen, ü-ber die man momentan noch keine Aussage machenkann. Das werden Sie auch heute Abend nicht schaffen.
Wir wollen erreichen, dass diese Technologie bei unsim Lande durchgesetzt wird. Dabei ist völlig klar – dar-über sind wir uns einig –, dass man diese Technologieanderen nicht anbieten kann, wenn ihre Funktionsfähig-keit nicht in irgendeiner Weise auf einer Referenzstreckenachweisbar ist. Man muss also nachweisen, dass dieseTechnologie im Alltagsbetrieb wirklich funktioniert. DieStrecke allein in Lathen zu betreiben reicht nicht aus.Darüber sind wir uns völlig im Klaren. Es geht darum,zu prüfen, ob das System im aktiven Betrieb wirklichfunktioniert. Man braucht nur in die Koalitionsverein-barung hineinzuschauen, in der eindeutig steht, dass Al-ternativstrecken zu prüfen sind, wenn die StreckeHamburg – Berlin nicht zu realisieren sein sollte.Das ist eine Frage, an die wir jetzt noch gar nicht he-rangehen, weil sich die Strecke Hamburg – Berlin im-mer noch in der Debatte befindet und diskutiert werdenmuss. Aber ein Punkt ist dabei auch noch klar. Sie habengefragt, warum man so viele Anläufe gebraucht hat –:Vor Weihnachten ist gesagt worden, die Länder seienbereit, Risiken mit abzudecken. Aber es hat sich hinter-her herausgestellt, dass die Länder nicht bereit sind, einBetriebsrisiko durch Bürgschaften mit abzudecken.
Deswegen hat sich die Situation dadurch für die Bahn inkeiner Weise verändert und verbessert. Man muss prü-fen, welche Strecke alternativ eingesetzt werden kann.Das werden wir dann tun, falls die Gespräche es erge-ben. Wenn man die Strecke Hamburg – Berlin zu ver-tretbaren Bedingungen nicht realisieren kann, dann mussman in der Tat – dazu bitte ich dann auch um Ihre Un-terstützung, falls das eintreten sollte – zusammen im In-teresse der Technologie nach einer Alternativstrecke su-chen, damit wir das Technologieprojekt als solches nichtbeerdigen müssen, sondern ihm eine Chance geben kön-nen. Das ist der Auftrag, den wir, glaube ich, haben,wenn es um den technologiepolitischen Ansatz unsererArbeit geht.
Es gibt eine Reihe von Vorschlägen. Von HerrnMehdorn ist vorgeschlagen worden, Schönefeld mit derStadt zu verbinden. Es gibt schon länger die Diskussion,ob es eine Verbindung zwischen München und der In-nenstadt geben soll. Es wäre auch denkbar, noch einmaldie Idee eines Shuttles zwischen den Flughäfen Düssel-dorf und Köln zu prüfen. Es gibt also eine ganze Reihevon Varianten, um die man sich kümmern sollte. Denneines ist klar, um es noch mal zu sagen: Es geht darum,im Betrieb zu prüfen. Dafür ist die Länge der Streckenicht entscheidend. Entscheidend ist, dass man deutlichmacht, dass der Betrieb des Systems auch im täglichenGebrauch mit Passagieren funktioniert.
Darum geht es und dafür können wir dann, wenn dieseintritt, auch eine andere Strecke suchen.Meine Damen und Herren, wir werden jetzt die näch-sten Schritte in aller Ruhe mit den Partnern beraten, dieeinen Anspruch darauf haben, dass wir mit ihnen dar-über reden, wie wir den Schritt weiter nach vorne weitergemeinsam gehen, nachdem sie so viel Engagement undteilweise auch so viel Geld eingesetzt haben. Ich freuemich, dass ich dabei die Unterstützung der Sozialdemo-kraten und der Bündnisgrünen in diesem Hause habeund ich hoffe, dass Sie uns auch auf diesem Wegepositiv und nicht nur mit nicht ganz so gut gemeintenRatschlägen begleiten werden.
Ichschließe die Aussprache.Wir kommen zum Antrag der Fraktion der CDU/CSUbetreffend die zügige Realisierung desTransrapidprojektes auf Drucksache 14/2359. DieFraktion der SPD hat beantragt, den Antrag zu über-weisen zur federführenden Beratung an den Ausschussfür Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und zurMitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, denHaushaltsausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft undTechnologie, den Ausschuss für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit, den Ausschuss für Angelegenhei-ten der Neuen Länder, den Ausschuss für Bildung,Forschung und Technologiefolgenabschätzung, denAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung und an den Ausschuss für Tourismus. DieFraktion der CDU/CSU verlangt hingegen sofortigeAbstimmung. Nach ständiger Übung geht dieAbstimmung über den Überweisungsvorschlag vor. Ich bitte diejenigen, die dem Überweisungsvorschlagder Fraktion der SPD zuzustimmen wünschen, um dasHandzeichen. Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich?–Dann ist der Überweisungsvorschlag angenommen mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-men aller Oppositionsfraktionen. In der Sache stimmenwir dann nicht mehr ab.Es folgt der Antrag der Fraktion der PDS zur Aufhe-bung der gesetzlichen Verpflichtung zum Bau der Trans-rapidstrecke Berlin – Hamburg auf Drucksache 14/2524.Die Fraktion der SPD hat auch hierzu beantragt, den An-trag an die gleichen Ausschüsse zu überweisen, an diewir soeben den CDU/CSU-Antrag zum Transrapidpro-jekt überwiesen haben. Die Fraktion der PDS verlangtBundesminister Reinhard Klimmt
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eine sofortige Abstimmung. Jetzt wird wie zuvor erstüber den Überweisungsvorschlag abgestimmt.Ich bitte diejenigen, die dem Überweisungsvorschlagder Fraktion der SPD zuzustimmen wünschen, um dasHandzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Dann ist der Überweisungsvorschlag bei Zustimmungder Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der PDS-Fraktion und bei Enthaltung der CDU/CSU- und derF.D.P.-Fraktion angenommen. Auch hier wird in der Sa-che nicht mehr abgestimmt. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 sowie die Zu-satzpunkte 8 und 9 auf:11. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
zu dem Antrag der Abgeordneten Ursula Bur-chardt, Monika Griefahn, Heinz Schmitt ,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derSPD sowie der Abgeordneten Angelika Beer,Matthias Berninger, Hans-Josef Fell, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS90/Die GrünenFörderung der Friedens- und Konfliktfor-schung – Drucksachen 14/1963, 14/2419 – Berichterstattung: Abgeordnete Heinz Schmitt
Werner Lensing Hans-Josef Fell Jürgen W. Möllemann Maritta BöttcherZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten UrsulaBurchardt, Monika Griefahn, Heinz Schmitt
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten AngelikaBeer, Matthias Berninger, Hans-Josef Fell, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS90/DIE GRÜNENGründung einer Stiftung zur Friedens- undKonfliktforschung– Drucksache 14/2519 –ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wer-ner Lensing, Eckart von Klaeden, Dr. AndreasSchockenhoff, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSUVorbereitung auf neue Herausforderungenan Deutschlands Sicherheitspolitik – Stär-kung der Friedens- und Konfliktforschungals Teil der politikberatenden Forschung– Drucksache 14/2521 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich hö-re keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als ersten Red-ner dem Kollegen Heinz Schmitt von der SPD-Fraktiondas Wort.
Sehr geehrter Herr Prä-sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit den beidenvorliegenden Anträgen zur Förderung der Friedens- undKonfliktforschung und zur Einrichtung einer DeutschenStiftung Friedensforschung will die Regierungskoalitioneinen Forschungsbereich stärken, dessen wachsende Be-deutung durch die Ereignisse des letzten Jahres nocheinmal unterstrichen wurde.Wir haben im Kosovo wieder einmal erfahren müs-sen, dass die Möglichkeiten von Krisenprävention undgewaltfreier Konfliktbewältigung weiterhin unzurei-chend sind, auch wenn im Falle des Kosovo natürlichdas ideologische und Menschen verachtende Regime inBelgrad das Scheitern der diplomatischen Bemühungenzu verantworten hat.Eine nüchterne Bilanz des Krieges auf dem Balkanzeigt, dass die internationale Staatengemeinschaft mitihren Militäroperationen und dem großen diplomati-schen Engagement der deutschen Außenpolitik zwar ih-re Ziele erreicht hat, nämlich die Menschenrechtsverlet-zungen und die Vertreibung der albanischen Bevölke-rung aus dem Kosovo beendet wurden und ein Friedens-abkommen erzwungen wurde. Wir wissen aber auch,dass sich im Verlauf der Militäroperation die Vertrei-bungen der Zivilbevölkerung verstärkten und Hundert-tausende von Menschen unter schlimmsten Bedingungenauf der Flucht waren. Die ganze Region war in einemkritischen, instabilen Zustand geraten.Wie nicht anders zu erwarten, steht am Ende auchdieser Maßnahme zur Friedenserzwingung die Notwen-digkeit, auf Jahre hinaus Truppen zu stationieren, umden Frieden abzusichern, das Aufflammen neuer Gewaltzu verhindern sowie beim Wiederaufbau der zerstörtenInfrastruktur zu helfen. Die Kosten für Militäreinsätze,für humanitäre Hilfe und für Wiederaufbaumaßnahmenwerden voraussichtlich einen Beitrag in dreistelligerMilliardenhöhe erreichen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es steht fest, dassangesichts der erwähnten Unwägbarkeiten, angesichtsder großen Folgeprobleme und -kosten die militärischeFriedenserzwingung immer nur die Ultima Ratio, dasletzte Mittel bei der Bewältigung von Konflikten seinkann. Krieg ist und bleibt immer ein Scheitern der Poli-tik.
Daher müssen wir nach Alternativen Ausschau hal-ten, mit denen die Konfliktspirale schon früher unter-brochen werden kann. Die kriegerischen Auseinander-setzungen auf dem Balkan sind beispielhaft für eineneue Form von Konflikten in der internationalen Politik,mit denen wir in den 90er-Jahren zunehmend konfron-tiert worden sind. In Zukunft werden immer öfter Kon-flikte entstehen, in denen ethnische, religiöse und kultu-relle Hintergründe eine Rolle spielen. Es sind bürger-kriegsähnliche Konflikte zu erwarten im Kampf umVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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7554 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Ressourcen, aufgrund von Bevölkerungswachstum, auf-grund sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit. Hinzukommen ökologische Ursachen wie die Klimaverände-rung und vieles mehr.Wenn wir also Entwicklungen wie im Kosovo zu-künftig vermeiden wollen, müssen wir versuchen, frühereinzugreifen, müssen wir verhindern, dass aus Konflikt-und Krisensituationen kriegerische Auseinandersetzun-gen werden.
Wir müssen daher einerseits Konsequenzen ziehen fürdie Außen- und Sicherheitspolitik; denn auch hier giltdie Binsenweisheit: Vorbeugen ist immer besser als hei-len. Für die Verrechtlichung von Konflikten und für dieFortentwicklung des Völkerrechtes brauchen wir eineStärkung der Vereinten Nationen, der OSZE und andererRegierungsorganisationen. Hier sind die staatlichen Ak-teure, hier sind Politik und Diplomatie gefordert.Auf der anderen Seite möchte die Regierungskoaliti-on aber auch stärker als bisher auf externen wissen-schaftlichen Sachverstand zurückgreifen. Es gilt, die In-strumente der Friedens- und Konfliktforschung zu stär-ken und besser in die politischen Entscheidungsprozesseeinzubeziehen. Hierzu gehören die Konfliktfrüherken-nung, die Ursachenanalysen und die friedliche Konflikt-bearbeitung.Das Potenzial der Friedens- und Konfliktforschungmit ihrem breitem Spektrum an Forschungsansätzen und-ergebnissen wurde von der alten Bundesregierung ehergering geschätzt. Die alte Bundesregierung hatte ja dieMittel für die Friedens- und Konfliktforschung zunächstdrastisch reduziert und zum Schluss de facto eingestellt.
Wir haben bereits im Koalitionsvertrag den Aufbaueiner Infrastruktur zur Krisenprävention und zivilenKonfliktbearbeitung vereinbart. Bereits für das Jahr1999 wurden daher auch die Mittel für die Friedens- undKonfliktforschung im Haushalt wieder eingestellt. Mitder nachdrücklichen Förderung dieser Disziplin geht esuns darum, den Transfer der wissenschaftlichen Ergeb-nisse hin zur Politik sicherzustellen und die Erkenntnissefriedlicher Konfliktbearbeitung nahe bei der Politik zuverankern.Aus diesem Grunde befürworten wir daher auch dieGründung einer mit ausreichenden Mitteln ausgestattenDeutschen Stiftung Friedensforschung, die ihre Auf-gaben weitgehend unabhängig von wechselnden politi-schen Interessen wahrnehmen kann.
Die Stiftung wird mit einem Stiftungsvermögen von50 Millionen DM ausgestattet und wird am Anfang alsunselbstständige Stiftung beginnen. Sie wird ab demJahre 2001 als selbstständige Stiftung ihre Arbeit fort-setzen. Die Stiftung hat einen Stiftungsvorstand, einenStiftungsrat, dem Vertreter des Bundestages, der Bun-desregierung und renommierte Friedensforscher angehö-ren werden. Die Stiftung soll wissenschaftliche Vorhaben stärken,den wissenschaftlichen Nachwuchs fördern und sie sollauch die Vernetzung vorhandenen Wissens und neuesterErkenntnisse organisieren. Sie soll Anstöße geben unddafür Sorge tragen, dass die wissenschaftlichen Resulta-te zeitnah bei den Verantwortlichen ankommen und indie politischen Entscheidungen einfließen können.Wir gehen davon aus, dass die Stiftung auch vomneuen Stiftungsrecht profitieren wird und dass privateMittel hinzukommen werden. Wir wollen sicherstellen,dass die politischen Entscheidungsträger auf eine wis-senschaftliche Unterstützung und professionelle Bera-tung bei der Konfliktbearbeitung zurückgreifen könnenund über die klassischen Mittel des staatlich-diplomatischen Instrumentariums hinausreichende Mög-lichkeiten haben und durch dieses Instrumentarium neueHandlungsansätze erhalten. Wir versprechen uns vondem Rückgriff auf das vorhandene Fachwissen einenAnstoß zur Stärkung einer neuen, präventiv agierendenund nicht reagierenden Konfliktbewältigung in der Au-ßen- und Sicherheitspolitik.Meine Damen und Herren, ich denke, wir sind unseinig, dass nichts unversucht bleiben darf, was ein neuesKosovo zu verhindern hilft.
Die Stärkung der Friedens- und Konfliktforschung istdeshalb unerlässlich. Ich bitte Sie herzlich um Unter-stützung unserer Anträge.Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Eckart von Klaeden
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Sehr geehrte Damen und Herren Kollegen! Dass dieFriedens- und Konfliktforschung einer besseren Förde-rung bedarf, ist zwischen uns Konsens, glaube ich. Um-so mehr sind wir von dem enttäuscht, was die Regie-rungskoalition hier vorlegt.Wir können feststellen, dasses in Wirklichkeit gar nicht darum geht, eine unabhängi-ge wissenschaftliche Friedens- und Konfliktforschungzu schaffen und zu unterstützen, sondern dass es imGrunde um Schmerzensgeld für diejenigen geht, die sichvon dieser Bundesregierung aus ideologischen Gründenenttäuscht fühlen.
Heinz Schmitt
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7555
Ich möchte den Gedanken einmal auf die Zeit lenken,als die Grünen noch in der Opposition waren. Zur Zeitdes Bosnien-Krieges waren die Grünen der Ansicht,dass man den Konflikt nicht mit militärischen Mitteln,sondern allein mit dem wissenschaftlichen Ergebnis dervon ihnen präferierten Friedens- und Konfliktforschunglösen müsste. Damals war der heutige StaatsministerLudger Volmer als Bundestagsabgeordneter Gast in derSendung „Talk im Turm“. Als ihm die Frage gestelltwurde, was man denn machen solle, wenn eine aggres-sive Macht wie Serbien unter Milosevic einfach dieNachbarn überfalle, hat er geantwortet, dann dürfe mannicht militärisch eingreifen, sondern müsse die Erkennt-nisse der Friedens- und Konfliktforschung nutzen. Diesehabe jetzt herausgefunden, dass man Chemikalien aus-streuen könne, die dafür sorgten, dass sich bei den mili-tärischen Radfahrzeugen die Bereifung auflösen würde,wodurch das militärische Vorrücken der serbischenTruppen empfindlich gestört würde.
Nun hat man von diesen bedeutenden Erkenntnissenund wissenschaftlichen Früchten der den Grünen undanderen nahe stehenden Friedens- und Konfliktfor-schung im Kosovo-Krieg und generell, seitdem die Grü-nen und die SPD an der Regierung sind, nichts mehr ge-hört. Gleichwohl soll jetzt mit Steuergeldern ein ideolo-gischer Biotop geschaffen werden. Dabei geht es mehrum die Versorgung bewährter Parteigänger als um einewissenschaftlich fundierte Forschung und außeruniversi-täre Politikberatung.
Gerade diese Regierung, Herr Kollege Schmidt, hat die-se Beratung bitter nötig.Es besteht kein Zweifel, dass in einer unübersichtli-cher gewordenen Welt von heute Friedens- und Kon-fliktforschung ihren Platz hat. Sicherheit lässt sich heu-te nicht mehr rein territorial definieren und ausschließ-lich militärisch bestimmen. Dem Stabilitätstransfer, derKrisenvorsorge und der Konfliktprävention kommen inZukunft immer größere Bedeutung zu. Nur gemeinsamund in enger Abstimmung mit unseren internationalenPartnern lassen sich die vor uns liegenden Aufgabenmeistern.Deutschland muss vor diesem Hintergrund seine si-cherheitspolitischen Ziele und Wege neu definieren, sei-ne Instrumente überprüfen und, wo nötig, an die neueLage anpassen. Praxisorientierte Politikberatung kanndazu neben der Administration einen wertvollen Beitragleisten. Eine Friedens- und Konfliktforschung, die sichnicht im akademischen Elfenbeinturm verkriecht, son-dern die Nähe zur praktischen Politik sucht, hat dabei ih-ren Platz.Mit der Stiftung Wissenschaft und Politik in Eben-hausen, mit dem Bundesinstitut für ostwissenschaft-liche und internationale Studien und mit der DeutschenGesellschaft für Auswärtige Politik verfügen wir aller-dings über renommierte Institutionen, die Friedens- undKonfliktforschung zum Gegenstand haben und aus Bun-desmitteln gefördert werden. Dazu kommen eine Reihekleinerer Institute, wie die Hessische Stiftung Friedens-und Konfliktforschung, das Institut für Theologie undFrieden, die Forschungsstätte der Evangelischen Stu-diengemeinschaft oder das Institut für Friedensfor-schung und Sicherheitspolitik an der Universität Ham-burg, die sich ebenfalls, mehr oder weniger praxisrele-vant, ganz plural mit Fragen der Friedens- und Konflikt-forschung beschäftigen.Die Bundesregierung hat sich unlängst in den ge-meinsamen Leitlinien und im Beschluss, die StiftungWissenschaft und Politik sowie das Bundesinstitut fürostwissenschaftliche und internationale Studien unter ei-nem Dach in Berlin zu vereinen, zur Bündelung derKräfte und Stärkung der politikberatenden Forschungbekannt. Eine neue Stiftung zur Friedens- und Konflikt-forschung, wie sie Bundesministerin Bulmahn jetzt demBundestag zum Beschluss vorlegt, ist deshalb überflüs-sig wie ein Kropf.
Sie würde neue bürokratische Strukturen schaffen, diezusätzliches Geld von der Forschung abziehen, und siewürde die allfälligen Bekundungen von Bun-deskanzleramt und Auswärtigem Amt zur Stärkung deraußeruniversitären politikberatenden Forschung Lügenstrafen.
Bereits im Zusammenhang mit dem Umzug von SWPund BIOST hat die Bundesregierung ein tieferes Ver-ständnis für die Bedeutung einer außenpolitischen Poli-tikberatung vermissen lassen. Der Beitrag von Bundes-kanzler Schröder im Auswärtigen Ausschuss ist allengeläufig. Als er gefragt wurde, wie es denn mit der au-ßeruniversitären Politikberatung stehe, hat er gesagt:Wieso, ich habe doch hier meinen Steinmeier.
Nur auf massiven Druck des Deutschen Bundestagesund dankenswerterweise auch der Fraktion der SPD istes gelungen, das Bundeskanzleramt von seinen abwegi-gen Vorstellungen hinsichtlich der Verschiebung desUmzugs abzubringen.Dies hätte im Resultat den Todesstoß für das neue Berli-ner Institut bedeutet. Um so verwunderlicher ist es, wenn Bundesministe-rin Bulmahn in ihrem Haushalt auf einmal 50 MillionenDM zur so genannten Stärkung der Friedens- und Kon-fliktforschung findet. Wer sich die Liste der Mitgliederder Struktur- und Findungskommission für die Stif-tung für Friedens- und Konfliktforschung ansieht, wirdmit einiger Verwunderung feststellen, dass es gelungenist, bei der Auswahl ausschließlich altbekannte Vertreterein und derselben politischen Schattierung zusammen-zubringen: Von Egon Bahr bis Ulrich Albrecht, von Die-ter Lutz bis Herbert Wulf, von Eva Senghaas-Knoblochbis Volker RittbergerEckart von Klaeden
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haben wir es ausschließlich mit Wissenschaftlern zu tun,die bislang vor allem durch parteinahe wissenschaftlicheÄußerungen von sich reden gemacht haben.
Wenn Sie sich diese Liste einmal ansehen, werden Siefeststellen, dass nur Marion Gräfin Dönhoff wirklichrechts außen steht. Das ist, so finde ich, ein be-merkenswerter Beitrag an Einseitigkeit.Damit kein Missverständnis entsteht: Es handelt sichnicht um ein Kuratorium beim Vorstand der Sozialde-mokratischen Partei Deutschlands. Es handelt sich umdie Mitglieder der Struktur- und Findungskommissioneiner zu gründenden Stiftung für Friedens- und Konflikt-forschung, die, wie es im Antrag von SPD und Bündnis90/Die Grünen heißt, „Anregungen und Anstöße“ gebensollen, „insbesondere für die multidisziplinäre und inter-nationale wissenschaftliche Kooperation sowie für dieZusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis“. Manmuss kein Prophet sein, um zu vorauszusagen, dass beiso viel Parteilichkeit die wissenschaftliche Unabhängig-keit auf der Strecke bleiben wird. Gegen die Förderung der Friedens- und Konfliktfor-schung ist nichts einzuwenden. Die Bundesregierunghätte allerdings gut daran getan, die jetzt zur Verfügunggestellten Mittel dem neuen Institut in Berlin, das ausder Stiftung „Wissenschaft und Politik“ und aus demBundesinstitut für Ostwissenschaftliche und In-ternationale Studien gebildet wird, zu übertragen, damitvon dort aus in engem fachlichen Austausch mit den an-deren auf dem Gebiet der Friedens- und Konfliktfor-schung tätigen Instituten Ergebnisse erzielt werden kön-nen, von denen auch Bundestag und Bundesregierungprofitieren können. Die Vorstellungen, die in dem vorliegenden Antragdargelegt werden, und die, die in der Liste von Bundes-ministerin Bulmahn zum Ausdruck kommen, triefenhingegen vor Parteilichkeit und lassen eine „hidden a-genda“ vermuten. Deutschland, will es seiner gewachsenen internatio-nalen Verantwortung gerecht werden, muss auch inder Sicherheitspolitik mit Blick auf eine Vielzahl vonneuen Herausforderungen andere Wege gehen. Denn dieAufgaben der deutschen und der atlantischen Sicher-heitspolitik haben sich sowohl geographisch als auchfunktional verändert. Dazu kann auch eine verstärkte po-litikberatende Forschung einen Beitrag leisten.
Mit den Vorstellungen der Bundesregierung zur Frie-dens- und Konfliktforschung, wie sie in den beiden An-trägen der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen zum Ausdruck kommen, ist dieser Weg kaum gang-bar. Es wäre deshalb angebracht, wenn die Bundesregie-rung ihre bisherigen Vorstellungen überdenkt und imLichte unseres Antrages noch einmal überarbeitet. Ichkann ja verstehen, dass man in einer Koalition, in der dieVorstellungen über die Außen- und Sicherheitspolitik soweit auseinander gehen wie bei Ihnen, zu absurdenTauschgeschäften kommt, zum Beispiel dazu, dass manvereinbart, einen Testpanzer an die Türkei zu liefern –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege von
Klaeden, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
– ich komme so-
fort zum Schluss – und umgekehrt 50 Millionen DM für
die Pflege der eigenen Klientel zur Verfügung zu stellen.
Das Einzige, was uns hier noch hoffnungsfroh stimmt,
ist, dass Sie wenigstens den abwegigen Weg gewählt
haben, dass das Stiftungskapital sich selber aufzehrt.
Man kann nur hoffen, dass dieser Spuk bald zu Ende ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Win-
fried Nachtwei.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächsteinmal zu dem Antrag der CDU/CSU-Opposition zurStärkung der Friedens- und Konfliktforschung. Diesenhaben Sie mit der wachsenden Bedeutung von Krisen-vorsorge und Konfliktprävention begründet. Als ich ihndurchlas, war ich nach der Überschrift und der Einlei-tung zunächst einmal etwas erfreut. Denn damit sind Sieimmerhin von Ihrer bisherigen Position, der Friedens-und Konfliktforschung gegenüber pauschal Ignoranz zuzeigen und nur politische Verdächtigungen auszuspre-chen, abgerückt
Wenn man sich dann allerdings Ihre konkreten Forde-rungen ansieht und die Rede von Herrn von Klaeden be-rücksichtigt, muss man sagen: Von dieser Positionsände-rung ist real nichts übrig geblieben.Die Vorwürfe einer Klientelpolitik laufen auf die Belei-digung verschiedenster Wissenschaftler und Institutehinaus. Sie setzen im Grunde darauf, nur den Teil derbisher Ihrer Regierung nahe stehenden Politik der bera-tenden Forschung zu fördern, der bislang schon geför-dert wurde.
Eckart von Klaeden
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7557
Wer so selektiv vorgeht, hat offensichtlich den tatsächli-chen Handlungsbedarf in der internationalen Politik inkeiner Weise verstanden.
Ich möchte zwei aktuelle Hinweise geben. Erstens.Heute war in der Zeitung „Die Woche“ ein Kommentardes Kommandeurs der KFOR-Friedenstruppe zur bishe-rigen Politik der internationalen Gemeinschaft bezüglichdes Kosovo zu lesen. Dort hieß es: Das gesamte Kosovo-Budget der UN lag für 1999bei 125 Millionen Mark: Das ist ein Viertel dessen,was die Nato an einem Tag an Geld verbombt hat.Es ist abenteuerlich dumm,– so General Reinhardt –dass wir damals die Finanzen aufbrachten, dochjetzt, wo es um den Wiederaufbau geht, fehlen sie.Die internationale Gemeinschaft hat erstmals in derGeschichte die Verpflichtung übernommen, einLand vorübergehend zu regieren – da genügt esnicht, ein paar Beamte herzuschicken und ihnen zusagen: Macht mal!Der zweite aktuelle Hinweis: Die Jugendoffiziere derBundeswehr schilderten in ihrem letzten Bericht, dassnichtmilitärische Ansätze der Sicherheitspolitik unterSchülern „ohne Bedeutung“ seien, dass die VereintenNationen wenig bekannt seien. In einem vorherigen Be-richt hieß es:Die Fähigkeit von Streitkräften zur Konfliktlösungwird allgemein falsch beurteilt und oft überschätzt.Schüler sehen sie selten als „ein Element unter an-deren“ zur Eindämmung eines Krieges oder Kon-fliktes, sondern als „Allround-Medizin“ an.Das sind nur zwei aktuelle Belege für eine ausdrück-liche Beschränktheit des politischen Denkens, nach demSicherheitspolitik, Schaffung von Frieden und Krisen-bewältigung überwiegend nur in ihrer militärischen Di-mension wahrgenommen werden. So ist es kein Wunder,wenn die zivile Implementierung von Friedensabkom-men, sei es das Abkommen von Dayton, sei es das Ab-kommen zum Kosovo, notorisch vernachlässigt und da-mit die Verewigung von Krisen provoziert wird.
Diese sicherheits- und friedenspolitische Engstirnig-keit kommt nicht von ungefähr. Sie hat erheblich zu tun– das ist keineswegs die einzige Ursache, es gibt eineganze Reihe – mit der marginalen Rolle, die die Frie-dens- und Konfliktforschung in Deutschland einnimmt.Diese Marginalisierung hat die alte Regierung Kohl imLaufe der 16 Jahre aktiv betrieben:
1983 beendete die damalige Bundesregierung die Förde-rung der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Kon-fliktforschung; die damalige Jahresförderung betrug un-gefähr 4 Millionen DM. Einzelne Länder, Hamburg undHessen, sind eingesprungen. 1994 stellte die Bundesre-gierung die Förderung der Sonderforschung für Frie-dens- und Konfliktforschung der Deutschen For-schungsgemeinschaft ein, trotz offenkundig gewachse-ner sicherheitspolitischer Probleme und Herausforde-rungen. 1997 – daran müssten Sie alle sich noch erin-nern – brachte der Bund gerade einmal 371 000 DM aninstitutioneller Förderung für die Friedens- und Kon-fliktforschung auf.Die Koalition von SPD und Bündnisgrünen bemühtsich entsprechend der Koalitionsvereinbarung vomOktober 1998 – das war also noch vor den Konfliktendes letzten Jahres – diesen politisch äußerst gefährlichenRückstand in der Friedens- und Konfliktforschung auf-zuholen. Deshalb wurden dafür 1999 4 Millionen DMund für das Jahr 2000 6 Millionen DM in den Etat desBildungsministeriums eingestellt. Nun geht es an den Aufbau der Stiftung für Friedens-und Konfliktforschung, wofür insgesamt 50 MillionenDM vorgesehen sind. Zur Stärkung der Friedens- undKonfliktforschung reicht es nicht, unstrittig bewährte,Politik beratende und regierungsnahe Institute zu för-dern. Wir brauchen die gesamte Landschaft der Frie-dens- und Konfliktforschung, ihre Grundlagenforschungebenso wie die empirischen Untersuchungen zur opera-tiven Politik. Eine Stiftung ist nötig, um die stetige För-derung der Friedens- und Konfliktforschung, vor allemaber ihre politische Unabhängigkeit sicherzustellen –nicht nur, falls es wieder zu einem Regierungswechselkommen könnte, sondern auch – da sind wir nüchtern,aber plural – gegenüber der Regierung, die wir jetzt stel-len. Sie muss in jeder Richtung unabhängig sein.
Wenn Sie bei Ihren Klientelvorwürfen einmal berück-sichtigen würden, welche Stellungnahmen aus der Frie-dens- und Konfliktforschung im letzten Jahr angesichtsdes Kosovo-Krieges gegenüber der Politik der Bundes-regierung abgegeben wurden, dann würden Sie nichtmehr diese beleidigenden Äußerungen mit „Parteigän-gern“ usw. machen.
Kritische Unabhängigkeit soll schließlich einhergehenmit einem besseren Austausch zwischen Politik undPraxis. Eine Schlüsselerfahrung in der Politik der Krisenvor-beugung und -bewältigung der letzten Jahre ist, dass sieohne gute Kooperation ihrer verschiedenen Akteurevon vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Das giltauch für dieses Forschungsfeld, in dem die bisherige Di-stanz zwischen Friedens- und Konfliktforschung auf dereinen Seite und außen- und sicherheitspolitischer For-schung auf der anderen Seite abgebaut werden sollte.Die künftige Stiftung für Friedens- und Konfliktfor-Winfried Nachtwei
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schung wird ein wesentliches Element für die Infrastruk-tur für zivile Konfliktbearbeitung sein, mit der die rot-grüne Koalition endlich zu einer Politik der effektiveninternationalen Krisenprävention beitragen will.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der Kollege Jürgen
W. Möllemann, F.D.P.-Fraktion, gibt seine Rede zu Pro-
tokoll. Deshalb erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen
Dr. Heinrich Fink für die PDS-Fraktion.
Sehr verehrte Präsidentin!Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist für micheine besondere Freude und ein Ereignis, zu diesemThema sprechen zu dürfen, haben wir es doch am Endeder DDR an der Humboldt-Universität noch geschafft,ein Institut für Friedens- und Konfliktforschung zugründen. Dieses ist aus verschiedenen Gründen abgewi-ckelt worden. Grund war natürlich das fehlende Geld.Deshalb ist es besonders zu begrüßen, dass jetzt wiederMittel für die Friedens- und Konfliktforschung vomBund bereitgestellt werden. Auch die Idee, die Forschung auf diesem wichtigenFeld der Politik mittels einer Stiftung zu verstetigen undmöglichst unabhängig zu organisieren, unterstützt meineFraktion nachhaltig. Es ist an der Zeit, dass eine solcheEinrichtung geschaffen wird, die von der Nachwuchs-förderung über die wissenschaftliche Projektinitiierungbis zur Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und po-litischer Praxis Friedensarbeit wieder breit unterstützt.Wir stimmen daher dem Antrag der Regierungsfraktio-nen gern zu.
Hingegen offenbart die Union mit ihrem Gegenantragnicht nur, dass sie von Friedens- und Konfliktforschungwenig versteht, vor allem aber auch wenig hält. Viel-mehr zeigt der Antrag auch ein mehr als merkwürdigesWissenschaftsverständnis. Die Union will Forschungauf staatstragende Politberatung reduzieren, eine Polit-beratung, die zudem noch auf Zuarbeit aus der Wissen-schaft angewiesen ist und die zu einer nationalen Strate-gie der Sicherheitspolitik verkürzt wird. Den Antrag derCDU/CSU lehnen wir entschieden ab, schon deshalb –das sage ich nicht ohne Erfahrung –, weil es die Freiheitder Forschung zu verteidigen gilt.Wenn wir uns die heutigen gewaltförmigen Konfliktein der Welt ansehen, dann wird schnell deutlich, welchbreites Feld hier der wissenschaftlichen Bearbeitung be-darf. Dies reicht von der interdisziplinären Grundlagen-forschung über die Forschung nach den Ursachen vonGewalt und über die Regionalforschung bis zu Überle-gungen, wie die globalen Umwelt- und Verteilungsfra-gen angegangen werden müssen. Wir erwarten von einer unabhängigen Friedens- undKonfliktforschung erstens, dass sie mehr Erkenntnisseüber die Ursachen der Konflikte und der Gewalt zutagefördert. Dabei gehen wir von einem breiten Gewaltbeg-riff aus. Zu nennen ist hier das Stichwort eines Nestorsder Friedensforschung, Johan Galtung: strukturelle Ge-walt. Es käme also darauf an, auch die strukturellen gesell-schaftlichen Voraussetzungen von Gewalt und Gewalt-freiheit in den Blick zu nehmen. Man muss zweitens dieBeiträge zu friedlichen, das heißt präventiven Konflikt-lösungen liefern und sich drittens kritisch mit den Mili-tär- und Rüstungspotenzialen in der heutigen Welt aus-einander setzen sowie Vorschläge für künftige Rüs-tungskontrolle und Abrüstung unterbreiten. Das wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiet derKonfliktprävention ist, wenn sie ihren Namen verdient,immer zugleich auch Friedenserziehung; dies sei hiernur am Rande erwähnt. Mir ist wichtig zu betonen, dasssich künftige Friedensforschung nicht allein auf Europabeschränken kann. Die Zunahme weltweiter, gewalt-trächtiger Probleme und Krisen verlangt eine globalausgerichtete Forschung, die weit über die Themen derklassischen Außenpolitik hinaus geht. Ich habe das Stichwort Umwelt genannt und erwähnt,dass zum Beispiel die Frage der Ressourcenverteilungheute und zukünftig eine wachsende Quelle von Kon-flikten ist und sein wird, wird von niemandem mehrbestritten. Dies verlangt eine Forschung, die wirklich in-terdisziplinär angelegt ist. Zu den genannten Fragestel-lungen müssen Sozialwissenschaften, Psychologie, Pä-dagogik, Ökonomie und Jura ebenso Beiträge liefernwie die Naturwissenschaften. Dies sollte als Herausfor-derung für Universitäten und andere wissenschaftlicheEinrichtungen sowie als Ermutigung für Wissenschaftlerund Studenten verstanden werden, jetzt die Chance zunutzen, die die Einrichtung der Stiftung bietet, und sichverstärkt den Fragen der Friedens- und Konfliktfor-schung zuzuwenden. Eine Schlussbemerkung: Es ist natürlich schön, wennjetzt 15 bis 20 Millionen DM jährlich für die Friedens-forschung zur Verfügung gestellt werden. Keiner sollteaber vergessen, dass im Bereich von Rüstung und Mili-tär für Forschung und Entwicklung 2,5 Milliarden DMausgegeben werden. Dies zeigt die nach wie vor beste-henden Diskrepanzen nachdrücklich auf. Wer die Priorität wirklich auf zivile Krisenvorbeu-gung und friedliche Konfliktbearbeitung setzen will,muss diese Prioritätensetzung unmittelbar und nachhal-tig verändern, sonst bleibt die Friedensforschung nur einschönes Feigenblatt inmitten einer Welt, die von Gewaltund großen Rüstungsapparaten, das heißt von militärischgestützter Machtpolitik geprägt ist. Vielen Dank.
Winfried Nachtwei
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Bundesregie-
rung spricht jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Wolf-Michael Catenhusen.
W
FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, dasswir in dieser Debatte auch daran erinnern müssen, dassdie wissenschaftliche Disziplin der Friedens- und Kon-fliktforschung weltweit als Reflex in der Wissenschaftauf neue Dimensionen von Konflikten in der Phase desOst-West-Gegensatzes und der atomaren Hochrüstungentstanden ist. Damals wurde klar, dass neue Bedrohun-gen und Gefährdungen sorgfältige Analysen verlangten,die nicht nur mit den traditionellen Methoden der Wis-senschaftsdisziplin möglich schienen, sondern die neueFragestellungen und das Überschreiten traditionellerWissenschaftsdisziplinen erforderte. Es ist von Anfang an deutlich gewesen, dass nebender klassischen politikwissenschaftlichen, auf Politikbe-ratung organisierten Forschung in diesem Bereich vorallem auch Naturwissenschaftler maßgebliche Anstößezur Belebung des internationalen Diskurses über dieGestaltung und Perspektiven von Frieden und Konflikt-verhütung gegeben haben. Ich denke hier etwa an die re-nommierte Pugwash-Konferenz. Ich erinnere heute daran, dass dies 1970 für den da-maligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann derGrund war, die Gründung der Deutschen Gesellschaftfür Friedens- und Konfliktforschung zu initiieren unddamit in Deutschland den Anstoß zur Entwicklung einerForschungslandschaft zu geben, aus der wertvolle Bei-träge zur Etablierung eines erweiterten Sicher-heitsbegriffs entstanden sind, die mit zeitlicher Verzöge-rung jetzt nach Ende des Ost-West-Konflikts auch Ein-gang in die Sicherheitsdoktrin selbst der NATO ge-funden haben. Die Friedens- und Konfliktforschung hatdie Grundlage für diese Entwicklungen gelegt. Das gesellschaftliche Umfeld für Friedens- und Kon-fliktforschung hat sich seitdem dramatisch gewandelt.Wir erleben heute eine beispiellose Verkettung politi-scher, sozialer, kultureller, religiöser und ökologischerKonfliktlagen innerhalb von Gesellschaften und in derBeziehung zwischen den Staaten. Es geht auch darum,langfristig Perspektiven für die künftige Rolle etablierterpolitischer Institutionen in Gesellschaften und im globa-len Kontext zu definieren. Mit der Entscheidung der alten Bundesregierung ausdem Jahre 1992, die Sonderförderung für Friedensfor-schung Ende 1994 durch ein Sonderprogramm der Deut-schen Forschungsgemeinschaft auslaufen zu lassen,stellte sich die Frage nach den Perspektiven einer leis-tungsfähigen Friedens- und Konfliktforschung.Herr von Klaeden, zu Ihrer Rede möchte ich anmer-ken, dass Sie sich überlegen sollten, ob Ihr Versuch, Ih-ren ramponierten Ruf eines „jungen Wilden“ an diesemObjekt zu retten, vielleicht das falsche Sujet als Grund-lage hat.
Auch Sie, Herr von Klaeden, sollten zur Kenntnisnehmen, dass diese Senatskommission in ihrem vomSenat der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein-stimmig gebilligten Abschlussbericht Ende 1994 fest-stellte, dass die Bedeutung der Friedens- und Konflikt-forschung nach Überwindung des Ost-West-Gegensatzes durch die Ereignisse seit 1989 nicht gerin-ger, sondern deutlich größer geworden ist.Diese Wissenschaftler der Senatskommission derDeutschen Forschungsgemeinschaft – Herr von Klae-den, ich hoffe, dass Ihnen klar ist, was das bedeutet –
empfahlen, dass die Schwerpunktbildung und Sonder-förderung auf diesem Gebiet wieder hergestellt und aus-gebaut werden sollten. Es müsste „alles getan werden,um auf diesem Gebiet den Anschluss an die internatio-nale Forschung voll zu halten“. Zwei Jahre später habenzwei der renommiertesten Friedensforscher, Ernst-OttoCzempiel, der langjährige Direktor der Hessischen Stif-tung für Friedens- und Konfliktforschung, ein – unab-hängig von politischen Mehrheiten – geschätzter Ge-sprächspartner aller hessischen Landesregierungen, undVolker Rittberger, der frühere Vorsitzende der Senats-kommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft, ineiner gemeinsamen Denkschrift für die Gründung einerdeutschen Stiftung für Friedensforschung plädiert. Diesesollte nach ihren Vorstellungen die Aufgaben haben,„Forschungsarbeiten anzuregen und zu finanzieren, dievorhandenen Expertisen zu vernetzen, zügig zu mobili-sieren und verfügbar zu machen“.Meine Damen und Herren, wir haben aufgrund dieserStimmen der Wissenschaft, die sich einer Bewertung aufder Ebene Ihrer Polemik, Herr von Klaeden, entziehen,in unserer Koalitionsvereinbarung Ernst gemacht unduns diesem Plädoyer angeschlossen.
Mit dem Beschluss des Haushaltsausschusses im No-vember 1999 ist die Grundlage dafür geschaffen wor-den, dass das Bundesministerium für Bildung und For-schung zügig an die Errichtung dieser Stiftung gehenkann. Was sind ihre Aufgaben und was ist aus Sicht derForschungspolitik und der Forschungsförderung dazu zusagen? Die deutsche Stiftung für Friedensforschung solldie Friedensforschung insbesondere in Deutschland dau-erhaft stärken und zu ihrer politischen und finanziellenUnabhängigkeit beitragen. Sie soll keine wissenschaftli-chen Untersuchungen selbst durchführen, sondern durchihre Arbeit und durch ihre Förderung die vorhandenenPotenziale stärken und neue Kapazitäten an Hochschu-len und an außeruniversitären Forschungseinrichtungenaufbauen.
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Dazu wird sie wissenschaftliche Vorhaben fördernund initiieren, den wissenschaftlichen Nachwuchs unter-stützen und wissenschaftliche Konferenzen durchführen.Sie hilft damit bei der Vernetzung von Forschungsinsti-tutionen, die sich national und international mit Fragender Friedensgestaltung befassen und die sich im Ge-spräch zwischen Wissenschaft und Politik sowie bei derVermittlung der Forschungsergebnisse engagieren.Herr von Klaeden, für Ihre nächste Auslandsreise rateich Ihnen, vielleicht einmal in die nahe Schweiz zu fah-ren und sich dort am Beispiel der Arbeit der SchweizerStiftung für Friedensforschung Ihre Zähne der Polemikin dieser Auseinandersetzung ziehen zu lassen. Denn dieSchweizer Stiftung leistet seit Jahren mit genau demsel-ben Ansatz eine bewährte und dort von allen politischenParteien mittlerweile sehr akzeptierte Arbeit. Herr vonKlaeden, auch bei Ihnen schließe ich nicht aus, dass Siein ein oder zwei Jahren verstehen, dass Ihre Rede viel-leicht nicht nur zum falschen Zeitpunkt, sondern viel-leicht auch zum falschen Gegenstand gehalten wordenist.
Lassen Sie mich zu der Frage der Forschungspolitikeines deutlich sagen: Wir versuchen, die Friedens- undKonfliktforschung mit den bewährten Methoden derForschungsförderung dauerhaft als Forschungsfeld inDeutschland zu verfestigen und damit Friedensfor-schung als einen normalen Bestandteil unseres deut-schen Forschungssystems zu behandeln. Was tun wir? Erstens. Wir wollen, wie auch auf ande-ren Feldern, einen Dualismus von Ressortforschung, diein den Zuständigkeitsbereichen etwa des AuswärtigenAmtes und des Verteidigungsministeriums arbeitet, undeiner breiter angelegten, in der universitären und außer-universitären Forschungslandschaft angesiedelte Frie-densforschung fördern.Es käme niemand auf die Idee, im Bereich der Um-weltpolitik zu sagen, wir bräuchten nur Ressortfor-schung und nicht eine breite, auf langfristige und Grund-lagenfragen orientierte Forschungslandschaft zu fördern.Wir brauchen Ressortforschung und Grundlagenfor-schung. Es kommt keiner auf die törichte Idee, im Be-reich der Landwirtschaftspolitik zu meinen, dass es un-sinnig wäre, neben der Ressortforschung des BML aucheine breite, auf Grundlagenfragen orientierte und länger-fristig angelegte Forschungsförderung durch das BMBFzu betreiben. Diesen Dualismus brauchen wir auch im Bereich derFriedens- und Konfliktforschung. Wer wie Sie, Herr vonKlaeden, aus vielleicht verständlichem Interesse – weildie SWP zurzeit eigene Interessen auf diesem Gebiet andie Politik heranträgt –, auf die Idee kommt, dass es bes-ser wäre, Ressortforschungsinstitutionen dieses Geldzukommen zu lassen, versteht nicht den notwendigenDualismus.Forschungsinstitute mit hohem Qualitätsstandardkönnen durch Wettbewerb begünstigt werden. Das istmein zweiter Punkt. Wir verknüpfen institutionelle För-derung mit Projektförderung, die im Wettbewerb verge-ben werden soll. Wir führen damit das Wettbewerbs-element im Bereich der Friedens- und Konfliktforschungein und beschränken uns nicht darauf, einzelne For-schungseinrichtungen institutionell zu fördern und dannzu hoffen, dass diese in irgendeiner Weise zu einer ver-nünftigen Arbeitsteilung und Vernetzung kommen. Meine Damen und Herren, durch Projektförderungim Wettbewerb den Leistungsgedanken zu fördern unddamit auch die Innovativität von Friedens- und Konflikt-forschung der wissenschaftlichen Bewertung auszuset-zen, das ist der richtige Weg. Sie werden sehen, dass al-leine durch die Entscheidung, der Deutschen For-schungsgemeinschaft im Stiftungsrat auf jeden Fall Ver-tretung zu gewähren, alle Ihre Vorurteile, Herr vonKlaeden, sehr schnell zusammenbrechen werden. Wirsetzen darauf, dass wir mit den etablierten Methodenvon Forschungsförderung auch diesen Bereich fruchtbarweiterentwickeln werden.
Herr von Klaeden, ich will einen dritten Gesichts-punkt ansprechen. Ich habe den Eindruck, es ist wichtigfür Sie, dass Sie so etwas zum ersten Mal hören.
– Das ist alles Quatsch, was Sie jetzt erzählen. Daskönnten Sie von Herrn Polenz lernen.Es geht auch darum, dass die vorhandenen Einrich-tungen der Friedensforschung in Deutschland durch ü-bergreifende Projekte zu einem Kompetenznetzwerkverknüpft werden. Wir bemühen uns um Kompetenz-netzwerke in der Nanotechnologie, also im Hochtechno-logiebereich, ebenso wie im Bereich der Biowissen-schaften und der Medizintechnik. Das ist natürlich auchfür die Friedens- und Konfliktforschung eine sinnvolleStrategie.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen undHerren, damit will ich verdeutlichen: Ihr Versuch derPolitisierung dieser Förderanstrengung des Bundes gehtins Leere. Im Gegenteil: Wir versuchen auf der einenSeite, durch die Konstruktion dieser Stiftung sicherzu-stellen, dass der Abstand zur Politik gehalten wird. Wirerwarten auf der anderen Seite auch, dass die For-schungsfragestellungen in enger Interaktion mit der Po-litik festgelegt werden, aber – das sollten Sie nicht ver-gessen – nicht nur mit der Politik im engeren Sinne, denInstitutionen der Bundesregierung, sondern auch mit allden gesellschaftlichen Gruppen, die sich in Fragen derZukunftsgestaltung, der Konfliktverhütung engagieren. Parl. Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen
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Wir brauchen auch den Beitrag der Forschung zumbreiten gesellschaftlichen Diskurs, und dazu brauchenwir den Dualismus von Ressortforschung, die in direkterRückkoppelung mit der Regierung und der Politik arbei-tet, und einem breiter angelegten, grundlagenfor-schungsorientierten Förderinstrument. In diesem Sinnebin ich zuversichtlich, dass die Zustimmung auch hierim Hause durch die praktische Arbeit dieser Stiftungsteigen wird. Wir gehen davon aus, dass die StiftungDeutsche Friedensforschung in diesem Jahr ihre Arbeitbeginnen wird.Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Werner Lensing für die
Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber HerrStaatssekretär Catenhusen, Ihr Redebeitrag war zumin-dest kein Beitrag zur Stabilisierung des inneren Frie-dens. Denn – ohne das hier zu stark bewerten zu wollen– die Arroganz, mit der Sie meinen Kollegen von Klae-den für sachlich berechtigte Aussagen abgefertigt haben,
lässt jeden Ansatz von Friedensbereitschaft im parla-mentarischen Umgang vermissen.
Nun zur Sache: Zweifel bestehen am Folgenden abernicht:
Wir haben gelernt, dass angesichts der gewandelten La-ge im internationalen System Sicherheit und Sicher-heitspolitik heutzutage mehrdimensional verstandenwerden müssen. Neben politischen und militärischenAspekten spielen vor allem auch diverse wirtschaftliche,ökologische und soziale Faktoren eine wesentliche Rolleim Umgang mit den aktuellen und zukünftigen sicher-heitspolitischen Herausforderungen.Niemand, glaube ich, hat Zweifel, dass eine stärkereBerücksichtigung wissenschaftlichen Sachverstandes inForm von praxisorientierter Politikberatung notwendigist. Zweifel dürften auch nicht darüber bestehen, dassder Gedanke der Friedensforschung nicht erst ein Ge-danke dieses Jahrhunderts ist, sondern seit mindestensvier oder fünf Jahrhunderten existiert. Durch ihn konn-ten politische und militärische Aspekte kaum so aufge-arbeitet werden, dass Kriege vermieden wurden. Im Ge-genteil: Manche apokalyptische Voraussagen bestimm-ter Friedensforscher haben dem Weltfrieden überhauptkeinen Dienst erwiesen. Ich möchte Ihnen noch Folgendes sagen: Der Ein-druck, den Sie, Herr Schmidt, Herr Nachtwei und HerrCatenhusen, heute zu erwecken versucht haben, nämlichdass sich die CDU nicht ausreichend dem Gedanken desFriedens verschrieben habe,
lässt sich in keiner Weise belegen; denn die alte Regie-rung hat das realisiert, was wir alle für wichtig erachtethaben, nämlich „Frieden zu schaffen mit deutlich weni-ger Waffen“.
Das ist nicht das Ergebnis von Theorien, sondern vonpraktischer Politik. Zu den Zahlen, die immer wieder gerne – zumindestvon einigen – bemüht werden, muss ich deutlich sagen,dass die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die da-mals mit der Koordination betraut war, im Jahre 1985immerhin 1,2 Millionen DM erhalten hat, 19863,3 Millionen DM und 1987 5 Millionen DM. Nach derIntegration der verschiedenen Bereiche der Friedensfor-schung erhielt die Deutsche Forschungsgemeinschaft1995 immerhin noch fast 2 Millionen DM und 1998 so-gar 3,1 Millionen DM. Das heißt also, dass die These,die Sie hier verbreiten, durch Fakten widerlegt werdenkann. Jetzt bereitet uns Folgendes große Sorge: Seit einemJahr trägt sich das Bundesministerium für Bildung undForschung mit dem Gedanken einer Stiftung für Frie-dens- und Konfliktforschung. Wir müssen feststellen,dass es in der Vergangenheit eine Reihe von Versäum-nissen und Schlampereien gegeben hat. Insofern müssenSie verstehen, dass wir etwas vorsichtig gegenüber die-sem Anliegen sind, obgleich wir uns im Grundsatz da-rauf verständigen können und wollen, dass die Friedens-forschung ungemein wichtig ist. Für die Gründung derDeutschen Stiftung Friedensforschung wurden be-kanntlich – man muss es so nennen – in einer Nacht-und Nebel-Aktion während der Haushaltsplanberatun-gen im Herbst 50 Millionen DM an Steuergeldern mobi-lisiert.Die Einsicht in die Gutachten, auf deren Grundlagedie Einrichtung der Friedensstiftung beschlossen werdensollte, verweigerte man mir mehr als acht Wochen. Erstauf wiederholtes Nachfragen gab es einen höchst unbe-friedigenden Zwischenbescheid, der sich mehr oder we-niger in dem Rat erschöpfte: Rufen Sie noch einmal an!Dass wir vor diesem Hintergrund durchaus Zweifel ha-ben, ob das wirklich alles so objektiv ist, wie HerrNachtwei meint und Herr Catenhusen glaubt beweisenzu können, müssen Sie doch bitte schön verstehen.Sie müssen auch verstehen, dass uns die Aussage vonHerrn Dr. Fink, er sehe sich in der Tradition Ihres An-trags, sehr stutzig macht. Wir sind der Meinung, die Be-setzung dort ist sehr einseitig. Dies hat mit Polemiknichts, aber auch gar nichts zu tun. Parl. Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen
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Wir lehnen die Einrichtung einer eigenständigen Stif-tung aber auch aus folgendem Grund ab: Da die in derBundesrepublik Deutschland bereits vorhandenen Insti-tutionen – das kann keiner bestreiten – seit langem einenwertvollen und unverwechselbaren Beitrag zur prakti-schen Politikberatung leisten, ist es nicht erforderlich,auch nicht vor dem Hintergrund des Gedankens des Du-alismus, der eben beschworen wurde, zusätzliche Ein-richtungen mit dem Auftrag der Friedens- und Konflikt-forschung aufzubauen.
Die Einrichtung einer Stiftung Friedensforschungmuss daher, auch vor dem Background dessen, was icheben erläutert habe, als Versuch gewertet werden – dieseFeststellung hat mit Polemik gar nichts zu tun –, einsei-tige Klientelpflege betreiben zu wollen. Es sind nicht dieCDU-Vertreter, sondern renommierte Wissenschaftler,die erklärt haben, dass sich das wie eine Form vonSelbstbedienungsladen darstellte und sich überdies wieein – Zitat – „linkes SPD-Biotop“ ausmache.
Von dem – von der Koalition selbst eingeforderten –unabhängigen wissenschaftlichen Sachverstand kann beiden Mitgliedern der Struktur- und Findungskommissi-on – mein Kollege von Klaeden hat unter Beifügung vonNamen schon darauf verwiesen – wirklich nicht die Re-de sein. Gerade ein Verzicht auf den Rückgriff auf dieanerkannten Think Tanks deutscher Außen- und Sicher-heitspolitik bedeutet eine Vergeudung nicht genutzterRessourcen.Wir möchten das Anliegen mitverfolgen. Wir möch-ten aber auch, dass die Mittel nicht einseitig zur Verfü-gung gestellt werden, sondern in das integrierte BerlinerInstitut Wissenschaft und Politik einfließen, das sich –ich wiederhole es gerne – als eine Form des Dualismusdarstellt, weil sich dort unter anderem Institutionen wiedie Stiftung Wissenschaft und Politik oder das Bundes-institut für ostwissenschaftliche und internationale Stu-dien vereint haben.Nur auf der Basis fundierter wissenschaftlicherGrundlagen und der Nutzung eines möglichst breitenSpektrums unterschiedlicher grundlagen- und anwen-dungsorientierter Forschungsansätze kann die Friedens-und Konfliktforschung für die Politik bzw. die Politikbe-ratung sinnvollen Nutzen erbringen.Ich möchte vor allen Dingen darum bitten, dass wirdann, wenn es geht, auch in den uns noch bevorstehen-den Diskussionen gemeinsam darauf setzen, dass eineder wesentlichen zukünftigen Aufgaben die gezieltewissenschaftliche Nachwuchsförderung ist. Um einesinnvolle Politikberatung zu gewährleisten, werdendringend Wissenschaftler benötigt, die über ein hohesMaß an Kontakten und persönlichen Beziehungen ver-fügen. Nur durch eine systematische und durchdachteFörderung unserer Doktoranden und Habilitanden be-steht die Chance, angesichts der anstehenden sicher-heitspolitischen Herausforderungen unseren nationalenInteressen gerecht zu werden.
Mir macht es Sorge, dass in Deutschland ein krassesMissverhältnis besteht zwischen der Förderung von Na-tur-, Technik- und Wirtschaftswissenschaften einerseitssowie der praxisbezogenen politischen Forschung aufder anderen Seite. Während die so genannten Realwis-senschaften bekanntlich über eigene und große anwen-dungsorientierte Organisationen verfügen, haben die Po-litikwissenschaften dem quantitativ nichts Gleichwerti-ges entgegenzusetzen. Insofern erkenne ich hier einenHandlungsbedarf. Ich bitte einmal zu überlegen, ob essinnvoll wäre, gegebenenfalls die Gründung eines eige-nen Dachverbandes für politikberatende Aktivitäten –über die Friedens- und Konfliktforschung hinaus – zuveranlassen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Lensing, Sie sind schon weit über die Redezeit.
Frau Präsidentin, Sie
sind sicherlich damit einverstanden, wenn ich noch ei-
nen letzten Satz spreche.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wenn er nicht so
lang ist wie der Letzte, ja.
Der von der
CDU/CSU-Fraktion vorgelegte Antrag sieht eine aus-
gewogene Gesamtkonzeption vor, die einen Beitrag da-
zu leisten kann, Forschungsergebnisse der Friedens- und
Konfliktforschung in die praktische Politikberatung ein-
fließen zu lassen.
Frau Präsidentin, ich danke Ihnen für die gerade be-
wiesene Geduld.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache.Wir kommen zu den Abstimmungen.Zunächst kommen wir zur Beschlussempfehlung desAusschusses für Bildung, Forschung und Technikfol-genabschätzung zu dem Antrag der Fraktionen von SPDund Bündnis 90/Die Grünen zur Förderung der Friedens-und Konfliktforschung, Drucksache 14/2419. Der Aus-schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1963anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU undF.D.P. angenommen.Wir kommen jetzt zum Antrag der Fraktionen vonSPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Gründung einerStiftung zur Friedens- und Konfliktforschung auf Druck-sache 14/2519. Wer stimmt für diesen Antrag? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Auch dieser AntragWerner Lensing
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7563
ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und derF.D.P.-Fraktion angenommen.Wir kommen jetzt zum Antrag der Fraktion derCDU/CSU zur Stärkung der Friedens- und Konfliktfor-schung als Teil der politikberatenden Forschung aufDrucksache 14/2521. Wer stimmt für diesen Antrag? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag istgegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. abge-lehnt.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Gerda Hasselfeldt,Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der CDU/CSU Harmonisierung der gastgewerblichenMehrwertsteuersätze in der EuropäischenUnion – Drucksachen 14/294, 14/1899 – Berichterstattung: Abgeordneter Dieter Grasedieck Klaus-Peter WillschNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Für die Fraktion derCDU/CSU hat zunächst der Kollege Ernst Hinsken dasWort.
Werte Frau Präsiden-tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freuemich zunächst, dass Frau Kollegin Hustedt und FrauKollegin Scheel da sind. So können Sie meinen Ausfüh-rungen lauschen, um daraus notwendige Konsequenzenzu ziehen und uns zu unterstützen, wenn wir vernünftigeVorschläge hier in den Deutschen Bundestag einbringen.Meine Damen und Herren, gerade bei der Harmoni-sierung der gastgewerblichen Mehrwertsteuersätze inder Europäischen Union zeigt sich wieder, dass bei die-ser Bundesregierung Reden, Ankündigen und Handelnweit auseinander liegen.
Ich erwähne ganz kurz, dass vor ungefähr einem JahrBundeswirtschaftsminister Müller im Rahmen der Er-öffnungsveranstaltung der ITB – es waren viele Hote-liers und Gastwirte zugegen – lautstark gefordert hat,dass die Mehrwertsteuersätze im Beherbergungsgewerbeeuropaweit harmonisiert werden sollten. Er wollte sichnachhaltig dafür einsetzen, dass diese in der Bundes-republik Deutschland halbiert werden.
Zwischenzeitlich hat sogar die Europäische Union dieHand ausgestreckt und gesagt, man sei bereit, den ein-zelnen Staatsregierungen die Möglichkeit zu eröffnen,im Dienstleistungsbereich die Mehrwertsteuersätze zusenken oder sonstige Regelungen vorzunehmen, die demgenannten Problem Rechnung tragen.
Ich frage: Was hat denn Bundesfinanzminister Eichel– im Gegensatz zu Herrn Bundesminister Müller – ge-tan?
Er höchstpersönlich hat es vereitelt, dass das Gaststät-tengewerbe in der Bundesrepublik Deutschland in Zu-kunft nur noch den halben Steuersatz bezahlen muss.Das zeigt für mich, dass in dieser Bundesregierung Mül-ler „Hü!“ und Eichel „Hott!“ rufen können. Wir allewissen zu guter Letzt nicht, was das Ganze bedeutensoll. Niemand weiß, wo es langgeht.
Ich weiß sehr wohl, meine Damen und Herren, dassinsbesondere auch Kolleginnen und Kollegen aus derSPD-Fraktion, die ebenso in diese Richtung gedacht ha-ben, immer wieder den Kollegen Brähmig, aber auchmich und den Kollegen Burgbacher gebeten haben, ih-nen ein bisschen Zeit zu lassen, weil die Vernunft jawachsen könne und man es doch in die richtige Rich-tung bringen könne. Aber das Warten hat sich unserer-seits nicht gelohnt. Die Mehrheit hat ja im Parlament dasSagen. Man hat dieses Vorhaben im Ausschuss und auchschon bei der Einbringung zunichte gemacht. Damalshat Frau Hendricks eine andere Meinung vertreten alsihre Kollegen im Bundeskabinett, Herr Mosdorf undHerr Müller, den ich vorhin schon genannt habe.
Das heißt für mich: Wettbewerbsverzerrungen sindinnerhalb der Europäischen Union im Bereich des Hotel-und Gaststättengewerbes nach wie vor gegeben.
Niemand kann doch von der Hand weisen, dass wir allesunternehmen müssen, um den TourismusstandortBundesrepublik Deutschland zu stärken.
Wir können keine Sonne importieren; aber wir könnenden Urlaub vergünstigen. Das können in erster Linie Siegewährleisten.
– Wenn Sie von der SPD das Stichwort „Straubing“einwerfen, dann sage ich Ihnen, dass das eine Urlaubs-region ohnegleichen ist. Dort ist Deutschland mit amschönsten. Man ist in Straubing übrigens auch bereit,tüchtige Sozialdemokraten zu beherbergen und Ihnen zueinem schönem, erlebnisreichen Urlaub zu verhelfen.Vizepräsidentin Petra Bläss
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7564 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Meine Damen und Herren, wir haben derzeit weltweit650 Millionen touristische Ankünfte. Bis zum Jahr 2020wird eine Verdreifachung auf fast 2 Milliarden erwartet.Kollege Brähmig weist zu Recht immer darauf hin, dasses sich beim Tourismus um eine Leitökonomie der Zu-kunft handelt.
Bis zum Jahr 2010 – das ist auch wissenschaftlich be-gründet – dürften in der EU 2,2 bis 3,3 Millionen neueArbeitsplätze in diesem Bereich entstehen. Deutschlandwird, wenn vernünftige Rahmenbedingungen geschaffenwerden, mit zirka 400 000 bis 450 000 Arbeitsplätzendabei sein. Das heißt, die Bundesregierung und wir allesind gefordert, vernünftige Rahmenbedingungen zuschaffen, damit wir von diesem Kuchen – es geht im-merhin um eine Leitökonomie der Zukunft – etwas ab-bekommen. Es wird aber nur dann vermehrt Urlaub inDeutschland gemacht werden, wenn es finanziell eini-germaßen interessant ist.Mit den Maßnahmen, die Sie, meine Damen und Her-ren, von den Regierungsfraktionen in den letzten Mona-ten ergriffen haben, ist dies jedoch nicht zu erreichen.Neben der Nichteinführung der Halbierung des Mehr-wertsteuersatzes denke ich vor allen Dingen an jeneMaßnahmen, die die Gastronomie nicht entlasten, son-dern belasten. Damit bewirken Sie genau das Gegenteil.Ich wiederhole: Die Rahmenbedingungen für die Ga-stronomie, für das Hotel- und Gaststättengewerbe,müssen insgesamt stimmen.Aber es gab zuletzt eine zusätzliche Belastung nachder anderen. Das 630-DM-Gesetz belastet insbesonderedas gastronomische Gewerbe.
Darüber hinaus belastet die Ökosteuer einen Betrieb mit50 Betten mit zirka 20 000 DM zusätzlich. Ferner wurdedie Mineralölsteuer erhöht. Mit dem Auto in den Urlaubnach Deutschland zu fahren, wird also auch verteuert.Der Gastronomiebetrieb ist ebenfalls betroffen. Darüberhinaus haben Sie beim Lohnfortzahlungsgesetz wiederden alten Zustand herbeigeführt. Sie haben die Lohn-fortzahlung wieder auf 100 Prozent hochgeschraubt.
– Nein, Herr Kollege Kubatschka, ich bin hier völlig an-derer Meinung. Gehen Sie einmal zu betroffenen Unter-nehmen; dann wird Ihnen etwas anderes gesagt.Schließlich haben Sie die volle Besteuerung bei derBetriebsveräußerung zu verantworten. Frau KolleginHendricks, ich schätze Sie ja als Staatssekretärin sehrund weiß auch, dass Sie viel von Finanzpolitik verste-hen. Aber hier haben Sie einen Schritt in die falscheRichtung getan. Deshalb bitte ich Sie, darum besorgt zusein, dass dies möglichst bald wieder korrigiert wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Hins-
ken, Sie müssen zum Schluss kommen.
Als Letztes: Auch die
enorme Bürokratie – Sie haben sie nicht abgebaut, son-
dern vergrößert – macht unserer Gastronomie zu schaf-
fen. Deshalb die herzliche Bitte an Sie alle, meine ver-
ehrten Kolleginnen und Kollegen: Sehen wir die Prob-
leme der Gastronomie und leisten wir unseren Beitrag,
dass die Wettbewerbsbedingungen nicht verschlechtert,
sondern verbessert werden! Das Hotel- und Gaststätten-
gewerbe braucht das dringend.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Horst Schild für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Da-men, meine Herren! Verehrter Herr Kollege Hinsken,Ihr Anliegen, steuerliche Belastungen zu senken undWettbewerbsverzerrungen zu beseitigen, ist durchausehrenwert. Wir befinden uns da zurzeit in einem edlenWettstreit. Die Frage ist nur, welchen Weg man be-schreitet.Wir müssen uns auf jeden Fall davor hüten, überzogenenForderungen einzelner Branchen Rechnung zu tragen,
weil sie letztlich neue Wettbewerbsverzerrungen inden verschiedenen Wirtschaftsbereichen zur Folge ha-ben.
Jetzt geht es um ermäßigte Mehrwertsteuersätze fürdas Gastgewerbe. Beim nächsten Tagesordnungspunktgeht es um ermäßigte Mehrwertsteuersätze für arbeitsin-tensive Dienstleistungen. Im Übrigen hat die Europäi-sche Kommission – man muss zu Recht darauf hinwei-sen – nur den Bereich des Gastgewerbes geöffnet.
Die Frage ist nur, ob man dadurch nicht wieder neueProbleme schafft. Wir haben schon über die immensenAbgrenzungsprobleme diskutiert.Damit wäre die Liste aber nicht zu Ende. Morgensteht das Handwerk und übermorgen steht das Bauge-werbe auf der Tagesordnung. Wo ist eigentlich ein sinn-volles Abgrenzungskriterium, wenn man willkürlich je-Ernst Hinsken
Metadaten/Kopzeile:
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weils einen Wirtschaftsbereich herausgreift, dem mansozusagen aus einer aktuellen Situation heraus helfenwill?
Viele Argumente sind bei der Einbringung schonausgetauscht worden. Wir haben gesagt, dass wir aus fi-nanzpolitischer Sicht, aus Gründen der Steuersystematikund der Gleichbehandlung unterschiedlicher Wirt-schaftsbereiche, aber letztlich auch aus haushaltswirt-schaftlichen Gründen Ihrem Antrag nicht folgen können. Sie gehen davon aus, dass sich eine Senkung derMehrwertsteuersätze mittelfristig durch Umsatzsteige-rungen wieder ausgleichen würde. Selbst wenn maneinmal unterstellt, dass diese Senkung Umsatzsteigerun-gen zur Folge hat, muss man doch sagen, dass die IhremAntrag zugrunde liegenden Annahmen deutlich überzo-gen sind.
Es ist auch schon häufig genug gesagt worden, dass sichdie Steuermindereinnahmen im Gast- und Hotelge-werbe auf 5 Milliarden DM summieren würden.Nun ist es ja nicht so, dass wir nicht auch die mittel-ständische Wirtschaft – dazu gehört auch dieser Bereich– deutlich entlasten wollen. Aber die Möglichkeiten, diees in der Vergangenheit gegeben hätte, diesem AntragRechnung zu tragen, sind seit 1993 nicht mehr gegeben.Sie selbst haben den Zug verpasst.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die ÄußerungIhres damaligen Parlamentarischen Staatssekretärs, der1997 ermäßigte Umsatzsteuersätze für das Beherber-gungsgewerbe aus steuersystematischen Gründen, aberauch aus haushaltswirtschaftlichen Gründen abgelehnthat.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Schild,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?
Ja, bitte schön.
Herr Kollege Schild,
sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Bun-
desrepublik Deutschland in der ersten Hälfte des Jahres
1999 die EU-Ratspräsidentschaft besaß und dass sie da-
mit die Möglichkeit hatte, darauf Einfluss zu nehmen,
dass es in diesem Bereich endlich zu einer Harmonisie-
rung kommt? Das ist aber versäumt worden.
Zudem hatte der damalige Präsident der Europäischen
Kommission, Santer, gesagt, er sei durchaus bereit, in
den einzelnen Ländern eine Mehrwertsteuersenkung zu-
zulassen. Aber man hat diese Chance nicht ergriffen.
Man muss einfach zur Kenntnis nehmen, dass es in die-
sem Bereich in Frankreich einen Mehrwertsteuersatz
von 5,5 Prozent, in der Schweiz von 3 Prozent und in
Österreich von 10 Prozent gibt. Aber in der Bundesre-
publik Deutschland beträgt der Mehrwertsteuersatz
16 Prozent. Das ist eine Benachteiligung. Geben Sie mir
Recht, wenn ich sage, dass diese Benachteiligung besei-
tigt werden muss?
Herr Kollege Hinsken, niemandin diesem Hause – auch wir nicht – bestreitet, dass dieUmsatzsteuersätze in dem angesprochenen Bereich in-nerhalb der Europäischen Union unterschiedlich sind.Ich erinnere daran, dass die Parlamentarische Staatssek-retärin Frau Hendricks bei der Einbringung durchausdarauf hingewiesen hat, dass Bemühungen unternom-men werden müssen, um zu einer Angleichung zu kom-men. Wenn ich mich recht erinnere, hat sie damals aberauch gesagt, dass es während der kurz bemessenen Zeitder deutschen Ratspräsidentschaft natürlich auch anderebedeutsame Probleme zu lösen galt. Sie hat gleicherma-ßen darauf hingewiesen – diesen Punkt will ich gernwiederholen –, dass wir uns nicht zu große Hoffnungenmachen dürfen.
– Ja, aber Sie wissen doch, dass sich die damalige ge-nauso wie die jetzige Regierung vehement darum be-müht haben – um nur ein Beispiel zu nennen –, in derFrage der Besteuerung von Zinserträgen zu einer Har-monisierung zu kommen.Sie wissen alle, wie schwierig es ist, in solchen Fragenzu einer Übereinkunft unter den europäischen Partnernzu kommen. Die Bundesregierung hat hier bei der Ein-bringung gesagt, sie werde sich weiterhin dafür einset-zen. Ich gehe davon aus, dass dieses Wort gilt.
Was wir brauchen, meine Damen und Herren, ist eineUnternehmensteuerreform, die alle mittelständischenBetriebe entlastet. Und diese Vorschläge liegen auf demTisch. Sie werden in Bälde in diesem Haus beraten undauch verabschiedet.
Diese Unternehmensteuerreform wird für den Mit-telstand weitere Entlastungen in einer Größenordnungvon 12 Milliarden DM bringen.
Davon sind auch das Gastgewerbe und das Hotelgewer-be betroffen. Eines möchte ich noch kurz ansprechen, Herr KollegeHinsken, weil Sie auf Belastungen durch die Ökosteuerverwiesen haben: Für das arbeitsintensive GastgewerbeHorst Schild
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ist die Frage der Lohnnebenkosten sicherlich von zentra-ler Bedeutung. Sie haben 16 Jahre lang in diesem Be-reich nichts getan. Sie werden nicht bestreiten können,dass auch bei Belastung durch die Ökosteuer durch dieSenkung der Lohnnebenkosten in diesen arbeitsintensi-ven Betrieben eine erhebliche Entlastung erfolgt ist.
– Nein, das ist eindeutig eine Entlastung. Wenn dieseBetriebe natürlich keine sozialversicherungspflichtigenBeschäftigten haben, dann ist das eine andere Geschich-te. Uns geht es darum, durch die Senkung der Lohnne-benkosten personalintensiven Betrieben mit sozialversi-cherungspflichtig Beschäftigten eine Entlastung zu-kommen zu lassen.
Und das geschieht in diesen Bereichen.
Meine Damen und Herren, wir werden den von unseingeschlagenen Weg weiterhin beschreiten. Wir wer-den den gesamten Mittelstand entlasten und damit auchdie von Ihnen angesprochenen Wirtschaftsbereiche,
unabhängig von dem Bemühen der Bundesregierung, zueiner Harmonisierung der Mehrwertsteuersätze zukommen. Aber dem Anliegen, von den vielfältigenWirtschaftsbereichen isoliert nur diesen einen Bereichzu bevorzugen, werden wir nicht Rechnung tragen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Kollege Ernst Burgbacher für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Mei-
ne sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege
Schild, das Problem besteht genau darin, dass Sie Ihren
eingeschlagenen Weg weiter verfolgen wollen und nicht
zur Umkehr bereit sind.
Das Problem besteht auch darin, dass Sie die Beschäftig-
ten in der Tourismuswirtschaft heute mit Worten trösten
wie „ehrenwert“ und „edler Wettstreit“. Sie sagen, Frau
Staatssekretärin Hendricks habe angekündigt, Bemü-
hungen zu unternehmen. Nur, das reicht eben nicht. Ich
habe in dieser Woche in einer bekannten Fachzeitschrift
gelesen, dass eine Vertreterin des Bundeswirtschafts-
ministeriums gesagt hat, dass noch kein Bundeswirt-
schaftsminister im ersten Amtsjahr so häufig zu touristi-
schen Themen Stellung bezogen habe wie Werner Mül-
ler. Das ist das Problem: Es wird Stellung bezogen und
angekündigt, aber nachher wird das Gegenteil gemacht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Burg-
bacher, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Aber bitte, Kollege
Brähmig!
Lieber Kollege Burg-
bacher, sind Sie mit mir der Meinung, dass man dieses
wichtige Thema für die Sicherung von Arbeitsplätzen in
der Bundesrepublik Deutschland nicht in einer Debatte
um 23 Uhr, sondern möglichst um 9 oder 10 Uhr früh
behandeln sollte? Sind Sie mit mir des Weiteren der
Meinung, dass man dieses ganz konkrete Problem der
Harmonisierung der Mehrwertsteuer nicht fiskalisch lö-
sen kann, wie das leider im Finanzministerium versucht
wird, sondern nur gesamtwirtschaftlich?
Lieber Herr Kollege
Brähmig, ich stimme Ihnen im ersten Teil zu. Das gilt
übrigens nicht nur für diese heutige Debatte: Der Be-
reich des Tourismus wird in der Parlamentsarbeit meiner
Ansicht nach nicht ernst genug genommen.
Ich sage auch, dass ich den Wirtschaftsminister bei allen
Debatten, die wir hier zu diesem Thema geführt haben,
höchstens einmal gesehen habe.
Das Zweite – das ist richtig und das ist der Kern – ist:
Wir müssen hier mit anderen Maßnahmen herangehen.
Ich will das noch einmal an einem Beispiel erklären.
Herr Kollege Schild, Sie haben von Wettbewerbsverzer-
rungen geredet. Ich komme aus einem Gebiet, liebe Frau
Kollegin Scheel, wo man durchaus über die Grenze zum
Friseur geht. Das ist dort gar nicht unüblich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Burg-
bacher, es gibt eine weitere Frage der Kollegin Hustedt.
Aber bitte schön.
Glauben Sie nicht, dass es ein bisschen verlogen ist, ü-ber die Anwesenheit des Wirtschaftsministers zu reden,da doch die Anwesenheit Ihrer Fraktion belegt, dass IhreFraktion in keinster Weise an dem Thema interessiertist? Sehen Sie einmal auf unsere Seite des Hauses. Zu-mindest gibt es hier ein Interesse.
Metadaten/Kopzeile:
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Vielleicht ist der
Grund, dass wir diese Debatte immer zu so später Zeit
führen. Ich glaube aber, dass wir das Geplänkel lassen
sollten und zum Inhalt kommen sollten.
Wir sollten zum Inhalt kommen. Das ist mir sehr ernst.
Hier geht es um ein großes Potenzial, denn Experten
schätzen, dass 400 000 bis 500 000 neue Arbeitsplätze
betroffen sind. Es ist ein Potenzial, das im Augenblick
nicht annähernd ausgeschöpft wird.
Lassen Sie mich noch einmal zu dem Vergleich
kommen. Im Schwarzwald sagen die Hoteliers im
Grenzbereich, dass für den einzelnen Urlaubsreisenden
der Preisunterschied keine große Rolle spielt. Aber für
den Geschäftsreisenden oder den Organisator von Bus-
reisen spielt es sehr wohl eine Rolle, ob er in Kehl für
ein Zimmer, das 100 Euro kostet, 116 Euro zahlt und in
Frankreich 105,50 Euro oder ob er in Maastricht 103
und in Aachen 116 Euro zahlt. Das, Herr Kollege
Schild, ist die Wettbewerbsverzerrung, die wir anspre-
chen müssen.
Sie müssen begreifen, dass sich die Zeit verändert
hat. Wir leben zunehmend in einer Dienstleistungsge-
sellschaft. Hier müssen wir bereit sein, über Schatten zu
springen. Wir müssen bereit sein, in manchen Bereichen
umzudenken.
Ich möchte noch etwas anderes sagen. Ich habe das
Gefühl, dass viele das nicht begriffen haben oder nicht
begreifen wollen: Wir haben den Euro. Ich sage: Zum
Glück haben wir den Euro. Wir Liberale waren immer
vorbehaltlos dafür. Wir waren auch dafür, dass der
Wettbewerb durch den Euro hergestellt wird. Allerdings
hatten die Franzosen –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Burg-
bacher.
– darf ich noch diesen
Satz beenden? – Angst vor der starken D-Mark. Man hat
nicht gewechselt. Man wusste nicht, wie sich der Wech-
selkurs entwickelt. Das ist weg. Deshalb sind die Leute
bereit, über die Grenze zu gehen. Deshalb vergleicht der
Organisator von Reiseveranstaltungen heute die Kosten
in Kehl, in Straßburg, in Aachen und in Maastrich. Das
müssen wir begreifen. Darauf müssen wir in diesem Par-
lament reagieren.
Bitte schön, Frau Kollegin Roth.
Herr Kollege Burgba-
cher, Sie haben zweimal die Reiseveranstalter genannt;
das sind Unternehmer. Für Unternehmen ist die Mehr-
wertsteuer aber ein reiner Durchlaufposten. Stimmen Sie
mir da zu?
Ich bin überhaupt nichtsprachlos. Ich sage Ihnen: Reden Sie mit den Betroffe-nen! Ich kenne viele Kolleginnen und Kollegen aus die-sem Bereich. Reden Sie mit ihnen, wie unterschiedlichdie Konkurrenzsituation ist! Gehen Sie zu den Hoteliersam Rhein, angefangen in Basel und dann flussabwärts.Reden Sie mit denen und lassen Sie sich erklären, wieunterschiedlich die Wettbewerbsbedingungen sind undwie sich das seit der Einführung des Euro auf demMarkt auswirkt. Das hat sich vorher tatsächlich nichtausgewirkt. Lassen Sie mich noch zu zwei anderen Punktenkommen. Es wurde mehrfach die Ökosteuer angespro-chen. Meine Damen und Herren, hören Sie mit demMärchen auf, in der Tourismuswirtschaft würden dieBetriebe entlastet. Genau die sind es nicht. Wir habenhier noch die schöne Situation von vielen Familienbe-trieben. Genau die werden belastet und nicht entlastet.Das sollten Sie endlich einmal zur Kenntnis nehmen.
Ein zweiter Punkt. Ich bin es wirklich langsam leid,
in der Tourismusdiskussion die Ankündigungen desWirtschaftsministers und seines Staatssekretärs zu hö-ren. Das Ergebnis ist nur ist heiße Luft. Es folgt über-haupt nichts. Es ist richtig, dass Herr Müller hier Stellung genommenhat, aber sagen Sie mir eine einzige Maßnahme, die bis-her konkret zur Förderung des Tourismus durchgeführtwurde.
– Sie haben bald Gelegenheit dazu, liebe Bruni Irber. Ichhoffe, dass wir da vielleicht einen Schritt weiterkom-men. Es gibt einen anderen Punkt, den die SPD vor derWahl versprochen hat. Auch der Bundeskanzler hat esvor der Wahl versprochen; ich kann Ihnen das Datumnennen. Es geht um eine Sache, die für unsere Dienst-leistungsgesellschaft sehr wichtig ist: die Abschaffungder Trinkgeldbesteuerung. Ich bin gespannt, ob Sie dawieder mauern.Ich bin gespannt, wie lange Sie das Spiel weiterma-chen, bis die Tourismuswirtschaft es nicht mehr erträgt,Michaele Hustedt
Metadaten/Kopzeile:
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nämlich nur Ankündigungen und Versprechungen zumachen und dann vor den Finanzpolitikern zu kuschen.Ich sage: Das ist die falsche Politik. Sie können dieBranche nicht weiter so belasten. Es geht um die Ar-beitsplätze. Wir dürfen den Jobmotor Tourismus nichtabwürgen. Wir müssen ihn endlich anwerfen und dazumüssen wir die richtige Politik machen.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Chris-
tine Scheel.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr
Hinsken, Ihr Hinweis auf die Möglichkeit anderer EU-
Länder, im Zusammenhang mit aktuellen Diskussionen
Mehrwertsteuersätze im unteren Umfang nutzen zu kön-
nen, bezieht sich – Herr Kollege Schild hat es bereits
angedeutet – auf den Dienstleistungsbereich und dort
wiederum nur auf einen ganz, ganz begrenzten Bereich,
und das auch nur als Pilotvorhaben, wozu ein Antrag
verschiedener Länder vorliegt, der in der EU-
Kommission übrigens noch einstimmig genehmigt wer-
den muss. Da geht es um Schusterbetriebe, also Einzel-
personen, die Reparaturarbeiten durchführen,
und zwar regional ganz begrenzt
und nicht so, wie Sie es hier versucht haben darzustel-
len, als ob in allen möglichen Bereichen plötzlich Prob-
leme bei uns auftauchen würden, weil einige EU-
Mitgliedstaaten die Mehrwertsteuersätze für Einzelne
nach unten setzen. So ist es nicht.
Es war ein ganz zentrales Anliegen der Bundesregie-
rung, natürlich auch der Koalitionsfraktionen, dass wir
gesagt haben: Das Hauptproblem, wenn man schon über
Wettbewerbsverzerrungen redet, ist die Frage des Ver-
haltenskodexes. Dies ist unter der deutschen Ratspräsi-
dentschaft wahrlich sehr weit nach vorne gebracht wor-
den. Das ist das, was letztendlich für die deutsche Wirt-
schaft wesentlich ist, und nicht die Frage, ob man hier
eine neue Ausnahmegenehmigung schafft.
– Sofort, Herr Hinsken
Ein weiterer Punkt betrifft die Attraktivität bestimm-
ter Regionen für den Tourismus. Ob jemand nach Ober-
bayern oder nach Straubing zum Urlaubmachen fährt,
liegt doch mit Sicherheit nicht darin begründet, wie hoch
die Mehrwertsteuersätze sind, sondern ob das eine
schöne Gegend ist, ob das Hotel ansprechend ist und ob
es bestimmte Dienstleistungen gibt, die für die Freizeit-
gestaltung der Leute attraktiv sind. Das ist doch der
Grund, warum ich irgendwohin in Urlaub fahre.
Da schaut doch kein Mensch darauf, ob die Mehr-
wertsteuersätze bei 16 Prozent oder irgendwo anders
liegen.
Bitte schön.
Frau Kollegin Scheel,
ich habe mich gemeldet, weil das, was Sie eben gesagt
haben, einfach nicht stimmt. Ich habe mich einzig und
allein auf die Mehrwertsteuersätze im Beherbergungs-
gewerbe bezogen. Ich habe ausdrücklich nochmals ge-
sagt, dass in ganz Frankreich der Mehrwertsteuersatz bei
nur 5,5 Prozent und bei uns bei 16 Prozent liegt.
Sie müssen deshalb doch sicherlich meine Meinung
teilen, dass es für eine vierköpfige Hamburger Familie,
die zum Beispiel den Urlaub in Oberbayern verbringt
und 1 000 DM Übernachtungskosten zahlen muss, ein
Unterschied ist, ob sie den niedrigen Mehrwertsteuer-
satz, zum Beispiel 70 DM, oder den vollen Satz von
16 Prozent, also 160 DM, bezahlen muss.
Das wäre für mich eine Politik für den kleinen Mann.
Denn nicht jeder kann es sich leisten, seinen Urlaubsort
nur nach der Schönheit der Landschaft auszusuchen und,
wie Sie es können, nicht auf das Geld zu achten.
Herr Hinsken, ich kann sehr gut nachvollziehen, dassSie sich jetzt, da Sie in der Opposition sind, in diesemPunkt nach vorne wagen. Ich wundere mich nur einbisschen darüber, weil unser verehrter Kollege und e-hemaliger Finanzminister Waigel, der ja auch aus Bay-ern kommt, in diesem Punkt nichts, aber auch gar nichtsunternommen hat, und zwar aus ganz bestimmten Grün-den. Denn wenn man das Argument anführt, dass imgrenznahen Bereich in bestimmten Zusammenhängenniedrigere Steuersätze, in diesem Fall Mehrwertsteuer-sätze, im Gastgewerbe vorliegen, muss man sich, wennman das konsequent weiterdenkt, auch all das an-schauen, was es im grenznahen Bereich, in Tschechien,Frankreich und überall um die Bundesrepublik Deutsch-land herum und sogar darüber hinaus – denn manchmalErnst Burgbacher
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7569
durchqueren die Leute ja ein Land – an Steuerbelastun-gen gibt. Dann spielt zum Beispiel auch die Diskussion, diewir gestern zum Thema Ökosteuer hatten, bei diesemThema eine Rolle, denn ein großer Teil der umliegendenStaaten hat beispielsweise eine wesentlich höhere Mine-ralölsteuer als wir. Es gibt auch andere Bereiche, aufdie das zutrifft, zum Beispiel die Lohnsteuer. Wenn manall das herauspicken würde, dann würden wir in derBundesrepublik ein Steuerdumping betreiben, dass esnur so knallt. So geht es nicht. Aus diesem Grunde blei-ben wir in unserer Systematik.
Wenn wir schon bei der Ökosteuer sind, möchte ich,weil Sie das angesprochen haben, noch ein Wort zu denBelastungen im Hotel- und Gaststättengewerbe sagen.Ich kenne ein Unternehmen in Unterfranken – es gibtauch andere Unternehmen dieser Art, auch in Bayern –,das Solaranlagen produziert und montiert, das sehr vieleAufträge zum Beispiel in Österreich und in der Schweizhat. Wenn ein Hotelgewerbe das Interesse hat, geradebei Neubauten im gastgewerblichen Bereich, Solaran-lagen zu montieren, ergibt sich bei ihm natürlich eineganz andere Bilanz hinsichtlich des Energieverbrauchsals bei denjenigen, die Sie angesprochen haben und dieim Einzelfall auf ökologische Komponenten nicht zu-rückgegriffen haben. Das ist übrigens auch ein Anreizfür die Schaffung von Arbeitsplätzen, weil man geradein diesem Zusammenhang, beispielsweise wennSchwimmbäder vorhanden sind, auf Solaranlagen zu-rückgreift. Das ist das, was diese Regierung im Prinzipinsgesamt verfolgt.
Ich möchte auch noch darauf hinweisen, dass derVorschlag, der jetzt kommt, immer so angesehen wird,als ob wir eine Not leidende Branche des Gaststätten-und Beherbergungsgewerbes in Deutschland hätten.Auch davon kann keine Rede sein. Zum einen ist es so –diese Fakten sind die Ergebnisse der Untersuchungen –,dass in Deutschland zirka die Hälfte des so genanntenDeutschland-Tourismus auf Geschäftsreisende entfällt,die wohl nicht gerade zur zahlungsunfähigsten Gruppeder Gesellschaft gehören. Zum anderen waren bei-spielsweise nach Aussage des deutschen Tourismusver-bandes im deutschen Tourismusgeschäft in den erstenzehn Monaten des Jahres 1999 durchaus Zuwächse zuverzeichnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollegin Scheel, ges-
tatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Gerne.
– Doch, gerne.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kolleginnen und
Kollegen, mit Blick auf die Uhr möchte ich dann von
weiteren Zwischenfragen abraten.
Ich gebe mir Mühe,
ganz kurz zu fragen.
Erstens würde mich interessieren, woher Sie die Zah-
len haben, verehrte Kollegin Scheel, dass die Touris-
musbranche und vor allem die Hotellerie – Sie haben
das ja zu Protokoll gegeben – nicht Not leidend ist. Ich
habe da ganz andere Zahlen, die das Gegenteil belegen.
Diese Branche ist in ganz besonderem Maße von den
Belastungen und nicht von den Entlastungen betroffen.
Da werden auch die sozialdemokratischen Kollegen und
sogar die Kollegin Voß, wenn sie hier wäre, nicht wider-
sprechen.
Zweitens würde mich interessieren, woher Sie die an-
deren Zahlen haben, die Sie heute Abend gebracht ha-
ben. Sie können weder vom Statistischen Bundesamt
noch von irgendeinem Landesamt sein. Mich würde
wirklich interessieren, wer Ihnen diese Zahlen aufge-
schrieben hat.
Herr Kollege, zum Ersten muss ich feststellen: Ich bin inder Lage, mir die entsprechenden Zahlen selber aufzu-schreiben. – Das nur als Vorbemerkung.
Zum Zweiten muss ich Ihnen sagen: Diese Zahlenstammen von Jürgen Linde, vom Vorsitzenden des deut-schen Tourismusverbands, der auf einer Tagung im Vor-feld der Tourismusmesse CMT, die übrigens vom 15.bis zum 23. Januar dieses Jahres in Stuttgart stattfindet,
gesagt hat, dass in den ersten 10 Monaten des Vorjahres5,3 Prozent mehr Touristen nach Deutschland gekom-men seien als 1998.
Damit hätten 87,8 Millionen Menschen Deutschland1999 bereist. Gleichzeitig sei bundesweit die Zahl derÜbernachtungen um 4,4 Prozent auf 271,5 Millionen ge-stiegen. Ich denke, das ist sehr aussagekräftig – das istimmerhin die Aussage des Vorsitzenden des Tourismus-verbandes; dem glaube ich – und keine nur von uns vor-genommene Interpretation. Christine Scheel
Metadaten/Kopzeile:
7570 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinwei-sen und Ihnen in Erinnerung rufen, dass wir in der Un-ternehmensteuerreform einen Hebel für eine besserewirtschaftliche Entwicklung sehen und nicht in derSchaffung neuer branchenbezogener Mehrwertsteuersät-ze. Wir haben auch im Einkommensteuerbereich niedri-ge Steuersätze vorgelegt. Dadurch wird selbstverständ-lich auch diese Branche entlastet. Die jetzige Bundesre-gierung ist es doch – auch das sollte einmal betont wer-den –, die erstmals politisch und auch fachlich in derLage war, die Lohnnebenkosten zu senken. Dadurchwurde die Mehrbelastung im Tourismusgewerbe ge-senkt. Das ist durch die Leistung der jetzigen Bundes-regierung zustande gekommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die nächste Rednerin
ist die Kollegin Heidemarie Ehlert für die PDS-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsi-
dentin! Meine Damen und Herren! Zusätzlich zu den
Zahlen, die Frau Scheel genannt hat, gab es gestern in
der „Berliner Morgenpost“ unter der Überschrift „Hitpa-
rade der Berliner Hotellerie“ eine Veröffentlichung über
die Umsätze der Top Ten der Berliner Hotels für 1999.
Trotz der noch immer geringen Bettenauslastung im
Vergleich zu 1991 – da lag sie noch bei 60 Prozent; jetzt
beträgt sie 47 Prozent – sind die Umsätze nicht nur bei
den großen Hotels, sondern auch bei den kleineren ge-
stiegen – und das bei einem Mehrwertsteuersatz von
16 Prozent. Sicher, Berlin boomt und ist deshalb nicht
unbedingt vergleichbar mit anderen Gegenden. Auf je-
den Fall aber schrecken die sehr hohen Übernachtungs-
preise weder die Touristen noch die Geschäftsreisenden
davon ab, in Berlin zu nächtigen.
Ausgangspunkt des Antrages der CDU/CSU-Fraktion
ist die Wettbewerbssituation des Hotel- und Gaststätten-
gewerbes in Deutschland im Zuge der Globalisierung.
Das deutsche Gastgewerbe sei insbesondere im Ver-
gleich zu den anderen EU-Mitgliedstaaten durch die
Anwendung des vollen Umsatzsteuersatzes gravierend
benachteiligt.
Nun weiß ich aber aus eigener Erfahrung, dass die
Preise in unseren Nachbarländern, die Sie in dem Antrag
anführen, zum Beispiel die in Österreich, kaum unter
den Preisen der Bundesrepublik liegen. Meist sind die
Übernachtungskosten sogar höher.
Deutschland ist ein weitgehend preiswertes, aber kein
billiges Reiseland. Es ist jedoch ein Reiseland voll land-
schaftlicher Schönheiten und kultureller Schätze und,
wie die Zahlen belegen, eine Reise wert. Entgegen aller
Unkenrufe gibt es generell einen Aufwärtstrend im Ho-
telgewerbe. Der soeben schon einmal zitierte Präsident
des deutschen Tourismusverbandes sagte, dass die Gäs-
tezahlen seit den letzten fünf Jahren kontinuierlich stei-
gen und dass es bei den Übernachtungszahlen in nahezu
alle Bundesländern ein Plus gibt, allein in den ersten
zehn Monaten des vergangenen Jahres ein Plus von
4,4 Prozent. Thüringen konnte dank Goethe sogar einen
Zuwachs von 12,1 Prozent verzeichnen. Die Umsatz-
steuer ist zwar ein Faktor, der preisbestimmend wirkt,
aber nur in den wenigsten Fällen ausschlaggebend ist für
die Entscheidung, wo jemand Urlaub macht.
Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch Proble-
me; das will ich nicht verheimlichen.
In meiner Heimatstadt ist die Zahl der Übernachtungen
von 1993 bis 1999 um 100 000 gesunken. Parallel dazu
aber stieg die Zahl der angebotenen Betten auf das Drei-
fache. Das heißt: Es wurde am Bedarf vorbeigebaut, um
Fördermittel abzufassen. Die Goldgräberzeiten sind vor-
über, und jetzt rufen Sie nach einer Senkung der Mehr-
wertsteuersätze im Interesse der Lobbyisten.
Sicher, es ist notwendig, im Rahmen der EU über ei-
ne weitere Harmonisierung der Steuern nachzudenken.
Die Einführung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes
im Beherbergungsgewerbe wäre aber schon längst mög-
lich gewesen. Oder haben Sie die 6. EU-Richtlinie des
Anhangs nicht gelesen? Meine Damen und Herren von
der CDU, Sie haben Ihre Chancen vertan. Sie hätten sie
nutzen können.
Selbstverständlich könnten wir einer Erhöhung des
Freibetrages für freiwillige Trinkgelder – das haben Sie
noch in Ihren Antrag aufgenommen – zustimmen. Plötz-
lich aber schwenken Sie um: Das Gastgewerbe soll be-
vorteilt werden und zwischen den Berufen sollen Unter-
schiede gemacht werden. Erklären Sie mir doch bitte
einmal den Unterschied zwischen einer Kellnerin und ei-
ner Friseuse! Wenn die Letztere nicht qualifiziert ist,
dann möchte ich einmal manche Köpfe in diesem Raum
sehen. Wenn, dann müsste diese Frage durchgängig neu
geregelt werden. Wir aber plädieren für eine Anhebung
der bisherigen Niedriglöhne in diesem Dienstleistungs-
bereich, also für gesicherte Einkünfte der Beschäftigten
statt steuerfreie Trinkgeldgeschenke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Kollege Thomas Dörflinger, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Ich will die Arbeitslosigkeit deut-lich senken; daran will ich mich messen lassen. Mit die-sem einen von vielen mehr oder weniger denkwürdigenSätzen hat sich Bundeskanzler Schröder vernehmen las-sen. Das aber, was bis heute in Sachen Bekämpfungder Arbeitslosigkeit festzustellen ist, verdanken wireinzig und allein der Tatsache, dass mehr Personen ausdem Erwerbsleben ausgeschieden sind als neue hin-zukommen. Das ist also Resultat der Bevölkerungsent-wicklung, nicht Resultat der Politik der Bundesregie-rung.Christine Scheel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7571
In den Leitlinien der Europäischen Kommission zurBeschäftigungspolitik steht – diese haben wir gestern imAusschuss beraten –, dass der Anteil des Dienstleis-tungssektors am Arbeitsmarkt in Deutschland im Ver-gleich zur EU und erst recht im Vergleich zu den USAunterentwickelt ist.
Genau diese Tatsache hat die Unionsfraktion zum An-lass genommen, einen Schritt in die richtige Richtungvorzuschlagen,
nämlich eine Harmonisierung der gastgewerblichenMehrwertsteuersätze in der EU und in der Übergangszeiteinen ermäßigten Mehrwertsteuersatz in Höhe von7 Prozent.Worum geht es? Betrachten wir einmal die Situationbeispielsweise in Baden-Württemberg mit der speziellenGrenzsituation. Für deutsche Beherbergungsbetriebe be-trägt die Mehrwertsteuer 16 Prozent, im benachbartenÖsterreich 10 Prozent, in Frankreich 5,5 Prozent und inder Schweiz sogar nur 3 Prozent.
Dazu muss man wissen, dass die Schweiz den Mehr-wertsteuersatz im Beherbergungsgewerbe aus Gründendes Wettbewerbs, vor allem aber aus Gründen des Ar-beitsmarktes von 6,5 auf 3 Prozent gesenkt hat.
Richtet man den Blick auf die Europäische Union,dann wird das Ausmaß der Wettbewerbsverzerrungfür deutsche Unternehmen erst richtig deutlich. FürGaststättenumsätze gelten in acht von 15 EU-Staatenermäßigte Steuersätze, für Umsätze aus Beherbergungist dies ebenfalls in acht von 15 EU-Staaten so. Deutsch-land aber gehört weder im einen noch im anderen Falldazu. Ich habe von einem Schritt in die richtige Richtunggesprochen, den wir unternehmen wollen. Freilich müs-sen dem weitere folgen. Nachdem die Bundesregierungaber schon viele Schritte unternommen hat, die aller-dings alle in die falsche Richtung liefen, wären wirschon zufrieden, wenn es wenigstens diesen einenSchritt gäbe.
Was aber hat die Bundesregierung getan?
Sie hat den Vorsteuerabzug für Geschäftsreisende ab-geschafft. Wen trifft das? Das trifft die Betriebe im Tou-rismus und in der Gastronomie.
Sie haben die 630-Mark-Jobs weitgehend abgeschafft.
Wen trifft das? Die Betriebe im Tourismus und in derGastronomie. Sie haben eine Ökosteuer eingeführt, diejährlich auch noch erhöht wird. Wen trifft das? Die Be-triebe im Tourismus, die Betriebe in der Gastronomie.Und dann kommen Sie, insbesondere auch von der Re-gierungsbank,
in Festtagslaune zu den großen touristischen Kongressenund sprechen von den schönen Geschenken der Touris-musförderung. Ich kann davon nichts erkennen, dennIhnen fehlt ein schlüssiges Konzept.
Ich zitiere aus der Rede des Bundeswirtschaftsminis-ters Werner Müller zur Eröffnung der ITB am 6. Märzdes vergangenen Jahres hier in Berlin:
Auf europäischer Ebene sind für die deutsche Tou-ristikbranche die zum Teil gewaltigen Unterschiedebei den Mehrwertsteuersätzen der Mitgliedstaatenein großes Handicap.– Stimmt das oder stimmt es nicht? – Es stimmt. Müllerfährt fort:Diesen speziellen tourismuswirtschaftlichen Aspekthabe ich besonders im Auge, denn er ist ein hand-fester Wettbewerbsnachteil für das deutsche Ge-schäft.Zwei Tage vorher, in der Tourismusdebatte am4. März, hatten Sie, Frau Staatssekretärin, sich ähnlichgeäußert. Sie haben das festgestellt, das ist lobenswert;danach gehandelt haben Sie aber nicht. Sie haben etwasganz anderes getan. Der Wirtschaftsminister hatte etwasim Auge, aber offensichtlich hatte er in den Verhand-lungen mit dem Bundesfinanzminister eine aufs Augebekommen, denn sonst würde er die Situation heutenoch genauso sehen wie damals.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ob Sie dieses spe-zielle Thema nehmen, ob Sie das „Bündnis für Arbeit“nehmen – Sie können beinahe jeden politischen Bereichherausgreifen –: Schlussendlich folgt immer einergroßmündigen Ankündigung das große Nichts. Das istIhre Politik nach Art der Teletubbies: Wenn das Lichtangeht, wenn die Sonne aufgeht, dann ist „winke, win-ke“. Wenn es dann an die Inhalte geht, dann kommt nurnoch „oh, oh“.Thomas Dörflinger
Metadaten/Kopzeile:
7572 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
– Herr Schmidt, Sie sollten sich nicht so aufregen. – Soeine Politik hat keine Substanz, so eine Politik zielt nurauf Showeffekte. Deswegen kommen wir damit inDeutschland auch nicht weiter.Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzte Rednerin in
der Debatte ist die Kollegin Brunhilde Irber.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Zwi-
schenrufe unter anderem des Herrn Vorsitzenden ehren
mich, aber ich bin nicht nur Tourismuspolitikerin für
Ostbayern, sondern für ganz Deutschland.
Ich könnte es mir heute sehr einfach machen und meine
Rede zur Einbringung dieses Antrages jetzt bei der
Schlussdebatte erneut vortragen. Lieber Herr Brähmig,
Ihre Fraktion hat die Ausschussberatungen leider nicht
dazu genutzt, den Antrag etwas näher an die Wirklich-
keit heranzubringen. Um es vorwegzunehmen: Auch aus
tourismuspolitischer Sicht muss Ihr Antrag abgelehnt
werden.
– So ist es.
Zu den Fakten: Die Branche boomt. Wir verzeichnen
seit Jahresbeginn 1999 eine Steigerung der Übernach-
tungszahlen in Deutschland von 4,4 Prozent. Die Frau
Kollegin Scheel hat vorhin in ihrem Beitrag die „Pas-
sauer Neue Presse“ zitiert, das Organ, das auch Herr
Hinsken bestens kennt. Vielleicht ist es ihm nicht mehr
ganz so lieb, weil die Berichterstattung etwas kritischer
geworden ist. Seit die Maßnahmen der neuen Bundesre-
gierung zur Verbesserung der Kaufkraft wirken, hat sich
eine deutliche Steigerung der Übernachtungszahlen im
deutschen Tourismus eingestellt. Die Auslastung der
Bettenkapazitäten steigt, die Zahl der Konkurse ist zu-
rückgegangen. Es passiert also all das, was nach Ihrem
Antrag doch erst passieren sollte, wenn der Staat die
Mehrwertsteuer senkt. Das alles passiert, weil die Bun-
desregierung mit den richtigen Instrumenten in diesem
Wirtschaftsraum aktiv wurde.
Herr Brähmig, Sie tun mir schon direkt Leid. Ich er-
höre Sie.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnenund Kollegen, wir hatten uns auf Zuruf verständigt, dasswir angesichts der fortgeschrittenen Zeit keine Fragenmehr zulassen.
Es gab reichlich Diskussionsgelegenheit in dieser Debat-te.Ich wiederhole: Es passiert also all das, was nach Ih-rem Antrag erst dann passieren sollte, wenn der Staat dieMehrwertsteuer senkt. Das alles passiert, weil dieBundesregierung mit den richtigen Instrumenten imWirtschaftsraum aktiv wurde,
weil wir eine aktive Wirtschafts- und Sozialpolitikmachen, die die Arbeitskosten verringert, die Einkom-men- und Unternehmensteuern senkt, die Kaufkraft beiden Verbrauchen stärkt,
und weil wir eben die Gesamtverantwortung wahr-nehmen und uns nicht mit einzelnen, zugegebenermaßenpopulären, aber unwirksamen Maßnahmen verheben.
Zweiter Fakt – Herr Brähmig, wenn Sie ein bisschenaufpassen und zuhören würden, könnten Sie jetzt viel-leicht etwas lernen –:
Deutschland hat die niedrigste Mehrwertsteuer in derEU. Sie kommen daher und fordern, diese weiter zusenken. Ihnen ist doch klar, dass dann der normaleMehrwertsteuersatz so weit unten nicht mehr haltbar ist.Das würde alle anderen Branchen belasten.
Thomas Dörflinger
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7573
Richtig ist sicherlich, dass auch wir Tourismuspoliti-ker zu Beginn der Legislaturperiode zusammen mit demWirtschaftsminister ein Modell zur Verringerung derMehrwertsteuer für das Gaststättengewerbe in die Dis-kussion gebracht haben und mit einer probeweisen Sen-kung einverstanden gewesen wären. Damals aber warendie gesamtwirtschaftlichen Maßnahmen der Bundesre-gierung noch nicht abgestimmt.
Heute sind zwei Tatsachen gegeben: Die betroffeneBranche wird durch die Unternehmensteuerreformweit mehr entlastet, als alle bisherigen ernst zu nehmen-den Pläne es erwarten ließen.
Die Verbraucher, insbesondere die Familien, die für denDeutschlandtourismus wichtig sind, haben deutlich mehrGeld in der Tasche.
– Herr Brähmig, eine Regierung müsste mit dem Klam-merbeutel gepudert sein, wenn sie für eine Branche imWachstum die Mehrwertsteuer verringern würde. Eshandelt sich wohlgemerkt um eine Steuer, deren Ausfäl-le die Allgemeinheit zu tragen hätte. Mit Recht würdenalle anderen Branchen aufschreien, weil man dann demFluss des Geldes weiteres Geld hinterherwerfen würde. Außerdem befindet sich die Branche in einem hartenWettbewerb – das ist klar –, der ohnehin schon massivauf die Preise drückt. Mit einer Mehrwertsteuersenkungzu einem Zeitpunkt des allgemeinen Preisverfalls würdeman nur den Druck auf die Betriebe erhöhen und dieFolge wären zunehmende Konkurse. Fragen Sie docheinmal einen Hotelier, wie er seine Preise bildet. DieAntwort ist: nach der Marktlage und nicht nach den Ge-winnerwartungen. Die Marktlage zeigt im Hinblick aufdie Preise nach unten. Es ist eine ähnliche Entwicklungwie bei den Reiseveranstaltern, über die wir uns gesternunterhalten haben. Die richtige Logik ist, dass die Bürger mehr Urlaubmachen, wenn es in ihre eigene Gesamthaushaltslagepasst, und nicht, wenn die Hotels allgemein etwas billi-ger werden. Wir haben daher das Richtige gemacht,während Sie nur der Branche gefällig sein wollten.
Es stimmt halt doch: Sie wollen der Branche erst jetztgefällig sein, da Sie in der Opposition sind.
Herr Brähmig, Ihr Minister Waigel hat kurz vor derletzten Bundestagswahl das Umsatzsteuergesetz so ge-ändert, dass die Gastronomie jetzt immer den vollenMehrwertsteuersatz abführen muss, auch wenn die Fa-milie in der eigenen Gastwirtschaft isst. Er hat damit fürdie Gastronomie die Tür zum ermäßigten Mehrwertsteu-ersatz zugeschlagen, weil er aus der bisherigen steuer-rechtlichen „Lieferung“ eine „Dienstleistung“ gemachthat. Diese wird immer mit dem vollen Mehrwertsteuer-satz berechnet. Er hat dies getan, um ein paar Pfennigemehr in seinen Haushalt zu bekommen. Noch ein paar Sätze zu dem Vorschlag in dem Antragder CDU, den Freibetrag für die Trinkgeldbesteue-rung anzuheben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, Sie
müssen nun zum Schluss kommen.
Ich komme sofort zumSchluss, Frau Präsidentin. Nur dies möchte ich noch ausführen: Die rechtlichenProbleme, die mit der Erhöhung des Freibetrages ver-bunden sind, stellen keine Lösung dar.
Die Prüfungspflicht der Finanzämter und der Sozialver-sicherungen bleibt auch bei einem höheren Freibetragerhalten.
– Richtig; das ist etwas anderes.
Ich möchte Ihnen nur noch eines sagen: Bei Ihnenmerkt man, dass Sie mit populären Vorschlägen denBeifall der Branche erreichen wollen, und Sie hoffen,dass Sie so wieder an die Macht kommen. Ich bedaure,dass die Branche auf diese populistischen Vorschlägeeingeht und so tut, als hätten Sie noch die Ge-samtverantwortung in diesem Land.
Aber die haben wir und aus dieser Gesamtverantwortungheraus lehnen wir Ihren Antrag ab. Da diese Sitzungzwar nicht mehrwertsteuerpflichtig ist und, wie ich hof-fe, auch nicht vergnügungsteuerpflichtig wird, möchteich meine Ausführungen jetzt beenden.Danke schön.
Vizepräsidentin Petra Bläss
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7574 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem An-
trag der Fraktion der CDU/CSU zur Harmonisierung der
gastgewerblichen Mehrwertsteuersätze in der Europäi-
schen Union auf der Drucksache 14/1899.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
14/294 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. und bei Enthaltung der PDS an-
genommen.
Jetzt rufe ich den letzten Tagesordnungspunkt, Ta-
gesordnungspunkt 12, auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll,
Dr. Christa Luft, Heidemarie Ehlert, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Ermäßigter Mehrwertsteuersatz für arbeitsin-
tensive Leistungen
– Drucksachen 14/64, 14/1333 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Barbara Höll
Dieter Grasedieck
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
PDS-Fraktion die Kollegin Dr. Barbara Höll.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir denheutigen Sitzungstag auch noch am heutigen Tag be-schließen. Allerdings muss ich sagen, dass ich schon et-was erstaunt bin, insbesondere wenn man hier im Ple-num die letzte Debatte gehört hat. Es wurde das Fehlenvon Abgeordneten beklagt. Beim allerletzten Debatten-punkt allerdings, der nach der üblichen Praxis in diesemParlament – so wird es im Ältestenrat immer vereinbart– ein Punkt der PDS ist, sprechen nicht einmal Vertreteraller Fraktionen, weil es ihnen oftmals einfach zu spätist. Damit entziehen sie sich einer öffentlichen Diskussi-on hier im Plenum. Das finde ich, schlicht gesagt, wirk-lich scheinheilig, wenn man so unterschiedlich verfährt.Nun komme ich zum Thema: Wir haben über diesesAnliegen der PDS, einen ermäßigten Mehrwertsteuer-satz für arbeitsintensive Dienstleistungen auch in derBundesrepublik Deutschland einzuführen, schon öfterdiskutiert, zum Beispiel bereits in der letzten Legislatur-periode. Damals lehnten die Fraktion der CDU/CSU unddie Fraktion der F.D.P. diesen Vorschlag ab.
Inzwischen muss ich sagen, dass der Inhalt unseresVorschlages –wir wollten die vorherige Regierung be-reits vor Jahren dazu bewegen, in dieser Richtung initia-tiv zu werden – von der Geschichte eingeholt wordenist. Das ist bereits Wirklichkeit geworden. Am Anfangdes Jahres 1998 hat auf Initiative des Europaparlamentesdie EU-Kommission die Initiative ergriffen und dieserProzess ist gegen Ende des vergangenen Jahres zum Ab-schluss gekommen.Entsprechend der Initiative des Europaparlamentes istes möglich, Reparaturarbeiten an beweglichen körperli-chen Gegenständen,
weglichen Körpern nicht im Ausschuss disku-tieren?)Renovierungs- und Reparaturarbeiten im Wohnungsbau– außer Neubau – und arbeitsintensive Leistungen, zumBeispiel Pflegeleistungen in Wohnungen, Pflege vonKindern, alten Menschen und Behinderten, tatsächlichmit einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz zu belegen.Darüber haben wir im Ausschuss diskutiert. Es ka-men verschiedenste Argumente. Unter anderem wurdedas Argument angeführt, für diese Möglichkeit würdensich – wenn überhaupt – höchstens zwei Staaten in Eu-ropa interessieren. Bis zum 1. November 1999 – an die-sem Tag war Antragsschluss – haben sich aber tatsäch-lich neun Staaten der EU dafür entschieden, dieses In-strument zum Abbau von Arbeitslosigkeit wenigstensauszuprobieren, und zwar in dem Maße, wie es im Rah-men des Vorschlages der EU-Kommission möglich ist.Es fiel das Argument: Würden damit tatsächlich Ar-beitsplätze geschaffen? Das wissen wir sicher nicht. A-ber wenn wir es nicht ausprobieren, haben wir auch kei-ne Chance, es zu erfahren. Nur die Praxis wird es bewei-sen.
Gerade im Bereich der Dienstleistungen an Menschenbedeutet es einen Unterschied, wenn man den Mehr-wertsteuersatz signifikant senkt. Eine Senkung bis auf5,5, 6 Prozent – das sind die Vorschläge der europäi-schen Staaten, die von dem Instrument Gebrauch ma-chen werden – macht sich schon im Portemonnaie be-merkbar. Auch zum Beispiel bei der Renovierung von Woh-nungen ist mit einer Senkung der Kosten für denjenigen,der seine Wohnung renovieren lässt, ein Vorteil verbun-den. Die Kosten auf dem offiziellen Markt wären zwartrotzdem höher, als wenn man eine solche Dienstleis-tung schwarz erledigen lässt; aber man hat damit auchden Vorteil, gewisse Garantieleistungen zu erhalten. Ichglaube, gerade in diesem Bereich ist das ganz wesent-lich. Ein weiteres Argument war, es würde Milliarden kos-ten. Guckt man aber einmal in die Unterlagen der EU-Kommission nach der Beantragung durch die einzelneneuropäischen Staaten, so stellt man fest, dass die einzel-nen Länder eben nicht mit Mindereinnahmen in Milliar-denhöhe rechnen. Vielmehr findet man Aussagen wiebei Luxemburg: keine nennenswerten Auswirkungen.
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000 7575
Griechenland spricht davon, dass die finanziellen Aus-wirkungen nicht sehr groß sein werden. Ganz wichtig sind die ökologischen Faktoren, diewir hoffen mit einem solchen Instrument verwirklichenzu können. Denn es geht darum, Reparaturdienstleistun-gen zu einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz möglichzu machen.
Dann stellt sich nicht immer gleich die Frage: Lohnt sicheine Reparatur überhaupt noch oder zahle ich ein paarMark drauf und kaufe mir dann etwas Neues? Es ist kein Zufall, dass die Mehrzahl der Staaten, dieeinen Antrag an die EU-Kommission gestellt haben, sichtatsächlich für eine Steuersenkung im Reparaturbereich ,bei der Reparatur von Fahrrädern, entschieden hat. Ichmuss aber sagen, dass die PDS das als unzureichend an-sieht. Wir würden uns wünschen, dass auch Reparaturenan Autos zu ermäßigtem Steuersatz möglich wären.Denn auch das wäre ein ökologischer Faktor. Wir meinen, dass die Notwendigkeit, im Arbeits-markt aktiv zu werden, gegeben ist. Das wissen wir alle.Da wie bereits in der vorigen Debatte sicher auch jetztwieder darauf abgehoben wird, dass Sie eine tolle Un-ternehmensteuerreform planen und umsetzen werden,muss man natürlich sagen, dass nach dem, was uns bis-her vorliegt, die Unternehmensteuerreform eine massiveTarifentlastung für ertragsstarke Kapitalgesellschaftenund Steuerpflichtige mit sehr hohem Einkommen, diewieder doppelt entlastet werden, bedeuten wird. KleineGewerbetreibende, auf die unser Antrag zielt, werdenkaum profitieren, weil sie nicht ausreichend Gewinnehaben und von den Steuertarifsenkungen nur marginalbetroffen sind.
Abschließend möchte ich das „Handelsblatt“ zitieren,dem man sicher Objektivität zugute halten kann.
Es lobt die Unternehmensteuerreform und sieht in ihrdie „sympathische Entwicklung“, dass die SPD endlichzu einer Shareholder-Value-Partei wird. Sie wollen –auch Originalton „Handelsblatt“ – „großkapitalistischeProduktivvermögen“ entlasten. Die kleinen Handwerker,um die es in diesem Antrag geht, beziehen Sie nicht aus-reichend in Ihre Politik ein. Ich denke, es ist einfach kurzsichtig, ein Modell, fürdas sich neun europäische Staaten entschieden haben,nicht wenigstens auszuprobieren.
Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Dieter Grasedieck.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Frau Höll, auch wirwollen Arbeitsplätze schaffen. Das ist natürlich auch un-ser wichtigstes Ziel. Aber wir haben einfach bessereWege dazu.
Wir schaffen Arbeitsplätze.
Wir schaffen Arbeitsplätze im Mittelstand. Wir schaffenArbeitsplätze auch bei Kleinbetrieben. Wir legen Wertdarauf, dass Betriebe mit Ausbildungsplätzen gefördertwerden. Sie wissen doch ganz genau, dass wir eine großeSteuerreform planen. Diese Steuerreform wird sehr viele Familien und Betrie-be entlasten. Es werden nicht nur die Industriebetriebeberücksichtigt. Die Gesamtentlastung der Steuer-reform beträgt bis zum Jahr 2002 42,5 Milliarden DM.
Dies wird bis zum Jahre 2005 auf 72,5 Milliarden DMgesteigert. Von einer solchen Entlastung hat dieCDU/CSU immer nur geträumt.
Wir sind gegen die Minilösung eines ermäßigtenMehrwertsteuersatzes. Wir wollen die große Steuerre-form. Diese bringt sehr viel an Entlastung. Familienein-kommen bis zu einer Höhe von 40 000 DM werdem imJahr 2005 steuerfrei sein. Das sind Ziele und Signale.Eine Familie mit zwei Kindern wird im Jahre 2005 sogarum 4 050 DM netto entlastet. Diese Entlastung muss imRahmen der gesamten Steuerbelastung berücksichtigtwerden.
Sie, meine Damen und Herren von der PDS, stellenheute Ihren Antrag zum dritten Mal, soweit ich michdaran erinnern kann. Aber die Politik hat sich weiter-entwickelt und hat sich im letzten Jahr verbessert. Sie istverändert worden. Ihr Antrag ist eigentlich überholt. Siehandeln nach dem Motto: Meine Meinung steht fest, bit-te verwirren Sie mich jetzt nicht mit Tatsachen. Aber diegroße Steuerreform ist eine Tatsache. Dr. Barbara Höll
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7576 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2000
Sie sind doch sonst so flexibel, Frau Dr. Höll undFrau Ehlert. Stellen Sie Ihren Antrag einfach zurück undloben Sie unsere große Steuerreform!
Lob hat diese Steuerreform wirklich verdient.
– Sie müssen doch nur einmal den Anstieg der Nor-maleinkommen im letzten Jahr betrachten. Das ist schoneine Auswirkung unserer Steuerreform.
Die Normaleinkommen sind im letzten Jahr von 4 900DM auf 5 020 DM gestiegen. Wenn Sie das nachlesen,werden Sie feststellen, dass ich Recht habe. Von 2001bis 2005 wird die Körperschaftsteuer von 40 Prozent auf25 Prozent reduziert. Das ist ein gewaltiger Schritt. Da-durch werden auch die kleineren Betriebe unterstützt.
Auch der Eingangssteuersatz ist gewaltig reduziertworden. Sie haben vorhin behauptet, nur die großen Be-triebe profitierten davon. Das ist nicht der Fall. Die Fa-milien und die Kleinverdiener werden entlastet.
Der Eingangssteuersatz sinkt von 26 Prozent auf 15 Pro-zent, das ist unser Zielpunkt.
Ich kann mir denken, dass Sie davon total überraschtsind. Auch der Spitzensteuersatz ist wesentlich gesenktworden. Unsere Zielprojektion ist ,den Steuerfreibetragauf 14 500 DM anzuheben. Wir entlasten also den Bür-ger von 1998 bis 2005 um 72,5 Milliarden DM. Das sindwichtige Ziele.
– Um 72,5 Milliarden DM, Herr Hinsken. Das ist allesberechnet. Wenn Sie das nachlesen, dann werden Sie er-kennen, dass wichtige Signale für die Bekämpfung derArbeitslosigkeit und für die Förderung des Wachstumsausgesendet werden. Investoren können sicher planen,weil sie ganz genau wissen: In jedem Jahr werden dieSteuern weiter reduziert.
– Nein, nicht belastet. Sie scheinen etwas aus demRhythmus geraten zu sein. – Wir schaffen Sicherheiten,Arbeitsplätze werden abgesichert. Der PDS-Antrag könnte höchstens – wenn überhaupt– für zwei Jahre umgesetzt werden. Wir müssten dannein Gesetzeswerk entwickeln und viele Erlasse auf denWeg bringen; denn in Ihrem Antrag verbergen sich vieleFragen. Was meinen Sie denn mit Renovierungsarbei-ten? Handelt es sich um Renovierungs- und Reparatur-arbeiten, wenn zum Beispiel ein Wintergarten gebautwird? Handelt es sich um Renovierungsarbeiten imHausbereich, wenn der Dachboden ausgebaut wird? Woziehen Sie die Grenzen? Liegt die Grenze bei200 000 DM oder bei 400 000 DM? Für den Freizeitbe-reich ist es so ähnlich aufgeführt. Ich komme zum Schluss. Wir könnten hier Fragenüber Fragen stellen, wenn wir den Antrag einmal im De-tail betrachten. Würde man Ihrem Antrag folgen, würdedas Umsatzsteuerrecht wesentlich komplizierter und einneues Paradies der Steuerschlupflöcher würde geöffnet.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der PDS,unsere Politik braucht mutige Antworten. Streichen SieIhren Antrag und unterstützen Sie unsere Steuerreform!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Abgeordneten
Jochen-Konrad Fromme, CDU/CSU–Fraktion, Klaus
Müller, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, sowie Gisela
Frick, F.D.P.–Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll
gegeben.1) Ich setze das Einverständnis des Hauses vor-
aus und schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der
Fraktion der PDS zur Ermäßigung des Mehrwertsteuer-
satzes für arbeitsintensive Leistungen auf Drucksa-
che 14/1333. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/64 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der
PDS–Fraktion bei einer Enthaltung aus der CDU/CSU–
Fraktion angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 21. Januar 2000,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen allen eine angenehme Nachtruhe.
Sie ist notwendig.
Die Sitzung ist geschlossen.