Gesamtes Protokol
Guten Morgen,
meine Damen und Herren. Die Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich
dem Kollegen Wolfgang Schulhoff zu seinem 60. Ge-
burtstag, den er am Dienstag feierte, nachträglich die be-
sten Wünsche des Hauses aussprechen.
Sodann teile ich folgendes mit: Bis zum Inkrafttreten
des gestern im Deutschen Bundestag verabschiedeten
Gesetzes zur Errichtung der Stiftung „Denkmal für die
ermordeten Juden Europas“ wird im Geschäftsbereich
des Bundeskanzlers eine unselbständige Stiftung glei-
chen Namens errichtet.
Nach § 5 Abs. 1 eines Erlasses vom 15. November
1999 entsendet der Deutsche Bundestag in das Kuratori-
um der Stiftung seinen Präsidenten sowie je ein Mitglied
des Deutschen Bundestages pro angefangene 100 Mit-
glieder der im Deutschen Bundestag vertretenen Frak-
tionen.
Die Fraktion der SPD benennt die Abgeordneten
Eckhardt Barthel , Monika Griefahn und Micha-
el Roth, die Fraktion der CDU/CSU die Abgeordneten
Hartmut Koschyk, Günter Nooke und Annette Wid-
mann-Mauz, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen den
Abgeordneten Volker Beck, die Fraktion der F.D.P. den
Abgeordneten Hans-Joachim Otto und die Fraktion der
PDS den Abgeordneten Heinrich Fink. Sind Sie mit die-
sen Vorschlägen einverstanden? – Ich höre keinen Wi-
derspruch. Damit werden die genannten Kolleginnen
und Kollegen sowie der Präsident des Deutschen Bun-
destages kraft Amtes als Mitglieder in das Kuratorium
der Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Euro-
pas“ entsandt.
Außerdem hat die Fraktion der SPD mitgeteilt, daß
der Kollege Hans Martin Bury aus dem Beirat bei der
Regulierungsbehörde für Telekommunikation und
Post als ordentliches Mitglied ausscheidet. Als Nachfol-
ger wird der Kollege Gerhard Rübenkönig vorgeschla-
gen, der bisher stellvertretendes Mitglied war. Neues
stellvertretendes Mitglied soll der Kollege Thomas
Sauer werden. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre
keinen Widerspruch. Damit sind die genannten Kollegen
als ordentliches bzw. stellvertretendes Mitglied für den
Beirat der Regulierungsbehörde vorgeschlagen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
Tagesordnung um die Ihnen in einer Zusatzpunkteliste
vorliegenden Punkte erweitert werden:
1. – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPDund BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Errichtung einer „Stiftung Denkmalfür die ermordeten Juden Europas“ – Drucksache14/2013 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Hans-Joachim Otto, Dr. Wolfgang Gerhardt, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P.eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Gründungeiner „Stiftung Denkmal für die ermordeten JudenEuropas“ – Drucksache 14/1996 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kulturund Medien – Drucksache 14/2349 – (siehe78. Sitzung)
Berichterstattung: Abgeordnete Monika Griefahn
2. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P. ge-mäß Anlage 5 Nummer 1 Buchstabe b GO-BT zu den Ant-worten der Bundesregierung auf die Fragen 31–40 in Druck-sache 14/2325 zur Sanierung der Philipp Holzmann AG(siehe 78. Sitzung)
3. Abgabe einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers zuden Ergebnissen des Europäischen Rates in Helsinki am10./11. Dezember 1999
4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Walter Hirche, Rai-ner Brüderle, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der F.D.P.: Zukunftsfähige Energiepolitik fürden Standort Deutschland – Drucksache 14/2364 –
5. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Be-richt zur Härteklausel nach § 4 Absatz 4 des Stromein-speisungsgesetzes – Drucksache 14/2371 –
6. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Ar-tikel 77 des Grundgesetzes zu demGesetz zur Stärkung der Unabhängigkeit der Richter undGerichte – Drucksachen 14/979, 14/1875, 14/2330,14/2367 –
7. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nachArtikel 77 des Grundgesetzes zudem Gesetz zur Reform der gesetzlichen Krankenversiche-rung ab dem Jahr 2000 (GKV-Gesundheitsreformgesetz2000) – Drucksachen 14/1245, 14/1721, 14/1977, 14/2215,14/2369 –
7212 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
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8. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache(Ergänzung zu TOP 20)
a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat einge-brachten Entwurfs eines Zweiten Eigentumsfristengeset-zes – Drucksache 14/2250 – (Erste Beratung76. Sitzung)
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses(6. Ausschuß) – Drucksache 14/2352 –
b) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschus-ses Sammelübersicht 106 zu Petitionen– Drucksache 14/2372 –
c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschus-ses Sammelübersicht 107 zu Petitionen– Drucksache 14/2373 –
d) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschus-ses Sammelübersicht 108 zu Petitionen– Drucksache 14/2374 –
e) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschus-ses Sammelübersicht 109 zu Petitionen– Drucksache 14/2375 –
f) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschus-ses Sammelübersicht 110 zu Petitionen– Drucksache 14/2376 –
9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Günther Nolting,Hildebrecht Braun , Rainer Brüderle, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der F.D.P.: Deutsche Beteili-gung an INTERFET beenden – Drucksache 14/2378 –
Nachträgliche Ausschußüberweisungen:
Der in der 31. Sitzung des Deutschen Bundestages überwie-sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus-schuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, dem Aus-schuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, demAusschuß für Angelegenheiten der neuen Länder und demHaushaltsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf von den Abgeordneten Hans-Joachim Otto(Frankfurt), Rainer Funke, Dr. Klaus Kinkel, weiteren Abge-ordneten und der Fraktion der F.D.P. zur Reform des Stif-tungsrechts – Drucksache 14/336 –
Hinter uns liegt eines der blutigsten Jahrhunderte der
Geschichte. Nach zwei grausamen Kriegen, die Millio-
nen Menschenleben gefordert haben, nach furchtbarsten
Exzessen des Rassismusses und der Barbarei, nach fa-
schistischer Diktatur und kommunistischer Willkürherr-
schaft haben wir heute allen Grund, auf ein Europa des
Friedens und der Demokratie zu hoffen. Vor uns
Europäern liegt eine große Zukunft. Wir sind heute in
der Lage, ein Europa der Freiheit, der Menschenrechte,
des Friedens und der Demokratie nicht nur zu denken,
sondern es tatsächlich zu machen. Deswegen setzen wir
alles daran, dieses Europa Wirklichkeit werden zu las-
sen.
Unter diesen Vorzeichen, meine Damen und Herren,
sind die europäischen Staats- und Regierungschefs in
der vergangenen Woche zu ihrem Gipfeltreffen in Hel-
sinki zusammengekommen. Die Entscheidungen dieses
Gipfels – das wußten wir vorher – würden von erhebli-
cher Tragweite sein, nicht nur für die Zukunft Europas,
sondern auch für die Zukunft unseres Landes in Europa.
Ich bin sicher, meine Damen und Herren, Sie stimmen
mir zu, wenn ich sage, die Entscheidungen von Helsinki
waren wichtig für das Zusammenleben aller Menschen in
Deutschland, gleich welcher Herkunft sie sind.
Denn gerade für die vielen mitten unter uns lebenden
Menschen türkischer Herkunft ist es entscheidend zu
Präsident Wolfgang Thierse
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7213
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(D)
wissen, ob das Land ihrer Väter auf eine demokratische
Zukunft als Teil Europas hoffen darf.
Meine Damen und Herren, eine solche Perspektive für
die Türkei betrifft nicht nur die in Deutschland lebenden
Türken, sondern sie betrifft uns alle und sie betrifft die
Zukunft unserer Demokratie.
In Helsinki standen für die Zukunft Europas wichtige
Fragen zur Entscheidung an. Meine Erwartungen vor
dem Gipfeltreffen habe ich am 3. Dezember 1999 dem
Hohen Hause vorgetragen. Heute kann ich feststellen:
Die seinerzeit vorgetragenen Erwartungen haben sich er-
füllt. Helsinki hat Ergebnisse erbracht, die man in der
Rückschau sicher einmal als historisch bezeichnen wird.
Die Entscheidungen, die wir dort vereinbart und getrof-
fen haben, werden – dies steht fest – die Zukunft Euro-
pas auf Jahre hinaus prägen.
Meine Damen und Herren, vor fast 25 Jahren, am
1. August 1975, wurde in Helsinki die Schlußakte der
Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa unterzeichnet. Das dort festgeschriebene Be-
kenntnis zur Unteilbarkeit der Menschenrechte wurde
vielen mutigen Bürgerrechtlern im kommunistischen
Machtbereich zur Berufungsgrundlage für Widerstand
gegen die Willkürherrschaft. Der tschechische Präsident
Václav Havel – und nicht nur er – wird Ihnen das bestäti-
gen. In Helsinki 1975 wurde eingeleitet, was seit Helsin-
ki 1999 nun greifbar vor unser aller Augen steht: partner-
schaftliche und gutnachbarschaftliche Überwindung der
Teilung Europas unter dem Dach von Freiheit, Demokra-
tie, Menschenrechten und sozialer Marktwirtschaft.
Wir Deutsche haben zehn Jahre nach dem Mauerfall
mehr Anlaß als jedes andere Volk in Europa, hierfür
dankbar zu sein.
Wir können selbstbewußt sagen: Auch wir Deutsche ha-
ben unseren historischen Beitrag zu dieser Entwicklung
geleistet. Die von Willy Brandt eingeleitete und unter
Helmut Schmidt fortgeführte Entspannungspolitik hat
die Unterzeichnung der Schlußakte 1975 möglich ge-
macht, hat ihr den Weg geebnet.
Die vom Geist der Helsinki-Prinzipien getragene fried-
liche Revolution in Ostdeutschland öffnete 1989 das
Brandenburger Tor und damit die Tür zur Überwindung
der Teilung nicht nur in Deutschland, sondern auch in
Europa.
Meine Damen und Herren, der Europäische Rat in
Helsinki hat beschlossen, im Februar 2000 mit Bulga-
rien, Lettland, Litauen, Malta, Rumänien und der
Slowakei Verhandlungen über den Beitritt zur Euro-
päischen Union aufzunehmen. Damit werden diese
Länder in den schon laufenden Verhandlungsprozeß mit
Ungarn, Polen, Tschechien, Slowenien, Estland und
Zypern einbezogen. Weiter hat der Europäische Rat
festgestellt, daß im weiteren Verlauf des Beitrittsprozes-
ses jeder Kandidat für sich genommen beurteilt wird.
Kein Bewerberland, meine Damen und Herren, hat
– dies ist zu unterstreichen – einen Freifahrtschein zur
Mitgliedschaft. Alle müssen sich den gleichen, sehr
strengen Maßstäben für die Aufnahme in die Europäi-
sche Union unterwerfen. Diejenigen Kandidatenländer
werden als erste das Ziel erreichen, die nachweisen, daß
sie imstande sind, das europäische Regelwerk – wirt-
schaftlich, politisch und rechtlich – in nationales Recht
umzusetzen und – das ist wichtig – es auch anzuwenden.
Im Verlauf der Verhandlungen, nicht vorher, wird sich
darüber notwendigerweise eine Differenzierung im
Kandidatenfeld ergeben.
Die Differenzierung nach der Reformleistung der
Kandidatenländer ist gewollt und ist der Nachweis da-
für, daß es der Europäischen Union mit ihrer Ausrich-
tung des Beitrittsprozesses an objektiven und nachvoll-
ziehbaren Kriterien ernst ist. Niemand kann den Kandi-
daten die Anstrengungen abnehmen, die erbracht werden
müssen, um der Mitgliedschaft in einem gemeinsamen
Binnenmarkt wirklich standzuhalten. Alle Kandidaten-
länder wissen auch, daß die Europäische Union auf sen-
siblen Feldern wie dem Umweltschutz oder der inneren
Sicherheit keinerlei Zugeständnisse machen kann und
deshalb auch nicht machen wird. Dies wäre den Bürge-
rinnen und Bürgern in den Mitgliedstaaten nicht zu ver-
mitteln. Hier kann es allenfalls zeitlich befristete Über-
gangsregelungen geben.
Zugleich gilt unsere Zusage, die Beitrittskandidaten
auf ihrem Weg in die Europäische Union nach Kräften
zu unterstützen. Unter deutscher Präsidentschaft wurde
im März beim Sondergipfel in Berlin der finanzielle
Rahmen für die Heranführung der Kandidatenländer
verabschiedet. In Helsinki haben wir nun vereinbart, bis
Ende 2002 die institutionellen Voraussetzungen für den
Beitritt neuer Mitgliedstaaten zu schaffen. Im Klartext:
Zum 1. Januar 2003 soll die Union aufnahmebereit sein
für neue Mitglieder. Auf diese Zusage sollen sich die
Beitrittsländer verlassen können. Zugleich müssen wir
sicherstellen, daß gerade in einer erweiterten Europäi-
schen Union die vertiefte Zusammenarbeit jener Mit-
gliedstaaten, die schneller voranschreiten wollen, leich-
ter möglich ist.
Meine Damen und Herren, die Regierungskonferenz
zur institutionellen Reform wird im Frühjahr 2000
unter portugiesischer Präsidentschaft zusammentreten.
Darauf haben wir uns in Helsinki ebenso geeinigt wie
auf ein begrenztes Mandat für die Konferenz. Wir dür-
fen diese Konferenz nämlich nicht überlasten. Alle Part-
ner haben in Helsinki ihren Willen bekräftigt, die Regie-
rungskonferenz bis zum Jahresende 2000 abzuschließen.
Nur wenn wir uns auf die wirklichen Kernprobleme be-
schränken, an denen die Arbeitsfähigkeit der Union mit
20 und mehr Mitgliedern hängt, werden wir das Ziel
erreichen können.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
7214 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Übrigens: Es wundert mich gelegentlich, wenn ich
von seiten der Opposition höre, daß die sogenannten
leftovers von Amsterdam, also die dort ungelösten Fra-
gen, diesmal gleichsam nebenbei zu lösen seien.
Das ist nicht richtig. Im Gegenteil: Wir haben es hier mit
großen Brocken zu tun, an denen sich die Staats- und
Regierungschefs im Juni 1997 bekanntlich die Zähne
ausgebissen haben. Dankenswerterweise höre ich seitens
der Opposition auch Stimmen, die sich für eine deutliche
Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen in Brüssel
stark machen. Wir nehmen diese Stimmen beim Wort,
wenn es in den Verhandlungen ernst wird.
Meine Damen und Herren, wir alle haben uns der
Tatsache zu stellen, daß es vielen Bürgerinnen und Bür-
gern – übrigens nicht nur in Deutschland, sondern auch
in den anderen Mitgliedstaaten – zunehmend schwerer
fällt zu verstehen, wie in Brüssel Entscheidungen gefällt
werden und warum diese Entscheidungen so und nicht
anders ausfallen. Wer heute bürgernahe Politik machen
will, der darf keinen Kurs der Verweigerung fahren, der
muß europäische Politik in Europa machen – zum
Wohle der Menschen. Echte Bürgernähe, also das Ver-
trauen in die Europäische Union und in ihre Institutio-
nen, wächst dort, wo wir die Brüsseler Entscheidungs-
abläufe durchsichtiger machen, jeden Mißbrauch von
Geldern und Mitteln aufdecken und unnachgiebig ver-
folgen und auf diese Weise nicht zuletzt die Rolle des
Europäischen Parlamentes stärken.
Der Europäische Rat in Helsinki hat – gerade auch
auf unsere Initiative hin – beschlossen, daß bei der
kommenden Regierungskonferenz erstmals zwei Mit-
glieder des Europäischen Parlamentes durchgängig an
den Beratungen der Persönlichen Beauftragten der
Außenminister teilnehmen werden. Das ist aus unserer
Sicht ein weiterer Schritt hin zu einem demokratisch
sichtbarer legitimierten Europa. Wir brauchen – das
wird sich herausstellen – viele solcher Schritte; denn nur
dieses Mehr an Legitimation verankert Europa in den
Köpfen und auch in den Herzen der Menschen.
Meine Damen und Herren, die schwierigste Frage des
Gipfeltreffens von Helsinki war zweifellos die Verlei-
hung des Kandidatenstatus an die Türkei. Durch die
Verleihung des Kandidatenstatus wird ein für allemal
klargestellt: Die Türkei wird nicht diskriminiert. Es gel-
ten für die Türkei bei der Bewerbung um eine Mitglied-
schaft in der Europäischen Union die gleichen Kriterien
wie für alle anderen Kandidatenländer auch.
Nach dem Fehlschlag von Luxemburg 1997 wird da-
mit zwischen der Europäischen Union und der Türkei
eine neue Seite aufgeschlagen. Der Europäische Rat hat
sich diese Entscheidung wahrlich nicht leichtgemacht. In
einem Briefwechsel mit mir als damaligem Vorsitzen-
den des Europäischen Rates hat der türkische Minister-
präsident Bülent Ecevit wichtige Zusagen gemacht, die
diesen Prozeß ermöglicht haben.
In Helsinki haben wir alle Aspekte der türkischen
Kandidatur für eine Mitgliedschaft sorgfältig gegenein-
ander abgewogen. Es galt darüber hinaus, sowohl für die
Türkei als auch für Griechenland befriedigende Ab-
sprachen zur Zypern-Problematik und zur Problematik
der Ägäis zu erreichen. Ich sage hier mit großem Re-
spekt: Das wäre unmöglich gewesen, hätte nicht die
griechische Regierung wesentlich dazu beigetragen.
Wir haben allen Anlaß, hierfür dem griechischen Mi-
nisterpräsidenten Kostas Simitis Respekt und auch Dank
auszusprechen.
Nach Helsinki, meine Damen und Herren, kommt es
für die Türkei nun darauf an, am eingeschlagenen Re-
formkurs unbeirrt festzuhalten. Ministerpräsident Ecevit
hat angekündigt, erste – übrigens notwendige – Schritte
wie die Abschaffung der Todesstrafe, einzuleiten. Das
begrüße ich ausdrücklich. Ich denke, ich tue das in unser
aller Namen.
Vor der Türkei liegt – das muß man fairerweise sagen
– ein langer, auch ein beschwerlicher Weg, auf dem wir
das Land unterstützen wollen. Der politische Dialog der
Europäischen Union mit Ankara wird intensiviert. An
diesem Dialog wollen wir auch die gesellschaftlichen
Gruppen in der Türkei beteiligen. Es wird, wie für die
übrigen Kandidaten, eine Beitrittspartnerschaft begrün-
det werden. Die Türkei wird Gelegenheit erhalten, sich
an Programmen und Einrichtungen der Gemeinschaft zu
beteiligen.
Mit diesen Möglichkeiten und der Verleihung des
Kandidatenstatus ist aber kein Automatismus für eine
spätere Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen
Union verbunden. Über die Aufnahme von Beitrittsver-
handlungen wird erst und nur dann zu reden sein, wenn
das Land die politischen Kriterien für eine Mitglied-
schaft – Demokratie, Achtung der Menschenrechte,
Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz – samt und
sonders erfüllt und den Anforderungen des Art. 6 des
EU-Vertrages genügt.
Auf diesem Felde kann und wird es keinerlei Abstriche
geben.
Meine Damen und Herren, die Türkei hat ein Anrecht
auf die gleichen Startchancen wie jeder andere Beitritts-
kandidat. Eine Zurückweisung der Türkei in Helsinki
hätte erneut zu einer schweren Krise im Verhältnis zu
Ankara geführt, an der gerade wir Deutsche keinerlei
Interesse haben können. Die Europäische Union hätte
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7215
(C)
(D)
sich völlig unglaubwürdig gemacht. Unsere 14 Partner
in der Europäischen Union und mit ihnen die Bundesre-
gierung sowie eine klare Mehrheit in diesem Land be-
greifen die Europäische Union eben nicht als Klub des
christlichen Abendlandes, sondern als eine Wertege-
meinschaft, die auf der Achtung des Rechts, der Demo-
kratie, der Toleranz, der Humanität und der Solidarität
gründet.
Eine Türkei, die sich zu diesen Grundsätzen nicht nur
bekennt, sondern sie auch real anwendet, wird als Mit-
glied der Europäischen Union willkommen sein.
Einen Ausschluß von der Mitgliedschaft aus religiösen
Gründen gibt es nicht.
Die Türkei hat das Recht auf eine faire und unvorein-
genommene Prüfung ihres Wunsches nach Mitglied-
schaft sowie auf eine Beurteilung des Prozesses auf die-
sem Weg dorthin. Nicht mehr, aber auch nicht weniger
haben wir in Helsinki versprochen.
Dieses Angebot ist nicht nur bei vielen Menschen in der
Türkei auf große Zustimmung gestoßen. Zu diesem An-
gebot stehen die Regierungen von 15 Mitgliedstaaten,
übrigens darunter Christdemokraten wie der luxembur-
gische Premierminister Juncker oder der spanische Re-
gierungschef Aznar. Auch der amerikanische Präsident
Clinton hat das Ergebnis von Helsinki mit großem
Nachdruck begrüßt. Das ist auch kein Wunder. Europa
hat ein eigenes Interesse daran, daß sich die Türkei
Europa zuwendet und nicht in einen islamischen Fun-
damentalismus abrutscht.
Auch in Griechenland, wo nach den schlimmen Erd-
beben in der Türkei eine Welle der Solidarität und des
Mitgefühls alte Feindbilder überwinden half, möchten
die Menschen den Neubeginn im Verhältnis zum türki-
schen Nachbarn wagen.
Übrigens, wenn es Sie interessiert: Nur die deutschen
Christdemokraten, so scheint es, wollen den Türkei-
Beschluß von Helsinki nicht mittragen. Sie ziehen es
wieder einmal vor – das hat ja vor dem Hintergrund von
Helsinki schlechte Tradition –, abseits zu stehen und
sich zu isolieren.
Sie sind falsch beraten, wenn Sie in dieser Frage dem
Druck aus München nachgeben.
Ich hatte es schon angedeutet: Schon einmal hat die
Unionsfraktion auf bayerisches Drängen einen in Hel-
sinki gefaßten Beschluß abgelehnt,
nämlich die KSZE-Schlußakte von 1975. Sie müssen
das doch noch wissen, oder haben Sie es verdrängt?
Sie hat diese Schlußakte damals als einzige in Europa
abgelehnt, oder ich sollte besser sagen: als fast einzige
in Europa, nämlich nur zusammen mit den albanischen
Steinzeitkommunisten.
Das Interessante ist: Diesmal sind nicht einmal mehr die
albanischen Kommunisten auf Ihrer Seite.
Das bedeutet: Sie stehen mit Ihrer Position in ganz
Europa – das muß man wirklich zur Kenntnis nehmen –
völlig isoliert da und laufen damit Gefahr, nicht einmal
mehr oppositionsfähig zu sein.
Der Europäische Rat in Helsinki hat sich mit einer
Vielzahl weiterer Fragen befaßt. Lassen Sie mich zum
Abschluß in aller Kürze drei davon ansprechen.
Leider erfolglos blieben die Beratungen zum Steuer-
paket, weil sich ein Mitgliedstaat nicht kompromißbe-
reit gezeigt hat. Hier werden wir – so ist es vereinbart –
weiter nach Lösungen suchen müssen. Wir haben in
Helsinki auf der Basis der Vorarbeiten verabredet, bis
zum Juni nächsten Jahres ein Ergebnis zu erreichen.
Eine wichtige Rolle spielte das Verhältnis der Euro-
päischen Union zu Rußland. Die Staats- und Regie-
rungschefs haben die Kriegführung in Tschetschenien
unmißverständlich verurteilt und eine baldige politische
Lösung eingefordert.
Die Europäische Union erwartet, daß die unangemesse-
ne und unterschiedslose Gewalt gegen die tschetscheni-
sche Bevölkerung unverzüglich beendet wird. Sie zieht
aus der Lage in Tschetschenien die Konsequenz, be-
stimmte Formen vereinbarter Zusammenarbeit mit
Bundeskanzler Gerhard Schröder
7216 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Rußland zu überprüfen. Rußland – das bleibt so – ist ein
wichtiger Partner Europas. Die Europäische Union
möchte nicht, daß sich Rußland gegenüber Europa iso-
liert.
Genauso klar muß jedoch sein, daß Rußland seinen Ver-
pflichtungen nachkommen muß, wenn die strategische
Partnerschaft Substanz haben soll.
Meine Damen und Herren, ein Durchbruch gelang in
Helsinki mit den Entscheidungen zur europäischen Si-
cherheits- und Verteidigungspolitik. Der Europäische
Rat hat beschlossen, bis zum Jahr 2003 Krisenreaktions-
kräfte in einem Umfang von 50 000 bis 60 000 Soldaten
aufzustellen. Außerdem wurde vereinbart, daß die Euro-
päische Union bis zum März 2000 die für militärisches
Krisenmanagement nötigen Gremien einrichten und die
dafür geeigneten Entscheidungsmechanismen tatsächlich
schaffen wird.
Übrigens, europäische Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik zielt nicht darauf ab – das kann man nicht
oft genug wiederholen –, die NATO zu schwächen. Im
Gegenteil: Ein starkes Europa, das bereit ist, auch eigen-
ständig militärische Verantwortung zu übernehmen, ist
die beste Garantie für eine fortdauernde Präsenz der
Vereinigten Staaten in Europa. Es wird dabei keine Du-
plizierung geben. Die Europäische Union wird nur dort
handeln, wo die NATO als Ganzes nicht beteiligt ist.
Wir Europäer wollen und werden mitbestimmen, wenn
die Spielregeln für die globale Ordnung des 21. Jahr-
hunderts festgelegt werden. Wir Europäer brauchen eine
gemeinsame Antwort auf die Globalisierung und auf die
wirksame Vertretung unserer Interessen nach außen. Wir
brauchen die Erweiterung der Europäischen Union. Dies
wird unser Gewicht in der Welt weiter erhöhen und uns in
den Stand setzen, für ganz Europa zu sprechen.
Wir brauchen die Stärkung unserer politischen Hand-
lungsfähigkeit und unserer gemeinsamen Institutionen
sowie die Bekräftigung ihrer demokratischen Legitimi-
tät. Mit anderen Worten: Wir brauchen ein starkes Euro-
pa. Europa, die Europäische Union ist mehr als ein
Bündnis einzelner Nationen zum Zwecke der Wohl-
fahrtssteigerung. Europa ist und bleibt für uns eine poli-
tische Vision, mit der wir Europäer den Anspruch ver-
binden, in einer sich rasant verändernden Welt unsere
Interessen zur Geltung zu bringen.
Meine Damen und Herren, ich denke, diesem Ziel hat
uns der Europäische Rat in Helsinki einen wichtigen
Schritt nähergebracht. Deshalb war er ein erfolgreicher
Europäischer Rat.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang Schäuble, dem Vorsitzenden
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsi-
dent! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat
in seinem ersten Satz gesagt, es wäre falsch, einfach zur
Tagesordnung überzugehen. Dem stimme ich zu. Herr
Bundeskanzler, deswegen habe ich mich gewundert,
warum die CDU/CSU-Fraktion zwei Tage lang mit der
Koalition streiten mußte, hier heute eine Debatte über
die Ergebnisse des Europäischen Rates führen zu kön-
nen.
Ich füge gleich die zweite Bemerkung an: Nachdem
ich Ihre Regierungserklärung vorher gelesen und jetzt
gehört habe, habe ich ein bißchen besser verstanden,
warum Sie keine abgeben wollten. Es war ein bißchen
zu oberflächlich.
Die Mätzchen mit den albanischen Kommunisten hätten
Sie sich wirklich schenken können.
Meine verehrten Damen und Herren, ich will Ihnen
folgendes in aller Ruhe erklären – ich werbe sehr dafür,
daß wir das möglichst gemeinsam begreifen –: Helsinki
hat wirklich eine historische Dimension. Es ist nur noch
nicht ganz sichergestellt, ob zum Nutzen oder zum
Schaden Europas. Ich hoffe sehr – das haben wir vor 14
Tagen diskutiert –, daß es zum Nutzen Europas ist.
Es ist doch völlig klar – deswegen können Sie das
Thema nicht mit solchen Mätzchen behandeln –: Es geht
darum, daß zur Europäischen Union, die einmal mit
sechs Staaten gegründet wurde – heute sind es 15 – 12
oder 13 Staaten, die jetzt Beitrittskandidaten sind, hin-
zukommen werden, so daß es dann 28 Staaten sein wer-
den und wir mit den Menschen in Deutschland und
Europa noch intensiv diskutieren müssen, damit die Ba-
sis für die weitere politische Einigung Europas erhalten
bleibt. Wer so tut, als wäre das etwas ganz Selbstver-
ständliches, der irrt.
– Sie tun dies mit den Mätzchen, die ich genannt habe.
Es ist die Oberflächlichkeit und Beiläufigkeit, mit der
Sie darüber hinweggehen.
– Sie mit Ihren Zwischenrufen. Das macht mich wirklich
besorgt.
Ich habe vor 14 Tagen gesagt: Ein großes und starkes
Europa ist das Beste, was wir aus diesem Jahrhundert in
das nächste Jahrhundert mitnehmen. Aber das muß man
richtig machen. Es ist eine Riesenaufgabe. Es hat mich
während Helsinki und danach zunehmend mit Sorge er-
füllt, daß wir, wenn wir es nicht ernst genug betreiben,
auf dem Weg sind, durch Überdehnung der europäi-
schen Institutionen mehr zu zerstören als voranzukom-
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7217
(C)
(D)
men. Diese Gefahr müssen wir meiden. Dem dient diese
Debatte.
Wenn wir den Weg der Erweiterung mit 12 oder 13
Beitrittskandidaten gehen, dann müssen wir den Re-
formprozeß der Europäischen Union jetzt intensiver
betreiben. Die Frage, ob dies noch schnell bis zur fran-
zösischen Präsidentschaft ein Ergebnis bringt oder nicht,
ist zweitrangig gegenüber der Aufgabe, daß wir mit den
Menschen in Europa substantiell die Debatte führen
müssen: Was meinen wir mit Europa? Wozu dient
Europa? Was sind die politischen Grundlagen? Was sind
die Ziele? Was ist der Inhalt? Was sind die Grenzen?
Wenn diese Debatte nicht ernsthaft geführt wird, dann
könnte Europa scheitern. So darf Helsinki nicht histo-
risch werden.
Die drei Punkte, die „leftovers“ – da stimme ich
Ihnen zu –, sind schon schwer genug. Ich fürchte übri-
gens, Sie werden sie isoliert schwerer lösen, als wenn
Sie das Verhandlungspaket ein Stück weit größer ma-
chen. Die Meinungen sind hier sehr unterschiedlich,
auch unter den Mitgliedern des Europäischen Rats.
Ich sage noch einmal: Wir werden die Menschen für
dieses große Europa als eine politische Gemeinschaft
nicht gewinnen, wenn wir das Element der Subsidiarität,
der Zuständigkeitsabgrenzung – wofür ist Europa zu-
ständig, wofür die Mitgliedstaaten, die Region und die
Kommunen? –, nicht stärker im Bewußtsein der Men-
schen verankern. Wenn der Prozeß weitergeht, daß die
Menschen Europa als einen bürokratischen Einheitsbrei
wahrnehmen, der immer komplizierter, immer weniger
transparent und immer weniger durchschaubar wird –
das ist nicht alles berechtigt, aber es ist die Wahrneh-
mung der Menschen –, dann wird es nicht gelingen.
Deswegen ist die Reform der Europäischen Union gera-
de nach Helsinki die Schicksalsfrage für das Gelingen
der europäischen Einigung. Deshalb muß es ernster ge-
nommen werden. Dafür werbe ich mit aller Leiden-
schaft.
Eine zweite Bemerkung, die ich gleich hinzufüge: Ich
finde es grundfalsch, daß Sie die Erweiterungsfrage in
Helsinki bis zu dem dramatischen Flug hin und zurück
von Herrn Solana und Herrn Verheugen zur Frage der
Türkei gemacht haben. Das ist doch die genau falsche
Wahrnehmung. Es ist doch nicht so, als ob im Mittel-
punkt eines großen und starken Europa die Frage des
Verhältnisses zur Türkei stände. Das ist eine wichtige
Frage, aber nicht die zentrale Frage für die europäische
Einigung. Ansonsten wird Europa nicht gelingen.
Glauben Sie wirklich, es seien nur die albanischen
Kommunisten, die die Frage stellen würden, ob ein
Europa, das die Türkei als Mitglied einschließt, nun
wirklich das Europa sei, das die Menschen meinen? Die-
se Frage müssen Sie ernsthafter mit den Menschen de-
battieren, Herr Bundeskanzler, als Sie es hier in Ihrer
Regierungserklärung getan haben.
Mit welchem Argument wollen Sie dies tun? Es geht
doch nicht um Glaubensgemeinschaften. Es geht doch
um die Frage: Was ist die Grundlage politischer Identität
einer Schicksals- und Verantwortungsgemeinschaft, der
Bereitschaft, Lasten gemeinsam zu tragen, der Bereit-
schaft der Stärkeren, für die Schwächeren finanziellen
Ausgleich zu leisten? Dafür brauchen Sie eine Grundla-
ge. Das wird in einem Europa mit über 20 Mitgliedern
und 20 Sprachen ohnedies schwierig genug. Die Spra-
chenfrage haben Sie in Helsinki überhaupt nicht andis-
kutiert. Mit wie vielen Verhandlungssprachen wollen
Sie das eigentlich alles machen?
Die meisten Fragen haben Sie beiseite geschafft. Sie
kommen nicht voran, wenn Sie nicht die Fragen beant-
worten oder diskutieren, die die Menschen stellen. Dann
werden Sie Europa zerstören, und ich will nicht, daß Sie
das machen.
– Herr Kollege Poß, reden Sie doch eine Woche vor
Weihnachten keinen – mit Verlaub – Blödsinn.
– Nein. Reden Sie einmal mit den Menschen. Wir wer-
den eine riesige Aufgabe zu erfüllen haben,
– doch, Sie rufen immer dazwischen, sonst machen Sie
es doch nicht wenn wir ein großes Europa – als politi-
sche Gemeinschaft mit über 20 Mitgliedern haben wol-
len. Dann werden wir eine große, offene, ehrliche De-
batte mit den Menschen in Europa führen müssen; sonst
– das sage ich noch einmal – scheitert es.
Wir müssen die Institutionen einrichten. Ich nenne
Ihnen ein einfaches Beispiel, das uns Anfang Januar be-
gegnen wird. Anfang Januar kommt das Urteil des
Europäischen Gerichtshofs zu der Frage, ob Frauen
mehr als bisher zur Bundeswehr zugelassen werden
müssen oder nicht. Ich finde, wir sollten alles daranset-
zen, daß daraus keine Debatte darüber wird, ob das eu-
ropäische Recht das Grundgesetz bricht oder nicht. Ich
finde, wir sollten klug und vorausschauend handeln und
sagen: Wir müssen in Europa die Fragen beantworten,
die in Europa beantwortet werden müssen, und wir müs-
sen in den Mitgliedstaaten die Fragen behandeln und
entscheiden, die wir in den Mitgliedstaaten beantworten
müssen. Das ist eine Frage der Kompetenzabgrenzung.
Sie werden übrigens auch die Asyldebatte nicht lan-
ge in der nicht aufrichtigen Weise nach Europa schieben
können, daß Sie sagen: Wir hoffen, daß Europa uns zu
etwas zwingt, das zu machen wir selber nicht in der
Dr. Wolfgang Schäuble
7218 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Lage sind. Das ist nicht sehr ehrlich. Lösen wir doch die
Aufgaben dort, wo sie sich stellen!
Jetzt noch einmal zur Türkei: Ich finde, wir haben
großes Interesse daran – ich stimme dem völlig zu, da-
mit wir nicht über Dinge streiten, zu denen wir die glei-
che Meinung haben –, die Türkei so eng wie irgend
möglich an den Westen und an Europa zu binden und
die Entwicklung in der Türkei, soweit wir sie beeinflus-
sen können, so zu beeinflussen, daß sie in diese Rich-
tung geht. Das ist völlig unstreitig. Aber die Frage nach
den Grenzen Europas muß doch gestellt und mit der Be-
völkerung diskutiert werden, wenn Europa als politische
Einheit gelingen soll. Dieser Diskussion kann man sich
nicht verweigern. Man kann sie auch nicht erst führen,
wenn man schon die Tatsachen geschaffen hat. Die muß
man vorher ehrlich führen.
– Nein, das ist kein Popanz, Herr Erler. Hören Sie einen
Moment zu und überlegen Sie mit. Wir wollen gemein-
sam Europa schaffen. Es gibt Dinge, bei denen wir gar
nicht so weit auseinander sind.
Ich wiederhole die Frage, die ich schon oft gestellt
habe. Es gibt Länder, die teilweise zu Europa gehören
und teilweise nicht. Dazu gehört die Türkei, und auch
Rußland gehört dazu. Wie wollen Sie eigentlich Ruß-
land, wenn es erst demokratisch geworden ist und den
Tschetschenien-Konflikt und dergleichen hinter sich hat
und dann auf die Idee kommt, Mitglied der Europäi-
schen Union werden zu wollen, den Kandidatenstatus
verweigern, nachdem Sie ihn der Türkei nicht verwei-
gert haben? Sie finden dafür kein Argument.
Deswegen finde ich: Wir müssen die Debatte ehrlich
führen. Sie werden es nicht schaffen
– nein –, wenn Sie die Fragen, die die Menschen stellen,
nicht beantworten wollen, wenn Sie ihnen ausweichen.
Meine Überzeugung ist, daß wir Formen finden müs-
sen, die institutionell die Zugehörigkeit solcher Länder
zu Europa sichern, ohne das Problem zu übergehen, daß
sie eben nicht nur zu Europa gehören. Darüber muß man
reden. Deswegen ist zum Beispiel auch die Frage der
Flexibilität in der weiteren Ausgestaltung Europas von
einer zentralen Bedeutung. Sie werden überhaupt nicht
vorankommen – das ist eines der Dinge, die Sie in Hel-
sinki überhaupt nicht erreicht haben –, wenn wir auf
dem Weg, in Europa eine politische Gemeinschaft zu
schaffen, in diesem Tempo vorangehen. Wenn nicht alle
gemeinsam den Weg gehen, wird es nicht gelingen.
Deswegen ist es eine Frage der Flexibilität, ob ein Teil
der Integrationswilligen und Integrationsfähigen voran-
geht, um den Raum für künftige Entwicklungen zu
schaffen. Auf diese Elemente werden Sie nicht verzich-
ten können.
– Sie haben es aber nicht in das Mandat für die Regie-
rungskonferenz hineingenommen.
– Aber Herr Fischer, das war eine so windelweiche
Formulierung, daß sie leider nichts wert ist.
Sie haben den Vorschlag der Beneluxländer nicht
übernommen. Sie haben ihn abgelehnt, obwohl das der
richtige Weg gewesen wäre. Tun Sie doch nicht so, als
sei in Helsinki alles paletti gewesen. Wer die Probleme
bestreitet, die auch nach Helsinki bestehen, der gefähr-
det Europa. Es kann doch nicht darum gehen, hier das
Gefühl von Friede, Freude, Eierkuchen zu vermitteln,
wenn die Menschen draußen das Gefühl haben, daß ihre
Sorgen und Ängste überhaupt nicht mehr ernst genom-
men werden. Wer Europa will, muß die Sorgen und Fra-
gen der Menschen ernst nehmen und Antworten darauf
suchen.
Deswegen müssen Sie da ein bißchen seriöser arbeiten.
Ich nenne Ihnen ein weiteres Beispiel. Man muß die
großen Sprüche und Ankündigungen, die man in Hel-
sinki gemacht hat, zu Hause natürlich mit Inhalt füllen.
Ich stimme Ihnen ja zu, daß die Beschlüsse in Helsinki
zur europäischen Sicherheits- und Verteidigungspoli-
tik wichtige Schritte in die richtige Richtung sind. Ich
habe das auch schon nach dem Kölner Gipfel gesagt.
Aber wenn das so ist, dann müssen Sie, Herr Bundes-
kanzler, dann muß die Bundesregierung in Deutschland
eine Sicherheits- und Verteidigungspolitik betreiben, die
ein bißchen mit dem zu tun hat, was Sie in Helsinki be-
schlossen haben. Ihre Verteidigungspolitik in Deutsch-
land ist schlicht das Gegenteil von den Absichtserklä-
rungen, die Sie in Helsinki in die Welt gesetzt haben.
Sie können mit den Budgetplanungen, die Sie beim
Bundeshaushalt für das Jahr 2000 beschlossen haben,
doch keine europäischen Krisenreaktionskräfte aufstel-
len. Das ist absurd. Sie machen sich lächerlich. So
nimmt Sie doch kein Mensch in Europa ernst.
Auch was Sie in bezug auf Kooperationen in der Rü-
stungsindustrie in Europa machen, ist absurd. – Diese
Bemerkung muß ich gerade noch hinzufügen: Sie haben
so schön über die Türkei geredet; aber Sie haben kein
Wort zum Beschluß Ihres Parteitages gesagt,
Dr. Wolfgang Schäuble
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7219
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(D)
der im Gegensatz zu dem Regierungshandeln steht und
besagt – Sie sind ja, glaube ich, nicht nur Kanzler, son-
dern auch Parteivorsitzender –, man solle die Frage von
Panzerlieferungen an die Türkei offenhalten. Der SPD-
Parteitag hat hier seinem Vorsitzenden die Beine abge-
sägt und gesagt: Das kommt überhaupt nicht in Frage.
Auf dem SPD-Parteitag hat sich Fischer durchgesetzt.
Das eine hat sehr wohl mit dem anderen zu tun. In Hel-
sinki Sprüche zu klopfen und auf dem Parteitag zu knei-
fen, das ist doch keine realistische Politik. So gewinnt
man nicht an Seriosität.
Deswegen wiederhole ich mit aller Eindringlichkeit
den Satz, den ich vor 14 Tagen von dieser Stelle aus ge-
sagt habe: Wir wollen ein großes und starkes Europa,
ein Europa, in dem wir Schritt für Schritt eine politische
Gemeinschaft werden. Aber der Weg ist weit. Die Men-
schen fühlen sich nicht in dem Maße Europa zugehörig,
wie sie sich ihrem Vaterland zugehörig fühlen. Das kann
man für falsch oder richtig halten, es ist die Realität.
Wer nicht von dieser Realität ausgeht, dem wird Europa
nicht gelingen, sondern der wird es zerstören. Man muß
immer von den Realitäten der Menschen ausgehen.
Schritt für Schritt unser wiedervereintes Deutschland in
eine große Verantwortungsgemeinschaft Europa einzu-
bauen – auf diesem Weg voranzugehen ist das Wichtig-
ste, was wir in das kommende Jahrhundert mitnehmen.
Aber dafür muß man tiefere Furchen pflügen, als Sie es
in Helsinki getan haben und als es in Ihrer Regierungs-
erklärung zum Ausdruck kam.
Nur wer die Sorgen, die Fragen der Menschen ernst
nimmt,
wird die Menschen von Europa überzeugen. Wer das
nicht tut, gefährdet Europa. Wir wollen ein großes und
starkes Europa – aber man muß es richtig machen.
Bevor ich dem näch-
sten Redner das Wort erteile, möchte ich gerne eine
Delegation des französischen Parlaments unter uns be-
grüßen. Sie ist auf Einladung der deutsch-französischen
Parlamentariergruppe bei uns zu Gast und Teil der fran-
zösisch-deutschen Parlamentariergruppe der Assemblée
nationale.
Seien Sie uns herzlich willkommen, und verbringen Sie
gute Tage in unserem Parlament und in unserem Lande!
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Peter Struck,
dem Fraktionsvorsitzenden der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich habe ja Verständnis
dafür, daß der Oppositionsführer nicht unbedingt in je-
der Rede die Bundesregierung loben muß. Allerdings
muß ich in diesem Falle sagen, Herr Kollege Schäuble,
es war schon sehr kleine Münze, mit der Sie auf die Re-
de des Bundeskanzlers reagiert haben.
Der Bundeskanzler hat zu Recht gesagt, daß es ein
historischer Gipfel war. Es ist ein Stück Europage-
schichte in Helsinki geschrieben worden, und es gehört
auch seit vielen Jahren zu den wertvollsten Elementen
unserer Demokratie hier in Deutschland, daß es einen
Grundkonsens zwischen den Parteien hinsichtlich der
anzustrebenden europäischen Integration gibt. Deshalb
möchte ich hierbei ausdrücklich auch die konsequente
Europapolitik der alten Bundesregierung im vergange-
nen Jahrzehnt würdigen. Ich hätte das auch gern dem
Altbundeskanzler Helmut Kohl persönlich gesagt; aber
er ist heute wohl aus anderen Gründen nicht anwesend.
Die alte Bundesregierung hat auf deutscher Seite da-
zu beigetragen, die Grundlagen der EU-Osterweiterung
zu legen. Darauf konnten wir, die neue Bundesregie-
rung, aufbauen. Ihre Kritik an den Ergebnissen von Hel-
sinki, Herr Schäuble, paßt nun aber überhaupt nicht zu
der bisherigen positiven Einstellung, die auch Sie zum
Einigungsprozeß vertreten haben. Sie steht im völligen
Gegensatz dazu.
Man kann sich das nur dadurch erklären – dafür habe
ich ein gewisses Verständnis –, daß Sie jetzt von ande-
ren Schwierigkeiten, die Sie haben, ablenken wollen. Es
wäre jedenfalls fatal, Herr Kollege Schäuble, wenn Sie
den europapolitischen Grundkonsens in diesem Hause in
Frage stellen würden. Das wäre sehr fatal.
Für uns Sozialdemokraten ist das, was in Helsinki be-
schlossen wurde, ein besonderer Anlaß zur Genugtuung;
denn auch unsere eigene Geschichte als SPD zeigt im-
mer wieder, daß gerade die Sozialdemokraten es waren,
die für die europäische Idee eingetreten sind und dafür
agiert haben. Ich nenne als Beispiele dafür nur das Hei-
delberger Programm von 1925, das vereinigte Staaten
von Europa forderte, genauso wie das Godesberger Pro-
gramm und zuletzt unser Berliner Programm von
1989, in dem es heißt:
Die EG muß bereit sein, alle Demokratien Europas
als Mitglied aufzunehmen und vielfältige Formen
enger Kooperation mit allen Ländern Osteuropas
anzubieten, um damit die Spaltung Europas zu
überwinden.
Das haben wir mit dem Gipfel in Helsinki eingelöst.
Dr. Wolfgang Schäuble
7220 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Es ist wahr, daß es noch eine lange Zeit dauern wird,
bis alle jetzt eingeladenen Länder vollwertige EU-
Mitglieder sein werden. Man muß das auch den betref-
fenden Ländern sagen; denn das Angebot zu Aufnahme
zur Verhandlungen ist noch nicht das Ende und das Er-
gebnis von Verhandlungen. Es erwächst daraus kein
automatischer Anspruch auf eine schnelle Vollmitglied-
schaft.
Es wird nun vor allem die Pflicht der Beitrittskandi-
daten selbst sein, bei sich die Voraussetzungen für den
endgültigen Beitritt zu schaffen. Wir wissen, daß das in
vielen Ländern Mittel- und Südosteuropas viel mehr
Mühe kosten wird, als sich die meisten der dort Verant-
wortlichen in ihrer verständlichen Freude über die Hel-
sinki-Entscheidung vorstellen können.
Natürlich werden wir, wird Europa dabei helfen; die
Verantwortung für die Erfüllung der Hausaufgaben aber
können wir keinem Land abnehmen. Das gilt vor allem
für die Türkei, gegen deren Kandidatenstatus es fast
überall in Europa lange Zeit Vorbehalte gegeben hat und
immer noch gibt.
Herr Kollege Schäuble, ich habe – weil Sie das The-
ma Türkei auch anders problematisiert haben – nach
Ihrer Rede den Eindruck, daß Sie versuchen, hier auf
dumpfe Vorurteile und dumpfe Stimmungen in der Be-
völkerung und auf Vorbehalte gegenüber türkischen
Mitbürgern zu setzen.
Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen, Herr
Kollege Schäuble.
Niemand kann heute mit Gewißheit sagen, ob und
wann die Türkei so weit sein wird, Vollmitglied sein zu
können. Die lange Geschichte der Annäherung der Tür-
kei an Europa und der immer wieder bekundete Willen
aller türkischen Regierungen, zu Europa zu gehören, hat
nun trotz vieler Bedenken dazu geführt, daß die EU die
Türkei künftig wie alle anderen Beitrittsaspiranten be-
handeln wird. Nicht zuletzt wegen der etwa 2,5 Millio-
nen türkischen Mitbürger in unserem Land wünsche ich
der Türkei auf diesem Weg viel Erfolg.
An die Adresse der Union gerichtet: Auch wir haben
und hatten Bedenken gegen die Vollmitgliedschaft der
Türkei. Das ist kein Geheimnis. Diese Bedenken beru-
hen keineswegs auf der Tatsache, daß die meisten Tür-
ken Muslime sind. Hier unterscheiden wir uns deutlich
von den Konservativen in Europa. Für uns kann Europa
kein ausschließlich christlicher Klub sein.
– Ich verstehe überhaupt nicht, wieso Sie über einen sol-
chen Satz lachen. Das offenbart Ihre Politik: Sie wollen
Vorurteile gegen türkische Mitbürger schüren. Das las-
sen wir nicht zu.
Man muß zur Kenntnis nehmen, Herr Kollege Waigel,
daß schon jetzt 31,3 Millionen Muslime in Europa le-
ben. Deshalb kann man nicht einfach auf Grund religiö-
ser Vorurteile die Türkei ausgrenzen wollen. Wir wer-
den das nicht mittragen.
Sie wollen ja auch nicht die Muslime in Bosnien, Alba-
nien und Bulgarien ausschließen. Weshalb reden Sie
dann so aggressiv über die Türkei? Es geht um Ihre ka-
schierten religiösen Vorbehalte gegenüber diesem Land.
Mit Helsinki sind die äußeren Bedingungen für den
nächsten Erweiterungsschritt der EU erfüllt. Aber dies
heißt noch lange nicht, daß nicht auch die EU ihre Auf-
gaben selbst erledigen muß. Alle in Amsterdam nicht
gelösten Probleme der institutionellen Reform müssen
nun schnell und konsequent angegangen werden. Ihre
Bemerkungen, Herr Kollege Schäuble, über Amsterdam
irritieren mich allerdings; denn Ihre Regierung hat da-
mals weitere Fortschritte in Amsterdam verhindert. Sie
müssen sich hier auf Ihr eigenes Verhalten festlegen las-
sen.
Mit allem Ernst und Nachdruck möchte ich darauf
hinweisen, daß wir angemessene und neue Formen der
Erweiterungs- und Vertiefungsflexibilität finden müs-
sen, wenn wir die Erweiterung wirklich wollen, ohne
das große Ziel einer global handlungsfähigen politischen
Union oder – besser – einer europäischen Föderation
aufzugeben. Es ist wahr: Es liegen noch wichtige Auf-
gaben vor uns, ohne deren Lösung eine EU mit fast
30 Mitgliedsländern nicht praktikabel sein kann. Trotz
all dieser Probleme sind wir mit Helsinki dem Traum
von einem vereinten Europa ein deutliches Stück näher-
gekommen.
Im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik
hat der Gipfel in Helsinki wegweisende Beschlüsse ge-
faßt. Nachdem bereits im November NATO-General-
sekretär Solana zum Hohen Vertreter für die Gemein-
same Außen- und Sicherheitspolitik ernannt worden ist,
sind nun die beteiligten Mitgliedstaaten aufgefordert, bis
spätestens 2003 Streitkräfte für friedenschaffende oder
friedensbewahrende Einsätze auf der Basis der Peters-
berger Beschlüsse aufzustellen. Zu einer umfassenden
Sicherheits- und Verteidigungspolitik gehört auch der
Ausbau von Aufklärungs- und Transportkapazitäten, der
ebenfalls in Helsinki beschlossen wurde. Dies soll die
Europäische Union in die Lage versetzen, künftig eigen-
ständig Krisenbewältigung zu betreiben, ohne jedesmal
auf die Hilfe der USA angewiesen zu sein.
Die Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawi-
en, insbesondere in Bosnien und im Kosovo, haben uns
Europäer schmerzlich vor Augen geführt, daß wir bisher
nicht imstande waren, Konflikte vor der eigenen Haustür
auch selber zu lösen. In Zukunft wird es jedoch darauf
ankommen, daß wir Krisenbewältigungsoperationen not-
falls auch ohne Rückgriff auf die Mittel und Fähigkeiten
der USA durchführen können. In Zukunft werden wir
Dr. Peter Struck
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7221
(C)
(D)
mehr Eigenständigkeit auch im militärischen Bereich
gewinnen. Wir dürfen nicht der Illusion verfallen, daß
die USA ihr in der Vergangenheit gezeigtes Engagement
in Europa in gleichem Maße auch in Zukunft aufrecht-
erhalten werden. Wer die innenpolitische Debatte in den
USA aufmerksam verfolgt, dem ist nicht entgangen, daß
es dort einflußreiche Kräfte gibt, die nicht mehr bereit
sind, bei jeder Krise auf dem europäischen Kontinent
Feuerwehr zu spielen. Schon aus diesem Grund ist eine
Stärkung der europäischen Verteidigungskapazitäten
geboten.
Sie richtet sich jedoch nicht – wie vereinzelt zu hören
ist – gegen die USA oder gegen das Nordatlantische
Bündnis, im Gegenteil: Dieser Beschluß stärkt den
europäischen Pfeiler innerhalb der NATO und damit das
Bündnis insgesamt und wird die transatlantischen Be-
ziehungen auf ein noch solideres Fundament stellen, als
es bisher schon der Fall war. Hinzu kommt, daß die ge-
meinsame Bündnisverteidigung nach Art. 5 des Wa-
shingtoner Vertrages auch in Zukunft ausschließlich
Aufgabe der NATO bleiben wird.
Es ist also in Helsinki kein neues militärisches Bünd-
nis aus der Taufe gehoben worden; vielmehr sind Be-
schlüsse gefaßt worden, die in der logischen Konse-
quenz der neuen NATO-Strategie, der Verträge von
Maastricht und Amsterdam sowie der Beschlüsse des
Kölner Gipfels vom Juni dieses Jahres liegen.
Mir ist sehr wohl bewußt, daß manch einem diese
Entwicklung etwas schnell vorkommt. Auch Herr Schäuble
hat das angesprochen. Er hat ein Bild gezeichnet, das
nicht den Realitäten entspricht. Herr Kollege Schäuble,
Sie haben einen Popanz aufgebaut, den Sie dann wieder
umstoßen wollten. Wenn Sie davon sprechen, daß wir
mit den Menschen reden müssen und die Menschen
mitnehmen müssen, dann kann ich Ihnen sagen: Das
machen wir schon – im Gegensatz zu Ihnen, der Sie
Vorurteile gegenüber türkischen Mitbürgern zu schüren
versuchten.
Wer eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspoli-
tik fordert – nichts anderes tut die Europäische Union
seit langem –, der muß dafür auch die entsprechenden
Instrumente haben. Die bittere Schlußfolgerung, die wir
aus den jüngsten Konflikten auf diesem Kontinent zie-
hen müssen, lautet, daß es leider nicht ausreicht, ge-
meinsame Erklärungen abzugeben, um dann anschlie-
ßend hilflos zusehen zu müssen, wie diese Beschlüsse
ignoriert werden. Was ist das für ein Europa, das jedes-
mal, wenn es bei uns irgendwo brennt, die Feuerwehr in
Washington anrufen muß, um sie zu bitten, diesen Brand
schnellstmöglich zu löschen!
Es ist auf jeden Fall kein Europa, das seinen An-
spruch auf eine einflußreiche weltpolitische Rolle und
auf Gleichberechtigung mit den USA im Bündnis wirk-
lich umsetzen könnte. Wir benötigen also ein umfassen-
des Instrumentarium zur Konfliktprävention und Kri-
senbewältigung. Dazu haben die Beschlüsse von Hel-
sinki maßgeblich beigetragen.
Es geht dabei nicht um den Aufbau einer stehenden
europäischen Armee, sondern um die Stärkung nichtmi-
litärischer Fähigkeiten zur Konfliktprävention und Kri-
senbewältigung und ihre militärische Absicherung. Für
uns sind die Bemühungen um den Stabilitätspakt für
Südosteuropa die wichtigsten Schlußfolgerungen aus
dem Kosovo-Krieg. Ich bin stolz darauf, zu sagen, daß
meine Fraktion in enger Zusammenarbeit mit Parla-
mentariern aus den Staaten Südosteuropas ihren Beitrag
für den Aufbau dieses Stabilitätspakts leisten wird.
Der Gipfel hat im Bereich der Sicherheitspolitik noch
einmal ausdrücklich die vorrangige Verantwortung der
Vereinten Nationen für die Aufrechterhaltung von Frieden
und Sicherheit unterstrichen. Die Europäische Union wird
mit der OSZE, dem Europarat und anderen internationa-
len Organisationen im Bereich der Stabilitätsförderung,
der Frühwarnung, der Konfliktverhütung und der Krisen-
bewältigung verstärkt zusammenarbeiten. Damit ergibt
sich ein in sich geschlossenes Handlungsinstrumentarium,
das die Europäische Union in die Lage versetzt, die ge-
samte Bandbreite der außen- und sicherheitspolitischen
Aktionsmöglichkeiten anzuwenden.
Dazu gehören wirtschaftliche Maßnahmen ebenso
wie nichtmilitärische Polizeieinsätze und, falls alle vor-
herigen Mittel gescheitert sind, notfalls auch militärische
Operationen zur Krisenbewältigung. Wir begrüßen des-
halb die Beschlüsse zur europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik ausdrücklich und uneingeschränkt.
Für uns Sozialdemokraten ist es selbstverständlich,
daß der Ausbau militärischer Fähigkeiten nur dann Sinn
macht, wenn wir eine wirklich funktionierende Gemein-
same Außen- und Sicherheitspolitik haben. Militärische
Intervention darf nur das allerletzte Mittel sein, um
einen Konflikt zu lösen. Vorher müssen alle nichtmilitä-
rischen Möglichkeiten zur Konfliktbewältigung ausge-
schöpft werden. Dies ist mitunter ein sehr langwieriger
und häufig auch schwieriger Weg; dennoch gibt es dazu
keine Alternative.
Bei dem großen Erfolg des Helsinki-Gipfels in Fragen
der Einigung Europas und der Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik darf jedoch nicht übersehen werden, daß
dem Europäischen Rat die Einigung auf das EU-
Steuerpaket leider nicht gelungen ist. Ich möchte hier ins-
besondere unserem Bundesfinanzminister danken, der
durch seinen Einsatz und auch durch sein Verhandlungs-
geschick dafür gesorgt hat, daß das EU-Steuerpaket nicht
Dr. Peter Struck
7222 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
aufgeschnürt wird. Damit sind nach wie vor die Bekämp-
fung des unfairen Steuerwettbewerbs und die Vorschläge
zur Umsetzung des Verhaltenskodexes für die Unterneh-
mensbesteuerung als wesentliche Instrumente einer der
Währungsunion angemessenen Steuer- und Finanzpolitik
auf der Tagesordnung.
Ich unterstreiche den Satz des Bundeskanzlers, daß es
unser aller Interesse sein muß, den Widerstand eines
einzigen Landes – Großbritannien – nachhaltig zu über-
winden, um auf einem Gipfel Mitte des Jahres 2000
endgültige Ergebnisse zu erreichen.
– Herr Kollege Waigel, Sie rufen dazwischen. Seit sechs
oder sieben Jahren haben Sie überhaupt nichts erreicht.
Sie sollten einmal ganz ruhig sein. Das ist ja wohl lä-
cherlich. Was Sie nicht geschafft haben, sollen wir nach
einem Jahr oder nach zwei Jahren geschafft haben.
– Hören Sie jetzt auf dazwischenzurufen! Melden Sie
sich zu einer Zwischenfrage! Dann treten wir in einen
Dialog ein.
– Was heißt „kein neues Thema“, Herr Kollege Waigel?
Eichel und Schröder haben versucht, den Widerstand
Großbritanniens im Hinblick auf eine europäische Steu-
erpolitik zu überwinden.
Wir haben das noch nicht geschafft. Aber ich bin davon
überzeugt, daß wir es Mitte des nächsten Jahres errei-
chen werden. Wenn uns das nicht gelingt – das möchte
ich an dieser Stelle einmal klar sagen –, dann werden
auch wir darüber nachzudenken haben, ob wir eigene
nationale Lösungen schaffen.
– Es kann einen schon ärgern, wie Sie hier dazwischen-
rufen. Sie haben in Ihrer Regierungszeit nichts geschafft,
machen jetzt aber freche Zwischenrufe.
Die Bundesregierung hat mit ihrer erfolgreichen Prä-
sidentschaft im letzten Halbjahr ihr großes Engagement
für Europa gezeigt. Der Gipfel von Helsinki war ein
großer Erfolg. Wir gratulieren der Bundesregierung zu
diesem Erfolg.
Ich erteile dem Kol-
legen Ulrich Irmer, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Ich gratuliere der finnischen Präsidentschaft
zu dem Ergebnis von Helsinki.
Es ist beachtlich, was ein kleines Land wie Finnland in
dem halben Jahr geschafft hat. Jedenfalls war es erheb-
lich mehr als das, was die deutsche Präsidentschaft im
ersten Halbjahr dieses Jahres zustande gebracht hat.
Gleichwohl stehe ich nicht an, auch der Bundesregie-
rung meinen Respekt zu zollen. Sie hat die Entwicklun-
gen nicht aufgehalten. Sie hat sich – das ist das einzig
Vernünftige – in die europapolitische Tradition der deut-
schen Politik seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges
begeben. Da ist sie gut aufgehoben.
Herr Bundeskanzler, Ihre Regierungserklärung war
mir zu glatt und zu schön. Es bringt ja nichts, wenn man
über Probleme, die zum Teil durch die Beschlüsse von
Helsinki erst geschaffen worden sind, einfach so hin-
wegredet, als gäbe es sie nicht. Herr Struck hat noch
einmal gesagt, wie wichtig die Beschlüsse zur gemein-
samen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind. Er
hat ja recht; die Beschlüsse sind wichtig. Nur sind ganz
wesentliche Fragen unbeantwortet geblieben, und statt
uns jetzt selbst zu bejubeln, sollten wir diese Fragen hier
ansprechen und zu beantworten versuchen.
Beispielsweise ist offengeblieben, wie die Integration
der WEU in die Europäische Union angesichts der Tat-
sache erfolgen soll, daß es eine ganze Reihe von Mit-
gliedstaaten der Europäischen Union gibt, die dem
Militärbündnis WEU nicht angehören: unsere neutralen
Mitglieder Irland, Schweden, Finnland und Österreich.
Wie werden sie sich verhalten, wenn es darum geht, die
vereinbarten Kräfte aufzubauen?
Wie soll denn – eine weitere Frage, die gerade uns
hier im Bundestag interessieren sollte – die parlamen-
tarische Kontrolle dieser neuen Verteidigungskom-
ponente der EU aussehen? Das Europäische Parlament
hat dazu bisher keine Möglichkeiten. Die Versammlung
der WEU, die das bisher mehr schlecht als recht zu tun
versucht hat, wird es in absehbarer Zeit, wenn die
Hardware-Aufgaben der WEU auf die Europäische Uni-
on übertragen sein werden, wahrscheinlich – jedenfalls
in dieser Funktion – nicht mehr geben. Herr Bundes-
kanzler, diese und andere Fragen bedürfen dringend der
Erörterung und der Beantwortung auch hier im Parla-
ment.
Wenn die Regierungskonferenz im Februar beginnt
– ich freue mich darüber, das sie beginnt –, dann stehen
alle Länder, auch wir, unter einem erheblichen Hand-
lungsdruck. Insofern bin ich froh, daß der Gipfel von
Dr. Peter Struck
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7223
(C)
(D)
Helsinki endlich Daten genannt hat. Es ist nun vom Jahr
2002 die Rede. Wir haben nicht umsonst ständig in allen
europapolitischen Debatten zur Erweiterung angemahnt,
daß Daten gesetzt werden. Denn alle Erfahrung zeigt:
Wenn man keine Fristen setzt, dann bewegt sich nichts.
Das war bei der Vollendung des Binnenmarktes und bei
der Einführung des Euro so. Die Dinge kamen erst in
Fluß, als man sich selbst unter Zugzwang gesetzt hatte.
So stehen wir nach Helsinki in der Tat unter mehre-
ren Zugzwängen. Griechenland und die Türkei stehen
unter dem Zwang, ihre Probleme, die sie miteinander
haben, bilateral zu lösen, damit der Weg nach Europa
offen steht. Die Regierungen stehen unter dem Zwang,
die institutionellen Reformen auf den Weg zu bringen
und erfolgreich abzuschließen. Ich erinnere daran, daß
es eine Forderung von uns immer gewesen ist, eine
europäische Verfassung mit einem Grundrechtskatalog
anzustreben. Davon ist leider nicht die Rede gewesen.
Wir werden also noch daran zu arbeiten haben.
Wir stehen insbesondere unter dem Zwang, die Hand-
lungsunfähigkeit der europäischen Institutionen, die sich
abzuzeichnen droht, durch Ergebnisse der Regierungs-
konferenz abzuwenden. Ich möchte auf einen Punkt ganz
besonders hinweisen: Wir werden es nicht akzeptieren,
daß die dringend notwendige Erweiterung, insbesondere
die Erweiterung um unsere unmittelbaren Nachbarn im
Osten, auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben wird,
weil sich die Regierungen der jetzigen Mitgliedstaaten
nicht auf diese Reformen einigen können.
Es darf nicht sein, daß Verzögerungen eintreten, weil die-
ser Einigungsprozeß schwierig und langwierig sein wird.
Ungelöst ist die Frage hinsichtlich des Beitritts Zy-
perns. Es ist für mich undenkbar, daß vor einer Lösung
der Zypern-Frage Zypern als geteiltes Land in die Euro-
päische Union aufgenommen wird. Die Bemerkungen
dazu in den Helsinki-Dokumenten sind verschwommen
und unklar. Hier bedarf die Frage, wie der Beitritt ver-
laufen soll, dringend einer Klärung.
Lassen Sie mich jetzt ein paar Bemerkungen zur
Türkei machen. Der Vergleich mit Rußland ist – Herr
Schäuble, mit allem Respekt – wohl nicht ganz zutref-
fend; denn es gibt gravierende Unterschiede. Die Türkei
ist immerhin seit 1963 mit Europa assoziiert; sie ist
assoziiertes Mitglied der WEU und Mitglied der NATO.
Ich glaube daher – bei allem Respekt –, daß die These
wohl nicht ganz richtig ist, man könne Rußland den
Beitrittsstatus nicht verweigern, weil man ihn der Türkei
verliehen habe.
Warum ziehen wir uns eigentlich diesen Schuh an?
Warum beschäftigen wir uns noch mit der Frage, ob die
Türkei Beitrittskandidat werden soll oder nicht? Die
Frage ist jetzt entschieden, und ich akzeptiere das. Ich
räume aber ohne weiteres ein, daß man gerade in dieser
Frage höchst unterschiedlicher Meinung sein kann. Ich
versuche einmal, dieser Entscheidung die positiven Sei-
ten abzugewinnen.
Diese Entscheidung setzt wiederum die Türkei unter
Druck, die notwendigen Reformen endlich einzuleiten.
Ich bin aber skeptisch, Herr Bundeskanzler. Herr Ecevit
hat Ihnen schöne Versprechungen gemacht. Ich erinnere
mich aber an keine türkische Regierung, die angetreten
ist, ohne diese Versprechungen zu machen. Bisher hat
keine Regierung sie gehalten. Ich wünsche Herrn Ecevit,
daß er dazu in der Lage ist – hoffentlich!
Der Ball ist jetzt da, wo er hingehört, nämlich bei der
Türkei. Sie muß ihn sozusagen spielen und die entspre-
chenden Voraussetzungen schaffen. Da bis heute völlig
unstreitig ist, daß die Voraussetzungen nicht erfüllt sind,
frage ich, warum wir uns darüber den Kopf zerbrechen
sollen, ob wir sie als Mitglied haben wollen oder nicht.
Es geht hier weniger um die Erfüllung der wirtschaftli-
chen Voraussetzungen als um die Erfüllung der politi-
schen und menschenrechtlichen Voraussetzungen, die
auf dem Gipfel von Kopenhagen beschlossen wurden.
Die Türkei ist noch weit davon entfernt, diese Voraus-
setzungen zu erfüllen.
Ich freue mich, daß die Türkei jetzt unter diesen
Druck geraten ist, die dringend notwendigen Reformen
endlich in Angriff zu nehmen. Durch diesen Druck wer-
den auch diejenigen gestärkt, die in der Türkei selbst
einerseits die Übermacht des Militärs ablehnen und an-
dererseits versuchen, gegen den Fundamentalismus zu
kämpfen.
Die einfache Erklärung, daß die Türkei jetzt Beitritts-
kandidat ist, kann es allein nicht gewesen sein. Jetzt
kommt es darauf an, der Türkei Angebote zu machen
und auf sie zuzugehen. Vielleicht muß man auch Alter-
nativen entwickeln, um der wichtigen strategischen
Rolle der Türkei gerecht zu werden, wenn es mit dem
Beitritt nicht klappen sollte. Nach wie vor wäre sie ein
unglaublich wichtiges Land für uns und für unsere Sta-
bilität. Man sollte also vorausschauend einmal fragen,
was man von uns aus parallel entwickeln kann, damit
die Türkei nicht ins Bodenlose stürzt.
Vielleicht kann man auch für andere Modelle entwickeln
– ich denke an Rußland und die Ukraine –, bei denen
klar ist, daß sie zumindest auf absehbare Zeit nicht Bei-
trittskandidaten werden können.
Noch einmal, meine Damen und Herren: Die Erweite-
rung ist für uns von zentraler Bedeutung. Herr Schäuble
hat recht, wenn er sagt, daß wir alle Anstrengungen
unternehmen müssen, um das unseren Leuten zu erklä-
ren. Hier genügt es auch nicht zu sagen, daß die jetzigen
Beschlüsse einfach großartig seien. Wir alle wissen, daß
es in unserer Bevölkerung nicht nur mit Blick auf die
Türkei, sondern auch überhaupt große Skepsis gibt: Man
hat Angst vor zuwandernden Arbeitnehmern und Angst
Ulrich Irmer
7224 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
vor Konkurrenzsituationen. Hier müssen wir für Aufklä-
rung sorgen.
Wir können das tun, indem wir darauf hinweisen, daß
wir insbesondere in unserem eigenen Interesse handeln,
wenn wir die jungen Demokratien Mittel- und Osteuro-
pas in unsere Gemeinschaft aufnehmen.
Wir tun es nicht nur aus Mildtätigkeit, sondern auch mit
Blick auf unsere eigene Stabilität. Natürlich verursacht
das Kosten; das Ganze ist nicht zum Nulltarif zu haben.
Aber was wäre, wenn wir es nicht täten? Es würde un-
endlich viel teurer. Wollen wir hier Arbeitnehmer haben,
oder sind uns Flüchtlinge lieber? Wollen wir neue
Märkte erschließen, auf denen wir in Zukunft unsere
Produkte verkaufen können, oder wollen wir das nicht?
Durch eine Ablehnung der Erweiterung kämen wesent-
lich mehr Kosten auf uns zu als durch die Verwirkli-
chung der Idee der Erweiterung.
Dies hat auch, meine Damen und Herren, eine weit
über das Wirtschaftliche hinausgehende Dimension. Ich
sehe hier eine historische, um nicht zu sagen: moralische
Verantwortung für uns Deutsche, daß wir das wieder-
gutmachen, was in Folge des zweiten Weltkrieges mit
den dortigen Völkern über 40 Jahre hinweg geschehen
ist. Jetzt haben wir die Chance und müssen sie ergreifen.
Ich sage noch etwas: Europa besteht nicht nur aus
Dividenden und Divisionen. Europa basiert auch auf
Kultur.
Ich frage mich manchmal, ob wir in Westeuropa und
auch in Deutschland nicht dadurch so anfällig für Ver-
wässerungen unserer kulturellen Identität und für Ein-
flüsse von beispielsweise jenseits des Atlantiks gewor-
den sind, daß uns Europäern nach dem zweiten Welt-
krieg die kulturelle Dimension Osteuropas abhanden ge-
kommen ist. Sollten wir nicht wieder daran anknüpfen?
Wäre die Integration Osteuropas nicht auch deshalb
ganz wesentlich, weil es zu unserem kulturellen Erbe
und zu unserer kulturellen Identität gehört? Die Stärke
Europas kommt dann zum Tragen, wenn es versucht,
eine kulturelle Einheit in der Vielfalt zu bilden und sich
mit anderen Kulturen auseinanderzusetzen. Dazu gehört
auch der Islam. Ich lasse mir bei aller Nüchternheit der
Prüfung nicht ohne weiteres die Vision, die ich von
Europa habe, ausreden.
Ich möchte diese Vision behalten, damit wir später vom
Hradschin auf die Kleinseite und von der Matthiaskirche
auf die Budapester Altstadt mit dem schönsten Parla-
ment der Welt herunterschauen können
und dann sagen können: Das ist unser Europa.
Ich danke Ihnen.
Als nächster hat
Außenminister Joseph Fischer, Bündnis 90/Die Grünen,
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Europäi-
sche Rat in Helsinki hat eine entscheidende und, wie ich
meine, historische Weichenstellung vorgenommen. Es
ist klar, daß das sich vereinigende Europa nach dem
Ende des kalten Krieges jetzt so langsam beginnt, seine
endgültigen Konturen anzunehmen. Dieses gilt sowohl
im Inneren wie für seine äußere Ausformung. Damit
werden weit über den Tag hinaus auch die Aufgaben der
Europapolitik beschrieben, denen sich in den kommen-
den Jahren nicht nur die deutsche Politik, sondern alle in
der Europäischen Union stellen müssen.
In Helsinki ging es im wesentlichen um die Erweite-
rung der Union um weitere 13 Mitgliedstaaten. Dar-
über hinaus ging es um das Mandat der Regierungs-
konferenz, das heißt um die interne Handlungsfähigkeit.
Es ging schließlich um eine weitere Vergemeinschaf-
tungsaufgabe im Kernbereich nationaler Souveränität,
nämlich um die europäische Sicherheits- und Vertei-
digungspolitik.
Die Union hat in unzweifelhafter Art und Weise die
Verurteilung des Krieges in Tschetschenien, der gegen
ein ganzes Volk geführt wird, klargemacht und die
Position gegenüber Rußland definiert. Heute werden wir
in Berlin – und zwar unmittelbar im Anschluß an diese
Debatte im Auswärtigen Ausschuß – die Gelegenheit
haben, darüber mit dem russischen Außenminister zu
diskutieren. Der einzige Punkt, an dem es leider nicht
gelungen ist, einen gemeinsamen Schritt nach vorne zu
machen, betrifft die Frage der Steuerharmonisierung.
Herr Schäuble, ich finde, es hätte Ihnen – in bester
Tradition der Haltung der Opposition gegenüber der
Europapolitik in den vergangenen Legislaturperioden –
gut angestanden, nicht als oberster Bedenkenträger an-
zutreten, sondern zu diesem Ergebnis, das doch auch in
Ihrem Sinne sein muß, zunächst einmal zu gratulieren.
Ich komme gleich noch näher auf die Rede zu spre-
chen, die Sie gehalten haben. Sie haben zwölfmal – ich
habe mitgezählt – darauf hingewiesen, wir müßten die
Menschen mitnehmen. Ich sage es zum dreizehntenmal:
Ja, recht hat er. Aber Sie nehmen die Menschen nicht
durch das Wiederholen mit. Ich stimme Ihnen doch zu
– wir alle stimmen Ihnen zu –, daß in einer sich erwei-
ternden Union die Frage der Handlungsfähigkeit der
Union an erster Stelle stehen muß, weil die Erweiterung
kein Selbstzweck ist.
Der Kollege Irmer hat zu Recht darauf hingewiesen,
daß wir die Alternative zur Erweiterung – das müssen
wir den Menschen immer wieder sagen – auf dem Bal-
kan sehen können. Die Europäische Union – das hat die
Süderweiterung klargemacht – steht für den nachhalti-
gen Prozeß von Stabilitätsgewinnung zum gegenseitigen
Vorteil: durch Wirtschaftsentwicklung, durch Demokra-
tieentwicklung und durch Zusammenwachsen. Der Ex-
Ulrich Irmer
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7225
(C)
(D)
port von Sicherheit durch das Entsenden von Soldaten
ist kein nachhaltiger Prozeß und ist, wie wir auf dem
Balkan gegenwärtig sehen können, schon gar nicht zum
gegenseitigen Vorteil. Europa wird nach dem Ende des
Kalten Krieges nur eine Sicherheit haben. Diese Sicher-
heit müssen wir durch die Integration herstellen – ob das
einem gefällt oder nicht. Die Alternative wäre, eine Zo-
ne der Unsicherheit östlich unserer Grenzen zuzulassen.
Mit Blick auf die Interessen unseres Landes wäre das die
falscheste Politik, die man sich nur vorstellen kann.
Wir sind uns doch einig darüber, daß wir die Flexibi-
lisierung wollen und daß wir sie brauchen. Das heißt,
daß eine Mehrheit der Mitgliedstaaten auf dem Weg der
Vollendung der Integration voranschreiten kann.
Ich bin mir sicher: Bei der Frage der Abgrenzungs-
notwendigkeiten gibt es überhaupt keinen Dissens. Ich
weise aber noch einmal darauf hin, daß es in dieser Fra-
ge gegenwärtig sozusagen 14 : 1 gegen Deutschland
steht. Das, was wir auf Grund unserer Verfassungstradi-
tion und auf Grund unserer föderalen Struktur als Pro-
blem sehen, wird in den kleineren Staaten, die diese fö-
derale Prägung nicht haben, nicht nachvollzogen – reden
Sie einmal mit den Skandinaviern! – und wird in den
großen Ländern mit zentralstaatlicher Tradition nicht
begriffen.
Der Weg, den wir gehen, nämlich erweiterte Integra-
tion – schon bei der Mehrheitsentscheidung wird sich
diese Frage sui generis stellen; da bin ich mir ganz si-
cher –, Erarbeitung einer Grundrechtscharta und
Schaffen des einheitlichen Raumes der Freiheit und des
Rechts, wird selbstverständlich die Frage nach einer eu-
ropäischen Verfassung aufwerfen. Hinter der Abgren-
zungsfrage steht nämlich die Entscheidung, was auf
kommunaler, was auf nationalstaatlicher und was auf
europäischer Ebene verbleibt. Auch insofern gibt es kei-
ne substantiellen Differenzen zur Opposition. Aber wie
Sie, meine Damen und Herren, gegenwärtig die Erweite-
rungsdebatte führen, zielt das auf Differenz.
Ich habe heute morgen einen humoresken Beitrag
gelesen: Herr Stoiber bekommt den Orden „Wider den
tierischen Ernst“. Das wird dieses Jahr ein saurer Karne-
val werden!
– Herr Waigel, Sie sollten die Rede halten, wenn Herr
Stoiber den Orden „Wider den tierischen Ernst“ be-
kommt.
Da könnte das Ganze richtig heiter werden!
– Aber nicht auf Herrn Stoiber!
Ich möchte zum Ernst zurückkommen. In der Europa-
politik sieht es doch so aus, daß Sie im Fall Türkei
– wie in anderen Fragen auch – offensichtlich an Ge-
dächtnisverlust leiden. 1963 – das war die Regierung Er-
hard; er gehörte nun wirklich nicht den Grünen oder der
SPD an – wurde das Assoziationsabkommen mit der Tür-
kei abgeschlossen. Die Anwerbungsbüros in Ankara und
Istanbul wurden unter christdemokratischen Regierungen
eröffnet; bis 1973 blieben sie geöffnet. Und selbstver-
ständlich sind nicht nur Arbeitskräfte, sondern Menschen
nach Deutschland gekommen. Von dieser Verantwortung
kann man sich nicht einfach verabschieden – auch nicht in
der Innenpolitik, meine Damen und Herren.
Es geht ja noch weiter: Jetzt lesen wir nach dem Be-
schluß von Helsinki von Herrn Hintze, einem bedeuten-
den Europapolitiker, der gegenwärtig allerdings weniger
durch europapolitische Themen Schlagzeilen macht – –
– Ich weiß gar nicht, warum ihr euch so aufregt. Ich sage
doch nur, Herr Hintze macht Schlagzeilen. Habe ich et-
was zum Inhalt gesagt? Ich bitte Sie. Offensichtlich
scheinen Sie gegenwärtig sehr empfindlich zu sein, mei-
ne Damen und Herren.
Herr Waigel, es würde mich doch jucken, hier vertieft
über das Manna-Wunder der Union zu philosophieren.
Es fällt aber nicht in den Bereich der Außenpolitik – lei-
der nicht. Ich würde mich dem gerne vertieft zuwenden.
Herr Hintze äußert sich: Mit dem EU-Kandi-
datenstatus für die Türkei würden unerfüllbare Hoffnun-
gen geweckt und unschätzbare politische und wirt-
schaftliche Risiken für die Europäische Union in Kauf
genommen.
– Klatschen Sie nur. Das nehmen wir zu Protokoll.
Dann kommt der noch bedeutendere Europapolitiker
Michael Glos: Mit dieser Entscheidung erweise die
Bundesregierung der weiteren europäischen Integration
einen Bärendienst und schwäche deren Handlungsfähig-
keit, statt sie zu stärken.
– Ich frage Sie, Herr Glos: Was haben Sie gegen den
Beschluß des Europäischen Rates?
Der Europäische Rat
– ich zitiere –
bekräftigt, daß die Türkei für einen Beitritt zur
Europäischen Union in Frage kommt. Das Beitritts-
Bundesminister Joseph Fischer
7226 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
ersuchen der Türkei wird auf der Grundlage dersel-
ben Kriterien untersucht wie im Falle anderer Be-
werberstaaten.
Was haben Sie dagegen?
Haben Sie etwas dagegen? Sind Sie gegen diese Posi-
tion?
– Ja. Das, was ich gerade vorgelesen habe, ist der Be-
schluß von Luxemburg unter Helmut Kohl, meine
Damen und Herren. Das ist der Beschluß von Luxem-
burg!
Das ist die ganze Heuchelei der Union. Ich könnte Ihnen
den Beschluß von Cardiff vorlesen, meine Damen und
Herren. Ich könnte Ihnen den Beschluß von Luxemburg
vorlesen, meine Damen und Herren. Ich kann es Ihnen
im Detail vorlesen.
Das ist unter einer CDU/CSU- und F.D.P.-Regierung
beschlossen worden. Das ist die ganze bodenlose Heu-
chelei dieser Kritik, Herr Glos, die Sie gegenwärtig
äußern.
Genau das zeigt, daß es Ihnen nicht um Europapolitik
geht. Genau das zeigt, daß Sie sich verabschieden wol-
len, um innenpolitisch Punkte zu machen. Das wird aber
nicht funktionieren.
Wir haben eine klare Position: eine Fortentwicklung
von Luxemburg und von Cardiff. In dieser Position gibt
es überhaupt keinen Bruch. Die Türkei hätte Luxemburg
bereits so interpretieren können, wie sie sich jetzt auf
Helsinki eingelassen hat, wenn nicht der damalige Bun-
deskanzler Kohl nach einer EVP-Sitzung erklärt hätte
– ob er das wirklich so gesagt hat, weiß ich nicht; er
bestritt es mir gegenüber in einem privaten Gespräch;
das muß ich der Fairneß halber hinzufügen; aber in der
Presse stand es so und die Reaktion war entsprechend –,
daß die Türkei nicht zum christlichen Abendland gehö-
ren könne und deswegen nicht Mitglied werden könne.
Meine Damen und Herren, das war der entscheidende
Punkt.
Lesen Sie sich den Beschluß von Luxemburg durch.
Jean-Claude Juncker, der ebenfalls nicht den Grünen
angehört, hat dieses mir gegenüber in Helsinki bestätigt.
So unterschiedlich sind die Beschlüsse von Helsinki und
Luxemburg nicht. Aber die Reaktion der Türkei ist völ-
lig unterschiedlich. Wir stehen jetzt in einem anderen
Verhältnis zur Türkei. Ich sage Ihnen – Herr Schäuble,
Sie sind viel zu klug, als daß Sie das mit Rußland
gleichsetzen würden; das wissen Sie doch selber –, die
Verpflichtungen, die Ihre Regierungen gegenüber der
Türkei eingegangen sind, sind wir gegenüber Rußland
nicht eingegangen. Das wissen Sie doch ganz genau.
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Schäuble?
Herr Bun-
desaußenminister, es geht doch nicht um die Frage,
daß die Türkei im Gegensatz zu Rußland in der NATO
ist und daß es seit 1963 ein Assoziierungsabkommen
gibt. Die Frage, die ich Ihnen stelle und die ich vorhin
schon gestellt habe, ist die, ob wir, wenn wir die politi-
sche Einheit Europas zum Ziel haben, nicht eine ehrliche
Debatte darüber führen müssen, wo die Grenzen dieses
Europas liegen.
Unter diesem Gesichtspunkt, müßten Sie doch meine
Frage beantworten können, wie Sie bei einer solchen ab-
strakten Debatte den Unterschied zwischen Rußland und
der Türkei definieren wollen. Beides sind Länder, die
zum Teil zu Europa – Rußland übrigens zu einem größe-
ren Teil – und zu einem Teil nicht zu Europa gehören.
Das ist die Frage.
Herr Kollege Schäuble, ich sage es noch einmal: Gegen-
über Rußland sind wir keinerlei Verpflichtungen einge-
gangen, auch Ihre Regierungen in den vergangenen Jah-
ren und die Europäischen Räte nicht. Der Europäische
Rat in Luxemburg und der Europäische Rat in Cardiff
– das war in Ihrer Regierungszeit – haben die Türkei als
Beitrittskandidatin behandelt; und damit sind wir Ver-
pflichtungen eingegangen. Gegenüber Rußland gibt es
derlei Verpflichtungen nicht, weder weit noch nah zu-
rückliegend.
Nun komme ich auf die Grenze zu sprechen, Herr
Schäuble. Ich stimme Ihnen zu: Mit dem historischen
Schritt von Helsinki wird sich die Frage der Außen-
grenzen der Union verdichten. Aber wir werden dies
erst beantworten können – und zwar konkret, nicht ab-
strakt –, wenn ein Teil dieser Länder den Integrations-
prozeß vollendet hat. Ausschlaggebend ist, wie die
Union in sich aussehen wird. Eine lockere Union, die
nicht die volle Integration anstrebt, wird eine andere
Größenordnung haben als eine Union, die eine Voll-
integration will.
Und diese volle Integration – insofern ist die Geschwin-
digkeit variabel – ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch
nicht gegeben.
Bundesminister Joseph Fischer
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7227
(C)
(D)
Diese Bundesregierung, aber auch alle in diesem
Haus werden sich die Realitäten in der Türkei anschau-
en. Die Fortschrittsberichte, vor allem die letzten beiden,
machen klar, daß die Kommission keine Schönfärberei –
übrigens gegenüber niemandem – betreibt. Was wir in
Helsinki gemacht haben, ist, die Türkei von ihrem dis-
kriminierenden Kandidatenstatus zu befreien.
Ansonsten gilt das Acquis, ausgehend von den Kopen-
hagener Kriterien; diese sind zu erfüllen. Da gibt es kein
Schönreden und kein Weggucken.
Aber weder Sie noch ich wissen, warum eine europa-
kompatible Türkei Europa schaden können soll. Die
Türkei würde zu Europa gehören.
Aber dieser Prozeß ist angestoßen worden, lange be-
vor wir beide politischen Einfluß hatten. Er ist weiterge-
führt worden, als Sie starken politischen Einfluß hatten,
nämlich während der Regierungszeit von Bundeskanzler
Helmut Kohl, und er wird nun von uns fortgesetzt. Es
liegt im Interesse unseres Landes, die Türkei an Europa
heranzuführen und ihr dann, wenn sie die Bedingungen
erfüllt, ihr die Möglichkeit des Beitritts zu Europa zu
gewähren.
Wenn man Realist ist, weiß man, daß dies zweifelsohne
lange dauern wird. Und ich bin Realist.
Herr Minister, ge-
statten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen
Wolfgang Gerhardt?
Bitte.
Herr Minister
Fischer, ist es nicht so, daß angesichts der Tatsachen, die
niemand leugnen kann, daß wir, also jede wie auch im-
mer zusammengesetzte Bundesregierung, der Türkei seit
1963 die Chance zum Beitritt eröffnet haben, daß aber
auch jeder weiß, daß in den ganzen Jahrzehnten nichts
daraus geworden ist, weil die türkischen Regierungen
aus welchen Gründen auch immer keine entscheidenden
innenpolitischen Wegmarken haben setzen können, und
in Anbetracht des jetzigen Zustandes in der Türkei und
bei realistischer Betrachtung ihres weiteren Weges eine
Erfüllung dieser Wünsche in absehbarer Zeit möglich
wäre?
Ihnen wie mir ist klar, daß der Kandidatenstatus wohl
auch nicht im nächsten Jahrzehnt in eine Mitgliedschaft
umgemünzt wird. Deshalb frage ich Sie: Wäre es nicht
besser, realistischer und klarer, und würde es in der Tür-
kei nicht weniger Enttäuschungen verursachen, wenn die
Europäische Union gegenüber Nicht-Mitgliedsländern
auch andere Vertragsvarianten als die bisher gewohnten
entwickeln würde, die diesen Ländern Stabilität und eine
europäische Anbindung geben? Sie wird dazu ohnehin
herausgefordert. Ich frage Sie: Ist das eine realistische
Möglichkeit? Wird das im Auswärtigen Amt geprüft? Ist
das Gegenstand von Gesprächen zwischen Ihnen und
Ihren Amtskollegen, um Enttäuschungen zu vermeiden?
Herr Kollege Gerhardt, damit wir die beiden Dinge
auseinanderhalten: Wenn Sie diesen Ansatz auf die Tür-
kei übertragen, werden Sie ein Debakel anrichten.
Es ist doch ausprobiert worden: Allein die Tatsache, daß
die Türkei einen Kandidatenstatus hat, aber nicht wie
andere Kandidaten behandelt wird, würde zu einem völ-
ligen Kollaps der Beziehungen führen mit einer dramati-
schen Verschlechterung des griechisch-türkischen Ver-
hältnisses und auch einer dramatischen Verschlechte-
rung der inneren Entwicklung der Türkei. Ich komme
auf dieses Interesse an der Türkei gleich noch einmal zu
sprechen.
Ich stimme Ihnen allerdings in dem Punkt zu, daß die
Europäische Union im Zusammenhang mit der Ent-
wicklung der äußeren und inneren Finalität mehr als
eine Grammatik braucht, nämlich die Beitrittsgrammatik
für das Herstellen der Beziehungen zu anderen, die nicht
beitreten sollen oder wollen. Da stimme ich Ihnen völlig
zu. Das wird im Zusammenhang mit der Entwicklung
der europäischen außenpolitischen Identität eine sehr
große Rolle spielen und dabei auch entwickelt werden.
Nur, wenn Sie das auf die Türkei übertragen, werden Sie
ein Desaster anrichten. Das haben wir in den letzten drei
Jahren erlebt.
Jetzt möchte ich Ihnen noch einmal etwas zu unserem
Interesse an der Türkei sagen. – Sie können sich ruhig
setzen, auch wenn ich Ihnen noch antworte. Das war
jetzt nicht böse gemeint. Ich habe das nur deshalb ge-
sagt, damit Sie nicht so lange stehen müssen.
Wenn wir die Türkei jetzt so behandeln würden, dann
würde das nicht bedeuten, daß die Türkei eine strategi-
sche Alternative in Richtung Mittelasien hätte. Daran
glaube ich nicht. Vielmehr würde es die Türkei in die
Isolation führen – mit fatalen Konsequenzen. Ich bitte
Sie aber, zu bedenken: Das allein ist kein zureichender
Grund. Ich habe die historischen Verpflichtungen ge-
nannt. Das ist für mich der entscheidende Punkt.
Sie müssen im Zusammenhang mit der historischen
Begründung der Türkei auch sehen – bei allen Defiziten
Bundesminister Joseph Fischer
7228 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
die es gibt –, daß Atatürk das türkische Staatswesen auf
eine europäische Orientierung gegründet hat. Wenn die-
ses Europa jetzt im Werden Nein sagt, kollabiert im
Grunde genommen die gesamte innere Staatsidee der
Türkei, die sich nach Europa orientiert – mit fatalen
Konsequenzen, Herr Gerhardt. Das ist ein Unterschied
zu dem Beispiel Rußland.
– Das will ich überhaupt nicht abstreiten. Die Bundesre-
gierung würde nie behaupten, daß das, was wir tun, ohne
Risiken, ohne Scheitermöglichkeiten ist. Alles, was
Menschen tun, kann scheitern. Wir sind an diesem Punkt
nun wirklich nicht unfehlbar. Wir sind nicht Dr. Allwis-
send. Nur, wir stehen in der Kontinuität von Entschei-
dungen und Verpflichtungen, die unser Land eingegan-
gen ist, die auch die F.D.P. als Regierungspartei einge-
gangen ist.
Ich möchte noch einmal hier in dieser offenen Diskus-
sion an Sie appellieren, Dr. Gerhardt: Bedenken Sie,
wenn die Türkei von ihrer europäischen Gründungsidee
abgeschnitten wird, wird eine andere Politik folgen. Die
wird garantiert nicht westlich und demokratisch sein. Ich
bitte Sie, auch den strategischen Faktor Türkei zu beden-
ken. Von der Türkei wird der Nahost-Friedensprozeß in
seiner Stabilität ganz entscheidend abhängen. Wenn wir
unser besonderes Verhältnis zu Israel betonen und wollen,
daß in der Region Frieden herrscht, dann müssen wir den
Stabilitätsanker Türkei stärken und nicht schwächen.
Von der Türkei wird ganz entscheidend die Zukunft
im Kaukasus und in Zentralasien abhängen.
– Jetzt kommt er mit den Leos. Herr Schäuble, das Pro-
blem in der Türkei ist doch nicht Leo 1 oder Leo 2. In
einem erweiterten Sicherheitsbegriff krankt die Türkei
nicht an zu wenig Militär, daß Sie da nicht als Sicher-
heitsfaktor fungieren kann, sondern an innerer Instabili-
tät, an der Schwäche der Demokratie und der zivilen
Gesellschaft. Das müssen wir fördern, wenn wir ein In-
teresse an der Stabilität der Türkei haben.
Kollege Fischer, ge-
statten Sie noch zwei weitere Zwischenfragen? Kollege
Austermann und Kollege Schäuble hatten sich gemeldet.
Herr Kollege Schäuble.
Nein, der Höflichkeit
halber: Kollege Austermann steht schon so lange dort
hinten.
Ja, gut. Es würde mir leid tun, wenn ich jetzt die Frage
zuließe. Aber ich tue es; es ist Weihnachten. Bitte.
Herr Minister,
ich habe Ihre Ausführungen gehört. Sie haben die Not-
wendigkeit betont, die Türkei europakompatibel zu ma-
chen und an Europa heranzuführen. Sie haben eben das
Thema Leo 2 erwähnt, wo der Panzer ins Schaufenster
gestellt werden soll oder worden ist. Gehört zu der Ent-
scheidung: Heranführen der Türkei an Europa auch die
Lieferung eines Kampfpanzers Tiger?
– Entschuldigung! Kampfhubschrauber Tiger! Reg dich
doch ab!
Herr Austermann, ich wußte es.
Die Bundesregierung wird alle Aspekte sorgfältig prü-
fen.
Kollege Schäuble,
bitte.
Herr Bun-
desaußenminister, wenn Sie die strategische Sicher-
heitspartnerschaft mit der Türkei als so bedeutsam be-
schreiben, wäre es dann im Sinne der Entwicklung die-
ser Sicherheitspartnerschaft nicht vielleicht doch nützli-
cher, man würde nicht sagen, diesem NATO-Partner lie-
fern wir keine Panzer, die wir für die Bundeswehr für
angemessen halten?
Herr Schäuble, ich war, als Sie Ihre Frage stellen woll-
ten, gerade dabei, den erweiterten Sicherheitsbegriff zu
erläutern. Wir möchten, daß die Türkei solche Fort-
schritte macht, daß wir keinen Bericht zur Menschen-
rechtslage mehr erstellen müssen und daß es keine Asyl-
anträge aus der Türkei mehr gibt, weil dort Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenschutz herrschen.
Wir wollen, daß die Türkei dann auch in der Frage von
Rüstungsexporten als normaler Partner – wie alle ande-
ren Partner – behandelt werden kann, wenn diese Zu-
stände hergestellt sind. Im Moment – da befinden wir
uns in voller Kontinuität dessen, was der Fortschrittsbe-
richt respektive der Bericht der Europäischen Kommis-
sion und auch Herr Ecevit sagen – gibt es gerade in die-
sem Bereich erhebliche Defizite. Aber selbst darüber
könnte man diskutieren.
Wenn Sie sich die Zahlen des Verteidigungshaushalts
der Türkei anschauen, sehen Sie, daß die Frage nicht die
Bundesminister Joseph Fischer
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7229
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(D)
ist, ob die Türkei über genügend Rüstung verfügt. Es
geht vielmehr um die Frage, ob die Türkei genügend in-
nenpolitische Stabilität, Demokratie, Achtung der Men-
schenrechte sowie die Beendigung des Kurdenkonflikts
durch die Achtung von Minderheitenrechten in den
Grenzen der Türkei durchsetzt. Genau das wollen diese
Bundesregierung und die Europäische Union.
Wir sollten in diesem Punkt mit allem Selbstbewußt-
sein sagen: Was wir jetzt in Helsinki beschlossen haben,
wird zu Stabilität, Entwicklung von Demokratie, Ent-
wicklung von Marktwirtschaft und damit auch zu mehr
Sicherheit auf diesem Kontinent wesentlich mehr beitra-
gen, als wenn wir unsere Rüstungshaushalte entspre-
chend manchen Forderungen von außerhalb Europas es-
kalieren ließen.
Ich bestreite nicht, daß es da in dem einen oder ande-
ren Fall Nachholbedarf geben mag, vor allen Dingen
was Restrukturierung und ähnliches betrifft. Ich habe
aber gerade auch dem Kollegen Scharping gesagt: Wir
sind jetzt ein Jahr im Amt. Wenn Sie sich hier hinstellen
und uns kritisieren, müssen Sie sich auch einmal an-
schauen, was wir im Bereich Bundeswehr vorgefunden
haben.
Aber das werden wir an anderer Stelle und mit einem
anderen Ressortminister zu diskutieren haben.
Ich kann für mich in diesem Punkt nur sagen, daß
das, was die Europäische Union beschlossen hat, auch
und gerade unter dem Gesichtspunkt der Türkei-Politik,
bereits jetzt praktische Erfolge zeitigt: Die Verbesserung
des griechisch-türkischen Verhältnisses ist doch mit
Händen zu greifen.
Wenn Herr Ecevit die Todesstrafe in Frage stellt und in
der türkischen Öffentlichkeit völlig klar ist, daß der
Kandidatenstatus mit der Todesstrafe nicht vereinbar
ist, wenn Herr Cem, mein Außenministerkollege, jetzt
sagt, daß er sich vorstellen kann, daß es Fernsehsender
und Radiosender in kurdischer Sprache geben könnte,
wenn Sie sich die Entspannung in der Ägäis anschauen,
wenn Sie sich anschauen, daß jetzt die Verhandlungen in
Zypern – wenn auch mühseligst – wieder begonnen ha-
ben, dann müssen Sie doch, bei allem, was Sie zu Recht
an Risiken und Scheitermöglichkeiten benennen,
zugeben, daß, wenn man die Bilanz zieht, die histori-
schen Verpflichtungen betrachtet, die wir eingegangen
sind, die strategischen Interessen einbezieht und den Er-
folg der neuen Türkei-Politik sieht, eine verantwortliche
europäische Oppositionspolitik bedeuten muß, daß man
diese Position mitträgt und davon Abstand nimmt, sie
hier innenpolitisch auszuschlachten. Ich fordere Sie auf,
diese Position verantwortlich wahrzunehmen.
Das Wort zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Peter Hintze.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Bundesaußenminister
hat eben, wie zuvor der Bundeskanzler, den Kandidaten-
status der Türkei damit begründet, daß man die Türkei
nicht diskriminieren dürfe und sie deswegen in die
Europäische Union aufnehmen müsse.
Erster Punkt dazu. Ich halte es für eine sehr bedenkli-
che Position der deutschen Außenpolitik, wenn gesagt
wird, es liege ein Tatbestand der Diskriminierung vor,
wenn ein Staat, der die Mitgliedschaft in der Europäi-
schen Union begehrt, nicht aufgenommen werde. Das,
was der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU dazu vor-
getragen hat, ist sehr richtig. Wir haben den Aufnahme-
wunsch von der Ukraine, von Moldawien, von Rußland
zwar noch nicht, aber man kann ihn sich vorstellen.
Wenn die deutsche Außenpolitik jetzt sagt, wir würden
jeden, den wir nicht aufnehmen, diskriminieren, dann
setzen wir uns mit unserer eigenen Außenpolitik ins Ab-
seits. Ich halte das für einen Fehler.
Zum Thema Diskriminierung ein zweiter Punkt
– jetzt sollten die Grünen und die Sozialdemokraten zu-
hören; es lohnt sich auch –:
Die Grünen und die Sozialdemokraten haben im Euro-
päischen Parlament mit ihrer früheren Mehrheit jahre-
lang die Finanzhilfen an die Türkei blockiert und ver-
hindert. Jetzt stellen sie sich hier hin und sagen, wir dis-
kriminierten die Türkei. Das ist schon ein starkes Stück.
Ich möchte noch auf einen dritten Punkt eingehen, und
zwar auf den Taschenspielertrick, den der Herr Bundes-
außenminister in bezug auf den Kollegen Glos versucht
hat vorzuführen: Vornehm formuliert war das eine ge-
zielte Kontextverwirrung, Herr Bundesaußenminister.
Denn wenn Sie den Luxemburger Beschluß vorlesen, da-
zu ein wichtiges Gesicht machen und fragen: „Ja, und?“,
dann müssen wir Ihnen darauf antworten: Seit Luxemburg
hat sich in den entscheidenden Grundfragen, im Hinblick
auf die Menschenrechte, den Toleranzbegriff, die Gleich-
berechtigung der Frau, das Demokratieverständnis, die
Rolle des Militärs und die Minderheitenpolitik in der Tür-
kei, nichts geändert, was es rechtfertigen würde, den Sta-
tus von Luxemburg in Helsinki aufzubessern. Das ist eine
wichtige Tatsache. Deswegen läuft der Vorhalt gegen den
Kollegen Glos voll in die Irre.
Bundesminister Joseph Fischer
7230 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Nun ein letzter Punkt. Es ist gesagt worden, wir hät-
ten in der Frage eines umsichtigen Umgangs mit dem
Beitrittswunsch der Türkei nicht die Mehrheit des Deut-
schen Bundestages und die der Regierungschefs der EU.
Ich stelle fest: Zumindest in der deutschen Bevölkerung
haben wir eine entsprechende Mehrheit. Das ist immer-
hin etwas.
Herr Minister
Fischer, möchten Sie darauf antworten?
Damit erteile ich dem Kollegen Wolfgang Gehrcke,
PDS-Fraktion, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Auch ich halte es für bedau-
erlich und wirklich ärgerlich, daß sich mittlerweile die
Regierungserklärungen zu Europagipfeln immer mehr
auf dem Niveau oberflächlicher Volkspropaganda be-
wegen. Die Bundesregierung siegt sich sozusagen von
Gipfel zu Gipfel. Wenn über Probleme nicht gesprochen
wird, wenn man Probleme nicht zur Kenntnis nimmt,
wird die Chance verspielt, mit der Bevölkerung den
europäischen Weg zu gehen.
Ich glaube, daß Kollege Schäuble in diesem Punkt
recht hat. Ich glaube allerdings auch, daß seine Kritik
hieran nicht glaubwürdig ist. Wer eine so unsägliche
Diffamierungskampagne zur doppelten Staatsbürger-
schaft in die Welt gesetzt hat, läßt vermuten, daß es sich
bei seinen Absichten nicht um die Bereitschaft zur Dis-
kussion, sondern um die Bereitschaft zu diffamieren,
handelt. Was wir nicht gebrauchen können, ist, daß in
unserem Lande Vorurteile gegen Türkinnen und Türken,
gegen Kurdinnen und Kurden verstärkt werden. Sie
sollten endlich einmal klarstellen, daß Sie von dieser
unsäglichen Politik abrücken.
Die PDS will die Bürger in diesem Lande für Europa
gewinnen. Sie müssen Europa wollen. Sie haben ein
Recht darauf, über die Probleme informiert zu werden;
denn es sind ihre Probleme.
Die Europäische Union wird sich mit der Aufnahme
neuer Mitgliedstaaten, denen in vernünftiger Weise die
gleichen Startbedingungen eingeräumt wurden, nicht nur
quantitativ, sondern auch qualitativ verändern. Schon
allein die Tatsache, daß das Gebiet und die Bevölkerung
der EU um ein Drittel zunehmen, ist ein Beleg dafür.
Die PDS begrüßt diesen Schritt der Europäischen Union.
Wir freuen uns darauf, mit den Menschen aus Polen und
Estland, Rumänien, Bulgarien, Zypern und Ungarn
sowie aus anderen Ländern der Gemeinschaft zu leben.
Wir sind entschieden dafür, daß Europa dazu beiträgt,
daß sich die Lebensbedingungen in diesen Ländern ver-
bessern und Europa dadurch stabiler wird.
Aber hinderlich auf diesem Weg ist es, wenn er nur
einseitig als ein Weg der Veränderung und Anpassung
der Beitrittskandidaten an die Europäische Union gese-
hen wird und wenn zugleich nicht erkannt wird, daß sich
auch die heutige Europäische Union verändern wird. Ich
möchte, daß wir offen an die Umgestaltung Europas
herangehen – offen für die Kultur der anderen, für deren
Lebenserfahrung, für deren wirtschaftliche Grundlagen
sowie für deren Erwartungen und Hoffnungen. Einheit
in der Vielfalt, Akzeptanz der Vielfalt, das ist der euro-
päische Weg, den die PDS gehen will.
Wir verbinden den Ausbau der Europäischen Union
mit dem Wunsch nach mehr Stabilität, müssen uns aber
auch damit auseinandersetzen, daß er, wenn er falsch
und einseitig betrieben wird, die Gefahr einer Destabili-
sierung der Europäischen Union beinhaltet. Ausweitung
und Vertiefung dürfen keine Gegensätze sein.
Zur EU-Erweiterung gehören gleichermaßen eine
aktive Beschäftigungs- und Sozialpolitik. Nur wenn die
Massenarbeitslosigkeit überwunden wird, können wir
den Menschen die Angst vor Europa nehmen.
Soziale und ökologische Mindeststandards müssen
festgeschrieben werden, damit sich das Lebensniveau
spürbar verbessert. Es darf keinen ständigen Wettbewerb
nach unten geben, sondern wir brauchen endlich einen
Wettbewerb nach oben, so daß sich Lebensverhältnisse
verbessern und stabilisieren.
Europa soll durch Kooperation und nicht durch
soziale Konfrontation ausgebaut werden. Die Vertiefung
der EU darf auch keinen Bogen um Fragen wie die
Anpassung der Steuerpolitik machen und sollte einen
Beitrag dazu leisten, europäische Finanzmärkte einer
gesellschaftlichen Gestaltung endlich wieder zu öffnen.
Es gibt einen anderen Begriff für Vertiefung, der bes-
ser das beschreibt, was notwendig ist, nämlich Demo-
kratisierung. Ohne demokratische Reformen der euro-
päischen Institutionen, ohne europäische Grundrechte
wird Europa nicht stabiler. Demokratie und nicht Büro-
kratie schafft Stabilität und Wohlstand auch in Europa.
Der Europäische Rat in Helsinki hat der Türkei den
Status einer Beitrittskandidatin gegeben. Deutschland
hat sich hier besonders engagiert. Das haben wir auch
von der Regierungsbank schon gehört. Der Druck aus
den USA – das muß man der Fairneß halber hinzufügen
– wird seinen Beitrag dazu geleistet haben. Ein Schelm,
der Schlechtes dabei denkt.
US-Präsident Clinton hat – ich zitiere ihn – in „be-
eindruckendem Umfang Reformen im Bereich von Poli-
tik, Wirtschaft und Menschenrechten“ ausgemacht. Als
ich hier die Rede des Bundesaußenministers verfolgt ha-
be, habe ich festgestellt, daß auch er solche Reformen
erkennt. Dies ist für mich nicht nachvollziehbar.
Meine Kritik an der Bundesregierung und an ihrem
Verhalten in Helsinki ist eine völlig andere als die der
CDU. Die Türkei ist in Helsinki nicht ernsthaft mit den
Stockholmer Kriterien, mit der Forderung, den Krieg
Peter Hintze
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7231
(C)
(D)
gegen Kurdinnen und Kurden einzustellen, ihnen volle
Menschenrechte, kulturelle und Bürgerrechte sowie eine
Selbstverwaltung einzuräumen, konfrontiert worden,
auch nicht vom deutschen Kanzler. Es ist doch erkennt-
nisreich und aufhellend, wenn in der Regierungserklä-
rung von Kanzler Schröder der Begriff „Kurdinnen und
Kurden“ überhaupt nicht auftaucht.
Man redet sich um dieses Problem herum. Ohne volle
demokratische Rechte für Kurdinnen und Kurden, ohne
Frieden mit ihnen wird es keine Demokratisierung der
Türkei geben. Deswegen muß man auch von Kurdinnen
und Kurden reden, wenn sie gemeint sind. So viel Mut
sollten Sie noch aufbringen können.
Egal, ob es um Tschetschenien, um den Kosovo oder
die Türkei geht, Augenzwinkern in Fragen der Men-
schenrechte, Menschenrechte nach Interessenlage wer-
den sich nicht auszahlen. Wir sind dafür, daß prinzipiell
Menschenrechte verteidigt werden: in Tschetschenien,
im Kosovo und in der Türkei. Dazu gehören auch die
Rechte der Kurdinnen und Kurden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Entscheidungen
des Gipfels zur europäischen Verteidigungsunion be-
zeichnet die Bundesregierung als „epochal“. Aus meiner
Sicht wäre „katastrophal“ das bessere Wort. Mit diesem
Beschluß wendet sich der ganze Charakter der Europäi-
schen Union in eine falsche Richtung. Aus einer zivilen
Gemeinschaft wird auch ein militärisches Bündnis. Das
lehnt die PDS ab.
Das Auswärtige Amt läßt hören, daß der Beschluß
von Helsinki noch kein Beschluß zu einer europäischen
Armee sei. Daß man darüber nicht so offen redet, sei
insbesondere dem Umstand geschuldet, daß man die
neutralen Staaten nicht beunruhigen wolle. Aber die
Richtung ist eingeschlagen worden. Man will in letzter
Konsequenz eine europäische Armee.
Wer eine europäische Armee will und dazu mit den
Krisenreaktionskräften die Voraussetzungen schafft, wer
sich darauf vorbereitet, 60 000 Soldaten über ein Jahr in
allen Teilen der Welt einsetzen zu können, der stellt ein
weiteres Eingreifen à la Kosovo in Rechnung, der de-
formiert und verändert die Europäische Union in einer
falschen Art und Weise.
Mit der Entscheidung von Helsinki, mit der Verbin-
dung der militärischen Komponente der Europäischen
Union mit der NATO, hat sich die NATO endgültig
einen Stuhl am europäischen Tisch erobert. NATO und
Europäische Union sollen verbunden werden. Kein
Mensch fragt die Länder, die bewußt aus bestimmten
Gründen nicht in die NATO gegangen sind. Keiner stellt
die Sicherheitsfrage von Rußland in Rechnung. Wenn
dieser militärische Weg der Europäischen Union einge-
schlagen wird, wird es in Europa nicht mehr, sondern
weniger Sicherheit geben.
Das Europäische Parlament wie auch die nationalen
Parlamente sollen bei dieser Frage keinerlei Mitsprache-
rechte haben. Schon daran sieht man: Wer sich auf das
militärische Gebiet begibt, wer aus der EU zusätzlich ein
Militärbündnis macht, fängt auch immer an, demokrati-
sche Rechte abzubauen. Dieser Weg ist falsch, und die-
sen Weg wollen wir nicht mitgehen.
Ich erteile nun dem
Kollegen Gert Weisskirchen, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, daß
die Union heute eine Debattenstrategie verfolgt, die un-
terhalb ihres eigenen Wissens und unterhalb ihrer eige-
nen Fähigkeiten liegt. Das wundert mich sehr. Wenn Sie
heute, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union,
einmal in den „Tagesspiegel“, eine Berliner Zeitung,
hineinschauen, finden Sie einen bedenkenswerten Arti-
kel von Wulf Schönbohm. Das ist jemand, der sich in
der Türkei sehr gut auskennt. Er ist der Leiter der dorti-
gen Vertretung der Konrad-Adenauer-Stiftung. Lesen
Sie einmal nach, was Ihr eigener CDU-Kollege Wulf
Schönbohm sagt. Ich zitiere nur den Kern dessen, was
er beschrieben hat:
Es besteht also die Hoffnung
– das sagt er mit dem Blick auf das, was in Helsinki ver-
abredet worden ist –,
daß diese langwierigen Konflikte zwischen beiden
Ländern
– Griechenland und Türkei –
friedlich gelöst werden können. Die EU-Mitglied-
schaftsperspektive für die Türkei fördert diesen
Prozeß.
Genau darum geht es. Wir wollen Prozesse des ge-
meinsamen Zusammenlebens in der Ägäis fördern. Wir
wollen Prozesse fördern, die nun nach über 30 Jahren in
einer Sackgasse gelandet sind. Wir wollen Prozesse des
gemeinsamen Ausgleichs zwischen Griechenland und
der Türkei fördern. Wer kann eigentlich dagegen sein?
Ich wundere mich darüber, daß Sie in diesem Punkt eine
ganz merkwürdige Haltung an den Tag legen.
Das zweite – darum ging es in Helsinki auch – hat
auch etwas mit unserer eigenen innenpolitischen Situati-
on zu tun. Herr Schäuble, Sie sind hierbei Experte für
Populismus, wenn es sein muß. Das haben wir in diesem
Jahr schon erlebt.
Die wichtigste Folge des Kandidatenstatus wird
aber sein
– schreibt Wulf Schönbohm weiter –,
daß die Türkei nunmehr permanent in den politi-
schen Diskurs in Europa einbezogen und zum poli-
tischen Dialog gezwungen ist. Anregungen und
Kritik aus Europa kann sie jetzt nicht mehr als
Einmischung in die inneren Angelegenheiten oder
als Böswilligkeit abtun. Jetzt muß sie, so wie Euro-
pa auch, politisch Farbe bekennen.
Wolfgang Gehrcke
7232 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Ich finde, das ist genau der Kernsatz, der zeigt, wor-
um es geht: Jetzt müssen die Türkei und Europa poli-
tisch Farbe bekennen.
Sie aber bekennen keine Farbe. Sie schüren Ängste.
So ist übrigens auch bei Herrn Gehrcke ganz merkwür-
digerweise der Begriff der Angst in der Ablehnung des-
sen, was in Helsinki beschlossen worden ist, der Schlüs-
selbegriff gewesen.
Das ist eine merkwürdige Fast-Koalition. Das ist ein
Zusammenspiel, lieber Herr Gysi, zwischen den Rechts-
populisten und den Linkspopulisten. Das ist das, was wir
vermuten und wissen und wovor wir, jedenfalls diejeni-
gen, die genügend Vernunft in ihrem Kopf haben, war-
nen.
Worum es jetzt geht, ist, daß die Türkei die Chance
bekommt, sich selbst zu europäisieren, dafür zu sorgen,
daß die Kräfte der zivilen Gesellschaft in der Türkei
wachsen können und stark werden können. Das ist die
wichtigste Vorbedingung überhaupt, damit die Türkei
eine Chance hat, Mitglied der Europäischen Union zu
werden. Ich finde, das ist ein gewaltiger Schritt nach
vorn. Ich fände es gut, wenn die Union dies intellektuell
begreifen würde. Dies liegt genau in ihrer eigenen, in
der inneren Tradition der Christlich-Demokratischen
Union. Ich würde mich wundern, wenn es anders wäre,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union.
Lieber Kollege Schäuble und andere, was ist denn der
Grund dafür, daß Sie nicht nur den falschen Kurs von
Luxemburg fortsetzen, sondern am Ende möglicherwei-
se – ich weiß es nicht; nun bewege ich mich auf dem
Boden der Spekulation – zu einem Nein des gemeinsa-
men europäischen Projekts kommen könnten? Jacques
Le Goff, ein französischer Historiker von hohem Rang,
macht uns deutlich, was das eigentliche Dilemma Euro-
pas ist, nämlich daß Europa immer wieder denkt – das
ist doch eine schreckliche Tradition in Europa –, mit
dem Begriff des Ausschließens dann operieren zu kön-
nen, wenn die inneren Konflikte nicht mehr zu bewälti-
gen sind. Das ist die Gefahr, vor der Europa steht.
Schauen Sie doch in die Geschichte Europas zurück:
Das war so, als es vor einigen Jahrhunderten darum
ging, die Araber aus Europa zu vertreiben; das war so,
als es darum ging, in deren Gefolge die Juden aus Euro-
pa zu vertreiben – schon damals im Süden Spaniens –;
das war so, als es darum ging, daß Hitler den Völker-
mord, die Endlösung, die Extermination der Juden, vor-
hatte. Immer ging es in den schrecklichen Traditionen
dieses Jahrhunderts darum, ein Konzept des Ausschlie-
ßens durchzusetzen gegenüber allem, was anders ist als
das, was wir für das Europäische halten.
Das ist, so glaube ich, das Problem, das dahintersteht.
Ich bitte Sie darum: Denken Sie darüber nach! Jetzt
kommen wir in eine neue, historische Phase, in der die
alten Schismen, die alten Trennungen, alles das, was
Europa in den letzten Jahrhunderten – und in diesem
Jahrhundert besonders – auseinandergerissen hat, über-
wunden werden können. Jetzt bekommen wir die Chan-
ce, ein gemeinsames Europa neu zu beginnen. Da kann
es doch nicht sein, daß die religiösen Argumente
schließlich die durchschlagenden sind, wenn es darum
geht, das alte Konzept des Ausschließens hinter uns zu
lassen und ein neues Konzept – das sagt Jacques Le
Goff sehr präzise –, ein Konzept des Einschließens, zu
beginnen.
Das ist der qualitative Sprung, vor dem Europa steht.
Diese Bundesregierung sorgt mit dafür, daß die Türkei
– und schließlich auch der Islam – in einem Läuterungs-
prozeß ein wirkliches Fundament Europas wird. Wir
würden damit zu guten Traditionen Europas zurückkeh-
ren, die in der Vergangenheit eben nicht nur auf Aus-
grenzung beruht haben – darauf, auszuschließen, wegzu-
schieben, zu verdrängen –, sondern darauf, die kulturel-
len Kräfte, die es in diesem Kontinent gibt, zueinander-
zuführen, ein neues Europa zu beginnen, das eine Zivil-
macht auf der Erde werden kann.
Ich empfehle Ihnen, über die nächsten Tage einmal
das Buch „Kopf an Kopf“ von Lester Thurow, das er ge-
rade veröffentlicht hat, anzuschauen, in dem er versucht,
die Potentiale zu vergleichen, die in den USA, in Europa
und in Südostasien, besonders Japan, stecken. Er ver-
gleicht die Entwicklungsmöglichkeiten und weist darauf
hin, was für Europa spricht: Europa wird im nächsten
Jahrhundert die große Chance haben, d i e starke Zivil-
macht auf der Erde zu werden.
Wenn Helsinki 1999 dazu einen vernünftigen Beitrag
geleistet hat, dann tritt das ein, was der Bundeskanzler
zu Beginn gesagt hat: daß wir zu Helsinki 1975 zurück-
kehren. Das nämlich war der Beginn, sozusagen der Er-
öffnungsakkord dafür, daß hier drüben die Mauer hat
einstürzen können, daß Menschen sich Freiheit und
Menschenrechte zu eigen gemacht haben, um ein Euro-
pa von unten neu zu beginnen, die Freiheit durch eige-
nes Handeln selbst zu realisieren. Das war der Beginn
1975. Der Beginn 1999 in Helsinki ist, ein neues Europa
zu schaffen, das Freiheit, Brüderlichkeit, Gerechtigkeit
und Solidarität in einen neuen Zusammenhang bringt,
bei dem niemand ausgeschlossen werden kann, der zu
diesem Europa gehört und der sich selbst dafür qualifi-
ziert. Die Türkei kann dazugehören. Ein schwieriger, ein
offener Prozeß liegt vor uns. Wir können diesen Prozeß
gemeinsam gestalten, wenn wir den Menschen in der
Türkei helfen, auf diesem Weg gemeinsam nach Europa
zu kommen.
Herzlichen Dank der Bundesregierung, daß sie diese
Öffnung in Helsinki 1999 geschaffen hat.
Ich erteile dem Kol-
legen Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Gert Weisskirchen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7233
(C)
(D)
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Der Europäische Rat in Helsinki hat
Beschlüsse gebracht, die die Europäische Union in
einem Maße verändern, wie es heute überhaupt noch
nicht abschätzbar ist. Darüber wollen wir in allererster
Linie reden. Wir haben heute keine Türkeidebatte, ob-
wohl ich auf dieses Thema natürlich auch noch zurück-
kommen muß.
Die Institutionen, die für das Funktionieren eines
Europas mit sechs Mitgliedern geschaffen worden sind,
sind bereits heute in ihrer Handlungsfähigkeit beein-
trächtigt. Es war ja vorhin schon einmal die Rede von
den Verpflichtungen aus dem Jahr 1963. 1963 war die
Europäische Union keine politische Union. Sie hieß da-
mals noch Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, und
die Beziehungen, die damals geknüpft worden sind, wa-
ren rein wirtschaftlicher Natur. Ich glaube, das muß man
der Ehrlichkeit halber bei einer solchen Debatte auch
sagen.
Eine Union mit 27 oder, wenn die Türkei dazu
kommt, mit 28 Mitgliedern ist ohne eine umfassende in-
stitutionelle Reform völlig handlungsunfähig. Ich habe
das Gefühl, in Helsinki ist der zweite Schritt vor dem er-
sten Schritt getan worden.
Zum weiteren Reformprozeß, der zur Vertiefung der
Europäischen Union führen soll, hat der Europäische
Rat zwar eine Reihe von Maßnahmen angekündigt. Die-
se sind aber bis jetzt noch vollkommen unzureichend.
Natürlich – „leftovers“ sind genannt worden – muß
die Stimmengewichtung im Rat neu geregelt und künf-
tig entsprechend der Bevölkerungszahl möglich sein.
Natürlich muß die Zahl der Kommissare neu festgelegt
werden, damit die Kommission bei einer größeren Zahl
von Mitgliedern arbeitsfähig bleibt. Es ist genauso
selbstverständlich, daß in Zukunft die Mehrheitsent-
scheidungen im Rat ausgeweitet werden müssen, um
eine Blockade durch einzelne Länder zu verhindern: Je
größer diese Union wird, desto stärker ist diese Gefahr.
Es muß allerdings eines auch ganz klar sein: Eine
Mehrheitsentscheidung kann und darf es nicht geben,
um der EU-Kommission zu ermöglichen, neue Zustän-
digkeiten an sich zu ziehen oder gegen den Willen
wichtiger Mitgliedsländer neue EU-Steuern einzuführen,
wie es die grüne Kommissarin Michaele Schreyer will.
Wenn lediglich diese Felder neu geregelt werden
sollen, dann ist für uns die Europäische Union nicht er-
weiterungsfähig. Einige grundsätzliche Reformen müs-
sen darüber hinaus unbedingt in Angriff genommen
werden. Dazu gehört vor allen Dingen eine schärfere
und präzisere Definition des Subsidiaritätsprinzips in
den Europäischen Verträgen.
Wenn wir in Europa künftig stärker zu Mehrheitsent-
scheidungen kommen wollen, dann muß klar sein, was
eine nationale und was eine europäische Aufgabe ist. In-
sofern hat der Bundesaußenminister hier mehr Sach-
verstand erkennen lassen, als es aus der Erklärung des
Bundeskanzlers herauszulesen war.
Die Nationalstaaten müssen dann selbstverständlich
im Rahmen ihrer Zuständigkeit in ihrem Staatsaufbau
diese Zuständigkeiten regeln und verteilen. Es hat kei-
nen Sinn, immer mehr politische Entscheidungen auf der
europäischen Ebene zu treffen, die dann von den Men-
schen nicht mehr verstanden werden und die deswegen
oft als pure Schikane empfunden werden.
Voll demokratisch legitimiert sind bei uns letztend-
lich nur die Nationalstaaten. Niemand fühlt sich durch
Brüssel ausreichend vertreten. Auch das ist etwas, was
uns Sorgen machen sollte. Deshalb können auch nur die
Nationalstaaten letztendlich darüber entscheiden, welche
Zuständigkeiten sie nach Brüssel abgeben wollen.
Damit sind wir bei dem Fachausdruck „Kompetenz-
kompetenz“. Ich habe manchmal den Eindruck, das na-
tionale Parlament, unser Deutscher Bundestag, ist viel
zu sehr ausgeschaltet, wenn es um Entscheidungen dar-
über geht, Kompetenzen nach Brüssel zu geben.
– Den Eindruck habe ich schon seit einiger Zeit, nur
vertieft er sich unter dieser Bundesregierung, verehrter
Herr Kollege Poß.
In der Asylpolitik, in der Sicherheitspolitik, in der
Außen- und Verteidigungspolitik wird es sicher in Zu-
kunft mehr europäische Zuständigkeit geben müssen. In
dieser Frage sind wir uns einig.
Eine Gemeinschaft mit 27 oder sogar 28 Mitglieds-
ländern ist zu groß, als daß auf Unionsebene auch noch
der Katastrophenschutz, die Hundesteuer oder die Frem-
denverkehrspolitik geregelt werden könnten. All dies
kann vor Ort besser geregelt werden.
– Ich möchte Ihren Zwischenruf, Herr Poß, gerne auf-
nehmen. Wenn Ihnen zu den Sorgen und den alltägli-
chen Angelegenheiten der Bürgerinnen und Bürger
nichts anderes als „Kuriositätenkabarett“ einfällt, dann
kann ich Ihre Einstellung zu Europa nicht nachvollzie-
hen.
Ihre Arroganz, alles an der Bevölkerung vorbei machen
zu wollen, wird Ihnen noch vergehen.
80 Prozent der europäischen Rechtsakte werden
praktisch auf der Ebene von Beamtenausschüssen ge-
troffen. Hinsichtlich der Rechtsetzung in der Europäi-
schen Union zeigt sich ein großes Demokratiedefizit.
Der Deutsche Bundestag ist an der Gestaltung der Euro-
7234 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
papolitik und an der Umsetzung von EU-Richtlinien und
-Verordnungen, wie ich meine, nur unzureichend betei-
ligt, und dies, obwohl viele Entscheidungen auf europäi-
scher Ebene – wie an den Beispielen vorhin deutlich
geworden ist – in unsere Innenpolitik hineinwirken.
Mit dem Beitritt von 12 weiteren Staaten entsteht eine
andere Europäische Union. Ihr Charakter wird sich
erheblich verändern. Darüber ist schon gesprochen
worden. Der Beitritt der 12 Kandidaten bedeutet eine
Zunahme der EU-Bevölkerung um ein Drittel auf
immerhin 480 Millionen Menschen. Die Einbeziehung
der Türkei würde bedeuten, daß die EU-Bevölkerung
auf über 540 Millionen Menschen ansteigt. In gesell-
schaftlicher, kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht
wird die Gemeinschaft deswegen sehr viel unterschied-
licher werden. Das ist ganz natürlich und selbstver-
ständlich. Aber besonders problematisch – darüber kann
man sich nicht hinwegsetzen – ist das Wohlstandsgefälle
zwischen der heutigen Europäischen Union und den
Beitrittskandidaten. Dafür ist die Union nicht gerüstet,
weil die deutsche Präsidentschaft unter Gerhard Schrö-
der hier vollkommen versagt hat
und die Bundesregierung in Berlin nicht ihre Hausauf-
gaben gemacht hat.
Derzeit werden noch immer EU-Mitglieder unter-
stützt, wenn deren Pro-Kopf-Einkommen nicht 90 Pro-
zent des EU-Durchschnitts erreicht. Sie sind dann Emp-
fänger von Mitteln aus dem sogenannten Kohäsions-
fonds. Jetzt werden Beitrittsverhandlungen mit Ländern
forciert – das ist der Beschluß von Helsinki –, die nicht
einmal 30 Prozent des durchschnittlichen Pro-Kopf-
Einkommens erreichen. Die Summe der Wirtschaftskraft
der 12 Beitrittskandidaten – ich lasse die Türkei außen
vor; auf sie komme ich noch zu sprechen – entspricht
lediglich der Wirtschaftskraft der Niederlande, also
einem kleinen Land in der Europäischen Union. Wir
müssen uns diese Dimensionen vergegenwärtigen.
Der hohe landwirtschaftliche Anteil am Bruttosozial-
produkt der Beitrittskandidaten wird den EU-
Agrarhaushalt sprengen. Nun kann man sagen: Was
soll es? Die Bauern sind der SPD sowieso egal. Des-
wegen kann man sich einfach über sie hinwegsetzen.
Zumindest Ihre bisherigen Beschlüsse haben dies
gezeigt.
Der während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft
festgelegte Finanzrahmen reicht für eine Erweiterung
bei weitem nicht aus. Es gibt schon gewaltige Probleme,
die Erweiterung um sechs Länder zu verkraften. Das ist
ungelöst. Alles, was in Helsinki darüber hinaus verspro-
chen worden ist, sind in finanzieller Hinsicht ungedeckte
Wechsel. Wir brauchen deswegen eine realistische Kal-
kulation der Beitrittskosten. Davon habe zumindest ich
nichts aus Helsinki gehört.
Wir brauchen auch eine gerechtere Verteilung der
Lasten innerhalb der Zahlerländer. Die Osterweiterung
der EU darf nicht auf dem Rücken der deutschen Steu-
erbürger ausgetragen werden. Schon aus diesem Grund
wäre es wichtig und richtig gewesen, die sogenannte er-
ste Erweiterungsrunde erst einmal zu verkraften, bevor
man jetzt Hals über Kopf die Zahl der Beitrittskandida-
ten verdoppelt. Die Sorgfalt, die der Europäische Rat
und die Europäische Kommission 1993 bei der Auswahl
der Kandidaten an den Tag gelegt haben, ist nicht in
gleicher Weise in Helsinki angewendet worden. Man
kann Länder wie Rumänien und die Slowakei, die wirt-
schaftlich meilenweit auseinander liegen, nicht einfach
über einen Kamm scheren. Ich könnte zwar jetzt die
Zahlen auf den Tisch legen, aber dies würde zu weit füh-
ren. Eine zeitliche Differenzierung bezüglich der Kandi-
datenauswahl wäre selbstverständlich wichtig gewesen.
Das läßt allerdings den Schluß zu, daß zuwenig auf
den Gleichklang von politischen und wirtschaftlichen
Kriterien geachtet worden ist. Wir können die wirt-
schaftlichen Kriterien nicht außer acht lassen, wenn wir
wollen, daß das Fundament dieser Europäischen Union
stabil bleibt.
Wie bei der Einführung des Euro muß auch bei der
Osterweiterung gelten: Die strikte Einhaltung der Kri-
terien ist wichtiger als das Tempo des Beitritts. Auch
das müssen wir am Anfang sagen, damit es bei den bei-
trittswilligen Ländern keine enttäuschten Erwartungen
gibt. Die Beitrittskandidaten bedürfen einer funktions-
fähigen Marktwirtschaft sowie der Fähigkeit, dem Wett-
bewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der
Europäischen Union standzuhalten. Die Beachtung von
Menschenrechten oder die Abschaffung der Todesstrafe
sind Selbstverständlichkeiten. Aber dies allein genügt
natürlich bei weitem nicht, und es lenkt nur von den an-
deren wichtigen Debatten ab.
Die Kandidaten müssen fähig sein, die aus einer Mit-
gliedschaft erwachsenen Verpflichtungen zu überneh-
men und sich die Ziele der politischen Union sowie der
Wirtschafts- und Währungsunion aus eigener Kraft zu
eigen zu machen. Wer an diesen Voraussetzungen rüt-
telt, der legt im Grunde genommen Sprengsatz an das
Haus Europa.
– Das tut unter anderem der Herr Bundeskanzler, der
sich auch heute wieder über alle Bedenken mit einer
großen Nonchalance hinweggesetzt
und statt dessen versucht hat, mit ein paar Flegeleien die
Debatten auf Nebenthemen zu lenken.
Michael Glos
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7235
(C)
(D)
Länder wie Tschechien, Ungarn und Polen haben in
den letzten zehn Jahren wirtschaftlich unverkennbare
Fortschritte gemacht, obwohl sie den Schutt des Sozia-
lismus wegräumen mußten. Diese Länder haben ihr Pro-
Kopf-Einkommen in dieser Zeit immerhin verdoppelt.
Das ist eine gewaltige Leistung.
Ich komme zur Türkei. Die Türkei ist während dieser
Zeit leider nur auf der Stelle getreten. Auch das gehört
zur nüchternen Bestandsaufnahme, wenn man über neue
EU-Beitrittskandidaten spricht.
Auch in politischer Hinsicht ist die Türkei noch so weit
von der Erfüllung der Beitrittskriterien entfernt, daß die
Aufnahme von Verhandlungen, wie ich meine, auf
absehbare Zeit undenkbar ist.
Dies gilt, obwohl sich Ministerpräsident Ecevit, den
man extra nach Helsinki hat einfliegen lassen – Chirac
hat seine Maschine gestellt –, überlegt hatte, welche
Bedingungen er noch stellen kann, bevor er den roten
Teppich in Helsinki beschritten hat. Das ist schon ein
gewaltiger Unterschied zu Luxemburg. Ich sage das nur,
weil es vorhin in der Diskussion war. Ecevit hat laut
„Hürriyet“ erklärt, in spätestens fünf Jahren werde die
Türkei Vollmitglied in der EU sein. Das zeigt aber auch,
wie weit die Erwartungen letztendlich auseinanderlie-
gen.
– „Unehrlich“, vielen Dank. – Es gibt nichts Schlimme-
res – –
– Ich möchte meinen Satz jetzt zu Ende bringen. Ich las-
se mich nicht durch Zwischenrufe ablenken. – Ent-
täuschte Erwartungen führen letztendlich immer ins Un-
glück. Sie begründen keine, sondern sie verderben
Freundschaft.
Wenn wir über die Türkei reden, dann müssen wir
auch an ihre schiere Größe denken. Sie hat heute schon
65 Millionen Einwohner und eine Geburtenrate von 2,3
Prozent. Damit wäre die Türkei in absehbarer Zeit das
bevölkerungsstärkste Land der Europäischen Union. Die
Aufnahme der Türkei sprengt das Fassungsvermögen
der Europäischen Union. Das stellt vor allen Dingen die
Toleranz- und Integrationsbereitschaft unserer Bürger
auf eine harte Belastungsprobe.
Es ist vorhin das Argument gebraucht worden, daß
die Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen
Union auch ein zusätzliches Integrationsangebot an die
bei uns lebenden türkischen Mitbürger sein soll. Das
kann ich nicht nachvollziehen. Dieses Argument bedeu-
tet in der Wirkung sogar Feindlichkeit für die Integra-
tion in die deutsche Gesellschaft. Wir wollen, daß sich
unsere türkischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die
dauerhaft und rechtmäßig hier leben, in unsere deutsche
Gesellschaft und Gemeinschaft integrieren. Wir wollen
nicht, daß sie in Nischen, Wartestellungen und Warte-
schleifen bleiben.
Damit ich nicht falsch verstanden und als Türkei-
Gegner hingestellt werde,
wiederhole ich: Wir haben hohen Respekt vor den Lei-
stungen unserer türkischen Mitbürger. Wir schätzen die
Freundschaft unseres Partners und NATO-Verbündeten
Türkei. Freundschaft bedeutet aber auch – so wünsche
ich mir Freundschaft –, daß man ehrlich miteinander
umgeht.
Die Türkei braucht eine europäische Perspektive; das ist
richtig. Deswegen brauchen wir besondere Beziehungen
zu unserem bedeutenden Nachbarland Türkei, das in
einer wichtigen Region eine ungeheuer große Rolle
spielt. Aber das muß nicht zwangsläufig mit einer
EU-Vollmitgliedschaft verbunden sein, meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren.
Insoweit halte ich es für leichtfertig – ich bitte, dies dem
Herrn Bundeskanzler auszurichten –, der Türkei den
Status eines Beitrittskandidaten zuzuerkennen, bevor es
eine ausführliche Diskussion über die künftigen Gren-
zen und das Selbstverständnis der Europäischen Union
gegeben hat.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen – darüber kann
man sich auch nicht einfach hinwegsetzen –, daß 54
Prozent der deutschen Bevölkerung gegen einen EU-
Beitritt der Türkei sind. Bei den Anhängern der Grünen
– deswegen war Herr Fischer vorhin auch so aufgeregt –
sind es sogar 66 Prozent. Er hat also große Schwierig-
keiten, diese Entscheidung bei seinen eigenen Freunden
und Freundinnen zu rechtfertigen.
Vor derart weitreichenden Entscheidungen hätten zu-
nächst folgende Fragen diskutiert und beantwortet wer-
den müssen: Wie weit reicht Europa geographisch?
Reicht Europa wirklich bis zum Iran und zum Irak? Mit
welchem Recht können wir Ländern wie der Ukraine –
vorhin hat Wolfgang Schäuble bereits Rußland genannt
– den Beitritt zur EU verwehren, wenn die EU mit dem
Beitritt der Türkei ihre Grenzen über den Bosporus hin-
aus auf nichteuropäisches Gebiet bis hin zum Iran und
Irak ausweitet? Auch die Frage, wie viele Mitgliedstaa-
ten die Europäische Union verkraften kann, ohne daß sie
zu einem nicht mehr beherrschbaren politischen Gebilde
wird und die Akzeptanz der Bürger verliert, ist nicht be-
antwortet. Wieviel wirtschaftliches Gefälle zwischen
den verschiedenen Regionen Europas ist verkraftbar,
ohne daß es zu unerwünschten Wanderungsbewegungen
innerhalb der Europäischen Union kommt?
Michael Glos
7236 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Das Gebilde, wie es sich jetzt abzeichnet, hat mit der
Idee der Gründerväter Europas – Konrad Adenauer, Ro-
bert Schuman, Alcide De Gaspari – eigentlich nichts
mehr zu tun.
Wer Europa statt zu einer Schicksals- und Wertegemein-
schaft lediglich zu einer Freihandelszone und einer
Union der Beliebigkeit machen will, betreibt im Grunde
das Geschäft der Antieuropäer. Wir jedenfalls werden
diesen falschen Weg nicht mitgehen.
– Das sind die CDU und die CSU.
Wir werden – das kann ich für die CSU erklären – diese
Entscheidung mit unserem Volk, dem deutschen Volk,
weiterhin intensiv diskutieren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Glos, Sie
müssen bitte zum Schluß kommen.
Vielen Dank, Frau Prä-
sidentin.
Mein letzter Satz: Das Ziel der CSU ist nicht, Europa
zu diskreditieren, sondern, unsere Kraft dafür einzuset-
zen, Europa für die Zukunft als lebens- und liebenswerte
Schicksalsgemeinschaft zu erhalten.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Norbert Wieczorek.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Ich fand die Reden von
Herrn Schäuble und Herrn Glos ganz interessant,
möchte ihnen aber ein Zitat entgegenhalten:
Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes muß eine
stabile Ordnung auch für den östlichen Teil des
Kontinents gefunden werden. Daran hat Deutsch-
land ein besonderes Interesse, weil es auf Grund
seiner Lage schneller und unmittelbarer als alle an-
deren von den Folgen östlicher Instabilität betroffen
wäre. Die einzige Lösung dieses Ordnungspro-
blems … ist die Eingliederung der mittel- und ost-
(C)
(D)
– Entschuldigung, Herr Kollege Müller, aber dieser Zuruf
ist ein wenig neben der Kapp’; davon reden wir nicht.
Es geht darum, zu sehen, wie dieser Prozeß läuft. Be-
vor man mit den eigentlichen Verhandlungen beginnen
kann, gilt es, die Erfüllung der politischen Kriterien
genau einzufordern und mit dieser Wegweisung, wie es
Griechenland gefordert und wie es der Rat in Helsinki
dankenswerterweise beschlossen hat, fortzufahren. Dazu
zählen natürlich auch wirtschaftliche Fragen und
Rechtsfragen.
Ich will noch einen Punkt deutlich machen. Wenn die
Türkei die Frage der Minderheitenrechte und der Men-
schenrechte in Ostanatolien, also in dem Gebiet, wo die
sehr große Minderheit der Kurden lebt, nicht zufrieden-
stellend in Ordnung bringt, dann wird sie die wirt-
schaftlichen Kriterien nicht erfüllen können. In diesem
Gebiet, in dem es nur mangelhaften Rechtsschutz und
keine rechtsstaatlichen Beziehungen gibt, wo das Militär
mehr oder minder handelt, wie es will, wird es nämlich
keine Investitionen und damit keine Verbesserung der
wirtschaftlichen Situation geben. Diese kann es nur bei
kultureller Freiheit und bei Beachtung der Menschen-
rechte geben.
Hier gibt es einen unmittelbaren Zusammenhang zwi-
schen der erstmalig in dieser Schärfe gegebenen Tren-
nung. Bei anderen Erweiterungsländern machen wir die-
se Trennung nämlich nicht.
Politische Kriterien müssen erfüllt werden. Erst dann
kann über Verhandlungen geredet werden. Bei diesen
gelten dann die entsprechenden Kriterien von Kopen-
hagen. Ich möchte das einmal klarmachen, ehe Sie
weitere Ängste schüren, Herr Glos. Wir kennen uns ja
schon länger, gerade deswegen habe ich wenig Ver-
ständnis dafür, wenn Sie bei der deutschen Bevölkerung
den Eindruck erwecken, als ob die Türkei ganz schnell
hereinkommen werde, und alles andere egal sei.
– Ich habe das gelesen, aber ich bin doch nicht Herr
Ecevit. Nehmen Sie sich als deutsche Parlamentarier
einmal selber ernst, und denken Sie an die Währungs-
union. Damals haben wir gemeinsam darauf bestanden,
daß die Kriterien erfüllt sein müssen. Auch ich habe ge-
rade davon gesprochen, daß wir die Einhaltung der poli-
tischen Kriterien gemeinsam einfordern müssen. Wir tun
das. Ich kann Sie nur davor warnen, sich jetzt von die-
sem gemeinsamen Standpunkt zu verabschieden und
populistisch Ängste in der Bevölkerung zu schüren. Ich
bin traurig, wenn Herr Schäuble das indirekt mitmacht.
Der Europäer Kohl hat immerhin von ihm gesagt, er sei
einer der wenigen, der Europa im Herzblut habe. Ich
hoffe, daß er dieses Herzblut noch hat.
Jetzt zum zweiten Teil: Sie treiben bezüglich der Re-
gierungskonferenz ein ähnliches Spiel. Sie fordern ei-
nerseits, daß der Erweiterungsprozeß schleunigst voran-
gebracht werden müsse und andererseits eine breite Ta-
gesordnung auf der Regierungskonferenz abgehandelt
werden solle. Wir fordern, daß das dringlichst gemacht
wird. Der Hintergrund dieser Forderung war, daß dar-
über in Amsterdam kein Beschluß gefaßt wurde. Sie
sprachen in diesem Zusammenhang von „left-overs“;
das ist politischer Jargon und eine völlig falsche Be-
zeichnung. Tatsächlich geht es hierbei um den Kern der
Regierungskonferenz, nämlich um die weitere Funk-
tionsfähigkeit der EU. Darüber sind wir uns hoffentlich
einig. Die Ursachen dafür, daß das erst jetzt verhandelt
werden kann, gehen aber schon auf den informellen Gip-
fel von Noordwijk zurück, weil damals die Positionen
von Herrn Chirac und Herrn Kohl nicht mehr auf eine
Linie zu bringen waren. Das ist doch die Wahrheit.
Ich bin sehr froh, daß die französische Regierung –
ich könnte hier den französischen Europaminister
Moskovici zitieren, der sich gerade dazu geäußert hat –
jetzt gesagt hat: Man darf diese Konferenzen nicht auf
alle möglichen Themen, die wünschenswert sind, aus-
weiten, sonst wird man nicht fertig.
Frankreich ist ja auch die Verpflichtung eingegangen,
die ganz wichtigen Punkte, über die in Amsterdam keine
Einigung erzielt werden konnte, jetzt während seiner
Präsidentschaft in Angriff zu nehmen und auf dem Gip-
Dr. Norbert Wieczorek
7238 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
fel in Nizza zum Abschluß zu bringen. Das halte ich für
einen ganz großen Fortschritt. Sie tun so, als ob das alles
zuwenig sei und man möglichst das Dehaene-Papier um-
setzen müsse. Ich frage gerade einmal Sie als Bayer
ganz vorsichtig, ob die bayrische Landesregierung
ernsthaft bereit wäre, die bundesdeutsche Verfassung
gemäß dem Dehaene-Papier zu ändern. Außerdem fra-
ge ich Sie, wie Sie mit dem Kompetenzenkatalog um-
gehen wollen vor dem Hintergrund, daß verschiedene
Länder jeweils andere Kompetenzen für die EU wollen.
Wie wollen Sie das alles ratifizieren?
Ebenso frage ich mich, nachdem der Vermittlungsaus-
schuß gestern bis in die Nacht getagt hat, was aus dem
bundesdeutschen Kompetenzenkatalog, der im Grundge-
setz enthalten ist, in der Praxis geworden ist. Sie setzen
Spuren in die Welt, die nicht weiterführen.
Die EU hat immer dann ihre Strukturen verändert und
vertieft, wenn Druck da war. Die Währungsunion – das
war bei Werner schon einmal angesprochen worden – ist
gekommen, als die Wechselkursschwankungen zwi-
schen Dollar, Yen und D-Mark und anderen Währungen
innerhalb der EU selbst nicht mehr auszuhalten waren,
also das EWS nicht mehr aufrechtzuerhalten war. Im üb-
rigen können wir auch eine ungeheure Beschleunigung
bei der Entwicklung der Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik nach den Erfahrungen im Kosovo
und auf dem Balkan feststellen. Nur dadurch ist man
hier vorangekommen. So geht der europäische Eini-
gungsprozeß weiter. Für jeden Bereich muß jeweils das,
was machbar ist, institutionell und vertragsmäßig veran-
kert werden. Mit abstrakten Debatten führen Sie Europa
nicht weiter und gewinnen auch nicht die Bevölkerung
für Europa. So entwickeln Sie auch den europäischen
Integrationsprozeß nicht weiter.
– Ich will dazu gerne noch etwas sagen. Genau hier ha-
ben Sie sich geirrt. Die CDU/CSU ist zum Glück nicht
auf die Forderung nach festen Terminen hereingefallen.
Was wollen Sie denn machen, Herr Kollege, wenn Sie
Termine festgelegt haben und dann feststellen müssen,
daß die Bedingungen nicht erfüllt sind? Wir als Euro-
päer können uns doch nur dazu verpflichten, was wir
von unserer Seite aus machen können.
– Nein, absolut nicht. Sie verwechseln nämlich Beitritts-
datum und Beitrittsfähigkeit.
Nehmen Sie das doch einmal zur Kenntnis. Sonst kann
ich Ihre Ausführungen überhaupt nicht mehr verstehen.
Das ist ja geradezu absurd, was Sie da von sich geben.
Der Antrag der CDU/CSU und ihre Argumentation in
der letzten Debatte, an der ich aus privaten Gründen lei-
der nicht teilnehmen konnte – ich bitte dafür um Nach-
sicht –, waren da vernünftiger.
Lassen Sie uns zurückkehren und gemeinsam Krite-
rien suchen, die die Türkei wirklich sauber erfüllen muß,
ehe man mit ihr Verhandlungen beginnt. Erst dann
kommen die schwierigen wirtschaftlichen Verhandlun-
gen. Lassen Sie uns bezüglich der Reform der EU-Insti-
tutionen das machen, was dringend notwendig und hier
und heute möglich ist. Lassen wir die abstrakten Debat-
ten über eine Verfassung, weil das in anderen Ländern
– etwa in Großbritannien – mit ganz anderen Begriffen
als bei uns verbunden ist, und darüber, was Finalität sei!
Ich sage jetzt etwas Boshaftes: Manchmal fühle ich
mich bei der Diskussion zur Finalität an die Diskussion
zum finalen Todesschuß erinnert, den ich der EU aber
nun wirklich nicht geben möchte. Mit Übereifer werden
wir nichts erreichen. Wir müssen das erreichen, was hier
und heute machbar ist, und müssen die Integration fort-
setzen.
Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Christian Sterzing für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aus
der Europadebatte ist nun fast eine reine Türkeidebatte
geworden. Wenn wir die Türkeifrage zu einem so zen-
tralen Thema erheben, könnte man im Grunde daraus
den Schluß ziehen, daß der Beweis erbracht ist, daß Eu-
ropa die Türkei umfaßt. Ich glaube, es ist nötig, noch
einmal auf einige der Argumente einzugehen, auch
wenn sie gerade schon von dem Kollegen Wieczorek
angesprochen worden sind.
Wir wissen, daß es nach den Entwicklungen der letz-
ten Jahre 13 Beitrittskandidaten gibt. Alle 13 erfüllen
nicht die wirtschaftlichen Kriterien, die in Kopenhagen
festgehalten worden sind. Von diesen 13 Kandidaten er-
füllt im Augenblick ein Kandidat – das ist die Türkei –
nicht die politischen Kriterien. Deshalb wird mit diesem
Land auch nicht verhandelt. Vor zwei Jahren gab es
noch zwei Kandidaten, die die politischen Kriterien
nicht erfüllten.
Ich meine die Slowakei. Wir sollten durchaus daran er-
innern, daß die Feststellung gegenüber der Türkei, über
die wir uns alle einig sind, keineswegs eine Sonderrolle
festschreibt, sondern in der Konsequenz der Kopenha-
gener Beschlüsse liegt.
Dr. Norbert Wieczorek
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7239
(C)
(D)
Deshalb glaube ich, daß wir sagen können, daß der Tür-
kei keine besondere Rolle zugeschrieben wird. Vielmehr
wird sie in den üblichen Beitrittsprozeß mit den einen
Beitritt bestimmenden Kriterien eingeordnet.
Von der Opposition wurden heute häufig Offenheit
und Ehrlichkeit gegenüber der Türkei angemahnt. Ich
denke durchaus, daß die Fragen, die Herr Kollege
Schäuble heute morgen gestellt hat, die sich mit der Er-
weiterung der EU und mit den Beschlüssen von Helsinki
befassen, diskutiert werden müssen. Aber die CDU/CSU
muß sich die Frage gefallen lassen, ob sie die Antworten
auf diese Fragen nicht schon gegeben hat. Im Grunde ist
es nämlich keine offene Debatte mehr, die Sie führen.
Dazu schaue ich mir an, was Herr Glos in der letzten
Woche in einer deutschen Tageszeitung geschrieben hat.
Dort steht:
… stellt sich bei der Diskussion über die Grundla-
gen und die zukünftige gemeinsame Basis der EU
die Frage, ob die Europäische Union nicht weiter-
hin die christlich-abendländische Tradition zum
Fundament haben sollte, mit der das Welt- und
Menschenbild des Islam unvereinbar ist.
Damit wird die Frage ganz klar beantwortet: Die Tür-
kei gehört nicht dazu. Insofern finde ich den heutigen
Appell an Offenheit und Ehrlichkeit etwas heuchlerisch.
Wenn man sich erinnert, wie vor zwei Jahren nach der
heute schon erwähnten Zusammenkunft der EVP in
Frankreich über die Äußerungen des damaligen Bundes-
kanzlers Kohl über die Türkei diskutiert worden ist und
wie von seiten des Altbundeskanzlers dementiert wor-
den ist, daß er damals gesagt habe, die Türkei gehöre
nicht dazu, dann muß man feststellen: Heute hat zumin-
dest die CSU ihre Antwort deutlich gegeben, und auch
bei weiten Teilen der CDU deutet sich diese Antwort an.
Daran wird deutlich, daß Ihr Appell Sie selber trifft.
Sie sollten nicht Fragen aufwerfen, die für Sie selbst
schon längst beantwortet sind.
Herr Glos hat heute nicht nur im Hinblick auf die
Türkei, sondern auch im Hinblick auf Fragen, die die
Vertiefung und die Weiterentwicklung der Union ange-
hen, tief in die Kiste der antieuropäischen Ressentiments
gegriffen und vieles an Vorurteilen wiederbelebt. Das
wird von der CSU eigentlich schon seit Jahren, aber seit
dem Regierungswechsel mit wachsender Heftigkeit ge-
pflegt.
– Da gibt es durchaus auch Kräfte innerhalb der CDU.
Das ist ganz sicher richtig. Aber wenn man sich die Re-
den der vorherigen und der heutigen Europadebatte an-
hört, dann spürt man schon sehr deutlich einen unter-
schiedlichen Zungenschlag zwischen dem, was von den
Vertretern der CDU gesagt wird, und dem, was von den
Vertretern der CSU gesagt wird. Man muß in Erinne-
rung rufen, daß die Auseinandersetzung über Europa die
konservativen Parteien in Großbritannien und Frank-
reich zur Spaltung gebracht hat. Nachdem die Klammer
der gemeinsamen Regierung zwischen CDU und CSU
nicht mehr besteht, zeigen sich die europapolitischen
Unterschiede immer deutlicher.
Der Kanzler hat am Anfang der Debatte auf den
historischen Zusammenhang hingewiesen, in dem die
europäische Einigung und der Integrationsprozeß zu
sehen sind. Ich glaube, daß diese Hinweise durchaus
treffend sind.
Lassen Sie mich, fokussierend auf die Europäische
Union noch sagen, daß sich mit den Entscheidungen des
Gipfels von Helsinki die Frage nach einer Vertiefung
und/oder Erweiterung der Europäischen Union sehr
deutlich beantwortet hat. Früher wurde dieser Gegensatz
gern hergestellt: Wollen wir vertiefen oder erweitern?
Jetzt hat sich sehr deutlich gezeigt, daß dies eine falsche
Alternative ist. Die Erweiterung erweist sich geradezu
als Treibsatz für die Vertiefung der Europäischen Union.
Eine glaubwürdige Beitrittsperspektive, die wir durch
die Beschlüsse von Luxemburg vor allem den mittel-
und osteuropäischen Ländern geboten haben, hat
durchaus zur Stabilisierung der demokratischen und
auch der wirtschaftlichen Verhältnisse in diesen Bei-
trittsländern beigetragen.
Natürlich gab es Rückschläge, gab es Verzögerungen,
es gibt immer noch Schwierigkeiten; aber die Bilanz
zeigt unter dem Strich, daß mit dieser Beitrittsperspek-
tive deutliche Fortschritte bewirkt werden konnten. Das
zeigt sehr klar, daß die friedenstiftende Kraft der Euro-
päischen Union sowohl innenpolitisch als auch zwi-
schenstaatlich in den letzten Jahren eine neue Bewäh-
rungsprobe bestanden hat. Diesen Weg sollten wir wei-
ter beschreiten. Diesen Weg sollten wir auch der Türkei
auf keinen Fall vorenthalten.
Die Erweiterungsbeschlüsse von Helsinki machen
deutlich, daß das Europa der Integration größer werden
muß, daß das Europa der Integration keine Wohlstands-
festung werden darf und daß dieses Europa der Integra-
tion kein christlich-abendländischer Club bleiben darf.
Europäische Identität muß positiv definiert werden als
ein Europa der Demokratie, der Solidarität, der Men-
schenrechte und auch des Friedens und der Zusammen-
arbeit.
Insofern hat mit der Jahrtausenderklärung, die erfreu-
lich kurz und knapp geblieben ist, die bei dem Gipfel in
Helsinki verabschiedet worden ist, eine Wegweisung mit
dem Verweis auf das, was in den letzten Jahrzehnten in
diesem Jahrhundert geschaffen worden ist und dem
Hinweis darauf, was weiterhin zu tun bleibt, stattgefun-
den. So heißt es am Schluß der Jahrtausenderklärung:
Wir müssen der Idee eines Europas für alle neue
Kraft verleihen, einer Idee, der jede neue Genera-
tion ihren eigenen Stempel aufprägen muß.
Ich bin der festen Überzeugung, daß das in Helsinki ge-
schehen ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache und rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 d
sowie die Zusatzpunkte 4 und 5 auf:
Christian Sterzing
7240 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
7. a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förde-
rung der Stromerzeugung aus erneuer-
Mineralölsteuergesetzes
– Drucksache 14/2341 –
Dieter Grill, Gunnar Uldall, Dr. Klaus W.
Lippold , Dietrich Austermann
und der Fraktion der CDU/CSU
Energiepolitik für das 21. Jahrhundert
– Einstieg in ein nachhaltiges, klimaver-
trägliches Energiekonzept statt Ausstieg aus
der Kernenergie
– Drucksache 14/543 –
nar Uldall, Kurt-Dieter Grill, Wolfgang Börn-
sen , weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Vorlage des Berichts zum Stromeinspei-
sungsgesetz
– Drucksache 14/2239 –
Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
CDU/CSU
Energieeinsparung durch Minderung des
Stromverbrauchs von Elektrogeräten im
Leerlaufmodus
– Drucksache 14/2348 –
Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit(federführend)Ausschuß für Wirtschaft und TechnologieAusschuß für Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Walter
Hirche, Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Zukunftsfähige Energiepolitik für den Stand-
ort Deutschland
– Drucksache 14/2364 –
Ein konkreter Baustein dieses Konzeptes steht heute
auf der Tagesordnung, nämlich eine so grundsätzliche
und weitreichende Novellierung des Gesetzes zur Förde-
rung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien,
daß wir erwarten, künftig die doppelte Menge regenera-
tiven Stroms in einer bestimmten Zeiteinheit bzw. eine
festgelegte Menge regenerativen Stroms in der Hälfte
der bisherigen Zeit gewinnen und dem Verbraucher lie-
fern zu können.
Darauf komme ich noch zurück.
Lassen Sie mich zunächst die Frage stellen, warum es
so lange zurückliegt, daß das letzte deutsche Energie-
programm veröffentlicht worden ist. Ich glaube, daß
die nicht nur anhaltende, sondern sich verstärkende
gesellschaftspolitische Kontroverse um die Nutzung der
Kernenergie die Formulierung einer praktikablen, weil
von den Bürgerinnen und Bürgern akzeptierten Energie-
politik verhindert hat, und zwar deswegen, weil der
politische Wille, die Kontroverse um die Kernenergie
als wirkliche Debatte im Volk aufzugreifen und einer
Befriedung zuzuführen, gefehlt hat.
Wenn es nicht an dem Willen gefehlt hat, dann hat es an
Mut gefehlt, zum Beispiel am Mut, zu sagen, daß der
Gesellschaft auf Dauer nicht eine Energieform gegen
deren Willen übergestülpt werden kann.
Vizepräsidentin Petra Bläss
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7241
(C)
(D)
Lassen Sie mich an einen Artikel in der Wochenzei-
tung „Die Zeit“ aus dem Jahre 1980 erinnern, in dem der
Vorstandsvorsitzende der Veba AG, eines der größten
kernenergiebetreibenden Unternehmen, zu bedenken
gab, daß die Kernenergie auf Dauer weder mit der
Macht des Kapitals noch mit der Stärke des Bundes-
grenzschutzes durchzusetzen sei. Die daraus notwendige
Konsequenz haben Bundesregierungen hernach nicht
gezogen, nämlich die, ein programmatisches Konzept
zum Thema Energie und Umwelt vorzulegen, das die
Kernenergie so einplant, wie sie sich von 1980 bis heute
unverändert darstellt. Nach 1980 ist hierzulande kein
neues Kernkraftwerk bestellt worden. Nach Angaben der
Stromwirtschaft wird auch keines bestellt werden.
Mit dieser Situation stellt die Bundesrepublik keinen
europäischen Sonderfall dar. Ich wüßte kein Land in
Westeuropa zu nennen, das den Aufbau oder auch Neu-
bau von Kernkraftwerken konkret in Planung hätte.
Wenn in den letzten 20 Jahren eine Politik pro Kern-
energie beabsichtigt gewesen wäre, dann hätte die Poli-
tik die dafür notwendigen Bausteine auch gegen den
Willen der Marktkräfte erhalten müssen, namentlich den
Kernbrennstoffkreislauf, und hätte zu überzeugenden
Fortschritten bei der Lösung der Entsorgungsfrage
kommen müssen. Aber genau das ist nicht geschehen,
weshalb die Frage nach der Zukunft der Kernenergie
hierzulande de facto schon lange keine energiepolitische
Frage mehr ist, sondern schlicht nur noch die Frage nach
der betriebswirtschaftlich vernünftigen Restnutzung
vormals investierten Kapitals.
Es bleibt die Aufgabe, bei der Entsorgung auf der
Basis eines vernünftigen Konzeptes zu Fortschritten zu
kommen. Aber auch das ist keine energiepolitische Auf-
gabe, sondern das unerläßliche, zukunftsfähige Abar-
beiten einer Altlast. Mit anderen Worten: Die Kernener-
gie ist längst kein Gegenstand mehr der deutschen Ener-
giepolitik im eigentlichen Sinne des Wortes.
Der Streit um die Kernenergie ist seit Jahren nichts an-
deres als eine energiepolitische Gespensterdebatte.
Meine Damen und Herren, eine Politik, die bei Bür-
gerinnen und Bürgern fortwährend auf fehlende Akzep-
tanz stößt, ist nicht durchsetzbar. Das gilt auch für die
Energiepolitik. Solange also versäumt wurde, das The-
ma Kernenergie einer von der breiten Bevölkerung
nachhaltig akzeptierten Lösung zuzuführen, war eine
wirklich programmatische Energiepolitik schlicht un-
möglich. Die neue Bundesregierung hat sich ein wirkli-
ches Programm für eine zukunftsfähige Politik zum Be-
reich Energie und Umwelt zum Ziel gesetzt. Sie baut
dabei auf eine Grundvoraussetzung, nämlich auf die
vernünftige Beendigung des Streites um die Zukunft der
Kernenergie.
Die neue Bundesregierung wird getragen von Partei-
en, die beide schon lange vor der Wahl entschieden ha-
ben, daß das Restrisiko der Kernenergienutzung – und
sei der Eintritt auch noch so unwahrscheinlich – der Ge-
sellschaft nicht auf Dauer zuzumuten ist. Wer daran
Kritik übt, übersieht, daß eine solche Entscheidung zu
treffen einzig und allein Aufgabe, ja Pflicht der Politik
ist.
Auch die kernenergiebetreibende Industrie hat zwar
immer gesagt, daß sie selber das Restrisiko der Kern-
energie für zumutbar und für verantwortbar hält – was
ich persönlich nachvollziehen kann –, daß aber diese
Entscheidung zu treffen allein Aufgabe der Politik sein
darf. Diese Bundesregierung hat sich gegen die Kern-
energie als Zukunftsenergie entschieden. Damit ist die
Kernenergie als Sache der Politik einer Bundesregierung
erstmals zu dem erklärt worden, was sie im tagtäglichen
Geschehen des Energiemarktes keineswegs nur hierzu-
lande de facto längst ist: eine Energieart im Restnut-
zungsprozeß. Ich wiederhole mich: Dieses Marktge-
schehen ist in Westeuropa der Regelfall.
Nun mag man fragen: Wenn der Markt ohnehin seit
vielen Jahren die Kernenergie zu einer Ausstiegsenergie
gemacht hat, warum muß die Politik dieses Marktge-
schehen noch mit Entscheidungen und Regelungen be-
gleiten? Auf diese Frage will ich drei Antworten geben:
Erstens und vor allem hat die Gesellschaft ganz un-
abhängig vom Marktgeschehen ein Recht darauf, daß
die Politik die Grundsatzfrage nach der Kernenergie mit
Ja oder Nein beantwortet.
Zweitens sollen wichtige gesellschaftspolitische
Kräfte – ich nenne als Beispiel den BDI – wissen, daß
ihr Versuch, die Marktkräfte von einem Ausstiegsweg
aus der Kernenergie abzubringen, gegen eine Grund-
satzentscheidung von demokratisch legitimiertem Par-
lament und der Bundesregierung gerichtet ist, die einzig
und allein diese Frage zu entscheiden haben.
Drittens darf man sicher sein, daß eine grundsätzliche
politische Entscheidung zur Kernenergie als Zukunfts-
energie, die in Übereinstimmung mit dem Verhalten der
Marktteilnehmer steht, dann eine gute reale Basis für ein
wirklich zukunftsfähiges Energieprogramm darstellt.
Das sieht man schon sehr schnell bei Betrachtung der
Situation früherer Jahre. Die Realisierungen energie-
politischer Vorstellungen, die langfristig auf die Kern-
energie setzen, bleiben völlig unmöglich, wenn erwiese-
nermaßen niemand in diese Energieart investieren will.
Ich sagte schon, in den gesamten 16 Jahren der
CDU/CSU-Regierung ist hierzulande kein einziges
Kernkraftwerk bestellt worden.
Bundesminister Dr. Werner Müller
7242 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU-
Fraktion, ich möchte Ihnen diesen letzten Punkt in aller
Ernsthaftigkeit zu bedenken geben. Sie haben einen An-
trag mit der Überschrift eingereicht: Einstieg in ein
nachhaltiges, klimaverträgliches Energiekonzept statt
Ausstieg aus der Kernenergie. Wenn Sie dieses diskutie-
ren wollen, müßten Sie zunächst einmal die Frage klä-
ren, wer überhaupt in den Ausbau der Kernenergie inve-
stieren will. Sie müßten sagen, wie Sie überhaupt Inve-
storen finden. Ich sage Ihnen eines: Der BDI wird Sie im
Stich lassen.
Dann bitte ich die Damen und Herren von der
CDU/CSU-Fraktion, auch noch folgende, nicht unwich-
tige Tatsache zu würdigen: Am deutschen Energiemarkt
hat die Kernenergie nur einen Anteil von 10 Prozent.
90 Prozent des deutschen Energieverbrauches stammen
also nicht aus der Nutzung der Kernenergie.
Der Antrag der CDU/CSU erweckt den sachlich fal-
schen Eindruck, als ob 10 Prozent CO2-freie Energie die90 Prozent klimaschädliche Energieversorgung nach-
haltig klimaverträglich machen würden. Das ist natürlich
Unsinn.
Aber der Titel Ihres Antrages ist ein neuerlicher Beleg
für die Tatsache, daß der anhaltende Gespensterstreit um
die Kernenergie ein wirklich nachhaltiges und zukunfts-
fähiges Konzept zum Thema Energie und Umwelt ver-
hindern würde.
Deswegen lautet die Aufgabe, vor der wir alle stehen
– verbal nur leicht anders, als Sie es formulieren –:
Einstieg in ein nachhaltiges, klimaverträgliches Energie-
konzept und Ausstieg aus der Kernenergie.
Dieser Aufgabe stellt sich die Bundesregierung. Sie
weiß, daß als Ausgangsbasis drei Dinge in Überein-
stimmung sind, nämlich erstens der negative politische
Entscheid zur langfristigen Zumutbarkeit des Kernener-
gierisikos, zweitens das seit langem und vorhersehbar
beobachtbare Verhalten der Investoren am Energiemarkt
und drittens die Erwartungen des weit überwiegenden
Anteils der Bevölkerung an die Politik.
In aller Klarheit: Der Einstieg in ein nachhaltig kli-
maverträgliches Energiekonzept in Verbindung mit
einem Kernenergieausstieg ist nicht nur eine für die
nächsten Jahrzehnte lösbare programmatische Aufgabe,
es ist auch eine konkret Schritt für Schritt realisierbare
Aufgabe.
Lassen Sie mich nun zu einigen aktuellen energie-
politischen Stichworten kommen.
Ich beginne mit der Kohle und dabei zunächst mit der
Steinkohle. Diese Bundesregierung hält die mit den
Vertretern der deutschen Steinkohle bis zum Jahr 2005
geschlossenen Verträge ein. Ich habe mit Brüssel das
Gespräch mit dem Ziel aufgenommen, diese Kohlepoli-
tik auch nach Auslaufen des EGKS-Vertrages im Jahre
2002 fortzusetzen.
Was die Steinkohlepolitik für die Jahre nach 2005
anbelangt, wird diese Bundesregierung keinen totalen
Verzicht auf diesen nationalen Beitrag einplanen.
Zum Stichwort Braunkohle. Die Braunkohlever-
stromung in Ost- und Westdeutschland ist fraglos be-
sonders CO2-lastig. Sie ist aber gerade bei langfristigerBetrachtung die wirtschaftlichste Form der Stromerzeu-
gung und stammt zudem aus heimischer Quelle. Braun-
kohle-Stromerzeugung heißt ja nichts anderes als die
Umwandlung von Kapital in Strom.
– Das ist doch Unsinn, was Sie sagen.
Deswegen sind die Kosten im Gegensatz zur Umwand-
lung langfristig knapper werdender Importenergien in
Strom über Jahrzehnte im voraus kalkulierbar.
Allerdings müssen wir beachten, daß angesichts der
starken CO2-Belastung besondere Anstrengungen zurCO2-Minderung in allen Bereichen der Energieversor-gung in Angriff genommen werden müssen.
Die Kapitalintensität der Braunkohleverstromung läßt
das freie Vermarkten des ostdeutschen Braunkohle-
stromes für einige wenige Jahre nicht zu, namentlich
dann nicht, wenn der Wettbewerb auf dem Strommarkt
auch in Ostdeutschland wirkt. Ich glaube, dieser Wett-
bewerb läßt sich in Ostdeutschland ohnehin nicht ver-
hindern. Es zeigt sich, daß das Energierecht hier eine
praxisferne Sicht zu Grunde gelegt hat. Braunkohle-
Schutzklauseln in Ostdeutschland und Strommarktwett-
bewerb in Westdeutschland können nicht zusammen
funktionieren.
Sie funktionieren vor allem deshalb nicht, weil die
Eigentümer der Veag begonnen haben, Strom zu sehr
günstigen Preisen nach Ostdeutschland zu liefern. Sie
verunmöglichen damit, daß ihre eigene Tochter Veag
den Strom in kostendeckender Weise verkaufen kann.
Das allerdings verstößt eklatant gegen den Privatisie-
rungsvertrag der Veag. Die Veag ist in ernsthafte
Schwierigkeiten gekommen. Die Eigentümer der Veag
haben mir schriftlich angeboten, dieses Problem zu lö-
sen, indem sie die Veag-Produktionskapazität in Höhe
von 50 Milliarden Kilowattstunden pro Jahr kostendek-
kend abnehmen und selber für die Vermarktung sorgen.
Leider ist eine Konkretisierung dieses Angebotes seit
Wochen überfällig. Statt dessen werden nun Subventio-
nen dafür gefordert.
Bundesminister Dr. Werner Müller
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7243
(C)
(D)
Ich fordere die Eigentümer der Veag nochmals auf,
entweder ihr Angebot belastbar zu konkretisieren oder
aber zu erklären, daß sie an ihrem Eigentum kein Inter-
esse mehr haben.
Die Eigentümer sollten wissen, daß sie im Privatisie-
rungsvertrag die Pflicht übernommen haben, die Ver-
stromung der ostdeutschen Braunkohle subventionsfrei
und dauerhaft sicherzustellen. Die Bundesregierung will
und wird die Eigentümer nicht aus dieser Pflicht entlas-
sen, es sei denn, die Eigentümer wünschten dieses sel-
ber.
Lassen Sie mich damit zu weiteren energiepolitischen
Aufgaben kommen, die sich im Zusammenhang mit der
Liberalisierung des Strommarktes stellen. Die Liberali-
sierung darf nicht zu einem Verfall der Konzessionsab-
gabe führen. Das haben wir im Frühsommer neu gere-
gelt.
Die Liberalisierung erfordert ferner ein Regelwerk zu
den Fragen des Netzzuganges und des Stromtransportes.
Wir haben darauf gesetzt, daß die Verbände der Strom-
verbraucher und der Stromwirtschaft solche Regeln
autonom aufstellen. Wir haben weiter darauf gedrungen,
daß der Verband kommunaler Unternehmen an diesen
Verhandlungen als eigenständiger Verhandlungspartner
teilnimmt. Am letzten Montag ist diese neue Verbände-
vereinbarung unterzeichnet worden. Sie wird ab Januar
2000 zu wirken beginnen.
Die Liberalisierung darf nicht dazu führen, daß in der
kommunalen Stromwirtschaft die bestehenden Kraft-
Wärme-Kopplungsanlagen unwirtschaftlich werden.
Ich habe mich letzten Freitag mit dem Verband kommu-
naler Unternehmen darauf verständigt, daß ich den
Fraktionen kurzfristig einen Gesetzentwurf vorschlage,
wonach die Stromproduktion aus kommunalen Kraft-
Wärme-Kopplungsanlagen, sofern der Absatz dieser
Stromart mindestens 10 Prozent des Gesamtabsatzes
ausmacht, eine von Jahr zu Jahr degressiv ausgestaltete
Hilfe erhält, beginnend mit 3 Pfennigen pro Kilowatt-
stunde im Jahr 2000!
Ich bin mir mit dem VKU einig, daß diese Hilfe min-
destens bis Ende 2001 die notwendige Wettbewerbsun-
terstützung bietet, so daß bis dahin nicht über weitere
Programme entschieden werden muß. Im Jahre 2002
mag ein neues Programm notwendig werden.
Diese Hilfe kostet im ersten Jahr 1 Milliarde DM –
das sind 0,2 Pfennig je Kilowattstunde –, danach jähr-
lich ein Sechstel weniger.
Die Liberalisierung des Strommarktes darf natürlich
auch nicht zu einer unkalkulierbaren Absenkung der für
die Einspeisung regenerativ erzeugten Stromes vorgese-
henen Einspeisevergütung führen. Denn das brächte
bisherige Investoren in Schwierigkeiten. Ferner würden
Neuinvestitionen überhaupt nicht mehr getätigt. Allein
schon deswegen muß das Stromeinspeisungsgesetz no-
velliert werden. Hinzu kommt, daß der Fünfprozent-
deckel nach Angaben der Preussen-Elektra in einem Ge-
biet bald erreicht sein wird. Ich verweise auf den hierzu
von der Bundesregierung vorgelegten Bericht.
Wir wollen die ohnehin notwendige Novelle des
Stromeinspeisungsgesetzes dazu nutzen, daß weit mehr
als bisher und weit schneller als bisher Strom aus rege-
nerativen Energiequellen produziert wird.
Bessere Vergütungen sowie die Einbeziehung von
Strom aus Grubengas, großen Biomasseanlagen und
Geothermie tragen zu diesem Ziel bei. Ich persönlich
habe nichts gegen attraktive Vergütungen auf diesem
Sektor. Aber wir sollten es so ausgestalten, daß sich die
EU darüber nicht ernsthaft beschweren wird und daß wir
die Technikverbilligung, die wir anstreben, in Rechnung
stellen.
Ich verspreche mir einen besonders wirkungsvollen
Effekt dadurch, daß künftig Energieversorger selber
Einspeisevergütungen erhalten können. So erwarte ich in
Zukunft zum Beispiel auf Hauptversammlungen der
Energieversorger die Frage nach der Höhe der erwirt-
schafteten Einspeisevergütung.
Was ich in den letzten Minuten vorgetragen habe,
betrifft notwendige Regelungen im Zusammenhang mit
dem konkreten Start des Strommarktwettbewerbes ab
Januar 2000. Die genannten Förderprogramme werden
im nächsten Jahr etwa 1,5 Milliarden DM kosten und im
Jahre 2005 bei etwa 4 Milliarden DM liegen, also weit
unter den Einsparungen in Höhe von 15 bis 20 Milliar-
den DM, die die Strompreissenkung bewirkt. Anders ge-
sagt: Von der durch Wettbewerb bewirkten Strompreis-
senkung gehen drei Viertel an Wirtschaft und Verbrau-
cher. Ein Viertel wird als Investition in die Zukunft ab-
gezweigt.
Die besondere Förderung der regenerativen Stromer-
zeugung folgt dabei dem Grundsatz, daß die Förderung
regenerativer Energien in jedem Falle in eine zu-
kunftsfähige Richtung zielt, also zur Energiepolitik
zwingend gehört. Ich darf daran erinnern, daß wir schon
früher ein „100 000-Dächer-Programm“ im Bereich der
Photovoltaik sowie ein Programm in Höhe von jährlich
200 Millionen DM für die Förderung sonstiger regene-
rativer Energie beschlossen haben. Wir haben damit die
Förderung regenerativer Energien um mehr als den
Faktor 10 erhöht.
Meine Damen und Herren, im nächsten Sommer wird
die Bundesregierung Leitlinien für die Energiepolitik
vorlegen, und zwar soweit wie möglich im Konsens.
Bundesminister Dr. Werner Müller
7244 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Wir werden bis dahin die Voraussetzung schaffen, um
auch in der Gasversorgung einen Wettbewerb einführen
zu können. In Vorbereitung ist ferner eine Energiespar-
verordnung.
Wir werden im nächsten Jahr den Ausstieg aus der
Kernenergie gesetzlich regeln, und zwar möglichst so,
daß diese Regelungen im Einvernehmen mit den Eigen-
tümern festgelegt werden. Der Ausstieg wird ein länger-
fristiger Prozeß. Er wird so lange dauern, daß wir paral-
lel dazu wesentlich umweltverträglichere Energiever-
sorgungsstrukturen aufbauen können, wenn wir dies
wollen. Die Bundesregierung will das. Wir werden wie-
der eine aktive Energiepolitik betreiben können, weil
wir die Gespensterdebatte um die Kernenergie beenden.
Die Opposition ist aufgefordert, sich vernünftigen,
zukunftsorientierten energiepolitischen Leitlinien anzu-
schließen, die auch in der Bevölkerung auf Akzeptanz
stoßen.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Kurt-Dieter Grill.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundes-
wirtschaftsminister, wir würden uns – natürlich erst nach
näherer Prüfung – gerne anschließen, aber wir wissen
zur Zeit gar nicht, welche energiepolitischen Leitlinien
der Bundesregierung gelten.
Ich finde es schon interessant, wenn Sie hier bekla-
gen, daß es so lange keine Energiepolitik gegeben hat,
und Sie gleichzeitig eine der entscheidenden Weichen-
stellungen in der energiepolitischen Landschaft der
Bundesrepublik Deutschland, die Sie draußen bei Ihrer
Argumentation trefflich nutzen, in diesem Zusammen-
hang verschweigen. Ich meine die Novelle des Enger-
giewirtschaftsrechtes, die mit zwei Dingen ein Ende
gemacht hat, die von der linken Seite des Hauses über
Jahre beklagt worden sind. Es geht um das Ende der
monopolistischen Struktur unserer Energieversorgung
– viel schneller, als alle erwartet haben – mit der Folge,
daß mit den Überkapazitäten in Deutschland Schluß ist.
Ich finde es schon infam, daß sich jemand wie Sie
hier hinstellt und sagt, daß zehn Jahre nichts bestellt und
nichts gebaut wurde, denn Sie sind doch derjenige ge-
wesen, der noch im Frühjahr dieses Jahres sowohl in Pa-
ris bei der französischen Regierung wie auch auf der
kerntechnischen Tagung im Mai in Karlsruhe gesagt hat,
Sie hätten nichts dagegen, wenn sich deutsche Energie-
versorgungsunternehmen am Bau des europäischen
Druckwasserreaktors beteiligen, den Siemens und Fram-
atome zusammen entwickelt haben.
Sie müssen sich schon persönlich entscheiden, für
was Sie sind: den Vorwurf, es sei nicht gebaut worden,
oder für die Tatsache, daß Sie selber deutsche Energie-
versorgungsunternehmen ermuntern, sich an einem Re-
aktorbau in Frankreich zu beteiligen. Das ist genau der
Widerspruch, den wir aufdecken müssen: in Deutsch-
land aussteigen und in Frankreich den Bau von Kern-
kraftwerken befürworten.
Das zweite: Es ist schon pikant Herr Müller – Sie ha-
ben das aufgeworfen –, daß Sie jetzt anfangen, einen
Konsens in Sachen Kernenergie zu basteln. Wir beide
haben 1993 an den Energiekonsensverhandlungen
zwischen der CDU/CSU/F.D.P.-Bundesregierung und
der SPD und den Grünen teilgenommen. Wir waren kurz
vor dem Erreichen eines Konsenses. Das wissen Sie ge-
nauso gut wie ich. Er ist lediglich daran gescheitert, daß
der derzeitige Bundeskanzler für seine Kernenergiepoli-
tik, nämlich Auslaufenlassen der bestehenden Genera-
tion und Aufrechterhaltung der Option, in der SPD keine
Mehrheit gefunden hat. Er ist nicht an der CDU/CSU
und der F.D.P. gescheitert. Das ist die Realität. Also las-
sen Sie getrost den Hinweis, daß Sie die ersten sind, die
nun den Frieden in Sachen Kernenergie in diesem Lande
schaffen wollen!
Der zentrale Punkt unserer Debatte und unseres An-
trages ist aber gar nicht so sehr die Frage des Für und
Wider die Kernenergie. Dabei erschöpfen Sie sich in
einer Laufzeitendiskussion, in symbolischen Akten und
in einer nicht bewiesenen Behauptung, daß die Entsor-
gung nicht funktioniert. Ich will nur darauf hinweisen,
daß alles, was in diesem Lande an Entsorgung für die
Kernenergie geschaffen worden ist, mit der Zustimmung
der SPD und der F.D.P. erreicht wurde, und zwar unter
vielen Bedingungen, auf die ich jetzt gar nicht eingehen
kann.
Sie haben in Ihren Ausführungen eine Bemerkung
gemacht, die zu unserem Antrag paßt. Sie haben gesagt:
Die Kernenergie stellt nur 10 Prozent der Energiever-
sorgung in Deutschland dar, aber 30 Prozent der Strom-
versorgung.
Die Frage hierbei ist: Wenn ich einmal Ihre These von
10 und 90 Prozent nehme, dann möchte ich gerne wis-
sen, wie die Ersatzstrategie für die 10 Prozent ist.
Selbst zu den von Ihnen als offensichtlich eher lächer-
lich empfundenen 10 Prozent haben Sie auch heute
morgen nicht einen einzigen Satz gesagt, wie sie denn
ersetzt werden sollen.
Sie haben kein Konzept. Das heißt, die zentrale Frage
der Opposition, welche Alternative Sie anbieten, ist
Bundesminister Dr. Werner Müller
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7245
(C)
(D)
nicht beantwortet. Ich erinnere Sie an Ihre eigenen
Worte, die Sie wiederholt haben, als Sie zum Bundes-
wirtschaftsminister berufen worden sind. Sie haben er-
klärt: Wer aussteigen will, muß auch sagen, in was er
einsteigen will.
Genau diese Frage haben Sie bis heute nicht beantwor-
tet.
Ich kann nur darauf hinweisen, daß wir im März eine
Große Anfrage zur Energiepolitik gestellt haben. Es ist
Ihr Haus, daß alle drei Monate um Verlängerung der
Frist zur Beantwortung bittet,
weil Sie die Große Anfrage über die Energiepolitik die-
ser Bundesregierung innerhalb eines Dreivierteljahres
nicht beantworten können. Wer also hat hier Probleme,
wir oder Sie? Ich denke, daß Sie an dieser Stelle Pro-
bleme haben, die Enden der Koalition zusammenzube-
kommen.
Die zentrale Frage bezieht sich nicht auf die 10 oder
90 Prozent, sondern darauf, wie Sie 22 000 Megawatt
Kernenergie im Grundlastbereich ersetzen wollen. Wir
müssen die Gewichtung in der Fragestellung wieder ein
wenig zurechtrücken.
Ich denke, daß Sie die Antwort darauf auch heute wieder
schuldig geblieben sind.
Wenn ich Sie an diesem Anspruch messe, stelle ich
fest, daß die Diskussionen, die auf Parteitagen und an-
derswo geführt worden sind, nur einen einzigen Hinweis
geben: Kohle und Gas als Alternative zur Kernenergie
bedeuten eine massive Erhöhung der CO2-Emissionen indiesem Lande. Auf diese zentrale Frage haben Sie noch
weniger eine Antwort als auf die Fragen zur Ihrer Ener-
giepolitik. Deswegen haben wir fünf zentrale Forderun-
gen an Sie, die Sie im übrigen auch im Energiedialog
2000 nicht hinreichend beantwortet haben.
Erstens. Auf die Frage nach der Energieversorgung
Deutschlands im Zusammenhang mit der globalen und
europäischen Herausforderung haben Sie weder mit
KWK noch mit den anderen Dingen, die Sie hier vorge-
tragen haben, eine zuverlässige, glaubwürdige Antwort
für das 21. Jahrhundert gegeben.
Zweitens. Sie müssen uns sagen, wie Sie die CO2-Bilanz ausgleichen wollen, also einen klimaverträgli-
chen, klimaneutralen Ausstieg aus der Kernenergie
schaffen wollen. Interessant ist nicht die Frage, ob man
das machen kann, sondern interessant ist die Frage, wie
das überhaupt gehen soll. Nach allen Unterlagen der
wissenschaftlichen Institutionen dieses Landes, nach
allen Untersuchungen, die in Niedersachsen und an-
derswo gemacht worden sind, erhöht der klimaneutrale
Ausstieg aus der Kernenergie die Energiekosten auf
20 Milliarden DM pro Jahr, bezogen auf das Jahr 2020.
Wir reden also über ein Kostenvolumen in Höhe von
350 bis 450 Milliarden DM. Diese Größenordnung ge-
ben nahezu alle Studien dieses Landes an. Auf diese
Fragen haben Sie weder mit der Rede heute noch mit
dem Stromeinspeisungsgesetz, noch mit der KWK-
Regelung, noch mit der VEAG-Lösung auch nur den
Hauch einer Antwort gegeben.
Ich sage Ihnen, daß die Kosten für den CO2-Ausgleich eher von dem kleinen Mann als von der deut-
schen Wirtschaft getragen werden.
Das ist im Verkehrsbereich und im Wärmebereich so
und wird auch im Strombereich der Fall sein.
Drittens. Die Frage nach den Kosten wird genauso
wenig beantwortet wie die Frage, welche Konsequenzen
der Kernenergieausstieg hat.
Viertens. Damit haben Sie die Frage der Arbeits-
platzbilanz überhaupt nicht beantwortet. Sie haben das
große Glück, daß durch unsere Novelle zum Energie-
wirtschaftsgesetz die Kosten für die Energie gesenkt
worden sind. Nur vor dem Hintergrund dieser massiven
Kostensenkung, die wir durch unsere Gesetzesnovelle
herbeigeführt haben, ist die Stromsteuer in Höhe von
vier Pfennig pro Kilowattstunde sowie alles andere, was
Sie heute machen, überhaupt noch ökonomisch verträg-
lich. Sie wären ökonomisch am Ende, wenn wir Ihnen
das Geschenk der Novelle des Energiewirtschaftsgeset-
zes am Ende der letzten Legislaturperiode nicht mit auf
den Weg gegeben hätten.
Fünftens. Mit dem, was Sie vortragen, können Sie
auch die Frage nicht beantworten, wie der Strompro-
duktionsstandort Deutschland erhalten werden soll. Das,
was Sie hier vorgetragen haben, führt eher dazu, daß wir
auch hier Arbeitsplätze ins Ausland verlagern.
Auch das Gesetz zur Förderung der Stromerzeugung
aus erneuerbaren Energien, das Sie am heutigen Tage
dem Hause vorlegen, ist keine Antwort auf diese Frage.
Sie wissen genauso gut wie wir, daß Ihnen alle seriösen
Untersuchungen – bis hin zu dem von der niedersächsi-
schen Landesregierung noch unter Herrn Schröder in
Auftrag gegebenen Ausstiegskonzept 2010 – prognosti-
zieren, daß Sie bis zum Jahre 2010 einen 7,5 bis
10prozentigen Anteil erneuerbarer Energien an der
Stromerzeugung in Deutschland erreichen können. Pro-
gnos sagt das erst für das Jahr 2020 voraus.
Jetzt drehe ich einmal das Argument um. Wieso ma-
chen Sie eigentlich der deutschen Bevölkerung vor, daß
der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromer-
zeugung in Höhe von 10 Prozent die Kernenergie erset-
Kurt-Dieter Grill
7246 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
zen könne? Das ist der Eindruck, den Sie draußen er-
wecken. Dies hält einer Prüfung nicht stand.
Im übrigen will ich nur darauf hinweisen: Den Welt-
meistertitel in Sachen Windenergie und den Weltmei-
stertitel in Sachen Solarzellenproduktion haben nicht Sie
errungen, sondern den haben Sie von der CDU/CSU/
F.D.P.-Koalition übernommen.
Deswegen dokumentiert das, was Sie heute vorgetragen
haben, daß Ihnen ein Konzept fehlt und daß die Politik
der Bundesregierung in Sachen Energie im Prinzip ge-
scheitert ist.
– Bisher haben Sie ein Konzept nicht vorlegen können.
Ich sage am Schluß meines Beitrages
noch einmal: Auf die Fragen, die Sie bisher im Dialog
vorgetragen haben – Fragen der Herausforderung durch
zunehmend globalisierte Märkte, der wachsenden Be-
völkerungszahlen, bis hin zu den geostrategischen und
politischen Problemen, die damit verbunden sind –, ha-
ben Sie keine Antwort gegeben.
Auch ein Konzept für Klimaverträglichkeit fehlt bei
Ihnen. Sie bleiben in diesem zentralen Punkt die Ant-
wort schuldig und werden auch im nächsten Jahr, vor
dem Hintergrund des Ausstiegs aus der Kernenergie – –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Grill, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Loske?
Nein, ich möchte das
eben zu Ende bringen.
Vor diesem Hintergrund werden Sie auch im näch-
sten Jahr eine Klimaschutzstrategie nicht vortragen kön-
nen. Sie versagen in der Sicherung der Arbeitsplätze in
Deutschland. Das, was ich Ihnen im Zusammenhang mit
der Kernenergie vorwerfe, ist, daß Sie bei der Politik in
diesem Lande die Frage der Sicherheit der osteuropäi-
schen Kernkraftwerke dem Zufall überlassen und die
Politik der sicheren Nutzung der Kernenergie in Europa
nicht zu einer zentralen Aufgabe dieses Landes machen.
Sie versagen angesichts einer zentralen europäischen
Herausforderung und nicht nur in der nationalen Ener-
giepolitik.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Mi-
chaele Hustedt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte
so anfangen: Durch die EU-Richtlinie zur Liberalisie-
rung des Strommarktes befindet sich die Energiewirt-
schaft in einem großen Umbruch. Der Übergang von der
Monopolwirtschaft zum Wettbewerb bedeutet, daß alle
umdenken müssen, nicht nur die Unternehmen, sondern
auch die Politik.
In diesem neuen Rahmen werden die Leitlinien und
die Ziele der rotgrünen Bundesregierung und der Koali-
tionsfraktionen immer deutlicher: Wir sind für eine
Energieversorgung, die wirtschaftlich, umweltfreundlich
und eben auch verbraucherfreundlich ist.
Als erstes mußten wir mit Ihren Altlasten fertig wer-
den. Denn die Fundamente für dieses neue Haus der
Energiepolitik – die Umsetzung der EU-Richtlinie – wa-
ren außerordentlich schlecht gelegt. Ich kann nur sagen:
Die Umsetzung der EU-Richtlinie war Pfusch am Bau.
Ich möchte dazu zwei Punkte nennen. Der erste ist:
Sie haben zwar in das Gesetz hineingeschrieben, daß je-
der die freie Wahl des Stromlieferanten hat. Aber daß
dies in der Praxis umgesetzt werden konnte, das haben
wir bewirkt. Wir haben dafür gesorgt – diese Notwen-
digkeit haben wir schon zu Oppositionszeiten betont –,
daß der Netzzugang unbürokratisch und finanziell kor-
rekt geregelt ist und die Netzbesitzer das Netz eben nicht
dazu benutzen können, um andere Akteure vom Markt
fernzuhalten. Wir haben jetzt eine Netzzugangsregelung
verankert, die Ihr Gesetz – Pfusch am Bau! – endlich
vernünftig umsetzt.
Der zweite Punkt – Herr Müller hat ihn schon ange-
sprochen –: Ausnahme des Ostens vom Wettbewerb.
Sie haben den Wettbewerb in Deutschland nur in zwei
Dritteln eingeführt. Ein Drittel haben Sie ausgeschlos-
sen, und nun fordern Sie die Aussetzung der Ökosteuer
für diesen Bereich. Wir hoffen, auch das regeln zu kön-
nen. Herr Uldall hat zugestanden, daß den Weg, den
Herr Müller geht, schon Herr Rexrodt hätte gehen müs-
sen.
Unser Energiekonzept sah zunächst vor, Ihre gröbsten
Schnitzer bei der Umsetzung der EU-Richtlinie zu
beseitigen.
Wir wollen, daß auch neue Akteure und kleine Kunden
gleiche Chancen im Wettbewerb bekommen,
und wir wollen, daß zwischen Ost und West kein ge-
teiltes Recht vorherrscht.
Kurt-Dieter Grill
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7247
(C)
(D)
Nach der Beseitigung Ihrer Altlasten haben wir nun ein
gutes Fundament.
Jetzt werden wir uns Schritt für Schritt daranmachen,
im neuen energiewirtschaftlichen Rahmen dafür zu sor-
gen, daß die Energieversorgung nicht nur wirtschaftlich
ist, sondern daß sie auch umweltverträglich ist. Wer nur
auf billige Preise für die Großindustrie setzt, der trägt
– das sage ich Ihnen ganz offen – die Verantwortung da-
für, daß die zukünftigen Generationen dafür die Zeche
zahlen werden. Denn wir verprassen auf diese Art und
Weise das Erbe der zukünftigen Generationen.
Unsere Energieversorgung muß risiko- und fehlerarm
sein, und sie muß auch umweltverträglich sein. Das sieht
man schon, wenn man die Entwicklung der in der Welt
verbrauchten Energie betrachtet. Deswegen werden wir
auch als erstes den Atomausstieg regeln, denn Atom-
technologie ist aus unserer Sicht nicht fehlerresistent.
Das Risiko ist zukünftigen Generationen und auch den
heute lebenden Menschen nicht zuzumuten.
Wir halten es für ethisch nicht zu vertreten, daß zukünf-
tige Generationen auf Grund eines unsoliden Entsor-
gungskonzeptes Zehntausende Jahre lang Verantwor-
tung für strahlenden Müll tragen müssen.
Deswegen wird sich die Bundesregierung auf eine
Atomgesetznovelle verständigen – ich finde, dabei sind
wir in den letzten Tagen ein ordentliches Stück weiter-
gekommen –, die wir im Zweifelsfall auch im Dissens
mit den Stromkonzernen durchsetzen werden. Aber wir
hoffen dennoch, daß es zu einem Kompromiß mit den
Stromkonzernen kommt. Sie sollen sich aber nicht ein-
bilden, daß sie auf Zeit spielen können. Nach spätestens
18 Jahren wird das letzte Atomkraftwerk in diesem Lan-
de vom Netz gehen. Darüber hinaus werden wir die
Haftungspflicht erhöhen, wir werden die Sicherheits-
checks einführen, wir werden für ein solides Entsor-
gungskonzept sorgen, für ein Moratorium für Gorleben
und dergleichen mehr.
Wir werden ein Angebot an die Stromkonzerne ma-
chen, in dem wir noch einmal anbieten werden, daß sie
flexibel mit diesen Laufzeiten umgehen können. Es
rechnet sich für die Stromkonzerne betriebswirtschaft-
lich, wenn sie ältere, unrentable Atomkraftwerke vom
Netz nehmen und dafür andere länger laufen lassen. Das
ist ein faires Angebot, auf dessen Grundlage man tat-
sächlich einen Kompromiß wird finden können. Davon
bin ich überzeugt.
Wenn ich Sie höre, Herr Grill, muß ich einmal eines
feststellen: Sie haben in Ihrer Rede nur Fragen gestellt.
Sie haben keine einzige Antwort gegeben.
Das ist nämlich Ihr Problem. Weder hatte die alte Bun-
desregierung noch haben CDU/CSU und F.D.P. jetzt
– außer der Forderung nach niedrigen Preisen für die
Großindustrie – ein solides Energiekonzept. Auch hatten
Sie niemals ein Klimaschutzkonzept.
Ich erinnere an diese komischen 105 Forderungen
von Frau Merkel, unter anderem die Forderung nach
verstärktem Straßenbau, damit sich die Staus auflösen
und damit der Klimaschutz eintritt. Selbst mit diesen
Forderungen ist sie noch nicht einmal bis zum Kabi-
nettstisch gekommen. Es gab und gibt bei der CDU/CSU
und bei der F.D.P. – Ihre Rede hat das bestätigt – weder
ein solides Energiekonzept noch ein solides Klima-
schutzkonzept.
Es gibt nur Fragen, aber keine einzige Antwort.
Wir realisieren jetzt Schritt für Schritt tatsächlich den
Einstieg in eine andere, eine umweltverträgliche Ener-
giepolitik. Ein ganz großer Schritt, ein wichtiger Mei-
lenstein auf diesem Weg ist die jetzt anstehende Novel-
lierung des Stromeinspeisungsgesetzes, also des neuen
Gesetzes für die Förderung der Stromerzeugung aus
erneuerbaren Energien.
Damit ist aus diesem Trampelpfad ins Solarzeitalter,
den wir alle gemeinsam gebaut haben – wir haben das
Stromeinspeisungsgesetz immer einstimmig verabschie-
det –, jetzt tatsächlich schon ein breiter Weg geworden.
In Zukunft wird sich nämlich nicht nur die Windenergie
dynamisch entwickeln; auch diese wird sich trotz der
Probleme, die es mit der Liberalisierung gab, weiterent-
wickeln. Nein, wir werden vielmehr auch bei der Strom-
erzeugung aus Sonnenenergie einen Boom bekommen.
Wir werden die Erdwärme mit aufnehmen, und die
Stromerzeugung aus land- und forstwirtschaftlichen Ab-
fällen wird durch unsere Energiepolitik eine ganz neue
Dynamik bekommen.
Unser Ziel ist es dabei, den Anteil der erneuerbaren
Energien an der Stromerzeugung bis zum Jahr 2010
mindestens zu verdoppeln. Damit hat sich die rotgrüne
Bundesregierung eindeutig dazu bekannt, den Einstieg
ins Solarzeitalter mit aller Kraft zu unterstützen. Das ist
ein wesentlicher Bestandteil einer neuen, zukunftsfähi-
gen Energiepolitik.
Ich kann nur eines sagen: Dieses Gesetz ist außeror-
dentlich wirtschaftlich. Es setzt auch die Innovationser-
folge um. Es gab Vorwürfe von Herrn Hirche und ande-
ren, wir würden nach dem Gießkannenprinzip fördern.
Das ist falsch. Die Festpreise bedeuten – auch durch den
fehlenden Inflationsausgleich –, daß es sinkende Ver-
gütungssätze geben wird.
Hinzu kommt: Wir wollen punktgenau und rentabel
fördern, aber keine Überförderung finanzieren. Deswe-
gen wollen wir nicht eine allgemeine Degression einfüh-
ren, sondern wir haben ein Gremium installiert, das
Michaele Hustedt
7248 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
regelmäßig alle zwei Jahre die Festpreise für die jewei-
ligen regenerativen Energien an die Innovationseffekte
punktgenau angleicht.
Damit treffen wir genau den Punkt. Wir haben damit die
Umsetzung der Innovationseffekte in das Stromeinspei-
sungsgesetz eingeschlossen.
Es wird sicherlich etwas kosten. Aber es war auch
damals schon Konsens aller Fraktionen, daß die Einfüh-
rung erneuerbarer Energien nicht allein durch den Markt
möglich ist und daß die Politik deswegen ein Instrument
entwickeln muß – dafür gibt es das Stromeinspeisungs-
gesetz –, um dies zu fördern. Sie, Herr Uldall und Herr
Hirche, verlassen jetzt mit Ihren Argumenten diesen
Konsens.
Herr Uldall war schon immer dagegen. Das verstehe ich.
Aber ich verstehe nicht, daß Sie, Herr Hirche, mit Ihren
Argumenten diesen bislang bestehenden Konsens ver-
lassen.
Die Stromkosten für die Bürger – Herr Müller hat
dies schon gesagt – werden durch die Liberalisierung
um mindestens 10 Pfennig fallen. Das Stromeinspei-
sungsgesetz in seiner jetzigen Form verursacht Kosten in
Höhe von 0,1 Pfennig. Wenn wir jetzt eine neue Dyna-
mik in der Stromerzeugung aus landwirtschaftlichen Ab-
fällen und durch eine kostendeckende Vergütung auch
einen Boom in der Photovoltaikindustrie auslösen, dann
wird das höchstens noch einmal 0,1 Pfennig kosten.
Ich sage Ihnen eines: Aus unserer Sicht ist es absolut
vertretbar, daß angesichts sinkender Strompreise in Hö-
he von bis zu 10 Pfennig 0,1 Pfennig für diese Zu-
kunftsbranche, für 40 000 Arbeitsplätze, für eine stärke-
re umweltverträgliche Energieerzeugung und für eine
Exportindustrie ausgegeben werden, die einen boomen-
den Zukunftsmarkt in den Entwicklungsländern bedeu-
tet. Das ist uns 0,1 Pfennig wert.
Ich hoffe noch immer, daß die Vernünftigen unter
Ihnen, deren Heimatregionen von dem neuen Gesetz
profitieren werden, auf einen konstruktiven Weg zu-
rückkehren werden und daß wir das Gesetz zur Förde-
rung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien
gemeinsam verabschieden können. Wir werden das im
Ausschuß beraten. Ich hoffe, daß es dort andere Töne
geben wird als die von Herrn Uldall.
Als letztes – meine Redezeit ist zu Ende – möchte ich
noch zwei weitere Säulen andeuten – ich kann darauf
nur kurz eingehen –: Selbstverständlich läßt sich die
Atomkraft nicht allein durch die erneuerbaren Energien
ersetzen. Aber wenn Sie sagen, daß die Nutzung von
Gas und Kohle zur Stromerzeugung automatisch zur Er-
höhung der CO2-Emissionen führt, dann haben Sie et-was überhaupt nicht begriffen. Zur Zeit werden über
60 Prozent des Energiegehalts von Gas und Kohle bei
deren Einsatz zur Stromerzeugung einfach verschwen-
det, weil die Wärme nicht genutzt wird. Eine Ver-
schwendung von 60 Prozent des Energiegehalts und der
entsprechende Anteil der CO2-Emissionen, die bei derErzeugung von Strom aus fossilen Energieträgern an-
fallen, sind unnötig.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Hu-
stedt, Sie müssen jetzt zum Schluß kommen.
Ich komme zum Schluß.
Deswegen setzen wir uns auch für eine Effizienzre-
volution ein. Wir setzen darauf, daß die wertvollen fos-
silen Energieträger, die endlich sind, nicht verschwendet
werden und daß bei der Erzeugung von Strom aus diesen
fossilen Energien Schritt für Schritt ein Wirkungsgrad
von 50, 60, 70, 80 Prozent erreicht wird. Dadurch kann
die Atomtechnologie allemal klimafreundlich ersetzt
werden.
Die dritte Säule betrifft die Energieeinsparung. Seit
der letzten Enquete-Kommission wissen wir alle, daß es
insbesondere im Wohnungsbaubereich ein Energieein-
sparpotential von über 30 Prozent gibt.
All das werden wir Schritt für Schritt entwickeln.
Dann gibt es eine wirtschaftliche, umweltfreundliche
und verbraucherfreundliche Energiepolitik in diesem
Lande.
Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt die
Kollegin Ulrike Flach für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Frau Hustedt, ich empfehle Ihnen, in
der heutigen Ausgabe der „Berliner Zeitung“ nachzule-
sen, was das Wuppertal-Institut über die Äußerungen,
die Sie in den letzten fünf Minuten gemacht haben,
denkt: Jedes Kernkraftwerk, das ab 2005 zusätzlich ab-
geschaltet wird, führt zu einer deutlichen Erhöhung der
CO2-Emissionen.
Ihre eigenen Leute sagen das, Frau Hustedt.
Lassen Sie mich auf mein ursprüngliches Redekon-
zept zurückkommen. Gestern standen wir vor einem tie-
fen Abgrund, heute sind wir einen großen Schritt voran-
Michaele Hustedt
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7249
(C)
(D)
gekommen – so läßt sich die Energiepolitik der Bundes-
regierung beschreiben.
Sie wissen, daß Sie aus der CO2-freien Kernenergie aus-steigen wollen. Aber Sie haben ganz offensichtlich den
Fallschirm unter dem Sitz vergessen.
Die Anträge, die wir heute beraten, sind durch die
Realität teilweise bereits überholt. Nach der Fraktions-
sitzung der Grünen – der Weltmeister im Umfallen, wie
es die „Berliner Zeitung“ so treffend formulierte – ist
zumindest deren Position klar: 2018 soll das letzte
Kernkraftwerk abgeschaltet werden.
Was aber bedeutet dies für die Stromversorgung? Et-
wa ein Drittel der deutschen Stromversorgung – Herr
Müller, es wäre ehrlicher gewesen, wenn Sie davon ge-
sprochen hätten – und in manchen Bundesländern sogar
50 Prozent – nicht bei uns in Nordrhein-Westfalen, aber
in vielen anderen Bundesländern – muß bis 2018 kom-
pensiert werden. Das vorliegende Stromeinspeisungsge-
setz suggeriert, daß sie dies mit erneuerbaren Energien
– mit Wasserkraft, mit Windkraft, mit Solar- und Geo-
thermie – schaffen könnten.
Das ist nett; aber selbst Herr Trittin erklärt regelmä-
ßig, sein Ziel sei eine Verdoppelung des Anteils der er-
neuerbaren Energien bis 2010. Da liegen wir derzeit
– das wissen wir alle in diesem Saal – bei zirka 4 Pro-
zent. 2010 werden wir bei zirka 8 Prozent liegen. Das ist
schon ein ehrgeiziges Ziel!
Das werden auch grüne Fraktions- und Parteibeschlüsse,
Frau Hustedt, nicht ändern. Wie also wollen Sie die
Grundlast dieses Landes abdecken?
Gleichzeitig belasten Sie die deutschen Kohlekraft-
werke durch die Ökosteuer, und Sie bevorzugen die
Gasproduzenten mit dem erklärten Ziel einer Umstruk-
turierung des Strommarktes. Sie wollen weg von der
Kohle und hin zu Gas. Als Nordrhein-Westfale kann ich
es sehr aggressiv formulieren: Schluß mit der umwelt-
politisch unerwünschten heimischen Braunkohle und
Bevorzugung der Importenergie Gas. Das ist besser für
das Gewissen; denn die Methanemissionen erfolgen
schließlich jenseits der Grenze.
Ich habe in den letzten Tagen sehr aufmerksam die
Aussagen von SPD und Grünen verfolgt:
wenige Worte zur Erhöhung der Energieeffizienz, kein
Wort zum Thema Energieeinsparung, kein Wort zur
Frage, wie das fehlende Drittel ersetzt werden soll. Sie
führen uns hochangereicherte Unseriösität vor.
Schauen Sie sich doch die Strukturen unseres Landes
an. Nehmen Sie doch einmal das Beispiel Nordrhein-
Westfalen: 83 Prozent der nordrhein-westfälischen Strom-
erzeugung erfolgt auf Kohlebasis. Das ganze östliche
Ruhrgebiet wird – Herr Paziorek, da kann Frau Höhn
immer wieder das Gegenteil erzählen – vom Kernkraft-
werk Lingen versorgt.
Wie soll dies regenerativ ersetzt werden? Wollen Sie
Nordrhein-Westfalen in die Abhängigkeit ausländischer
Gaslieferanten bringen?
Diese Art von Ausstiegsszenarium könnte übrigens
– auch darauf möchte ich verweisen – zu recht uner-
warteten Ergebnissen führen. Vor wenigen Tagen er-
klärte die Türkei, die bisher sehr wenig von der Kern-
kraft hielt, daß sie nun drei neue Kernkraftwerke bauen
wolle. Die russischen Gaslieferungen seien ihnen zu un-
zuverlässig.
Sie bauen trotzdem auf GuD. Die GuD-Kraftwerke
sind nun ab einem Wirkungsgrad von 57,5 Prozent von
der Ökosteuer befreit. Ich persönlich bin sehr gespannt,
welche Meßverfahren Sie zur Ermittlung des Jahreswir-
kungsgrades wirklich verwenden.
Das ist doch das Schlupfloch, mit dem Sie in Nord-
rhein-Westfalen der Braunkohle den Garaus machen
wollen. Herr Clement hat sich pressewirksam gewehrt.
Aber ich bin sicher, Frau Höhn wird den gewünschten
Boom beim Bau von GuD-Kraftwerken bekommen – zu
Lasten von Garzweiler und natürlich zu Lasten der
Kernkraft.
Frau Hustedt, die Menschen warten darauf, daß Sie
ihnen eine Entlastung bringen. Was machen Sie? Zur
Zeit sorgen Sie für eine monatliche Zusatzbelastung:
letzten Monat die Braunkohle, heute das Stromeinspei-
sungsgesetz. Ich möchte Ihnen einmal die Gesamtsum-
me nennen.
– Da bin ich auch nicht. – Überlegen Sie doch einmal:
Das RWE rechnet nicht mit irgendwelchen Pfennigbe-
trägen, sondern mit Mehrkosten von 280 Millionen DM
für die Stromkunden allein in diesem Jahr – mit steigen-
der Tendenz.
Warum haben Sie nicht den Mut – auch das wäre eine
Möglichkeit –, die erforderlichen Mittel im Haushalt
einzustellen? Wir haben den Kohlepfennig abgeschafft
Ulrike Flach
7250 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
und den Energiemarkt liberalisiert, um den Menschen
mehr Geld im Portemonnaie zu lassen, und nun greifen
Sie erneut tief in die Taschen der Steuerzahler.
Ich bin gespannt, wie Herr Clement dies im Wahl-
kampf verkaufen wird. Das Energieland Nordrhein-
Westfalen mit immerhin 83 000 Beschäftigten ist un-
mittelbar von dieser grünroten Energiewende betroffen.
Dieses Problem wird im nächsten Jahr durch das Thema
Steinkohle erneut verschärft. Sie können ja nicht einfach
an dem größten Bundesland in Deutschland vorbeige-
hen, nur weil es Ihnen einfacher erscheint.
Offen bleibt, ob Ihre zahlreichen Pläne zum Schutz
Ihrer energiepolitischen Wunschwelt auch vor der Euro-
päischen Kommission oder dem Verfassungsgericht Be-
stand haben werden. Daran sind Zweifel angebracht. Wir
als F.D.P. lehnen den nationalen Alleingang ab und for-
dern Sie in unserem Antrag auf, sich für eine Harmonisie-
rung der Energiesteuern auf europäischer Ebene und
einen dritten Mehrwertsteuersatz für Energie einzusetzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie führen Deutsch-
land nicht in eine grünrote Energiewende, sondern sie
taumeln haltlos in den Verlust eines Drittels unserer
Energieversorgung. Dazu eine kleine Anmerkung: 1995
wurde das Kernkraftwerk Würgassen abgeschaltet, und
zwar allein aus betriebswirtschaftlichen Gründen. Heute
haben Sie wegen der ideologisch zugespitzten Debatte,
die wir inzwischen mit Ihnen zu führen haben, große
Schwierigkeiten, die Betreiber von solchen Schritten zu
überzeugen. Ich bin sicher, daß so manches Kernkraft-
werk ohne Ihre Ausstiegspolitik aus rein betriebswirt-
schaftlichen Erwägungen stillgelegt worden wäre.
In unserem Antrag haben wir uns vor allem auf die
Aspekte konzentriert, die Sie vernachlässigen, also zum
Beispiel auf die Nutzung flexibler Instrumente beim
Klimaschutz, auf den Ausbau der Energieberatung für
Mittelständler, auf die Verbesserung des Wirkungsgra-
des, auf Kraft-Wärme-Kopplung und integrierte Kohle-
vergasung. Wir wollen mit unseren Vorschlägen zur
Senkung des CO2-Ausstoßes im Gebäudebereich undzur Förderung umweltfreundlicher Kraftstoffe Ihr ein-
seitiges Vorgehen überwinden und die Politik auf eine
breitere Basis stellen.
Meine Damen und Herren, wir brauchen ein ge-
schlossenes Konzept für eine sichere, preisgünstige und
ökologisch nachhaltige Energieversorgung. Unser An-
trag trägt dazu bei. Ihre Ausstiegspolitik ist wie ein Fall-
schirm, den Sie im Flugzeug vergessen haben. Sie ist der
falsche Weg.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die
PDS-Fraktion hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter.
Frau Präsidentin! Lie-
be Kolleginnen und Kollegen! Energiepolitisch war es
nur so selten so bewegt wie in den letzten Wochen und
Monaten. Die Abgeordneten ersticken förmlich in Hilfe-
rufen von Stadtwerken sowie in Schreiben von Herstel-
lern regenerativer Energien und natürlich auch von Bür-
gerinnen und Bürgern, die den tatsächlichen Ausstieg
aus der Atomwirtschaft fordern.
Das alles wurde und wird von der Klimadebatte und
den Konsequenzen überlagert, die aus dieser Debatte zu
ziehen sind. Viele Zeichen stehen auf Alarm, und fast
alles ist im Aufbruch. Doch ist es auch ein Aufbruch zu
neuen Ufern der Energiepolitik?
Alle wissen es inzwischen: Strom ist angeblich gelb,
und die Preise stürzen in den Keller. Ich habe Ihnen
etwas von der letzten Klimakonferenz mitgebracht: Die
Atomlobby läßt diese gelben Kerzen verteilen, auf
denen geschrieben steht, daß Atomstrom der saubere
Strom sei. So sollen die Menschen auch noch dement-
sprechend beeinflußt werden.
Die Liberalisierung der Energiemärkte zerrt einen
Teil der enormen Rücklagen von großen Energieversor-
gungsunternehmen ans Licht. Jetzt wird deutlich, welch
hohe Profite sich die „armen Großkonzerne“ der Bran-
che jahrelang in die Tasche steckten. Doch was hier los-
getreten wurde, ist ein liberales Wettrennen um den am
billigsten produzierten, nicht um den volkswirtschaftlich
günstigsten Strom. Wer Sonnen- oder Windenergie aus
der Steckdose zapfen, also Umweltzerstörung reduzieren
und nachfolgenden Generationen keine Hypotheken
hinterlassen will, wird mit deutlich höheren Energieprei-
sen bestraft. Eine kinderreiche Familie kann also grünen
Strom ruhig wollen, aber vielleicht nicht bezahlen.
Zwischen „Yello“ und grünen Stromlieferanten be-
steht im Preiskampf keine Chancengleichheit. Erstere
kaufen billig Atom- und Kohlestrom ein, dessen Um-
weltkosten, Risiken und Forschungssubventionen die
ganze Gesellschaft zu tragen hat. Letztere müssen ihr
umweltfreundlicheres und zukunftsfähiges Produkt in
der Regel noch deutlich teurer anbieten. Dazu kommt,
daß durch großzügige Rückstellungsregelungen beim
Atomstrom mittels schon abgeschriebener Kraftwerke
und durch besagte Monopolpreise die Kriegskassen der
großen Energieversorger nach wie vor prall gefüllt sind.
Es ist ihnen ein leichtes, noch mehrere Monate Dum-
pingpreise zu finanzieren, um kleinere Anbieter und
Stadtwerke aus dem Rennen zu werfen. In vielen Stadt-
werken ist – nicht nur im Energiebereich – infolge der
Liberalisierung mit Massenentlassungen zu rechnen.
Darüber habe ich heute noch von keiner Fraktion etwas
gehört.
Die Bundesregierung doktert nun heftig herum. Ein
Änderungsantrag zum eigenen rotgrünen Entwurf des
neuen Stromeinspeisegesetzes mit Übergangshilfen für
die Kraft-Wärme-Kopplung liegt für die parlamentari-
sche Beratung in den Schubladen der Koalition, eine
Hilfe, die – wohlgemerkt – erst durch den massiven
Ulrike Flach
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7251
(C)
(D)
Protest von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern,
Betriebsräten und kommunalen Verbänden zustande
kam und mehrmals nachgebessert werden mußte.
Aber auch diese Hilfe wird nicht verhindern, daß
deutscher und ausländischer Billigstrom den ökologi-
schen Umbau behindern wird. Ich meine damit nicht nur
den Umbau im Energiesektor selbst. So sehen sich viele
Stadtwerke gezwungen, infolge des Strompreisverfalls
Stellen massiv abzubauen, beispielsweise die Stadtwer-
ke Mannheim, Wuppertal oder Suhl. Vier bis acht Pfen-
nig pro Kilowattstunde sind eben nicht zu unterbieten,
jedenfalls nicht, wenn man halbwegs seriös und langfri-
stig rechnet, soziale Beschäftigungsmodelle fährt und
dazu noch Einnahmen aus der Energieversorgung zur
Stützung des öffentlichen Personennahverkehrs verwen-
det.
„Strom aus Frankreich, Käse aus Holland, arbeitslos
in Deutschland“ war auf den Transparenten der Mann-
heimer Stadtwerkebeschäftigten zu lesen.
Unsere Fraktion hat sich mit ihnen getroffen. Sie haben
beschrieben, wie viele Entlassungen vor der Tür stehen,
oder auch, wie Kolleginnen und Kollegen und Bereiche
„ausgesourced“ werden, um anschließend zu einem
Drittel weniger wieder für dieselbe kommunale Firma
arbeiten zu müssen.
Neben Arbeitslosigkeit und Sozialabbau in den
Stadtwerken drohen den Kommunen massive Einnah-
meverluste. Der Querverbund zur Finanzierung des defi-
zitären ÖPNV wird nicht mehr lange zu finanzieren sein.
Zwar sind die Stadtwerke weiterhin Alleinversorger,
werden aber die Energieerzeugung los. Denn sie müssen
in Verträgen zwischen ihren Abnehmern und anderen
Versorgern einsteigen. Damit verlieren sie schlagartig
die Masse des Stromgeschäftes und die entsprechenden
Einnahmen. Ihnen bleiben lediglich die Durchleitungs-
entgelte und einige andere kundennahe Dienstleistun-
gen.
Jetzt frage ich Sie einmal, Herr Müller oder Frau Hu-
stedt: Wie wollen Sie den Familien erklären, daß sie,
auch wenn sie den Strom billiger bekommen, jetzt eine
Mark mehr für die Busfahrkarte bezahlen müssen? Das
müssen Sie einmal erklären. Aber das alles ist ja nicht
mehr wichtig. Liberalisierung ist inzwischen – wie das
Amen in der Kirche bei uns in Bayern – das Kredo.
Der Umweltverbrauch sollte teurer werden; dafür
sind die Grünen und auch einige in der SPD einmal ein-
getreten. Doch die kaum spürbare Strompreiserhöhung
aus der sogenannten Ökosteuer wird durch die über-
stürzte Liberalisierung mehr als aufgefressen. Alles kein
Problem, wie wir gerade gehört haben!
Sie tun so, als wäre die Liberalisierung, die Ungleiche
zu Lasten von Umwelt- und Sozialstandards unter die
Knute des Wettbewerbs zwingt, ein Zwang, der quasi
naturgesetzlichen Charakter hat: unveränderlich, von
Gott gegeben. Dem möchte ich mit einer Analyse des
Wuppertal-Instituts entgegnen. In seiner Stellungnahme
zur Entwicklung des Strommarktes heißt es:
In keinem Land der Welt mit vergleichbaren Ange-
botsstrukturen wurde der unregulierte Preiswettbe-
werb so stufenlos, so undurchdacht und so folgen-
reich eingeführt wie in der Bundesrepublik.
Die Mitgliedstaaten hätten nämlich den Netzbetreibern
laut EU-Binnenmarktrichtlinie Elektrizität Vorgaben
über den Einsatz umweltverträglicher oder heimischer
Energieträger machen können. Dies ist aber in Deutsch-
land weitgehend unterblieben, während andere Länder
davon Gebrauch gemacht haben.
Die Marktöffnung soll in mehreren Stufen erfolgen.
Bis 2000 sollen die Mitgliedstaaten mindestens zirka
28 Prozent ihres Strommarktes dem Wettbewerb öffnen.
Bis zum Jahr 2003 ist der Prozentsatz auf ein Drittel des
Marktes anzuheben. Über eine etwaige weitergehende
Marktöffnung will der Rat erst im Jahre 2006 befinden.
In Deutschland beträgt die Liberalisierung – wenn ich
einmal vereinfacht rechne – 100 Prozent minus Strom-
einspeisegesetz und minus Schutz der ostdeutschen
Braunkohleverstromung. In gewisser Weise zählen zu
den Schutzmechanismen auch die Steinkohlesubventio-
nen und – allerdings nur bei der Netzbetreibung – der
Gebietsschutz der Stadtwerke.
Deutschland dürfte damit wohl schon mehr als die
Hälfte seiner Stromerzeugung dem knallharten Wettbe-
werb ausgesetzt haben. Das ist doppelt so viel wie von
der EU gefordert; das ist umweltpolitischer Irrsinn und
nützt eindeutig allein den großen EVUs, was man wie-
der deutlich sagen muß.
Dazu kommt jetzt noch der von der rotgrünen Regie-
rung in die nächste Generation verschobene Atomaus-
stieg. Das war ja wohl nichts. Ein tatsächlicher schneller
Ausstieg, verbunden mit vernünftigen Schutzmechanis-
men für den einheimischen Strommarkt und einer
umfassenden Förderung regenerativer Energien, hätte
dagegen die Marktchancen für Solarstrom, für Energie
aus Windkraft oder Biomasse drastisch erhöht. Mit
höheren Stückzahlen für die Anlagen wären dann auch
schnell die Kosten gesunken, und die Subventionen
hätten zurückgefahren werden können. Auch das ist
Marktwirtschaft. Aber alte und neue Bundesregierung
haben sich für die nächsten 20 Jahre für einen atom-
stromgesteuerten, fossilatomaren Energiemix entschie-
den, der mit Ökostrom nur garniert wird.
Weil der Markt überraschenderweise noch nicht so frei
ist, setzt auch noch ein gigantischer Konzentrationspro-
zeß ein.
Der einzige energiepolitische Lichtblick ist der vor-
liegende Entwurf zur Novellierung des Stromeinspeise-
gesetzes. Hiervon ausgehend könnten sich die meisten
existierenden Erzeuger von regenerativen Energien
behaupten. Die Höhe der Einspeisevergütungen kommt
in Verbindung mit anderen Förderinstrumenten nämlich
Eva Bulling-Schröter
7252 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
erstmals in die Nähe kostendeckender Vergütungen. Wir
begrüßen das.
Es gibt noch einige Dinge, die anzumerken wären; da
aber meine Zeit langsam abläuft, werden wir unsere
weiteren Bedenken in den entsprechenden parlamentari-
schen Debatten darüber einbringen. Auf eine Frage muß
aber noch eingegangen werden: Der 5-Prozent-Deckel
wird mit dem vorliegenden Gesetzentwurf abgeschafft;
das begrüßen wir sehr. Dem steht aber entgegen, daß die
EU-Kommission vorhat, diese Begrenzung nach deut-
schem Vorbild für alle EU-Länder vorzuschreiben.
– Wenn es weg ist, ist es um so besser. Dann brauchen
wir hier nicht mehr weiterzumachen. Das finde ich toll.
Zum Abschluß möchte ich noch auf die CDU/CSU-
Anträge eingehen: Mich verwundert sehr, daß Sie jetzt
einen Stand-by-Antrag vorlegen, aber dem schon in der
letzten Legislaturperiode von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen in ähnlicher Form eingebrachten damals nicht
zugestimmt haben.
– Wenn Sie einen eigenen hatten, warum haben Sie ihn
dann nicht umgesetzt? Warum ist das noch nicht durch-
gesetzt worden? Die Scheinheiligkeit trägt auch hier
wieder Blüten.
Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt dem Kollegen Dr. Reinhard
Loske, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Telefone gibt, mit denen man sich kurz informieren
kann. Das eröffnet mir die Möglichkeit, auf den Beitrag
der Kollegin Flach einzugehen, die zur Zeit leider nicht
da ist. Ich hatte mich schon früher gemeldet; es ist somit
bedauerlich, daß ich darauf jetzt nach dem Beitrag von
Frau Bulling-Schröter eingehen muß.
Frau Flach hatte behauptet, das Wuppertal-Institut ha-
be eine Studie vorgelegt, in der summa summarum stehe,
Atomausstieg und Klimaschutz seien nicht vereinbar.
Das ist unwahr. In dieser Studie wurden verschiedene
Szenarien, ausgehend von verschiedenen Zeiträumen, be-
trachtet, in denen untersucht wurde, ob das Klimaschutz-
ziel – 25 Prozent CO2-Minderung bis 2005 – mit dem ZielAtomausstieg vereinbar sei. Es wurde festgestellt, daß das
Klimaschutzziel sowohl bei einer Gesamtlaufzeit der
Atomkraftwerke von 25 Jahren als auch bei einer Ge-
samtlaufzeit von 40 Jahren – das ist das andere Extrem –
erreichbar ist. Die logische Folgerung war: Wenn man
eher aussteigt, muß man mehr für die alternativen Ener-
gien tun. In der „Berliner Zeitung“ steht dementsprechend
der Satz:
Es stimmt, daß mit dem Ausstieg der Handlungs-
druck auf die Energiewirtschaft steigt und darin
eine Chance zur Erneuerung der Energiepolitik
liegt.
Als Maßnahmen wurden dort dann genannt: Ausbau der
erneuerbaren Energien und der Kraft-Wärme-Kopplung
sowie eine anspruchsvolle Energiesparverordnung und
anderes. Genau für diese Dinge haben wir uns einge-
setzt, und über die reden wir heute.
Insofern würde ich die Ausführungen von Frau Flach als
„voll daneben“ bezeichnen und bitte sie, das nächste
Mal genauer zu lesen.
Zweiter Punkt. Es war für mich sehr interessant zu
sehen, wie ausgewogen und ausgleichend Sie, Herr
Grill, hier argumentiert haben. Das hat meine Vorfreude
auf die Enquete-Kommission zum Thema Energie ge-
steigert, deren Vorsitzender Sie ja werden sollen. Es hat
mich aber schon gewundert, daß in Ihrer ganzen Rede
nicht ein einziges Mal das Wort „Energieeinsparung“
gefallen ist.
Das wirft wirklich ein sehr bezeichnendes Licht auf Ihre
Art, über Energiepolitik nachzudenken.
Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Erwiderung Herr
Kollege Grill, bitte.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Herr Kollege Loske, ich darf
Sie genauso wie Ihre Kollegin, Frau Hustedt, darauf
aufmerksam machen, daß der Gegenstand der heutigen
Erörterung die Frage ist, ob die Bundesregierung und die
rotgrüne Koalition ein geschlossenes und nachvollzieh-
bares Energiekonzept haben.
Es geht nicht um die Frage, ob die Opposition dem
Deutschen Bundestag ein Energieprogramm vorlegen
kann. Wir haben Fragen gestellt. Auf diese Fragen und
unsere Forderungen nach einem Energieprogramm für
das nächste Jahrhundert haben Sie und hat auch der
Bundeswirtschaftsminister heute keine Antworten gege-
ben.
– Nun hören Sie doch auf, dazwischenzurufen! Sie er-
halten von uns eine energiepolitische Antwort, wenn sie
Ihr eigenes Energiesparprogramm zum Gegenstand ma-
chen.
Etwas anderes: Sorgen Sie doch dafür, daß die Große
Anfrage der CDU/CSU, die erst im Januar oder Februar
beantwortet werden soll, obwohl wir ein Antwortrecht
Eva Bulling-Schröter
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7253
(C)
(D)
innerhalb von sechs Wochen haben, endlich beantwortet
wird! Sorgen Sie dafür, daß die Bundesregierung, die
Sie unterstützen, endlich die Frage beantwortet, wie die
Energiepolitik der Koalition für das 21. Jahrhundert aus-
sieht! Es waren keine Fragen an unsere, sondern Fragen
an Ihre Energieprogrammatik. Deswegen kann ich nur
feststellen: Sie und die anderen, die heute bisher zu die-
sem Thema geredet haben, haben auf unsere Fragen kei-
ne Antworten gegeben. Das ist der Punkt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner in
der Debatte ist der Kollege Ernst Schwanhold für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Gut ein Jahr nach der
Regierungsübernahme durch die rotgrüne Koalition sind
bereits wesentliche Teile eines nachhaltigen klimaver-
träglichen Energiekonzeptes umgesetzt worden.
Sie haben sich ständig gegen die Internalisierung exter-
ner Kosten gewandt; wir haben es gemacht und damit
die relativen Preise zugunsten der Energien, die wir för-
dern wollen, deutlich verbessert. Sie haben die relativen
Preise sich in die andere Richtung entwickeln lassen.
Parallel dazu haben wir den Faktor Arbeit entlastet. Das
ist ein wichtiges Element. Heute wird ein Gesetz vorge-
legt, mit dem erneuerbare Energien deutlich unterstützt
werden und in den Markt eingeführt werden. In Vorbe-
reitung ist ein Maßnahmenpaket zur Korrektur wesent-
licher Fehlentwicklungen aus Ihrer Energiegesetzgebung
von 1998.
Der Ausstieg aus der Kernenergie im Konsens ist abseh-
bar. Dabei könnten wir sogar schon ein gutes Stückchen
weiter sein, wenn wir nicht zunächst den Schutt der
Vorgängerregierung wegzuräumen hätten.
Sie sollten sich also, was Gesetzgebungsverfahren
und mangelnde Erfolge angeht, zurückhalten. Wir sind
jetzt erstmals dabei, eine verläßliche Planung für Inve-
storen und Verbraucher außerhalb der Kernenergie zu
schaffen, und im Bereich der Kernenergie geschieht das
sogar mit den Unternehmen zusammen. Das löst Unsi-
cherheiten und Investitionsattentismus auf. Alle Unter-
nehmen und Branchen bekommen Zukunftsaussichten.
Genau darum geht es.
Nebenbei bemerkt gilt das auch für die Braunkohle
und die Steinkohle. Sie haben der Braunkohle und zu-
dem dem Standort Ostdeutschland einen Tort angetan,
indem Sie ein Schutzgebiet mit wesentlich höheren Prei-
sen eingerichtet haben, so daß sich dort relative Preise
zu Lasten einer Industriekultur und zu Lasten des Indu-
strieaufbaus Ostdeutschland entwickelt haben. Mit unse-
rem Gesetzgebungsverfahren lösen wir das wieder auf.
Genau das ist der Weg, um die Braunkohle zu sichern
und den Industriestandort Ostdeutschland in eine
bessere Situation zu bringen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Schwanhold,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grill?
Ja, selbstverständlich.
Herr Kollege Schwan-
hold, ist es richtig, daß RWE gegen die steuerliche Be-
vorteilung von Gaskraftwerken im Zusammenhang mit
der Braunkohlegewinnung in Garzweiler protestiert
hat? Ist es richtig, daß Sie das Gesetz geändert haben,
um die Nutzung der Gaskraftwerke einzuschränken?
Wie beurteilen Sie die Bedrohung der ostdeutschen
Braunkohle durch das Gaskraftwerk in Lubmin? Oder
gilt die Bedrohung nur für RWE und Braunkohle in
Garzweiler?
Herr Grill, ich bin Ihnen
für diese Frage außerordentlich dankbar. Denn sie gibt
mir trotz meiner sehr knapp bemessenen Redezeit die
Gelegenheit, Ihnen das Artikelgesetz, welches wir vor-
gelegt haben, in allen drei Elementen – denn Sie haben
alle drei Elemente angesprochen – ausgesprochen gründ-
lich zu erklären. Ich bitte Sie, sich darauf einzurichten,
länger stehen zu müssen.
Erstens. Wir haben den Bereich der alternativen
Energien sehr in den Vordergrund gestellt, um Wind-
energie, GuD, KWK und andere Bereiche, zum Beispiel
Erdwärme oder Solarenergie, auf eine so solide Förder-
basis zu stellen, daß sie den Weg in den Markt finden.
Zudem haben wir Biogas und Grubengas mitaufgenom-
men.
Zweitens. Wir legen im Artikelgesetz eine Sicherung
für die Kraft-Wärme-Kopplung der Stadtwerke vor, die
durch Ihre Gesetzgebung existentiell bedroht gewesen
sind, was zu einer massenhaften Entlassung in einigen
Kraftwerksbereichen und in einigen Städten geführt
hätte. Dies ist ein wichtiges Element ökologischer Ener-
gieversorgung.
Drittens. Wir werden im Rahmen dieses Artikelgeset-
zes einen GuD-Förderungsteil mit einer zeitlichen Be-
grenzung vorlegen. Dies ist zwischen den beteiligten
Partnern – Bundesregierung, nordrhein-westfälischer
Landesregierung und Braunkohle – verabredet worden.
Es wird zeitlich befristet werden. Darüber haben wir im
Rahmen des Gesamtpaketes miteinander eine Vereinba-
rung zu treffen. Damit ist sowohl für die Braunkohle als
auch für die Kraft-Wärme-Kopplung, als auch für die
alternativen Energieträger eine Zukunftssicherung er-
Kurt-Dieter Grill
7254 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
folgt und eine planbare Zukunft vorauszusehen. Genau
dies ist unser Ansatz gewesen. – Dies ist die Antwort auf
Ihre Frage.
Sie haben – ich muß Ihnen hier ein paar Vorwürfe
machen, Herr Grill – im Rahmen Ihres Gesetzgebungs-
verfahrens die ökologisch wichtige dezentrale Energie-
versorgung akut gefährdet. Sie haben dafür gesorgt, daß
Kraft-Wärme-Kopplung zu einer Fehlinvestition wer-
den könnte und in bestimmten Bereichen zu einer Fehl-
investition geworden wäre. Sie haben dafür gesorgt, daß
Investitionen in innovative Kraftwerkskonzepte unter-
bleiben. Allenfalls einige konfektionierte Gaskraftwerke
wären mit Ihrer Energiepolitik neu errichtet worden.
Dies ist alles nur ein Setzen auf alte Energie, auf Kern-
energie, aber kein innovatives Konzept, bestehend aus
Energieeinsparung und dezentraler Versorgung mit Ar-
beitsplätzen in der Bundesrepublik Deutschland. Wir
wollen nicht, daß andere den Markt über Exporte bedie-
nen, sondern wollen für Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer in diesem Land auch einen eigenen Produktions-
standort erhalten. Genau dies ist der Punkt, an dem wir
uns bewegen, und zwar in die richtige Richtung.
Der letzte Punkt, Herr Grill, gehört auch zum Ge-
samtkonzept. Der Ausstieg aus der Kernenergie verlangt
langfristig ein Konzept über Einsparen, über alternative
Produktionen, über regenerative Energieträger und na-
türlich auch über die Stärkung der heimischen Energie-
träger im Energiemix. Genau daran wird länger zu ar-
beiten sein. Wir laden Sie ausdrücklich zu einer Diskus-
sion über diesen Energiemix ein, denn je breiter dieser
getragen wird von den Menschen in diesem Land und
von den Parteien in diesem Parlament, desto sicherer
sind die Planungsdaten für die Wirtschaft. Dazu hat der
Minister und haben die beiden Bundestagsfraktionen in
den letzten Wochen einen entscheidenden Beitrag gelei-
stet. Ich bedanke mich ausdrücklich für die schwierige,
aber gute Zusammenarbeit, die zu diesem Ergebnis ge-
führt hat.
Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt dem Kollegen Ulrich Klinkert,
CDU/CSU, das Wort.
Herr Kollege Schwan-
hold, Sie haben den Kompromiß zur Braunkohle falsch
dargestellt. Der gefundene Kompromiß zwischen nord-
rhein-westfälischer Landesregierung und Bundesregie-
rung betrifft ausschließlich die Braunkohle in Nord-
rhein-Westfalen. Das hat seinen Hintergrund darin, daß
sich die Bundesregierung vor den anstehenden Land-
tagswahlen damit die Zustimmung des Landes Nord-
rhein-Westfalen erkauft hat. Er richtet sich ausdrücklich
gegen die ostdeutsche Braunkohle, weil er so befristet
ist, daß in der zur Verfügung stehenden Zeit ein Gas-
kraftwerk in Lubmin gebaut werden kann. Dies schafft
in erster Linie eine Konkurrenzsituation für die ostdeut-
sche Braunkohle. Bei der Kompromißfindung waren die
ostdeutschen Länder ganz bewußt ausgeschlossen. Den
Aufbau Ost zur Chefsache zu machen, hat sich wieder
einmal als Drohung erwiesen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Erwiderung,
Herr Kollege Schwanhold, bitte.
Herr Kollege Klinkert,
wir sind uns in genau dieser Frage an einer anderen
Stelle schon einmal begegnet. An dieser Stelle habe ich
Ihnen gesagt: Ich halte es im Interesse der ostdeutschen
und der westdeutschen Braunkohle für einen höchst un-
anständigen Vorgang, diese beiden Reviere gegeneinan-
der ausspielen zu wollen, weil die Bundesregierung sich
darum bemüht, für beide Reviere etwas zu tun.
Sie tun so, als ob das westdeutsche Braunkohlerevier zu
Lasten des ostdeutschen Braunkohlereviers gefördert
würde oder als ob wir die ostdeutsche Braunkohle nicht
im Blick hätten.
Erstens. Wir werden über eine Quote oder andere ge-
eignete Maßnahmen – nicht über ein Gebietsreservat –
die Förderung und den Absatz der ostdeutschen Braun-
kohle sichern, so daß diese Kraftwerke in Zukunft im
Wettbewerb bestehen können. Dafür haben wir einen
beschränkten Zeitraum zu überbrücken. Das ist ein zen-
traler Ansatz, um den Wettbewerb zu stärken.
– Entschuldigung, ich habe von einem begrenzten Zeit-
raum gesprochen. Sie haben den Wettbewerb dadurch
ausgeschaltet, daß Sie den Verbraucherinnen und Ver-
brauchern in Ostdeutschland höhere Strompreise abver-
langt haben als denen in Westdeutschland, und dies bei
60 Prozent des Einkommens. Herr Hirche, Sie sollten
sich hier nicht zu Wort melden, sondern sich bei denen
entschuldigen, denen Sie das Geld aus der Tasche gezo-
gen haben.
Zweitens. Wir werden über eine Quote oder eine an-
dere Maßnahme, die der Verantwortung der Besitzun-
ternehmen der ostdeutschen Energieversorgung gerecht
wird, zum Beispiel durch Verlustübernahme, die Braun-
kohle sichern und dafür sorgen, daß Laubag und Mibrag
einen Weg in die Zukunft finden, daß also die Standorte
– mit den Kraftwerken und der Förderung von Braun-
Ernst Schwanhold
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7255
(C)
(D)
kohle – erhalten bleiben. Das ist eine allemal sicherere
Basis als die, die von Ihnen bisher versprochen wurde.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Kollege Gunnar Uldall für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Mei-
ne Damen! Meine Herren! Herr Minister Müller, ich ha-
be schon viele Reden von Ihnen gehört. Ich habe aber
noch nie erlebt, daß Sie eine Rede mit so wenig Enga-
gement vorgetragen haben wie heute.
Es war faktisch eine „Energie-Rede“ ohne jede erkenn-
bare Energie von Ihnen.
Aber dahinter steckt mehr. Man erkennt, daß inzwi-
schen der Takt in Sachen Energiepolitik längst nicht
mehr von Ihnen angegeben wird, Herr Minister, sondern
von Frau Hustedt und vom Kollegen Schwanhold, von
den Fraktionen SPD und Grüne. Dorthin ist die Kompe-
tenz gewandert. Es ist schade, daß sich der Wirtschafts-
minister in dieser Frage so wenig durchsetzen kann.
Die zentrale Frage aber haben Sie in Ihrer Rede über-
haupt nicht angesprochen. Es ist die Frage: Wie können
wir langfristig unseren Energiebedarf decken? Sie ha-
ben ein bißchen verniedlichend gesagt: Ach, die Kern-
energie macht 10 Prozent des Energiebedarfs in
Deutschland aus. Richtig, diese Zahl bestreite ich gar
nicht. Aber darum geht es nicht. Es geht doch nicht um
den Gesamtbedarf an Energie – mir ist nicht bekannt,
daß in Deutschland Autos mit Kernenergie fahren –,
sondern um die Stromproduktion.
Man muß eben wissen, daß ein Drittel der in Deutsch-
land insgesamt produzierten Strommenge aus Kern-
kraftwerken kommt und daß es – das ist das Entschei-
dende – bei der Grundlast über 60 Prozent sind.
Die Lücke, die durch die Abschaltung der Kraftwerke
entsteht, durch Stromeinsparung, Windräder oder Gas-
kraft zu schließen wird sehr schwer möglich sein; das
muß man doch einräumen. Man muß erkennen, daß wir
diesbezüglich vor einer großen Aufgabe stehen.
Nehmen wir aber optimistischerweise einmal an, daß
der Ausfall der Kernenergie in Deutschland ausgegli-
chen werden kann. Was passiert aber, wenn zum Bei-
spiel in zehn Jahren die Diskussion über die Klimaver-
änderung in das Zentrum der politischen Auseinander-
setzung gestellt wird? Wollen Sie dann plötzlich alle
Kohlekraftwerke, auch alle Braunkohlekraftwerke, ab-
schalten? Dann wird eine Lücke entstehen, die in kei-
nem Fall zu schließen ist. Deshalb sage ich: Die Regie-
rung, SPD und Grüne weichen der Kernfrage, wie wir
langfristig unseren Energiebedarf decken, aus. Das darf
nicht hingenommen werden, meine Damen und Herren.
Dabei steht Deutschland nicht alleine in der Welt.
2 Milliarden Menschen haben heute noch keinen Zu-
gang zu Elektrizität. Auch diese 2 Milliarden haben
einen Anspruch auf ein Mindestmaß an Lebenskomfort
durch Wasserpumpen, durch Heizung, durch Beleuch-
tung usw.
Das bedeutet, daß wir vor einem riesigen Wachstum des
Energiebedarfs stehen. Im Jahr 2018, in dem die Grünen
und die Sozialdemokraten aus der Kernenergie ausstei-
gen wollen – Kollege Schwanhold hat den Plänen der
Grünen sofort begeistert zugestimmt –, werden auf der
Welt 10 Milliarden Menschen leben.
Es stellt sich die Frage, wie wir den dann bestehenden
Energiebedarf – das Wachstum wird von Fachleuten auf
50 Prozent veranschlagt – langfristig decken wollen.
Sie weichen dieser Frage aus. Der Grund dafür ist ganz
einfach: Es geht nämlich nicht ohne Kernenergie. Wer
diese Frage nicht beantwortet, will nicht einräumen, daß
die Welt den Energiebedarf langfristig nicht ohne Kern-
energie wird decken können.
Meine Damen und Herren, wir als Union haben in
den vergangenen zehn Jahren die alternativen Energien
massiv gefördert. Wir sind die Erfinder des Stromein-
speisungsgesetzes.
Wir haben die Weichen für den Ausbau der alternativen
Energieformen, für Wasserkraft, für Windenergie, für
Solartechnik, für Biogasanlagen, gestellt.
– Liebe Frau Hustedt, wir haben bis vor 14 Monaten die
Mehrheit in diesem Haus gehabt. Sie wollen doch nicht
sagen, daß wir uns gegen uns selber stemmen!
Wir haben diese Energieträger gefördert und ihnen zum
Durchbruch verholfen. Wir werden auch weiterhin die
Vorreiter in der Unterstützung dieser Energieträger sein.
Ernst Schwanhold
7256 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Aber wir müssen ehrlicherweise auch erkennen, wo die
Grenzen dieser neuen Energieträger liegen. Deswegen
kann ich nur sagen, daß das jetzt von den Sozialdemo-
kraten und von den Grünen vorgelegte Gesetz eine Rei-
he von Schwachstellen hat, die nicht akzeptabel sind.
Deshalb darf das Gesetz so nicht durchkommen. Diese
Kritik ist inzwischen auch von den Verbänden erhoben
worden.
Wir werden während der Ausschußberatungen sehr gute
Vorschläge unterbreiten.
Eines fällt Ihnen allerdings immer sofort ein: eine
neue Belastung des Stromverbrauchers. Sie haben vor-
gesehen, für eine Subventionierung der Kraft-Wärme-
Kopplung zusätzlich 0,2 bis 0,4 Pfennig zu erheben.
Beim Stromeinspeisungsgesetz werden es 0,8 Pfennig
pro Kilowattstunde.
Bei der Ökosteuer werden es 4 Pfennig. Auf das alles
wird dann noch die Mehrwertsteuer von 16 Prozent auf-
geschlagen. Meine Damen und Herren, Ihre Kreativität
sollten Sie in eine andere Richtung lenken und nicht auf
Überlegungen verwenden, wie Sie den Energieverbrau-
cher belasten können.
Es paßt sehr gut, wenn der frühere SPD-Umwelt-
senator in Hamburg, Fritz Vahrenholt,
der sicherlich als der profilierteste Vordenker hinsicht-
lich neuer Energieformen zu betrachten ist, kürzlich
schrieb:
… zu glauben, eine Zehn-Milliarden-Menschheit
könne ohne technologische Quantensprünge um-
weltverträglich
– Strom –
produzieren und konsumieren, gehört zu den Le-
benslügen einer erstarrten Gesellschaft, die sich nur
mit der Gegenwart beschäftigt.
Genau das tun die Sozialdemokraten und die Grünen.
Die Energiewirtschaft ist eine Schlüsselbranche unse-
rer Volkswirtschaft. 30 Milliarden DM Investitionen,
200 Milliarden DM Umsatz, 300 000 Beschäftigte – das
sind die Zahlen, die diesen Wirtschaftszweig kennzeich-
nen. In der Kernenergiebranche sind 40 000 Menschen
beschäftigt. Aber es geht nicht um sie allein. Wenn wir
an Wettbewerbsfähigkeit verlieren, werden 150 000
Arbeitsplätze in den Branchen Stahl, NE-Metalle, Che-
mie, Papier, Glas, Zement gefährdet. Das sind die volks-
wirtschaftlichen Auswirkungen, mit denen wir rechnen
müssen, wenn wir kurzfristig aussteigen.
Der Ausstieg aus der Kernenergie verunsichert in-
und ausländische Investoren. Die Schaffung neuer Ar-
beitsplätze wird erschwert, da Investitionen in Deutsch-
land zunehmend ausbleiben werden. Wir werden inner-
halb kürzester Frist von einem Exporteur von Spitzen-
technologie zu einem Importeur dieser Technologie
werden. Es ist außerordentlich bedauerlich, daß wir die-
sen Vorsprung aufgeben.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Formanski?
Bitte.
Bitte sehr, Herr
Kollege.
Herr Kollege Uldall, Sie
haben gerade Herrn Vahrenholt zitiert. Ist Ihnen be-
kannt, daß er das in der Tat so gesagt hat, und zwar bei
dem Ereignis der Einweihung der Solarzellenfabrik in
Gelsenkirchen, so daß er damit durchaus auch die Solar-
energie meinte?
Deutschland ist einer
der führenden Produzenten von Solarzellen. Shell ist da-
bei mit gutem Beispiel vorangegangen und hat hier in-
vestiert. Man kann wirklich nur lobend hervorheben, daß
wir in Deutschland eine so fortschrittliche Industrie ha-
ben. Nur, die Entwicklung ist doch nicht in den letzten
14 Monaten durch Sie erfolgt, sondern wir haben mit
dem Stromeinspeisungsgesetz die Grundlagen für diese
Entwicklung geschaffen.
Insofern ist es ein Verdienst unserer Regierung, daß
Deutschland heute bei der Produktion von Solarzellen
vorne liegt.
Im übrigen, Herr Formanski, müssen Sie berücksich-
tigen, daß Herr Vahrenholt diese Worte nicht nur bei der
Eröffnung einer Solarzellenfabrik gesagt hat. Es gab
kürzlich auch in der „Welt“ einen hervorragenden Arti-
kel von ihm dazu, den ich Ihrer Aufmerksamkeit sehr
empfehle. Sie können daraus eine Menge lernen, Herr
Formanski.
Gunnar Uldall
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7257
(C)
(D)
Es ist außerordentlich bedauerlich, Herr Formanski,
daß die Sozialdemokraten Herrn Vahrenholt aus dem
Hamburger Senat hinausgeschmissen haben.
Die Diskussion über die Kernenergie ist bei den Grü-
nen zu sehr durch parteitaktische Überlegungen be-
stimmt. Wenn gefordert wird, daß im Jahre 2002 minde-
stens zwei Kraftwerke abgeschaltet werden, dann ist das
ein Zeichen dafür, daß nicht Sicherheitsüberlegungen
und nicht energiepolitische Überlegungen für Ihre Poli-
tik bestimmend sind, sondern daß allein der nächste
Wahltermin bestimmend für das ist, was Sie heute ener-
giepolitisch auf den Weg bringen wollen. Dafür ist
Energiepolitik zu ernst und zu wichtig, als daß wir sie
allein von Wahlterminen abhängig machen könnten.
Wir haben heute keine einzige nachvollziehbare Be-
gründung gehört, warum Deutschland vorzeitig aus der
friedlichen Nutzung der Kernenergie aussteigen muß.
Solange die Sicherheit der deutschen Kernkraftwerke
gewährleistet ist,
sollten diese weiterbetrieben werden dürfen. Wir sind es
der nächsten Generation schuldig, die Option Kernener-
gie in Deutschland offenzuhalten.
Wer zwingt uns eigentlich, bereits im Jahre 1999
festzulegen, wie in Deutschland im Jahre 2018 der
Strom produziert werden muß? Es gibt keine Begrün-
dung dafür, daß wir uns schon heute festlegen, vor allen
Dingen dann nicht, wenn ich berücksichtige, daß Sie,
Herr Minister Müller, bei einer Ausschußberatung ein-
mal eingeräumt haben, daß es durchaus denkbar ist, daß
in zehn Jahren andere Rahmenbedingungen existieren,
die uns dazu bringen könnten, die Stromproduktion aus
Kernenergie in Deutschland wieder aufzunehmen. Das
ist Nachbesserung. Aber hier handelt es sich nicht um
das 630-Mark-Gesetz und nicht um das Scheinselbstän-
digengesetz, sondern hier handelt es sich um eine weit-
reichende Weichenstellung für die Wirtschaftspolitik in
Deutschland. Wenn wir heute aus der Kernenergie aus-
steigen, wie Sie es vorgesehen haben, kann diese Ent-
scheidung nicht wieder rückgängig gemacht werden.
Die jetzige Energiepolitik und auch die Debattenbei-
träge, die wir heute gehört haben, zeigen, daß die Regie-
rung und die Regierungskoalition durch ein Markenzei-
chen gekennzeichnet sind, und zwar durch die Kurz-
atmigkeit ihrer Politik. Das wird sich bitter rächen.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt
der Kollege Hans-Josef Fell, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Gestern forderte Deutschlands führender Klimafor-
scher, Professor Hartmut Graßl, in der „Süddeutschen
Zeitung“ einen dynamischen Übergang in das solare
Zeitalter. Heute legen die Koalitionsfraktionen genau
dafür einen Gesetzentwurf vor.
Mit dem Gesetz zur Förderung der Stromerzeugung aus
erneuerbaren Energien schaffen wir jetzt die Grundlage,
um, Herr Uldall, ungefähr bis zum Jahre 2050 den ge-
samten Energiebedarf aus Sonne, Wind, Wasser, Bio-
masse und Erdwärme decken zu können. Die direkte
Nutzung der Sonne wird, wie von Professor Graßl ge-
fordert, die wichtigste Säule der Energieversorgung
einer wachsenden Weltbevölkerung sein. Herr Uldall,
das ist die Antwort auf Ihre Frage nach der langfristigen
Sicherung der Deckung des Energiebedarfs. Nicht das
Uran, das, würde man es in gleichem Maße wie heute
nutzen, in etwa 40 bis 60 Jahren weltweit verbraucht
sein wird, wird dies leisten können, sondern der Einstieg
in das solare Zeitalter.
Der von den Koalitionsfraktionen vorgelegte Entwurf
eines Gesetzes zur Förderung der Stromerzeugung aus
erneuerbaren Energien wird die dafür erforderliche Dy-
namik erzeugen. Denn die an der Wirtschaftlichkeit ori-
entierten Vergütungssätze werden ein beschleunigtes
Wachstum der noch marktfernen Techniken ermögli-
chen. Dieses Wachstum wird – fast nebenbei – dem
Standort Deutschland neue Impulse geben und zahlrei-
che Arbeitsplätze schaffen. Die große Unterstützung
seitens der IG Metall und des Deutschen Bauernverban-
des für dieses Gesetz ist ein beredtes Zeugnis dafür. Al-
lein zur Schaffung neuer Arbeitsplätze macht dieses Ge-
setz Sinn.
Andere Industrienationen, vor allem Japan und die
USA, legen bei der Markteinführung erneuerbarer Ener-
gien ein hohes Tempo vor. Japan wird im kommenden
Haushalt allein 900 Millionen DM für die Unterstützung
der Photovoltaik bereitstellen. In den USA will Präsi-
dent Clinton alle staatlichen Liegenschaften mit Erd-
wärme versorgen. In beiden Ländern wird der Binnen-
markt also stark angeschoben. Auf diese Weise wird die
heimische Industrie gefördert und für den Weltmarkt fit
gemacht. Der Weltmarkt für erneuerbare Energien wird
vor dem Hintergrund des riesigen Energiehungers der
Welt stark anwachsen. Liebe Kolleginnen und Kollegen,
wir schaffen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eine
gute Ausgangsbasis gerade für die deutsche Industrie.
Das Gesetz zur Förderung der Stromerzeugung aus
erneuerbaren Energien wird auch den marktwirtschaftli-
chen Grundanforderungen gerecht. Herr Hirche, nur wer
Renditen erwirtschaften kann, geht nicht in Konkurs.
Gunnar Uldall
7258 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Daher sind wirtschaftlich rentable Vergütungen notwen-
dig. Dies ist kein Gießkannenprinzip, wie Sie, Herr Hir-
che, es dargestellt haben, sondern eine Grundregel der
Betriebswirtschaft. Was in der konventionellen Ener-
giewirtschaft gängige Praxis war, muß heute auch im
Hinblick auf die Markteinführung erneuerbarer Energien
gelten. Für Biomasse, Wind, Kleinwasserkraft oder Geo-
thermie liegen die betriebswirtschaftlich erforderlichen
Vergütungssätze bereits nahe bei den Marktpreisen des
konventionellen Stromes.
Notwendig ist es, auch die Photovoltaik in dieses
Raster einzureihen. Mit 99 Pfennigen pro Kilowattstun-
de ist der Solarstrom tatsächlich noch weit von den
marktüblichen Strompreisen entfernt. Aber die Praxis in
vielen engagierten und fortschrittlichen Kommunen, wo
noch vor wenigen Jahren 2 DM pro Kilowattstunde ge-
zahlt wurden, hat längst bewiesen, daß angemessene
Vergütungen den größten Marktanschub schaffen. Die
Senkung von 2 DM im Jahre 1993 auf jetzt 99 Pfennig
pro Kilowattstunde zeigt uns, wie schnell eine aktive
Unterstützung der Markteinführung zu Innovationsfort-
schritten und damit zu Kostensenkungen führt. Genau
das, Innovationsfortschritte und Kostensenkungen im
Bereich der erneuerbaren Energien, ist das Ziel des Er-
neuerbare-Energien-Gesetzes.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
noch immer gibt es Menschen, die daran zweifeln, ob
die unterschiedlichen Arten der Sonnenenergie ausrei-
chen, unseren Energiebedarf zu decken. Diese Zweifel
sind völlig unberechtigt. In jeder Sekunde strahlt die
Sonne auf die Landflächen dieser Erden 3 000 mal mehr
Energie, als die Welt insgesamt nutzt. Herr Uldall, nur
mit Sonnenenergie kann langfristig der Weltenergiebe-
darf gedeckt werden.
Herr Kollege, bitte
kommen Sie zum Schluß.
Mit diesem Gesetz werden die betriebswirtschaftlichen
Grundlagen für die Stromerzeugung aus erneuerbaren
Energien gelegt, der Aufbau neuer Industriezweige ge-
fördert, Arbeitsplätze gerade in der gebeutelten Land-
wirtschaft geschaffen und die Umstellung auf eine um-
weltverträgliche Energieversorgung ermöglicht. Mit der
Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes im Februar
nächsten Jahres beginnt der Einstieg in das Solarzeital-
ter.
Ich erteile jetzt das
Wort dem Kollegen Walter Hirche, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Ich denke, es gibt
einen Satz, über den sich hoffentlich noch alle einig
sind: Energiepolitik muß sich an Kriterien für Arbeits-
plätze und für Umwelt messen. Das ist sehr allgemein,
aber ich will auf diese beiden Aspekte eingehen.
Wenn es sich um Arbeitsplätze dreht, dann geht es
nicht nur um die Arbeitsplätze in der Energiewirtschaft,
sondern es geht um die Arbeitsplätze in der Gesellschaft
insgesamt. Das bedeutet, wenn Arbeitskosten wichtig
sind, wie Sie, Herr Müller, immer zu Recht sagen, dann
muß Strom in Deutschland möglichst billig erzeugt und
verkauft werden. Es geht nicht, wie Frau Hustedt soeben
polemisch sagte, um „billigen Industriestrom“, sondern
es geht um eine günstige Ressource, um in Deutschland
Arbeitsplätze zu haben, die nicht ins Ausland abwan-
dern.
Es ist ein Faktum, daß in Deutschland schon vor Ihrer
Ökosteuer der Strom teurer als in den Ländern ringsum
mit Ökosteuer war. Deswegen haben wir es gegeißelt,
daß das ein falscher Weg ist, um Arbeitsplätze in
Deutschland zu halten. Wir brauchen eine leistungsfähi-
ge Wirtschaft, um den Umbau der Energiewirtschaft zu
finanzieren. Deswegen verstößt das, was Sie tun, gegen
den Grundsatz, der nach Rio heißen muß: Gleichberech-
tigung der drei Ansätze wirtschaftlich, sozial und um-
weltverträglich.
Es verstößt dagegen, Frau Hustedt, weil Sie niedrige
Preise nicht akzeptieren, sondern um jeden Preis oben
draufsatteln.
Wir haben durch das entschiedene Handeln von
Günter Rexrodt die Liberalisierung des Strommarktes
durchgesetzt. Um 30 Prozent sind die Strompreise in
Deutschland gesunken. Das hat die Wettbewerbsfähig-
keit hergestellt. Jetzt gehen Sie daran und sagen: Diese
Senkung von 30 Prozent brauchen wir nicht und satteln
wieder oben drauf. So kann es nicht gehen. Wir können
den Strom nicht beliebig teurer machen, sonst schaden
wir unseren Arbeitsplätzen.
Zweitens, zum Thema Umwelt – auch wenn es be-
reits mehrfach gesagt worden ist, greife ich es wieder
auf –. Sie geben mit Ihren Attacken auf die Kernenergie
den Vorrang für Klimaschutzpolitik in Deutschland auf.
Herr Loske, es tut mir sehr leid, daß Sie hier im Plenum
etwas Falsches gesagt haben. Meine Kollegin Flach hat
völlig zu Recht aus der „Berliner Zeitung“ von heute
zitiert. Auch ich darf noch einmal Herrn Fischedick vom
Wuppertal-Institut zitieren:
Das Klimaschutzziel zu erreichen wird umso
schwieriger, je mehr Kernkraftwerke bis 2005 vom
Netz gehen.
Das hat er wortwörtlich gesagt. Das ist die Tatsache.
Hans-Josef Fell
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7259
(C)
(D)
Wer Klimaschutz als Priorität will, kann auf viele
Jahrzehnte nicht auf Kernenergie verzichten. Umfragen
in der Bevölkerung machen das ganz deutlich. Das gilt
nicht nur für Deutschland. Sehen Sie einmal nach
Schweden, was sich dort für ein Stimmungswandel er-
geben hat. Wenn Sie sich so sicher wären, dann bräuch-
ten Sie gar kein Ausstiegsgesetz. Wenn Sie glaubten, es
sei betriebswirtschaftlich alles in Ordnung und würde in
diese Richtung laufen, wozu machen Sie dann ein sol-
ches Gesetz? Sie haben in diesem Zusammenhang
Angst, daß die Kernenergie in der internationalen Dis-
kussion wieder einen höheren Stellenwert bekommt, und
den wird sie bekommen.
Ich sage zwar, Sie handeln mit Ihrer Politik gegen Ar-
beitsplätze und den Klimaschutz. Aber wir haben einen
Punkt als Zielvorstellung, der gemeinsam ist. Ich finde,
das sollte man festhalten. Diese Zielvorstellung ist, mög-
lichst im Jahr 2050, so wie es die frühere Enquete-
Kommission gesagt hat, 50 Prozent des in Deutschland
benötigten Stroms aus erneuerbaren Energien herzustel-
len. Deswegen finde ich es richtig, daß Überlegungen an-
gestellt werden, wie wir mit dem Stromeinspeisungsge-
setz oder auf andere Weise jetzt den Korridor für erneuer-
bare Energien erweitern können.
Machen Sie sich doch einmal von der Vorstellung
frei, daß nur der Weg, den Sie vorschlagen, der richtige
ist. Ich sage Ihnen: Wir müssen einen Weg finden, die
erneuerbaren Energien zu fördern, ohne den Strom zu
verteuern. Wie funktioniert das? Es funktioniert zum
Beispiel, indem Sie einmal ehrlich in bezug auf die
Verwendung des Aufkommens aus der sogenannten
Ökosteuer sind.
Sie verwenden von 5,1 Milliarden DM im Jahr 2000,
die Sie einnehmen, nur 3,6 Milliarden DM für die Sen-
kung der Lohnnebenkosten. Das heißt, Sie haben aus
diesem Aufkommen 1,5 Milliarden DM, die Sie in den
Haushalt einstellen. Sie sehen dabei aber lediglich 200
Millionen DM für erneuerbare Energien vor. Das ist ein
Abzocken der Stromkunden, das ist ein Abzocken zu
Lasten der Arbeitsplätze in Deutschland. Das machen
wir nicht mit.
Strom darf nicht teurer werden. Wir müssen vielmehr
mit günstigem Strom nicht nur unsere Wirtschaft lei-
stungsfähig erhalten, sondern auch den Umbau der
Energieversorgung organisieren. Sie richten sich nach
dem alten Juso-Spruch: Wir wollen die Belastungsfä-
higkeit der Wirtschaft testen. Das ist ein falscher Weg.
Wichtige Vorhaben müssen wir mit Steuermitteln
finanzieren. Was bedeutet das für die Stromeinspeisung?
Das bedeutet, daß wir nach wie vor einen Weg finden
müssen, der an der Degression festhält und der die Be-
fristung vorsieht. Das, Herr Schütz, spiegelt dieser Ge-
setzentwurf nicht wider. Sie schreiben vielmehr aus-
drücklich, daß nach zwei Jahren gegebenenfalls eine
Anpassung erfolgen solle.
Ich sage Ihnen: Dieser Entwurf führt zu einer großen
Rechtsunsicherheit: Erstens. Die Umlage, die Sie erhe-
ben wollen, ist genauso verfassungswidrig wie der
Kohlepfennig. Zweitens. Die mangelnde Degression
wird dazu führen, daß das Gesetz gegen EU-Recht ver-
stößt. Das, was wir gemeinsam wollen, nämlich mehr
Sicherheit für die Investoren und für den Maschinenbau,
der dahintersteht, erreichen Sie mit diesem Gesetzent-
wurf gerade nicht. Die Banken werden vielmehr auf die-
se mögliche Verfassungswidrigkeit verweisen. Lassen
Sie uns in den Ausschußberatungen eine Form finden,
um den Förderkorridor verfassungsgemäß und gesetzes-
konform zu erweitern, ohne daß die Stromkunden und
die deutsche Wirtschaft dadurch belastet werden.
Meine Damen und Herren, nur dann, wenn wir das
schaffen, sind wir in der Lage, die Rio-Prinzipien
gleichwertig zu erfüllen: wirtschaftlich, sozial und um-
weltverträglich. Ihre Vorstellungen verstoßen gegen die
Wirtschaftlichkeit und gegen die Umweltverträglichkeit.
Vielen Dank.
Ich erteile dem
Kollegen Volker Jung, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Mit der Liberalisierung der
europäischen Strommärkte haben sich die wirtschaftli-
chen Rahmenbedingungen so nachhaltig verändert, daß
die Ziele, die wir bislang mit der Energiepolitik verfolgt
haben, völlig neu durchdacht werden müssen. Im neuen
Energiewirtschaftsgesetz sind die Versorgungssicher-
heit, die Preisgünstigkeit – das scheint das einzige Ziel
zu sein, das die alte Bundesregierung verfolgt hat – und
die Umweltverträglichkeit aufgeführt. Die Arbeitsplatz-
sicherheit steht leider nicht darin, Herr Hirche. Das müs-
sen Sie im Gesetzgebungsverfahren offensichtlich ver-
gessen haben.
Die wichtigste Erkenntnis für uns ist, daß in einem
liberalisierten Strommarkt, der durch einen scharfen
Preiswettbewerb gekennzeichnet ist – gegenwärtig ha-
ben wir in unserem Land einen Verdrängungswett-
bewerb mit Dumpingpreisen –, vorhandene Überkapa-
zitäten gnadenlos geschleift und erreichte Sicherheits-
und Umweltstandards eingeebnet werden.
Wenn die europäischen Märkte in unterschiedlichem
Tempo und in unterschiedlichem Umfang geöffnet wer-
den – wie man das zur Zeit beobachten muß –, werden
in unserem Land wegfallende Arbeitsplätze nicht durch
neue Arbeitsplätze, sondern eher durch Stromimporte
ersetzt werden. Das ist die Situation. Dieses Ergebnis
scheint unausweichlich zu sein, meine Damen und Her-
ren von der Opposition, wenn wir Ihre Liberalisierungs-
politik, die Sie mit Ihren damaligen Mehrheiten gegen
uns durchgesetzt haben, nicht an wesentlichen Stellen
korrigieren.
Es war Ihre Entscheidung, daß der Stromwettbewerb
in unserem Land im Gegensatz zu allen Nachbarländern
von einem Tag auf den anderen ohne Übergangsstufen
Walter Hirche
7260 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
eingeführt wurde – und dies bei völlig unterschiedlichen
Versorgungsstrukturen, die viel differenzierter sind als
die in unseren Nachbarländern. Es war ebenfalls Ihre
Entscheidung, daß von der Möglichkeit der europäi-
schen Stromrichtlinie, Vorrangregelungen für erneuer-
bare Energien und für die Kraft-Wärme-Kopplung zu
schaffen, praktisch kein Gebrauch gemacht worden ist.
Darum wollen wir mit dem vorliegenden Gesetzent-
wurf der Koalition zeitgleich mit dem Inkrafttreten der
Verbändevereinbarung, die zu Anfang des nächsten
Jahres den Stromwettbewerb auch auf den Tarifkunden-
bereich ausdehnt, einen Teil der Fehlentwicklung, näm-
lich die drohende Unwirtschaftlichkeit von Stromerzeu-
gungsanlagen auf der Basis erneuerbarer Energien und
insbesondere die sich abzeichnende Investitionsblocka-
de, korrigieren.
Meine Fraktion hat am vergangenen Montag außer-
dem beschlossen – ich möchte das jetzt sehr präzise sa-
gen, Frau Hustedt –, die Koalitionsvereinbarungen vom
letzten Monat zur Sicherung der Kraft-Wärme-Kopp-
lung und zur Befristung der Mineralölsteuerbefreiung
von GuD-Kraftwerken zeitgleich umzusetzen und in das
Artikelgesetz aufzunehmen. Das ist für uns ein Paket.
Wir werden unsere Vorschläge im Gesetzgebungsver-
fahren nachreichen.
Wir wollen die Stromeinspeisung aus erneuerbaren
Energien wieder mit festen Vergütungssätzen fördern,
um dem absehbaren Trend entgegenzuwirken, daß die
derzeit prozentualen Vergütungssätze durch sinkende
Strompreise verfallen und damit viele Anlagen unrenta-
bel werden. Die Anfangssätze sollen so hoch angesetzt
werden, daß ein Investitionsschub ausgelöst wird, der
relevante Mengeneffekte bringt, die eine Kostendegres-
sion überhaupt erst möglich machen. Diese Vergütungs-
sätze werden dann aber je nach Eigenart der verschiede-
nen Anlagentypen degressiv gestaltet – am stärksten bei
der Photovoltaik –, um die notwendigen Investitionsan-
reize zu schaffen.
Da wir die zukünftige Technologieentwicklung nicht
hinreichend genau prognostizieren können, macht es
auch keinen Sinn, die vorgesehenen Degressionspfade
schon heute endgültig und für alle Zeiten schematisch
festzulegen.
Darum haben wir zweijährige Prüfberichte vorgesehen,
die es uns ermöglichen werden, die Förderungssätze für
neue Anlagen immer wieder der tatsächlichen Entwick-
lung anzupassen.
Dringlich ist auch die Sicherung der installierten
Kraft-Wärme-Kopplung-Anlagen, die seinerzeit in ge-
schützten Märkten konzipiert worden sind, übrigens ge-
fördert mit dreistelligen Millionenbeträgen des Staates.
Diese Anlagen haben sich bei den seinerzeitigen Strom-
bezugskosten rentiert; diese waren vor Jahresfrist ja
noch doppelt so hoch wie heute. Ohne einen Schutz für
eine Übergangszeit würden noch mehr dieser Anlagen
stillgelegt, als das schon bisher geschehen ist, und Ar-
beitsplätze vernichtet. Mehr noch: Die vorhandenen
Nah- und Fernwärmesysteme müßten durch den Zubau
von reinen Heizkraftwerken versorgt werden. Das ist
nicht nur unsozial, das ist gesamtwirtschaftlich absolut
verfehlt und ökologisch völlig unsinnig.
Darum wollen wir ein Sofortprogramm zum Schutz
der bedrohten Kraft-Wärme-Kopplung auflegen, das de-
gressiv angelegt ist und zeitlich begrenzt wird. Damit
fällt es unter die einschlägigen Bestimmungen der euro-
päischen Stromrichtlinie, die es den Mitgliedstaaten
erlaubt, wirksame Maßnahmen zum Schutz vor „stran-
ded investments“ zu ergreifen. Denn es macht überhaupt
keinen Sinn – insbesondere in der jetzigen Tiefpreis-
phase –, daß diese umweltfreundlichen Anlagen vom
Markt verdrängt werden, nachdem wir uns in der Euro-
päischen Union darauf verständigt haben, den Anteil der
heute vorhandenen Kraft-Wärme-Kopplung im nächsten
Jahrzehnt zu verdoppeln.
Dieses Überbrückungsprogramm soll nach unserer
Vorstellung zeitnah – der Zeitraum bis zum Jahre 2002
ist mir dabei etwas lang, Herr Müller – durch eine um-
fassende Vorrangregelung für die Kraft-Wärme-Kopp-
lung abgelöst werden. Wir diskutieren seit geraumer
Zeit über eine Quotenregelung, die auch in der Fachwelt
immer breitere Unterstützung findet. Wenn man eine
Abnahmequote für Strom aus Kraft-Wärme-Kopplung
über einen Zertifikathandel organisiert, der sogar bör-
senfähig gemacht werden kann, dann hätte man ein
marktkonformes Instrument in der Hand, das den Wett-
bewerb nicht verhindern, sondern Innovationen fördern
würde.
Worauf es uns in unserer Energiepolitik ankommt, ist
– um das auf einen einfachen Nenner zu bringen –: Wir
wollen die Kräfte des Marktes nutzen, um unsere Ener-
gieversorgung so rationell, innovativ und preisgünstig
wie möglich zu gestalten. Aber der Wettbewerb ist kein
Selbstzweck. Darauf kommt es uns an. Wenn sich der
Markt als blind für die ökologischen Belange, für die
Versorgungssicherheit oder für die Arbeitsplatzinteres-
sen erweist, dann müssen die Rahmenbedingungen des
Wettbewerbs so gestaltet werden, daß auch die Ziele, die
wir in diesen Bereichen verfolgen, so rationell und inno-
vativ wie möglich erreicht werden können.
Schönen Dank.
Jetzt erteile ich der
Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Lie-
be Kolleginnen und Kollegen! Bei der Kernspaltung ist
es am wichtigsten, unkontrollierte Kettenreaktionen zu
vermeiden, denn sie können schnell zu einem Super-
Volker Jung
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7261
(C)
(D)
GAU führen. Genau das ist es, was sich momentan bei
Ihrer Energiepolitik abspielt – eine unkontrollierte
Reaktion nach der anderen.
Stichwort Atomausstieg: Man sieht, daß Ihr Lieb-
lingsprojekt inzwischen völlig außer Kontrolle geraten
ist. Jetzt haben sich zwar die Grünen vor zwei Tagen
wieder einmal geeinigt – jetzt ist von 30 Jahren Laufzeit
die Rede –, aber worum geht es dann da? Es geht doch
nur um taktische Spielchen, damit man bis zur nächsten
Wahl noch wenigstens ein, zwei Kernkraftwerke ab-
schalten kann. Sie ersetzen inzwischen Politik durch
Symbole. Das ist Ihre Politik; Klientelpolitik allererster
Klasse wird hier betrieben.
Es geht nur um die Befriedigung des Wählerpotentials
der Grünen,
nach dem Motto, daß dies inzwischen deren Privatan-
gelegenheit geworden ist.
Aber ich glaube, Sie haben hier wirklich die Rech-
nung ohne den Wirt gemacht. Sie sehen es ja inzwischen
beim Landesverband Niedersachsen: Es gibt dort keinen
Konsens. Und glauben Sie es mir: Auch mit der Ener-
giewirtschaft wird sich auf dieser Basis kein Konsens
herbeiführen lassen.
Nun könnten wir natürlich sagen, das ganze Gezerre
und das ganze Gestreite, das innerhalb eines Jahres in
diesem Bereich entstanden ist, könnte uns eigentlich
egal sein. Aber das ist inzwischen keine nationale An-
gelegenheit mehr, sondern Sie haben durch Ihre Streite-
reien und Ihr Handeln Deutschland international be-
schädigt.
Der Streit hat international bei vielen Ländern die Fra-
ge aufgeworfen: Wie verläßlich ist diese Regierung im
Hinblick auf internationale Vereinbarungen überhaupt?
Erinnern Sie sich doch einmal daran, wie Minister Trit-
tin vollmundig gegen anderslautende internationale Ver-
einbarungen und gegen den Rat von Fachministern ein-
fach das Verbot der Wiederaufbereitung in die Welt ge-
setzt hat! Sie erinnern sich bestimmt alle noch daran.
Man kann es nur mit der Feststellung kommentieren
– das ist keine Entschuldigung –, daß hier Ideologen am
Werk sind, aber keine sachlich argumentierenden, kal-
kulierenden politischen Kräfte.
Doch ich komme zurück zur Energiepolitik, zum
Ausstieg aus der Kernenergie. Was ist seit dem Regie-
rungswechsel auf diesem Gebiet passiert? Im Spätherbst
1998 begann Herr Müller mit Gesprächen mit den Ener-
gieversorgern; dagegen ist nichts zu sagen. Dann, im
Winter 1998/99, kam schon der erste Dämpfer. Herr
Minister Trittin versorgte die Öffentlichkeit mit ver-
schiedenen Entwürfen für ein Ausstiegsgesetz.
Weiter ging es im Frühjahr 1999. Lafontaine holte
kurz vor seinem Rücktritt die Steuerkeule gegen die
Betreiber von Kernkraftwerken heraus. Das heißt, bei
den Konsensgesprächen kam es wieder zu einer mona-
telangen Eiszeit.
Im Sommer 1999 verordnete der Bundeskanzler Ru-
higstellung. Er setzte einen Staatssekretärausschuß
ein, von dem man monatelang überhaupt nichts hörte.
Dazu gab es noch ein atompolitisches Intermezzo, näm-
lich die Debatte um die Fertigstellung und sicherheits-
technische Ausrüstung von zwei ukrainischen Kraftwer-
ken. Sie sprachen sich gegen die dafür nötigen Kredite
und damit auch gegen die Abschaltung von Tscherno-
byl aus. Auf die außenpolitische Wirkung davon will ich
hier gar nicht mehr eingehen.
Herbst 1999: Inzwischen ist das Atomthema zu einer
ausschließlich innerparteilichen Angelegenheit der Grü-
nen geworden. Auf der einen Seite haben wir Fischer
und Trittin, auf der anderen Seite haben wir die Fundis
in der Fraktion der Grünen und an der grünen Basis.
Wissen Sie, was das Problem ist? Ihnen geht es nicht
mehr um Deutschland, Ihnen geht es nur noch um Ihre
innerparteilichen Streitigkeiten.
Wir sind der Meinung, daß die friedliche Nutzung der
Kernenergie eine wirklich entscheidende Zukunftsfrage
für unser Land ist. Dieses Thema hat es nicht verdient,
nur noch als Gegenstand partei- und koalitionsinterner
Machtkämpfe behandelt zu werden.
Wir halten den politisch verordneten Atomausstieg nach
wie vor für falsch.
Wer aussteigen möchte, muß sagen, wo und wie er wie-
der einsteigen möchte. Es reicht nicht, hier von einem
Atomausstieg zu predigen, ohne überzeugende Alterna-
tiven zu nennen, die umweltverträglicher, preiswerter
und arbeitsplatzerhaltend sind.
Herr Hohlefelder von der Preussen-Elektra hat recht,
wenn er sagt: Auch wenn Rotgrün es gerne hätte, ließe
sich Atomstrom mit Sicherheit nicht durch Wind- und
Sonnenenergie ersetzen.
Dagmar Wöhrl
7262 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Was ist mit unserer nuklearen Sicherheit in Europa
und in der Welt, wenn die anerkanntermaßen sichersten
Reaktoren in Deutschland abgeschaltet werden? Wir ha-
ben dann keine Möglichkeit mehr, unsere Sicherheits-
technik in andere Länder zu exportieren.
Wir haben dann kein Recht mehr auf Mitsprache in in-
ternationalen Atomenergiebehörden.
Niemand kann verhindern, daß wir weiterhin Atom-
strom haben werden. Das wissen Sie doch selber. Wir
werden weiterhin Atomstrom aus der Steckdose haben.
Strom wird dann bloß aus dem Ausland geliefert. Da-
durch wird der deutsche Atomausstieg ad absurdum ge-
führt werden. Wertschöpfung wird dann nicht mehr bei
uns, sondern im Ausland stattfinden, und zwar auch zu-
nehmend in Schwellenländern. Dorthin werden auch die
Arbeitsplätze abwandern. Dies macht der Einstieg von
EdF bei der Energieversorgung von Baden-Württemberg
deutlich. Sie werden auch nicht verhindern, daß in
Europa und in der Welt weiterhin Kernkraftwerke gebaut
werden, übrigens mit Beteiligung von deutschen Unter-
nehmen, die nicht mehr bei uns investieren werden.
Ich warne auch davor, zukünftig Atomstrom aus Kern-
kraftwerken in Osteuropa zu beziehen. Es gibt dort ge-
schätzte freie Kapazitäten von über 8000 Megawatt. Das
entspricht einer Leistung von sieben Kernkraftwerken.
Aber wie sehen diese Kraftwerke aus? Sie sind ökolo-
gisch und sicherheitstechnisch in erheblicher Weise be-
denklich. Was ist mit den Klimaschutzzielen von Rio
und Kioto, auf deren Einhaltung wir uns alle verpflichtet
haben? Sie glauben doch nicht, daß Sie diese Ziele noch
einhalten können; sie werden unerreichbar sein. Sie wis-
sen inzwischen genau, wieviel an CO2-Emissionen durchdeutsche Kernkraftwerke eingespart wird, nämlich
160 Millionen Tonnen im Jahr. Das entspricht dem Ab-
gasausstoß des gesamten deutschen Straßenverkehrs.
Herr Loske, Sie haben vorhin die Energiewissen-
schaftler vom Wuppertal-Institut zitiert. Die eigentliche
Aussage war, daß es dann, wenn Kernkraftwerke abge-
schaltet werden, um so schwieriger wird, zukünftig das
Klimaschutzziel zu erreichen. Dieses Ziel läßt sich nur
erreichen, wenn zukünftig schärfste Gesetze gegen die
Verbraucher, gegen die Häuslebauer und gegen die
Autofahrer erlassen werden.
Der Kanzler spricht davon: Das läßt sich auffangen, in-
dem mehr Kohle abgebaut und mehr Strom aus ihr ge-
wonnen wird. Aber dann gibt es einen noch höheren
Ausstoß an Treibhausgasen als bisher.
– Es freut mich, daß Sie inzwischen wieder aufgewacht
sind, meine Damen und Herren.
Die Kerntechnik ist eine High-Tech-Branche mit
Zukunftsperspektiven. Wir haben hier eine Spitzenstel-
lung. Was wird zukünftig sein? Kein einziger Student
wird mehr bei uns Kernphysik studieren. Unsere Wis-
senschaftler werden ins Ausland gehen, ganz zu schwei-
gen von den Arbeitsplatzverlusten.
Frau Kollegin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte den
Gedankengang zu Ende führen.
Last, but not least: Es drohen noch immer Entschä-
digungsforderungen in zweistelliger Milliardenhöhe.
Diese sind noch nicht vom Tisch. Wer soll sie bezahlen?
Der Steuerzahler wird sie bezahlen. All dies, was ich
aufgeführt habe, soll nur bezahlt werden, um das Über-
leben von Rotgrün zu sichern. Das ist mit uns nicht zu
machen.
Wir werden auch nicht akzeptieren, daß unsere Ein-
wände mit dem Argument weggewischt werden: Die
Mehrheit der Deutschen ist für den Ausstieg aus der
Atomenergie.
Die Bundestagswahl war keine Volksabstimmung über
die Nutzung der Kernenergie. Wir wehren uns gegen die
Arroganz der Macht, die Sie hier an den Tag legen, und
gegen die Unumkehrbarkeit, von der Sie sprechen. Ich
teile voll und ganz die Meinung unseres bayerischen
Ministerpräsidenten, der gesagt hat: Dann werden wir
die Unumkehrbarkeit eben wieder umkehren, wenn Sie
nicht mehr an der Macht sind. Herr Trittin hat davon ge-
sprochen, man werde die Entscheidung verfassungsfest
machen. Wie denn? Will er es in das Grundgesetz hin-
einschreiben? Dazu brauchen Sie eine Zweidrittelmehr-
heit. Schauen Sie einmal, wie Sie die zukünftig bekom-
men.
Atomausstieg, KWK-Bonus, Ökosteuer; vierter Mo-
saikstein im rotgrünen Stromverteuerungsprogramm:
Novelle des Stromeinspeisungsgesetzes. Sie wissen alle,
daß die CSU maßgeblich zum Stromeinspeisungsgesetz
beigetragen hat. Wir sind – das ist ein ganz wichtiger
Punkt – für den Ausbau der regenerativen Energien.
Wir sind für die Verdopplung der regenerativen Ener-
gien bis zum Jahr 2010. Es ist unstreitig, daß Novellie-
rungsbedarf vorhanden ist.
Wir müssen zukünftig umweltbelastende und klimabela-
stende Emissionen hier vermeiden.
Dagmar Wöhrl
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7263
(C)
(D)
Aber wir sehen in der Nutzung und in der Weiterent-
wicklung von regenerativen Energien Marktchancen.
Was Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, vorgelegt ha-
ben, das kann man aber nicht vertreten. Sie wollen eine
feste Vergütung für Photovoltaik in Höhe von 99 Pfen-
nig. Das ist Irrsinn, wenn man bedenkt, daß der Strom
auf dem Weltmarkt inzwischen zu einem Preis von unter
5 Pfennig pro Kilowattstunde zu haben ist. Ihr Vorgehen
ist nicht der richtige Weg, um die Photovoltaik, die von
der Wettbewerbsfähigkeit noch weit entfernt ist, zu för-
dern.
Viel sinnvoller wäre die verstärkte Förderung von For-
schung und Entwicklung.
Jede Förderung muß auf Zeit stattfinden. Es soll kei-
ne Dauersubventionen geben. In Ihrem Gesetzentwurf
fehlen entsprechende Elemente. Wir müssen versuchen,
uns im Konsens über die noch einzubauenden Elemente
zu einigen. Für eine marktkonforme Förderung sind Be-
fristung, Degression und Vermeidung von Mitnahme-
effekten notwendig.
Ganz schlimm an diesem Gesetzentwurf ist, daß es kei-
nerlei Anreiz zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit
gibt. Wir müssen die Firmen an die Marktreife heranfüh-
ren.
Zum Schluß kann ich nur noch eines sagen: Bei die-
ser Bundesregierung ist die Energiepolitik für Chaos,
ideologische Grabenkämpfe und Koalitionskrisen immer
gut. Aber das hilft uns nicht weiter. Dem ist nichts hin-
zuzufügen.
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich der Kollegin Hustedt das Wort.
Frau Kollegin Wöhrl, Sie sagen: Die Atomtechnologie
ist eine High-Tech-Branche mit Zukunft. Wie erklären
Sie sich denn, daß Siemens jetzt die Atomabteilung an
Framatome abgestoßen hat, und zwar mit der Begrün-
dung der schlechten Aussichten in diesem Geschäftsbe-
reich? Denn seit Jahren haben Deutschland und Frank-
reich keinerlei Aufträge mehr zur Bestellung von Atom-
kraftwerken bekommen.
Die Börse gibt Siemens recht. An dem Tag, an dem die-
ser Vorgang bekannt wurde, sind die Kurse von Siemens
um 4,9 Prozent hochgeschossen. Die Börse bestätigt,
daß es sich um keine High-Tech-Technologie mit Zu-
kunft handelt, sondern um eine Technologie, aus der
weltweit ausgestiegen wird.
Ich möchte eine zweite Anmerkung machen. Sie
sprechen von Strom aus Osteuropa. Das ist ein ernst-
haftes Thema. Es ist allerdings noch nicht akut, weil es
entsprechende Leitungen, Kapazitäten und Kopplungen
in Osteuropa noch gar nicht gibt; aber perspektivisch ge-
sehen können sie selbstverständlich dazugebaut werden.
Jetzt tun Sie so, als ob dieser Billigstrom aus Ost-
europa nur dann kommt, wenn wir aus der Atomkraft
aussteigen. Der Strom aus Osteuropa ist unser gemein-
sames Problem. Er steht in Konkurrenz zu dem ostdeut-
schen Braunkohlestrom und zu dem westdeutschen
Stein- und Braunkohlestrom.
Er steht auch in Konkurrenz zu den deutschen Atom-
kraftwerken, die – ich denke an Stade und Obrigheim –
Strom für – ziemlich hohe – 10 Pfennig pro Kilowatt-
stunde produzieren. Sie liegen damit weit über dem
Preis moderner GuD-Kraftwerke und weit über dem
womöglich kommenden Strom aus Osteuropa.
Sie argumentieren hier nicht seriös. Die Antwort auf
das Problem, vor dem wir in mittlerer Zukunft eventuell
stehen, muß sein, daß Sie sich gemeinsam mit uns, daß
sich Deutschland insgesamt dafür einsetzt, daß Frank-
reich die Märkte öffnet und daß es Mindeststandards,
Sicherheitsstandards und ökologische Standards auf dem
europäischen Binnenmarkt gibt. Das ist die einzige
Antwort, die man auf die vor uns stehenden Fragen ge-
ben kann, wenn man die damit verbundenen Probleme
verhindern will.
Frau Kollegin
Wöhrl, Sie können antworten, bitte sehr.
Frau Hustedt, ich brau-
che hierauf nicht viel zu antworten; das kann man mit
wenigen Sätzen machen. Ich habe das Gefühl, daß Sie
mir nicht zugehört haben.
Was ist denn der Grund dafür, daß Arbeitsplätze in
der Nuklearindustrie und insbesondere bei Siemens ab-
gebaut werden? Es ist doch die Verunsicherungspolitik,
die Sie betreiben.
Wegen dieser Verunsicherungspolitik investiert doch
niemand mehr in diesen High-Tech-Bereich in Deutsch-
land.
Dagmar Wöhrl
7264 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Anders ist die Abgabe der Nuklearaktivitäten von Sie-
mens an Framatome nicht zustande gekommen.
– Ich habe Sie ganz ruhig ausreden lassen, Frau Hustedt.
Man sollte noch einen gewissen Anstand haben und we-
nigstens die Menschen ausreden lassen. – Danke schön.
Wissen Sie, woher die Abwanderung kommt, warum
die Arbeitsplätze hier abgebaut werden?
Fragen Sie doch einmal in den Universitäten an den ein-
schlägigen Lehrstühlen nach! Sie finden die Studenten
nicht mehr. Gehen Sie doch in die Hörsäle und fragen
Sie, warum in diesem Bereich nicht mehr ausgebildet
wird! Die Antwort wird sein: Ich weiß doch nicht, ob
man hier noch einen Arbeitsplatz bekommt.
Die Kernkraftwerke und die Sicherheitstechnik in
Osteuropa sind unser aller Problem, weil wir, wenn im
Ausland etwas passiert, genauso davon betroffen sind,
als würde es hier passieren. Das wissen wir alle. Aber
wir haben durch unseren Wissensstand, durch die Kapa-
zitäten, die wir in diesem Bereich aufgebaut haben, un-
wahrscheinlich viel Kompetenz in diese Länder hinein-
getragen und daran mitgewirkt, daß deren Kernkraft-
werke sicherheitstechnisch nachgerüstet und besser ge-
baut wurden. Diese Kompetenz wird in Zukunft verlo-
rengehen. Dieses Problem habe ich bereits in meiner
Rede angesprochen.
Jetzt erteile ich dem
Kollegen Dietmar Schütz, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsiden-
tin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich kon-
zentriere mich auf das Erneuerbare-Energien-Gesetz,
das wir heute hier erstmals als Entwurf vorstellen, und
möchte auch noch einmal daran erinnern, daß es in die-
sem Hause eine gute Tradition war, das Stromeinspei-
sungsgesetz gemeinsam zu beschließen und in diesem
Zusammenhang auch gemeinsam nach Strukturen zu su-
chen. Als ich die Presseerklärung von Herrn Ramsauer
las, war ich noch erfreut; aber jetzt hat Frau Wöhrl in
Frage gestellt, ob wir noch gemeinsame Strukturen fin-
den.
Wir haben in dem alten Gesetz einige Fehler entdeckt
und korrigieren diese durch Einführung neuer Struktur-
elemente:
Weil auf Grund des liberalisierten Strommarktes
– ich muß dies nicht wiederholen – die Preise verfallen,
müssen wir jetzt zu einer Festpreisstruktur übergehen.
Wir werden also feste Preise einsetzen, die nachher de-
gressiv gestaltet werden. Ich bitte Sie, dabei mitzuma-
chen. Wir können es uns nicht erlauben, daß alle Erzeu-
ger regenerativer Energien pleite gehen. Das müssen wir
verhindern. Deswegen ist der Festpreis das erste Struk-
turelement. Machen Sie dabei mit? Sie haben dazu noch
nichts gesagt.
Das zweite Strukturelement ist, daß wir den ver-
dammten doppelten Deckel abschaffen müssen, der eine
Limitierung der regenerativen Energien vorsieht. Wir
haben es in unserem Gesetzentwurf Gott sei Dank ge-
schafft, einen Vorschlag zu machen, nach dem die Ein-
speisung des Stromes bundesweit auf die Netzbetreiber
zu verteilen ist. Dies führt auch dazu, daß die Preise für
Stromenergie aus regenerativen Quellen überall in
Deutschland und nicht nur in Norddeutschland zu Bela-
stungen führen. Als Norddeutscher weise ich massiv
darauf hin, daß es nicht angehen kann, daß zwar die
Schleswag und die EWE belastet werden, nicht aber die
Energieversorger im mittleren und südlichen Teil
Deutschlands. Die Frage ist, ob Sie eine solche bundes-
weite Verteilung mitmachen.
Das dritte Strukturelement ist – einige Kollegen ha-
ben schon darauf hingewiesen – die Eröffnung eines we-
sentlich breiteren Pfades beim Strom aus Biomasse. Wir
haben es erreicht, durch Stromerzeugung in Biogasanla-
gen, in Häckselanlagen und in Kleinholz- und Schwach-
holzanlagen Innovationen im landwirtschaftlichen Be-
reich hinzubekommen. Ich hatte immer gehofft, daß mir
die deutsche Landwirtschaft einen Ehrenpreis dafür gibt,
daß wir ihrer Produktion eine dritte Säule hinzufügen.
Ich warte noch darauf, daß sie sich dafür einsetzt.
– Peter, du kannst ruhig dafür werben.
Das nächste Element betrifft die Vergütungssätze.
Wir sind völlig davon überzeugt, daß wir die Regelun-
gen degressiv gestalten müssen, weil uns dies die EU-
Richtlinie vorgibt, und daß wir auch versuchen müssen,
die Vergütungssätze durch permanente Kontrolle – wir
wollen sie alle zwei Jahre durchführen – zu hinterfragen.
Diese Regelung haben wir ins Gesetz geschrieben. Ich
glaube, dies ist ein wichtiges Signal an die EU, daß wir
durch die von uns vorgesehene Degression und Überprü-
fung die Richtlinie ernst nehmen. Ich bin fest davon
überzeugt, daß eine solche Konstruktion EU-kompatibel
ist.
Zu den Vergütungssätzen selbst. Es wurden zwei Be-
reiche angesprochen. Der erste Bereich, die Solarener-
gie – auch Frau Wöhrl hat vorhin darüber geredet –, soll
mit 99 Pfennig pro Kilowattstunde von uns vergütet
werden. Dies ist in der Tat ein massiver Sprung, gemes-
sen an der früheren Vergütung von 16 Pfennig. Diese
Vergütung ist kostendeckend, wenn wir sie im Zusam-
menhang mit dem 100 000-Dächer-Programm sehen,
das wir uns vorgenommen haben. Dies ist ein deutlicher
Anreiz für die Solarindustrie – Herr Uldall hat vorhin
Herrn Vahrenholt zitiert –, so daß wir sagen können:
Wir schaffen das.
Dagmar Wöhrl
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7265
(C)
(D)
Da wir die Vergütung von 99 Pfennig nur für den
Strom, der im Rahmen des 100 000-Dächer-Programms
erzeugt wird, bezahlen, haben wir eine deutliche Limi-
tierung. Es handelt sich also nur um einen Klacks, ich
würde sagen: um einen Tropfen in der Nordsee, was die
Strommenge angeht. Deswegen können wir diese Re-
gelung verantworten. Ich hoffe, daß Sie sie mittragen.
Zur Vergütung in dem anderen Bereich, der Wind-
kraft. Alle uns vorliegenden Gutachten weisen darauf
hin, daß es nicht nur darauf ankommt, einen etwas höhe-
ren Preis zu zahlen – wir sehen einen Preis von
17,8 Pfennig vor, der dann abgesenkt wird –, um einen
Anreiz zu geben, sondern daß es auch darauf ankommt,
einen Preis zu zahlen, der über die gesamte Laufzeit der
Anlage einen Investitionsanreiz gibt. Es kann doch nicht
angehen, daß wir zu Beginn einen hohen Preis zahlen,
ihn aber später massiv senken.
Ein Windmüller könnte angesichts dessen fragen:
Kann ich meine Investments über die gesamte Laufzeit
der Anlage verantworten? Bekomme ich dafür Kredite?
Genau diese Fragen müssen gestellt werden. Wenn die
Antwort lautet, daß er diese Investitionen am Markt un-
terbringen kann, sind unsere Maßnahmen richtig. Wenn
aber die Antwort lautet, daß er diese Investitionen nicht
mehr am Markt unterbringen kann – dies wird uns für
den Fall vorhergesagt, daß wir mit dem Preis zu massiv
heruntergehen –, sind die Maßnahmen falsch, weil dann
mit dieser Vergütungshöhe keine Anreize geschaffen
werden konnten.
Dieses sind die Strukturelemente des von uns vorge-
legten Gesetzes. Ich hoffe, Sie können sich noch an un-
seren gemeinsamen Konvoi erinnern, Herr Hirche. Da-
mals hatten wir ähnliche Strukturelemente vorgesehen.
Sie schlagen jetzt aber die Finanzierung über die Steuer
vor, was wir bezüglich des von Ihnen vorgelegten Ge-
setzes in der letzten Legislaturperiode nicht vorgeschla-
gen haben.
Herr Kollege, kom-
men Sie bitte zum Schluß.
Sie sollten es
jetzt ebenfalls nicht tun.
Ich hoffe, daß Sie die Elemente eines sehr erfolgrei-
chen und in die Zukunft weisenden Einstiegs in eine an-
dere Strategie von Solarenergie und von anderen regene-
rativen Energieformen mit uns gemeinsam tragen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt
der Kollege Dr. Peter Paziorek, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Es ist wohl in diesem Hause
völlig unbestritten, daß wir in Deutschland, also in
einem Land mit einem hohen Umweltschutzniveau, mit
einem sehr starken technischen Potential und auch mit
einer großen Innovationskraft, weiterhin einen ganz we-
sentlichen internationalen Beitrag zum Klimaschutz lei-
sten müssen.
In einer solchen Debatte ist es mir wichtig, auch auf
das Gemeinsame und Verbindende abzuzielen. Energie-
politik und Umweltpolitik sind wesentlich an wichtigen
Stellen miteinander verzahnt. Es ist wohl auch völlig
unbestritten, daß wir von einer nachhaltigen Entwick-
lung im Bereich der Energiepolitik nur dann sprechen
können, wenn es uns gelingt, in wesentlichen und wich-
tigen Bereichen unserer Energieerzeugung und des
Energieverbrauchs einen schrittweisen Erneuerungspro-
zeß zu gestalten.
Was aber die wesentlichen Inhalte einer solchen
Nachhaltigkeitsstrategie und Nachhaltigkeitspolitik sind,
das ist heute morgen von den Regierungsvertretern und
den Vertretern der rotgrünen Regierungskoalition nicht
ausgeführt worden.
Nur an einigen Stellen haben sie versucht, punktuell
Antworten zu geben.
– So ist es, Herr Hirche.
– Von Anfang an, lieber Kollege Dietmar Schütz.
Für eine erfolgreiche Nachhaltigkeitsstrategie sind
eine hohe Energieeffizienz, die weitaus stärkere – da
stimmen wir überein – Nutzung erneuerbarer Energie-
quellen sowie auch die Erschließung neuer Energieträ-
ger unbedingt notwendig. Unverzichtbar ist langfristig
auch der Einsatz neuer Technologien wie zum Beispiel
der Brennstoffzelle, die zum Bereich der Wasserstoff-
technologie gehört. Wir haben auch keine Probleme mit
dem Einsatz von Solarenergie. Die Solarfabrik in Gel-
senkirchen ist ja wohl durch den ganz konsequenten und
energischen Einsatz des damaligen Bundesforschungs-
ministers Dr. Rüttgers errichtet worden. Lieber Kollege
Norbert Formanski, wir haben überhaupt keinen Grund,
uns davon abzusetzen.
Falsch ist die These von Rotgrün, je früher der Aus-
stieg aus der Kernenergie erfolge, desto schneller kom-
me der überfällige Strukturwandel in der Energiewirt-
schaft in Gang. Vielmehr muß die These lauten: In einer
Übergangszeit darf nicht Kapital vernichtet werden,
sondern Kapitalreserven müssen für den Umbau der
Dietmar Schütz
7266 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Energiewirtschaft eingesetzt werden. So muß die These
eigentlich richtig lauten.
Der übereilte Ausstieg aus der Kernenergie fördert nicht
den Aufbau umweltgerechter neuer Energiestrukturen;
er beschwört vielmehr die Gefahr herauf, daß zum Bei-
spiel die fossilen Energieträger nach wie vor einen
hohen Anteil an der Energieerzeugung haben.
Auch in Zukunft wird die Energieerzeugung in
Deutschland auf einem Mix verschiedener Energieträger
beruhen. Um Klimaschutz zu verwirklichen, kommt es
aber darauf an, daß wir den Einsatz der einzelnen Ener-
gieträger optimieren. Deshalb muß sich die Energiepoli-
tik in Deutschland auf Handlungsfelder konzentrieren, in
denen wir technologisch sehr stark sind oder die nach
unserer Meinung noch nicht einer solchen Nachhaltig-
keitsstrategie entsprechen.
Wir meinen deshalb, daß wir uns auf zwei Hand-
lungsfelder konzentrieren müßten: einmal auf die stärke-
re Nutzung erneuerbarer Energien und zum anderen auf
den stärkeren Einsatz von Energiesparmöglichkeiten.
Wir müssen alles dafür tun, um sparsam mit Energie
umzugehen. Das sind die beiden Felder, auf denen
Handlungsbedarf besteht. Das ist schwierig; das gebe
ich zu. Insbesondere ist das schwieriger, als einen über-
eilten Atomausstieg zu konzipieren, der Symbolkraft für
die Basis hat, uns aber letztlich bei diesen beiden wich-
tigen Handlungsfeldern nicht weiterbringt.
Für eine solche Energiepolitik braucht man einen langen
Atem und eine klare Konzeption. Beides haben Sie
nicht.
Eineinviertel Jahr sind Sie nun an der Regierung,
außer Ankündigungen ist auf diesem Gebiet nichts ge-
schehen. Das ist auch nicht verwunderlich, denn es fehlt
Ihnen natürlich an einer umweltorientierten energiepoli-
tischen Konzeption.
Heute haben Sie wieder Ankündigungen für Einzelbe-
reiche gemacht. Minister Trittin wird hier noch nach mir
sprechen. Ich bin einmal gespannt, ob er nach all den
Ankündigungen endlich einmal konkret etwas sagt, da-
mit wir wissen, wie die einzelnen energiepolitischen
Maßnahmen weitergeführt werden.
Einige von Ihnen sagen ja, die durch den Ausstieg aus
der Kernenergie entstehende Lücke soll durch regenera-
tive Energien ausgefüllt werden; Sie bleiben aber immer
wieder den Nachweis schuldig, wie dies überhaupt reali-
siert werden kann. Andere wollen die Lücke durch den
Bau zusätzlicher konventioneller Kraftwerke schließen.
Das wäre das Ende der vorbildlichen Klimaschutzpolitik
der Vorgängerregierung. Den Nachweis, daß beim Aus-
stieg aus der Kernenergie und beim Umstieg auf weitere
fossile Kraftwerke das CO2-Ziel, das wir uns hier im
Bundestag gemeinsam verbindlich gesetzt haben – das
ist ja nicht nur eine Frage der Regierung, sondern wurde
von uns gemeinsam beschlossen –, eingehalten werden
kann, haben Sie nie geführt und auch bis heute nicht
beigebracht.
Ich möchte in dem Zusammenhang auf das neue Pro-
gnos-Gutachten abstellen, das im November dieses Jah-
res vorgestellt worden ist. Aus diesem Gutachten geht
klar hervor, daß die Stillegung der KKW, insbesondere
bei einer kurzfristigen Stillegung innerhalb von 25 Jah-
ren, zu einem Anstieg der gesamten CO2-Emissionen inDeutschland um 3 Prozent führen wird. Bei einer Stille-
gung dieser Kraftwerke innerhalb dieses Zeitraumes
profitiert nämlich in erster Linie der Energieträger Erd-
gas, aber auch – in einem geringeren Umfang – die Im-
portsteinkohle.
Der interessierten Öffentlichkeit draußen müssen Sie
aber gleichzeitig sagen, daß durch die Beschlüsse, die
die damalige Regierungskoalition von CDU/CSU und
F.D.P. getroffen hat, ein Rückgang der CO2-Emissionenbis auf den heutigen Tag gegenüber 1990 um nahezu
14 bis 15 Prozent erzielt wurde. Durch die bisher schon
gefaßten Beschlüsse, so sagt das Prognos-Gutachten,
wird es bis zum Jahre 2010 einen weiteren Rückgang
um 3 Prozent geben. Gleichzeitig aber sagt Prognos:
Wenn der übereilte Ausstieg aus der Atomindustrie, den
Sie jetzt beschließen wollen, tatsächlich passiert, dann
wird diese Entwicklung ins Gegenteil verkehrt werden.
Dann müssen wir wieder damit rechnen, daß der CO2-Ausstoß in Deutschland steigen wird.
Das wäre das umweltpolitisch fatale Ergebnis Ihrer
Politik des übereilten Ausstiegs aus der Atomindustrie.
Das Interessante ist, daß Sie solche Studien überhaupt
nicht zur Kenntnis nehmen und jetzt einfach so tun, als
ob diese Studien nicht in der Welt wären. Es geht Ihnen
nämlich nicht um die Umsetzung von Sachverstand,
sondern nur um das Kochen eines parteipolitischen
Süppchens.
Was „Der Tagesspiegel“ gestern ziemlich spöttisch
formuliert hat, ist sehr richtig. Er fragte, was der Unter-
schied „von mindestens 30 Jahren und maximal
30 Jahren“ beim Atomausstieg sei, wenn man sich auf
eine Laufzeit von 30 Jahren einige. Die „Berliner Zei-
tung“ hat auch vollkommen recht, wenn sie schreibt, die
Grünen seien in der Atompolitik „die Weltmeister des
Umfallens“.
– „Weltmeister des Umfallens“, Frau Hustedt. Ich weiß,
daß das weh tut. – Es heißt in der „Berliner Zeitung“
weiter:
Eine Frage der „Glaubwürdigkeit“ sei es, daß noch
in dieser Legislaturperiode Meiler stillgelegt wer-
Dr. Peter Paziorek
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7267
(C)
(D)
den, sagten die Fraktionsvorsitzenden Müller und
die Parteivorsitzende Radcke vor einer Woche. Nun
stimmen sie einem Formelkompromiß zu, der alles
offen läßt.
Wir haben eine klare Konzeption, Frau Hustedt. Wir
sagen der Bevölkerung, was wir in der Energiepolitik
wollen. Das betrifft auch die Beibehaltung eines Anteils
von Atomstrom. Uns können Sie sicherlich immer eine
klare Linie abnehmen. Sie können uns nicht unterstellen,
daß wir hin- und herschwanken. Bei Ihnen haben die
Verantwortlichen in der Energie- und Umweltpolitik aus
der gesamten Fraktion jede Woche ihre Meinung geän-
dert – und zwar immer danach, ob sie bei der Basis ge-
redet oder ob sie Verhandlungen mit dem Koalitions-
partner geführt haben.
Das ist das Fatale in der Energiepolitik. Aus diesem
Grund sagt zum Beispiel Siemens, in dem Bereich
eventuell nicht mehr weiterzumachen und statt dessen
nach Frankreich zu gehen. Man weiß eben nicht, ob in
der nächsten Woche noch das Bestand hat, was Sie am
Abend vorher offiziell erklärt haben.
– Die Börse sieht es etwas anders, Frau Hustedt, weil sie
der Ansicht ist, daß Sie sich in wesentlichen Bereichen
nicht durchgesetzt haben. Haben Sie doch einmal den
Mut, das Ihren Basisverbänden zu erklären! Aber dazu
haben Sie, Frau Hustedt, nicht den Mut.
Schauen Sie sich doch einmal an, was Sie im Bun-
destagswahlkampf gemacht haben! Gerade Sie, Frau
Hustedt, haben im Bundestagswahlkampf – auch im
Umweltausschuß des Bundestages – die Liberalisierung
des Strommarktes heftig angegriffen.
– Sie haben die Liberalisierung heftig angegriffen.
Heute – nach der Bundestagswahl – stellen Sie sich hin
und stellen die Vorteile dieser Liberalisierung heraus.
Wir sind von Anfang an dabeigewesen und haben ge-
sagt: Liberalisierung des Strommarktes und Umwelt-
politik können zusammengeführt werden. Das war ein
Jahr, bevor Sie zu dieser Position gekommen sind. Das
ist gerade in der Energie- und Umweltpolitik ein we-
sentlicher Unterschied zwischen uns.
Sie legen bei Ihrer Atomausstiegspolitik nicht alle
Fakten auf den Tisch. Zum Beispiel sagen Sie der Be-
völkerung in Deutschland nicht, ob sich durch Ihre Poli-
tik des übereilten Atomausstiegs die Strompreise erhö-
hen oder nicht. Wir garantieren Ihnen: Die Strompreise
werden dadurch ansteigen. Wenn Sie den Mut hätten,
das heute der Bevölkerung zu sagen, dann – davon bin
ich überzeugt – werden Sie in vielen Bereichen einen
genauso massiven Protest der Bevölkerung erhalten, wie
Sie ihn beim 630-Mark-Gesetz und anderen Gesetzen im
Frühjahr dieses Jahres feststellen mußten, Frau Hustedt.
Uns geht es überhaupt nicht darum, die Atomenergie
als eine Energieform darzustellen, die nie ersetzbar sein
wird.
Es muß vielmehr darum gehen, unter sinnvollen Aspek-
ten eine Erneuerung unserer Energiestrukturen zu
betreiben. Dabei muß uns immer bewußt sein, daß der
Löwenanteil zum Beispiel an Forschung und Entwick-
lung bei neuen Energiemaßnahmen von den Industriebe-
reichen finanziert werden muß. Aber diese Industriebe-
reiche befinden sich im starken Wettbewerb.
Eine Politik, die voreilig auf die Zerstörung von finan-
ziellen Ressourcen ausgelegt ist, entzieht sich selbst die
Grundlage, ausreichend Finanzmittel für den Ausbau
neuer Energiestrukturen zur Verfügung zu stellen.
Wenn Sie so weitermachen, wie Sie in den letzten
Monaten Energiepolitik betrieben haben, nämlich bruch-
stückhaft, dann werden wir in einigen Jahrzehnten große
energiepolitische Probleme haben. Das haben dann Sie
zu verantworten, weil Sie völlig falsche Schwerpunkte
gesetzt haben.
Leider ist zu befürchten, daß Ihr energiepolitisches
Durcheinander weitergehen wird – zu Lasten von Öko-
logie und Ökonomie in Deutschland. Wir können Sie
nur auffordern: Lassen Sie von Ihrem verhängnisvollen
Weg in eine ungewisse Energiezukunft ab!
Ich erteile jetzt dem
Bundesminister Jürgen Trittin das Wort.
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit: Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Frau Wöhrl, Ihre Fraktion hat einen
Dr. Peter Paziorek
7268 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Antrag eingebracht, in dem sie einen engen Zusammen-
hang zwischen Klimaschutz und der Nutzung der Atom-
energie hergestellt hat.
Sie haben uns gegeißelt, weil wir gesagt haben, daß es
ökologische Gründe wegen des Restrisikos gibt, daß es
ökologische Gründe wegen der ungelösten Entsorgungs-
fragen gibt und – Herr Müller hat zutreffend darauf hin-
gewiesen – daß es ökonomische Gründe gibt, für einen
Ausstieg zu sorgen, daß dann nämlich nicht mehr in die-
se Technologie investiert wird. Das alles finden Sie ganz
schrecklich.
Sie verkaufen uns das als eine High-Tech-Industrie mit
Zukunft, wie Sie gesagt haben.
Wie es sich für eine Abgeordnete Ihrer Partei aus Fran-
ken gehört, berufen Sie sich auf Ihren Ministerpräsi-
denten.
Gnädige Frau, beantworten Sie mir doch eine Frage:
Wenn die Atomindustrie für Sie eine solche Zukunftsin-
vestition ist, warum hat der Ministerpräsident des Frei-
staates Bayern sämtliche Vorrangstandorte für Atom-
kraftwerke in Bayern kurz vor der letzten Landtagswahl
kassiert? Glaubt er wirklich an die Zukunftsoption?
Gnädige Frau, nach Ihren Ausführungen freue ich
mich als zuständiger Minister schon auf die zahlreichen
Bewerbungen aus dem Freistaat Bayern auf Einrichtun-
gen, etwa für ein Endlager in tiefengeologischen For-
mationen oder auf Zwischenlager.
Denn es geht nicht, gnädige Frau, hier die Zukunftsfä-
higkeit einer bestimmten Technologie zu beschwören,
dann aber zu sagen: Was den Müll angeht, das können
die „Fischköppe“ nehmen.
– Lieber Dietmar, du weißt, daß wir das als Kompliment
nehmen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zu dem
ernsten Kern der Auseinandersetzung zurückkommen.
Ich will aufgreifen, was Sie, Herr Paziorek, eben gesagt
haben.
Sie sagen, Sie seien für eine Strategie der Energieeffi-
zienz. Da gebe es eine Gemeinsamkeit.
Es gibt wirklich einen Konsens. Die Frage, der wir uns
stellen müssen, ist: Wie sichern wir in einem liberali-
sierten Strommarkt mit relevanten Überkapazitäten den
Aufbau einer neuen, an Effizienz und Erneuerung orien-
tierten Energiestruktur?
Ich glaube, wir sind uns wiederum einig – jedenfalls so,
wie ich Sie persönlich kenne –, daß man dies ausschließ-
lich – das glaubt sonst nur Herr Rexrodt – im Vertrauen
auf den Markt nicht hinbekommt, sondern indem man –
ganz in der Tradition Ludwig Erhards – diesem Markt be-
stimmte Regeln, Bedingungen und Rahmen setzt.
Wir kommen zur jetzigen Situation. Die jetzige
Situation ist davon geprägt, daß Anlagen niedriger Effi-
zienz, Atomkraftwerke wie bestimmte Kohlekraftwerke,
dabei sind, auf Grund der Überkapazität und des Preis-
kampfes hocheffiziente zukunftsfähige Anlagen vom
Markt zu verdrängen.
Ich kann Ihnen die Beispiele ohne Ende vortragen. Es
ist, Herr Jung, nicht nur ein Problem der kommunalen
Kraft-Wärme-Kopplung, sondern wir haben massive
Einbrüche auch in dem für eine Klimastrategie übrigens
existentiell notwendigen Bereich der industriellen Kraft-
Wärme-Kopplung.
Das ist der Grund, warum diese Koalition sagt: Wir
müssen erneuerbare Energien stützen – das erfolgt durch
den hier vorgelegten Gesetzentwurf – und Strategien zur
Förderung der Energieeffizienz, zur Einführung neuer
Technologien befördern. Das ist auch der Grund, warum
wir Wert darauf legen, nicht einfach zuzuschauen, wie
es sich mit den alten, ineffizienten Anlagen entwickelt,
und uns aus energiepolitischen Gründen für ein geord-
netes Auslaufen der Anlagen einsetzen; denn nur so be-
steht die Möglichkeit, frei werdende Kapazitäten ent-
sprechend zu nutzen.
Was ist die Alternative zu einer Politik, die den Auf-
bau einer neuen Energiestruktur mit dem Ausstieg aus
der Kernenergie verknüpft? Die Alternative ist das, was
Sie vorschlagen: Wir halten an einer Technologie fest
– siehe das Beispiel „Wöhrl/Stoiber“ –, an die wir selber
nicht mehr glauben. – Aber in dem Zeitpunkt, in dem
diese Anlagen vom Netz gehen, werden wir erleben, daß
wir auf dem Strommarkt keine Überkapazitäten mehr
haben, sondern Unterkapazitäten. Dann tritt all das ein,
was Herr Hirche hier für den Industriestandort Deutsch-
land beschrieben hat.
Ich sage Ihnen: Wer verhindern will, daß die Bundes-
republik Deutschland zu einem reinen Stromimportland
wird, der muß heute die Rahmenbedingungen für eine
Energiestruktur setzen, die sich an Effizienz und Er-
neuerung orientiert. Das geht nur, wenn man den Ein-
stieg in eine neue Energiepolitik mit dem Ausstieg aus
ineffizienten und darüber hinaus extrem risikobehafteten
Technologien wie der Atomenergie verbindet.
Bundesminister Jürgen Trittin
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7269
(C)
(D)
Einige haben gemeint, sich auf einen Bericht der
heutigen Ausgabe der „Berliner Zeitung“ berufen zu
können. An Ihrer Stelle wäre ich vorsichtig. Man sollte
nicht nur die Überschriften lesen, sondern auch den
Text.
– Ich weiß, daß Sie dann den ganzen Text lesen.
Es geht um ein Gutachten, das wir als Bundesum-
weltministerium in Auftrag gegeben haben. Darin steht,
daß ein Ausstieg, wenn er blind und ohne Aufbau einer
anderen Struktur erfolgt, ein Klimaproblem verursachen
würde. Was für eine neue Erkenntnis ist das? Es geht
aber weiter:
Zu den nötigen Maßnahmen zählen die Autoren
einen massiven Ausbau erneuerbarer Energien und
der Kraft-Wärme-Kopplung sowie den Ersatz von
Kohle durch Gas. Nötig sei auch eine scharfe Ener-
giesparverordnung für Gerätehersteller, Hausbesit-
zer und Industrie sowie Einschnitte beim Straßen-
verkehr.
Meine Damen und Herren, Sie sollten sich beim Berufen
auf diesen Artikel vorsehen. Das, was in diesem Gut-
achten benannt worden ist, ist nichts anderes als das,
was wir als Koalition wollen. Die Verdoppelung des
Stroms aus erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2010
und die Verdoppelung der Energie aus Kraft-Wärme-
Kopplung mit einem CO2-Einsparpotential von 60 Mil-lionen Tonnen sowie die Förderung von energieeffi-
zienten Geräten – allein der letzte Posten entspricht
einem Einsparpotential im Grundlastbereich von zwei
Atomkraftwerken. Die genannten Maßnahmen sind
nichts anderes als das, was diese Koalition in den
vergangenen Monaten mit diesem Gesetz auf den Weg
gebracht hat und mit den weiteren, noch folgenden ener-
giepolitischen Schritten auf den Weg bringen wird. Eine
bessere Bestätigung kann ich mir eigentlich gar nicht
wünschen.
Jetzt hat die Kolle-
gin Ulrike Mehl, SPD-Fraktion, das Wort.
Ich bitte um Entschuldigung. Ich habe vergessen, daß
es noch zwei Kurzinterventionen gibt. Aber zunächst hat
Frau Kollegin Mehl das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Wenn man sich den Antrag der CDU/CSU an-
schaut und die Überschrift unbefangen liest, denkt man
erst, da habe sich jemand verschrieben. Da steht näm-
lich: „… Einstieg in ein nachhaltiges, klimaverträgliches
Energiekonzept statt Ausstieg aus der Kernenergie“. Es
heißt „statt“, nicht „durch Ausstieg aus der Kernener-
gie“. Spätestens nach dieser Debatte weiß jeder: Die
Kolleginnen und Kollegen meinen das wirklich ernst,
obwohl wir inzwischen alle wissen, daß die Kernenergie
eine sehr risikoreiche Technologie ist.
Noch vor 20 Jahren haben viele geglaubt, daß das eine
Zukunftstechnologie ist. Wir wissen es inzwischen bes-
ser, und das nicht erst seit Tschernobyl.
In ihrem Antrag tut die Opposition so, als würden mit
dem Ausstieg aus der Atomwirtschaft in Deutschland
die Lichter ausgehen oder als würde die Nordsee über
uns zusammenschlagen, weil Atomstrom durch Strom
aus Kohle, Öl und Gas ersetzt werden soll.
Das ist natürlich alles Unsinn. Sie erwecken in Ihrem
Antrag außerdem den Eindruck, daß das bisherige Ent-
sorgungskonzept der alten Regierung jetzt durch die
neue Regierung aufs Spiel gesetzt würde – als hätte es
ein Entsorgungskonzept gegeben.
Das stellt doch die Tatsachen total auf den Kopf.
Sie haben jahrelang die Atomenergie gefördert, ohne ein
schlüssiges Entsorgungskonzept zu haben, auch wenn
Sie behaupten, Sie hätten eines. Aber wir sind der Mei-
nung: Sie hatten keines.
Die Probleme, die dadurch entstehen, müssen wir jetzt
lösen.
Natürlich können wir mit den regenerativen Energien
alleine die Atomenergie nicht ersetzen. Das hat auch
niemand behauptet. Aber wir können zum Beispiel
durch den Abbau von Überkapazitäten – das ist hier
mehrfach gesagt worden –, mit gezielten Anreizen für
regenerative Energien, wie wir sie mit diesem Gesetz
und mit dem 100 000-Dächer-Programm schaffen, und
mit der technischen Verbesserung der Nutzung fossiler
Energien den Weg in einen sinnvolleren Energiemix
ohne Atomstrom beschreiten. Die beste aller Energie-
quellen ist natürlich – das gehört in jede Rede – das
Energiesparen.
Wir wollen eine nachhaltige Energieversorgung. Dies
schließt Kernenergie definitiv aus. Nachhaltigkeit heißt
nämlich, daß wir den kommenden Generationen keine
radioaktiven Altlasten hinterlassen dürfen, deren Risi-
kopotential nicht abschätzbar ist.
Bundesminister Jürgen Trittin
7270 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Nachhaltigkeit heißt auch, daß wir die Risiken der Ener-
gieerzeugung schon für die heute Lebenden reduzieren
wollen.
Deshalb muß der Ausstieg jetzt eingeleitet werden.
Mit dem Ausstieg aus der Atomenergie werden weder
die Lichter ausgehen, noch werden wir in die Klimaka-
tastrophe marschieren.
Hier sind schon viele Argumente genannt worden. Unter
anderem bestätigt das der VDEW in seinem Bericht zum
Strommarkt Deutschland 1998. Darin ist nämlich zu le-
sen, daß 1998 5 Prozent weniger Strom aus Kernenergie
erzeugt wurden, dafür aber 5 Prozent mehr aus Stein-
kohle- und Gaskraftwerken, und daß trotzdem die Ge-
samt-CO2-Emission in Deutschland den zweitniedrig-sten Wert seit 1990 hatte.
Es gibt weitere Gutachten; wir werden bei den Bera-
tungen dieser Anträge und unseres Gesetzentwurfs in
den Ausschüssen genügend Gelegenheit haben, darüber
zu reden, welche Gutachten wem recht geben.
Um das Klima wirklich zu verbessern, die negativen
Entwicklungen zu bremsen und die Energieversorgung
zu sichern, brauchen wir neue Konzepte, neue Ideen
bzw. Alternativen, vor allen Dingen neue Technologien,
die nicht nur entwickelt werden müssen, sondern auch
Förderung brauchen, um auf den Markt zu kommen.
Deswegen setzen wir auf die Wasserkraft, die Wind-
kraft, die Sonnenenergie, Geothermie, Klär- und Gru-
bengas und die Stromerzeugung aus Biomasse. Wenig-
stens an dieser Stelle hätten Sie, meine Damen und Her-
ren von der Opposition, einmal ein lobendes Wort sagen
können. Sie sind doch immer die Bannerträger der
Landwirtschaft. Da könnte nun wirklich einmal ein po-
sitives Wort gesagt werden.
Denn hier machen wir auch für die Landwirtschaft etwas
wirklich Gutes.
Wir wollen gezielte Anreize für technologische Fort-
schritte schaffen – das ist der entscheidende Schritt, um
die Energieeffizienz zu steigern –, die Kraft-Wärme-
Kopplung verbessern usw. Wir werden jedenfalls mit
diesen ersten Schritten, die wir schon ein Jahr nach dem
Regierungswechsel gegangen sind, Ihren Vorstellungen
von einer strahlenden Zukunft in der Energiepolitik ein
Ende bereiten.
Nun noch ein Wort zu den Arbeitsplätzen. Das
Thema ist hier schon ein paarmal erwähnt worden. Man
muß vielleicht einmal festhalten, daß auch im Bereich
der regenerativen Technologien Arbeitsplätze entstehen.
Man geht davon aus, daß in den letzten Jahren allein in
diesem Technologiebereich 20 000 Arbeitsplätze ge-
schaffen wurden.
Was die Frage des Exportes betrifft, muß ich fest-
stellen: Erstens hat Siemens in Deutschland kein Atom-
kraftwerk beantragt, zweitens agiert Siemens weltweit,
und drittens gab es einmal einen schönen Vergleich
meiner Ministerpräsidentin, Heide Simonis, die sagte:
Deutschland ist der größte Exporteur von Meerwasser-
entsalzungsanlagen, obwohl es selber keine betreibt.
Siemens kann also weiterhin Atomkraftwerke in der
Welt bauen, ohne aus diesem Grunde zusätzliche in
Deutschland bauen zu müssen.
Mit dem 100 000-Dächer-Programm werden wir die
Nachfrage nach Solaranlagen erhöhen und das umkeh-
ren, was Sie eingeleitet haben. Unter Ihrer Regierung hat
noch vor ein paar Jahren der letzte Solarzellenhersteller
das Land verlassen und ist in die USA gegangen.
Wir werden dafür sorgen, daß wir das wieder umdrehen
und hier erstklassige Chancen für die regenerativen
Energien und vor allen Dingen für die Solarenergie
schaffen.
Genau das tun wir mit diesem ersten Baustein des Ge-
setzes.
Zu den Ausführun-
gen des Ministers Trittin gibt es zwei Kurzinterventio-
nen, auf die Sie dann bitte gemeinsam antworten. Kürze
wäre angebracht! Zunächst Herr Kollege Dr. Klaus Lip-
pold. Bitte sehr.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
finde es hervorragend, wenn der Minister darauf ver-
weist, daß wir jetzt in Bayern in den Granit gehen soll-
ten. Der erste, der dann protestieren würde, wäre eben-
dieser Minister.
Bei bestehenden Anlagen versagt er das weitere Ar-
beiten und verweist auf zukünftige Anlagen, um dann
Ulrike Mehl
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7271
(C)
(D)
das gleiche Spiel 15 Jahre später wiederholen zu kön-
nen. Dann käme die Frau Kollegin Mehl und würde sa-
gen, es sei immer noch nichts fertig. Also, Freunde, so
können wir es doch nicht angehen lassen!
Bei Projekten, die genehmigungsfähig sind, bzw. bei
Projekten, bei denen wir die Arbeiten zügig vorantrei-
ben könnten, weil wir auf einem guten Wege sind, wird
gesagt: Stopp! Da ich gerade Herrn Minister Trittin
sowie andere Rotgrüne sehe: In Hessen werden sicher-
heitserhöhende Anlagen im Kernkraftwerksbereich
von Rotgrün gestoppt. Der entscheidende Punkt ist:
Sie wollen weder Endlagerung noch anderes, Sie su-
chen nur nach immer neuen Wegen, um dann sagen
zu können, der eingeschlagene Weg funktioniere
nicht. Diese Ablenkungsmaschinerie nehmen wir Ihnen
nicht ab.
Im übrigen, Herr Kollege Trittin: Informieren Sie sich
doch einmal, wie effizient Kernkraftwerke in der
Grundlast sind. Sie werden ein überraschendes Aha-
Erlebnis haben. Ich will Ihnen noch eines sagen: Eine
Industrie, die funktionierende Kraftwerke abschaltet und
Kapitalvernichtung betreibt, besitzt nicht die Reserven,
um ausreichend in neue, moderne Technologien inve-
stieren zu können.
Sie besitzt auch nicht ausreichend Reserven, um in rege-
nerative Energien investieren zu können.
Das ist doch Ihr altes, volkswirtschaftlich völlig ver-
queres Konzept: den Leuten das Geld wegzunehmen und
ihnen dann vorzuwerfen, sie investierten nicht genug in
regenerative Energien. Das kann man nur als Grüner
tun, nicht aber als Volkswirt oder als Kollege, der sich
mit diesen Fragen beschäftigt.
In diesem Zusammenhang gibt es noch einige Punkte,
die man sehen muß. Wenn jetzt schon die Lagerung
nicht sicher genug ist, wie Sie sagen, was ist dann mit
den neuen Lagern, die Sie standortnah überall errichten
wollen? Wie läuft denn dieses Konzept an? Wie ist das
Konzept mit den Ländern abgestimmt? Es gibt doch
– das wissen Sie selbst – von Gruppen, die Ihnen we-
sentlich näher stehen als uns, genug Äußerungen in der
Richtung, daß Sie dann die gleiche Vorgehensweise
üben würden wie schon jetzt bei den Castor-Transporten
und an anderen Standorten.
Wie ist denn Ihr Rezept? Sie praktizieren doch nur
eine andere Form, um uns auf einen Weg zu bringen, der
dann hinterher in der Sackgasse endet. Das, Herr Trittin,
machen wir nicht mit!
Wenn Sie sagen, Sie wollten bei der CO2-Belastung60 Millionen Tonnen durch KWK einsparen, bin ich
gerne bereit, die angekündigte Studie zu prüfen, sobald
wir sie vorliegen haben.
– Potential ist immer der spannende Fall. Es geht auch
hier um die Position: Wieviel ist denn wirklich wirt-
schaftlich wettbewerbsfähig realisierbar?
Damit bin ich bei der Kollegin Mehl.
Natürlich kann ich in bestimmten Bereichen Arbeits-
plätze schaffen. Die Frage ist jedoch: Sind diese Ar-
beitsplätze ohne Subventionierung wettbewerbsfähig?
Das ist der Punkt, und das verlieren Sie völlig aus den
Augen. Wir können uns doch in der deutschen Volks-
wirtschaft –
Herr Kollege, die
Zeit für die Kurzintervention ist abgelaufen.
– ja
– nicht Bereiche leisten, in denen wir nur subventio-
nierte Arbeitsplätze haben. Das ist die Politik dieser Re-
gierung. Mit Holzmann waren Sie bereits auf dem fal-
schen Weg, und hier sind Sie es auch!
Herr Minister Trit-
tin, möchten Sie antworten? – Bitte sehr.
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit: Lieber Herr Lippold, das,
was Sie in bezug auf Holzmann gesagt haben, hat mich
verwundert. Denn ich erinnere mich an die entsprechen-
den Fernsehbilder. Da standen neben dem Bundeskanz-
ler, der etwas Richtiges getan hat, die Oberbürgermeiste-
rin von Frankfurt, Frau Roth – sie ist Ihre Parteifreun-
din –, und der Ministerpräsident des Landes Hessen,
Herr Koch, der ebenfalls Ihr Parteifreund ist.
Wenn Sie meinen, daß auch diese beiden auf dem
Holzweg sind, dann sollten Sie das einmal innerhalb der
CDU austarieren. Wir finden es richtig, wenn man Ar-
beitsplätze nicht einfach über die Wupper gehen läßt.
Angesichts dessen, daß Sie, Herr Lippold, aus Hessen
kommen, wundere ich mich sowieso. Denn ich habe ja
Frau Wöhrl angesprochen, aber nicht deshalb, weil ich
ihr ein Endlager aufschwatzen wollte. Da machen wir
ein ganz sauberes, faires Verfahren.
Dr. Klaus W. Lippold
7272 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
– Wenn Frau Wöhrl sich darum bewirbt, würde sie ge-
nauso sorgfältig geprüft wie alle anderen auch.
Was nicht geht, ist – darauf lege ich nachdrücklich
Wert –, eine Technologie als Zukunftstechnologie zu
verkaufen, gleichzeitig aber zu sagen: An der notwendi-
gen Lösung des Müllproblems beteiligen wir Bayern uns
nicht. Das ist bisher Stand der atompolitischen Diskus-
sion in diesem Lande.
Von Ihnen als Hessen hätte ich mir gewünscht, daß Sie
diese Doppelbödigkeit, die landsmannschaftlich und
nicht politisch begründet ist, nicht mitmachen.
Daß wir bei Billignachrüstungen in Biblis ein bißchen
genauer hinschauen, das werden Sie verstehen. Es gibt
bei uns einige, die diese Anlage ganz gut kennen. Eine
reduzierte Nachrüstung lassen wir nicht ungeprüft
durchgehen. Die Hessen hätten uns die entsprechenden
Akten schon längst geben können; dann wäre das ganz
schnell gegangen. Aber seit einem halben Jahr verwei-
gern sie uns die Akten. Wir mußten sie durch Weisung
zwingen, sie uns zu übergeben. Sich jetzt hier als Ver-
treter der Sicherheit zu präsentieren ist ein bißchen
durchsichtig.
Als letztes komme ich zu den Reserven. Sie haben of-
fensichtlich das Ende der Monopolmärkte in der Ener-
giewirtschaft mental noch nicht verarbeitet. Heute geht
es nicht mehr um Reserven, um staatlich garantierte an-
ständige Gewinne. Nach diesem Gesichtspunkt wurden
nämlich früher die Preise monopolistisch festgesetzt.
Heute geht es darum, daß Anlagen, die schon lange
abgeschrieben sind, teilweise nur auf der Basis ihrer
laufenden Kosten mit Anlagen konkurrieren, die einen
hohen Investitionsbedarf, das heißt eine ganz andere
Kostenstruktur, haben und die damit nicht den Markt
belasten. Reserven für neue Bereiche werden dabei
nirgendwo erwirtschaftet. Das ist die heutige Situation.
– Herr Hirche, heute wird der Strompreis unterhalb der
Kostenhöhe festgelegt.
Herr Minister, die
für die Antwort auf eine Kurzintervention vorgesehene
Redezeit ist abgelaufen.
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit: Damit geraten Sie in die
Situation, daß hocheffiziente Anlagen vom Markt weg-
gefegt werden, während ineffiziente Anlagen irgend-
wann auslaufen. Dann werden wir zu einem Strom-
importland; das möchte ich nicht.
Kollege Hirche hat
auf seine Kurzintervention verzichtet. Das ist – ich mei-
ne das im Scherz – eine kluge Entscheidung.
Zum Abschluß der Debatte erteile ich das Wort dem
Kollegen Hermann Scheer.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Der eigentliche Anlaß dieser
Debatte – vor allem sollte ja das Stromeinspeisungsge-
setz im Hinblick auf erneuerbare Energien im Zentrum
stehen –
– natürlich gibt es andere Anträge – ist die erste Lesung
des Entwurfes eines Gesetzes zur Förderung der Stro-
merzeugung aus erneuerbaren Energien. Ein bißchen
bedauerlich ist es, daß bei Energiedebatten immer wie-
der dieselben Dinge durchgekaut werden, und zwar auf
der Basis zahlloser Legenden, was die Energieversor-
gungsstruktur anbetrifft. Daß es zum Beispiel keine Al-
ternative zur Grundlast bei der Kernenergie gebe, ist
doch längst widerlegt. Daß die Kraft-Wärme-Kopplung
hervorragend grundlastfähig ist, dürfte jedermann be-
kannt sein.
– Herr Grill, wenn Sie darüber lachen, zeigt das, daß Sie
offensichtlich die Enquete-Kommission „Energie“ be-
sonders nötig haben, damit Ihnen die ganze Problematik
einmal klar wird.
Daß die Unverzichtbarkeit von Atomenergie gege-
ben sei, ist ebenfalls längst widerlegt. Es gibt zahllose
Länder in Europa, die eine umweltfreundlichere Ener-
gieversorgung als wir haben. Sie haben keine Kernkraft.
Sie brauchen nur nach Österreich, Dänemark oder Ita-
lien zu schauen.
Daß sich die Arbeitsplatzproblematik damit neu
stellt, ist auch kein neues Thema. Aber daß man auto-
matisch denkt, daß die neuen Dinge, um die es geht, nur
zur Gefährdung alter Arbeitsplätze führen, ohne darauf
zu verweisen, daß die neuen Arbeitsplätze in riesigem
Bundesminister Jürgen Trittin
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7273
(C)
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Maßstab kommen, besonders im mittelständischen Be-
reich, wenn wir dezentrale Energietechnologien, insbe-
sondere erneuerbare Energien fördern, ist nicht gut. Im
EU-Weißbuch wird von 400 000 neuen Arbeitsplätzen
allein in der Landwirtschaft gesprochen, wenn wir bis
2010 das Ziel der Verdoppelung des Anteils erneuerba-
rer Energien erreichen. Insgesamt wird mit 1,2 Millio-
nen neuen Arbeitsplätzen gerechnet. Das kann man doch
nicht weglassen, gerade wenn man an die Zukunft denkt.
Es tut mir leid, Kollege Hirche – bei aller sonstigen
Freundschaft –, die herkömmlichen Energiepreise mit
den damit verbundenen Umweltfolgen erst einmal zu
senken, um dann besser Umweltpolitik bezahlen zu
können, heißt doch im Grunde genommen, ein Problem
schlimmer zu machen, um es dann vielleicht geringfügig
zu verbessern. So kommt man nicht zur Harmonisie-
rung von Arbeits- und Umweltzielen in Verbindung
mit energiepolitischen Zielen.
Auch geht es bei einer solchen Frage nicht darum,
wie wir sie heute mit dem Stromeinspeisungsgesetz be-
handeln. Daß auf Punkt und Komma beantwortet wer-
den könnte, wieviel Ersatz bis zu welchem Zeitpunkt
dadurch gegenüber herkömmlichen Energien möglich
ist, ist gar nicht der Ansatz. Der Ansatz ist: Wie schaffen
wir den Spielraum für Investoren in der Gesellschaft,
damit sie hin zu erneuerbaren Energien und zu effizien-
terem Energieeinsatz umsteigen? Und: Wie kommen wir
von den ineffizienten und betonierten Großstrukturen
der Energieversorgung weg hin zu dezentralen, mehr
regionalisierten Erzeugungsstrukturen, was mit erneuer-
baren Energien möglich ist?
Diesen Spielraum zu schaffen, hat das Stromeinspei-
sungsgesetz für erneuerbare Energien von 1991 damals
als gemeinsame Leistung aller Parteien erreicht. Es war,
wie Sie wissen, immer umstritten. Es war bei der Ener-
giewirtschaft immer umstritten. Sie hat es immer be-
kämpft, insbesondere dann, als es erfolgreich wurde.
Wir erinnern uns doch noch an die ganzen Debatten, die
wir im Bundestag geführt haben, und an die Anschläge
gegen das Stromeinspeisungsgesetz, die aus vielerlei
Richtungen kamen und die wir einmütig zurückgewie-
sen haben.
Nun geht es aus den Gründen, die heute genannt wor-
den sind, darum, daß man dies novellieren muß. Die
Novellierung wird riesige Spielräume schaffen. Mit der
Windenergie, die ein hochattraktiver Industriezweig ist
– neben dem Umwelteffekt, der darin in viel größerem
Maß schlummert, als er bereits eingetreten ist –, ist eine
neue Industrie geschaffen worden, die jetzt weltweit
operieren kann. Das gleiche können wir mit der Photo-
voltaik schaffen, die nach dem jetzigen Stromeinspei-
sungsgesetz noch keine Förderung ausreichender Art er-
hält, um sich überhaupt erst einmal marktfähig machen
zu können.
Alle herkömmlichen Energieträger wurden mit Milli-
ardenbeträgen marktfähig gemacht oder marktfähig
gehalten. Wenn wir bei einer derart historischen Aufga-
be, um die es hier geht, nun endlich für erneuerbare
Energien diese Schritte tun, und es auch neben der Pho-
tovoltaik und der Windkraft jetzt auch neu mit dem An-
satz in der Biomasse machen – –
– Wir tun das in der Biomasse in einem großen Schritt.
– Dann unterstützen Sie das doch. Es tut mir leid, Herr
Kollege Hinsken, aber die Botschaft, die teilweise bei
Rednern Ihrer Fraktion herausgekommen ist, war, daß
man dies wie eine heiße Kartoffel behandelt, aber im
Grunde genommen nicht sieht, daß wir mit diesem Ent-
wurf ein Gesetz, novelliert und angepaßt an neue Her-
ausforderungen, vorlegen, das weltweit ohne Beispiel
ist. Deshalb kann es weltweit beispielhafte Zeichen für
alle setzen.
Daß man noch einige Details in den Ausschußbera-
tungen ändert, ist doch völlig selbstverständlich. Neh-
men Sie dieses Gesetz als das, was es ist, nämlich ein
riesiger Schritt in das 21. Jahrhundert mit einer neuen
Energieversorgung.
Danke schön.
Nun hat der Kollege
Hirche doch um eine Kurzintervention gebeten. Bitte
sehr.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Gerade weil ich Hermann Scheer
nicht nur seit über 30 Jahren kenne, sondern ihn auch
schätze – ich gratuliere ihm von hier aus zur Verleihung
des alternativen Nobelpreises –,
möchte ich gern eine Klarstellung vornehmen.
Natürlich ist allen bewußt, daß durch die erneuerba-
ren Energien im Maschinenbau und anderswo Arbeits-
plätze entstehen werden und daß sich das steigern läßt.
Beim Thema Arbeitsplätze geht es aber auch um die
Arbeitsplätze in der übrigen Wirtschaft. Deswegen ha-
ben wir gesagt: Der Strompreis für die Normalkunden
und die normalen Arbeitsplätze darf nicht steigen. Es ist
ein falscher Ansatz, dies mit einer Umlage zu regeln und
damit die deutsche Industrie weniger wettbewerbsfähig
zu machen sowie die Arbeitsplätze zu gefährden. Ich
glaube, daß dies ein wichtiges Thema ist.
Wir sind nicht im Streit darüber, daß wir den Korri-
dor erweitern und die Fördertatbestände – Geothermie
Dr. Hermann Scheer
7274 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
und was alles zum Beispiel von Herrn Schütz angespro-
chen worden ist – mit aufnehmen müssen. Wir sind im
Streit darüber, ob die Degression in diesem Gesetz aus-
reichend ausgestaltet ist oder nicht, um es brüsselfest zu
machen. Es nützt niemandem, sich hierbei Sand in die
Augen zu streuen, wenn dies tatsächlich nicht gegeben
ist. Das können wir im Ausschuß im einzelnen prüfen.
Es geht hier überhaupt nicht um grundsätzliche Gegner-
schaften.
Ich will hier noch mal eines sagen: Ich habe vor
13 Jahren als niedersächsischer Wirtschaftsminister das
erste Windförderprogramm in der Bundesrepublik
Deutschland überhaupt aufgelegt. Ich habe in Wilhelms-
haven das Deutsche Institut für Windforschung gegrün-
det. Mir kann keiner nachsagen, daß ich nicht auch
durch praktische Arbeit sehr viel getan hätte.
Jetzt – Herr Schütz hat das auch aufgezeigt, und ich
sage dies gerade nach dem letzten Beitrag – geht es aber
doch darum, diesen weiteren Korridor für erneuerbare
Energien im Interesse von Umwelt mit der Idee in Ein-
klang zu bringen, auf keinen Fall Arbeitsplätze in den
übrigen Bereichen in Deutschland zu gefährden, sondern
Wege zu finden, um zum Beispiel die 1,5 Milliarden
DM aus dem Ökostrom dafür einzusetzen und nicht für
andere Zwecke im Haushalt versickern zu lassen. Lassen
Sie uns gemeinsam einen Weg suchen. Ich glaube, das
wäre ein vernünftiger Ansatz.
Der Kollege Scheer
verzichtet. Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/2341, 14/543, 14/2239 und 14/2348
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen, wobei die Vorlage auf Drucksache
14/2341 zusätzlich an den Finanzausschuß überwiesen
werden soll. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Weiterhin wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 14/2364 zur federführenden Beratung an
den Ausschuß für Wirtschaft und Technologie und zur
Mitberatung an den Ausschuß für Ernährung, Landwirt-
schaft und Forsten, an den Ausschuß für Verkehr, Bau-
und Wohnungswesen und an den Ausschuß für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit zu überweisen. Gibt
es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Die Vorlage auf Drucksache 14/2371 soll an den
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie überwiesen
werden. Auch damit sind Sie einverstanden. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Die Fraktion der PDS hat Beratungsbedarf zu den
Beschlußempfehlungen des Vermittlungsausschusses
angemeldet und bittet um Unterbrechung der Sitzung für
eine halbe Stunde. Die F.D.P. hat sich diesem Begehren
angeschlossen. Ich werde also die Sitzung für ungefähr
eine halbe Stunde unterbrechen. Ich weise aber auf fol-
gendes hin: Der Wiederbeginn wird Ihnen rechtzeitig
durch Klingelsignal bekanntgegeben. Nach dem Wie-
derbeginn findet eine vereinbarte Debatte zur Finanz-
und Gesundheitspolitik und danach die Abstimmung
über die Ergebnisse des Vermittlungsausschusses
– mancher von Ihnen möchte das vielleicht gern wis-
sen – statt.
Ich unterbreche jetzt die Sitzung.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, die unterbrochene Sitzung ist wieder er-
öffnet.
Ich gebe eine amtliche Mitteilung bekannt. Heute
morgen sind Ihnen im Anhang zur Zusatzpunktliste
nachträgliche Ausschußüberweisungen, die Vorlagen
zur Reform des Stiftungsrechts betreffend, mitgeteilt
worden. Zusätzlich dazu sollen die beiden Vorlagen auf
den Drucksachen 14/336 und 14/2029 auch dem Aus-
schuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung zur Mitberatung überwiesen werden. Außer-
dem bittet der Ausschuß für Verkehr, Bau und Woh-
nungswesen um eine nachträgliche Überweisung des
Antrags „Weiterführung des Jahresberichtes der Bundes-
regierung zum Stand der Deutschen Einheit“ auf Druck-
sache 14/1715 zur Mitberatung. Sind Sie mit den nach-
träglichen Überweisungen einverstanden? – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Vereinbarte Debatte zur Finanz- und Gesund-
heitspolitik
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 45 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Als erstem Redner erteile ich nunmehr dem Kollegen
Wilhelm Schmidt von der SPD-Bundestagsfraktion das
Wort.
Herr Präsi-
dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir be-
finden uns am Ende eines sehr umfangreichen Vermitt-
lungsverfahrens, das wir in den vergangenen Wochen
miteinander durchgeführt haben. Es ist nach der Struktur
unserer parlamentarischen Demokratie eigentlich ein
ganz normaler Vorgang, daß wir zwischen den beiden
Organen Bundestag und Bundesrat mit dem Vermitt-
lungsausschuß eine ganz wichtige Vermittlungsstelle,
eine Schaltstelle, haben, die bei dem Versuch helfen
soll, gemeinsam Probleme zu überwinden, die es zwi-
schen den Kammern Bundestag und Bundesrat immer
wieder einmal gibt.
Diese Vermittlungsarbeit ist ein durchaus natürlicher
Vorgang, wenngleich er sich der Öffentlichkeit und
manchmal auch der Parlamentsöffentlichkeit entzieht.
Darum will ich bei meinem kurzen Bericht heute darauf
hinweisen, daß wir sehr intensiv miteinander gesprochen
Walter Hirche
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7275
(C)
(D)
und verhandelt haben. Vor allen Dingen will ich darauf
hinweisen, daß wir uns sehr intensiv rückgekoppelt
haben, sowohl in die Fachbereiche unserer Fraktionen
als auch zur Regierung hin, um damit zu erreichen, daß
wir ein Vermittlungsergebnis erzielen, mit dem mög-
lichst alle zufrieden sein können.
Aus der Sicht der SPD-Bundestagsfraktion sage ich:
Mit diesem Ergebnis können wir zufrieden sein.
Dafür bin ich dankbar; denn es ist ein Ergebnis, das erst
nach langen Konsensgesprächen zustande gekommen
ist. Herzlichen Dank an alle Beteiligten!
Am Anfang des Vermittlungsverfahrens – Sie erin-
nern sich: die erste Sitzung des Vermittlungsausschusses
fand am 2. Dezember statt; uns standen insgesamt nur
13 Tage zur Verfügung – hatte ich manchmal das Gefühl
– das sage ich mit Blick auf die geschätzten Kolleginnen
und Kollegen aus den Oppositionsfraktionen –, daß
nicht nur Blockade und Widerstand zu erwarten seien,
sondern geradezu eine Brutalopposition eingeläutet wer-
den sollte. Was zu Beginn so aussah, hat sich im Laufe
des Verfahrens aber geglättet. Insofern bezieht sich mein
Dank an die Verhandlungsführung im Vermittlungsaus-
schuß auch auf Sie persönlich, Herr Blens, sowie auf Ih-
re Kolleginnen und Kollegen.
Wir hatten schon die Sorge, daß das Steuerbereini-
gungsgesetz beispielsweise durch die Tatsache, daß eine
Reihe von zusätzlichen Vorschriften ins Gesetzgebungs-
verfahren eingebracht worden ist, die offensichtlich das
Wiederaufmachen von Steuerschlupflöchern zum Ziel
hatten, nicht in ordentlicher Form zu Ende verhandelt
werden könnte.
Dasselbe gilt übrigens auch für das, was mein Kolle-
ge Dreßler nachher noch zum Gesundheitsreformge-
setz berichten wird. Nachdem der Bundesrat das Ge-
sundheitsreformgesetz 2000 abgelehnt hatte, hatten wir
den Wunsch, zu einer einvernehmlichen Lösung zu
kommen. Leider war auf der Seite von CDU/CSU und
F.D.P. keine Neigung dazu zu verspüren. Aus diesem
Grunde fanden wir nicht einmal die Kraft, eine Arbeits-
gruppe einzurichten, was ich an dieser Stelle auch nach-
träglich noch einmal außerordentlich bedauere.
Meine Damen und Herren, dennoch ist es gut, daß
wir die vorliegenden Ergebnisse erzielen konnten, auch
wenn sie noch unübersichtlicher geworden sind, als sie
zunächst schon zu sein schienen. Wir haben beispiels-
weise das Wohngeldgesetz in drei Gesetze aufgeteilt.
Gleichwohl war dies ein guter Prozeß, weil er die Ver-
antwortung kennzeichnet, die dieses Haus, aber auch die
Länderseite in all den Verfahrensschritten beweisen
wollte.
Deswegen danke ich an dieser Stelle ausdrücklich
denjenigen, die das gestaltet haben – ich meine jetzt
nicht so sehr die Mitglieder dieses Hauses; meinen Dank
an sie habe ich schon abgestattet –, ganz besonders dem
Vorsitzenden des Vermittlungsausschusses, dem Ham-
burger Bürgermeister Ortwin Runde, für seine umsichti-
ge Sitzungsleitung.
Ich danke aber auch den beiden Bundesministern, Frau
Andrea Fischer und Hans Eichel, dafür, daß sie sich in
einem Maße ins Zeug gelegt haben, das zwar ihres Am-
tes ist, das aber dazu geführt hat, daß wir in vielen Ver-
handlungsrunden miteinander darum ringen konnten,
das vorliegende Ergebnis zu erzielen. Dieser Dank ist
der Dank der gesamten Koalition für diesen Einsatz;
denn wir wollten ja das Ergebnis, das wir im Bundestag
erreicht haben, am Ende auch wiedererkennen. Ich kann
bekräftigen: Wir haben es an dieser Stelle miteinander
geschafft.
Ausdrücklich danke ich dem Sekretariat des Ver-
mittlungsausschusses mit Herrn Dr. Dästner an der Spit-
ze, das sich in unglaublicher Weise eingesetzt und heute
nacht noch das Verhandlungsergebnis zusammengestellt
hat, so daß Sie es heute auf Ihren Tischen vorfinden
konnten. Herzlichen Dank an die Mitarbeiter des Sekre-
tariats!
Ich denke, daß es insbesondere im Finanz- und Steu-
erbereich ganz interessant war, die Auseinandersetzun-
gen zu erleben. Ich hatte schon ein wenig auf die Fakto-
ren des Steuerbereinigungsgesetzes aufmerksam ge-
macht. Ich will an dieser Stelle hinzufügen, daß wir es
als ein ganz wichtiges und gutes gemeinsames Ergebnis
empfinden, daß wir beispielsweise während der Ver-
handlungen nicht mehr über die Besteuerung von Kapi-
tallebensversicherungen gesprochen haben. Wir kün-
digen aber ausdrücklich an, daß wir dieses Thema im
Zusammenhang mit der Klärung der Alterssicherung er-
neut aufgreifen, für die in diesem Hause noch entspre-
chende Regelungen zu treffen sein werden.
– Vielen Dank für den Beifall.
Ich will aber diejenigen, die sich in diesen Tagen ein
wenig zum Retter der Kapitallebensversicherung auf-
spielen wollten – das waren die Kolleginnen und Kolle-
gen von der CDU/CSU und der F.D.P. –, daran erinnern,
daß sie bei ihren Steuerreformprojekten 1999 des vorhe-
rigen Jahres eine sehr viel stärkere Besteuerung dieser
Lebensversicherungen vorgesehen hatten. Ich bitte Sie
also, den Popanz, den Sie in den vergangenen Tagen und
Wochen aufgebaut haben, wiedereinzusammeln.
Ich finde es außerordentlich wichtig und richtig, daß
wir es im Zuge des Steuerbereinigungsgesetzes ge-
Wilhelm Schmidt
7276 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
schafft haben, die ausgeweitete Übungsleiterpauschale
zu sichern.
Das ist für die vielen ehrenamtlichen Kräfte ein gutes
Signal, die in den gemeinnützigen Organisationen und
Verbänden eine unglaublich wichtige Arbeit für viele
Millionen Menschen in diesem Lande leisten. Vielen
Dank an alle Beteiligten, daß wir das geschafft haben.
Wir haben es im Rahmen dieses Gesetzes auch ge-
schafft, die Investitionsförderung für die ostdeutschen
Bundesländer zu sichern. Auch das ist ein wichtiges
Signal, wie wir überhaupt bei dem gesamten Vermitt-
lungsverfahren die ostdeutschen Bundesländer in nicht
unbeträchtlicher Weise sozusagen im Visier hatten und
ihnen in diesem Verfahren eine ganze Reihe von positi-
ven Elementen gesichert haben. Ich nenne nur den Risi-
kostrukturausgleich, auf den Herr Dreßler nachher noch
eingehen wird. Darüber hinaus nenne ich auch das Ver-
kehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz, das hilft, die
Verkehrsinvestitionen in Ostdeutschland zu sichern und
auszubauen. Vielen Dank dafür.
Es ist ein ganz besonders großer Erfolg für die Koali-
tion, aber auch für alle in diesem Hause und für die
Menschen draußen, daß wir mit Hilfe des Familienför-
derungsgesetzes die besonderen Elemente der Verbes-
serung der Familienförderung gesichert haben. Ich
will diesen Punkt ausdrücklich hervorheben, weil sehr
viele Familien mit Kindern zu Recht darauf gewartet
haben, daß wir die erneute Anhebung des Kindergeldes,
die am 1. Januar in Kraft treten soll, und die erhöhten
Freibeträge sichern. Das ist uns gelungen, was ein ganz
besonders bemerkenswertes Ergebnis ist.
Ich bin sicher, daß wir alle gemeinsam auch den Län-
dern und Gemeinden zu besonderem Dank verpflichtet
sind, weil sie den unerläßlichen Konsolidierungsprozeß
unterstützt haben, den wir in der Koalition in dieser
Wahlperiode einleiten mußten, aber auch einleiten
wollten, um die Staatsfinanzen wieder in solide Bahnen
zu lenken. Ich richte einen ausdrücklichen Dank an die
Länder und Gemeinden, die sich in erheblicher Weise an
diesem Prozeß über die Mitwirkung am Ergebnis des
Vermittlungsausschusses beteiligt haben.
Darüber hinaus ist zu sagen, daß wir trotz dieser von
mir genannten Schritte noch nicht am Ende des Konso-
lidierungsprozesses angelangt sind. Wir können aber
spüren, daß das, was wir in den vergangenen Monaten
bisher geleistet haben, zu einem guten Ende gebracht
worden ist und daß wir nun auf dieser gesicherten Basis
unsere Arbeit fortsetzen können. Das wollen wir tun.
Herzlichen Dank an alle Beteiligten und ein kräftiges
Glückauf für unsere weitere Arbeit.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Hans-Peter Repnik.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir stehen
am Ende des ersten Vermittlungsverfahrens in dieser
Legislaturperiode. In der vorhergehenden Legislatur-
periode war die Arbeit des Vermittlungsausschusses und
des Bundesrates wesentlich durch Blockade und durch
Verweigerung der Ministerpräsidenten Lafontaine,
Schröder und Eichel gekennzeichnet.
Ein Teil der Probleme, die wir auch heute noch in der
Bundesrepublik Deutschland gerade bezüglich der
Standortfrage und des Arbeitsmarktes haben, hat seine
Ursache darin,
daß sich diese Herren nicht ihrer gesamtdeutschen Ver-
antwortung im Bundesrat haben stellen wollen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bürger
in der Bundesrepublik Deutschland haben uns bei den
zurückliegenden Landtagswahlen einen großen Vertrau-
ensbeweis gegeben. Wir wissen genau, daß uns dieses
Vertrauen auch verpflichtet.
Genau dieser Verpflichtung wollen wir nachkommen.
Wir betreiben eine verantwortungsbewußte Oppositi-
onspolitik. Dies bedeutet konkret: Wir werden nicht
blockieren. Wir arbeiten dort konstruktiv mit, wo es
notwendig und sinnvoll erscheint. In diesem Geist haben
wir in den letzten Wochen auch verhandelt.
Die Verhandlungen waren schwierig. Da stimme ich
dem Kollegen Schmidt zu. Sie waren aber alles in allem
auch nach unserer Meinung erfolgreich. Im Ergebnis
wird man an vielen Punkten die Handschrift der Union
wiederfinden.
Ich darf einige Anmerkungen zur Gesundheits-
reform machen. Bemerkenswert ist – dies ist einem Teil
der Öffentlichkeit entgangen –, daß nicht nur die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion der vorgelegten Reform
hier im Deutschen Bundestag widersprochen hat und
nicht nur die CDU/CSU-regierten Bundesländer dieser
Wilhelm Schmidt
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7277
(C)
(D)
Reform im Bundesrat widersprochen haben, sondern daß
der Bundesrat mit 16 : 0 Stimmen,
also auch mit den Stimmen aller SPD-regierten Länder,
diese Reform abgelehnt hat.
Damit fällt auch Ihre Ausrede flach – die Sie immer
wieder gerade in der Öffentlichkeit gebraucht haben –
hier würde es sich um eine parteipolitisch motivierte
Ablehnungsfront handeln.
Wenn alle SPD-Ministerpräsidenten im Bundesrat dage-
gen stimmen, dann kann an dieser Reform nicht viel
dran sein.
Es ist bemerkenswert: Eine schallendere Ohrfeige hat
selten eine Ministerin oder eine Bundesregierung
vom Bundesrat erhalten als diese Regierung vom Bun-
desrat.
Wir haben diese Reform abgelehnt, weil sie insge-
samt in die falsche Richtung geht. Das Globalbudget
wurde jetzt herausgenommen. Wir haben damit in
Deutschland den Marsch in die Zweiklassenmedizin
verhindert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nachdem Sie den
Kollegen Dreßler, Herr Schmidt, schon ein paarmal an-
geführt haben, der nachher vermutlich ein Loblied auf
die Restreform singen wird,
darf ich doch noch einmal daran erinnern, was er im Fe-
bruar dieses Jahres gesagt hat. Er meinte, die Änderung
der Krankenhausfinanzierung sei das Herzstück der
Reform; ohne diese Änderung habe die Gesundheits-
reform nicht ihren Namen verdient.
– Ich will dieses schon einmal prophylaktisch sagen,
damit das Lob gleich nicht zu gewaltig ausfällt, Kollege
Dreßler.
Im April hat die nordrhein-westfälische Gesund-
heitsministerin getönt, das Projekt Krankenhausreform
dürfe nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben
werden;
ohne die Änderungen bei der Krankenhausfinanzierung
sei die Gesundheitsreform in zentralen Punkten absolut
unzureichend.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wo ist das
Herzstück Ihrer Reform geblieben? Davon ist nichts zu
erkennen.
Sie haben ein Gesetz zustande gebracht, mit dem nur an
den Symptomen kuriert wird, das aber keine Antwort
auf die Herausforderungen der Zukunft gibt.
Herr Kollege Schmidt, weil Sie gesagt haben, wir
hätten uns einer Arbeitsgruppe im Vermittlungsverfah-
ren verweigert, möchte ich gerne auf folgendes hinwei-
sen: Wir haben im Vorfeld der parlamentarischen Bera-
tungen hier in diesem Hause, außerhalb und vor dem
Vermittlungsverfahren deutlich gemacht, daß wir bereit
sind, die Verantwortung für eine Strukturreform, die die
Qualität des Gesundheitssystems in Deutschland erhält,
zu übernehmen. Sie haben mit der Arroganz der Mehr-
heit dieses Hauses diese ausgestreckte Hand zurückge-
wiesen.
Sie waren nicht bereit, gemeinsam mit uns nach einer
Lösung zu suchen.
Das ist die reine Wahrheit. Darum hat es keinen Sinn
mehr gemacht, eine Arbeitsgruppe zu bilden.
Ich sage bereits jetzt prophylaktisch mit Blick auf
eine andere Reform, bei der Sie erneut auf unsere
Zustimmung im Bundesrat angewiesen sind und die
– wenn ich das recht höre – der Finanzminister in den
nächsten Tagen zumindest in Eckwerten vorstellen will,
die Unternehmensteuerreform: Sehr geehrter Herr Bun-
deskanzler, so wie wir bei der Gesundheitsreform bereit
waren, an einer für den Standort notwendigen Struktur-
reform mitzuwirken, so sind wir das auch bei einer gro-
ßen Steuerreform.
Sie sollten jetzt aber nicht eine Reform, bei der wir nicht
einbezogen werden, auf den Tisch legen und im An-
schluß daran – nach dem Motto: „Vogel, friß oder
stirb!“ – sagen, die notwendigen Veränderungen wolle
Hans-Peter Repnik
7278 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
man im Vermittlungsverfahren machen. Der andere Weg
wäre vernünftiger, wenn Sie zu einem Erfolg kommen
wollen, der für Deutschland so wichtig ist. Auch dies sei
ein Hinweis für das parlamentarische Zusammenwirken
in den nächsten Monaten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Rahmen
der Gesundheitsstrukturreform ist ein weiterer Problem-
kreis angesprochen worden, nämlich der gesamtdeutsche
Risikostrukturausgleich. Ich sage für meine Fraktion:
Wir haben keinen Zweifel daran, daß ein solcher ge-
samtdeutscher Risikostrukturausgleich notwendig ist.
Wir bieten auch insofern an, an den entsprechenden
Maßnahmen mitzuwirken. Die Vorgängerregierung hatte
seinerzeit ein Gutachten zum Risikostrukturausgleich in
Auftrag gegeben. Das erste, was Sie gemacht haben, als
Sie in der Regierungsverantwortung waren, war, diesen
Auftrag zu stornieren.
Mit Erstaunen stelle ich fest, daß Sie vor zwei Tagen
denselben Auftrag erteilt haben.
Wir wissen, daß der Risikostrukturausgleich für die
meisten Ostländer notwendig ist. Das ist wohl wahr. Wir
wissen aber auch, daß es in Deutschland Bundesländer
gibt, die davon negativ betroffen wären. Da sind zum
Beispiel Baden-Württemberg und Bayern. Sie haben ein
berechtigtes Interesse daran, daß man sich mit dem
Thema auf einer soliden Zahlenbasis auseinandersetzt.
Wir haben im Vermittlungsverfahren gebeten, die Be-
handlung dieses Themas um sechs Wochen zu vertagen;
wir haben Ihnen zugesagt, das noch im Januar abzu-
schließen. Wir haben Sie gebeten, auch die Bedenken
von Bayern und Baden-Württemberg in die Entschei-
dungsfindung einzubeziehen.
Sie haben das verweigert. Wir wissen, daß nach Ihrem
Gesetz die Wirkung des Risikostrukturausgleichs erst am
1. Januar 2001 einsetzt. Wir hätten also keinen einzigen
Tag verloren, und dennoch haben Sie sich verweigert.
Da wir dem Grundanliegen des Risikostrukturaus-
gleichs zustimmen, das Verfahren aber kritisieren, haben
wir uns gestern im Vermittlungsausschuß der Stimme
enthalten und werden uns auch heute im Plenum des
Bundestages der Stimme enthalten.
Ich füge aber hinzu: Vielleicht findet sich im Bundesrat
dennoch ein Weg, den Bedenken dieser Länder Rech-
nung zu tragen, um damit alle in die gesamtstaatliche
Solidarität einzubinden.
Zum Steuerbereinigungsgesetz: Nur ein halbes Jahr
nach Inkrafttreten des Steuerentlastungsgesetzes, das zu
einem Belastungsgesetz für Wirtschaft und Mittelstand
wurde, muß die Koalition bereits eine Reihe von Fehlern
korrigieren.
Das zeigt einmal mehr, wie schlampig diese Regierung
arbeitet.
Es wurde ein Kompromiß erzielt, bei dem die Union
ihrer Grundlinie, keinen Änderungen zuzustimmen, bei
denen sie eine Mithaftung für das Steuergesetz von La-
fontaine übernommen hätte, treu geblieben ist. Der
Kompromiß war notwendig – und wurde deshalb von
uns angestrebt –, weil wir eine Reihe von Maßnahmen
auf den Weg bringen wollten. Ich darf zum Beispiel an
die Anhebung der Übungsleiterpauschale auf 3 600 DM
erinnern. Das ist für viele Vereine ein wichtiges Ele-
ment. Wir haben daran mitgewirkt.
Ich darf an die Anpassung der Investitionszulage für
die neuen Bundesländer erinnern. Es handelt sich um ein
Investitionsvolumen von 1,5 Milliarden DM für die
neuen Bundesländer. Dies ist ein wichtiger Schritt. Ich
darf an die Absenkung des pauschalierten Ausschlusses
des Betriebsausgabenabzugs bei steuerfreien ausländi-
schen Schachteldividenden von 15 auf 5 Prozent erin-
nern, um so eine durch das Steuerentlastungsgesetz
vorgenommene Schwächung des heutigen Standorts
Deutschland zu korrigieren. Es ist ein für den Standort
Deutschland ganz wichtiger Fakt, den wir eingeführt
und durchgesetzt haben.
Wir haben an einer Reihe von Punkten für die Steuer-
zahler weitere Verbesserungen erreicht. Es sei mir er-
laubt, hier einige wenige zu nennen.
Wir konnten verhindern, daß die Kapitallebensversi-
cherungen einer Sondersteuer unterzogen werden.
In einer Zeit, in der wir alle über eine private Altersabsi-
cherung zusätzlich zur gesetzlichen Absicherung disku-
tieren, sollten wir nicht eine der beliebtesten Alterssi-
cherungen isoliert mit einer Sondersteuer belegen. Dies
haben wir verhindert.
Wir haben eine vorgesehene Erhöhung der Erb-
schaft- und Schenkungsteuer bei Betriebsvermögen
verhindert. Auch dies ist ein ganz wesentlicher Punkt.
Herr Bundeskanzler, wir alle machen uns Gedanken, wie
wir Arbeitsplätze sichern und neue Arbeitsplätze schaf-
fen wollen. Wir wissen doch ganz genau, in welch ho-
hem Maße in den nächsten Jahren Betriebsübergaben
stattfinden. Mit dieser Bestimmung hätten Sie vielen
Betrieben die Liquidität entzogen und damit die Exi-
stenz gefährdet. Auch dies konnten wir durch unseren
Einsatz in dieser Frage ausräumen.
Hans-Peter Repnik
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7279
(C)
(D)
Ich darf zum zustimmungspflichtigen Teil des Haus-
haltssanierungsgesetzes kommen. Es ist ganz wesentlich
– wir sind dankbar dafür, daß dies erreicht werden
konnte –, daß eine geplante Lastenverschiebung vom
Bund auf die Länder und Kommunen in wesentlichen
Teilen verhindert werden konnte. Es kann nicht ange-
hen, daß sich der Finanzminister einen schlanken Fuß
macht und andere die Zeche zahlen müssen, die sich die
Regierung Schröder selbst eingebrockt hat. Die Erblast
Lafontaine sollen nicht die Länder tragen, sondern hier
trägt der Bund allein die Verantwortung.
Wir haben dafür gesorgt, daß die Lastenverteilung
beim Wohngeld nach wie vor hälftig zwischen Bund
und Ländern erfolgt. Das ist eine für Länder und Kom-
munen wichtige Entscheidung: immerhin konnten jähr-
lich rund 2,3 Milliarden DM Kosten mit einem entspre-
chenden Aufwuchs von den Ländern und Kommunen
abgewandt werden.
Wir sind trotz aller Konsolidierungsbemühungen
nicht der Meinung, daß die Beamten isoliert ein Sonder-
opfer leisten sollten. Deswegen haben wir der Beamten-
besoldung, so wie sie vorgeschlagen worden ist, nicht
zustimmen können.
Wir haben an einem anderen wichtigen Punkt eine
Einigung erzielt. Die Koalition hat, wie wir wissen, bei
der Eigenheimzulage die Einkommensgrenzen herun-
tergesetzt auf 80 000 bzw. 160 000 DM, wogegen wir
waren.
Wir halten es aus familien- und sozialpolitischen Grün-
den für unglücklich, eine solche Entscheidung zu tref-
fen, auch im Hinblick auf die Baukonjunktur. Aber
durch die Einführung der Kinderkomponente – wir ha-
ben uns auf 30 000 DM pro Kind verständigt – haben
wir einen ganz wesentlichen Akzent unserer familien-
politischen Vorstellungen durchsetzen können.
Dies ist ein gutes Ergebnis.
Zur Familienförderung: Wir waren uns alle einig, daß
das Kindergeld zum 1. Januar 2000 um 20 DM erhöht
werden sollte und daß der Betreuungsfreibetrag in Höhe
von 3 024 DM ebenfalls zum Jahresbeginn in Kraft tre-
ten sollte. Deshalb haben wir auch im Bundestag dieser
Regelung bereits zugestimmt. Es gab ein Problem, ob
diese Zeche ausschließlich von den Ländern und den
Kommunen zu zahlen sei. Wir haben in schwierigen
Verhandlungen erreicht, daß der Länderanteil an der
Umsatzsteuer um 0,25 Prozentpunkte, um rund 650
Millionen DM erhöht werden konnte. Ich finde, dies ist
ein fairer, ein tragfähiger Kompromiß für Bund, Länder
und Kommunen, der den Weg für die Kindergelderhö-
hung zum 1. Januar 2000 und für den Betreuungsfreibe-
trag frei macht.
Ich komme zum Schluß, meine sehr verehrten Damen
und Herren. Es gab ein weiteres Gesetz, über das wir im
Vermittlungsausschuß eine Einigung erzielt haben,
nämlich das Gesetz zur Änderung des Verkehrswege-
planungsbeschleunigungsgesetzes. Wir haben beschlos-
sen, die Geltungsdauer um fünf Jahre, also bis zum
31. Dezember 2004, zu verlängern. Dieser Sachverhalt
ist nicht zu unterschätzen – es war schwierig, diese
Verlängerung zu erreichen –, weil wir auf Grund der
Degression, der Rückführung der Mittel im Investitions-
bereich des Bundeshaushalts, und der gleichzeitigen Be-
schleunigung des Planungsverfahrens eine Vielzahl von
rechtskräftig festgestellten Projekten haben, die ihre
Rechtsgültigkeit mangels Masse verlören, würde die
Frist nicht verlängert. Das ist nicht zuletzt mit Blick auf
die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit ein wichtiges Er-
gebnis.
Alles in allem sind wir mit dem Ergebnis zufrieden.
Wir haben eingehalten, was unser Fraktionsvorsitzender
Wolfgang Schäuble zu Beginn unserer Oppositionszeit
im Bundestag gesagt hat: Wir sind eine kritische
– auch eine christliche –,
eine kraftvolle, aber auch eine konstruktive Opposition.
Dieses Ergebnis zeigt es.
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht nunmehr die Kollegin
Kerstin Müller.
Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Meine Damen und Herren! Wir haben ein Ver-
mittlungsergebnis erreicht, das sich sehen lassen kann;
das sieht meine Fraktion genauso. Wir haben einen fai-
ren Ausgleich zwischen Bund, Ländern und Kommunen
und insbesondere zwischen Ost und West gefunden. Ich
meine wirklich: Der Beschluß des Vermittlungsaus-
schusses ist ein ausgewogenes Ergebnis.
Herr Repnik, man hatte gerade den Eindruck, das ha-
be man nur der Opposition zu verdanken.
– Das ist nicht wahr. – Wir haben es geschafft, weil sich
alle Seiten bewegt haben:
der Bund, die Länder und alle Fraktionen dieses Hauses.
Deshalb haben wir über ein so gutes Ergebnis des Ver-
mittlungsausschusses zu beraten.
Hans-Peter Repnik
7280 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Zweitens muß klargestellt werden: Nachdem wir, die
rotgrüne Koalition, mit der Verabschiedung des Haushalts
und den nicht zustimmungspflichtigen Teilen des Zu-
kunftsprogramms bereits rund 26 von 30 Milliarden DM
alleine durchgesetzt haben, haben wir nun mit dem Er-
gebnis des Vermittlungsausschusses rund 92 Prozent un-
seres geplanten Konsolidierungsergebnisses erreicht. Das
zeigt: Diese Koalition ist handlungsfähig.
Auch in der Sache kann sich das Paket sehen lassen.
Wir zeigen mit dem Vermittlungsergebnis: Sparen ist
kein Selbstzweck. Es geht darum, Handlungsfähigkeit
zurückzugewinnen – das haben wir in den Debatten im-
mer wieder betont –,
um zum Beispiel die jahrzehntelange Stagnation in der
Familienpolitik zu überwinden, die Sie zu verantworten
haben, und endlich Reformen in der Wohnungspolitik
durchzusetzen.
Nachdem Sie nämlich – ich spreche die rechte Seite
des Hauses an – das Wohngeld zehn Jahre lang nicht
den gestiegenen Mieten angepaßt haben,
obwohl Sie dies den Menschen im Lande immer wieder
versprochen haben, setzen wir nun gemeinsam die längst
überfällige Wohngeldreform endlich durch. Ich glaube,
das ist wirklich ein großartiger Erfolg.
Mit dieser Reform stellen wir für über 1 Million
Menschen ein Wohngeld bereit, mit dem sie die heuti-
gen Mieten auch tatsächlich bezahlen können. Mit dieser
Reform stellen wir sicher, daß die Menschen in den neu-
en Ländern keine Kürzungen hinnehmen müssen, die
sonst zwangsläufig zum 1. Januar 2001 erfolgt wären.
Mit der Anhebung der Einkommensgrenze bekommen
rund 420 000 Haushalte zusätzlich Wohngeld, die
bislang völlig leer ausgegangen sind. Das heißt, von
der Reform profitieren viele Rentner und auch viele
Erwerbslose.
Wir finanzieren diese Reform durch die Absenkung
der Einkommensgrenzen in der Wohneigentumsförde-
rung. Das war nun wirklich überfällig. Wir haben des-
halb so lange gebraucht – vier Stunden am Ende –, weil
es hieran gehapert hat. Wir brauchten eine Gegenfinan-
zierung. Ich sage ganz klar: Es ist nicht einzusehen,
weswegen der Staat Bauherren mit bis zu 240 000 DM
Jahreseinkommen ihren Hausbau subventionieren soll.
Ich finde, es war notwendig, diese Gegenfinanzierung zu
beschließen, um das Tabellenwohngeld erhöhen zu kön-
nen.
Meine Fraktion, vor allen Dingen die Kollegin Eich-
städt-Bohlig, hat sich seit Jahren für diese Reform ein-
gesetzt. Ich bin sehr dankbar dafür, daß nun alle Seiten
dieses Hauses und auch der Bundesrat diese Reform
mittragen. Ich glaube, darauf können wir stolz sein.
Gestern haben wir auch eine Einigung über das
Familienförderungsgesetz erreicht. Den ersten Schritt
hatte diese Koalition bereits zum Anfang des Jahres mit
der Anhebung des Kindergeldes um 30 DM monatlich
gemacht. Jetzt kommen weitere 20 DM dazu. Das heißt,
diese Koalition hat das Kindergeld seit der Regierungs-
übernahme pro Kind um insgesamt 600 DM pro Jahr
angehoben. Meine Damen und Herren von der Opposi-
tion, davon haben wir alle in früheren Jahren nicht ein-
mal zu träumen gewagt.
Diese Koalition wird diesen Weg der Entlastung der
Familien konsequent fortsetzen. Ich lade Sie herzlich
ein, diesen Weg mitzugehen.
Es gibt eine weitere Entscheidung, über die ich froh
bin: Erstmals profitieren auch die Kinder, die von Sozi-
alhilfe leben müssen, von einer Kindergelderhöhung.
Ehrlicherweise muß man sagen, daß diese Entscheidung
sowohl hier im Hause als auch im Bundesrat sehr um-
stritten war. Doch gerade wir Grünen haben immer wie-
der gefordert, daß die Verbesserungen nicht ausgerech-
net an den Ärmsten dieser Gesellschaft vorbeigehen dür-
fen. Nun hat der Vermittlungsausschuß beschlossen: Wir
fördern alle Familien, wir fördern alle Kinder, und wir
machen dabei keine Ausnahme. Ich glaube, das ist
wirklich eine konsequente Armutspolitik, für die wir uns
schon seit vielen Jahren einsetzen. Das ist ein großarti-
ger Erfolg.
Um diesen Erfolg zu erreichen, mußten wir Grüne
uns an anderer Stelle bewegen. Wir haben akzeptiert,
daß das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz
nicht um drei, sondern um fünf Jahre verlängert wird.
Das ändert allerdings nichts an der Tatsache – auch das
will ich hier noch einmal sagen –, daß wir nach wie vor
erhebliche Bedenken im Hinblick auf den Sinn und die
Verfassungsmäßigkeit dieses Sonderrechts haben. Wir
halten es nach wie vor für unnötig und auch für falsch,
die demokratischen Mitwirkungsrechte bei der Planung
von Verkehrswegen in den neuen Ländern zu beschnei-
den. Allerdings ist diese Fünfjahresfrist gegenüber der
Forderung des Bundesrates, das Gesetz um elf Jahre zu
verlängern, hinnehmbar.
Kerstin Müller
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7281
(C)
(D)
Jetzt komme ich zur Gesundheitspolitik. Nicht hin-
nehmbar ist, wie Sie sich, meine Damen und Herren von
CDU/CSU und F.D.P., der Verantwortung für die drin-
gend notwendigen Veränderungen in der gesetzlichen
Krankenversicherung verweigern.
– Herr Repnik, Sie wissen ganz genau, daß das Stimm-
verhalten der SPD-regierten Länder im Bundesrat über-
haupt nichts mit den Inhalten zu tun hat.
– Hören Sie doch auf! Wir reden jetzt über Inhalte.
Sie haben jede Einladung der Ministerin, am Gesetz-
gebungsverfahren konstruktiv mitzuwirken, fahrlässig
ausgeschlagen.
Sie haben bis heute kein einziges auch nur halbwegs se-
riöses Konzept zur Gesundheitsreform vorgelegt.
Sie haben sich sogar jedem Angebot einer gemeinsamen
Beratung im Vermittlungsverfahren verweigert. Sie wa-
ren nicht einmal bereit, eine Arbeitsgruppe zur Gesund-
heitsreform einzurichten. Damit verweigern Sie sich so-
gar dem Verfassungsauftrag des Vermittlungsausschus-
ses, über die Anrufungsgründe zu beraten. Ich muß sa-
gen: Das hat es in dieser Form noch nicht gegeben, und
ich finde das wirklich skandalös.
Damit – da muß ich Herrn Schäuble ansprechen – ist
für alle offensichtlich geworden: Es geht Ihnen nicht um
die Sache. Sie setzen bei dieser Gesundheitsstruktur-
reform Ihre kurzfristigen parteipolitischen Interessen
über die Interessen des Gemeinwohls und über das In-
teresse, daß wir eine Gesundheitsreform brauchen.
– Sie können sich ruhig weiter aufregen.
Wir haben gezeigt, daß wir auch ohne Sie handlungs-
fähig sind. Wir haben nämlich ohne Ihre Mitwirkung ein
Gesetz vorgelegt,
mit dem die Lösung der drängenden Probleme im Ge-
sundheitswesen endlich angegangen wird. Die Stich-
worte lauten: mehr Patientennähe, mehr Qualität, mehr
Kooperation. Das sind die Zukunftsthemen der Gesund-
heitspolitik, und das sind die Kernpunkte der Gesund-
heitsreform der Gesundheitsministerin.
All diejenigen, die nur über die Kosten sprechen,
müssen sich fragen lassen, warum sie diese notwendigen
Verbesserungen nicht zur Kenntnis nehmen. Wir alle
wissen, daß die mangelnde Kooperation zwischen dem
ambulanten und dem stationären Bereich nicht nur die
Kosten treibt, sondern vor allen Dingen zu einer
schlechteren Versorgung, besonders von chronisch kran-
ken Menschen, führt.
Wir machen mit diesem Gesetz, das wir, wie gesagt,
alleine durchziehen, die integrierte Versorgung zur Re-
gelversorgung. Wir stärken die Rechte der Patienten,
wie stärken die Rolle des Hausarztes, und wir schaffen
mehr Qualität in der Versorgung.
Das sind wichtige Fortschritte auf dem Weg zu einem
zukunftsfähigen und solidarischen Gesundheitswesen.
Ich möchte an dieser Stelle der Gesundheitsministerin
ausdrücklich für ihre Standfestigkeit in dieser schwieri-
gen Auseinandersetzung danken.
Jetzt komme ich zu einem Punkt, bei dem Sie mitwir-
ken können. Zustimmungspflichtig bleibt nämlich die
Einführung des gesamtdeutschen Risikostrukturaus-
gleichs. Wir wollen damit in der Gesundheitspolitik
endlich gleiche Rechtsverhältnisse in Ost und West
schaffen. Ohne den hier vorliegenden Vorschlag würden
– das wissen Sie genau – mehrere Krankenkassen in den
neuen Ländern Konkurs anmelden müssen aus Gründen,
die sie nicht selbst zu verantworten haben.
Ich appelliere an Sie und Ihre Parteifreunde in den
Ländern: Nehmen Sie wenigstens jetzt Ihre Verantwor-
tung wahr! Opfern Sie nicht die Solidarität zwischen Ost
und West auf dem Altar Ihrer Parteiinteressen! Stimmen
Sie wenigstens diesem Gesetz heute zu!
Für uns jedenfalls ist das Gesamtpaket des Vermitt-
lungsausschusses ein gutes Ergebnis. Wir stimmen ihm
gerne zu.
Danke schön.
Kerstin Müller
7282 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht der Kollege Dr. Hermann Otto Solms.
Meine Damen
und Herren! Man muß nicht präsent sein, um die Ergeb-
nisse beurteilen zu können.
Es war das Anliegen der F.D.P., konstruktiv in dem
Vermittlungsverfahren mitzuwirken, allerdings nicht ge-
horsam den Mehrheitsentscheidungen der rotgrünen Re-
gierung zur Durchsetzung zu verhelfen. Denn das kann
nicht die Aufgabe eines Vermittlungsausschusses sein.
Wir wollen nicht blockieren oder zur Blockade bei-
tragen, sondern es muß konstruktiv im Interesse der
Bürger gearbeitet werden. Aber ein Vermittlungsverfah-
ren darf nicht so ablaufen, daß unterschiedliche Interes-
sen der einzelnen Parteien zusammengepackt werden
und das Ganze dann für gut erklärt wird, weil jeder ein
bißchen bekommen hat.
In Wirklichkeit ist das Ergebnis dann für niemanden gut,
weil die Dinge nicht zusammenpassen. Aber darauf
komme ich gleich zurück.
Zur Gesundheitspolitik ist zu sagen: Wir reichen
nicht einer Gesundheitspolitik die Hand, die in ein staat-
liches Gesundheitssystem führt, mit allen Nachteilen,
die wir aus den Ländern kennen, die das eingeführt ha-
ben, beispielsweise Großbritannien und Schweden.
Das ist das Ende eines freiheitlichen, auf Eigenverant-
wortung aufbauenden Gesundheitssystems. Wenn Sie
das einmal beendet haben, werden Sie es nur sehr
schwer wieder zurückholen können.
Wenn man Frau Müller eben zugehört hat, hätte man
beinahe den Eindruck haben können, es wäre die ver-
antwortliche Verpflichtung der Opposition, den falschen
Vorstellungen der Mehrheit zu folgen.
Nein, so ist Verantwortung in diesem Hause nicht ver-
teilt.
Ganz im Gegenteil: Die Verantwortung der Opposition
ist es, die Fehler der Regierung deutlich zu machen und
Alternativen vorzulegen.
Die F.D.P.-Fraktion hat ein Konzept für eine Ge-
sundheitsreform vorgelegt, welches ein freiheitliches
Gesundheitssystem anstrebt, das auf Freiberuflichkeit,
Eigenverantwortung und dem höchsten Nutzen für die
Patienten aufbaut, und das bei weniger Verschwendung
bei den Kassen. Ein solches System wäre heute durchzu-
setzen gewesen, aber nicht das, was Sie hier vorgelegt
haben.
Wir werden den Vorschlag des Vermittlungsaus-
schusses zur Gesundheitspolitik ablehnen, auch den
zum Risikostrukturausgleich. Herr Repnik hat deutlich
gemacht, was der Grund dafür ist: Die entsprechenden
Zahlen lagen noch nicht vor. Das ist ein übereiltes Vor-
haben. Es wäre genug Zeit gewesen, zu einem vernünf-
tigen Kompromiß zu kommen, ohne daß Schaden ein-
getreten wäre.
Meine Damen und Herren, auf der anderen Seite
werden wir dem Vorschlag hinsichtlich der Familienför-
derung zustimmen. Dies gilt ebenso für die Verlänge-
rung der Gültigkeit des Verkehrswegeplanungsbe-
schleunigungsgesetzes, die gegen die Grünen durchge-
setzt werden konnte. Wir sind der Meinung, daß die
Gültigkeit dieses Gesetzes auch auf Westdeutschland
ausgedehnt werden könnte.
Das würde mehr Verkehrsinvestitionen ermöglichen.
Aber immerhin, die Verlängerung in bezug auf Ost-
deutschland ist eine gute Entscheidung.
In bezug auf die Familienförderung aber zu glauben,
Sie hätten einen Durchbruch erzielt, indem Sie das Kin-
dergeld um 20 DM pro Monat erhöhen, entbehrt jegli-
cher historischen Wahrheit. Die alte Koalition hat das
Kindergeld für das erste Kind in zwei Stufen von
70 DM auf 220 DM angehoben.
Sie folgen dem nun und heben es in zwei Stufen um je-
weils 20 DM weiter an. Das ist zwar vom Volumen her
weniger, aber es ist eine konsequente Fortsetzung der
bereits von uns eingeleiteten Politik.
Der stimmen wir zu. Aber dies ist weiß Gott kein
Durchbruch und überhaupt nichts Neues.
Lassen Sie mich etwas zu dem sagen, was ich zu Be-
ginn meiner Rede als Beispiel angeführt habe. Im Paket
III „Pauschaliertes Wohngeld, Eigenheimzulage und
Unterhaltsvorschuß“ haben Sie drei wenig zusammen-
hängende Gebiete in einem Paket zusammengefaßt, weil
Sie glauben, so die erforderliche Zustimmung erhalten
zu können. In Wirklichkeit ist nichts Gutes entstanden.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7283
(C)
(D)
Einerseits ist es richtig, daß es ein Erfolg ist, daß die
zur Hälfte vorgesehene Abwälzung des pauschalierten
Wohngeldes auf die Länder verhindert werden konnte.
Dem würden auch wir zustimmen. Andererseits ist es
wirklich fatal, daß Sie sich nicht davon haben abbringen
lassen, die Einkommensgrenzen bei der Eigenheim-
zulage zu senken.
Wir haben gestern über die Malaise bei Philipp Holz-
mann gesprochen. Dabei ist deutlich geworden, welch
große Schwierigkeiten der Wohnungsmarkt und der
Baumarkt in der Bundesrepublik heute haben. Der pri-
vatfinanzierte Mietwohnungsbau und der Geschäfts-
wohnungsbau sind eingebrochen.
Minister Eichel senkt die Finanzausgaben für den Infra-
strukturbau, also für den Tiefbau. Das einzige, was noch
einigermaßen funktioniert, ist der Eigenheimbau. Jetzt
wollen Sie auch den noch erschlagen. Dem darf man
nicht zustimmen.
Tausende und aber Tausende von Arbeitnehmern wer-
den in die Arbeitslosigkeit entlassen.
8 000 mittelständische Bauunternehmen und Hand-
werksbetriebe sind in diesem Jahr pleite gegangen. Jetzt
wollen Sie dafür sorgen, daß dieser Prozeß noch be-
schleunigt wird.
Schon allein aus diesem Grund können wir diesem Paket
nicht zustimmen.
Dazu kommt allerdings auch, daß die Überwälzung
des Bundesanteils an den Mitteln für die Unterhaltsvor-
schußkassen auf die Länder eine falsche Entscheidung
ist. Auch dieser können wir nicht zustimmen. Deswegen
werden wir diesen Gesamtkomplex ablehnen.
– Natürlich werden Sie das aushalten. Aber es ist wich-
tig, daß im Parlament deutlich wird, welche Partei wel-
che Positionen hat.
Unsere Position ist auch gut zu begründen.
Wir werden im nächsten Jahr noch über die Entwicklung
beim Wohnungsbau und auf dem Wohnungsmarkt zu
sprechen haben.
Wir werden selbstverständlich die Regelung, die
Beamtenbesoldung auf den Inflationsausgleich zu be-
grenzen, ablehnen. Wir wollen erst einmal sehen, was
im tariflichen Bereich geschieht. Sonderopfer der Be-
amten darf es nicht geben.
Die Besoldung muß in Übereinstimmung mit der tarifli-
chen Entwicklung ablaufen. Das ist doch eine Selbstver-
ständlichkeit. Dem haben auch Sie früher immer zuge-
stimmt; daran möchte ich Sie einmal erinnern.
Auch die Überwälzung der originären Arbeitslosenhilfe
auf die Kommunen halten wir für falsch und lehnen wir
ab.
Schließlich möchte ich noch auf das Steuerbereini-
gungsgesetz eingehen. Hier sind eine Reihe von deutli-
chen Verbesserungen erzielt worden. Das gestehe ich zu.
Ich halte es für gut, daß die Übungsleiterpauschale an-
gehoben wird.
Ich halte es für völlig selbstverständlich, daß im
Rahmen der Rentendiskussion die Besteuerung der
Lebensversicherungen nicht vorgenommen wird, die in
Ihrem Vorschlag enthalten war.
Ich finde es ebenso dringend notwendig, daß das In-
vestitionszulagengesetz für die neuen Bundesländer er-
halten bleibt. Das ist gar keine Frage.
Aber wenn wir dem zustimmen würden, würde das
doch in der Öffentlichkeit wie eine Bestätigung und Ak-
zeptierung der insgesamt völlig verfehlten Steuerpolitik
der rotgrünen Koalition verstanden werden.
Dazu werden wir unsere Hand nicht reichen. Wir geben
Ihnen dafür keinen Persilschein. Wir haben im Finanz-
ausschuß eine ganze Palette von dringend notwendigen
Korrekturen der Maßnahmen vorgeschlagen, die sich auf
Grund Ihres sogenannten Steuerentlastungsgesetzes mit
erheblichen Auswirkungen auf die Wirtschaft und die
Arbeitnehmer, gerade auch auf die kleinen und mittleren
Unternehmen, ergeben haben. Sie haben alle diese Vor-
schläge abgelehnt und verweigert. Ich denke nur einmal
an die hälftige Besteuerung bei der Betriebsveräußerung
oder Aufgabe eines Betriebes. Auch denke ich bei-
spielsweise an die sogenannte Mindestbesteuerung, bei
der verboten wird, daß Steuerpflichtige Verluste bei der
einen Einkunftsart mit Gewinnen bei der anderen Ein-
kunftsart verrechnen können.
Dafür geben wir uns nicht her. Wir werden dies ableh-
nen, weil wir der Meinung sind, daß die Steuerpolitik
Dr. Hermann Otto Solms
7284 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
der rotgrünen Regierung völlig falsch entwickelt und
konstruiert wird und daß sie die Steuerpflichtigen immer
mehr belastet, anstatt sie zu entlasten, was dringend
notwendig wäre.
Wir haben mit der Zustimmung zu zwei Teilen dieses
großen Bündels gezeigt, daß wir da, wo es angemessen
und notwendig ist, mitarbeiten wollen, aber wir geben
Ihnen keinen Persilschein für Ihre falsche Politik.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion der
PDS spricht nunmehr der Kollege Dr. Gregor Gysi.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Lassen Sie mich mit dem Gesetz zum
gesamtdeutschen Risikostrukturausgleich anfangen,
das der Entlastung der AOKs in den neuen Bundes-
ländern dient. Ich muß Ihnen sagen, Herr Solms und
auch Herr Repnik: Ich verstehe überhaupt nicht, wie Sie
Ihr Nein in den neuen Bundesländern ernsthaft begrün-
den wollen.
Sie haben Ihre Position mit „Übereilung“ begründet.
Das verstehe ich nun überhaupt nicht. In Wirklichkeit
sitzen wir seit Jahren auf diesem Problem.
Hätten Sie gesagt, es ist zu lange hinausgezögert wor-
den, dann hätte ich dafür Verständnis gehabt. Aber von
einer Übereilung kann in dieser Frage überhaupt keine
Rede sein. Auch die alten Bundesländer kannten dieses
Problem seit geraumer Zeit.
Im übrigen war zunächst eine komplette sofortige
Entschuldung vorgesehen. Jetzt wird es in einem lang-
samen Prozeß durchgeführt, was sogar eine gewisse
Schlechterstellung für die neuen Bundesländer bedeutet.
Dennoch werden wir diesem Gesetz zustimmen, weil es
einfach wichtig ist, daß hier dieser Risikostrukturaus-
gleich endlich stattfindet.
Ich füge hinzu: Es ist eine weitere Sache verschoben
worden, nämlich die Angleichung der Arbeitsbedingun-
gen, auch der Entgelte, mit anderen Worten die Gleich-
stellung der Ärztinnen und Ärzte und überhaupt des ge-
samten medizinischen Personals in den neuen Bundes-
ländern. Hier besteht nach wie vor dringender Hand-
lungsbedarf. Ich möchte nicht, daß Sie in einem Jahr
wieder sagen, es sei alles übereilt. Nein, auch das ist im
Grunde genommen überfällig.
Was aber die Gesundheitsstrukturreform 2000 ins-
gesamt betrifft, so ist sie nach dem, was uns der Ver-
mittlungsausschuß hier vorgelegt hat, nicht besser ge-
worden. Zwar ist die Monistik weggefallen, was schon
wichtig ist; denn es ist einfach nicht zulässig, daß man
sagt: Die Kassen bezahlen alles, einschließlich der Inve-
stitionen in den Krankenhäusern. Das hätte wirklich eine
Verschlechterung der Versorgung der Patientinnen und
Patienten zur Folge gehabt. Es ist wichtig, daß hier auch
die Länder beteiligt sind.
Auch daß das Generalbudget wegfällt,
findet unsere Zustimmung. Aber ich sage Ihnen: Ihre
Sektoralbudgets sind auch nicht viel besser als das Ge-
neralbudget. Es ist im Grunde genommen nur aufgeteilt,
wobei die Grenzen für den ambulanten Bereich, für die
Krankenhäuser, für Arznei- und Heilmittel ähnlich blei-
ben.
Auch lehnen wir es ab, daß Ärztinnen und Ärzte we-
gen Überziehung des Budgets der Arznei- und Heilmit-
tel bestraft werden, weil eine Ärztin oder ein Arzt in er-
ster Linie nach dem Gesundheitszustand des Patienten
und nicht nach einem vom Staat vorgegebenen Budget
zu urteilen hat.
Ich will Sie auf ein weiteres Problem hinweisen, das
uns noch beschäftigen wird. Hierbei geht es um eine
Kernfrage in der Gesundheitspolitik, um die Frage, ob
Sie Marktwirtschaft oder Marktgesellschaft machen. Ich
nenne als Beispiel die Fallpauschale. Das heißt, im
Krankenhaus gibt es für einen bestimmten Krankheits-
fall eine bestimmte Pauschale. Sie wissen, was das be-
deutet. Wird dort ein 20jähriger operiert, fallen geringe-
re Kosten an. Das Krankenhaus nimmt also durch die
Pauschale mehr ein, weil der Patient dort eine – gemes-
sen am Durchschnitt – kürzere Zeit nach der Operation
liegt. Bei einem 70jährigen, der operiert wird, dauert es
selbstverständlich länger, bis er aus dem Krankenhaus
entlassen werden kann. Damit wird der 70jährige für das
Krankenhaus „unrentabel“. Das ist das Problem bei den
Fallpauschalen. Sie werden in den Krankenhäusern ei-
nen Trend feststellen, möglichst „billige“ Patienten zu
bekommen, damit das Krankenhaus kostengünstig ar-
beiten kann, was Sie vom Krankenhaus ja auch verlan-
gen. Damit machen Sie aus einer Marktwirtschaft eine
Marktgesellschaft. Das darf es im Gesundheitswesen im
Prinzip nicht geben. Auch daran üben wir unsere deutli-
che Kritik.
Im übrigen behaupte ich, daß die Einspareffekte eher
niedrig sein werden. Zu begrüßen ist natürlich, daß das
Solidarsystem der Finanzierung des Gesundheitswe-
sens nicht weiter beschädigt wird. Aber wir haben ein
Kostenproblem. Ich frage noch einmal: Wie können wir
es lösen? Sie wollten und wollen es immer noch dadurch
lösen, daß Sie einfach die Kosten festsetzen und sagen:
Mehr darf nicht ausgegeben werden. Das geht aber an
der Realität vorbei und geht letztlich zu Lasten der Pati-
entinnen und Patienten.
Dr. Hermann Otto Solms
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7285
(C)
(D)
CDU/CSU und F.D.P. wollen das – unter Anspielung
auf das Wort Freiheit, wobei ich das wirklich für ein
Mißverständnis halte – so organisieren, daß die Kranken
einfach immer mehr zuzahlen müssen, bis die Kosten
gedeckt sind. Das ist natürlich die unsozialste aller
denkbaren Varianten. Ich bin froh, daß Sie das verhin-
dert haben.
Wir müssen über eine andere Finanzierung nachden-
ken. Deshalb sage ich noch einmal: Es gibt zum Beispiel
für die Sozialversicherungsbeiträge eine Beitragsbemes-
sungsgrenze, wo wir darüber nachdenken müssen, ob
wir sie unter diesen Bedingungen aufrechterhalten kön-
nen oder ob wir sie nicht erhöhen müssen. In der Bevöl-
kerung gibt es eine immer größer werdende Gruppe, die
nicht in die Sozialversicherung einzahlen muß. Also
müssen wir darüber nachdenken, ob nicht auch andere
zur Finanzierung herangezogen werden müssen. Und
schließlich: Die Unternehmen zahlen ihren Beitrag nach
der Bruttolohnsumme, was sich auch kontraproduktiv
für Arbeitskräfte auswirkt. Lassen Sie uns über eine we-
sentlich gerechtere – auch zwischen den Unternehmen
gerechtere – Variante nachdenken, nach der diese einen
Beitrag in die Sozialversicherungen nach ihrer Wert-
schöpfung, also nach ihrer Leistungsfähigkeit, bezahlen.
Dann könnte man auch das Gesundheitswesen finanzie-
ren und müßte nicht darüber nachdenken, wie man im-
mer mehr kürzt, was letztlich zum Abbau von Arbeits-
plätzen und zu einer Schlechterstellung von Patientinnen
und Patienten führt. Deshalb werden wir zu diesem Ge-
setz auch nach dem Vorschlag des Vermittlungsaus-
schusses nein sagen.
Lassen Sie mich noch einige wenige Bemerkungen zu
den anderen Gesetzen machen: Beim Wohngeld gibt es
jetzt den großen Vorteil, daß die Kommunen und Länder
nicht mehr so belastet sind, weil geregelt worden ist, daß
sie die zusätzlichen Kosten für das Wohngeld erstattet
bekommen. Das geht in Ordnung.
Ich muß Herrn Solms zustimmen, der kritisiert, daß
eine solche Regelung beim Unterhaltsvorschuß nicht
gefunden wurde. Hier bleibt die Belastung der Kommu-
nen. Dennoch werden wir diesem Gesetz zustimmen.
Eine Sache im Vortrag des Kollegen Solms finde ich
allerdings ausgesprochen witzig. Herr Solms, Sie haben
gesagt, das einzige, was im Wohnungswesen noch funk-
tioniere, sei der Eigenheimbau. Deshalb sei es über-
haupt nicht gerechtfertigt, daß man auf der einen Seite
Besserverdienenden die Zulage entzieht, um auf der an-
deren Seite das Wohngeld zu erhöhen. Jetzt frage ich
mich bloß: Wie sieht Ihr Begriff von Eigenverantwor-
tung und Freiheit aus, wenn Sie jetzt plötzlich dafür
sind, daß der Staat Zulagen an Besserverdienende dafür
zahlt, daß sie ein Eigenheim bauen?
Es ist nun wirklich Ausdruck von Eigenverantwortung,
selber über den Bau eines Eigenheimes zu entscheiden
und es mithin auch selbst zu finanzieren. Daß wir den
Beziehern niedrigerer Einkommen helfen, ist logisch
und sozial. Dies bei Beziehern höherer Einkommen zu
tun war schon immer ein Fehler.
Deshalb begrüßen wir es, daß dies zugunsten des Wohn-
geldes für diejenigen abgeschmolzen wird, die tatsäch-
lich betroffen sind und mehr Wohngeld brauchen. Des-
halb werden wir dem entsprechenden Vorschlag des
Vermittlungsausschusses auch zustimmen.
Beim Kindergeld finden wir – wie andere auch –,
daß der Erhöhungsbetrag eigentlich zu niedrig ist. Wir
werden trotzdem zustimmen. Denn wir sind hier in zwei
Punkten durchgedrungen. Wie Sie wissen, sind wir zwar
im Vermittlungsausschuß von Ihnen herausgehalten
worden; trotzdem müssen wir irgendwie indirekt ver-
treten gewesen sein. Denn wir haben immer gesagt: Die
Kindergelderhöhung darf nicht auf die Sozialhilfe ange-
rechnet werden. So ist es jetzt tatsächlich auch gekom-
men.
Außerdem haben wir immer gesagt, daß die Kommunen
und Länder dadurch nicht belastet werden dürfen. Auch
das ist geregelt worden. Insofern findet auch dieses Ge-
setz unsere Zustimmung.
Was die Beamtenbesoldung betrifft, so sage ich Ih-
nen: Die Kopplung an die Inflation ist bei Beamten ge-
nauso falsch wie bei Rentnerinnen und Rentnern und bei
Arbeitslosen. Deshalb machen wir hier nicht mit.
Ich möchte mit einem Mißverständnis aufräumen: Jeder,
der das Wort „Beamter“ hört, denkt an Staatssekretäre.
Aber ich möchte einmal daran erinnern: Es gibt auch die
Boten, es gibt auch viele Sekretärinnen, die alle aus den
verschiedensten Gründen verbeamtet sind. Deren Bezü-
geanpassung können wir nicht auf den Inflationsaus-
gleich reduzieren. Das ist nicht hinnehmbar. Deshalb
werden wir gegen dieses Gesetz stimmen.
Herr Kollege Gysi,
bitte kommen Sie zum Schluß.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Mein letzter Satz. – Was
nun die Verlängerung der Geltungsdauer des Verkehrs-
wegeplanungsbeschleunigungsgesetzes angeht, so kann
ich nur sagen: Das bringt gar nichts, außer weniger
Rechte für die Betroffenen. Deshalb werden wir dem
nicht zustimmen.
Was das Steuerbereinigungsgesetz 1999 betrifft, so
ist der Wirrwarr nur größer geworden. Einiges ist posi-
tiv, anderes ist negativ. Das einzige, was Sie dazu von
Dr. Gregor Gysi
7286 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
uns erwarten können, bekommen Sie auch, nämlich eine
Enthaltung.
Danke.
Das Wort hat nun
für die SPD-Fraktion der Kollege Rudolf Dreßler.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Die vorliegenden Ergeb-
nisse des Vermittlungsausschusses zu Fragen der Ge-
sundheitspolitik und der Vereinheitlichung der Kran-
kenversicherung sind gute und leistungsstarke Gesetze.
Sie zeigen, daß es trotz einer sich vollständig verwei-
gernden Oppositionshaltung
möglich ist, dringend notwendige Strukturgesetze in
Deutschland auf den Weg zu bringen.
Die CDU/CSU hat sich nicht einmal die Mühe ge-
macht, im Vermittlungsausschuß – nachdem sie im
Bundesrat mit leeren Händen dastand – eine Alternative
vorzulegen. Sie steht seit über einem Jahr mit leeren
Händen da. Sie spielt immer noch U-Boot: Sie taucht
immer noch in eine unbekannte Richtung. Schließlich
hat sie in den letzten Wochen drei gesundheitspolitische
Positionen lautstark vertreten, die erste – wie in der
Vergangenheit –: Zuzahlungserhöhungen für Patienten.
Die zweite: 20 DM Eintrittsgeld pro Arztbesuch.
Die dritte: 300 DM Eintrittsgeld pro Jahr für Mitglieder
der gesetzlichen Krankenversicherung.
– Seit wann haben Sie den Wirtschaftsrat der CDU/CSU
aus Ihrer Partei ausgegliedert?
Kostenersparnis im Rahmen eines verantwortungs-
vollen Umgangs mit Finanzmitteln und Effizienzsteige-
rungen waren für die CDU/CSU in dieser Debatte
Fremdwörter. Ich finde es sehr bedauerlich, daß die von
Fachleuten anerkannten Verbesserungsvorschläge zur
Gesundheitsversorgung teilweise, weil zustimmungs-
pflichtig, nicht realisiert werden konnten. Gleichwohl
stimmt die SPD-Fraktion dem Vermittlungsausschußer-
gebnis zu, weil es die wichtigsten Komponenten einer
Strukturreform enthält, die diesen Namen verdient.
Dieses Gesetz verzichtet auf Zuzahlungserhöhungen
und Leistungsausgrenzungen. Die CDU/CSU ist dage-
gen.
Die im Januar in Kraft getretenen Entlastungen der
Versicherten werden beibehalten. Die CDU/CSU ist
dagegen.
Das Finanzierungsgerüst der gesetzlichen Krankenversi-
cherung bleibt stabil. Dies wird von den aktuellen Zah-
len der Quartalsabschlüsse unterlegt. Die CDU/CSU ist
dagegen.
Es gilt auch in Zukunft der Grundsatz der Beitrags-
satzstabilität als uneingeschränkte Vorschrift. Dies
zwingt alle im Gesundheitswesen Beteiligten zu einem
sparsamen Umgang mit den zur Verfügung stehenden
Mitteln. Die CDU/CSU ist dagegen.
Das Gesetz bietet eine durchgreifende Verbesserung
der hausärztlichen Versorgung. Eine erweiterte Do-
kumentation und eine verbesserte Befundübermittlung
zwischen den beteiligten Ärzten wird in diesem Punkt
eine große Hilfe sein. Die CDU/CSU ist auch hier dage-
gen. Den Hausärzten wird in Zukunft ein eigener Hono-
rartopf zur Verfügung stehen.
Die CDU/CSU ist auch hier dagegen.
Uns ist die generelle Aus- und Weiterbildung ein
wichtiges Anliegen. In diesem Zusammenhang haben
wir die gesetzliche Festschreibung der finanziellen
Beteiligung der Krankenkassen an der Einrichtung
und Unterhaltung von Ausbildungsstellen für Allge-
meinmediziner zu sehen. Auch hier ist die CDU/CSU
dagegen.
Nun mag es für einige eine Überraschung sein, aber
wir sind in unserem Land in Hinsicht auf eine verbindli-
che Qualitätssicherung unterentwickelt. Wir haben
auch dieses Gesetz genutzt, um den durch 16 Jahre
Kohl-Regierung verursachten Mangel auf diesem Sektor
zu kompensieren. Es wird für alle Leistungserbringer ein
Gebot der Qualitätssicherung eingeführt.
Die CDU/CSU ist wiederum dagegen.
Wir haben die Prävention, die Gesundheitsvorsorge,
wieder in das Gesetz aufgenommen. Die zahnärztliche
Prävention bekommt mehr Bedeutung. So wird die
Gruppenprophylaxe für besondere Risikogruppen auch
über das 12. Lebensjahr hinaus von den Krankenkassen
finanziert werden. Die CDU/CSU ist dagegen.
Dr. Gregor Gysi
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7287
(C)
(D)
Es ist uns gelungen, meine Damen und Herren, die
Patientenselbsthilfe im Gesetz deutlich zu stärken. Die
CDU/CSU ist dagegen.
Wir haben den Patientenschutz auch im Bereich der
Privatkrankenversicherung gestärkt. Die CDU/CSU ist
auch hier dagegen.
Meine Damen und Herren, die Rehabilitation wird
mit diesem Gesetz wieder gefördert. Rehabilitation soll
sich jeder leisten können.
Daher werden die Eigenbeteiligungen an derartigen Lei-
stungen deutlich gesenkt. Es wird Sie nicht überraschen:
Die CDU/CSU ist auch hier dagegen.
In diesem Zusammenhang darf die Einführung von
sozialtherapeutischen Maßnahmen nicht unter den
Tisch fallen.
Psychisch Erkrankten wird in Zukunft unnötiger Kran-
kenhausaufenthalt erspart. Vielmehr kann in Zukunft
eine flexible ambulante Behandlung erfolgen. Meine
Damen und Herren, die CDU/CSU ist auch hier dage-
gen.
Anhand des vorliegenden Gesetzes wird es erstmals
möglich, den stationären und den ambulanten Bereich
miteinander zu verzahnen. Dies fällt unter das Stichwort
integrierte Versorgung.
Krankenkassen können zum ersten Mal mit Lei-
stungserbringern Pilotvorhaben für eine bessere Patien-
tenversorgung vereinbaren.
Die CDU/CSU ist auch hier dagegen.
Ich möchte für die SPD-Fraktion festhalten, daß wir
den Sicherstellungsauftrag auch nach Inkrafttreten des
Gesetzes weiterhin den Kassenärztlichen Vereinigun-
gen zurechnen und daß dieser Auftrag von diesen feder-
führend wahrgenommen wird. Das ist der SPD ein wich-
tiges Anliegen. Im vorliegenden Gesetzentwurf kommt
das nicht zur Ansprache, da eine entsprechende explizite
Formulierung zu einer Zustimmungspflichtigkeit geführt
hätte. Dies wiederum hätte die CDU/CSU zum Anlaß
genommen, das gesamte Gesetzesvorhaben zu verhin-
dern.
Die SPD-Fraktion betont, daß sie von den an Pilot-
projekten zur integrierten Versorgung beteiligten Kran-
kenkassen erwartet, daß sie sich mit den beteiligten Kas-
senärztlichen Vereinigungen auf den von diesen wahr-
genommenen Sicherstellungsauftrag verständigen. Es
soll sich an der derzeitigen Praxis nichts ändern.
Es ist unsere erklärte Absicht, auch hier den Sicher-
stellungsauftrag entsprechend gesetzlich zu fixieren, so-
bald die politische Situation es erlaubt. Wir konnten es
deshalb jetzt nicht machen, weil die CDU/CSU dagegen
ist.
Die Arzneimittelverordnung wird entwickelt; die
Positivliste wird es nun geben.
Meine Damen und Herren, es soll in Zukunft mehr Qua-
lität und Wirtschaftlichkeit bei der Arzneimittelverord-
nung eingeführt werden. Die Idee dieser Liste ist nicht
neu – das wissen wir –, sondern in unseren europäischen
Nachbarstaaten schon lange eingeführt. Auch hier ist die
CDU/CSU dagegen.
Unser Ziel, die Überkapazitäten abzubauen, bleibt.
Das vorliegende Gesetz wird im stationären Bereich Ef-
fizienzsteigerungen zur Folge haben. So wird es ab dem
Jahr 2003 der leistungsorientierten pauschalierten Ver-
gütungssystematik entsprechen.
Meine Damen und Herren, es ist richtig, was Kollege
Repnik gesagt hat. Wir haben die monistische Finanzie-
rung nicht durchsetzen können. Aber zu behaupten, es
hätte im Krankenhausbereich durch dieses Gesetz keine
strukturpolitisch entscheidende Erneuerung gegeben,
kann nur eine Ursache haben, nämlich die, daß sich Herr
Repnik mit dieser Thematik bisher nicht beschäftigt hat.
Im übrigen, meine Damen und Herren, wenn einige
Vertreter der CDU/CSU davon sprechen, es handele sich
um ein Restgesetz, sozusagen nichtssagend, unbedeu-
tend,
dann können Sie mir vielleicht einmal erklären, warum
Sie mit Schaum vor dem Mund seit Wochen gegen die-
ses Gesetz in Deutschland protestieren.
In diesem Gesetz muß wohl eine Menge enthalten sein,
das Sie erregt.
Wenn ich das konzeptionelle Niveau, die Diskursun-
fähigkeit und die Diskussionsqualität der CDU/CSU in
der Gesundheitspolitik in den letzten Monaten bewerten
möchte, dann muß ich mich einer Wertung des Philoso-
phen Peter Sloterdijk anschließen. Diese Wertung ge-
statte ich mir ein klein wenig abzuändern:
Rudolf Dreßler
7288 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Die CDU/CSU war in den letzten Monaten lediglich die
Summe ihrer medienvermittelten Selbstgespräche.
Konzeptionell war überhaupt nichts vorhanden.
Nun eine Bemerkung zum Risikostrukturausgleich.
Herr Repnik hat soeben ein großes Wort in diesem Haus
verwandt. Er hat gesagt, die CDU/CSU trage gesamt-
deutsche Verantwortung.
Herr Repnik, ich greife dieses Wort auf, und erinnere
Sie an folgendes: Es hat in den letzten Jahren eine Viel-
zahl von Auseinandersetzungen über die Gesellschafts-
politik – Renten-Überleitungsgesetz, Staatsvertrag, Pfle-
geversicherung und vieles andere mehr – unter dem
Stichwort „Deutsche Einheit“ in diesem Hause gegeben.
Es hat dann, wenn es um gesamtdeutsche Verantwor-
tung ging, als Folge des 9. Novembers 1989 oft ideolo-
gische Unterschiede zwischen Ihnen und uns gegeben,
zum Teil unüberwindbare.
– Vielleicht waren sie auch unvermeidlich. Das möchte
ich gar nicht in Abrede stellen. Aber eines möchte ich
hier festhalten: Wenn es um Fragen gesamtdeutscher
Verantwortung und sozialer Einheit Deutschlands ging,
hat sich die sozialdemokratische Bundestagsfraktion zu
keinem Zeitpunkt – trotz ideologischer und programma-
tischer Bedenken – dieser Aufgabe entzogen. Wir haben
jedesmal mit Ihnen gestimmt. Darauf lege ich Wert.
Weil das so war, möchte ich feststellen: Wenn es
wirklich um gesamtdeutsche Verantwortung geht und
wenn es darum geht, Vermögensdefizite der Ostkassen,
die auf Grund der deutschen Einheit entstanden sind,
jetzt endlich nach zehn Jahren deutscher Einheit abzu-
bauen und die Zwei-Staaten-Theorie in der deutschen
Krankenversicherung endlich zu überwinden,
dann darf ich erwarten – dies erwarte nicht nur ich –,
daß dies vom Deutschen Bundestag genauso gemeinsam
getragen wird wie alle Entscheidungen bezüglich der
deutschen Einheit in der Vergangenheit.
Dies ist kein Thema für parteipolitische Auseinanderset-
zungen. Wir können uns lediglich über die Wege streiten.
Hinsichtlich Ihrer Diskursbereitschaft im Vermitt-
lungsausschuß darf ich Sie an eines erinnern: Vor 14 Ta-
gen habe ich Ihnen im Vermittlungsausschuß vorge-
schlagen, eine Kommission einzusetzen, in der dieses
Thema beraten wird. Dies haben Sie im Vermittlungs-
ausschuß abgelehnt. Wir haben das zur Kenntnis ge-
nommen. Sie haben gesagt – ich zitiere –, das Gesetz
bestehe nur aus vier Seiten, das könne man im Vermitt-
lungsausschuß ohne Einsetzung einer Kommission be-
handeln.
Dies haben wir im Vermittlungsausschuß zur Kenntnis
genommen und sind gestern entsprechend vorgegangen.
Daraufhin haben Sie die Einsetzung einer Kommission
gefordert. Ich sage Ihnen dazu nur: Besonders glaub-
würdig ist diese Art der Strategie, bezogen auf den zur
Diskussion stehenden Sachverhalt „soziale Einheit
Deutschlands“ nicht.
Deswegen appelliere ich an Sie, unseren Weg mitzuge-
hen, weil für dieses Thema kein Platz im parteipoliti-
schen Streit sein darf.
Millionen von Menschen, die den Krankenversicherun-
gen angehören und die den Krankenversicherungen im
Rahmen der deutschen Einheit besondere Belastungen
auferlegt haben, können von uns allen gemeinsam er-
warten – wie sie es auch vom Westteil dieses Staates
erwarten –, daß wir gemeinsam mit dem Risikostruktur-
ausgleich auf die finanziellen Notwendigkeiten auf ge-
samtdeutscher Ebene antworten.
Herr Kollege Dreß-
ler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rep-
nik?
Selbstverständlich.
Das war die An-
meldung zu einer Kurzintervention – Herr Dreßler, dann
gebe ich Ihnen noch einmal das Wort. Ich bitte Sie aber
– Ihre Redezeit ist schon überschritten –, bald zum
Schluß zu kommen.
Ich nehme das, was Sie auch
gestern im Vermittlungsausschuß gesagt haben – Sie be-
nötigten sechs Wochen Zeit, um das mit uns gemeinsam
zu machen –, sehr ernst.
Meine Damen und Herren, bitte, fassen Sie das jetzt
nicht als Arroganz auf: Sie selbst haben während Ihrer
Regierungszeit zu diesem Thema eine Kommission der
Regierung eingesetzt. Diese hatte nach zwei Jahren kein
Ergebnis. Mich wundert das überhaupt nicht, weil das
Rudolf Dreßler
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7289
(C)
(D)
Thema sehr diffizil ist. Ich sage Ihnen aus tiefer Kennt-
nis der Materie: Es ist unmöglich, zu diesem Thema
nach sechs Wochen ein Ergebnis vorzulegen, welches
wir von der Bundesregierung nach ungefähr einem Jahr
erwarten.
Die Krankenkassen dieser Länder können aus auf-
sichtsrechtlichen Gründen nicht mehr warten. Das Risi-
ko, diese Krankenkassen in Konkurs gehen zu lassen,
dürfen wir nicht eingehen. Deshalb bitte ich Sie noch
einmal: Stimmen Sie mit uns, damit dieser gesamtdeut-
sche Weg beschritten werden kann!
Zu einer Kurzinter-
vention gebe ich dem Kollegen Hans-Peter Repnik das
Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Dreßler,
nachdem Sie mich persönlich angesprochen haben,
möchte ich zu zwei Anmerkungen von Ihnen eine Erwi-
derung vortragen.
Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode zwei
wichtige sozialpolitische Reformgesetze, die gesamt-
deutsche Wirkung hatten, debattiert. In beiden Fällen
haben Sie uns die Gefolgschaft versagt. Es waren die
Rentenreform und die Gesundheitsreform. Sie haben bei
beiden Gesetzesvorhaben nicht mitgemacht. Erwecken
Sie also nicht den Eindruck, als ob Sie sich in die ge-
samtdeutsche Solidarität eingebracht hätten!
Ich darf daran erinnern, daß das Gesetz zur Wirt-
schafts- und Währungsunion für die Wiedervereinigung,
für das Zusammenwachsen Deutschlands, für die Wirt-
schaftskraft und für die Sozialkraft Deutschlands von
großer Bedeutung war. Hierbei haben Sie sich, wie auch
sozialdemokratisch geführte Länder – zum Beispiel
Niedersachsen –, seinerzeit verweigert. Erwecken Sie
nicht den Eindruck, daß Sie jeweils gesamtstaatlich-
konstruktiv mitgewirkt hätten. Es trifft nicht zu.
– Im Bundesrat haben sozialdemokratisch regierte Län-
der – das Saarland und Niedersachsen – dagegen ge-
stimmt. Erwecken Sie hier keinen falschen Eindruck!
Herr Kollege Dreßler, im Hinblick auf die Beratun-
gen im Vermittlungsausschuß: Tatsache ist, daß wir den
endgültigen Text über den gesamtdeutschen Risiko-
strukturausgleich, so wie er uns heute vorliegt und wie
er gestern im Vermittlungsverfahren zur Beratung an-
stand, am Montag dieser Woche bekommen haben. Tat-
sache ist auch, daß nach der Lektüre dieses Textes, den
wir am Montag dieser Woche bekommen haben, die
Länder Baden-Württemberg und Bayern gesagt haben:
Wir sind bereit, uns in die gesamtstaatlichen Verant-
wortung zu stellen;
aber laßt uns noch einmal einen Zahlenabgleich durch-
führen, und laßt uns bis Januar warten. – Wir haben uns
verbindlich auf Januar festgelegt, und Sie haben auch
diesen Vorschlag ausgeschlagen. Erwecken Sie hier bitte
keinen falschen Eindruck! Diese sechs Wochen hätten
Sie noch nachgeben können, und wir hätten dann alle
Länder in den Konsens einbinden können. Diese Mög-
lichkeit haben Sie – ich sage einmal: mutwillig – zer-
schlagen.
Zur Erwiderung ge-
be ich dem Kollegen Dreßler das Wort.
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Ich möchte drei Bemerkungen ma-
chen.
Erste Bemerkung: Als wir vor einigen Jahren – ich
glaube, es ist drei Jahre her – über eine milliardenschwere
Transferleistung der westdeutschen Krankenkassen in den
Ostteil unseres Staates debattiert hatten, brauchten wir die
Zustimmung des Bundesrates. Diese Zustimmung hat die
CDU/CSU, obwohl sie an der Regierung war, alleine
nicht erbringen können, weil Bayern und Baden-
Württemberg dies kategorisch ablehnten. Nur mit Hilfe
der SPD-geführten Länder ist diese Auswirkung des Eini-
gungsvertrages 1996 ins Gesetzblatt gekommen – nicht
weil die CDU/CSU die Kraft gehabt hätte, es zu tun.
Zweite Bemerkung: Rentengesetzgebung und Ge-
sundheitsgesetzgebung auf nationaler Ebene haben na-
türlich Wirkungen in beiden Teilen Deutschlands, im
Norden und Süden ebenso wie im Osten und Westen.
Aber sie sind doch kein Ausfluß des Einigungsvertrages,
den wir Anfang der 90er Jahre gemeinsam hier verab-
schiedet haben. Meine These ist: Den Aufgaben aus bei-
den Teilen des Staatsvertrages, des Einigungsvertrages,
die nach 1991 zu den Aufgaben aller Parlamentarier ge-
worden sind, hat sich die sozialdemokratische Bundes-
tagsfraktion zu keinem Zeitpunkt verweigert.
Dieser Risikostrukturausgleich hingegen ist eine Aus-
wirkung des Einigungsvertrages nach zehn Jahren deut-
scher Einheit.
Deshalb habe ich an Sie appelliert, sich diesem Auftrag
aus dem Staatsvertrag nicht zu verweigern. Er hat mit
den generellen Auseinandersetzungen in der Gesell-
schaftspolitik überhaupt nichts zu tun.
Rudolf Dreßler
7290 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Dritte Bemerkung: Ich bestreite energisch, daß das
Abstimmungsverhalten, das Herr Repnik gerade der
SPD unterstellt hat, den Tatsachen entspricht. Die Zwi-
schenrufe, die wir gemacht haben, lauteten so – ich halte
sie für das Protokoll noch einmal fest –: Lesen Sie bitte
nach, daß wir zugestimmt haben! Dann können Sie zu
irgendeinem Zeitpunkt von diesem Pult aus Ihren Irrtum
dem Hohen Hause eingestehen.
Schönen Dank.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den
Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/2356. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag
ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen
und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P.
angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 6 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Aus-
schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes
zu dem Gesetz zur
Stärkung der Unabhängigkeit der Richter und
Gerichte
– Drucksachen 14/979, 14/1875, 14/2330,
14/2367 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Heribert Blens
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? –
Das ist nicht der Fall. Auch das Wort zu Erklärungen
wird nicht gewünscht.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsaus-
schuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäfts-
ordnung beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über
die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer
stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungs-
ausschusses auf Drucksache 14/2367? – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Die Beschlußempfehlung ist
mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. an-
genommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 7 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Aus-
schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes
zu dem Gesetz zur Re-
form der gesetzlichen Krankenversicherung ab
– Drucksachen 14/1245, 14/1721, 14/1977,
14/2215, 14/2369 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Rudolf Dreßler
Das Wort zur Berichterstattung und auch zu Erklä-
rungen wird nicht gewünscht.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsaus-
schuß hat den Gesetzentwurf in das GKV-Gesundheits-
reformgesetz 2000 und das Gesetz zur Rechtsanglei-
chung in der gesetzlichen Krankenversicherung aufge-
teilt. Weiterhin hat der Vermittlungsausschuß gemäß
§ 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen,
daß im Deutschen Bundestag über die beiden Gesetze
getrennt, jedoch über jedes Gesetz im ganzen, abzu-
stimmen ist.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ver-
mittlungsausschusses zum GKV-Gesundheitsreformgesetz
auf Drucksache 14/2369? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlußempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen von
CDU/CSU, F.D.P. und PDS bei zwei Enthaltungen aus
den Reihen der SPD-Fraktion angenommen.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ver-
mittlungsausschusses zum Gesetz zur Rechtsanglei-
chung in der gesetzlichen Krankenversicherung auf
Drucksache 14/2369? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlußempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS
gegen die Stimmen der F.D.P. und einer Anzahl von
Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der
CDU/CSU-Fraktion im übrigen angenommen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
heutige Tagesordnung um die Beratung weiterer Be-
schlußempfehlungen des Vermittlungsausschusses er-
weitert werden. Die Punkte sollen jetzt anschließend
aufgerufen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das
ist der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Vermitt-
lungsausschusses zum Gesetz zur Änderung des
Wohngeldgesetzes und anderer Gesetze
– Drucksache 14/2379 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Joachim Poß
Das Wort zur Berichterstattung und zu weiteren Er-
klärungen wird nicht gewünscht.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsaus-
schuß hat den Gesetzentwurf in das Gesetz zur Ände-
rung des Wohngeldgesetzes und anderer Gesetze, in das
Gesetz zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetz-
buch und in das Gesetz zur Anpassung der Dienst- und
Versorgungsbezüge aufgeteilt. Weiterhin hat der Ver-
mittlungsausschuß gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Ge-
schäftsordnung beschlossen, daß im Deutschen Bun-
destag über die drei Gesetze getrennt, jedoch über jedes
Gesetz im ganzen, abzustimmen ist.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ver-
mittlungsausschusses zum Gesetz zur Änderung des
Wohngeldgesetzes und anderer Gesetze auf Drucksa-
che 14/2379? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be-
schlußempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses ge-
gen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion angenommen.
Rudolf Dreßler
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7291
(C)
(D)
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ver-
mittlungsausschusses zum Gesetz zur Änderung des
Dritten Buches Sozialgesetzbuch auf Drucksa-
che 14/2379? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be-
schlußempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von
CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ver-
mittlungsausschusses zum Gesetz zur Anpassung der
Dienst- und Versorgungsbezüge auf Drucksache
14/2379? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be-
schlußempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der anderen
Fraktionen angenommen. – Den Hammelsprung wollen
wir heute sinnvollerweise vermeiden.
Ich rufe den Zusatzpunkt 11 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Vermitt-
lungsausschusses zum Gesetz zur Bereinigung
von steuerlichen Vorschriften
– Drucksache 14/2380 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Joachim Poß
Das Wort zur Berichterstattung und zu sonstigen Er-
klärungen wird nicht gewünscht.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsaus-
schuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäfts-
ordnung beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über
die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer
stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungs-
ausschusses auf Drucksache 14/2380? – Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Die Beschlußempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
CDU/CSU gegen die Stimmen der F.D.P. bei Enthaltung
der PDS angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 12 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Vermitt-
lungsausschusses zum Gesetz zur Familienför-
derung
– Drucksache 14/2381 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Joachim Poß
Das Wort zur Berichterstattung und zu weiteren Er-
klärungen wird nicht gewünscht.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsaus-
schuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäfts-
ordnung beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über
die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer
stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungs-
ausschusses auf Drucksache 14/2381? – Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Die Beschlußempfehlung des Vermitt-
lungsausschusses zum Gesetz zur Familienförderung ist
einstimmig angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 13 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Vermitt-
lungsausschusses zum Gesetz zur Änderung des
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes
– Drucksache 14/2382 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Michael Luther
Das Wort zur Berichterstattung und zu weiteren Er-
klärungen wird nicht gewünscht.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die
Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf
Drucksache 14/2382? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen von SPD,
CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grüne und F.D.P. gegen die
Stimmen der PDS angenommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 19 a bis 19 g
auf – es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte –:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung von Richtlinien der Europäischen Ge-
meinschaft auf dem Gebiet des Berufsrechts
der Rechtsanwälte
– Drucksache 14/2269 –
Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Bundesbesoldungsgesetzes
– Drucksache 14/2094 –
Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des In-
vestitionszulagengesetzes 1999
– Drucksache 14/2270 –
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Rennwett- und Lotteriegesetzes
– Drucksache 14/2271 –
(C)
Klaus Grehn, Monika Balt, Dr. Ruth Fuchs, wei-
teren Abgeordneten und der Fraktion der PDS
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Verlängerung der Rahmenfrist bei zeitlich be-
fristeter Erwerbsunfähigkeitsrente, Änderung
des Dritten Buches Sozialgesetzbuch
– Drucksache 14/2282 –
Koschyk, Dr. Norbert Lammert, Georg Janovsky,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Errichtung eines Mahnmals gegen Flucht und
Vertreibung
– Drucksache 14/2241 –
gierung
Konzeption der künftigen Gedenkstättenför-
derung des Bundes
und
Bericht der Bundesregierung über die Beteili-
gung des Bundes an Gedenkstätten in der
Bundesrepublik Deutschland
– Drucksache 14/1569 –
(C)
(D)
, weiterer Abgeordneter und der
rat eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Eigentumsfristengesetzes
– Drucksache 14/2250 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechts-
ausschusses
– Drucksache 14/2352 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Joachim Hacker
Andrea Voßhoff
Rainer Funke
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der F.D.P.-
Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? Der Gesetzent-
wurf ist mit dem gleichen Stimmergebnis wie bei der
zweiten Beratung angenommen.
Wir kommen zu weiteren Beschlußempfehlungen des
Petitionsausschusses. Ich rufe zunächst Zusatzpunkt 8 b
auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 106 zu Petitionen
– Drucksache 14/2372 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Sammelübersicht 106 ist mit den
Stimmen des Hauses bei Enthaltung der PDS-Fraktion
angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 8 c auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 107 zu Petitionen
– Drucksache 14/2373 –
Vizepräsident Rudolf Seiters
7294 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Sammelübersicht 107 ist mit den
Stimmen des Hauses bei Enthaltung der PDS-Fraktion
angenommen.
Wir kommen jetzt zu Zusatzpunkt 8 d:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 108 zu Petitionen
– Drucksache 14/2374 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Sammelübersicht 108 ist einstimmig
angenommen.
Ich rufe nun auf Zusatzpunkt 8 e:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 109 zu Petitionen
– Drucksache 14/2375 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Sammelübersicht 109 ist mit den
Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen
die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung
der PDS angenommen.
Wir kommen jetzt zu Zusatzpunkt 8 f:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 110 zu Petitionen
– Drucksache 14/2376 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Sammelübersicht 110 ist mit den
Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS-
Fraktion angenommen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Ludwig
Stiegler, Monika Griefhahn, Jörg Tauss, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie
den Abgeordneten Klaus Müller, Dr. Antje Voll-
mer, Oswald Metzger, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur weiteren
steuerlichen Förderung von Stiftungen
– Drucksache 14/2340 –
Das haben Sie oft genug gehört. Aber gerade in diesem
Fall ist für mich die außerordentliche Überraschung ge-
geben, daß Sie einem zutiefst bürgerlichen Anliegen,
nämlich der Einrichtung einer bürgergesellschaftlichen
Initiative, die vom Staat unterstützt wird, und der Ver-
besserung der Situation der Stiftungen, die für den kul-
turellen Bereich unseres Landes zuständig sind und
sich verantwortlich fühlen, buchstäblich keine Bresche
in das Geflecht unserer Steuergesetzgebung geschlagen
haben.
Für mich ist der heute eingebrachte Gesetzentwurf
der Koalitionsfraktionen zur Reform des Stiftungs-
rechts ein entscheidender Durchbruch. Es ist sicherlich
richtig, daß noch längst nicht alles getan ist; es kann
aber auch kein Zweifel daran bestehen, daß das, was wir
heute beraten, seit vielen Jahren den Aufforderungen der
Verbände und den Hoffnungen der Kulturschaffenden in
unserem Land entspricht.
Wir beginnen eine neue Stiftungsoffensive, die mehr
als zwei Jahrzehnte lang hat auf sich warten lassen. Daß
dies hier möglich ist – ich habe es schon bei anderen
Gelegenheiten gesagt –, ist vor allem der Initiative der
Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Antje
Vollmer, zu verdanken.
In Kombination mit dieser Koalition, mit der Sozialde-
mokratischen Partei, die auf diesem Feld – das muß man
auch sagen – vom Vorsitzenden des Rechtsausschusses
Vizepräsident Rudolf Seiters
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7295
(C)
(D)
erstklassig beraten wurde, der die berühmten Bretter ge-
bohrt hat, also mit Ludwig Stieglers Hilfe,
wird es uns gelingen, einen absoluten Markstein in der
Geschichte des Stiftungsrechts in Deutschland zu setzen.
Darauf stolz zu sein haben wir allen Grund, auch wenn
wir wissen, daß dies noch nicht das ganze Geschäft sein
wird.
Die Sache ist klar: Der neue Sonderausgabenabzug
für Spenden an Stiftungen bis zu 40 000 DM wird seine
Wirkung nur dann voll entfalten können, wenn alle Be-
teiligten, natürlich auch die kulturpolitisch interessierten
Abgeordneten dieses Hauses, auch die der Opposition,
ihren Teil dazu beitragen, daß die Idee der Stiftung wie-
der in ihre alten Rechte gesetzt wird.
Um die Jahrhundertwende gab es in Deutschland et-
wa 100 000 Stiftungen. In diesen Stiftungen hat das
Bürgertum – wenn ich zu Ihnen schaue, Ihre Klientel,
aber auch unsere – genau das versucht und getan, was
uns heute das kulturelle Erbe unserer Gesellschaft mit-
beschert hat. Es hat sich nämlich einen liberalen Frei-
raum erkämpft gegen den Wilhelminismus, gegen die
verkrusteten Formen des deutschen Nationalstaates mit
den drei bekannten Säulen Beamtentum, Militär, Aristo-
kratie, den beherrschenden Strukturen der damaligen
Gesellschaft. Sich mit Stiftungen gleichsam einen Frei-
raum bei der Mitgestaltung des Staates zu erkämpfen
war das Verdienst der damaligen Stifter. Vielen von
ihnen müßte heute in dieser Stadt, ganz besonders auf
der Museumsinsel, gedacht werden, auf daß der Gedan-
ke der Stiftung, der bekanntlich in das Mittelalter hinein-
reicht, in Deutschland wieder die Popularität erlangt, die
er eigentlich verdient.
Meine Damen und Herren, viele Kulturstiftungen in
Deutschland tragen ehrwürdige Namen. Wir brauchen
den reichen Mäzen. Jedes Land braucht das. Die Idee
des Schenkens und des Stiftens, die in den letzten Wo-
chen, wie ich finde, furchtbarerweise und – wenn Sie so
wollen – hoffentlich nur vorübergehend einen Hautgout
bekommen hatte, ist jeder Gesellschaft, die etwas von
sich selbst hält, nicht unbekannt. Wir wollen im Grunde
genommen eine Idee, die auch zum Weihnachtsfest
ihren merkwürdigen, bisweilen auch übertriebenen Aus-
druck findet, die Idee des menschlichen Zusammenle-
bens in der Gesellschaft auch politisch verankern und
verbessern. Das heißt, wir fordern all diejenigen Bürger
auf, die 55 Jahre nach Kriegsende inzwischen ein außer-
ordentliches Vermögen angehäuft haben, sich dem Ge-
danken der Stiftung zu nähern und ihr Vermögen an eine
gemeinnützige Stiftung weiterzugeben, soweit es mög-
lich ist. Diese Gesetzesinitiative, die wir vorbereiten,
wird die Anreize für diese mäzenatischen Tätigkeiten
verstärken und erhöhen.
Der Staat kann die wirklich großen Vermögen nicht
mit dem Steuerbonus allein locken. Dazu gehört – ich
sagte es schon – die Schaffung eines stiftungsfreundli-
chen Klimas, das sich nicht zuletzt im Umgang von
Stiftungsbehörden und Finanzämtern mit potentiellen
Stiftern zeigen muß. Das heißt, der Bürokratismus in der
Gewährung von Stiftungen muß aufhören.
Es muß zügiger gewährt werden und vor allem müssen
die Stiftungen ihre Leistungen dadurch, daß sie sie
transparent machen, übrigens auch zur Verhinderung
von Mißbrauch, den Bürgern klarmachen.
Herr Otto, es war eben das erste Mal, daß Sie mir ap-
plaudiert haben. Ich habe Angst, etwas falsch gemacht
zu haben.
Es kommt darauf an, daß die Stiftungen den Bürgern
klarmachen, was sie leisten, daß sie nicht im verborge-
nen wirken, sondern öffentlich auf ihre guten Taten
hinweisen, zu deutsch: ihr Licht nicht unter den Scheffel
stellen.
Stiftungen sind nicht nur Finanzierungsinstrumente, son-
dern eröffnen neue Teilhabemöglichkeiten. Vor 20 Jahren
haben wir von Partizipation der Bürger am kulturellen,
am gesellschaftlichen Leben gesprochen.
Die kulturelle Vielfalt eines Landes bemißt sich nicht
allein an der Zahl der Staatsopern, sondern in erster
Linie und vor allem daran, daß sie selbst eine Art Forum
des Selbstgespräches einer Gesellschaft ist. Das heißt:
Die Kultur eines Landes mißt sich daran, inwieweit
sie „von unten“, das heißt: von den Bürgern, getragen
wird.
Die kulturelle Vielfalt entsteht im pluralistischen
Spiel der künstlerischen Kräfte und auch des Publikums.
Der Staat sollte in einer freiheitlich verfaßten Gesell-
schaft gar nicht erst versuchen, das kulturelle Niveau im
Sinne klassischer Förderpolitik, also allein durch Haus-
haltsmittel, zu garantieren. Das kulturelle Niveau defi-
niert sich durch die Leistungen der Künstler. Die Lei-
stungen der Künstler zu unterstützen, und zwar nicht nur
vom Staat, sondern auch vom Bürger, genauer gesagt:
vom Publikum, ist deshalb eine vornehme Aufgabe, weil
sich die Künste – denken Sie nur an die Finanzierungs-
krisen, die diese Stadt gerade bei ihren Opern erlebt –
und die Künstler nicht in der Position befinden sollten,
Staatsminister Dr. Michael Naumann
7296 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Kunden des Staates zu sein. Das heißt: Stiftungen sind
Instrumente der vermittelten Freiheit auch der Künste.
Der Staat lebt vom Engagement seiner Bürger. Es
zeichnet gerade den freiheitlichen Staat aus, daß er pri-
vaten Initiativen den notwendigen Raum beläßt,
bürokratische Hemmnisse abbaut
und, wenn möglich, privates Engagement nicht nur
schützt, sondern aktiv fördert, etwa durch seine Steuer-
gesetzgebung.
Das tun wir; das ist in der Tat – um den alten Wahl-
kampfslogan zu beleben – die Politik der Neuen Mitte.
Meine Damen und Herren, wir wissen, daß das Bei-
spiel Amerika immer wieder herangezogen wird, um
eine florierende und funktionierende Stiftungskultur zu
belegen. Das brauchen wir nicht im Verhältnis 1 zu 1
auf unser Land zu übertragen; das wollen und können
wir auch nicht. Wir dürfen ruhig davon ausgehen, daß
sich die über Jahrzehnte, genauer gesagt: über mehrere
Jahrhunderte gewachsenen Strukturen der Interdepen-
denz von Staat und Künsten cum grano salis bewährt
haben.
In Deutschland werden jährlich ungefähr 17 Milliar-
den DM auf kommunaler, auf Landes- und auf Bundes-
ebene zur Förderung der Künste ausgegeben. In den
Vereinigten Staaten sind es staatlicherseits 800 Millio-
nen DM, und das angesichts eines so riesigen Landes.
Allerdings unterstützen und finanzieren die Stiftungen in
Amerika de facto über 90 Prozent des kulturellen
Lebens. Das ist etwas, was wir für uns nicht unbedingt
anstreben wollen und auch nicht können. Es ist gerade
dieses Nebeneinander von staatlicher und, so hoffe ich,
in Zukunft auch privater Förderung, die eine Mischung
der Finanzierung der Künste erlauben wird, die die
Künste freier von staatlicher Einflußnahme machen wird
und gleichzeitig die gewachsenen Strukturen nicht ge-
fährdet.
Lassen Sie mich die Gelegenheit wahrnehmen, darauf
hinzuweisen, daß ich mir wünsche – das wünschen übri-
gens ebenso die Stiftungen, im Grunde genommen wir
alle hier im Parlament und auch die Journalisten –, daß
wir im Rahmen der neuen Gesetzgebung noch etwas an-
deres verändern. Es gibt noch immer den überraschen-
den Sachverhalt, daß in diesem protestantisch geprägten,
bescheidenen Milieu der Schenker und Stifter eine ge-
wisse Zurückhaltung besteht, wenn es darauf ankommt,
die eigene Leistung bekanntzumachen. Aber ich denke,
wer dem Staat, wer den Künsten im Staat, in der Gesell-
schaft durch seine Dotationen und Stiftungen unter die
Arme greift, dessen Name sollte gerühmt werden.
Er gehört zu den Menschen, die den alten republikani-
schen Spruch „tua res agitur“ richtig interpretieren. Dar-
auf kommt es an.
Lassen Sie mich zum Abschluß dieser Rede auf einen
Stifter hinweisen, den zu nennen sich durchaus gebührt.
Er steht stellvertretend für viele andere. Es braucht Mä-
zene wie den vom Bundespräsidenten mit der Maecenas-
Ehrung des Arbeitskreises selbständiger Kultur-Institute
ausgezeichneten Wolf-Dietrich Freiherr Speck von Stern-
burg. Dieser brachte die an ihn rückübertragene, zu
DDR-Zeiten enteignete Gemäldesammlung von Maxi-
milian Speck von Sternburg – rund 200 Gemälde im
Wert von 100 Millionen DM – in eine Stiftung ein und
stellte sie als Dauerleihgabe dem Museum der bildenden
Künste in Leipzig zur Verfügung.
Vor dieser mäzenatischen Leistung verneige ich mich.
Sie ist vorbildlich für alle anderen.
Ich gehe davon aus, daß mit unserem Stiftungsre-
formgesetz der erste Schritt dazu getan wird, daß unsere
Gesellschaft in einem weit stärkeren Maße, als das bis-
her der Fall ist, jene Leistungen nachahmt, zum Wohle
des ganzen Landes.
Ich danke Ihnen.
Das
Wort hat jetzt der Kollege Norbert Hauser von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsi-
dent! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! „Wir
stecken alle Kraft in die Verpackung und nichts in das
Produkt“ – dieser Gedanke drängt sich leider auf, wenn
man nach all der Vorfreude auf den heutigen Entwurf,
die man nach Ihren Anregungen, liebe Kolleginnen und
Kollegen von Rotgrün, haben konnte, das magere Er-
gebnis Ihrer Beratungen zur Kenntnis nehmen muß.
Der Gesetzentwurf der Koalition ist eine einzige Enttäu-
schung. Groß wurde von Ihnen eine grundsätzliche Re-
form des Stiftungsrechtes angekündigt, zumindest eine
erhebliche Reform des Stiftungssteuerrechtes. Nichts ist
davon übriggeblieben.
Staatsminister Dr. Michael Naumann
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7297
(C)
(D)
Meine Damen und Herren, Sie sagen, 16 Jahre habe
die CDU/CSU-Fraktion Zeit gehabt.
Ja, das ist richtig. Aber auch Sie, Herr Kollege Stiegler,
haben 16 Jahre Zeit gehabt. Herr Staatsminister, hätten
Sie gestern die Anhörung von Anfang an verfolgt und
wären Sie nicht erst zum Schlußgesang gekommen,
dann hätten Sie gemerkt, wie unzufrieden die Verbands-
vertreter mit der von Ihnen vorgelegten Gesetzesinitiati-
ve waren,
die sich auf eine unbedeutende Marginalie als Fußnote
im Steuerrecht reduziert hat.
Herr
Kollege Hauser, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Frau Kollegin Vollmer?
Bitte schön.
Frau
Vollmer, bitte schön.
Verehrter Herr Kollege, bei dem, was Sie über die ge-
strige Anhörung sagen, habe ich fast den Eindruck, wir
waren auf unterschiedlichen Anhörungen.
Sie haben gesagt, wir hätten vorher viel vorgeschla-
gen und hinterher wenig gehalten. Können Sie mir sa-
gen, was wir in bezug auf das Steuerrecht in dem Ge-
setzentwurf der Grünen, den wir vor zwei Jahren einge-
bracht hatten, versprochen und nicht in dem Entwurf,
den wir jetzt vorlegen, gehalten haben, abgesehen von
dem Unterschied von 50 000 DM zu 40 000 DM?
Frau Kollegin
Vollmer, es ist richtig, daß Sie 1997 einen Gesetzent-
wurf eingebracht haben. Die F.D.P. hat in dieser Legis-
laturperiode nachgezogen. Die CDU/CSU hat ihr Eck-
punktepapier vorgelegt.
Aber Sie, Frau Kollegin Vollmer, müssen doch be-
sonders enttäuscht darüber sein, was heute als Ergebnis
vorliegt.
Wäre es Ihnen gelungen, den Gesetzentwurf, den Bünd-
nis 90/Die Grünen seinerzeit eingebracht haben, jetzt
wieder einzubringen, wären Sie einen Riesenschritt
weiter. Das haben Sie nicht geschafft.
Der Kollege Stiegler hat vor zwei Wochen die
CDU/CSU noch im Klub der Stiftungsfreunde begrüßt.
Herr Kollege Stiegler, mit dieser Gesetzesinitiative, die
Sie hier vorgelegt haben, haben Sie sich aus dem Klub
wieder abgemeldet.
Das, was Sie hier vorgelegt haben, ist eine einzige Ent-
täuschung. Ihr Antrag ist saft-, kraft- und mutlos.
Wie bereits in der Vergangenheit, so besteht auch
jetzt wieder die Gefahr, daß die Diskussion über die Re-
form des Stiftungsrechtes zu einer reinen Steuerdebatte
verkommt. Die durch die Verbesserung der steuerlichen
Abzugsfähigkeit von Stiftungsgeldern entstehenden
Steuerausfälle glaubt man abschätzen zu können. Der
Nutzen, einschließlich des geldwerten Nutzens, gilt als
ebenso unzweifelhaft wie in seinem Umfang ungewiß.
Kameralistik wird zum Reformmaßstab.
Es geht im Kern aber nicht um einige Prozentpunkte
mehr an steuerlicher Absetzbarkeit oder Rücklagenbil-
dung für die Stiftungen sowie um die eine oder andere
Korrektur im Bürgerlichen Gesetzbuch. Die eigentlichen
Fragen sind: Wieviel Staat wollen wir uns leisten? Was
trauen wir der Kraft seiner Bürger zu? Gilt Subsidiarität
als Prinzip oder nur als Worthülse?
Wird bürgerschaftliches Engagement als willkommen
begrüßt oder kritisch als Verlust von Steuerungsmög-
lichkeiten und Fremdbeglückung verstanden? Haben die
Staatsbürger nicht nur das Recht, sondern auch die
Pflicht, ihre eigenen Angelegenheiten zunächst einmal
selbst zu regeln, bevor der Staat eingreift?
Es geht schlicht um den Stellenwert der Eigenver-
antwortung in unserer Gesellschaft.
Der auch von Teilen der Politik bewußt erweckte
Eindruck, der Staat könne individualisiertes Lebens-
glück schaffen, hat den Menschen zwar nicht das er-
hoffte Glück, dafür aber mehr Abgabenbelastung und
Abhängigkeit und dem Staat mehr Unbeweglichkeit be-
schieden.
Bürgerschaftliches Engagement heißt demgegen-
über, mehr Bewegungsmöglichkeit für sich und den
Staat zu erreichen, die Gesellschaft menschlicher, über-
schaubarer und verantwortungsbewußter zu machen.
Ziel einer aktiven Bürgergesellschaft ist nicht das
alleinige staatliche bzw. parlamentarische Definieren
von Bedürfnissen. Vielmehr muß es darum gehen, selbst
darüber zu entscheiden, was notwendig und wünschens-
wert ist und dies – auch ebensoweit wie möglich –
selbst umzusetzen.
Hierzu können die Bürger durch Stiftungen einen we-
sentlichen Beitrag leisten. Ihnen dies zu ermöglichen ist
Aufgabe und Anspruch an eine Reform des Stiftungs-
rechts.
Norbert Hauser
7298 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Auch wenn man anerkennt, daß Sie, meine Damen
und Herren von den Koalitionsfraktionen, einen Versuch
unternommen haben, das Stiftungsrecht zu überarbeiten,
bleibt das Fazit: Ihr Vorschlag ist unzureichend. Dem
Gesetzentwurf merkt man an, daß er mit heißer Nadel
gestrickt wurde. Der Entwurf ist unklar, in sich wider-
sprüchlich, fehlerhaft und letztlich mit dem Rotstift des
Finanzministers geschrieben.
Ich will dies an zwei Beispielen erläutern: Aus der
Begründung läßt sich schließen, daß zum Aufbau eines
Stiftungsvermögens auf eine Ausschüttung der Erträge
innerhalb der ersten drei Jahre nach Errichtung der Stif-
tung verzichtet werden kann. Wo steht dies im Textteil
Ihres Entwurfes? In der Begründung finden Sie es, nicht
aber im Textteil.
Völlig mißlungen ist die Formulierung für den § 10 b
des Einkommensteuergesetzes. Sollen durch Hinzufü-
gung des neuen Satzes 3 zusätzlich Zuwendungen für
Stiftungen in Höhe von 40 000 DM steuerlich befreit
werden? Gilt der Betrag als Obergrenze, oder gilt er als
Alternative zu den Abzugsmöglichkeiten in Höhe von
5 bzw. 10 Prozent?
– Herr Kollege, auch das konnten Sie gestern nicht er-
klären, trotz aller Bemühungen während der laufenden
Anhörungen.
Eine wirksame Förderung, Herr Kollege Tauss, wäre
leicht zu erreichen gewesen: Verdoppeln Sie die
steuerliche Abzugsfähigkeit um 10 bzw. 15 Prozent-
punkte auf einheitlich 20 Prozentpunkte, und Sie ge-
winnen nach Meinung fast aller Experten bei 100 Mil-
lionen DM Steuermindereinnahmen private Investitio-
nen für das Gemeinwohl von jährlich etwa 2 Milliar-
den DM.
Meine Damen und Herren von der Koalition, es wird
Sie nicht überraschen, daß ich den Antrag meiner
Fraktion für deutlich besser halte als das, was Sie hier
vorgelegt haben. Die gestrige Anhörung im Bundes-
tagsausschuß für Kultur und Medien muß Ihnen doch,
soweit Sie anwesend waren, in den Ohren geklungen
haben.
Der Antrag der Union wurde allseits gelobt und als
Fundgrube der erforderlichen Reformmaßnahmen be-
zeichnet.
Sie wären gut beraten, sich uns anzuschließen.
Eigentlich liegen die Anträge der CDU/CSU, der F.D.P.
und des Bündnisses 90/Die Grünen aus der letzten Le-
gislaturperiode nicht weit auseinander. Allerdings weiß
ich nicht, ob man auf den Antrag der Grünen noch ver-
weisen darf. Vielleicht ist er ja auf Grund der Koali-
tionsdisziplin, Frau Kollegin Vollmer, nicht mehr zitier-
fähig.
Dies bäte ich dann zu entschuldigen. Gegen diese An-
träge jedenfalls fällt der heutige Koalitionsentwurf deut-
lich ab.
Ziel meiner Fraktion ist ein einfaches, übersichtli-
ches, bürgerfreundliches und zugleich gemeinwohl-
orientiertes Stiftungsrecht, um so die Bürger zu pri-
vatem Engagement zu bewegen. Letztlich geht es um die
Förderung des Gemeinwohls.
Zur Zeit sind die rechtlichen Bestimmungen unüber-
schaubar. In Deutschland gibt es 10 Normen des Bun-
desrechts und 478 Gesetzesnormen des Landesrechts.
Hinzu kommen zahlreiche Verordnungen und Verwal-
tungsvorschriften. In vielen Bundesländern wird die
Gründung einer Stiftung darüber hinaus mehr behindert
als gefördert. So hängt die Dauer des Genehmigungsver-
fahrens davon ab, in welchem Bundesland man das Ver-
fahren einleitet. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel
dauert ein Verfahren durchschnittlich zehn Monate.
Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern werden
von Stiftern aus gutem Grund gemieden.
So hat der Stifterverband für die Deutsche Wissen-
schaft auf der gestrigen Anhörung des Bundestagsaus-
schusses für Kultur und Medien zu Recht Kritik an der
jetzigen Gesetzeslage geübt. Wörtlich heißt es in der
Stellungnahme:
Das nach Ländern aufgesplittete Stiftungsrecht hat
trotz einheitlicher Vorgaben des BGB zu einer un-
terschiedlichen und zum Teil restriktiven Anwen-
dungspraxis geführt, so daß viele Vorhaben bereits
vor der Genehmigung scheitern, weil potentielle
Stifter den Eindruck gewinnen mußten, daß ihre
Stiftungen in ein Korsett staatlicher Reglementie-
rungen gezwungen werden.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die rechtlichen
Unzulänglichkeiten machen deutlich: Ein bundesein-
heitliches, stiftungsfreundliches Stiftungsrecht ist – zu-
mindest als gesetzlicher Rahmen – dringend notwendig.
Transparenz, Deregulierung und – soweit möglich –
auch Elemente der Selbstverwaltung sind die Schlüssel-
begriffe für ein neues Stiftungsrecht, um Aufgaben und
Leistungen der Stiftungen verstärkt im öffentlichen Be-
wußtsein zu verankern. Letztlich geht es um die Stär-
kung des demokratischen Bewußtseins und der moder-
nen Bürgergesellschaft.
Dazu gehört auch das Recht auf Stiftung. Wenn alle
formalen Erfordernisse erfüllt sind, muß eine Eintragung
erfolgen. Zusätzliche Hürden wie zum Beispiel eine be-
hördliche Beurteilung der Ziele oder der Überlebensfä-
higkeit einer Stiftung, dürfen nicht aufgebaut werden.
Zu einem stiftungsfreundlichen Klima gehört auch
ein Umdenken bei Aufsichtsbehörden und Finanzäm-
tern. Potentielle Stifter dürfen nicht länger wie Bittstel-
ler behandelt werden. Vielmehr müssen sie beraten und
Norbert Hauser
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7299
(C)
(D)
unterstützt werden; denn sie wollen etwas für die Ge-
sellschaft leisten.
Ein Letztes: Geldverkehr kennt kaum noch Grenzen;
Vermögensmassen vagabundieren. Vermögen läßt sich
dort nieder, wo es die besten Voraussetzungen vorfindet.
Bei der Errichtung von Stiftungen wird deshalb in Zu-
kunft immer mehr – ebenso wie bei der Errichtung von
Unternehmen – verglichen werden, welche Errichtungs-
voraussetzungen anzutreffen sind. Die Bundesrepublik
steht im europäischen und sogar weltweiten Wettbewerb
um Stiftungsvermögen. Es stellt sich auch hier die Frage
nach dem Standort Deutschland.
Will man also große Vermögensmassen akquirieren,
so bedarf es eines konkurrenzfähigen Stiftungsrechts.
Lassen Sie uns das kommende Jahr nutzen, um dieses
gemeinsam zu erarbeiten. Stiftungen und Stifter sowie
alle, die zukünftig von deren Engagement profitieren
können, werden es danken.
Vielen Dank.
Das
Wort hat jetzt Frau Kollegin Dr. Antje Vollmer vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Lieber Herr Hauser, es freut mich sehr,
wie Sie versucht haben, mit unseren Ochsen zu pflügen.
Aber was Sie noch nicht haben, ist ein Gefühl dafür,
wann die Ernte wirklich im Stall gelandet ist. Genau das
ist nämlich mit unserem Gesetzentwurf der Fall.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, entgegen der lan-
desüblichen Meinung ist Glück ein sehr seltener Faktor
im Leben eines Parlamentariers. Um so mehr kann ich
Ihnen sagen, daß ich richtig froh bin, daß wir diesen er-
sten Schritt zur Reform des Stiftungsrechts heute ge-
macht haben.
Es ist mehr als fünf Jahre her, daß wir – ich möchte
ein bißchen in die Geschichte schauen – bei den Bünd-
nisgrünen die erste Anhörung zu diesem Thema gemacht
haben. Damals war das Bild der Stifter und der Stiftun-
gen in der deutschen Öffentlichkeit noch sehr unklar und
undeutlich. Viele haben gemeint, ein Stifter kommt aus
einer Familie, die seit mindestens 500 Jahren existiert
und die ein unglaubliches Geldvermögen hat.
Auch war es so, daß es viele Stifter und Mäzene kei-
neswegs einfach hatten, sich vor Ort in ihren Kommu-
nen zu engagieren, weil viele von ihnen oft peinlichste
Debatten zu führen hatten, wenn sie etwas für das Ge-
meinwesen tun wollten. Wenn ich mir nun diese Aus-
gangsposition anschaue, dann finde ich, daß wir heute
einen Riesenschritt zur Bürgergesellschaft vorange-
kommen sind.
Vor zwei Jahren haben wir den von Ihnen so viel ko-
pierten und zitierten ersten Gesetzentwurf eingebracht.
Herr Hauser, es ist tatsächlich so, daß Sie in der Substanz,
in den Essentials, zu dem, was wir heute zum Thema
Steuerrecht vorstellen, nur einen einzigen Unterschied
finden werden, nämlich statt der 50 000 die 40 000 DM.
Ansonsten haben Sie im Steuerrecht alles drin.
Das ist einer der Gründe, warum ich dem Koalitions-
partner für dieses große Entgegenkommen und diese
große Übereinkunft wirklich dankbar bin. Wir haben uns
nämlich in der Sache geeinigt.
Wir machen den ersten Schritt, dem ein zweiter fol-
gen wird. Ich zitiere aus dem Gesetzentwurf:
Mit seinen Vorschlägen versteht sich der Gesetz-
entwurf als Grundstein einer umfassenden Verbes-
serung der Rahmenbedingungen für die Arbeit ge-
meinnütziger Stiftungen ...
Das heißt, das ist ein Versprechen, daß auch der zivil-
rechtliche Teil noch folgen wird.
Jetzt kann man natürlich darüber diskutieren, ob die
Reihenfolge richtig war. Ich behaupte, dies war der
schwierigste Schritt. Dies beweist die Geschichte der Re-
gierung Kohl/Waigel, die nämlich 16 Jahre lang versucht
hat, diesen Schritt gegenüber dem Finanzministerium
durchzusetzen und es nicht geschafft hat. Wir konnten nur
den Zug nehmen, der möglich war. Das war genau im Zu-
sammenhang mit der Steuerreform zu regeln. Daß das an-
gesichts eines Sparhaushaltes schwierig war, kann sich
jeder in diesem Lande sehr wohl vorstellen. Das ist unser
Erfolg.
Im übrigen ist auch die Reihenfolge von höchster
Stelle abgesegnet gewesen. In seinen Stellungnahmen
hat der Bundesverband Deutscher Stiftungen damals
bei unserer Anhörung und auch in bezug auf den ersten
Gesetzentwurf gesagt, es bedürfe nur steuerrechtlicher
Verbesserungen und keiner zivilrechtlichen. Ich freue
mich, daß auch der Bundesverband Deutscher Stiftungen
heute anderer Meinung ist. Damit haben wir ihn mit im
Boot. Genau diesen Rückenwind können wir gebrau-
chen. Aber wir haben diesen hochqualifizierten Sach-
verstandsrat genau befolgt und mit dem steuerrecht-
lichen Teil angefangen.
Norbert Hauser
7300 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Was machen wir? Wir schaffen einen zusätzlichen
Sonderabzug – Herr Hauser, hören Sie bitte zu; Sie
können uns beim Wort nehmen – für Stiftungen und Zu-
stiftungen in Höhe von 40 000 DM von der Einkom-
mensteuer. Wir schaffen ihn für alle Zwecke der Abga-
benordnung bis auf ganz wenige exotische Ausnahmen.
Das heißt, für soziale, kulturelle, ökologische und ent-
wicklungspolitische Ziele und die neuen Sozialkulturen
gibt es jetzt diese neue Möglichkeit. Wir schaffen also
die Hierarchie bei den guten Zwecken ab. Dies gilt
ebenso für Erbschaften und Schenkungen.
Wir verbessern die Rücklagenbildung, damit die
Stiftungen ihren Kapitalstock nicht aufzehren müssen.
Wir erweitern – das ist übrigens auch ein Erfolg – das
Buchwertprivileg, so daß Künstler, die zum Beispiel
ihre Werke an eine Stiftung geben wollen, diese nicht
mehr teuer versteuern müssen.
Ich sagte: Wir haben weitere Pläne. Wir wollen und
werden auch das Zivilrecht im Sinne der Stiftungs-
freundlichkeit und der Entwicklung einer Bürgergesell-
schaft verändern. Wir wollen das Recht auf Stiftungen.
Wir wollen ein Stiftungsregister als eine Art Gütesiegel
für wirkliche Gemeinnützigkeit. Wir wollen, daß die
Stiftungen ihre Bilanzen offenlegen, damit sie gerade
damit für das Gute, das sie tun, in dieser Gesellschaft
werben. Wir wollen einen möglichen Mißbrauch von
Stiftungen zu rein wirtschaftlichen Zwecken erheblich
erschweren. Diesen gibt es besonders bei den Doppel-
stiftungen. Genau darüber müssen wir noch sehr intensiv
reden.
Das Ganze beruht auf der Philosophie, daß bisher die
Bürgergesellschaft vom Staat ständig unterfordert wor-
den ist und daß damit der Staat die Bürger hinsichtlich
ihrer kreativen Möglichkeiten einfach unterschätzt hat.
Das wollen wir beenden. Ich glaube, das kann man auch
beenden, denn wir sind heute in genau dieser Etappe der
Entwicklung der Bundesrepublik angekommen. Wir
brauchen insbesondere für die neuen Länder diesen Bür-
gergeist und diesen Bürgerelan, um dort viel Wichtiges
zu tun.
Ich glaube, daß genau dies die Auflösung des Re-
formstaus – und zwar von unten, nicht durch Beglük-
kung von oben – bedeutet und daß wir so den Bürger
nicht nur als Unternehmer oder als Konsumenten von
staatlichen Leistungen, sondern auch als Sinnstifter und
potentiellen Reformer entdecken. Auf den setzen wir.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir hatten um
die Jahrhundertwende in Deutschland etwa 100 000
Stiftungen. Nicht zu vergessen ist – bei jedem Thema
stoßen wir auf diesen Verlust –, daß viele jüdische Bür-
ger mit Stiftungen ihre Zugehörigkeit zu dieser Gesell-
schaft und ihre Emanzipation ausgedrückt haben.
Wir appellieren jetzt wieder für diese Kultur. Ich wä-
re sehr froh, wenn wir statt der 8 000 Stiftungen, die es
im Moment bei uns gibt, in den nächsten fünf Jahren
vielleicht mit Hilfe unserer Gesetze auf 50 000 Stiftun-
gen kämen. Das würde einen ziemlichen Stiftungsfrüh-
ling bedeuten. Diesen möchte ich hier heute auch ausru-
fen.
– hier Winteranfang, aber Frühlingsanfang in der Stif-
tung.
Ich möchte mich auch bedanken. In diesem Fall
möchte ich nicht mit dem Dank bei den Beamten anfan-
gen. Zu den Beamten ist zu sagen, daß sie es uns leidlich
schwergemacht haben, wie es ihre Aufgabe als Finanz-
beamte ist. Wir setzen aber darauf, daß sie das, was wir
hier schaffen, loyal umsetzen werden. Diese Initiative
kam wirklich aus der Tiefe des parlamentarischen Rau-
mes, von den Fraktionen.
Meinem lieben Kollegen Ludwig Stiegler möchte ich
ganz besonders danken. Viele haben gesagt: Gerade mit
den Sozialdemokraten wird es schwer sein. Ich aber
kann sagen: Gerade mit den Sozialdemokraten war das
Arbeiten sehr gründlich, sehr zuverlässig. Ich bin dar-
über richtig froh.
Ich danke auch Staatsminister Naumann dafür, daß er
das immer sehr nobel erwähnt hat.
Aber ich möchte in diesem Fall zwei anderen Leuten
danken, was in der Regel nicht üblich ist, nämlich ein-
mal einem sehr klugen Berater, der mir während der
ganzen Zeit, in der ich an dem Gesetzentwurf gearbeitet
habe, sehr geholfen hat. Das ist Herr Dr. Rawert, der mir
nicht nur das Stiftungsrecht wirklich klargemacht, son-
dern auch die Grundzüge der Juristerei beigebracht hat.
– Herr Otto, wir zwei messen uns im Stiftungsrecht, und
da gewinne ich jederzeit.
Ich möchte noch jemandem danken, nämlich meinem
Mitarbeiter Felix Ensslin, der dieses Gesetz mit unge-
heurem Einsatz begleitet hat und an dessen Wiege nicht
gesungen war, daß er einmal an diesem Meilenstein für
die Bürgergesellschaft mitarbeiten würde.
Dr. Antje Vollmer
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7301
(C)
(D)
Also: Wir appellieren an die Bürgergesellschaft, an ih-
re Kraft und Kreativität. Wir stellen fest: Der „Dritte
Sektor“ – das war früher nur ein technischer Begriff – be-
ginnt, allmählich Gestalt anzunehmen. Wir versprechen
auch, daß wir an diesem Kernpunkt bürgerlichen Selbst-
bewußtseins und bürgerlicher Mitverantwortung weiter-
machen, nämlich mit drei Schritten: Wir gehen jetzt an
das Stiftungsrecht heran; das ist der erste Schritt. Man
muß erst an die Vermögenderen in diesem Land appellie-
ren, um den zweiten Schritt tun zu können, nämlich an je-
den Bürger zu appellieren, daß er stiftet, was er kann, zum
Beispiel seine Zeit für das Gemeinwesen.
Mit der Einrichtung der Enquete-Kommission zum Eh-
renamt und zu den Freiwilligendiensten sind wir auch
hier auf dem richtigen Weg.
Wenn es dann diese veränderte Praxis gibt, dann
wünschte ich mir, daß wir in dieser modernen Gesell-
schaft alle gemeinsam neu definieren – das wäre der dritte
Schritt –, was wir eigentlich unter „Gemeinnützigkeit“
verstehen. Dafür aber bedarf es der Erfahrungen aus der
Praxis, aus dem Stiftungsrecht, aus den neuen freiwilligen
Tätigkeiten. Damit haben wir nun angefangen.
Ich hoffe, daß sich das alles sehr gut entwickelt und
danke Ihnen für das Zuhören.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Hans-Joachim
Otto von der F.D.P.-Fraktion.
Liebe
Frau Kollegin Dr. Vollmer, wenn Sie bei Außentempe-
raturen von minus einem Grad den Frühling ausrufen
und so richtig froh sind, dann möchten wir nicht hintan-
stehen. Wir bestätigen Ihnen gerne: Sie kreißten, Sie
sind niedergekommen, Sie haben ein Mäuschen gebo-
ren,
genauer gesagt einen Mäusetorso: steuerrechtlich eine
Maus und ein Torso deshalb, weil der gesamte Zivil-
rechtsteil fehlt.
Meine Damen und Herren, Spaß beiseite: Das Fehlen
des Zivilrechtsteils ist ein wirklich schwerer Nachteil,
wie Ihnen gestern – ich war bei derselben Anhörung wie
Sie – alle Experten bestätigt haben. Es wäre viel gewon-
nen, wenn die verehrten Rednerinnen und Redner der
Koalition nicht nur Ankündigungen machten, sondern
endlich einmal einen präzisen Zeitplan für den zweiten
Teil ihrer Reform mitteilen würden. In Ihrem Gesetz-
entwurf heißt es nämlich – ich darf zitieren –:
Über die Verbesserung der zivilrechtlichen Rah-
menbedingungen für die Errichtung einer Stiftung
wird gesondert zu entscheiden sein.
Nachtigall, ick hör‘ dir trapsen. – Ein bißchen konkreter
dürfte es ja schon sein.
Unser größter Einwand gegen Ihr Reförmchen ist,
daß kein kraftvolles Aufbruchsignal gesetzt wird, und
vor allem, daß die Notwendigkeit weiterer Reform-
schritte vernebelt werden könnte. Ihr Reförmchen ist
– das will ich ohne weiteres zugestehen – ein Signal an
die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen. Aber
mit der Möglichkeit, zusätzlich Sonderausgaben bis in
Höhe von 40 000 DM abziehen zu können, werden Sie
Reiche nicht hinter dem Ofen hervorlocken können.
Wenn Herr Dr. Naumann sagt – wie eben –, wir
brauchten reiche Mäzene, dann entgegne ich nur: Mit
diesem Gesetz wird das nicht laufen.
Im Gegenteil – jetzt, Frau Dr. Vollmer, bitte ich um
Ihr geschätztes Ohr –, die Bedingungen für Großspen-
den haben Sie jüngst verschlechtert, indem Sie den steu-
erlichen Rücktrag ausschließen wollen. Sie haben das
hier beschlossen. Dies ist meines Erachtens ein Signal in
die falsche Richtung.
Mal unter uns Sozialdemokraten, lieber Herr Stiegler:
Ein Beitrag zur Umverteilung von oben nach unten ist
dieses Gesetz nicht. Es war doch Gerhard Schröder, der
erst kürzlich das neue Steuerrecht als Alternative zur
Vermögensabgabe gepriesen hat. Das wird nicht laufen.
Die Reichen werden um Ihren Gesetzentwurf einen gro-
ßen Bogen machen. Wenn Sie, lieber Herr Stiegler, den
Wunsch von Gerhard Schröder, die Reichen besser an-
zapfen zu können, unterstützen wollen, dann müssen Sie
schon dem Gesetzentwurf der F.D.P. zustimmen.
Insbesondere sollten Sie dann die Abzugsfähigkeit von
Spenden auf 20 Prozent anheben. Dann erreichen Sie
das, was Gerhard Schröder haben wollte: eine Umver-
teilung von oben nach unten.
– Der Frau Kollegin Dr. Vollmer erteile ich immer – –
Herr
Kollege Otto, das Wort erteilt der amtierende Präsident
und nicht der Redner, aber wenn Sie genehmigen, daß
Frau Vollmer eine Zwischenfrage stellen kann, –
Ich ge-
nehmige das, ja.
– dann
haben Sie das Wort, Frau Vollmer. Bitte schön.
Ich danke beiden, daß Sie mich reden lassen.
Dr. Antje Vollmer
7302 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Herr Kollege Otto, ist Ihnen bekannt, daß die wirklich
großen Vermögen, die in die Stiftungen eingehen, in der
Regel nicht über die jährliche Einkommensteuer des Be-
sitzers, sondern über die Erbschaften oder über die
Schenkungen kommen?
Ja, Frau
Kollegin, das ist mir bestens bekannt. Wir alle waren
uns einig, insbesondere auch gestern bei der Anhörung,
daß es in erster Linie um das psychologische Signal
geht.
Wenn Sie – alle Ihre Redner – hier erklären, es gehe
hier um die Bürgergesellschaft von unten, dann sage ich:
Sie müssen sich irgendwann auch einmal bereit erklären,
ein Signal von oben zu setzen.
Es war Gerhard Schröder, der ausdrücklich gesagt
hat: Die Alternative zur Vermögensabgabe ist ein neues
Stiftungsrecht. Dann sollten Sie nicht nur das Signal von
unten erwarten, das ich mittrage, Frau Dr. Vollmer,
sondern dann sollten Sie auch ein Signal von oben set-
zen. Dieses Zeichen setzen Sie, indem Sie die 20 Pro-
zent Abzugsfähigkeit vorsehen würden.
Meine Damen und Herren, es ist ja nahezu weih-
nachtliche Stimmung, und bei Frau Dr. Vollmer ist es
schon Frühling. Deswegen will ich hier einmal ganz
realistisch sagen:
– Genau. Herr Stiegler, jetzt müssen Sie mir einfach
einmal zuhören. – Da ich ahne, daß Sie beim sozialde-
mokratischen Finanzminister Eichel in den nächsten
Wochen nicht durchsetzen können, was auch wir beim
christsozialen Finanzminister Waigel nicht durchsetzen
konnten, mache ich Ihnen einen Vorschlag.
Damit wir bei diesen Dingen ein wenig vorwärts kom-
men – es liegt mir daran, daß dieses Thema ein wenig
nach vorn kommt –, mache ich Ihnen zwei ganz kleine,
realistische, präzise Vorschläge, die kein Geld kosten,
aber viel bringen.
Das erste haben Sie, glaube ich, bei Ihrem Gesetz-
entwurf übersehen; hätten Sie bei der F.D.P. abgeschrie-
ben, dann wäre es drin.
Es geht um das Zulassen von sogenannten Endow-
ments, das heißt also das Recht, daß auch Stiftungen
stiften können. Wir haben momentan die perverse
Situation, daß jeder in Deutschland stiften kann, nur
Stiftungen dürfen nicht stiften. Wenn wir das ändern
würden, wäre viel geholfen, insbesondere für die Bür-
gerstiftungen, die Sie haben möchten.
Auch bei der Umsetzung des zweiten Vorschlages
rechne ich auf Ihre Mithilfe, Frau Dr. Vollmer. Wir soll-
ten die Gefährdungshaftung beseitigen, der die Ehren-
amtlichen gemäß § 10 b des Einkommensteuergesetzes
unterliegen. Eine solche Gefährdungshaftung, also eine
Haftung ohne Rücksicht auf Verschulden, ist ohne Vor-
bild im Steuerrecht. Ob Spenden zum Teil zweckwidrig
verwendet werden, stellt sich häufig erst Jahre nach ihrer
Verwendung heraus. Ehrenamtliche Stiftungsvorstände
können solche komplizierten Steuerfragen oft nicht be-
antworten. Deswegen: Wer das Ehrenamt fördern möchte
– wir wollen das gemeinsam tun –, der darf Ehrenamt-
liche nicht einer verschuldensunabhängigen Haftung aus-
setzen. Ich denke, daß das auch ein Thema ist, dem sich
die Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaft-
lichen Engagements“ zuwenden sollte.
Ich komme zu einer Zusammenfassung. Auch wenn
wir Ihr Reförmchen – es ist wirklich ein Mäuschen –
nicht für ausreichend halten,
– ja, Frau Dr. Leonhard – tragen wir die Schritte, die Sie
vorschlagen, mit. Die Schritte als solche sind richtig, sie
sind aber nicht ausreichend. Deswegen werden wir es
nicht zulassen, wenn Sie versuchen sollten – heute tun
Sie es schon etwas –, sich auf nicht vorhandenen Lor-
beeren auszuruhen.
Der große Wurf – darüber sollten wir uns im klaren sein
– steht noch aus. Ohne diesen großen Wurf wird es in
Deutschland nicht zum Aufbruch in eine neue Stif-
tungskultur kommen.
Die Aufgabe also ist es – da sehe ich jetzt insbeson-
dere die Kulturpolitiker aller Fraktionen an –, Druck im
Kessel zu lassen,
sich nicht zufrieden zurückzulehnen.
Frau Dr. Vollmer, um Ihrem Herzenswunsch für
Weihnachten Rechnung zu tragen: Wir werden dafür
sorgen – ich hoffe, gemeinsam mit Ihnen –, daß wir
weiterhin diesen Druck auf dem Kessel lassen. Wir wer-
den weiterhin Druck machen; wir werden weiterhin für
eine umfassende Stiftungsreform kämpfen, aber auch
darum, daß bald der zivilrechtliche Teil kommt. Ich hof-
fe, Sie helfen dabei mit.
– Ich erlaube die Zwischenfrage.
Dr. Antje Vollmer
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7303
(C)
(D)
Bitte,
Herr Müller.
Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Herr Kollege, dürfen wir Ihre Unterstüt-
zung, die Sie ja gerade groß angekündigt haben, so in-
terpretieren, daß Sie sowohl zum steuerrechtlichen Teil
als auch zum angekündigten zivilrechtlichen Teil garan-
tieren werden, daß alle Landesregierungen mit liberaler
Beteiligung im Bundesrat zustimmen werden?
Herr
Müller, ich bedanke mich ausdrücklich für Ihre Frage;
denn dann kann ich noch wenigstens einen Gedanken
loswerden, den ich aus zeitlichen Gründen gerade nicht
erwähnen konnte. Die Zurückstellung des zivilrechtli-
chen Teils ist von Ihren Kolleginnen und Kollegen im-
mer damit begründet worden, daß die Länder nicht mit-
machen würden. Mir ist gerade gestern ein wunderschö-
ner Gesetzentwurf mit einem Teil über eine komplette
zivilrechtliche Reform des Landes Hessen auf den Tisch
gekommen. Ich werde dafür sorgen, Herr Kollege Mül-
ler, daß die hessische Landesregierung unter Beteiligung
der Ministerin Ruth Wagner weiterhin ihrem Kurs treu
bleibt und auch im zivilrechtlichen Teil eine Stiftungs-
rechtsreform auf den Weg bringt. Jawohl, Herr Kollege
Müller, ich war erfolgreich in Hessen. Ich habe mit dazu
beigetragen, daß es eine Stiftungsrechtsreform auch im
zivilrechtlichen Teil gibt. Ich verspreche Ihnen: Hessen
wird auch weiterhin Kurs halten. Wenn Sie freundli-
cherweise an die Regierungen, an denen Ihre Kollegen
noch beteiligt sind, appellieren, gleich gute Arbeit zu
leisten, dann werden wir irgendwann einmal einen
wirklichen Stiftungsfrühling erleben, unabhängig davon,
ob die Temperaturen draußen bei minus 1 Grad liegen.
Daran liegt mir sehr.
Vielen Dank.
Bevor
ich den nächsten Redner aufrufe, darf ich ankündigen
– das ist Ihnen wahrscheinlich recht –, daß die Reden zu
allen Tagesordnungspunkten ab einschließlich dem
12. Tagesordnungspunkt zu Protokoll gegeben werden.
Wir haben jetzt ungefähr noch eine Stunde für die
Debatte. Ich sage das, damit Sie sich darauf einstellen
können.
Zunächst gebe ich das Wort dem Kollegen Dieter
Grasedieck von der Sozialdemokratischen Partei.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Während der gestri-
gen Anhörung haben fast alle Experten unseren Gesetz-
entwurf als den richtigen Weg begrüßt.
Daß Sie, Herr Hauser, jetzt von einer Enttäuschung und
von einem mageren Ergebnis sprechen, überrascht
schon, wenn man an der Anhörung teilgenommen hat.
Der eine oder andere spricht von einem kleinen Schritt.
Herr Otto sagt, dies sei ein Mäuschen. Dazu kann ich
nur feststellen: Ihre vorherige Strategie war zielgerichtet
ergebnislos.
Haben Sie doch einfach mehr Mut! Positives Denken ist
angesagt.
Herr Hauser, Sie sollten sich die Gesetzesvorlage
einmal genau ansehen. In § 10 b Abs. 1 EStG ist aufge-
führt, daß Sonderausgaben bis zur Höhe von 40 000 DM
abziehbar sind. Das bedeutet, daß Sonderausgaben in
Höhe von 40 000 DM plus 5 Prozent bzw. maximal
10 Prozent der gesamten Einkünfte abziehbar sind. Die
steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten werden durch
unser Gesetz wesentlich ausgedehnt. Das war unser Ziel.
Wir wollten die Wünsche und Bedürfnisse der Men-
schen fördern und die Vielfalt der Stiftungen vergrö-
ßern. Wir wollten Stiftungen im sportlichen, kulturellen,
sozialen und kirchlichen Bereich genauso fördern wie
Forschungseinrichtungen. Unser Stiftungsrecht soll an-
stiften zum Stiften. Die Stifterinnen und Stifter wollen
kranken und behinderten Menschen helfen. Sie wollen
unterstützen. Arbeitslose Jugendliche werden mit be-
rücksichtigt. Sie sehen die Einzelschicksale der vielen
Menschen. Sie waren teilweise selber oder in der Fami-
lien betroffen. Auch deshalb wollen sie fördern. Weil
behinderte Mensch genauso wie die vielen kulturellen
Organisationen unterstützt werden und Vorteile haben
möchten, treten die Diskussionen über mögliche Steuer-
ausfälle natürlich auch für uns in den Hintergrund. Die
Gesellschaft profitiert in jedem Falle, natürlich auch fi-
nanziell. Wir sparen Steuern, weil wichtige soziale und
ökologische Aufgaben von den Stiftungen übernommen
werden.
Schon heute werden Stiftungen zur Unterstützung
von behinderten Menschen, von Wissenschaft und For-
schung sowie der Ökologie gegründet. Sie, Herr Otto,
müßten eigentlich von folgendem überrascht sein: Viele
50- bis 70jährige Menschen starten eine Stiftung mit
40 000 bis 150 000 DM. Die fördern wir natürlich. Erst
nach dem Tode werden Häuser und Grundstücke ver-
erbt. „Ich stifte“, so sagte mir eine Stifterin, „weil ich
bestimme, was mit meinem Geld geschieht.“ – Nicht der
Staat, sondern der Bürger bestimmt. Wir wollen durch
unser Gesetz auch die Atmosphäre, die Motivation für
Stiftungen fördern.
Wir haben in Deutschland insgesamt 8 000 Stiftun-
gen. Allein in meinem Wahlkreis, in Bottrop und in
Gladbeck, gibt es zehn Stiftungen, von denen sechs ge-
nau nach diesem Modell gegründet worden sind. Sie
sind zuerst mit 40 000 oder 50 000 DM – eine mit
7304 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
100 000 DM – gegründet worden. Und es entwickelte
sich im Laufe der Jahre. Das Ziel unserer Stiftung lautet:
Die Stadtstiftung muß weiter gefördert werden.
Bedürftige sind gefördert worden, und Forschungen sind
durchgeführt worden. Die nötigen gesellschaftlichen
Aufgaben werden durch diese Stiftung sinnvoll ergänzt.
Im Laufe der Zeit sind Vermögensberge entstanden,
und sie dehnen sich aus. Das muß ausgenutzt werden.
Im Laufe der kommenden Jahre liegt eine Erbschafts-
welle an. Auch das muß ausgenutzt werden. Das ist ein
Nährboden für unsere Stiftungen. Alleine in Bottrop –
einer Stadt mit 120 000 Einwohnern – werden in den
kommenden Jahren 300 Millionen DM pro Jahr vererbt.
Das ist günstig für unsere Stiftung, und genau da haben
wir versucht anzusetzen.
Unsere Gesellschaft lebt vom Engagement – Frau Vi-
zepräsidentin hat schon vorhin darauf hingewiesen –,
vom Ehrenamt und auch von den Stiftungen. Bürgerin-
nen und Bürger kennen die Sorgen, die Nöte der Men-
schen und fördern sie wirklich zielgerichtet. Diese Be-
dürfnisse und Wünsche berücksichtigt unser Stiftungs-
recht:
Erstens. Viele Stiftungen starten – das habe ich vor-
hin erwähnt – mit einem Kapital von 40 000 DM bis
100 000 DM. Das berücksichtigt unser Stiftungsrecht.
Zweitens. Die Stiftungen brauchen Investitions-
kosten. Das ist bei Forschungsstiftungen und bei Kultur-
stiftungen der Fall. Auch das ist berücksichtigt worden,
meine Damen und Herren von der Opposition. Wir sind
hinsichtlich der Thesaurierung von 25 Prozent auf
33 1/3 Prozent hochgegangen.
Drittens. Man muß berücksichtigen: Künftig werden
nahezu alle Stifter von der Erbschaftsteuer befreit. Lesen
Sie einmal nach!
Wir können zusammenfassend feststellen: Durch un-
seren Gesetzentwurf wird das Ziel „Anstiften zum Stif-
ten“ erreicht. Anerkennung von der Opposition wäre ge-
rade zu Weihnachten angesagt.
Ich will
zu meiner vorherigen Mitteilung noch ergänzend sagen,
daß wir nach dem Tagesordnungspunkt 11 die notwen-
digen Überweisungen und Abstimmungen zu den dann
folgenden Tagesordnungspunkten in einem Zug absol-
vieren müssen, bevor Sie nach Hause entlassen sind.
Als nächsten Redner rufe ich den Kollegen Dr. Hein-
rich Fink von der PDS-Fraktion auf.
Sehr geehrter Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will mich
weder auf die Meteorologie noch die Mythologie einlas-
sen; vielmehr möchte ich auf die notwendigen Voraus-
setzungen dessen, was uns hier beschäftigt, eingehen.
Vor 14 Tagen habe ich hier spontan erklärt, daß sich
die PDS im Boot derer sieht, die sich für eine neue
transparente Stiftungskultur in Deutschland einsetzen.
Ich habe mit dem vorliegenden Gesetzentwurf allerdings
das Gefühl, daß die Einbringer mich und andere wieder
über Bord werfen wollen. Damit ist nicht bestritten, daß
die Reform des bisherigen Stiftungswesens begonnen
worden ist. Aber es bestand doch zwischen den mit der
Problematik Befaßten ein weitgehendes Einvernehmen
darüber, daß eine Reform des Stiftungswesens – wenn
sie ihren Zweck erfüllen soll – unbedingt eine Reihe von
Neuregelungen im zivilrechtlichen Bereich einschließen
muß. Die gestrige Anhörung hat das noch einmal deut-
lich gemacht. Diesen Standpunkt haben auch die Ver-
treter der Koalitionsfraktionen geteilt, die sich um diese
Reform bemüht haben. Die Dokumente, in denen das
nachzulesen ist, sind bekannt. An ihnen gemessen bleibt
der vorgelegte Gesetzentwurf weit hinter den ursprüng-
lichen Intentionen der Einbringer zurück.
Für die PDS war die Verknüpfung von weiteren steu-
erlichen Anreizen für Stifter und Stiftungen mit entspre-
chenden neuen stiftungsrechtlichen Rahmenbedingun-
gen eine entscheidende Voraussetzung dafür, daß sie
sich mit Interesse und Neugier an den Bemühungen um
eine neue Stiftungskultur beteiligt hat. Ich möchte an ein
paar Punkten verdeutlichen, warum uns diese Verbesse-
rung der stiftungsrechtlichen Rahmenbedingungen so
wichtig ist.
Erstens. Mit der Proklamation eines Rechts auf Stif-
tung, wie es im vorgeschlagenen förmlichen Übergang
zum Normativsystem angelegt war, wäre in der Gesell-
schaft eine ganz andere Aufmerksamkeit den Stiftungen
gegenüber erreicht worden, als es jetzt durch den doch
recht krämerischen Schritt der Fall sein wird.
Zweitens. Die in der letzten Zeit sich abzeichnende
Verständigung darüber, daß zukünftig der Begriff der
Stiftung allein den eindeutig gemeinnützigen Stiftungen
vorbehalten werden sollte, hätte viel zur Akzeptanz die-
ser Institution in der Bevölkerung beigetragen. Diese
Akzeptanz in der Bevölkerung könnte durchaus auch ein
bedenkenswertes Motiv für den potentiellen und am
Gemeinwohl orientierten Stifter sein.
Drittens. Angesichts des vorliegenden Gesetzent-
wurfs ist heute nicht der Zeitpunkt, um auf die in der
Diskussion befindlichen Vorschläge hinsichtlich der
Modalitäten zur Gründung einer Stiftung und zur Absi-
cherung ihrer Arbeitsweise im einzelnen einzugehen.
Aber soweit diese Vorschläge auf mehr Rechtssicher-
heit, Transparenz und Publizität auf der einen Seite und
weniger Bürokratie auf der anderen Seite zielten, wäre
ihre Umsetzung ebenfalls eine wichtige Voraussetzung
für eine breite Akzeptanz steuerlicher Begünstigungen
für Stiftungen und Stifter.
Viertens. Von besonderer Bedeutung wäre in diesem
Zusammenhang die Verpflichtung der Stiftungen, der
Öffentlichkeit jährlich einen Finanz- und Tätigkeitsbe-
richt vorzulegen. Aus ihm müßten die Einkünfte der
Stiftung und ihre Verwendung klar hervorgehen. Auch
müßte aus ihnen deutlich ablesbar sein, was wir alle
wünschen, aber auch wirklich sicherstellen und transpa-
rent machen müssen: daß nämlich die dem Staat für das
Dieter Grasedieck
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7305
(C)
(D)
Gemeinwohl entzogenen Steuermittel durch die Förde-
rung einer Stiftung mehr als ausgeglichen werden.
Fünftens. Diese Offenlegung der Tätigkeit von Stif-
tungen wäre schließlich auch wichtig, um festzustellen,
auf welchen gemeinnützigen Gebieten sich der erhoffte
Stiftungsboom vorrangig auswirken würde; denn das
müßte ja gegebenenfalls zu Umgruppierungen innerhalb
der öffentlichen Förderung zugunsten der Bereiche füh-
ren, die von den Stiftungen gemieden werden.
Bei dieser Gelegenheit räume ich gern ein, daß die im
Gesetzentwurf vergleichsweise moderat ausgefallenen
steuerlichen Begünstigungen mit ihrem Zuschnitt auf
kleinere Bürgerstiftungen für sich genommen unserem
noch tastenden Vorgehen in Sachen Stiftung durchaus
entgegenkommen.
Mit der absehbaren Verabschiedung des vorliegenden
Gesetzes hat meine Fraktion jedenfalls einen klaren An-
satzpunkt für die weitere Begleitung der Stiftungspro-
blematik gefunden. Sie wird von nun an mit Nachdruck
darauf drängen, daß Transparenz und Publizität des
Stiftungswesens eine gesetzliche Verankerung erhalten.
Wir werden im Kulturausschuß darüber ja noch zu be-
raten haben. Der Prozeß geht voran; das ist schon ein
Fortschritt.
Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Otto Bernhardt von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Der bisherige Verlauf der Debatte
zeigt, daß es in diesem Hause Übereinstimmung darüber
gibt, daß die Bestimmungen für Stiftungen in Deutsch-
land verbessert werden müssen.
Es besteht auch Übereinstimmung darin – das hat die
Debatte gezeigt –, daß Stiftungen und der gesamte ge-
meinnützige Bereich als eigenständiger Sektor neben
Staat und Wirtschaft gestärkt werden müssen. Es besteht
auch Einigkeit darüber, daß wir in bezug auf die Stiftun-
gen im Vergleich zu anderen Ländern einen echten
Nachholbedarf haben. Wir brauchen in diesem Zusam-
menhang nicht nur auf die Vereinigten Staaten zu sehen.
Auch ein Blick nach Frankreich, in die Schweiz oder
nach Großbritannien unterstreicht das.
Die Gründe, warum wir in Deutschland im Vergleich
zu anderen Ländern verhältnismäßig wenige Stiftungen
haben, sind vielfältig. Sicher spielt auch eine Rolle, daß
in Deutschland fast das gesamte Vermögen zweimal
durch die beiden Weltkriege vernichtet wurde. Eine an-
dere Rolle spielen auch die steuerrechtlichen und die zi-
vilrechtlichen Rahmenbedingungen. Insofern ist der An-
satz, die Regelungen in diesem Bereich zu verbessern,
sicher richtig.
Der entscheidende Unterschied zwischen unserem
Vorschlag, über den wir vor 14 Tagen hier im Hause
diskutiert haben, und dem jetzt vorliegenden Gesetzent-
wurf liegt zunächst darin, daß wir das gesamte Stif-
tungsrecht modernisieren wollten, wobei das Steuer-
recht ein Teil sein sollte, während sich Ihr Gesetzent-
wurf, wie es schon die Überschrift sagt, nur auf den
steuerlichen Bereich beschränkt. Dies bedauern wir und
mit uns manche Verbände. Aber ich sage genauso offen
und ehrlich: Es ist besser, den steuerrechtlichen Teil
möglichst bald – vielleicht rückwirkend ab 1. Januar
2000 – zu verändern, als gar nichts zu tun.
Auf der anderen Seite zeigt meine eigene Erfahrung –
ich will dies an einem Beispiel klarmachen –, daß man-
che Probleme eben doch im zivilrechtlichen Bereich lie-
gen. Vor einigen Jahren hat ein heute 89jähriger Hoch-
schullehrer und Verleger in Schleswig-Holstein, der
nicht unvermögend war, den Entschluß gefaßt, sein
Vermögen in eine Stiftung einfließen zu lassen, um da-
mit den wissenschaftlichen Nachwuchs zu fördern. Was
kann es Schöneres geben? Der Gang durch die Behörden
unseres schönen Landes Schleswig-Holstein hat zwei
Jahre gedauert.
Ich habe den Stifter aktiv unterstützt, was ihm geholfen
hat, durchzuhalten. Die Stiftung besteht heute und kann
arbeiten. Ich befürchte aber: Mancher, der die Absicht
hat zu stiften, wird angesichts des Ganges durch das Ge-
nehmigungsverfahren sagen: Nein, danke!
Ich will noch anmerken, daß der hier genannte Professor
Dr. Werner Petersen die Kraft hatte durchzuhalten.
Ich will mich jetzt auf den steuerrechtlichen Teil
konzentrieren, um den es heute im wesentlichen geht.
Natürlich haben Sie gestern bei der Anhörung im Kul-
turausschuß gemerkt – das kann auch gar nicht überra-
schen –, daß die Verbände und die Fachleute mit dem,
was vorgelegt wurde, natürlich nicht zufrieden waren.
Das ist völlig klar. Auf der anderen Seite sage ich, daß
der Gesetzentwurf manche Punkte enthält, in denen wir
übereinstimmen.
– Ich habe an der Anhörung teilgenommen, auch wenn
ich in der dritten Reihe saß.
Dr. Heinrich Fink
7306 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Ein Punkt ist die Verbesserung der Rücklagenbil-
dung. Wir sind uns einig, daß die Rücklagenbildung von
25 Prozent auf ein Drittel erhöht werden soll. Wir müs-
sen aber noch über zwei weitere Punkte nachdenken.
Der eine Punkt ist die Frage der Bezugsgröße. Wir wol-
len gerne dem Wunsch des Stiftungsverbands folgen und
die Einnahmen als Bezugsgröße nehmen. Ein weiterer
Punkt bezüglich der Rücklagenbildung ist die Thesaurie-
rung. Wenn ich mich richtig erinnere, war dieser Punkt
in dem Gesetzentwurf der Grünen vor zwei Jahren ent-
halten.
– Ich würde es begrüßen, wenn er wieder aufgenommen
würde, weil dies ein guter Weg wäre, um die Nachhal-
tigkeit von Stiftungen zu stärken.
Der zweite Punkt beinhaltet die Sonderausgaben.
Natürlich ist es ein Fortschritt, wenn anstatt von zur Zeit
5 bzw. 10 Prozent des steuerlichen Einkommens nur zu-
sätzlich 40 000 DM abziehbar sind. Andere Länder ge-
hen hier aber viel weiter. Die Vereinigten Staaten haben
eine Grenze von 50 Prozent, die aber bei keinem deut-
schen Finanzminister durchzusetzen ist. Vielleicht kann
man aber darüber sprechen, die Grenze von 10 auf
20 Prozent zu erhöhen.
Es gibt einen weiteren Punkt, der mich im Anhö-
rungsverfahren nachdenklich gestimmt hat. Es geht um
die Frage der Interpretation der Gemeinnützigkeit. Es
scheint heute so zu sein, daß man eine Stiftung, die zum
Beispiel die Arbeitslosigkeit bekämpfen will, nicht steu-
erbegünstigt führen kann.
Über diesen Punkt sollten wir diskutieren.
Ich will noch auf einen weiteren Punkt zu sprechen
kommen. Es geht um die Versorgung für die Stifter. Es
geht mir nicht um das eine Drittel, das die Stifter heute
privat erhalten können, natürlich unter voller Steuer-
zahlung. Diese Grenze wird, wie man mir gesagt hat,
kaum ausgenutzt. Wir müßten vielleicht noch einmal
darüber nachdenken, welche Personen einbezogen wer-
den können. Geschwister kann man einbeziehen, den
Lebenspartner und den Urenkel nicht. Darüber müßten
wir noch ein wenig diskutieren.
Ich schließe mich auch der Auffassung des Kollegen
von der F.D.P. bezüglich der beiden Punkte an, die er
hier vorgetragen hat. Es mögen nicht so wichtige Punkte
sein, aber wir sollten darüber nachdenken.
Der erste betrifft den Tatbestand des sogenannten
Zustiftungsverbotes, also daß Stiftungen nicht stiften
dürfen. Wenn sie es dürften, könnten Stiftungen in der
Praxis Anregungen für andere Stiftungen geben und
auch Multiplikatoreneffekte hervorrufen. Wir sollten
über diesen Punkt noch diskutieren.
Ich komme nun zu dem zweiten Punkt.
Herr
Kollege Bernhardt, bevor Sie zum zweiten Punkt kom-
men: Erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Vollmer?
Selbstverständlich.
Frau
Vollmer, bitte.
Lieber Herr Kollege, ich möchte auf den Punkt, über den
Sie gerade gesprochen haben, eingehen, nämlich ob
Stiftungen anderen Stiftungen zustiften können. Auch
wir haben darüber ganz intensiv diskutiert. Diese Mög-
lichkeit scheint für kleine neue Stiftungen, die nicht ge-
nügend Kapital haben, besonders reizvoll zu sein. Sehen
Sie nicht auch die Gefahr, daß hier politischer Einfluß
von anderen Stiftungen ausgeübt, daß die Vielfalt im
Stiftungsbereich eingeschränkt wird und einige sehr
große und potente operative Stiftungen damit übergroße
Einflußmöglichkeiten bekommen? Dieses Instrument ist
jedenfalls zweifelhaft.
Frau Kollegin Voll-
mer, ich sehe zunächst einmal die Chancen, die darin
liegen. Das schließt nicht aus, daß es auch solche Risi-
ken gibt, wie Sie sie aufgezeigt haben. Die Frage ist, ob
man hier vielleicht über Begrenzungen zu einer Lösung
kommen könnte. Jedenfalls sollten wir über diesen
Punkt, der offensichtlich auch ein wichtiger Punkt für
die Stiftungsverbände ist, in den Ausschußberatungen
noch einmal diskutieren.
Ich greife gerne den zweiten Punkt des Kollegen Otto
von der F.D.P. auf: Wir sind dafür, daß Stiftungen von
ehrenamtlichem Engagement geprägt sind. Viele
Ehrenamtler wissen aber gar nicht, daß hier eine Ge-
fährdungshaftung besteht, sie also unabhängig von der
Frage, ob sie vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt
haben, haften. Wir müßten deshalb auch über diesen
Aspekt, der auch in der Stellungnahme einiger Verbände
enthalten ist, noch einmal diskutieren.
Wir sollten an dieser Stelle dem Bundesverband
deutscher Stiftungen ein besonderes Dankeschön sagen,
der im Einvernehmen mit fast allen wichtigen Verbän-
den aus diesem Bereich umfangreiche Vorschläge zur
Verbesserung und Vereinfachung steuerrechtlicher
Vorschriften zur Förderung steuerbegünstigter Stiftun-
gen vorgelegt hat. Das ist eine, wie ich glaube, für unse-
re Arbeit segensreiche Grundlage.
Otto Bernhardt
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7307
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(D)
Wir sollten versuchen, möglichst viel davon in unsere
Beratungen einzubeziehen. Natürlich wird so manches
Wunschdenken bleiben, ich glaube aber, daß wir doch
noch einiges in das Artikelgesetz, um das es heute geht,
aufnehmen können.
Lassen Sie mich abschließend meine Beurteilung vor-
tragen: Ich glaube nicht, daß dieses Gesetz – Sie haben ja
ein weiteres angekündigt – jetzt der große Durchbruch
oder ein Meilenstein ist. Ich sage aber genauso deutlich:
Es ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung.
Danke schön.
Als
letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der
Kollege Jörg Tauss von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen! Liebe Kollegen! Der letzte Beitrag hat, wie ich
glaube, gezeigt, daß wir es durchaus auch auf seiten der
Opposition mit Kolleginnen und Kollegen zu tun haben,
mit denen man im Unterschied zum Kollegen Hauser in
der Sache vernünftig reden kann. Genau das, was Sie
angesprochen haben, muß diskutiert werden.
Auch wenn sie sich noch so ärgern, Kollege Hauser:
Heute ist ein schöner Tag für das Stiftungswesen in
Deutschland.
Rotgrün kann auf die Verwirklichung eines weiteren
wichtigen Reformschrittes stolz sein, den wir bereits in
der Koalitionsvereinbarung versprochen hatten. In
16 Jahren, Herr Kollege Hauser, hatte die alte Koalition
trotz mehrfacher Ankündigungen keine Reform zustande
gebracht und die potentiellen Stifterinnen und Stifter
sowie die Stiftungsverbände vertröstet. Selbst kleinste
Reformschritte sind ausgeblieben. Jetzt haben wir Nägel
mit Köpfen gemacht.
Beim Herrn Waigel konnten Sie sich nicht durchset-
zen. Wir danken ausdrücklich dem Bundeskanzler und
unserem Finanzminister Hans Eichel für die gute Unter-
stützung in dieser so wichtigen Frage. Nachdem nun
schon vielen Personen gedankt wurde, möchte ich, Frau
Vollmer, von dieser Stelle aus Herrn Ensslin unsere
herzlichsten Genesungswünsche übermitteln. Es war
eine angenehme Zusammenarbeit, die sich in guten Ver-
handlungen niederschlug. Ich danke auch Ludwig
Stiegler für sein großes Engagement in dieser Sache.
Heute ist ein schöner Tag für Rotgrün.
Meine Damen und Herren, die Details sind bereits
umfassend erläutert worden. Ich will deshalb auf den
Geist dieses Gesetzes zu sprechen kommen. In unserem
Land gibt es in wichtigen gemeinnützigen sozialen,
kulturellen, wissenschaftlichen und ökologischen Berei-
chen leider zunehmend Grenzen für eine steuerfinan-
zierte Förderung. Anders ausgedrückt: Der Bedarf an
der Erledigung von Aufgaben ist größer, als der Steuer-
zahler es finanzieren kann bzw. – leider – zu finanzieren
bereit ist. Deswegen müssen wir – Staat und Gesell-
schaft – die Chance nutzen, daß privatfinanzierte
gemeinnützige Einrichtungen Ergänzungsfunktionen
– ich betone ausdrücklich Ergänzungs- und nicht Ersatz-
funktionen – zu den Aufgaben der öffentlichen Hand
wahrnehmen und Projekte im „Gemeinnützigkeitsrah-
men“ fördern.
Das ist unser Ziel; insofern unterscheiden wir uns – Herr
Otto ist leider nicht mehr anwesend – sehr von der
F.D.P., die etwas anderes als gemeinwohlorientierte
Stiftungen will. Sie will Eigennutzstiftungen. Eigennutz-
stiftungen sind gelb – Yello-Stiftungen sozusagen. Wir
wollen das nicht.
Unseren Stiftungen kommt eine wichtige soziale
Funktion zu. Sie bieten engagierten Menschen in klei-
nem und großem Rahmen die Gelegenheit, wünschens-
werte Projekte für das Gemeinwohl auf den Weg zu
bringen. Die demokratische Gesellschaft – das ist betont
worden – will sich auch engagieren. Ich hoffe, daß wir
die Enquete-Kommission, die wir gestern eingerichtet
haben – Michael Bürsch als dem Vorsitzenden der
Ehrenamtskommission haben wir eine gute Zusam-
menarbeit angeboten –, ermutigen können, das Thema
Philanthropie zu erörtern und uns wiederum wichtige
Anregungen zu geben. Das ist eine Chance für die
Enquete-Kommission.
Die Förderung des gemeinnützigen Stiftungsgedan-
kens fördert den sozialen Zusammenhalt unserer Gesell-
schaft. Denn Wohlstand driftet ja auch in unserem Land
auseinander. Armut stehen zunehmend privater Wohl-
stand, höhere Einkommen, wachsende Vermögen und
große Erbschaften gegenüber. Diese einkommenstarke
Schicht – gerade sehe ich Frau Kollegin Baumeister – ist
in weiten Teilen bereit, freiwillige Beiträge für das Ge-
meinwesen zu erbringen. Das ist das, was wir als „Neue
Mitte“ bezeichnen. Gestatten Sie mir eine Anmerkung:
Ich glaube, wenn diese „Neue Mitte“ ihre Geldkoffer
nicht zur Union trägt, sondern in sinnvolle Projekte in-
vestiert, hat das ganze Land gewonnen.
Der Staat muß geeignete rechtliche, institutionelle
und ordnungspolitische Rahmenbedingungen schaffen.
Denn trotz erheblichen Wohlstands bleibt die Stiftungs-
freudigkeit in Deutschland bislang leider hinter ver-
gleichbaren Ländern, insbesondere im angloamerikani-
Otto Bernhardt
7308 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
schen Raum, zurück. Wenngleich es dafür sehr unter-
schiedliche – auch kulturelle – Gründe gibt, lassen sich
die Ursachen durchaus auch auf die Reformunfähigkeit
der alten Bundesregierung und den unzureichenden Re-
gelungsrahmen im deutschen Steuerrecht zurückführen.
Es fehlten ausreichende Anreize für Stifter und Instru-
mente zur Gründung. Gerade in der Zeit der alten Regie-
rung fehlte es an einer ideellen und materiellen Ver-
breiterung des Stiftungsgedankens. Übrigens war dies
auch für die Medien kein Thema. Auch wenn heute
abend kaum noch ein Medienvertreter da ist, freue ich
mich ganz besonders, daß wir uns mit unseren Bemü-
hungen nicht mehr unter der Rubrik „Vermischtes“
irgendwo auf den hinteren Seiten wiederfinden, sondern
daß das Thema Stiftungen heute auf die Seiten 1 und 2
der Zeitungen vorgedrungen ist. Auch das ist ein Erfolg
unserer Bemühungen des letzten Jahres.
Ich will nun nicht auf die besonderen Anreize im
Rahmen der AO eingehen. Herr Kollege Bernhardt, ich
glaube, viele Menschen wünschen sich in der Tat eine
Reform des Gemeinnützigkeitskatalogs in der Abga-
benordnung. Im ersten Anlauf wollten und konnten wir
das aber ebensowenig stemmen wie eine Reform des
Gemeinnützigkeitsrechtes. Hätten wir diesen Versuch
unternommen, wären wir nicht so weit wie heute. Unser
Weg der kleinen, aber wichtigen und richtigen Schritte
ist erfolgreicher als Getöse.
Wir sind auf einem guten Weg. Was wir erreicht haben,
ist noch nicht die berühmte Taube auf dem Dach. Aber
es ist viel mehr als der Spatz in der Hand. Auf dieses
Bild bezogen haben wir schon einige hübsche Spatzen,
Rotkehlchen und Grünlinge – das sind olivgrüne Fin-
kenvögel – in der Hand. Mit diesen Vögeln meine ich
den Sonderabzug von 40 000 DM, die Veränderungen
im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht sowie die
Regelungen zum Buchwertprivileg, das es auch Betrie-
ben ermöglicht, aus ihrem betrieblichen Vermögen an
eine gemeinnützige Stiftung zu spenden, ohne das als
verdeckte Gewinnentnahme versteuern zu müssen.
Schließlich können Stiftungen – um dieses noch einmal
zu betonen – bis zu einem Drittel ihrer Erträge zur
Sicherung des Stiftungskapitals zurücklegen. Auch
das ist ein wichtiger Punkt, auf den wir uns gemeinsam
geeinigt haben und auf den der Kollege Grasedieck
schon im einzelnen eingegangen ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn uns
Schwarzgelb, die handlungsunfähig waren, im Bundes-
rat unterstützen und nicht nur Reden ankündigen und
Presseerklärungen verfassen, sind wir sicherlich optimi-
stisch, weiterhin positiv im Sinne dessen, was heute dis-
kutiert worden ist, miteinander zu reden. Wir haben jetzt
erfolgreich gebohrt.
Politik ist das Bohren dicker Bretter. Wir waren er-
folgreich. Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den
Ländern aus den Bereichen Finanzen und Recht, wo
immer Sie uns in den Büros an den Fernsehschirmen zu-
hören mögen: Wir Kulturfuzzis, so die liebevolle Be-
zeichnung für uns, werden in diesem Sinne weiterboh-
ren. Das ist keine Drohung, sondern lediglich kurz vor
den Feiertagen Ausdruck der Vorfreude auf eine weitere
gute Zusammenarbeit mit den „Finanzern“ und den
Kolleginnen und Kollegen aus dem Rechtsbereich im
Jahre 2000.
Ich bedanke mich.
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetz-
entwurfs auf Drucksache 14/2340 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Manfred Grund, Dr. Michael Luther,
Hartmut Büttner , weiteren Abge-
ordneten und der Fraktion der CDU/CSU einge-
brachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Vertriebenenzuwendungsgeset-
zes
– Drucksache 14/1009 –
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Innen-
ausschusses
– Drucksache 14/1947 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Gisela Schröter
Hartmut Koschyk
Marieluise Beck
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Ulla Jelpke
– Drucksache 14/1784 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans Jochen Henke
Hans Georg Wagner
Oswald Metzger
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Uwe-Jens Rössel
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Jörg Tauss
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7309
(C)
(D)
Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner gebe
ich dem Kollegen Hartmut Büttner von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich
bin sehr froh, daß wir diese Debatte noch führen dürfen.
Es ist vielleicht die letzte Debatte in diesem Jahrhundert.
Die Auguren streiten darüber, ob es das letzte Jahrtau-
send ist. Ich denke, es ist ganz wichtig, weil schon die
Einbringungsreden zu unserem Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Vertriebenenzuwendungsgesetzes am 30. Juni
samt und sonders aus Zeitgründen zu Protokoll gegeben
worden sind. Die deshalb nicht gehaltenen Reden habe
ich mit sehr viel Interesse nachgelesen, wurde doch in
den Redebeiträgen der Koalitionsvertreter eine vertie-
fende Beratung in den beteiligten Ausschüssen verspro-
chen. Frau Buntenbach von den Grünen bescheinigte,
daß unser Gesetzentwurf ein ernsthaftes Anliegen auf-
greife, das in den Ausschüssen im Detail beraten werden
müsse.
Der Kollege Günter Graf von der SPD führte wörtlich
aus – ich zitiere mit der Genehmigung des Präsidenten –:
Lassen Sie uns in den bevorstehenden Beratungen
des Fachausschusses die Dinge in aller Ruhe und
Sachlichkeit besprechen! Sachlichkeit scheint mir
zwingend geboten, damit die Menschen tatsächlich
die Gelegenheit haben, die Dinge, die wir hier be-
raten, auch zu verstehen. Wenn uns dieses gemein-
sam nicht gelingt, werden wir alle die Quittung da-
für bekommen.
Leider ist der so gesetzte Anspruch in den Aus-
schußberatungen nicht gerechtfertigt worden. Ledig-
lich im Ausschuß für die Angelegenheiten der neuen
Bundesländer gab es so etwas wie eine inhaltliche Aus-
sprache. Allerdings ist auch in diesem Ausschuß durch
die Koalitionsvertreter am eigentlichen Thema vorbeige-
redet worden.
Eine Selbstverständlichkeit wurde dazu benutzt, um
sie als Popanz aufzubauen und damit eine Ausrede zu
haben, unsere Initiative insgesamt abblocken zu können.
Wir wollten nämlich die Gleichbehandlung der Ver-
triebenen im Westen und im Osten unseres Landes auch
im Vertriebenenzuwendungsgesetz deutlich werden las-
sen. In Anlehnung an die Präambel des Lastenaus-
gleichsgesetzes sollte eigentlich nur verdeutlicht wer-
den, was bislang als unstrittige Rechtsauffassung galt.
Weder die Leistungen nach dem Lastenausgleichsgesetz
noch nach dem Vertriebenenzuwendungsgesetz sind ein
Ausgleich für alle tatsächlichen Vermögensverluste. Zu
den eigentlichen Kernpunkten unseres Änderungsvor-
schlages haben die Vertreter der Regierungsparteien
keine Antworten gegeben, geschweige denn versucht,
gemeinsame Lösungswege zu suchen, wie sie es in ihren
Einbringungsreden versprochen haben. Obwohl der Be-
ratungsverlauf nicht sehr optimistisch stimmt, will ich
auch in dieser zweiten Lesung unseres Gesetzentwurfes
den Versuch nicht aufgeben, im Interesse der Betroffe-
nen nach notwendigen Gemeinsamkeiten zu suchen.
Die SED hat in 40 Jahren Diktatur nicht nur durch ihr
System viele Opfer selbst produziert; sie hat auch kei-
nerlei Anstrengungen unternommen, um die Opfer von
Krieg und Vertreibung zu entschädigen oder zu unter-
stützen.
Die DDR hat sich also gegenüber Millionen ihrer eige-
nen Bürger auch noch wegen unterlassener Hilfeleistung
schuldig gemacht. Insbesondere die Heimatvertriebenen
aus dem Gebiet östlich von Oder und Neiße und dem
Sudetenland wurden ganz bewußt nicht beachtet. Die
Vertreibung aus der Heimat wurde sogar als „Umsied-
lung“ verniedlicht.
Nach Vollendung der deutschen Einheit haben sich
der Deutsche Bundestag und die damalige Bundesregie-
rung bemüht, nicht nur die materiellen, sondern auch die
menschlichen Wunden der letzten Jahrzehnte aufzuar-
beiten. Vielfach wurde kritisiert, diese Entschädi-
gungsgesetze seien finanziell zu bescheiden ausgefallen.
Etwas mehr Großzügigkeit hätte auch ich mir in vielen
Bereichen vorstellen können. Das schwere Schicksal der
Heimatvertriebenen, die für Hitlers Krieg mehr als ande-
re zu büßen hatten, war aber augenscheinlich den Ver-
tretern der früheren Opposition, der heutigen Regie-
rungsparteien, offensichtlich relativ gleichgültig. Mir ist
zumindest kein Antrag auf eine Entschädigung für die
Heimatvertriebenen im Osten Deutschlands bekanntge-
worden.
Es war die Unionsfraktion, die mit Unterstützung der
F.D.P., 1994 das Vertriebenenzuwendungsgesetz in den
Deutschen Bundestag eingebracht hat. Forderungen
nach einer Gleichbehandlung der Vertriebenen in ganz
Deutschland konnten wir dabei nur teilweise entspre-
chen. Gab es im Westen Deutschlands in den Nach-
kriegsjahren den Lastenausgleich, der Vertriebenen,
aber auch anderen Gruppen, zum Beispiel den Ausge-
bombten, zugute kam, war dieses System 49 Jahre nach
Kriegsende nicht mehr anwendbar. Allein die Beweis-
möglichkeiten über die verlorenen Werte in den Vertrei-
bungsgebieten wären bedeutend schwieriger gewesen als
noch in den 50er Jahren.
Deshalb haben wir uns damals für eine Einmallei-
stung in Höhe von 4 000 DM entschieden; das entsprach
übrigens – das ist nicht uninteressant – dem Durch-
schnittswert der Lastenausgleichsleistung im Westen
Deutschlands. So unbürokratisch und so sozial wie
irgend möglich wollten wir den Berechtigten diese Ein-
malleistung zukommen lassen. Es reichte der Nachweis,
in den Vertreibungsgebieten vor Kriegsende geboren zu
sein, um diese 4 000 DM zu erhalten. Dabei begannen
wir zunächst bei den ältesten Menschen mit der Aus-
zahlung. So haben in ihren letzten Jahren noch viele un-
serer Mitbürger erleben dürfen, daß das demokratische
Deutschland sie und ihr schlimmes Schicksal nicht ver-
gessen hatte.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
7310 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Dieses Gesetz ist bei den Vertriebenen in den neuen
Ländern insgesamt auf eine großartige Akzeptanz gesto-
ßen – sehr zum Leidwesen des Finanzministers; denn
anstatt der während der Gesetzesberatungen geschätzten
600 000 bis 800 000 Antragsteller sind mit Stichtag vom
30. September 1999 insgesamt 1 377 163 Anträge ge-
stellt worden. Das ist mehr als das Doppelte der 1994
geschätzten Zahl.
Hiervon sind knapp 1,3 Millionen Anträge bereits be-
schieden worden. Nur in 57 000 Fällen wurde der Antrag
abgelehnt. Obwohl sich die Quote der Ablehnungen da-
mit auf weniger als 5 Prozent beläuft, empfinden viele
Betroffene dies als eine unverständliche Mißachtung
und Abqualifizierung ihres Vertreibungsschicksals nicht
nur durch die DDR, sondern auch durch das wiederver-
einte demokratische Deutschland.
Hinzu kommt: Die Praxis der zuständigen Behörden
in den sechs neuen Ländern entwickelte sich beim Voll-
zug des Gesetzes höchst unterschiedlich. So wurden bei
Ermessensentscheidungen sowohl großzügige Interpre-
tationen angewandt als auch das genaue Gegenteil.
Bei den Ablehnungen ging es zumeist um zwei Pro-
blembereiche: zum einen um das Erfordernis eines un-
unterbrochenen Aufenthalts in der SBZ/DDR bis zum
3. Oktober 1990, zum anderen um den Erhalt von soge-
nanntem Bodenreformland. Mit dem Versäumen der
Antragsfrist vom 30. September 1995 kam noch ein
dritter Grund hinzu, der uns Abgeordnete der CDU aus
den neuen Ländern bereits vor zwei Jahren zu nach-
drücklichen Aktivitäten veranlaßt hatte. Dabei hatten wir
zunächst versucht, Ungereimtheiten im Verwaltungs-
vollzug durch eine klärende Interpretation des Bundes-
finanzministeriums aufzufangen. Besonders die ehema-
lige Parlamentarische Staatssekretärin im BMF, unsere
Kollegin Irmgard Karwatzki, hat sich hier stark enga-
giert, wofür ich ihr noch heute danken darf.
Allerdings waren auch diese Bemühungen nur sehr
bedingt erfolgreich. Erfolgreich waren sie hinsichtlich
der Bodenreformfälle. Hier hatte sich in den Behörden
in aller Regel die Auffassung durchgesetzt, daß auch
kleinere Bodenreformflächen mit einem geringeren Wert
als 4 000 DM den Erhalt der Einmalleistung nicht aus-
schließen würden. Ständige Probleme bereitet hingegen
bis heute die Handhabung der Forderung eines ununter-
brochenen Wohnsitzes in der DDR. Hier kommt es zu
den größten Unterschieden und letztlich Ungleichbe-
handlungen und Ungerechtigkeiten. Mein Kollege Man-
fred Grund hat hierzu bereits in der ersten Lesung viele
Einzelbeispiele dargelegt, auf die ich mich ausdrücklich
beziehe. Ich brauche sie hier nicht zu wiederholen.
Das Handeln der Verwaltungsbehörden in den neuen
Ländern entwickelte sich trotz der Auslegungshilfen der
Bundesregierung derart unterschiedlich, daß wir tat-
sächlich nur mit einer Klarstellung im Gesetz weiter-
kommen, wenn wir dem Gleichheitsgrundsatz Rechnung
tragen wollen.
Ein Wort zu den Kosten unseres Gesetzentwurfes.
Bei der Nutzung des vorhandenen Ermessensspielrau-
mes durch örtliche Behörden zugunsten der Antragstel-
ler käme es zu keinen zusätzlichen Ausgaben, die wir
extra fixieren müßten. Mehrausgaben würden sich allen-
falls durch den von uns vorgeschlagenen Härtefonds er-
geben. Hierbei wollen wir allerdings eine bereits vor-
handene Stiftung einschalten, um keine unnötigen Ver-
waltungskosten entstehen zu lassen.
Wenn ich noch einmal die Aussagen in Ihren nicht
gehaltenen Einbringungsreden Revue passieren lasse,
muß ich sagen, daß es in den meisten Punkten, wenn wir
in den Ausschüssen wirklich ernsthaft beraten hätten, zu
einer Verständigung hätte kommen müssen. Aber in den
Ausschüssen wurde von Ihrer Seite nicht einmal der
Versuch gemacht, sich zu einigen. Ich bedaure das sehr,
vor allen Dingen, weil wir in den letzten neun Jahren
immer wieder versucht hatten, bei Opferfragen und Fra-
gen des Stasi-Unterlagen-Gesetzes eine breite Mehrheit
in diesem Haus zu erreichen.
Kehren wir zu diesen Gemeinsamkeiten zurück. Las-
sen Sie uns ein positives Zeichen für die Heimatvertrie-
benen setzen! Stimmen Sie wenigstens unserem Vor-
schlag zu!
Herzlichen Dank.
Als
nächster Rednerin gebe ich der Kollegin Gisela Schröter
von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Auf die Ausführungen des Kol-
legen Büttner werde ich nachher im einzelnen eingehen.
Zuvor möchte ich aber ganz klar feststellen: Das Ver-
triebenenzuwendungsgesetz ist ein Beispiel für eine ins-
gesamt gelungene Gesetzgebung. Die damalige CDU-
Staatssekretärin im Finanzministerium, Frau Karwatzki
– Kollege Büttner hat schon darauf hingewiesen – , hat es
1998 so formuliert:
Das Vertriebenenzuwendungsgesetz ist auf Grund
der zügigen und reibungslosen Durchführung durch
die Verwaltung der neuen Bundesländer ein großer
Erfolg geworden.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ein Erfolg ist es
auch deshalb geworden, weil wir dieses Gesetz 1994 in
großem Einvernehmen beschlossen haben. Ziel war es,
den Vertriebenen in den neuen Ländern einen gewissen
Ausgleich für das erlittene Schicksal zu geben. Wir sind
uns im klaren, daß es sich dabei um eine eher symboli-
sche Anerkennung gegenüber den Menschen handelt,
die ihre Heimat und ihren Besitz verloren haben. Von
Wiedergutmachung will hier wohl keiner reden.
Bis zum 30. September 1995 konnten Anträge auf
Gewährung der Zuwendung von 4 000 DM gestellt wer-
den. Der aktuelle Stand der Bearbeitung kann sich gera-
de im Vergleich zu anderen Sozialgesetzen sehen lassen.
Kollege Büttner hat schon darauf hingewiesen: Mehr als
90 Prozent der Anträge sind bis heute erledigt. In vier
Ländern ist die Bearbeitung der Anträge nahezu voll-
Hartmut Büttner
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7311
(C)
(D)
ständig abgeschlossen, in den übrigen Ländern weitge-
hend.
Die Ablehnungsquote liegt unter 5 Prozent. Selbst-
verständlich können wir uns auch damit nicht einfach
zufrieden geben; da stimme ich Ihnen zu. Denn hinter
jedem abgelehnten Antrag steht ein Einzelschicksal. Für
die Betroffenen ist es manchmal schwer verständlich,
warum sie von der Zuwendung ausgeschlossen werden.
Auch das steht außer Zweifel. Unsere Aufgabe ist es,
eine größtmögliche Einzelfallgerechtigkeit sicherzustel-
len. Ich denke, auch darin sind wir uns hier im Haus
einig.
Die Frage aber ist: Auf welchem Weg und mit wel-
chen Mitteln erreichen wir dieses Ziel? Müssen wir ein
erfolgreiches Gesetz ändern und damit neue Abgren-
zungsschwierigkeiten und Rechtsunsicherheiten her-
aufbeschwören?
Es hat mich schon sehr verwundert, daß gerade die
CDU/CSU Maximalforderungen vorlegt, die sie in Re-
gierungsverantwortung immer abgelehnt hat, und das
mit gutem Grund.
Ich möchte hierbei an die Entstehungsgeschichte
dieses Gesetzes erinnern, Herr Kollege Büttner. Zu-
nächst hat sich die alte Bundesregierung viel Zeit gelas-
sen, bis der Entwurf im Mai 1994 endlich vorlag. Dann
– daran erinnern wir uns sehr gut, Kollege Büttner –
wollte man die Auszahlung der Zuwendung immer hin-
auszögern und strecken. Wir haben damals im Vermitt-
lungsausschuß durchgesetzt, daß die Auszahlung sofort
und mit Inkrafttreten des Gesetzes beginnen konnte. Wir
haben auch dafür gesorgt, daß, im Gegensatz zum ur-
sprünglichen Gesetzestext, auch diejenigen Vertriebenen
Leistungen erhalten, die nach dem 3. Oktober 1990 nach
Westdeutschland umgezogen sind. Erst auf unser Drän-
gen hin wurde eine Protokollnotiz zu den Verhandlun-
gen im Vermittlungsausschuß aufgenommen. Das ist
nachzuprüfen. Damit war überhaupt erst klargestellt, daß
auch diejenigen Vertriebenen einen Anspruch auf die
Zuwendung haben sollten, die nach dem zweiten Welt-
krieg zunächst in der alten Bundesrepublik gewohnt ha-
ben und erst später in die SBZ bzw. die DDR gezogen
sind.
Ich denke, damit ist deutlich geworden, daß sich die
SPD von Anfang an für die Interessen der anspruchsbe-
rechtigten Vertriebenen eingesetzt hat.
Im Verlauf der Umsetzung durch die Verwaltung der
neuen Länder kam es immer wieder zu Entscheidungen,
die von den abgelehnten Antragstellern als Härte emp-
funden wurden.
Nicht zuletzt auf Drängen unserer Fraktion – ich ver-
weise auf die vielen parlamentarischen Anfragen – hatte
sich die damalige Staatssekretärin Frau Karwatzki für
eine großzügige und einheitliche Verwaltungspraxis
der Länder eingesetzt. Ich selber habe damals bei der
Bundesregierung nachgefragt, welche Auslegungsspiel-
räume das Gesetz zulasse und ob die Bundesregierung
eine gesetzliche Präzisierung als notwendig erachte. Die
Antwort der Kollegin Karwatzki war eindeutig. Erstens
gebe es ausreichende und „gesetzeskonforme Ausle-
gungsspielräume, die zur Vermeidung von Unzufrieden-
heit bei den Betroffenen genutzt werden könnten“.
Zweitens sei in der Frage des Wohnsitzes eine flexible
und unterschiedlichen Einzelfallgestaltungen gerecht
werdende Handhabung möglich.
Frau Karwatzki machte darauf aufmerksam, daß so-
gar ein mehrjähriger Aufenthalt außerhalb der DDR,
insbesondere zu Zwecken der Ausbildung, der Be-
rufsausübung oder auch aus medizinischen Gründen,
nicht zur Unterbrechung des Wohnsitzes in der DDR
führen müsse. Ich weiß, daß es Petitionen gibt, weil das
anders gehandhabt worden ist.
Ich denke, genau hier liegt das Problem. Bei der
Bund-Länder-Besprechung am 10. Juni 1998 haben die
Länder übereinstimmend ihre Bereitschaft zur erneuten
Antragsüberprüfung und -bearbeitung zugesichert,
wenn es Zweifel an Ablehnungen gebe. Ich selber habe
mich mehrfach solcher Fälle angenommen und unter
Hinweis auf das Schreiben von Frau Karwatzki die Be-
hörden in Thüringen gebeten, eine entsprechende Über-
prüfung von Antragsablehnungen vorzunehmen – mit
unterschiedlichem Erfolg, das gebe ich zu.
– Hören Sie mir doch weiter zu, Herr Büttner.
Wenn es trotzdem zu uneinheitlichen oder fragwürdi-
gen Entscheidungen in der Verwaltungspraxis kommt,
dann müssen sich die Ländervertreter erneut zusammen-
setzen und das abstellen.
Für verfehlt halte ich es aber, jetzt nach Gesetzesän-
derungen zu rufen, die mehr Probleme bringen als Klar-
heiten schaffen.
Erstens. Die Vertriebenenzuwendung soll nur denje-
nigen Vertriebenen aus den neuen Ländern zugute
kommen, die bisher keine Eingliederungs- und Entschä-
digungsleistung der alten Bundesrepublik erhalten
konnten. Wenn man nun auf die Festlegung auf einen
„ununterbrochenen Wohnsitz“ verzichtet, müßte man
Doppelvergünstigungen hinnehmen oder – das halte
ich für ebenso problematisch – wir müßten eine extrem
verwaltungsaufwendige Überprüfung und Verrechnung
zwischen den vielfältigen Leistungen der alten Bundes-
republik – wie zum Beispiel Lastenausgleich oder Be-
grüßungsgeld; Sie selber haben darauf hingewiesen –
einerseits und der Vertriebenenzuwendung andererseits
vornehmen.
Gisela Schröter
7312 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Zweitens. Die Verlängerung der Antragsfrist vom
30. September 1995 auf den 31. Dezember 1999 ist nach
unserer Auffassung nicht erforderlich. Die Antragsfrist
von 18 Monaten bot einen ausreichend langen Zeitraum
für die Antragsabgabe.
Dieses Problem gibt es immer bei Stichtagsregelun-
gen. Ich denke, wir sind uns einig, daß die Öffentlichkeit
ausführlich und regelmäßig über das Gesetz und das
Verfahren informiert wurde. Bei Fristüberschreitung
gibt es die Möglichkeit, durch die Rechtsinstrumente
„Wiedereinsetzung in den vorigen Stand“ bzw. „Nach-
sichtgewährung“ zu helfen. Sie sehen, ich habe mich
auch darin kundig gemacht.
Drittens. Die Einführung eines Härtefonds brächte
die erhebliche Gefahr einer Präzedenzwirkung auf ande-
re Bereiche des Kriegsfolgen- und Wiedergutmachungs-
rechts mit sich, und zwar mit unüberschaubaren haus-
haltsmäßigen Konsequenzen. Ich denke, das wissen
auch Sie. Darin sollten wir uns einig sein.
Fazit: Natürlich gibt es immer wieder besonders ge-
lagerte Härtefälle, die überprüft oder notfalls vor den
Gerichten ausgetragen werden müssen. Sie rechtfertigen
aber keine Gesetzesänderungen, die neue Rechtsunsi-
cherheiten schaffen und unabsehbare finanzielle
Folgelasten mit sich bringen. Die Enttäuschung der ab-
gelehnten Antragsteller, die eine Leistungsverweigerung
nicht nachvollziehen können, ist allemal ein Anlaß zur
Überprüfung des Verfahrens. Dies ist aber kein Hinweis
auf eine unzulängliche Rechtslage.
Ich will dem Kollegen Büttner nicht widersprechen,
wenn er sagt, daß es im Vollzug der Leistungsgewäh-
rung gemäß dem Vertriebenenzuwendungsgesetz zu ein-
zelnen unbefriedigenden Entscheidungen gekommen ist.
Darauf habe ich vorhin schon hingewiesen. In solchen
Fällen liegt es aber an uns, soweit es sachlich gerecht-
fertigt ist, auf – das betone ich – untergesetzlicher Ebene
unter Berufung auf Frau Karwatzki Überprüfung und
Nachbesserung bei den Behörden einzufordern. Die vor-
geschlagenen gesetzlichen Änderungen schaffen aber
nur neue Probleme.
Zum Schluß möchte ich die Kollegen von der
CDU/CSU zu einem redlichen Umgang mit den von die-
sem Gesetz betroffenen Menschen auffordern. Die von
Ihrer Fraktionskollegin Karwatzki formulierten Grund-
sätze bieten doch eine ordentliche Grundlage, damit
auch künftig im Interesse der Anspruchsberechtigten
flexibel entschieden werden kann. Lassen Sie uns, wie
auch Sie das gesagt haben, wieder anknüpfen an jenes
Einvernehmen, das diese wichtige Gesetzgebung damals
auf den Weg gebracht hat. Aus diesem Grund lehnen wir
Ihren Gesetzentwurf ab.
Ich danke Ihnen.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Karlheinz
Guttmacher von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Fünf Jahre
nach der deutschen Wiedervereinigung haben wir im
Deutschen Bundestag am 20. Mai 1994 das Entschädi-
gungs- und Ausgleichsleistungsgesetz, das als wichtigen
Bestandteil das Vertriebenenzuwendungsgesetz bein-
haltet, auf den Weg gebracht. Es erstaunt mich, liebe
Frau Kollegin Schröter, daß Sie sagen, daß dies mehr-
heitlich und mit den Stimmen der SPD erfolgt sei. Ich
möchte Sie auf folgendes aufmerksam machen: Für
mich war das die beeindruckendste namentliche Ab-
stimmung, die ich hier im Deutschen Bundestag –
sicherlich war die Verabschiedung dieses Gesetzes sehr
schwierig – erlebt habe. Aber es waren nur 397 Abge-
ordnete an dieser Abstimmung beteiligt, von denen 245
mit Ja und 141 – im wesentlichen die Kolleginnen und
Kollegen aus der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen
– dagegen gestimmt haben, bei 11 Enthaltungen. Ich ha-
be nachgesehen, Frau Kollegin Schröter: Sie haben sel-
ber gegen das Vertriebenenzuwendungsgesetz gestimmt!
Das sollte man an dieser Stelle bemerken, da wir ge-
rade Ihre Rede und Ihr Bemühen um jene gehört haben,
die heute die Leistung von 4 000 DM als eine Entschä-
digung und Anerkennung ihres Vertriebenenschicksals
nicht bekommen haben.
Im Vertriebenenzuwendungsgesetz wurden An-
spruchsvoraussetzungen festgelegt, beispielsweise der
ständige Wohnsitz in der früheren DDR vom Tag des
Verlassens des Vertreibungsgebietes bis zum 3. Oktober
1990. Wir halten es auch aus der Erfahrung heraus, die
wir mit diesem Vertriebenenzuwendungsgesetz gesam-
melt haben, für geboten, eine Änderung zum ständigen
Wohnsitz, vorzunehmen, damit auch diejenigen die An-
erkennung ihres Vertreibungsschicksals und die Zahlung
von 4 000 DM bekommen, die kurzzeitig nicht in der
DDR gewohnt haben.
Insofern, Frau Schröter, muß ich Ihnen widerspre-
chen, auch wenn es hier einen Briefwechsel mit der
Staatssekretärin des Finanzministeriums, mit Frau Kar-
watzki, gab. Aber diejenigen, die kurzfristig die DDR
verlassen haben, um einer Ausbildung in den alten Bun-
desländern nachzugehen, haben auf die Zahlung der
Entschädigung von 4 000 DM keinen Rechtsanspruch.
Wir halten es aus unseren gesammelten Erfahrungen
mit dem Vertriebenenzuwendungsgesetz für gerechtfer-
tigt, daß diejenigen, die zwischen dem 9. November
1989 und der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 in
die grenznahen Gebiete gingen, um sich einen Job zu
suchen, der es möglicherweise nach sich zog, daß man
den Wohnsitz dorthin verlegen mußte, diese 4 000 DM
ebenfalls als Entschädigung bezahlt bekommen.
Wir halten es deswegen für geboten, daß der
CDU/CSU-Antrag darauf abzielt, diejenigen zu berück-
sichtigen, denen wir heute nicht die Möglichkeit bieten
können, die 4 000 DM zu bekommen, weil der Finanz-
ausschuß und der Haushaltsausschuß den Antrag der
CDU/CSU abgelehnt hat. Ich gehe davon aus, daß Sie
Gisela Schröter
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7313
(C)
(D)
heute diesen Antrag ebenfalls ablehnen. Wir, die F.D.P.,
werden diesem Antrag der CDU/CSU jedenfalls zu-
stimmen. Wir möchten, daß den Vertriebenen, die wir
bis jetzt bei der Zahlung der 4 000 DM nicht erfaßt ha-
ben, nach dem Gebot der Gleichheit auch die Möglich-
keit des Zahlungsempfangs gegeben wird.
Ich danke Ihnen.
Ich
möchte die Kollegen der sozialdemokratischen Fraktion,
wo eine gewisse Fröhlichkeit entstanden ist, bitten, den
beiden letzten Rednern in diesem Jahr ebenfalls Gehör
zu schenken.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Annelie Bun-
tenbach von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Applaus natürlich sehr erfreut.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit
dem heute vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung
des Vertriebenenzuwendungsgesetzes bringt die CDU/
CSU Vorschläge auf den Tisch, die nicht neu sind. Die
Antragsfrist für die Zuwendung lief am 30. September
1995 aus. Dabei handelte es sich um eine Ausschluß-
frist. Die Betroffenen hatten vorher ein Jahr Zeit, die
Zuwendung zu beantragen. Ich muß Sie wohl nicht dar-
an erinnern, daß Sie damals noch selbst in der Regie-
rungsverantwortung gestanden haben.
Ganz ähnliche Änderungsvorschläge wie die, die uns
heute hier zur Abstimmung vorliegen, lagen schon vor
Ablauf der Frist auf dem Tisch, etwa die von Herrn
Wittmann, einem Abgeordneten aus Ihrer eigenen Frak-
tion. Diese Vorschläge haben Sie nicht aufgegriffen.
Ich bin der Meinung, daß zu der prekären Haushalts-
lage, die Sie uns hinterlassen haben, eigentlich genug
gesagt worden ist. Wenn Sie uns heute allerdings wieder
einmal eine alte Rechnung präsentieren, so kann ich
nicht umhin, erneut auf Ihre Versäumnisse aus den letz-
ten Jahren hinzuweisen. Nach der Fehlfinanzierung der
deutschen Einheit und der schwierigen Haushaltssituati-
on, die Sie uns hinterlassen haben, opponieren Sie heute
gegen Ihre eigene Politik.
Die Verwaltungsentscheidungen im Rahmen der
Durchführung des Vertriebenenzuwendungsgesetzes ha-
ben in einzelnen Fällen zu Härten für die Betroffenen
geführt.
Das ist unbestritten. Die Voraussetzung des „ununter-
brochenen Aufenthalts“ in der ehemaligen DDR sollte
diejenigen von den Zuwendungen ausschließen, die in
der Bundesrepublik Leistungen aus dem Lastenausgleich
oder erhebliche Eingliederungsleistungen erhalten hat-
ten. Die Wirren der Nachkriegszeit und auch die Er-
eignisse um den Umbruch in der ehemaligen DDR und
die Wiedervereinigung erfordern zweifellos eine sehr
großzügige Auslegung des „ununterbrochenen Aufent-
halts“, will man den Schicksalen der einzelnen Men-
schen und gerade der Vertriebenen gerecht werden.
Einige Behörden, denen die Ausführung des Gesetzes
oblag, haben diese Großzügigkeit walten lassen und
Vertriebene nur dann von der Zuwendung ausgeschlos-
sen, wenn die Abwesenheit aus der ehemaligen DDR
länger als ein Jahr gedauert hat. Wir sind uns in diesem
Hause – da bin ich mir nach dem Vortrag der Kollegin
Schröter sicher – wohl einig, daß es einer einheitlichen
Verwaltungspraxis bedarf, die in diesem Sinne den viel-
fältigen Schicksalen der Menschen in großzügiger Wei-
se gerecht wird.
Die hierzu sinnvollen und nötigen Schritte hat die Kol-
legin Schröter vorhin in ihrem Beitrag aufgezeigt. Das
kann ich nur unterstreichen.
Ich möchte jetzt noch einen Punkt ansprechen, den
wir Ihnen so nicht durchgehen lassen können: Sie nutzen
den vorliegenden Gesetzentwurf leider auch zu einem
neuen Versuch, die Vermögensrückforderungen der
Vertriebenenlobby staatlich zu legitimieren bzw. offen-
zuhalten.
Sie erweisen Ihrem Gesetzentwurf damit keinen guten
Dienst.
Voraussetzung für die lautstarke Vertretung aus der
Vertreibung herrührender Ansprüche ist eine geschicht-
liche Sichtweise, bei der die Vertreibung aus ihrem
historischen Kontext gelöst wird und die nationalsoziali-
stischen Verbrechen verharmlost oder gar geleugnet
werden.
Solche Ansichten werden leider nicht nur am rechten
Rand der Vertriebenenverbände gepflegt. So vertritt
etwa die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen die
Auffassung, die Tschechen hätten – da zitiere ich leider –
„unter deutscher Herrschaft fast nicht gelitten“. Ich er-
warte, daß Sie sich von solchen Äußerungen distanzie-
ren,
statt die ideologischen Vorstöße dieses Klientels auch
noch in Gesetzentwürfe einzuarbeiten.
Dr. Karlheinz Guttmacher
7314 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Ich bin dem Bundeskanzler und dem Außenminister
außerordentlich dankbar, daß sie gegenüber Prag und
Warschau die neue und verständigungsbereite Politik
der Bundesregierung deutlich gemacht haben.
Sie wissen aus vielen Debatten hier im Hause, daß wir für
die staatliche Legitimierung solch dreister Ansprüche ge-
gen die Nachbarstaaten nicht zur Verfügung stehen.
Wir können dem Gesetzentwurf schon deshalb nicht zu-
stimmen.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Ulla Jelpke von der
PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Kollege Büttner, Sie haben sich darüber beschwert, daß
die Debatte in den Ausschüssen nicht ernsthaft geführt
worden sei. Ich muß Ihnen ehrlich sagen, daß ich Ihren
Antrag in vielerlei Hinsicht nicht ganz ernst nehmen
kann. Meine Kollegin Buntenbach hat dies auch schon
gesagt.
Der eine Punkt ist, wie Sie diesen Antrag mit anderen
vermischen. Darauf komme ich noch zu sprechen. Aber
der entscheidende Punkt ist, daß Sie dann, wenn Sie An-
tragsfristen und Härtefälle wirklich zur Diskussion ge-
stellt hätten, hier eine Mehrheit bekommen hätten, groß-
zügig zu verfahren. Das ist hier von allen Seiten ange-
zeigt worden. Auch wir sind der Meinung, daß die Ver-
triebenen in Ostdeutschland mit einmaligen Zuwendun-
gen bedacht werden und daß in Härtefällen Einzellösun-
gen gefunden werden müssen.
Ich möchte angesichts Ihres Verhaltens in diesem Be-
reich auf Ihre Unernsthaftigkeit hinweisen. In anderen
Bereichen, in denen es Härtefälle gibt – beispielsweise,
wenn es um asylsuchende Menschen oder um alleinste-
hende Frauen geht –, vermisse ich gerade von Ihrer
Partei die Sensibilität, unbürokratisch und großzügig
vorzugehen.
Meine Kollegin Buntenbach hat hier eben schon dar-
gelegt, daß die eigentliche Provokation in Ihrem Gesetz-
entwurf darin besteht, daß Sie revanchistische Forderun-
gen stellen und die osteuropäischen Staaten provozieren.
– Natürlich, Herr Büttner. Sie wissen um die sensible
Debatte über den deutsch-tschechischen Freundschafts-
vertrag. Sie wissen ganz genau um die sensiblen An-
sprüche, die die Sudetendeutschen immer wieder gel-
tend machten, während in den vergangenen Jahren eine
geschichtsrevisionistische Debatte geführt wurde.
Sie stellen sich jetzt hier hin und trauen sich – jetzt, da
Sie nicht mehr in der Regierung sind –, das gesetzlich zu
formulieren. Ich frage Sie: Warum haben Sie das nicht
getan, als Sie noch in der Regierung waren? Ganz offen-
sichtlich wußten Sie, was für eine Provokation Sie gegen
die Tschechische Republik, gegen Polen und gegen an-
dere osteuropäische Länder gestartet haben.
Um es ganz deutlich zu sagen: Das macht die PDS
nicht mit.
Solche Gesetzentwürfe sind der Freundschaft gegenüber
den osteuropäischen Ländern ausgesprochen abträglich.
Insofern muß ich Ihnen sagen: Ihr Gesetzentwurf ist
wirklich unernsthaft. Auch im Innenausschuß habe ich
nicht merken können, daß Sie sich ernsthaft für die Sa-
che eingesetzt hätten. In diesem Sinne: Wir werden den
Antrag ablehnen.
Ansonsten – ich bin heute wahrscheinlich die letzte
Rednerin – betrachte ich es als ein Symbol, daß heute
eine PDS-Rednerin zuletzt spricht. Ich wünsche Ihnen
allen jedenfalls einen guten Rutsch ins Jahr 2000.
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion der CDU/CSU zur Änderung des
Vertriebenenzuwendungsgesetzes auf Drucksache
14/1009. Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache
14/1947, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über
den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 14/1009 abstimmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der
PDS abgelehnt.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Durchführung der Richtlinie des Rates der
Europäischen Union zur Änderung der Bilanz-
und der Konzernbilanzrichtlinie hinsichtlich ihres
Annelie Buntenbach
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7315
(C)
(D)
Anwendungsbereichs , zur Ver-
besserung der Offenlegung von Jahresabschlüs-
sen und zur Änderung anderer handelsrechtlicher
Bestimmungen
– Drucksache 14/1806 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses
– Drucksache 14/2553 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Lambrecht
Ronald Pofalla
Rainer Funke
Eine Debatte findet nicht statt; die Beiträge sind zu
Protokoll gegeben*). – Sie stimmen dem zu.
Deswegen kommen wir direkt zur Abstimmung über
den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzent-
wurf eines Kapitalgesellschaften – und Co-Richtlinie-
Gesetzes, Drucksachen 14/1806 und 14/2553. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfas-
sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der
Gesetzentwurf bei Gegenstimmen der F.D.P.-Fraktion
und Zustimmung aller anderen Fraktionen angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Ge-
setzentwurf mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen
angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und b sowie
Zusatzpunkt 9 auf.
13. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Günther Friedrich Nolting, Hildebrecht Braun
, Jörg van Essen, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der F.D.P.
Begrenzung der Einsatzdauer von Soldaten bei
Friedensmissionen
– Drucksache 14/1307 –
sten Hübner, Heidi Lippmann, Fred Gebhardt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Einstellung des Bundeswehreinsatzes in
Osttimor
– Drucksache 14/2264 –
—————
*) Anlage 2
ZP9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Günther
und der Fraktion der F.D.P.
Deutsche Beteiligung an Interfet beenden
– Drucksache 14/2378 –
Auch hier sind die Reden zu Protokoll gegeben*).
Die Koalitionsfraktionen und die CDU/CSU-Fraktion
schlagen Überweisung der Vorlage auf Drucksa-
che 14/1307 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vor. Die Fraktionen der F.D.P. und der PDS
verlangen sofortige Abstimmung.
Wir stimmen zunächst über den Überweisungsantrag
als den weitergehenden Vorschlag ab. Wer ist für den
Überweisungsantrag? – Wer ist dagegen? – Wer enthält
sich? – Ich nehme das Abstimmungsergebnis folgen-
dermaßen zur Kenntnis: Für die Überweisung haben die
Koalitionsfraktionen gestimmt; gegen die Überweisung
haben die Fraktionen der F.D.P., der PDS und ein Teil
der CDU/CSU-Fraktion gestimmt. Damit ist die Über-
weisung so beschlossen.
Damit entfällt meiner Meinung nach der Antrag über
die sofortige Abstimmung.
Damit kommen wir zu Tagesordnungspunkt 14.
– Nach meinen Unterlagen ist damit über beide Anträge
abgestimmt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt hier eine
kleine Unstimmigkeit. Ich bin der Auffassung, daß beide
Anträge überwiesen sind. Damit scheint mir das erledigt
zu sein. – Wenn es keinen Widerspruch gibt, dann ist
das so, wie ich das jetzt festgehalten habe.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines
Dritten Gesetzes zur Änderung des Betäu-
– Drucksachen 14/1830, 14/1515 –
—————
*) Anlage 3
**) Anlage 4
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
7316 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999
(C)
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen einge-
brachten Gesetzentwurf zur Änderung des Betäubungs-
mittelgesetzes in der Ausschußfassung, Drucksachen
14/1515 und 14/2345.
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der
F.D.P. auf Drucksache 14/2366 vor.
Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der Än-
derungsantrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen und der CDU/CSU-Fraktion gegen die Stimmen der
F.D.P.-Fraktion bei Enthaltung der PDS-Fraktion abge-
lehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dann ist
der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der F.D.P. und der PDS bei
Gegenstimmen der CDU/CSU angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmergebnis wie zuvor angenom-
men.
Der Ausschuß für Gesundheit empfiehlt unter Ziffer 2
seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 14/2345,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
14/1830 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese
Beschlußempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlußempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen, der F.D.P.-Fraktion
und der PDS-Fraktion bei Gegenstimmen der CDU/
CSU-Fraktion angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf:
a) Beratung der Beschlußempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten zu
dem Bericht des Ausschusses für Bildung,
Wissenschaft, Forschung, Technologie und
Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung
hier: „Gentechnik, Züchtung und Biodiver-
sität“
– Drucksachen 13/11253, 14/272 Nr. 102,
14/1716 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Meinolf Michels
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten(10. Ausschuß) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach,
Ulrich Heinrich, Birgit Homburger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Chancen der Gen- und Biotechnologie nicht
verspielen
– Drucksachen 14/1316, 14/2197 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Heino Wiese
Auch hier sind die Reden zu Protokoll gegeben wor-
den*).
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluß-
empfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Forsten zum Bericht des Ausschusses für
Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und
Technikfolgenabschätzung gemäß § 56 a der Geschäfts-
ordnung zur „Gentechnik, Züchtung und Biodiversität“.
Der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und For-
sten empfiehlt unter Ziffer 1 auf Drucksache 14/1716,
den Bericht auf Drucksache 13/11253 zur Kenntnis zu
nehmen. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? –
Gegenprobe! – Enthaltungen? – Dann ist das einstimmig
beschlossen.
Der Ausschuß empfiehlt unter Ziffer 2 seiner Be-
schlußempfehlung auf Drucksache 14/1716 die Annah-
me einer Entschließung. Wer stimmt für die Beschluß-
empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dann
ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Be-
schlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Frak-
tion der F.D.P. mit dem Titel „Chancen der Gen- und
Biotechnologie nicht verspielen“ auf Drucksache
14/2197. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/1316 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlußempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlußempfehlung ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS
gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. ange-
nommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Evelyn Kenzler, Roland Claus, Sabine Jünger,
Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS
Änderung der Pfändungsfreigrenzen
– Drucksache 14/1627 –
Die Reden sind wiederum zu Protokoll gegeben wor-
den**).
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/1627 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
—————
*) Anlage 5
**) Anlage 6
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 79. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 1999 7317
(C)
(D)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Berichts des Rechtsausschusses
gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäfts-
ordnung zu dem von den Abgeordneten Rainer
Funke, Jörg van Essen, Hildebrecht Braun
, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zur Änderung des Bürgerlichen Ge-
– Drucksachen 14/326, 14/2347 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Margot von Renesse
Eckart von Klaeden
Volker Beck
Rainer Funke
Dr. Evelyn Kenzler
Die Reden sind wiederum zu Protokoll gegeben wor-
den*).
Hierzu gibt es keine Beschlußfassung. Damit können
wir sofort zum nächsten Tagesordnungspunkt, dem
letzten, übergehen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Ker-
sten Naumann, Dr. Evelyn Kenzler, Dr. Gregor
Gysi und der Fraktion der PDS eingebrachten
—————
*) Anlage 7
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ge-
setzes zur Privatisierung und Reorganisation
des volkseigenen Vermögens
– Drucksache 14/1993 –
Die Reden sind zu Protokoll gegeben worden*).
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 14/1993 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen. –
– Jetzt kommt das Entscheidende: Wir sind am Schluß
unserer heutigen Tagesordnung.
Ich darf Ihnen allen ein gesegnetes Weihnachtsfest,
ein gutes neues Jahr, Erfolg für uns alle und für die
Bundesrepublik Deutschland wünschen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages, das heißt die erste Sitzung im nächsten Jahr-
tausend, auf Mittwoch, den 19. Januar 2000, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.